Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
Suhrkamp
suhrkamp tasdienbuch Wissenschaft 36
Zweite Auflage, 8 .- 1 0 . Tausend 1976
© Verlag K arl Alber GmbH
Freiburg/München 1959
Suhrkamp Tasdienbuch Verlag
Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des
öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch
Rundfunk oder Fernsehen und der Übersetzung,
auch einzelner Teile.
Druck: Nomos, Baden-Baden.
Printed in Germany.
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und R olf Staudt.
IN H A L T
Einleitung
II. Hobbes: Die Antwort der Vernunft auf die Pluralisierung der Kon
fessionen / Ableitung des Souveränitätsbegriffs aus den religiösen
Wirren durch die Vernunft / Die Aufspaltung des Menschen in den
„Menschen“ und den „Untertan“ als Erbschaft des religiösen Bür
gerkrieges zugleich als Voraussetzung des absolutistischen Gesetzes
begriffs und damit der staatlichen Ordnung / Der apolitische
Innenraum im Staat als Einsatzpunkt der Aufklärung
IV. Die verborgene Wendung gegen den Staat: Die politische Funktion
des Logengeheimnisses (Lessing) / Planung heimlicher Gewaltnahme
(Illuminaten), aber Verdeckung ihrer politischen Bedeutung durch
den Dualismus von Moral und Politik
V. Der Prozeß der Kritik: Die Trennung von Moral und Politik als
Voraussetzung und als Vollzug der bürgerlichen Kritik (Schiller) /
Die Etappen der Politisierung; Bibelkritik im Staat (Simon) / Die
absolute Freiheit der unpolitischen Gelehrtenrepublik im Staat, ein
bellum omnium contra omnes (Bayle) / Die scheinbar unpolitische
Ausweitung der Kritik auf den Staat (Voltaire) / Dialektik der
aufgeklärten Kritik (Enzyklopädie, Diderot) / Verblendung der
Kritik zur Hypokrisie / Die Unterwerfung des Staates unter den
Gerichtshof der kritischen Vernunft (Kant)
Anmerkungen 158
Literaturverzeichnis
A. Quellen 235
B. Sekundärliteratur 239
Personenregister 245
Sachregister 247
Für die N euauflage wurden nur geringfügige Berichtigungen vor
genommen, da der methodische A nsatz au f einen geschlossenen
Zusammenhang zielt, der wohl neue Fragen aufgibt, aber in sich,
selbst schwer zu verändern ist. Es hieße den Rahmen der A rbeit
sprengen, wenn sie zw anzig Jah re nach ihrer A bfassung neu ge
schrieben werden sollte.
Es gab manche M ißverständnisse im Hinblick darauf, was mit
dieser Arbeit eigentlich intendiert sei. Ihr die Gegenwartsbezogen-
heit vorzuw erfen, ist vordergründig, da es sich grundsätzlich gleich
bleibt, an welchem Punkt man in den hermeneutischen Zirkel einer
historischen Untersuchung einsteigt. D ie methodisch entscheidende
Frage ist, ob sich die eingebrachten Prämissen durch den histori
schen Quellenbefund verifizieren lassen. Ist das der Fall, kann
die A ktualität einer geschichtlichen Frage dem Ergebnis nur zugute
kommen. D am it ist nicht gesagt, daß die folgenden Analysen einer
naiven Beispielhaftigkeit der H istorie, wie sie bis in das acht
zehnte Jahrhundert hinein üblich w ar, erneut zum Leben verhel
fen wollen. Geschichtliche Lehren lassen sich heute nicht mehr
unmittelbar aus der H istorie ableiten, sondern nur über eine Theo
rie möglicher Geschichten vermitteln. So bewegt sich die A rbeit
a u f einem bestimmten N iveau der A bstraktion; sie beabsichtigt,
langfristige Vorgänge der »Frühen N euzeit« herauszuarbeiten.
Sobald es gelungen ist, Strukturen einer geschichtlichen Epoche
in ihrer anthropologischen Verfaßtheit aufzuzeigen, die sich aus
den konkreten Einzelfällen ableiten läßt, können die Ergebnisse
exemplarische Befunde sichtbar machen, die auch auf unsere G e
genw art beziehbar sind. Denn unerachtet ihrer Einm aligkeit kann
eine vergangene Epoche - au f ihre Struktur hin befragt - Momente
der D auer enthalten, die noch in unsere Gegenwart hineinreichen.
D ie folgende Untersuchung richtet sich auf solche Strukturen,
besonders au f den ihnen immanenten zeitlichen A blauf, der von
den Religionskriegen bis zur französischen Revolution verfolgt
wird.
V or allem w ird gefragt nach der Problem atik der modernen
A ufklärung und der aus ihr folgenden Em anzipation. Deren P ro
blem atik besteht darin, an eine Grenze zu kommen, die als poli-*
tische Grenze erkannt sein will, wenn sie sinnvoll überschritten
werden soll. Wo die Grenze als politische verkannt wird, gerinnt
die A ufklärung zu einer U topie, die, indem sie scheinbar beflügelt,
Gegenbewegungen provoziert, welche sich der Verfügung der A u f
klärung entziehen, sobald sie sich der Einsicht in die H eterogonie
der Zwecke begeben hat. D ie Heterogonie der Zwecke ist nämlich,
eine zeitliche Bestimmung des Politischen, die von keiner U topie
überholt werden kann. Vielmehr werden die Zielsetzungen einer
A ufklärung gerade dann verfehlt, wenn sie die D ialektik eines
politischen Prozesses nicht prognostisch einfangen kann. D ie D ia
lektik der A ufklärung entspringt - mit anderen Worten - nicht
nur ihr selbst, sondern mehr noch der geschichtlichen Situation,
in der sie sich entfaltet. Jede A ufklärung gerät früher oder später
in K onfliktlagen, die rational aufzuschlüsseln eine Um setzung der
bloßen K ritik in politische Verhaltensweisen erfordert.
D ie außenpolitische Lage auf unserem Globus hat sich durch
den A ufstieg Chinas und die Em anzipation der dritten Welt im
letzten Jahrzehnt verschoben. Dadurch hat sich die A usgangsfrage
der vorliegenden Untersuchung insofern nicht verändert, als sie
von vornherein hinter die antithetischen Zwänge zurückfragen
wollte. Freilich hat sich die Einm aligkeit unserer Lage immer mehr
verdeutlicht. W ährend zur Zeit der absolutistischen und national
staatlichen Politik der K rieg immer noch als Entlastungsvorgang
für drohende Bürgerkriege verstanden und auch bemüht werden;
mochte, stehen wir heute vor einer fatalen Umkehr dieses V or
gangs. U nter der Drohung gegenseitiger atom arer Vernichtung
haben die Weltmächte Randzonen ihrer Interessengebiete heraus
geschnitten, innerhalb deren die Bürgerkriege - mit dem Schein
gegenseitiger Entlastung - umgrenzt werden und so legitim iert
werden sollen. Ein ständig sich verschiebender Ring von Elend,
Blut und Schrecken hat sich um den Globus gelegt. Nicht mehr
der alte Staat ist die Gegenposition zu diesem Bürgerkrieg, son
dern zunächst der ganze Globus, dessen neue Geschichten sich erst
in der Zukunft abzeichnen.
D aß der Untertitel einer Pathogenese unserer Moderne seine
Evidenz nicht aus der biologischen M etarphorik bezieht, sondern
aus dem Leiden, das zu diagnostizieren neue Kategorien fordert,
bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Den Herausgebern des Orbis Academicus sei für den Erstdruck
gedankt und dem Alber V erlag für die Überlassung der Rechte
zugunsten der Taschenbuchausgabe.
Wie die erste und zweite A uflage sei dieser Neudruck meinen
Eltern gewidmet.
III
III
D as Mysterium der Logen lag allem Inhalt zuvor in dem Nim bus,
der von ihm ausstrahlte. Im Geheimnis lag die Verheißung, eines
neuen, besseren und bisher nicht gekannten Lebens teilhaftig zu
werden. Die Initiation bedeutete „die Entdeckung einer neuen,
mitten in der alten verborgenen W elt“ 65. Der eudämonistische, der
christlichen Offenbarung bereits entfremdete Bürger erblickte in
den geheimen Gesellschaften eine Einrichtung, „in der er alles das
jenige finden werde, w as er sich nur immer wünschen könne“ 66.
Daher „herrschte ein so unbeschreiblich weit ausgebreiteter T rieb“ 67,
und es gehörte geradezu zum guten Ton, in einen der Geheimorden
einzutreten, die, wie Friedrich der Große einmal bemerkte, „der
Geschmack und dieM ode des Jahrhunderts allein gebildet haben“ 68.
War man einmal initiiert, so schuf das Geheimnis eine neuartige
Gemeinsamkeit. Der königliche Tempel wurde durch das Geheimnis
erbaut und zusammengehalten, das arcanum w ar der „ K itt“ der
Brüderlichkeit. D ie gemeinsame Teilnahme am selben arcanum ver
bürgte zunächst die Gleichheit der Brüder, sie vermittelte die
ständischen D ifferenzen69. D as Geheimnis verband, gleich worin
sie eingeweiht waren, alle M itwisser unabhängig von ihrer Stellung
in der bestehenden Hierarchie auf einer neuen Ebene. „Lorsque
nous sommes rassembles, nous devenons tous Freres, le reste de
PUnivers est etranger: le Prince et le Sujet, le Gentil-homme et
PArtisan, le Riehe et le Pauvre y sont confondus, rien ne les distin-
gue, rien ne les separe.“ 70 D as Geheimnis trennte die Brüder von der
übrigen Außenwelt, und so entwickelte sich durch die Abweisung
aller bestehenden sozialen, religiösen und staatlichen Ordnungen
die neue Elite, die Elite als „Menschheit“ 71. D ie Teilnahme am
Geheimnis hielt ein unbestimmtes Mißtrauen und Vorsicht gegen
die Außenstehenden wach, die ständig beschworene Sorge vor „V er
r a t“ trug immer dazu bei, das Bewußtsein der eigenen, der neuen
W elt zu steigern und dam it die Verpflichtung, ihr zu dienen. So
festigte sich durch das Geheimnis das Uberlegenheitsgefühl der
Mitwisser, das Elitebewußtsein der neuen Gesellschaft72. Inner
halb der Gesellschaft schuf wiederum die A bstufung der arcana in
die verschiedenen G rade, die in den Hochgraden der strikten O b
servanz geradezu krankhafte Auswüchse zeitigten, eine Hierarchie
sui generis, in der Bürger und A del gemeinsam verbunden w aren 73.
J e mehr er eingeweiht wurde, desto mehr gewann — oder hoffte sie
zu gewinnen — der M aurer an Einfluß und Geltung, deren M ög
lichkeit jedenfalls von rein innergesellschaftlichen Qualifikationen
abhing. So förderte die A bstufung einen ständigen D rang nach
ob en 74, der wiederum zu einer dauernden A ufstufung der G rade
führte, und das letzte arcanum versprach die Teilhabe an der Licht
quelle der A ufklärung. Diesen D ran g befriedigen hieß aber zu
nächst sich unterordnen, man mußte Gehorsam wahren, den man
freiw illig leistete, da er nur Leuten gleichen Geistes gezollt wurde.
Innerhalb der strikten O bservanz entwickelte sich die im „U n
bekannten“ verschwindende Spitze zu einem sozialen M ythos, der
die Gewichtigkeit des arcanum und der daran geknüpften m ora
lischen Selbstkontrolle steigern h a lf75. D ie „großen U nbekannten“
waren immer irgendwo, aber zugleich überall anwesend und konn
ten wie die „Verschwundenen" der Illuminaten, die insgeheim die
sen leeren P latz zu besetzen trachteten70, jederzeit über Führung
und Verhalten der Glieder zu Gericht sitzen 77. Der ursprüngliche
Zw ang zum Geheimnis hatte sich in dem deutschen Logenwesen
gleichsam verselbständigt. Er w ar einem Trend zur M ystifikation
gewichen, der dem Glauben an eine allmächtige, geheime und in
direkte Herrschaft jenseits des Staates Vorschub leistete. Die un
bekannte Spitze erschien so fern und so nahe zugleich wie das un
endliche Ziel des Fortschritts, der alles H eutige schon reguliert.
In jedem Fall entwickelte sich in den verschiedenen Obödienzen
eine eigenständige Herrschaftsordnung. D as Geheimnis sicherte d a
bei durch seine A bstufung der tatsächlichen Führungsschicht ein
überlegenes Wissen. Die Trennung zwischen einem weltlichen
Außenraum und einem moralischen Innenraum wurde dam it in die
Gesellschaft selber übertragen und zum Zwecke der Führungsauf
gaben differenziert. Durch die verschiedenen G rade der Geheim
haltung wurde ein Schleusensystem geschaffen, das nach innen, in
die Maurerei hinein und innerhalb der Systeme nach oben hin, offen
w ar, aber nicht nach unten und außen. D as Geheimnis wurde da
mit zu einem Herrschaftsinstrument, das z. B. in dem Illum inaten
orden konsequent gehandhabt wurde. D ie Priesterregenten dieses
Ordens gingen — in Anlehnung an jesuitische V orbilder — dazu
über, ein akkurates System geheimer Kontrollberichte einzuführen.
Die Brüder waren verpflichtet, monatlich über sich selbst — in mo
ralischer Offenheit — und über ihre M itbrüder — in gegenseitiger
Bespitzelung — versiegelte Meldungen zu erstatten. „Dadurch muß
er sich und andere notwendig entziffern, und schriftlich compromit-
tiren.“ 78 A u f dem Wege dieser geheimen K ontrollen „erfahren die
Oberen alles, was sie immer zu erfahren verlangen. Daher sagen sie
von sich selbsten: Wir sind imstand, mehr zu wissen, als die übrigen
Menschen, mehr zu wirken, als andere.“ 79 U m zum Illum inatus
m ajor aufrücken zu können, w ar wie bei der Zulassung ein gew al
tiger Fragebogen auszufüllen, der auf 32 Druckseiten mehrere hun
dert Fragen umfaßte, die den A nw ärter in geistiger, charakterlicher,
sozialer und ökonomischer Hinsicht restlos aufschlüsselten. D as
Geheimnis galt hier zunächst als ein Vehikel moralischer Erziehung,
indem „der H an g des Menschen zum Verborgenen und Geheimnis
vollen au f eine für die M oralität so vorteilhafte A rt benutzt
w ird“ 80, aber zugleich lieferte es den Zögling dem „Sittenregim ent“
aus, diesem „D irektorium der T oleran z“ 81, das kraft des Geheim
nisses die Brüder im N am en der M oral bereits moralisch terrori
sierte. D ie Illuminaten bildeten innerhalb der zahllosen Geheim
bünde zweifellos den deutschen Extrem fall eigenständiger H err
schaftsplanung. Aber insofern sind sie symptomatisch. A nalog zielte
in England — entsprechend früher — die Gründung der „G rand
Lodge“ zunächst darau f ab, die bereits bestehenden verstreuten L o
gen einer strengen und einheitlichen K ontrolle zu unterw erfen81*;
ein Vorgang, der sich in Frankreich 1773 w iederholte81”. A udi die
Illuminaten suchten nur die Konsequenz zu ziehen, die sich au f
drängte, sowie das Geheimnis einen neuen sozialen Raum erschlos
sen hatte.
Im Zeichen des M aurermysteriums entstand das soziale G erüst
der moralischen Internationale, die sich aus den Kaufleuten und
Reisenden, den Philosophen, Seeleuten und Em igranten, kurz den
Kosm opoliten im Verein mit dem Adel und den Offizieren zusam
mensetzte. Die Logen wurden zum stärksten Sozialinstitut der
moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert. Ihr großes Gewicht
erweist sich bereits daran, daß sich auch die Staatsm änner der
Logen bedienten, um Einfluß zu gewinnen und politische Ziele
zu verfolgen. Die K önige von Schweden, der H erzog Ferdinand
von Braunschweig — als der Protektor der Strikten O bservanz — ,
die Hohenzollern und viele deutsche M ittelfürsten zählen in diese
Reihe, wie in Frankreich der H erzog Louis Philippe von Orleans,
Philippe £galite der großen R evolu tion 82.
Im Unterschied zu dem Chaos, das, in dem deutschen O rdens
wesen in den sechziger Jahren einmal eingerissen, auch von den
Illuminaten nicht beseitigt werden konnte, entfaltete sich in F rank
reich nach der R eform von 1773 das Logenwesen zu neuer B lü te83.
Von großem Einfluß auf die N euordnung w ar die 1769 gegründete
Philosophen- und Enzyklopädistenloge „Les N eu f Sceurs“ . Sie w ar
das soziale Bindeglied zwischen den Vertretern des geistigen „Regne
de la C ritiqu e“ und der O rganisation der Maurer. Unter der m ora
lisch gewichtigen Führung Benjamin Franklins, der von 1779 bis
1782 ihr Stuhlmeister w ar, entfaltete sie eine breit angelegte Pro
pagandaarbeit für die republikanischen Ideale, die in A m erika
gerade verwirklicht w urden84. M it der Einführung einer ebenfalls
republikanischen V erfassung innerhalb des G rand O rient von
Frankreich 1773 — die M aurer verstanden sich selber als die „B ür
ger der Freim aurer-D em okratie“ — , schnellte die Zahl der Logen
sprunghaft in die Höhe. Während 1772 nur 164 Logen in Frank
reich bestanden, betrug ihre Zahl 1789 bereits 629, von denen sich
allein 65 in Paris befan den 85. So stellte am V orabend der Französi
schen Revolution die Freimaurerei neben den „societes de pensee“
eine wichtige und selbständige O rganisation der neuen Gesellschaft
dar, die nicht dem S taat unterworfen w a r 86. Sie w ar nicht nur in
geistiger Hinsicht ein K am pforgan gegen den absolutistischen Staat,
sondern bildete zugleich ein soziales Gerüst, auf das sich nach dem
Emportauchen der radikalen Elemente auch der jakobinische Partei
ap p arat stützen konnte87.
A lso jenseits und zuvor aller politischen Planungsarbeit, die ge
leistet wurde, m arkiert das Geheimnis durch seine doppelte Funk
tion, nämlich die Gesellschaft zusammenzuschließen und zu schützen,
eine geistige Frontlinie, die durch die absolutistische Staatenw elt
hindurchlief. Durch das Geheimnis und hinter ihm vollzog sich eine
soziale Gruppierung, die das Gewicht einer indirekten G ew alt
b ek am 88, während auf der anderen Seite der absolutistische Staat
stand in der H oheit und in Frankreich schließlich in der Hohlheit
seiner direkten Herrschergewalt. Es sind bereits und gerade die
innergesellschaftlichen Funktionen, die — scheinbar ohne den Staat
zu berühren — die absolutistische Souveränität in Fragen stellten89.
D as Geheimnis, sagt 1782 de M aistre, ist die G rundlage der G e
sellschaft, „le secret est le droit naturel parce qu’il est le lien de la
confiance, grande base de la societe humaine“ 90. Weil das Geheim
nis als das Bindeglied des gegenseitigen Vertrauens die entstehende
Gesellschaft zusammenschließt, deshalb erhält das Geheimnis die
Würde und die Priorität des Naturrechts. U nd deshalb kann de
M aistre die delikate moralische Frage, wie er sie nennt, ob die G e
sellschaft ihre Pläne vor der Staatsgew alt geheimhalten dürfe, auch
bejahen. D as Geheimnis gehört zum Naturrecht, vor ihm schwindet
alles positive Recht. D as Logengeheimnis bricht die Staatsgew alt.
Dies wäre möglich, fügt er stereotyp wie alle M aurer hinzu, da es
ohnehin nichts zum Inhalt habe, was sich gegen Staat oder Kirche
richte. Aber dieses Argument setzt er bewußt als sekundär: nicht
erst, weil das Geheimnis dem Staat — für den Staat gesagt — un
gefährlich sei, sondern schon und gerade kraft seiner sozialen Funk
tion, die bürgerliche Welt zusammenzuschließen, muß das Geheim
nis, dieses O bstakel des Staates, bestehen bleiben.
Wie sehr es gerade diese außerstaatlichen, rein innergesellschaft
lichen Funktionen waren, durch die die Gesellschaft den S taat in
Frage stellte, zeigt sich an der D ialektik zwischen M oral und
Politik, die sich an dem Geheimnis entzündete.
Um den Zusammenschluß der Brüder zu einer inneren Gemein
schaft, um die En tfaltung einer eigenständigen Hierarchie, die
Sicherung überlegenen Wissens und die Chance einer gesellschaft
lichen Führungsordnung zu garantieren, bedurfte es der W ahrung
des Geheimnisses. D ie Verschwiegenheit w ar die Grundlage und
Voraussetzung des gesellschaftlichen arcanum. Die U nerzw ingbar-
keit dieses ersten Grundgesetzes der Geheimorden, ihr Mangel an
direkter Zw angsgew alt rief die Jurisdiktion hervor, die spezifisch
moralisch war. Zunächst bedeutete die Selbstverpflichtung zur V er
schwiegenheit eine ständige Selbstkontrolle des Gewissens, sie aus
üben hieß für den Maurer, sich als tugendhaft, unabhängig und
souverän erweisen. Ein guter M aurer „muß sein eigener Richter
werden, das Urtheil über sich selbst sprechen“ 91. Die durch das G e
heimnis vollzogene A ufspaltung der Welt mißachten hieß daher
für den M aurer sich selbst verurteilen, die Scheidung zu vollziehen
w ar ein würdiger A kt der moralischen Jurisdiktion. Die Schaffung
eines sozialen Sonderraumes, die kritische Scheidung zwischen G e
sellschaft und Außenwelt war also gleich ursprünglich mit der
moralischen Gerichtsbarkeit, die diese Trennung vollzog und über
wachte.
D ie Zwangsm ittel der moralischen Rechtsprechung waren ganz
in den von Locke aufgewiesenen Bahnen indirekt und wirkten sich
aus in sozialem D ruck92. Aber mit der zunehmenden Entfaltung
einer innergesellschaftlichen H oheit planten die M aurer, ihre m ora
lischen Richtsprüche auch direkt zu vollstrecken. A ls de M aistre
sein großes Reform program m für die Strikte O bservanz in Deutsch
land und Frankreich entwickelte, kam er au f den Verräter zu spre
chen und stellte fest: „D ans quelques annees nous serons en etat de
faire taire ce Frere, ou nous ne serons rien.“ 93 Die Frage, inwieweit
die symbolisch strenge, aber nur indirekt wirkende Gerichtsbarkeit
direkt zu verwirklichen sei, wird 1782 — sieben Ja h re vor der
Französischen Revolution — bereits als eine alternative Entschei
dungsfrage gestellt, von der die künftige Existenz der Gesellschaft
überhaupt abhängt. D ie direkte A uswirkung der gesellschaftlichen
Gerichtsbarkeit zeichnet sich deutlich ab: die Gesellschaft trat mit
ihrer Rechtsprechung dem Anspruch nach bereits in offene K on ku r
renz zu der des Staates. Die alternative Entscheidungsfrage, die sich
daran anschloß, w ar bereits ein akutes Sym ptom der K rise 94.
Aber lange bevor sich diese Frage derart zuspitzte, stellte die
moralische Jurisdiktion den Staat auf ganz andere Weise, nämlich
indirekt, in Frage. Sie richtete sich nicht nur nach innen, sondern
ebenso nach außen. D er A kt der sozialen Selbstkonstitution w ar
immer zugleich ein moralischer U rteilsakt, der auch über den S taat
gefällt wurde.
„A mesure que le vice s’eleva, la vertu fut abaissee . . . et pour
n’etre point la victime de son cruel antagoniste, eile se fit un azile
inaccessible ä. tout autre qu’ä. ses fideles adorateurs.“ 95
IV
o*>
nen, denn es gebe keine Instanz, die zwischen S taat und Individuum
schlichten könne. D ie Vernunft, im Innern kritisch, bleibt nach
außen staatstreu.
Pierre Bayle wußte noch um die D ialektik eines Bürgerkrieges,
der den Menschen stets zur Entscheidung gegen sein Gewissen und
seine besseren Einsichten zwinge. Dieses Wissen wahrte er auch noch
in der Em igration. Vergebens hoffe man, sagte er hier, den feind
lichen Parteien zu entrinnen, um N eu tralität zu wahren. S ta tt
Freunde und Feinde habe man nur noch Feinde, ohne Freunde zu
haben. „So rt d£plorable de Phomme, vanit£ manifeste de la raison
philosophique.“ 179 Es sei der spezifische Irrw ahn der philosophi
schen Raison, zu hoffen, daß sich ihre fortschrittliche Suche nach
O bjektivität und N eu tralität unbesehen in die widerständige W elt
der Politik übertragen ließe. Gewiß, so versicherte Bayle, seien
fortschrittliche K ö p fe nötig, aber sie sollten sich auf Geist und Wis
senschaft beschränken. Erfasse der Fortschritt einmal das Feld der
Politik, so sei es sicher, daß die Übel eines Bürgerkrieges, die daraus
folgten, immer größer seien als die Übel, die er beseitigen solle. V or
den „furchtbaren W ohltaten“ eines Bürgerkrieges wollte Bayle ver
schont bleiben. A u f dem H intergrund dieser Erfahrung, die noch
ganz dem siebzehnten Jahrhundert entstammt, schied B ayle streng
zwischen der „critique“ einerseits und den „satires“ und „libelles
diffam atoires“ andererseits. Bayle grenzte sauber die richtende In
stanz der K ritik ab gegen die politische Zuständigkeit des Staates.
Innerhalb der Gelehrtenrepublik herrscht in aller Unschuld der un
politische K a m p f um die W ahrheit. U m Unwissenheit und Irrtum
zu bekäm pfen, sind alle M ittel erlaubt:
Es liegt im Wesen einer Krise, daß eine Entscheidung fällig ist, aber
noch nicht gefallen. U nd es gehört ebenso zur Krise, daß offen
bleibt, welche Entscheidung fällt. Die allgemeine Unsicherheit in
einer kritischen Situation ist also durchzogen von der einen Gewiß
heit, daß — unbestimmt wann, aber doch bestimmt, unsicher wie,
aber doch sicher — ein Ende des kritischen Zustandes bevorsteht.
D ie mögliche Lösung bleibt ungewiß, das Ende selbst aber, ein U m
schlag der bestehenden Verhältnisse — drohend und befürchtet
oder hoffnungsfroh herbeigewünscht — ist den Menschen gewiß.
D ie K rise beschwört die Frage an die geschichtliche Zukunft.
Aus dem Bewußtsein der Krise, aus dem Wissen um eine poli
tische Spannung mit unentrinnbaren Folgen ergeben sich nun in
Deutschland — und sie sind zugleich Sym ptom der K rise — eine
Reihe von Prognosen, die das kommende Ende der bisherigen po
litischen Ordnung vorwegnehmen. Die Revolution wird prophe
zeit. — Es lag nun andererseits, wie bisher gezeigt wurde, in der
Spannung zwischen M oral und Politik beschlossen, daß die Schei
dung zwischen beiden Bereichen zw ar eine Scheidung zwischen
Staat und Gesellschaft hervorrief, daß aber die politische Ent
scheidung, die dam it intendiert wurde, von den Bürgern als eine
politische Entscheidung gar nicht erkannt wurde. Die intendierte
Um w älzung als Revolution, ja auch nur die Möglichkeit einer
Revolution werden verdeckt. Zugleich w ird die Spannung selber
— durch die Zuspitzung der D ialektik von M oral und Politik —
verschärft. Verdeckung und Verschärfung sind ein und derselbe
Vorgang. -Seine Einheit ist in der Geschichtsphilosophie der prä-
sumptiven Elite beschlossen. Die Geschichtsphilosophie ist die K ehr
seite der Revolutionsprognostik. In ihrem Wechselverhältnis wird
die K rise manifest. Dies aufzuzeigen — zunächst an deutschen
Zeugnissen — dient der nächste Schritt der Untersuchung.
D ie politische Frage, ob der A pp arat des Absolutismus und sein
souveräner H err weiterhin herrschen würden oder die Spitzen der
neuen Gesellschaft, tauchte in Deutschland erstmals auf in der Zeit
des „Sturm und D ran g“ . Sie entzündete sich in aller Schärfe an dem
sozialen Exponenten des neuen Bürgertums, an der geheimen G e
sellschaft1.. In der Polemik über die Geheim orden,,in der Presse
fehde, die durch die V erfolgung der Illuminaten in Bayern aus
gelöst wurde, bildeten sich erstmals politische Lager, die von dem
Bewußtsein getragen waren, sich in einer latenten Entscheidungs
situation zu befinden. Protestanten und K ath olik en 2, absolutistische
Beamte und Verfechter des Ständewesens schlossen sich zusammen:
sie erblickten in den geheimen Orden einen gemeinsamen, die ge
meinsame Struktur der bestehenden Ordnung bedrohenden Feind.
D er gegenseitige Ausschließlidikeitsanspruch, den Lessing einmal
an den A ufklärern und ihren Gegnern auf dem religiösen Gebiet
feststellte, fing jetzt auch in Deutschland an, wie lange schon in
Frankreich, die politischen Konturen zu bestimmen: „So hat der
eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaf
fen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrei
erklären zu dürfen . " 3
D ie D ialektik von M oral und Politik verlieh dem K a m p f eine
R ad ik alität, die dem sozialen Gewicht des deutschen Bürgertums
insgesamt noch keineswegs entsprach. So fand auch die geheime
O rganisation der Illuminaten ihr jähes Ende durch die blanke
Überlegenheit der staatlichen Gew alt. Die Illuminaten, die die D es
poten, „denen an Dummheit und Unsittlichkeit so viel gelegen ist“ ,
moralisch diskriminierten und ihnen politisch vorw arfen, „eine so
lange usurpierte G ew alt noch ferner zu behaupten“ 4, wurden ihrer
seits als Gottesschänder und ruchlose Rebellen verfolgt, des Landes
verwiesen, gefangengesetzt und schließlich unter Androhung der
Todesstrafe an ihrer weiteren Arbeit gehindert5. Trotz der un
gleichen M ittel, die den Gegnern zur Verfügung standen und die
eine direkte Bedrohung des Staates gar nicht möglich machten, ent
sprangen dieser Situation eine ganze Reihe von Prognosen, die den
Um sturz der bestehenden Ordnung vorwegnahmen. Die Prognosen
beziehen sich nicht auf die faktische Macht der Geheimbünde, son
dern entzünden sich an der indirekt politischen Rolle, die diese G e
sellschaften gespielt haben. Neben den bis dahin in der antifrei
maurerischen Polemik vorzüglich gebräuchlichen Argumenten der
Sittenlosigkeit und Religionsfeindschaft herrscht plötzlich eine
neue, und zw ar rein politische Beweisführung vor, die die G efahr
eines Um sturzes aus der politischen Stellung eines Geheimordens
zum Staat ableitet. Wie meist die Angegriffenen, haben sie als erste
das unmittelbar Politische offen beim N am en genannt.
D ie Bedrohung der fürstlichen Souveränität tritt in das Zentrum
der Argum entation, und daraus w ird zunächst — ganz im Sinne
der absolutistischen Staatsauffassun g — die Unrechtmäßigkeit der
indirekten G ew alt bewiesen. Gleichgültig, ob die Tagespropheten
in den „geheimen O beren“ der M aurer die Jesuiten, Freidenker
oder Calvinisten — je nach ihrem eigenen religiösen Standort —
vermuten, alle gemeinsam stellen sie fest, daß die geheime Gesell
schaft mit ihren „Chefen einen Staat im Staate, oder vielmehr einen
S taat über den souveränen Staaten “ b ild e6. U nd das Bewußtsein
der herrschenden O rdnung w ar für sie noch so selbstverständlich
an den Begriff der absoluten Souveränität geknüpft, daß mit der
Bildung einer andersartigen, außer- und überstaatlichen G ew alt
nicht nur die Souveränität des Monarchen, sondern auch die staat
liche Ordnung selbst im Nebel einer ungewissen Zukunft sich au f
zulösen schien. W ährend die M aurer gerade die moralische N o t
wendigkeit und daher, wie sie schließen: die politische Möglichkeit
einer überstaatlichen Souveränität betonen, die auszuüben sie selber
a u f G rund ihres reinen C harakters berufen seien7, verlegen die V er
treter des Staates den A kzent aus dem Moralischen heraus au f den
Herrschaftsanspruch derjenigen, die sich au f die M oral berufen. Die
moralischen und friedlichen Absichten der M aurer werden ganz
„machiavellistisch“ interpretiert: „D ie Spitzfindigkeit der philo
sophischen Freydenker hat eine List erdacht, dam it unvermerkt den
Feind gefangen zu nehmen, den sie mit ihrer Macht zu bezwingen
nicht im Stande ist. Sie stellen aller Orten die Fahne des Friedens
aus; sie bitten nur um D uldung und E in tra c h t...“ , aber gerade im
Schutz dieser D uldung werde der „P lan ihrer Eroberung“ vor
bereitet. Er ziele zunächst auf den Sturz der Kirchen, um dann
„aus den Aschen der lieben Toleranz ein solches gräßliches K riegs
feuer hervorbrechen (zu lassen), dessen Flam men nicht eher werden
gedäm pft werden können, als bis die Reichsgrundgesetze aufge
hoben (sind ).“ 8
Aus dem konkurrierenden Herrschaftsanspruch zwischen dem
S taat und der Gesellschaft ergeben sich die Prognosen der Revo-
lution, die sich — wenn auch auf dem U m w eg über die Französische
Revolution — bald erfüllen sollten. Diese und ähnliche Prognosen
sind also einmal aus der politischen R olle abgeleitet, die die Geheim
orden zw angsläufig innerhalb der Staaten gespielt haben: sie
weichen die Souveränität auf. W as aber veranlaßt die Prognostiker,
obwohl die M aurer — wie expressis verbis zugegeben — direkt
nur eine geringe Macht besaßen, aus der Bedrohung und G efäh r
dung der Souveränität au f einen totalen U m sturz zu schließen, den
U m sturz, der au f die „P eripetie" folge, als eine „C atastrop h e " 9
vorauszusagen? Was w ar denn die Macht, die den E rfolg des „Erobe
rungsplanes“ garantiert? Worin lag die Drohung, die den S taat
derart gefährdete, daß die Prognosen immer noch erschienen, auch
als die Illum inaten längst zerschlagen waren?
Es ist die Geschichtsphilosophie. D ie Geschichtsphilosophie lie
ferte dem elitären Bewußtsein der A ufklärer seine Evidenz. Sie
w ar die Macht, die die Illum inaten gehabt haben, und diese Macht
hatten sie gemeinsam mit der ganzen A ufklärung. Sie w ar die
Drohung, in ihr trat der Plan der Eroberung — wie sich zeigen
w ird — für die Angegriffenen deutlich ans Licht.
D aß der moralische Innenraum, an sich machtlos, auch wirklich
zur Herrschaft gelangt, w ar durch die bloße M oral für den Bürger
noch nicht garantiert. D er H iatus zwischen der moralischen Posi
tion und der erstrebten Herrschaft wurde durch die Geschichts
philosophie scheinbar überbrückt.
D er moralische Bürger w ar immer, ob ausgesprochen oder nicht,
geborgen in einer Geschichtsphilosophie, die auch dem N am en nach
ein Produkt des achtzehnten Jahrhunderts is t 10. Sie trat weitgehend
das Erbe der Theologie an. D ie christliche Eschatologie in ihrer ab
gewandelten Form als säkularer Fortschritt, gnostisch-mani-
chäische Elemente, die in dem D ualism us von M oral und Politik
verschwunden sind, antike Kreisläuflehren, schließlich die jüngste
naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit, die auf die Geschichte über
tragen wurde — all dies hat dazu beigetragen, das geschichtsphilo
sophische Bewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts zu formen.
Auch die Freim aurer standen in vorderster Front, um wie di