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Reinhart Koselledt, geboren 1923 in Görlitz, war bisher Ordinarius

für Geschichte in Heidelberg. Seit dem Sommersemester 1973 hat


er an der Universität Bielefeld den Lehrstuhl für Theorie der Ge­
schichte.
Die Frage nach dem Zusammenhang von Kritik und Krise ist ge­
schichtlich und aktuell zugleich. Die Untersuchung umspannt den
Zeitraum von den religiösen Bürgerkriegen bis zur Französischen
Revolution. Die hypokritischen Züge der Aufklärung werden be­
griffsgeschichtlich und ideologiekritisch herausgearbeitet. Dabei stoßen
wir auf die politischen Grenzen der Aufklärung, die ihre Ziele ver­
fehlt, sobald sie zur reinen Utopie gerinnt. Das Verhältnis des
absolutistischen Staates zur Aufklärung untersucht Koselleck unter
anderem an Hobbes, Locke und den Freimaurern. Den kritischen
Prozeß der Gelehrtenrepublik bezieht er in die Untersuchung ebenso
ein wie Diderot und die Encyclopedie, Rousseau und die Entstehung
der Geschichtsphilosophie im Zusammenhang mit der politischen
Krise.
Reinhart Koselleck
Kritik und Krise
Eine Studie zur Pathogenese
der bürgerlichen Welt

Suhrkamp
suhrkamp tasdienbuch Wissenschaft 36
Zweite Auflage, 8 .- 1 0 . Tausend 1976
© Verlag K arl Alber GmbH
Freiburg/München 1959
Suhrkamp Tasdienbuch Verlag
Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des
öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch
Rundfunk oder Fernsehen und der Übersetzung,
auch einzelner Teile.
Druck: Nomos, Baden-Baden.
Printed in Germany.
Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und R olf Staudt.
IN H A L T

Einleitung

1. Kapitel: Die politische Struktur des Absolutismus als Voraussetzung


der Aufklärung

I. Genese des absolutistischen Staates aus der Situation des religiösen


Bürgerkrieges / Freilegung eines souveränen Machtbereiches durch
die Reduktion der religiösen Gewissensinstanz auf einen unpoliti­
schen Innenraum (Barclay, d’Aubigne) / Die Unterordnung der
Moral unter die Politik als die zeitgebundene Legitimation des
souveränen Staates

II. Hobbes: Die Antwort der Vernunft auf die Pluralisierung der Kon­
fessionen / Ableitung des Souveränitätsbegriffs aus den religiösen
Wirren durch die Vernunft / Die Aufspaltung des Menschen in den
„Menschen“ und den „Untertan“ als Erbschaft des religiösen Bür­
gerkrieges zugleich als Voraussetzung des absolutistischen Gesetzes­
begriffs und damit der staatlichen Ordnung / Der apolitische
Innenraum im Staat als Einsatzpunkt der Aufklärung

III. Vattel: Die Ausklammerung der naturrechtlichen Moral aus der


Politik als Strukturprinzip der zwischenstaatlichen Ordnung / Die
Beendigung der Bürgerkriege und Einengung der Kriege auf reine
Staatenkriege als politische Bedingung für die Entfaltung des
moralischen Fortschritts

2. Kapitel: Das Selbstverständnis der Aufklärer als Antwort' auf ihre


Situation im absolutistischen Staat

I. Locke: Die außerstaatliche moralische Gerichtsbarkeit (The Law


of Private Censure), ihre konstitutive Bedeutung für das Bürger­
tum und ihre indirekt politische Wirksamkeit .

II. Die Bildung indirekter Gewalten: Die politische Ausgangssituation


der bürgerlichen Gesellschaft im absolutistischen Staat / Ihre Or­
ganisationsformen (Club de PEntresol und Freimaurerlogen) / Die
Schutzfunktion des Logengeheimnisses / Das Arcanum als Grenz­
scheide zwischen Moral und Politik eine Voraussetzung indirekter
Gewaltnahme

III. Die Entfaltung indirekter Gewalt: Integrierende Funktion des


Logengeheimnisses / Errichtung eigenständiger Herrschaftsordnun­
gen / Indirekte Bedrohung des Staates / Die moralische Gerichts­
barkeit und ihre Ausweitung auf den Staat / Die Spaltung von
Moral und Politik als Ausdruck indirekter Gewaltnahme

IV. Die verborgene Wendung gegen den Staat: Die politische Funktion
des Logengeheimnisses (Lessing) / Planung heimlicher Gewaltnahme
(Illuminaten), aber Verdeckung ihrer politischen Bedeutung durch
den Dualismus von Moral und Politik

V. Der Prozeß der Kritik: Die Trennung von Moral und Politik als
Voraussetzung und als Vollzug der bürgerlichen Kritik (Schiller) /
Die Etappen der Politisierung; Bibelkritik im Staat (Simon) / Die
absolute Freiheit der unpolitischen Gelehrtenrepublik im Staat, ein
bellum omnium contra omnes (Bayle) / Die scheinbar unpolitische
Ausweitung der Kritik auf den Staat (Voltaire) / Dialektik der
aufgeklärten Kritik (Enzyklopädie, Diderot) / Verblendung der
Kritik zur Hypokrisie / Die Unterwerfung des Staates unter den
Gerichtshof der kritischen Vernunft (Kant)

3. Kapitel: Krise und Geschichtsphilosophie

I. Fortschrittsphilosophie und Revolutionsprognostik im vorrevolu­


tionären Deutschland: Herausbildung politischer Fronten / Ge­
heimorden und Staat / Die Geschichtsphilosophie der Maurer
(Illuminaten) eine Identifikation von Planung und Geschichte /
Die Geschichtsphilosophie als indirekt politische Macht / Verschär­
fung der kritischen Situation durch ihre Verschleierung / Reduktion
der Fortschrittsphilosophie der Illuminaten auf ihren politischen
Kern (Göchhausen) / Revolutionsprognose

II. Turgot: Erkenntnis der kritischen Situation in Frankreich / Revo­


lutionsprognosen / Versuch, die Krise zu steuern / Sein moralischer
Dualismus / Dessen politische Funktion: Auflösung der absolutisti­
schen Souveränität und zugleich die Verbergung dieses Vorgangs /
Politische Anonymität / Dialektik zwischen Mensch und Fürst /
Die moralische Totalität als Antwort auf den politischen Absolu­
tismus / Turgots Sdieitern / Indirekte Legitimation des Bürger­
krieges
III. K rise: Die Krise als politischer und moralischer Begriff kein Ausdruck
der Fortschrittsphilosophie / Auftauchen des Begriffs (Rousseau) /
Die Ausweitung der Gelehrtenrepublik auf den Staat / Die per­
manente Revolution, der totale Staat, Terror, Ideologie und
Diktatur als ungewolltes Ergebnis der Aufklärung und ihrer
anonymen Herrschaft / Bestimmung der Krise durch das duali­
stische Bewußtsein (Diderot) / Dualistische Zwangsprognosen /
Verdeckung der Krise als ihre Verschärfung / Der Prozeßcharakter
der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (Raynal) / Die moralischen
Antithesen in globaler Geschichtskonstruktion / Die Atlantische
Differenz / Der Bürgerkrieg als moralisches Gericht / „The Crisis“
(Th. Paine) / Die Geschichte als Prozeß: Einheit von Krise und
Geschichtsphilosophie 132

Anmerkungen 158

Literaturverzeichnis
A. Quellen 235
B. Sekundärliteratur 239

Personenregister 245

Sachregister 247
Für die N euauflage wurden nur geringfügige Berichtigungen vor­
genommen, da der methodische A nsatz au f einen geschlossenen
Zusammenhang zielt, der wohl neue Fragen aufgibt, aber in sich,
selbst schwer zu verändern ist. Es hieße den Rahmen der A rbeit
sprengen, wenn sie zw anzig Jah re nach ihrer A bfassung neu ge­
schrieben werden sollte.
Es gab manche M ißverständnisse im Hinblick darauf, was mit
dieser Arbeit eigentlich intendiert sei. Ihr die Gegenwartsbezogen-
heit vorzuw erfen, ist vordergründig, da es sich grundsätzlich gleich
bleibt, an welchem Punkt man in den hermeneutischen Zirkel einer
historischen Untersuchung einsteigt. D ie methodisch entscheidende
Frage ist, ob sich die eingebrachten Prämissen durch den histori­
schen Quellenbefund verifizieren lassen. Ist das der Fall, kann
die A ktualität einer geschichtlichen Frage dem Ergebnis nur zugute
kommen. D am it ist nicht gesagt, daß die folgenden Analysen einer
naiven Beispielhaftigkeit der H istorie, wie sie bis in das acht­
zehnte Jahrhundert hinein üblich w ar, erneut zum Leben verhel­
fen wollen. Geschichtliche Lehren lassen sich heute nicht mehr
unmittelbar aus der H istorie ableiten, sondern nur über eine Theo­
rie möglicher Geschichten vermitteln. So bewegt sich die A rbeit
a u f einem bestimmten N iveau der A bstraktion; sie beabsichtigt,
langfristige Vorgänge der »Frühen N euzeit« herauszuarbeiten.
Sobald es gelungen ist, Strukturen einer geschichtlichen Epoche
in ihrer anthropologischen Verfaßtheit aufzuzeigen, die sich aus
den konkreten Einzelfällen ableiten läßt, können die Ergebnisse
exemplarische Befunde sichtbar machen, die auch auf unsere G e­
genw art beziehbar sind. Denn unerachtet ihrer Einm aligkeit kann
eine vergangene Epoche - au f ihre Struktur hin befragt - Momente
der D auer enthalten, die noch in unsere Gegenwart hineinreichen.
D ie folgende Untersuchung richtet sich auf solche Strukturen,
besonders au f den ihnen immanenten zeitlichen A blauf, der von
den Religionskriegen bis zur französischen Revolution verfolgt
wird.
V or allem w ird gefragt nach der Problem atik der modernen
A ufklärung und der aus ihr folgenden Em anzipation. Deren P ro­
blem atik besteht darin, an eine Grenze zu kommen, die als poli-*
tische Grenze erkannt sein will, wenn sie sinnvoll überschritten
werden soll. Wo die Grenze als politische verkannt wird, gerinnt
die A ufklärung zu einer U topie, die, indem sie scheinbar beflügelt,
Gegenbewegungen provoziert, welche sich der Verfügung der A u f­
klärung entziehen, sobald sie sich der Einsicht in die H eterogonie
der Zwecke begeben hat. D ie Heterogonie der Zwecke ist nämlich,
eine zeitliche Bestimmung des Politischen, die von keiner U topie
überholt werden kann. Vielmehr werden die Zielsetzungen einer
A ufklärung gerade dann verfehlt, wenn sie die D ialektik eines
politischen Prozesses nicht prognostisch einfangen kann. D ie D ia ­
lektik der A ufklärung entspringt - mit anderen Worten - nicht
nur ihr selbst, sondern mehr noch der geschichtlichen Situation,
in der sie sich entfaltet. Jede A ufklärung gerät früher oder später
in K onfliktlagen, die rational aufzuschlüsseln eine Um setzung der
bloßen K ritik in politische Verhaltensweisen erfordert.
D ie außenpolitische Lage auf unserem Globus hat sich durch
den A ufstieg Chinas und die Em anzipation der dritten Welt im
letzten Jahrzehnt verschoben. Dadurch hat sich die A usgangsfrage
der vorliegenden Untersuchung insofern nicht verändert, als sie
von vornherein hinter die antithetischen Zwänge zurückfragen
wollte. Freilich hat sich die Einm aligkeit unserer Lage immer mehr
verdeutlicht. W ährend zur Zeit der absolutistischen und national­
staatlichen Politik der K rieg immer noch als Entlastungsvorgang
für drohende Bürgerkriege verstanden und auch bemüht werden;
mochte, stehen wir heute vor einer fatalen Umkehr dieses V or­
gangs. U nter der Drohung gegenseitiger atom arer Vernichtung
haben die Weltmächte Randzonen ihrer Interessengebiete heraus­
geschnitten, innerhalb deren die Bürgerkriege - mit dem Schein
gegenseitiger Entlastung - umgrenzt werden und so legitim iert
werden sollen. Ein ständig sich verschiebender Ring von Elend,
Blut und Schrecken hat sich um den Globus gelegt. Nicht mehr
der alte Staat ist die Gegenposition zu diesem Bürgerkrieg, son­
dern zunächst der ganze Globus, dessen neue Geschichten sich erst
in der Zukunft abzeichnen.
D aß der Untertitel einer Pathogenese unserer Moderne seine
Evidenz nicht aus der biologischen M etarphorik bezieht, sondern
aus dem Leiden, das zu diagnostizieren neue Kategorien fordert,
bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Den Herausgebern des Orbis Academicus sei für den Erstdruck
gedankt und dem Alber V erlag für die Überlassung der Rechte
zugunsten der Taschenbuchausgabe.
Wie die erste und zweite A uflage sei dieser Neudruck meinen
Eltern gewidmet.

H eidelberg - Bielefeld, im O ktober 1 9 7 3 R. K .


D ie vorliegende A rbeit ist aus einer D issertation hervorgegangen,
die 1 954 von der Philosophischen F aku ltät der U niversität H ei­
delberg angenommen wurde. Für die Förderung und Anregung,
die er mir hat zukommen lassen, bin ich H errn Professor D r. Jo ­
hannes Kühn zu tiefem D ank verpflichtet. D arüber hinaus möchte
ich meinen D ank aussprechen H errn Professor D r. C arl Schmitt,
vder mir in Gesprächen Fragen stellen und Antworten suchen half.
Für die zahlreichen Hinweise und H ilfen, die der A rbeit zugute
gekommen sind, danke ich schließlich meinem V ater und meinen
Freunden, vor allem D r. Gerhard H ergt, D r. H anno K esting und
D r. N icolaus Som bart.

Heidelberg, im M ärz 1 9 59 Reinhart Koselleck


E IN L E IT U N G

„Dans le feu d'une revolution, quand les haines sont en presence,


et le souverain divise, il est difficile d’ecrire Vhistoire.*
Rivarol

D ie gegenwärtige W eltkrise, bestimmt durch die polare Spannung


der Weltmächte A m erika und Rußland, ist — historisch gesehen —
Ergebnis der europäischen Geschichte. D ie europäische Geschichte
hat sich zur Weltgeschichte ausgeweitet und vollendet sich in ihr,
indem sie die ganze W elt in den Z ustand einer permanenten K rise
hat geraten lassen. Wie schon die erstm alige Erfassung^des gesamten
Erdballs durch die bürgerliche Gesellschaft, so steht auch die gegen­
w ärtige K rise im H orizon t eines geschichtsphilosophischen, vorw ie­
gend utopischen Selbstverständnisses. Utopisch ist dieses Selbst­
verständnis deshalb, weil es dem modernen Menschen bestim mt ist,
überall und nirgends zu H au se zu sein. D ie Geschichte ist über die
U fer der Tradition getreten und hat alle Grenzen überflutet. D ie
O m nipräsenz aller Gew alten unterwirft durch die technische K om ­
m unikation au f der unendlichen Oberfläche des Globus alles unter
jedes und jedes unter alles. Zugleich w ird jenseits der geschichtlichen
Raum e und Zeiten der planetarische R aum erschlossen, und sei es
auch nur, um die Menschheit in dem Prozeß, den sie gegen sich selber
angestrengt hat, m it in die Luft zu jagen.
Beide Phänomene sind eine einheitliche geschichtliche Erscheinung:
die politische K rise, die, wenn es sich um eine solche handelt, auf
eine Entscheidung zutreibt, und die dieser K rise korrespondieren­
den Geschichtsphilosophien, in deren N am en man diese Entschei­
dung vorwegzunehmen, sie zu beeinflussen, zu steuern oder — als
K atastroph e — zu verhindern sucht. Ihre gemeinsame W urzel liegt
im achtzehnten Jahrhundert. D am it ist die aus der gegenwärtigen
Situation bestimmte Fragerichtung angegeben.
Im achtzehnten Jahrhundert entfaltete sich die bürgerliche G e­
sellschaft, die sich als die neue W elt verstand, indem sie die ganze
W elt geistig beanspruchte und im gleichen Zuge die alte Welt
negierte. Sie wuchs aus dem europäischen Staatenraum heraus und
entwickelte in der A blösung von ihm eine diesem V organg ent­
sprechende Philosophie des Fortschritts. Deren Subjekt w ar die
gesamte Menschheit, die von dem europäischen Zentrum aus geeint
und friedlich einer besseren Zukunft entgegengeführt werden sollte.
Ihr A ktionsfeld w ar die eine Welt des Globus, die heute im Nam en
analoger Geschichtsphilosophien, aber nunmehr von zwei Mächten
zugleich beansprucht wird. D ie geschichtsphilosophisch konzipierte
Einheit der Welt erweist sich heute — und darin tritt ihr fiktiver
C harakter zutage — als eine politisch gespaltene Einheit. D ie eine
H älfte, a u f den Fortschritt ebenso eingeschworen wie die andere,
lebt von der eingebildeten Rückschrittlichkeit der jeweils anderen
H älfte. Sie stehen sich gegenseitig im Weg, doch gerade darin liegt
paradoxerw eise ihre Evidenz. Sie sondern sich voneinander ab, um
eine Einheit vörzutäuschen, die nicht vorhanden ist. Ihre Evidenz
ist daher die der A ngst und des Terrors. Die utopische Einheit der
Welt reproduziert ihre eigene Spaltung.
Auch im achtzehnten Jahrhundert hatte die utopische Zukunfts­
planung bereits eine spezifisch zeitgeschichtliche Funktion. Im glei­
chen Maße, als das europäische Bürgertum nach außen die ganze
Welt erfaßte und sich dabei au f die eine Menschheit berief, sprengte
es im N am en derselben Argum entation von innen her das absoluti­
stische Ordnungsgefüge. D ie Geschichtsphilosophie stellte die Be­
griffe bereit, die den A ufstieg und die Rolle des dam aligen Bürger­
tums rechtfertigten. D as achtzehnte Jahrhundert ist der Vorraum des
gegenwärtigen Zeitabschnitts, dessen Spannung sich seit der F ran ­
zösischen Revolution zunehmend verschärft hat, indem der revolu­
tionäre Prozeß extensiv die ganze Welt und intensiv alle Menschen
ergriff. In diesen V orraum leuchtet die vorliegende Arbeit hinein.
D er Zusammenhang zwischen der Entstehung der modernen G e­
schichtsphilosophie und dem Beginn der K rise, die seit 1789 — zu­
nächst in Europa — das politische Geschehen bestimmt, w ird dabei
in den Blick gerückt.
D ie Fragestellung wurde auf folgende Weise eingeengt und
historisch präzisiert: Nicht der Inhalt der dam aligen Geschichts­
philosophien, nicht ihre utopischen Ziele werden befragt, auch nicht
ihre ideologische Struktur gemessen etwa an dem wirtschaftlichen
A ufstieg des dam aligen Bürgertums, sondern das geschichtsphiloso­
phische Bewußtsein wird, um seinen ursprünglichen Zusammenhang
mit dem Beginn der politischen K rise aufzuhellen, aus der politi-
sehen Situation des Bürgertum s innerhalb des absolutistischen S ta a ­
tes heraus verstanden. D ie Geschichtsphilosophien selber werden
also — bis au f exemplarische Ausnahmen — ausgeklam m ert; d afü r
w ird die politische Funktion untersucht, die das bürgerliche Denken
und Trachten im Rahmen des absolutistischen Staates gehabt hat.
U m die politische Bedeutung der A ufklärun g herauszuarbeiten,
muß nach der Struktur des absolutistischen Staates gefragt werden:
denn dieser Staat w ar das erste O pfer der großen Revolution, durch
dessen F o rtfall die utopische Moderne sich entfalten konnte. Für
das Vorverständnis des Absolutism us bedarf es eines Rückgriffs in
das siebzehnte Jahrhundert, in dem der souveräne Fürstenstaat
seine vollendete A usprägung gefunden hat. Dieser Rückgriff soll
keine K ausalketten konstruieren, unter deren Suggestion man ret­
tungslos zurücktreibt bis in die Vorgeschichte und in die Problem a­
tik allen U rsprungs, kurz in die Fragen d e r Geschichtsphilosophie,
die jenseits der Ideologie im Rekurs auf die geschichtliche W irklich­
keit für die historische Wissenschaft einen Raum freilegt, der die
Scheinerklärungen eines regressus in infinitum gerade ausschließt.
Denn ein solcher historischer Regressus wäre nichts anderes als ein
rückwärts gewandter Fortschritt, den es gerade in Frage zu stellen
gilt.
D ie Analysen konzentrieren sich au f die vergangene Gegenwart]
nicht au f deren Vergangenheit. D ie Vorvergangenheit w ird nui
soweit berücksichtigt, als in ihr die Bedingungen liegen, die füi
unsere Fragestellung an das achtzehnte Jahrhundert bedeutsam
sind. D ie Genese der U topie aus einem historisch bestimmten Funk-
tionszusammenhang, dem des achtzehnten Jahrhunderts, ist das
Them a. A u f die politische Geschichte w ird daher soweit zurück­
gegriffen, als es nötig ist, um den Stellenwert des bürgerlichen Be­
wußtseins im absolutistischen System zu ermitteln. D am it rückt
zugleich die andere Seite der Fragestellung, die heraufziehende
politische Krise, in den Blick. Erst als A ntw ort au f die absolutisti­
sche Politik erhält — ob gewollt oder nicht — das geschichtsphilo­
sophische Selbstbewußtsein der A ufklärer seinen politischen Sinn.
D er Staat, wie er w ar, forderte eine A ntw ort heraus, wie sie dann
gefunden wurde. Es w ird also bewußt auch au f geistesgesdiichtliche
Ableitungen verzichtet. D as ererbte Ideengut, das fast vollständig
schon den A ufklärern zur V erfügung stand, wurde erst in einer
bestimmten Situation übernommen, und in dieser, w as das spezi­
fisch Neue dabei w ar, geschichtsphilosophisch ausgelegt. Durch die
Einengung der Untersuchung au f geschichtliche Situationen soll
freilich den dam aligen Menschen keine moralische Rechnung p rä­
sentiert werden, die ihnen Schuld oder weniger Schuld zumißt. D as
verbietet sich von selbst, denn der Mensch als geschichtliches Wesen
ist immer verantwortlich, für das G ew ollte so sehr wie für das U n­
gewollte, und für das letztere vielleicht öfters und mehr als für das
erstere.
D ie angewandte Methode verknüpft also geistesgeschichtliche
Analysen mit soziologischen Bedingungsanalysen. Es werden G e­
dankenbewegungen nachvollzogen, aber nur so weit, um ihren poli­
tischen A kzent sichtbar werden zu lassen; und es werden die S itu a­
tionen geklärt, in denen die Gedanken konzipiert wurden und auf
die sie zurückgewirkt haben, aber nur so weit, um die politische
Sinnfälligkeif der Ideen herauszupräparieren. Nicht also, daß der
politische A b lau f als solcher dargestellt würde oder die A bw and­
lung der Ideen als bloßer Ideen. D ie allgemeinen Bedingungen,
denen die A ufklärun g entsprungen ist und a u f die sie reagiert hat,
haben sich im Lau fe des achtzehnten Jahrhunderts nicht gewandelt.
N u r die einzelnen Um stände haben sich geändert, freilich in einer
Weise, daß die prinzipiellen Schwierigkeiten des absolutistischen
System s um so schärfer hervortraten. V or allem der französische
Staat verlor Macht und Ansehen, er verstrickte sich bei wachsendem
bürgerlichem W ohlstand tiefer und tiefer in Schulden, sichtbare E r­
folge blieben aus, K riege und Kolonien gingen verloren, und schließ­
lich wurden die Vertreter des Staates von der A ufklärun g selber
erfaßt. D ie A ufklärun g wurde „bündnisfähig“ . W as aber die poli­
tischen Bedingungen als solche betrifft, so kann kein Zw eifel darüber
herrschen, daß sich die Struktur des Staates selbst nicht gewandelt
hat. D er Monarch behielt die souveräne Entscheidung in seinen
H änden, er befand über K rieg und Frieden, er schickte nach Be­
lieben das Parlam ent in die Verbannung, wahrte seine H ofh altun g
unbeschadet der Verschuldung, und schließlich insistierte L u d ­
w ig X V I. au f seiner Souveränität, je weniger er sich zu wirksam en
Entscheidungen durchringen konnte. D er S ta at hatte sich gewan­
delt; er wurde korrupt: aber nur, weil er absolutistisch blieb. D as
absolutistische System , die Ausgangssituation der bürgerlichen A uf-
klärung, blieb erhalten bis zum Ausbruch der Revolution: es bildet
die eine K onstante unserer Untersuchung. An ihr w ird sukzessiv
und in verschiedenen Beispielen die politische Entfaltung der A u f­
klärung gemessen. D ie A ufklärung entwickelte ein Eigengefälle, das
schließlich zu den politischen Bedingungen selber gehörte. D er A b­
solutismus bedingt die Genese der A ufklärun g; die A ufklärung
bedingt die Genese der Französischen Revolution. Zwischen diesen
beiden Sätzen bewegt sich, grob gesprochen, die vorliegende Arbeit.
Quellen werden nur aus der Zeit vor 1789 herangezogen. Kein
Zeugnis w ird verw andt, um über den A utor persönlich eine A us­
sage zu machen. Obwohl also immer auf singuläre Ereignisse und
einzelne Schriften zurückgegriffen wird, geht es nie um diese selbst.
D as Them a bleibt die Geschehenseinheit der A ufklärung im abso­
lutistischen Staat. Jed er D enkakt und jede T at soll uns au f dieses
Ereignis verweisen. A lle Autoren bleiben für unsere Fragestellung,
stellvertretend. Unschwer ließen sich alle Z itate und Vorkommnisse
durch andere ersetzen, ohne den G ang der Untersuchung zu störek^
D ie Anmerkungen bergen oft Parallelstellen, obwohl die These
selber durch eine H äufu n g der Belege nicht gewinnt. Große Denker
und anonyme Flugblätter kommen in gleicher Weise zu W ort; ge­
rade ihre Gemeinsamkeit verweist au f die Geschehenseinheit der
A ufklärung, in der A nonym ität und politische Bedeutung meistens
zusammenfallen. N u r wenige Belege tragen so sehr den Stempel des
Persönlichen, daß sie — etwa bei H obbes oder D iderot — im G e­
samtgeschehen einmalig bleiben. A ber auch deren Einm aligkeit läßt
gleichsam im Brennpunkt das Typische sichtbar werden.
D er heuristische Zugriff, um den Zusammenhang zwischen der
utopischen Geschichtsphilosophie und der seit 1789 entfesselten
Revolution zu klären, liegt in dem vorausgesetzten Zusammenhang
zwischen der K ritik und der Krise. Dieser Zugriff wird sich bewäh­
ren. Gerade daß dem achtzehnten Jahrhundert der Zusammenhang
zwischen der ausgeübten K ritik und der heraufkommenden K rise
entging — ein wörtliches Zeugnis für das Bewußtsein des Z u sam ­
menhanges ließ sich nicht finden — , führte zu der vorliegenden
These: der kritische Prozeß der A ufklärung hat die K rise im glei­
chen Maße heraufbeschworen, wie ihr der politische Sinn dieser
K rise verdeckt blieb. D ie K rise w ird so sehr verschärft, wie sie
geschichtsphilosophisch verdunkelt w ird; sie wird nie politisch er-
faßt, sondern bleibt verborgen in geschichtsphilosophischen Zu­
kunftsbildern, vor denen das Tagesgeschehen verblaßt: um so unge­
hemmter konnte dieses au f eine unerwartete Entscheidung zusteuern.
Diese D ialektik gründet in der spezifischen A rt der K ritik , die das
achtzehnte Jahrhundert getrieben und von der es seinen Nam en
erhalten hat. D ie R olle des au f steigenden Bürgertum s wurde be­
stimmt von der K ritik, die die bürgerliche Intelligenz ausgeübt
und die die neue Welt zusammengeführt hat.
D er ganze behandelte Zeitraum bietet das Bild eines einzigen
und gewaltigen Prozesses. Ohne sich dessen bewußt zu werden,
verwandelte die bürgerliche Geistigkeit im achtzehnten Jahrhun­
dert die Geschichte in einen Prozeß. Dieses Geschehnis, das die N eu ­
zeit inauguriert, ist identisch mit der Genese der Geschichtsphiloso­
phie. „In der K ritik w ird die Geschichte von selbst zur Philosophie
der Geschichte“ (Ferd. Christ. Baur). D er hohe Gerichtshof der
Vernunft, zu dessen natürlichen Beisitzern sich die au f steigende Elite
selbstbewußt zählte, verwickelte in verschiedenen Etappen alle Be­
reiche des Lebens in seine Prozeßführung. Die Theologie, die K unst,
die Geschichte, das Recht, der S taat und die Politik, schließlich die
Vernunft selber, werden früher oder später vor seine Schranken
zitiert und haben sich zu verantworten. Die bürgerliche Geistigkeit
fungierte in diesem Rechtshandel als Ankläger, als oberste U rteils­
instanz und — was für die Geschichtsphilosophie von entscheiden­
der Bedeutung werden sollte — als Partei zugleich. D er Fortschritt
w ar immer schon au f seiten der bürgerlichen Richter. N iem and und
nichts konnte der neuen Gerichtsbarkeit entrinnen, und was jeweils
im U rteil der bürgerlichen K ritiker nicht standhielt, wurde der
moralischen Zensur überantwortet, die das ihrige tat, den Verurteil­
ten zu diskriminieren und so den Urteilsspruch zu vollstrecken.
„W er dieses nicht erkennen kann / den seh’ man mit Verachtung
an .“
In dem rigorosen Prozeß der K ritik — es w ar zugleich ein Prozeß
sozialer G ärung — entstand die Geschichtsphilosophie: alle Be­
reiche, die von der K ritik erfaßt wurden, leisteten ihren Beitrag,
um die H eraufkunft der bürgerlichen Geschichtsphilosophie zu för­
dern. Durch die Kunst- und Literaturkritik wurde zunächst inner­
halb der Gelehrtenrepublik der Gegensatz zwischen Alten und M o­
dernen artikuliert und dam it ein Zeitverständnis herausgebildet, das
Zukunft und Vergangenheit auseinanderreißt. — Ein zentrales
Angriffsgebiet der K ritik , die christliche Religion, stellte in ihrer
m annigfaltigen A ufsplitterung das heilsgeschichtliche Erbe bereit,
das au f die verschiedenste Weise in die zukunftgerichtete Weitsicht
übernommen wurde. Bekannt ist der V organg der Säkularisierung,
durch den die Eschatologie in eine fortschrittliche Geschichte trans­
poniert wurde. A ber ebenso werden — und das w ird unsere U nter­
suchung zeigen — die Elemente des göttlichen Gerichts und des
Jüngsten Tages, vor allem in der sich verschärfenden kritischen
Situation, bewußt und absichtlich au f die Geschichte selbst ange­
wandt. D as Ferment der K ritik verändert dam it den C harakter des
politischen Geschehens. D ie subjektive Selbstgerechtigkeit rechnet
nicht mehr mit gegebenen Größen, sondern verwandelt alles ge­
schichtlich Gegebene, die Geschichte selber in einen Prozeß, dessen
A usgang freilich so lange offensteht, als die privaten U rteilskatego­
rien nie die Ereignisse einholen können, die sie auslösen halfen. Um
sie dennoch zu ereilen, w ird schließlich der göttliche, bis dahin un­
durchsichtige H eilsplan selber verw andelt: auch er w ird aufgeklärt.
E r w ird zur moralisch gerechten und vernunftgemäßen Zukunfts­
planung der neuen Elite. D a es der rationalen K ritik eigentümlich
ist, die Eigenständigkeit der von ihr kritisierten Bereiche zu verken­
nen, in der Religion so gut wie in der Politik, mußte sie nach einer
Rückendeckung Ausschau halten, die sie au f ein Morgen verweist,
in dessen Nam en sie das H eute guten Gewissens verkommen lassen
konnte. D ie K ritik des achtzehnten Jahrhunderts mußte, um sich
überhaupt ins Recht setzen zu können, utopisch werden. — Endlich
trug das letzte O bjekt der K ritik, der absolutistische Staat, auf seine
A rt dazu bei, das utopische Geschichtsbild des Bürgertums zu eta­
blieren.
A u f diese, die politische Seite des Prozesses konzentriert sich die
Untersuchung. U m ihren Zusammenhang m it der langsam herauf­
ziehenden K rise sichtbar zu machen, d. h. um die Einheit der dop­
pelten Fragestellung zu wahren, werden d ie geschichtlichen Ein­
satzpunkte aufgezeigt, an denen sich einerseits der politische Sinn
der bürgerlichen Geschichtsphilosophie nachweisen läßt, an denen
sidi aber zugleich die latente politische K rise ablesen läßt, in die der
absolutistische S taat zuerst geraten und der er als erster erlegen ist.
Durch die politische Ordnung, die der S taat herstellte, indem er
den durch die religiösen Bürgerkriege verwüsteten Raum pazi-
fizierte, schuf er die Voraussetzung für die Entfaltung der m ora­
lischen Welt. A ber im M aße als die politisch machtlosen Individuen
der religiösen Bindung entwachsen, geraten sie in Widerspruch zu
dem Staat, der sie zw ar moralisch freisetzt, aber gleichwohl ihnen
die V erantw ortung vorenthält, indem er sie auf einen Privatraum
reduziert. D ie Bürger geraten zw angsläufig in Gegensatz zu einem
Staat, der durch die Unterordnung der M oral unter die Politik das
Politische auf form ale A rt versteht und so die Rechnung ohne das
Eigengefälle der Em anzipation seiner Untertanen macht. Ihr Ziel
w ird es nämlich sein, sich moralisch so weit zu vervollkommnen,
daß sie tatsächlich selber wissen, und zw ar jeder für sich, was gut ist
und was böse. A u f diese Weise wird jeder zum Richter, der sich au f
Grund seiner A ufgeklärtheit autorisiert weiß, allem den Prozeß zu
machen, was an heteronomen Bestimmungen seiner moralischen
Autonomie widerstreitet. Die einmal vom S taat vollzogene Tren­
nung von M oral und Politik wendet sich dam it gegen ihn selbst,
indem er sich den moralischen Prozeß machen lassen muß für die
Leistung, die darin bestand, einen Raum zu konstituieren, in dem
sich überleben ließ.
Im Zug der Entfaltung des C ogito ergo sum des Descartes als der
Selbstgarantie des aus der religiösen Bindung herausgefallenen
Menschen schlägt die Eschatologie in die U topie um. Die Geschichte
zu planen wird genauso wichtig wie die N atu r in den G riff zu be­
kommen. Daß die Geschichte planbar sei, diesem M ißverständnis
leistet der technizistische Staat Vorschub, weil er sich als politische
Größe dem U ntertan nicht verständlich machen kann. Der Bürger,
als U ntertan des souveränen H errn politisch machtlos, verstand sich
als moralisch, em pfand die bestehende Herrschaft als übermächtig
und verurteilte sie proportional dazu als unmoralisch, indem er das,
was im H orizont menschlicher Endlichkeit Evidenz hat, nicht mehr
wahrnehmen konnte. Durch die Spaltung von M oral und Politik
muß sich die M oral zwangsläufig der politischen Wirklichkeit ent­
fremden. D as äußert sich darin, daß sie die A porie des Politischen
überspringt. Die M oral, die die Politik nicht integrieren kann, muß,
weil im Leeren stehend, aus der N o t eine Tugend machen. Wirklich­
keitsfrem d, erblickt sie in dem Bereich des Politischen eine hetero-
nome Bestimmung, die ihrer Autonomie nur im Wege steht. Infolge­
dessen meint diese M oral, daß sie im Maß, als sie au f die H öhe
ihrer Bestimmung komm t, die A porie des Politischen vollends aus
der Welt schaffen könne. D aß die P olitik das Schicksal ist, und zw ar
gerade nicht im Sinne einer blinden F atalität, das w ird von den
A ufklärern nicht verstanden. Ihr Versuch, durch die Geschichts­
philosophie die geschichtliche F ak tizität zu negieren, das Politische
zu „verdrängen“ , hat ursprungsgemäß utopischen C harakter. D ie
K rise, die durch den Prozeß in G an g komm t, den die M oral gegen
die Geschichte anstrengt, bleibt perm anent, solange als die G e­
schichte geschichtsphilosophisch verfrem det wird.
D ie gegenseitige A bhängigkeit und Verflochtenheit der K rise und
der Geschichtsphilosophie, ja man muß schließlich so weit gehen und
sagen: ihre Identität, müssen, wenn die Untersuchung zum Ziel ge­
führt hat, an einigen A nsatzpunkten im achtzehnten Jahrhundert
sichtbar geworden sein. D er U topism us entsprang einem geschicht­
lich bedingten, dann ab er geschichtsphilosophisch festgelegten M iß­
verhältnis zur Politik. Im K reuzfeuer der K ritik wurde nicht nur
die dam als aktuelle Politik zermürbt, sondern im gleichen Prozeß
löste sich auch die Politik selbst als ständige A ufgabe des mensch­
lichen D aseins in utopische Zukunftskonstruktionen auf. D ie po­
litische Struktur des absolutistischen Staates und die E n tfaltung des
U topism us sind ein kom plexer V organg, mit dem die politische
K rise der Gegenw art anhebt.
ER STES K A PITEL

Zwei epochale Ereignisse stehen am A n fan g und am Ende des klas­


sischen Absolutism us. Seine Ausgangssituation w ar der religiöse
Bürgerkrieg. In mühseligen K äm pfen hatte sich der moderne S ta at
aus den Religionsw irren erhoben, erst durch deren Ü berwindung
gelangte er zu seiner vollen Form und A usprägung. Ein anderer
Bürgerkrieg bereitete dem absolutistischen S taat sein jähes Ende:
die Französische Revolution.
D er W irkungszusammenhang beider Ereignisketten erfaßte ganz
E u ro pa; die Sonderstellung Englands w ird darin deutlich, daß a u f
der Insel beide Geschehnisse gleichsam zusammenfallen. H ier wurde
der entstehende absolutistische S taat bereits im religiösen Bürger­
krieg zugrunde gerichtet, die G laubenskäm pfe bedeuteten schon die
bürgerliche Revolution. A u f dem K ontinent dagegen blieb der abso­
lutistische Staat, soweit sich seine Entwicklung auch zurückver­
folgen läßt iy das zeitgebundene Ergebnis der nachreformatorischen
Wirren. Durch räumlich verschiedene Lösungen der konfessionellen
Streitigkeiten und in zeitlich verschiedenen Phasen etablierte sich
die moderne Staatsgew alt. Ihre Politik w ar das Them a des sieb­
zehnten Jahrhunderts, ihre Wege zeichnen die Geschichte des A bso­
lutismus. D er folgende Zeitabschnitt, obzw ar von derselben S taats­
form geprägt, hat einen anderen N am en erhalten, den der A u f­
klärung. D iese entwickelte sich aus dem Absolutism us heraus, zu­
nächst als dessen innere Konsequenz, um dann als dialektischer
W iderpart und Feind dem absolutistischen S ta at seinen U ntergang
zu bereiten.
Wie die politische A usgangssituation der A ufklärun g im abso­
lutistischen System lag, so die des A bsolutism us in den religiösen
Glaubenskriegen. A usform ung und Ende des A bsolutism us stehen
in einem inneren Zusammenhang. Dieser Zusammenhang w ird er­
sichtlich an der Rolle, die die A ufklärun g im R aum des absolutisti­
schen Staates spielen konnte. D ie A ufklärun g kam gerade in dem
Lande auf die Höhe, das als erstes und am entschiedensten die
inneren Religionskriege durch das absolutistische System über­
wunden hatte, in Frankreich2. Der Mißbrauch der Macht durch
Ludw ig X IV . beschleunigte die Bewegung der A ufklärung, in der
sich der U ntertan als Bürger entdeckt3. Dieser Bürger w ird dereinst
in Frankreich die Bastionen der Gewaltherrschaft stürmen. D ie p o­
litische Struktur des absolutistischen Staates, zunächst eine A ntw ort
a u f den religiösen Bürgerkrieg, w ird von der nachfolgenden A u f­
klärung als eine solche nicht mehr verstanden.
Erste A ufgabe der Untersuchung ist es, diesen Zusammenhang in
den Blick rücken. Die A usgangssituation des modernen Staates soll
also soweit geklärt werden, als es nötig ist, um den politischen Ein­
satzpunkt der nachfolgenden A ufklärun g in eben diesem Staate
sichtbar zu machen. D ie dam it gegebene methodische Begrenzung
a u f die A nalyse der politischen Struktur des Absolutism us — jen­
seits von sozialen oder ökonomischen Fragen — trägt eine sach-
gebundene Berechtigung in sich. D er Fürstenstaat bildet, a u f
Beamtentum und M ilitär gestützt, einen überreligiösen, rationalen
Handlungsbereich heraus, der im Gegensatz zu seinen sonstigen G e­
gebenheiten staatlich-politisch bestimmt wurde. Sozial blieben die
Monarchien noch völlig gebunden an die herkömmliche Stände­
schichtung, so sehr, daß sie meist danach trachteten, diese zu erhal­
ten. Politisch aber suchten die Monarchen alle eigenständigen Insti­
tutionen auszuschalten oder zu neutralisieren. — Auch der M erkan­
tilismus steht als wirtschaftliches System unter dem Gebot politi­
scher Planung und staatlicher Führung. — Ebenfalls wurden die
Fragen der Religion und der Kirche im Hinblick au f ihren S taats­
nutzen behandelt, sei es im Rahmen einer Staatskirche oder einer
zweckgebundenen Toleranz. D er Eigenbereich eines ganz Europa
umfassenden politischen Systems bildete die A usgangskonstellation
für die A ufklärung.
Dieser Eigenbereich fand in der Lehre von der Staatsraison seinen
theoretischen A usdruck4. Ungebunden von moralischen Gesetzlich­
keiten wurde ein Raum freigelegt, in dem sich die Politik m oralfrei
entfalten konnte. „D an s les monarchies la politique fa it faire les
grandes choses avec le moins de vertu qu’elle peut .“ 5 Wenn Montes­
quieu mit diesem Satz 1748 die dam alige Politik charakterisierte,
so benutzte er eine Formel, die — von ihrem polemischen G ehalt
abgesehen — den A ufklärern schon nicht mehr verständlich w ar,
die aber ihre historische Evidenz aus dem Zeitalter der religiösen
Bürgerkriege bezog. D ie herkömmliche O rdnung w ar im 16. Ja h r­
hundert zerfallen. A ls Folge der A ufspaltun g der Kircheneinheit
geriet die gesamte Gesellschaftsordnung aus den Fugen. A lte Bin­
dungen und Loyalitäten wurden aufgelöst. H ochverrat und K a m p f
für das Gemeinwohl wurden je nach den wechselnden Lagern und
je nach den Menschen, die ihre Lager wechselten, austauschbare Be­
griffe 6. D ie allgemeine Anarchie führte zu Duellen, G ew alttat und
M ord, und die Pluralisierung der Ecclesia Sancta w ar ein Ferm ent
der D epravation für alles sonst noch Geeinte: Fam ilien, Stände,
Länder und Völker. D am it wurde von der zweiten H älfte des 16.
Jahrhunderts an ein Problem virulent, das mit den M itteln der
überkommenen O rdnung nicht mehr zu bewältigen w ar: es w ar der
Z w ang der Epoche, inmitten der sich bitter bekämpfenden und
einander grausam verfolgenden intoleranten Kirchen oder religiös
gebundenen Standesfraktionen eine Lösung zu finden. Eine Lösung,
die den Streit umging, schlichtete oder erstickte7. Wie w ar der
Friede zu gewinnen? A u f diese epochale Frage fand auf dem größ­
ten Teil des Kontinents der absolutistische S taat die geschichtliche
A ntw ort. U nd zw ar konstituierte sich der S taat als das, was er war,
erst durch die spezifische A ntw ort, die er auf den religiösen Bürger­
krieg gefunden h atte8. Wie lautete diese A ntw ort? Was besagte sie
für den Monarchen? U nd was für den U ntertan?
W ährend die religiösen Parteien ihre Energie aus Quellen bezogen,
die außerhalb der fürstlichen Machtbereiche lagen, konnten sich die
Fürsten nur gegen sie durchsetzen, wenn sie das Prim at des R eligiö­
sen brachen. N u r so gelang es ihnen, die verschiedenen Parteiungen
der staatlichen Autoritäten zu unterwerfen. „C uius regio, eius reli­
gio“ ist bereits eine Folge der Tatsache, daß die Fürsten, auch wenn
sie als Anhänger einer Religion Partei waren, sich als Fürsten über
die Religionsparteien stellten. D er absolute Fürst erkannte keine
Instanz über sich an als G ott, dessen A ttribute er im politischen
und geschichtlichen R aum selbst übernahm: „M ajestas vero nec a
m ajore potestate nec legibus ullis nec tempore definitur .“ 9
In seinem Schlüsselroman, der „A rgenis“ , lieferte B arclay 1621
eine dam als weitverbreitete* und in fast alle europäischen Sprachen
übersetzte Rechtfertigung der absoluten Monarchie. Der A utor, ein
juristisch gebildeter H um anist, teilte das Schicksal vieler seiner Z eit­
genossen; er w ar der Sohn einer Flüchtlingsfamilie, dessen Jugen d­
eindrücke von den K äm pfen der L iga und dem Schock der Pulver­
verschwörung bestimmt w aren 10. A u f derartige Ereignisse anspie­
lend, stellte er den Monarchen vor eine herausfordernde A lternative:
„Entw eder schenke dem V olk seine Freiheit wieder oder sorge für
den inneren Frieden, um dessentwillen das V olk seine Freiheit ge­
op fert hat . “ 11 In solchen Passagen wird der historische A u ftrag
sichtbar, unter dem das dam alige K önigtum stand und den die
große M ehrzahl der Generation von Richelieu — gegen Ligisten,
Frondeure oder Monarchomachen — als berechtigt prok lam ierte12.
Noch die Lehre vom Herrschaftsvertrag nutzend, zielte B arclay auf
den absolutistischen Staat, indem er die K am pfparteien ihrer Rechte
beraubte, um sie — und dam it alle Verantwortlichkeit — einzig
dem Souverän zu übertragen. D ie „A rgenis“ gehörte zur ständigen
Lektüre Richelieus, ihre Gedankengänge, dam alige topoi, finden sich
wieder in seinem T estam ent13. M ilde walten lassen sei gefährlicher
als Strenge, als G rausam keit, denn die Folgen jeder Nachsicht seien
blutiger und verheerender als die momentaner H ärte. D ulde der
Monarch Opposition, so w älze er zw ar V erantw ortung von sich ab,
lade aber die Schuld au f sich für alle Unruhen, die aus der Toleranz
entspringen14. D as postulierte M onopol der Friedensstiftung durch
den Monarchen erzwingt seine absolute Verantwortlichkeit, die in
der W endung zur alleinigen Verantw ortung vor G ott ihren zeit­
gebundenen Ausdruck fand.
Barclay wies in seinem Rom an auch die Richtung auf, die der
K önig einzuschlagen habe, um das Lan d zu befrieden. Entweder
müsse er alle niederbeugen oder niemand werde unterw orfen15. D ie
absolute Verantwortlichkeit des Souveräns erfordert die absolute
Beherrschung aller Subjekte und setzt sie voraus. N u r wenn alle
U ntertanen in gleicher Weise dem Herrscher unterworfen sind, kann
dieser die V erantw ortung für Frieden und O rdnung allein über­
nehmen. D am it geschieht ein tiefer Einbruch in die Stellung der
Untertanen, die bisher ihren P latz hatten in einem mannigfachen,
wenn auch auf gelockerten V erantw ortungsgefüge: als Glied einer
der Kirchen, in A bhängigkeit von V asallen, im Rahmen eigener poli­
tischer Institutionen oder der Ständeordnung. Je mehr sich der Sinn
dieser pluralistischen W elt in den Unsinn des Bürgerkriegs ver­
kehrte, desto mehr sahen sich die Untertanen vor eine ähnlich
zwingende A lternative gestellt wie der K ön ig selbst: „Wißt, daß
fast alle Menschen auf diesen Punkt reduziert worden sind: ent­
weder sich mit ihrem Gewissen zu Überwerfen oder mit den Ereig­
nissen des Jahrhunderts . “ 16 In dem H in und H er der V erfolger und
der Verfolgten, die ihre Rollen ständig tauschten, der O pfer*un d
der H enker, blieb nicht der übrig, der seinem Glauben treu blieb,
sondern der, der den Frieden suchte um des Friedens willen. Diese
Feststellungen legte d'Aubigne, lebenslänglicher Frondeur, ver­
femter und rigoroser Glaubensstreiter, seinem abtrünnigen M it­
käm pfer, dem Politiker de Sancy, in den M u n d 17. D as Gewissen
und die Erfordernisse der Situation lassen sich nicht mehr vereinen.
M an müsse deshalb, so läßt d'Aubigne seinen Politiker fortfahren,
säuberlich scheiden zwischen Innen und Außen. D er K luge ziehe
sich in die Geheimkammern seines H erzens zurück, dort bleibe er
sein eigener Richter, die äußeren Taten seien dem U rteil und Gericht
des Herrschers zu unterwerfen. N ie dürfe die Stimme des Gewissens
nach außen dringen; eher sei sie einzuschläfern. N u r wer konver­
tiert, überlebt. „D er Sinn dessen ist leicht ersichtlich: die tot sind,
wollten ihr Gewissen leben lassen, und es w ar ihr Gewissen, das sie
getötet hat . “ 18 Durch eine ironische Inversion wurde das Gewissen
zum Schuldigen am eigenen U ntergang. D ie Grenzen zwischen T o t­
schlag, Hinrichtung und M ord waren noch fließend und unbe­
stim m t19; für den Politiker aber kam jeder gewaltsame T od im reli­
giösen Bürgerkrieg einem Selbstm ord gleich. Wer sich dem Souverän
unterwirft, lebt durch den Souverän: wer sich ihm nicht unterwirft,
w ird vernichtet, aber die Schuld trifft den Vernichteten selbst. D er
U ntertan muß, um überhaupt zu überleben, sein Gewissen ver­
stecken.
D ie das Gewissen konstituierende Beziehung zwischen Schuld und
Verantwortung wurde aufgesprengt. Beide fanden in den Personen
von Herrscher und U ntertan eine neuartige Zuordnung. D er Sou­
verän wurde vor dem Forum seiner Untertanen jeder Schuld ent­
hoben, aber er akkum ulierte alle Verantwortung. D er U ntertan
wurde von jeder politischen V erantw ortung entbunden, dafür aber
von einer doppelten Schuld bedroht: äußerlich dann, wenn er sich
gegen die Interessen seines Souveräns verging, worüber zu ent­
scheiden der Souverän allein befugt w ar; \ind innerlich von der
Schuld, die den heimsucht, der in die Anonym ität emigriert. Durch
diese A ufspaltung wurde im H orizont des religiösen Bürgerkrieges
ein Bereich freigelegt, in dem die „Unschuld der M acht“ verortet ist.
D er Souverän allein w ar es, dem sie zukam. Die Unschuld seiner
Macht aber konnte der Fürst nur wahren, wenn er sich der erhöhten
Verantwortlichkeit bewußt blieb, die aus ihr folgt. N u r dann besaß
er die A utorität, die seine Macht gewährleistete. D er Fürst geriet
unter einen H andlungszw ang, der ständig neue Entscheidungen
— auch zur Gewaltanwendung — heraufbeschwor. Die U nterlas­
sung von H andlungen konnte so schwerwiegende Folgen zeitigen
wie ihr Gegenteil: eine Strapazierung der Macht. D ie eine G efah r
w ar so groß wie die andere auch. Sie forderten sich gegenseitig her­
aus. Gerade die G efahr, von einem Extrem ins andere zu fallen,
w ar es, was der souveränen Entscheidung Evidenz verlieh.
U m seiner allumfassenden V erantw ortung nachzukommen, w ar
der Fürst gezwungen, die M aßgabe seiner Taten in dem abseh­
baren Effekt zu suchen, den seine Aktionen für die Allgemeinheit
zeitigten. D am it provozierte der H andlungszw ang auch einen
Zw ang zu erhöhter Voraussicht. D as rationale K alkü l aller mög­
lichen Folgen wurde zum ersten Gebot der P o litik 20. U m aber die
Folgen seiner H andlungen, die — einmal begangen — sich dem
menschlichen Zugriff entziehen, möglichst lange in der K ontrolle
zu halten, wurde der Fürst wiederum zu einer Steigerung seiner
Macht getrieben. D am it erhöhten sich wieder die Gefahrenquellen,
die einmal versam melte Macht nicht zu nutzen oder zu miß­
brauchen, d. h., sich der Unschuld der Macht zu begeben. Es ist die
Logik der absoluten Verantwortlichkeit, der Ludw ig X IV . erliegen
sollte, deren Gesetze einzuhalten aber zur K unst der Politik wurde.
D er Spielraum der Unschuld der Macht blieb aufs engste umgrenzt
durch die Richtsätze einer verschärften A ktionsm oral. Diese bil­
deten die Regeln der Politik, die dem machtlosen U ntertan wesen­
haft frem d bleiben mußten.
Beide, die Politiker wie die Lehrer einer weltlichen M oral, wuß­
ten sich darin ein ig21. Sie, die erst im achtzehnten Jahrhundert in
zwei feindliche Lager auseinandertreten sollten, hatten im sieb­
zehnten Jahrhundert noch einen gemeinsamen Gegner: die Theo­
logen. N u r die Theologen glauben, so versicherte noch Spinoza, daß
auch die Staatsm änner an die Frömm igkeitsregeln der Privatleute
gebunden seien22. Die Ausklammerung der „M o ral“ aus der Politik
richtete sich nicht gegen eine weltliche M oral, sondern gegen eine
religiöse mit politischem Anspruch.
Die Lehre von der Staatsräson war dabei so sehr situations­
bezogen auf die konfessionellen Streitigkeiten, daß sie nicht einmal
beschränkt blieb auf den monarchischen Absolutismus. A u f dem
Kontinent floß die Lehre ein in die Tradition des erstarkenden
Königtums, aber sie gewann ebenso Boden in den Ländern mit stän­
discher bzw. republikanischer Verfassung. Jede Macht, die sich
damals mit Autorität und allgemeiner Verbindlichkeit ausstatten
wollte, bedurfte dieser Ausklammerung des privaten Gewissens, in
dem die religiösen Bindungen oder ständischen Loyalitätsbande
verankert waren. So ergriff auch das englische Parlament, als es
1640 K a rl I. seiner Prärogative berauben wollte, eilig das A rgu­
ment, jedes Gewissen, auch das des Königs, habe sich dem Staats­
interesse zu fügen. Das Parlament erhob in dem Maße Anspruch
auf die volle Souveränität, als es den König zwang, gegen sein
besseres Gewissen zu handeln23. — Auch Spinoza, in H olland weit
davon entfernt, einem monarchischen Absolutismus das Wort zu
reden, hielt es für völlig vernünftig, in jeder guten Tat eine Sünde
zu erblicken, wenn sie dem Staate schade, wie umgekehrt eine Sünde
zum frommen Werk werde, vorausgesetzt, sie diene dem Gemein­
wohl 24.
Paradigmatisch für die Genese der modernen Staatstheorie aus
der Situation der religiösen Bürgerkriege ist Hobbes, auf den sich
Spinoza berufen hat.
Für die Darstellung dieser Genese eignet sich Hobbes ausgezeich­
net, weil er bereits auf alle traditionellen Argumente wie die Gott-
König-Analogie verzichtet hat, vielmehr im Gegenzug gegen diese
am Leitfaden einer wissenschaftlichen Methode, wie Dilthey sagt25,
die Phänomene in ihrer nackten Wirklichkeit in den Blick rücken
wollte. Zudem enthält seine konsequent absolutistische Staats­
theorie in nuce bereits den bürgerlichen Rechtsstaatsgedanken, so
daß sich der Blick aus der Glaubenskriegssituation auf das acht­
zehnte Jahrhundert von selbst ergibt.
H obbes hat in eindeutiger Weise aus der geschichtlichen Situation
des Bürgerkrieges heraus seine Staatslehre entwickelt. Für H obbes,
der die A usform ung des absolutistischen Staates in Frankreich m it­
erlebte, der in diesem Lande w ar, als Heinrich IV . erm ordet wurde
und wiederum, als L a Rochelle vor den Truppen Richelieus k api­
tulierte, für H obbes gab es kein anderes Ziel, als den Bürgerkrieg,
den er in England herannahen sah, zu verhüten oder ihn, nachdem
er ausgebrochen war, zu beenden26. U nd noch in seinem A ltersw erk
stellte er fest, daß es nichts Belehrenderes gäbe in bezug auf L o y a ­
lität und Gerechtigkeit als die Erinnerung an den vergangenen
B ürgerkrieg27. — Inmitten der revolutionären Wirren sucht H obbes
ein Fundament, au f dem sich ein S ta at bauen läßt, der Ruhe und
Sicherheit gewährleistet. W ährend Descartes in dem bereits kon­
stituierten Staat davor zurückschreckt, solche Fragen grundsätzlich
zu stellen, werden sie für H obbes aus der Situation heraus geradezu
zen tral28. A lle Theologen, M oralphilosophen und Staatsrechtler
hätten ihre A ufgabe verfehlt, da ihre Lehren das Recht bestimmter
Parteien stützten, also gerade den Bürgerkrieg schürten, anstatt
„non partium , sed pacis Studio “ 29 ein Recht zu lehren, das über den
Parteien steht. Um ein solchesRecht finden zu können, fragt H obbes
nach der Ursache des Bürgerkrieges. D abei läßt er sich von dem
Gedanken leiten, daß man zunächst die Pläne und Interessen der
verschiedenen Menschen, Parteien und Kirchen entlarven muß, um
den allen gemeinsamen Grund zu erblicken, der den Bürgerkrieg
verursacht. Denn die von ihren Wünschen und Hoffnungen ver­
blendeten Menschen seien verständlicherweise, aber ganz gegen die
Vernunft, selber außerstande, die Ursache allen Übels zu erkennen.
„C au sa igitur belli civilis est, quod bellorum ac pacis causae igno-
rantur . “ 30 Am Leitfaden der causa belli civilis entwickelt H obbes
sein rationales Naturrecht, das somit gleichkommt einer Lehre der
Ursachen von K rieg und Frieden.
U m dem Bürgerkrieg auf den G rund zu kommen, entwickelt
H obbes jenseits von pro und contra der wechselnden Fronten eine
individualistische Anthropologie, wie sie einem Menschsein ent­
spricht, dem seine sozialen, politischen und religiösen Bindungen
problematisch geworden sind. Ihre Grundbegriffe heißen appetitus
et fuga oder desire and fe a r 31 und bilden, geschichtlich betrachtet,
die Elemente einer Lehre vom Bürgerkrieg. D as ganze System von
H obbes ist aber zugleich so angelegt, daß das Ergebnis, der Staat,
in den Prämissen des Bürgerkrieges bereits enthalten ist. Die Indi­
viduen werden von vornherein im Hinblick auf ihr Dasein als Sub­
jekte, d. h. als Untertanen des Souveräns, beschrieben. Ohne stän­
dische M ittelinstanz werden sie in die staatliche O rdnung derart
eingefügt, daß sie sich als Individuen frei entfalten können. D er
Individualism us von H obbes ist als die Voraussetzung eines geord­
neten Staates gleichzeitig auch die Bedingung für die freie E n t­
faltung des In dividuum s32.
Zunächst einmal w ird die Menschheit beherrscht von einer
Leidenschaft, dem ununterbrochenen Streben nach Macht und wieder
Macht, dem nur der Tod ein Ende se tz t33. Streit, K rieg und Bürger­
krieg, das bellum omnium contra omnes sind die Folgen davon.
D ie ständige A ngst vor einem gewaltsamen Tod hält diese Mensch­
heit in A tem 34. Daher ist der Wunsch nach Frieden gleichursprüng­
lich mit dem Willen zur M acht35. Im steten H in und H er zwischen
Machtbegierde und Friedenssehnsucht vegetiert der Mensch dahin.
Diesem H in und H er kann er als Mensch nicht entrinnen, und so­
lange er sich in ihm befindet, herrscht K rieg. „H unc statum facile
omnes, dum in eo (bello) sunt, agnoscunt esse malum et per conse-
quens pacem esse bonum .“ 36 Der K riegszustand ist der N atu r des
Menschen zugeordnet, während der Friede nur als H offnung und
Wunsch besteht.
Diese Differenz, daß der Friede zw ar als höchstes G ut herbei­
gewünscht wird, aber als Wunsch allein nicht ausreicht, einen dauer­
haften Frieden zu verbürgen, ist für H obbes das eigentlich m oral­
philosophische P roblem 37.
H obbes hat durch diese Problemstellung die dam als übliche A rt
des Fragens überholt. Er tut das, w as die englischen Gemüter be­
unruhigte, etwa das Verhältnis der Sekten zur Staatskirche, des
Parlam ents zum K önig, der Grundgesetze zum Protektor, als vor­
dergründig ab. D ie Lösung, die H obbes gefunden hat, ist für uns in
zweierlei Hinsicht interessant. Einm al weist er das Gewissen und
dessen Rolle in den konfessionellen Glaubenskäm pfen als eine ideo­
logische Größe auf. Dadurch nimmt er ihm seine Sprengwirkung.
D ie für die Lehre der Staatsräson bezeichnende Unterordnung der
M oral unter die Politik, das sei vorweggenommen, ist für H obbes
thematisch ohne Bedeutung. D ie Vernunft hebt jede Differenz zw i­
schen beiden Bereichen a u f 3S. D ie N otw endigkeit der Staatsgrün­
dung verw andelt die moralische A lternative von G ut und Böse in
die politische von Frieden und Krieg.
Zum zweiten aber bleibt die Unterscheidung gleichwohl relevant.
E s soll deshalb gezeigt werden, wie diese Unterscheidung beinahe
gegen den Willen von H obbes in einer das absolutistische Staats­
recht kennzeichnenden Weise aufgetreten ist. D arin erweist sich die
diesem geschichtlichen V organg inhärente Logik. D as Problem, das
bisher in der christlichen M oralphilosophie aufgehoben w ar, wieder­
holt sich unter anderen Vorzeichen im außertheologischen Bereich.
D as ganze achtzehnte Jahrhundert w ird von dieser Problem atik
beherrscht.
H obbes stimmt, äußerlich betrachtet, mit den christlichen M oral­
philosophen seiner Zeit darin überein, daß der Mensch in eine ewige
und unveränderliche Gesetzlichkeit eingebunden is t 39. D ie m ora­
lischen Gesetze haben eine allgemeine Verbindlichkeit und zwingen
den Menschen, seine H andlungen vor dem Gewissen (in foro
interno) nicht nach dem Effekt, sondern nach dem V orsatz zu beur­
teilen40. Aber, so fährt H obbes fort, die Gesetze, die nur das W ol­
len, und zw ar das Wollen in seiner Aufrichtigkeit und Beständig­
keit verpflichten, sind leicht zu erfüllen. „(They) are easy to be
observed. For in that they require nothing but endeavour; he that
endeavoureth their perform ance, fulfilleth them; and he that ful-
filleth the Law , is Ju s t.“ M it einem reinen Willen ist es ein leichtes,
gerecht zu sein. D er verhaltene Sarkasm us, mit dem H obbes als ein
zweifacher Em igrant der inneren sowohl wie der äußeren Em igra­
tion auf die jeweiligen Gerechtigkeiten der Bürgerkriegsparteien
reagiert hat, ist bezeichnend für einen Denker, der die fatale D ia ­
lektik von Gewissen und T at am eigenen Leibe erfahren hat. D ie
D iskrepanz von innerer H altun g und äußerer H andlung w ar in
der T a t derart verschärft worden, daß es zur völligen Austausch­
barkeit dessen kam, w as nun eigentlich gerecht sei41. D ie Gesinnung
oder die T at, beides zugleich oder nur eins von beiden? Was eher,
die Gesinnung oder die H andlung? In Erkenntnis der zwischen
beiden Bereichen waltenden D ialektik untersucht H obbes ihre
gegenseitige Beziehung von Grund a u f neu. Er stößt dabei au f das­
selbe Phänomen, das auch Shakespeare meint, wenn er sagt: „For
that same word, Rebellion, did divide the action of their bodies
from their souls.“ 42
Hobbes bemüht sich zunächst, und darin wird seine Intention
bereits deutlich, auf die damals übliche Anwendung des Wortes
„Gewissen“ zu verzichten. Er nimmt ihm seinen schwankenden
Kurswert, indem er an die Stelle des Gewissens den jeder religiösen
Bedeutung baren Begriff der Meinung setzt43. Das Gewissen sei
weiter nichts als subjektive Gesinnung, private Ansicht.
Die Berufung der Presbyterianer und der Independenten auf
religiöse Begnadung, wodurch sie sich theologisch zu rechtfertigen
suchten, ist für ihn bloß Ausdruck ihrer Leidenschaft. So erarbeitet
sich Hobbes eine außerreligiöse Begrifflichkeit und damit eine über­
parteiliche Position, von der aus er wiederum alle Parteien zusam­
men, als Parteien einer Geschehenseinheit, analysieren konnte44.
Illusionslos erkennt Hobbes das Mißverhältnis zwischen den
moraltheologisch geleiteten Absichten der Parteien und den P rak ­
tiken, mittels derer sie ihre Ziele zu verwirklichen suchten. Mochte
auch über die gute Absicht des Friedenswillens bei den verschiedenen
Parteien kein Zw eifel herrschen, über die Mittel und Wege, die zur
Erlangung des Friedens angebracht oder unangemessen wären, dar­
über herrschte offensichtlich keine E inigkeit45. Darüber hinaus ver­
sicherte die Gesinnung, die im Effekt, an den Handlungen gemessen,
in den verschiedenen Parteien verschieden war, diesen Parteien ihren
Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit46. Daraus folgt, daß nicht
nur Aktion gegen Aktion stand, sondern Gesinnung gegen Gesin­
nung. Und die Gesinnungen trieben zu immer radikaleren Aktionen
mit dem Ziel, den Feind nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich
zu vernichten47. Es herrscht ein K am pf der Gesinnungen, den
Hobbes in seiner den Beteiligten verborgenen Struktur aufgezeigt
hat.
„Etenim non modo contra contendere, sed etiam hoc ipsum, non
consentire, odiosum est. Nam non consentire alicui in re aliqua, est
eum erroris in ea re tacite accusare . . . quod ex eo apparere potest,
quod nulla acrius gerentur bella quam inter ejusdem religionis sec-
tas et ejusdem reipublicae faction es. . . “ (De cive I, 5 .)
Der Bürgerkrieg, wie ihn Rousseau hundert Jahre später am
Leitfaden des hobbesschen Denkens wieder beschrieben hat, ist sein
Them a: . . ils deviennent tous ennemis; alternativem ent perse-
cut£s et pers^cuteurs, diacun sur tous et tous sur chacun; Tintolerant
est Thomme de H obbes, Pintol^rance est la guerre de l ’humanite . “ 40
Diesem Bürgerkrieg kann der Mensch auch dann nicht entrinnen,
wenn er in seiner Sehnsucht nach dem Frieden einen moralisch all­
gemeingültigen G rundsatz erkennt49. Denn gerade die subjektive
Reinheit des Friedenswillens führe, solange sie den alleinigen
Rechtstitel für die Taten liefere, zu einem verschärften'Totalitäts­
anspruch derer, die sich auf ihr Gewissen beriefen, d. h. also, da es
sich tatsächlich um verschiedene Parteien handele, nicht zum Frie­
den, sondern zu seinem exakten Gegenteil, zum bellum omnium
contra omnes. Wer sich au f das Gewissen beruft, sagt H obbes, der
will etwas. In der Gesinnung, au f die H obbes alle religiösen G e­
halte reduzierte, gründet der Ausschließlichkeitsanspruch der feind­
lichen Parteien; der Gemeinsamkeit dieser H altu n g entspringt der
Bürgerkrieg. Ein Bürgerkrieg rühre her vom Gift aufrührerischer
Doktrinen, deren eine laute, daß jedermann Richter ist über gute
und schlechte Taten, und deren andere laute, daß Sünde ist, w as
immer jem and gegen sein Gewissen tu t50.
D ie reform atorisdie Bewegung und die ihr folgende A ufsplitte­
rung der religiösen Instanzen hatte den Menschen au f sein Gewissen
zurückgeworfen. D as Gewissen, das des Außenhalts entbehrt, ent­
artet zum Id ol der Selbstgerechtigkeit. W as Wunder, daß gerade
dieses Gewissen den K am pfparteien M ut und Energien zum W eiter­
käm pfen gab. D as bloße Gewissen, das sich anmaßt, wie H obbes
sa g t51, den Thron zu besteigen, ist nicht Richter über G ut und Böse,
sondern die Quelle des Bösen selbst. Nicht nur der Wille zur Macht
w ar es, der den Bürgerkrieg schürte, sondern ebenso, und darin liegt
der entscheidende Schritt, den H obbes getan hat, die Berufung auf
ein Gewissen ohne Außenhalt. D ie Gewissensinstanz, anstatt eine
causa pacis zu sein, ist in ihrer subjektiven Plu ralität eine ausge­
sprochene causa belli civilis.
D ie moralphilosophischen Überlegungen, die H obbes anstellt,
um die Voraussetzungen eines dauerhaften Friedens zu ergründen,
führen ihn über den traditionellen Bereich hinaus. H obbes über­
nahm zw ar die Trennung von Gewissen und T at, aber nur um
beide neu aufeinander abzustim m en52. Entgegen seinen Zeitgenos­
sen argumentierte er nicht von innen nach außen, sondern in um­
gekehrter Richtung, von außen nach innen. W as gut und was
böse ist, läßt sich im Bürgerkrieg eindeutig gar nicht mehr sagen,
und der Friedenswunsch als solcher genügt nicht, um den Willen zur
Macht zu ermüden. Wie läßt sich daher aus der ursprünglichen
Bürgerkriegssituation heraus, in der ein Recht aller au f alles
herrscht, eine Gesetzlichkeit entwickeln, die den Wunsch zur W irk­
lichkeit werden läßt? D as N aturgesetz bedarf, bevor es wirklich
Gesetz ist, einer Garantie, die seine Erfüllung gew ährleistet53. D as
im N aturgesetz verankerte Gebot, einen Frieden herbeizuführen,
muß in ein Gesetz verwandelt werden, das im konkreten Vollzug
auch erfüllt werden kann. Eine solche Gesetzm äßigkeit auszuar­
beiten ist die eigentliche A ufgabe der M oralphilosophie, ihr sach­
gerechtes Thema ist die Politik. D as Ergebnis ist die Legitim ation
des absolutistischen Staates seiner politischen Struktur nach. D as
System selber ist bekannt.
H obbes führt den S taat als die Größe ein, in der privaten G e­
sinnungen ihre politische Auswirkung genommen ist. D ie privaten
Gesinnungen finden im Staatsrecht von H obbes keine Anwendung
au f die G esetze54, die Gesetze finden keine Anwendung au f den
Sou verän 55. D as öffentliche Staatsinteresse, worüber zu entscheiden
der Souverän allein befugt ist, fällt nicht mehr länger in die K om ­
petenz des Gewissens. Im Staat wird das Gewissen, dem sich der
Staat entfremdet, zur privaten M oral. „A uctoritas, non veritas
facit legem.“ Der Fürst steht über dem Recht und ist zugleich dessen
Quelle, er entscheidet, w as recht ist und was unrecht, er ist Gesetz­
geber und Richter zugleich56. Dieses Recht ist als Staatsrecht nicht
mehr inhaltlich an soziale Intessen und religiöse Hoffnungen ge­
bunden, sondern m arkiert jenseits aller Kirchen, Stände und P ar­
teien einen form alen Bereich politischer Entscheidungen. Dieser
Bereich kann von dieser oder jener Macht besetzt werden, so sie nur
die erforderliche A utorität besitzt, die verschiedenen Menschen
unabhängig von ihren Interessen und Erwartungen zu beschützen57.
Die politische Entscheidung des Fürsten ist kraft seiner Entscheidung
rechtskräftig58.
Der Bestand einer staatlichen Ordnung — soweit von oben her
gesichert — ist möglich nur, wenn sich auch die Pluralität der P ar­
teien und Individuen in einer M oral findet, die die absolute
politische Souveränität des Fürsten als eine moralische N otw endig­
keit akzeptiert. Diese M oral ist die Vernunftmoral von Hobbes.
Den herkömmlichen M orallehren stellt er eine M orallehre gegen­
über, die die politische Vernunft zum Thema hat. Die Gesetze dieser
M oral erfüllen sich in der Errichtung des Staates. A ls Vernunft­
schlüsse sind sie gleichzeitig auch Erfahrung, die aus der grausamen
R ealität des Bürgerkrieges — damnosum experientia — gewonnen
w erden59. Im bellum ömnium contra omnes geht einer au f die Ver­
nichtung des anderen aus. D arum hat jeder in diesem K riege nicht
um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst
gehabt, sondern um sein ganzes Wesen, denn er hat die Furcht des
Todes, des absoluten H errn em pfunden60. Die Todesangst aber
veranlaßt den Menschen, sich in den Staat zu flüchten61. Schutz zu
gewähren ist darum die oberste moralische Verpflichtung dieses
Staates. Dieser Verpflichtung kann indessen der S taat nur genügen,
wenn alle Menschen einzeln ihre Rechte dem Souverän übertragen,
der sie gemeinsam repräsentiert02. Aber erst dann, und darin liegt
die politische Rückversicherung dieser M orallehre, erst dann, wenn
der Staat die Erfüllung dieses Vernunftgebotes garantiert, ist die
Vernunftmoral gesetzlich. Der subjektive Friedenswunsch allein
reicht nicht aus. Er bedarf der staatlichen Sanktion, bevor er „m o­
ralisch“ wird. D ie Vernunft verlangt nach dem Staat, aber erst
dann, wenn der S taat da ist, ist diese Vernunft ebenso politisch wie
sie auch moralisch ist. Hobbes, der zunächst davon ausging, den
Staat aus einem zeitlich gleichsam vorgeordneten Vertrag entsprin­
gen zu lassen, setzt den Staat ein, um diesen V ertrag zu ermög­
lichen63. D as logisch P aradoxe liegt darin, daß dieser S taat zw ar
einem V ertrag seine Existenz verdankt, dann aber als autonome
Größe existiert. Erst der Leviathan ist als Staat W irkung und U r­
sache der Staatsgründung zugleich. D am it hat H obbes mit der ver­
meintlichen Priorität innerer Entschlüsse der Individuen aufge­
räumt, um die gleichursprüngliche Bedingtheit jeder erfüllbaren
M oral durch die staatliche Ordnung sichtbar zu machen. Die kon­
sequente absolutistische Beseitigung jeder D ualität zwischen Ständen
und Herrscher, zwischen V olk und Souverän verbot, wenn sie
sinnvoll sein sollte, auch eine Unterscheidung zwischen M oralgesetz
und politischer Gesetzlichkeit64. Der Bürgerkrieg, der als tödliche
Bedrohung erlebt wird, kommt im S taat zur Ruhe. Dieser Staat
ist als ein irdischer Staat der sterbliche G o tt65. Als ein sterblicher
G ott sichert und verlängert er das Leben der Menschen, aber zu­
gleich bleibt er sterblich, denn er ist ein menschliches Werk und
kann stets zurücksinken in den N aturzustan d seiner H erkunft, den
Bürgerkrieg.
Um dies zu verhindern, muß der S taat nach den gleichen Regeln
der Vernunft, die seine Entstehung bedingen, auch konstruiert wer­
den. Der nach der Vernunft konstruierte S taat ist kein reiner „S ta a t
der Vernunft“ , wie ihn sich das folgende Jahrhundert erhofft, son­
dern ein Staat für Menschen, die so oft gegen die Vernunft handeln,
wie die Vernunft gegen sie spricht66. Nicht die Vernunft selber be­
endet den Bürgerkrieg — H obbes w ar kein U topist — , aber sie
weist die „societatis sive pacis humanae conditiones“ a u f 67, durch
die der Staat zum vernünftigen „R ichter“ der unvernünftigen Men­
schen werden kann. D er Friede ist nur gewährleistet, wenn die
politische M oral, die die Menschen veranlaßt, ihre Rechte auf den
sie repräsentierenden Souverän zu übertragen, sich im A kt der
Staatsbildung um wandelt in eine Gehorsamspflicht. D as entschei­
dende Gebot der M oral ist im Staat, wenn und dam it der erforder­
liche Schutz geleistet werden kann, die Gehorsamspflicht. D as, was
den S taat zum Staate macht, ist nicht allein die absolute Macht des
Fürsten, sondern die Relation von Schutz und G ehorsam 08. N u r in
dem zwischen Schutz und Gehorsam entstandenen Verhältnis kann
sich ein neutraler status herausbilden, in dem die Gesetze — wie­
wohl inhaltlich verschieden — allein durch ihre Gesetzm äßigkeit
für Ruhe, Sicherheit und „contentm ent“ sorgen69. D ie Vernunft
schafft dam it einen neutralen Raum der Staatstechnik, in dem des
Fürsten Wille einziges Gesetz ist. Vernünftig ist in solchem S taat
nur die form ale Gesetzm äßigkeit der Gesetze, nicht ihr Inhalt,
vernünftig ist das form ale Gebot der politischen M oral, den G e­
setzen unabhängig von ihrem Inhalt zu gehorchen70. D er S ta at ist
nicht nur ein sterblicher Gott, er wird auch zum autom aton, zur
großen Maschine, urid die Gesetze sind die H ebel, die der absolute
W ille des Souveräns betätigt, um die Staatsmaschinerie in G ang zu
halten. In den von der Vernunft aufgewiesenen Bahnen verwirklicht
sich der S taat nur, indem er den Bürgerkrieg beendet und nach
seiner Beendigung ständig und dauernd niederhält. D am it entspricht
der Staat, wie die politische M oral der Individuen, ebenfalls der
Vernunft.
Für die Vernunft, die unter der geschichtlichen A lternative steht:
Bürgerkrieg oder staatliche O rdnung, fallen also „M o ra l“ und
„P o litik “ zusammen. N u r im Hinblick auf den Bürgerkrieg und auf
das ihm entsprungene oberste Vernunftgebot, den Bürgerkrieg zu
beenden, erhält das System von H obbes seine logische Geschlossen­
heit: die M oral gebietet, sich dem Herrscher zu unterwerfen; der
Herrscher beendet den Bürgerkrieg; er erfüllt also das oberste G e­
bot der M oral. D ie moralische Q ualifikation des Souveräns besteht
in seiner politischen Funktion, O rdnung zu stiften und O rdnung zu
halten.
In dieser A bleitung der unantastbaren Souveränität des Fürsten
aus der M annigfaltigkeit der sich moraltheologisch und religiös
legitimierenden Bürgerkriegsparteien liegt die A ntw ort von H obbes
a u f seine geschichtliche Situation beschlossen. Wie der S taat au f dem
K ontinent die Glaubenskriege überwunden hat und daraus seine
absolutistische Form gewann, so leistete staatsrechtlich und m oral­
philosophisch diese A ufgabe die Vernunft, die sich bei H obbes ebenso
erhaben wußte über jenem wirren Streit der unvernünftigen, aber­
gläubischen und triebhaften Menschen, wie der absolute Fürst über
den U ntertanen71. D ie Vernunft ist für H obbes das Ende des Bür­
gerkrieges; ein Satz, den man in seiner geschichtlichen Bedeutung
auch umdrehen kann: das Ende der religiösen Bürgerkriege ist die
„V ernunft“ . D ie noch situationsgebundene Gemeinsamkeit zwischen
A bsolutism us und rationalistischer Philosophie w ird hier m anifest.
D ie Vernunft, die sich aus den Wirren des religiösen Bürgerkrieges
erhebt, verbleibt zunächst im Bann dieses K rieges und begründet
den Staat. So ist es zu verstehen, daß H obbes nicht gesehen hat, daß
die Vernunft .sich aufklärerisch em anzipieren kann. H obbes weiß
nicht um das Eigengefälle der Vernunft.
D ie aus der Vernunft abgeleitete Bestimmung des Menschen zu
einem nach M aßgabe der Vernunft sich emanzipierenden Menschen
kann für H obbes schon deshalb nicht die Bestimmung der G e­
schichte sein, weil er die Geschichte als die Geschichte der Bürger­
kriege erlebt hat. Nicht der Fortschritt erheischt den Staat, sondern
die N otw endigkeit, den Bürgerkrieg zu beenden. E rst wenn die
religiösen Gegensätze neutralisiert sind, indem sie vom S taat nie­
dergehalten werden, kann sich in dem derart ausgesparten Raum
die Vernunft als eine fortschreitende entfalten. D ie Geschichte ist
für H obbes ein ständiges Wechsel Verhältnis zwischen Bürgerkrieg
und Staat und zwischen S taat und Bürgerkrieg. H om o homini lu-
pus, homo homini D eu s72. U nd erst, wenn man diese drohende und
zugleich verheißungsvolle A m bivalenz außer acht läßt, d. h., erst
wenn man die geschichtliche A usgangsfrage von H obbes ignoriert
und sein System aus dem geschichtlich bestimmten Zusammenhang
herauslöst, erst dann können die oft abgehandelten formallogischen
Schwierigkeiten des System s in den Blick rücken78.
Im Hinblick au f die Friedensgewinnung und seine Sicherung
durch den Souverän ist jeder Befehl des Souveräns zugleich ein
moralisches Gebot. Für die vom Bürgerkrieg bedrohten Menschen
gibt es keine D ifferenz zwischen Gewissen und Politik. W as aber
geschieht, wenn der Friede einmal gesichert ist, die Todesgefahr ge­
bannt und der Bürger sich frei entfaltet? Ist auch dann noch jede
Anordnung, jeder Befehl des Monarchen ein vernünftiges Gesetz
oder gar ein moralisches Gebot? Diese Frage, die die einmal eta­
blierte O rdnung bald beunruhigte, veranlaßt uns, das Verhältnis
von M oral und Politik, wie es den absolutistischen Staat kennzeich­
nete, schärfer in den Blick zu rücken. U nd zw ar zeigt uns die L ö ­
sung, die H obbes versuchte, daß sein Staatsbegriff in veränderter
Form an demselben Z w iespalt krankt, den er durch seinen S taat
aus der Welt zu schaffen trachtet. H obbes, der bewußt vom Inhalt
der religiösen oder politischen Parteiprogram m e absah, fragte nicht
nach der Struktur eines bestimmten Staates, er fragte nach dem, was
einen S taat zum Staate macht, nach der Staatlichkeit des Staates. E r
fragte nicht nach den „legibus speciatim “ , sondern „quid sint le-
ges “ ? 74 N icht der Inhalt der Gesetze interessierte ihn, sondern ihre
Funktion, den Frieden zu garantieren. D ie Gesetzlichkeit dieser G e­
setze lag nicht in ihrer inhaltlichen Q ualifikation, sondern allein in
ihrer H erkunft, nämlich W illensäußerung der souveränen Macht zu
sein. U m aber deren Gesetzm äßigkeit in einer überparteilichen, neu­
tralen und in religiösem Sinn indifferenten Weise zu ermöglichen,
hat sich H obbes gerade au f die einmal aus der geschichtlichen W irk­
lichkeit abgeleitete Differenz zwischen innerer Gesinnung und äuße­
rer T a t immer wieder berufen; er benutzte nur diese D iskrepanz,
die seiner A nalyse nach den Bürgerkrieg schürt, um sie seinerseits
in den Dienst der staatlichen O rdnung zu stellen. D ie von H obbes
bereits völlig durchgedachte Form alisierung des souveränen Ge-
setzesbegriffes beruht, wenn auch in konstruktiver Neuausw ertung,
weiterhin auf der Scheidung zwischen innerem Gewissen und äuße­
rer T at. Denn nur diese Differenzierung erlaubt es, den G ehalt
einer H andlung von der H andlung selbst zu trennen, die notwen­
dige Voraussetzung eines form alen Gesetzesbegriffes. N u r so ver­
m ag man ein Gesetz unabhängig von seinem religiösen und m o­
ralischen G ehalt für gesetzmäßig zu erklären, aber zugleich auch ein
solches Gesetz zu erfüllen. Der Gehorsam gegenüber „souveränen“
Gesetzen w ar nur möglich, wenn der U ntertan Gesinnung und T at,
die im Bürgerkrieg bereits einander widersprachen, auch weiterhin
trennen konnte, um in H arm onie mit sich selbst leben zu können,
ohne Rücksicht au f den Inhalt der zu befolgenden Gesetze. So
wurde die geschichtliche Voraussetzung des Bürgerkrieges zur denk­
notwendigen Voraussetzung für H obbes, um seinen absoluten Sou­
veränitätsbegriff ableiten zu können.
H obbes’ Denkleistung bestand darin, den Riß zwischen Gewissen
und Politik, soweit er bei den religiös orientierten, d. h. unvernünf­
tigen Menschen unverm eidbar w ar, in einen Bereich zu verlegen,
der außerhalb der Staatsmaschine lag. Er tritt au f an zwei Stellen:
im Souverän, der über dem S taat steht, und im Individuum durch
die A ufspaltun g des Menschen in den „Menschen“ und den „S ta a ts­
bürger“ 75. „ I t is true th a t they that have soveraigne power, m ay
commit Iniquite; but not Injustice . . ,“ 76 Gewiß könne ein abso­
luter H err Unrecht begehen, aber nie rechtlich, sondern nur im mo­
ralischen Sinne oder indem er gegen das Prinzip der Nützlichkeit
verstößt. W olle man ihn daran hindern, so hebe man die V oraus­
setzung des Friedens, die absolute Souveränität, au f und öffne d a­
mit Tür und T or dem Elend neuer und ungerechterer Aktionen. Es
handele sich hier also nicht um ein Übel, das für die Monarchie
bestimmend wäre, sondern das im Wesen des Menschen selber
liege77. Die politische M oral befreit den Fürsten von allen Bindun­
gen; daß er dennoch eine — gleichsam nicht erforderliche, sondern
zusätzliche — aequitas walten lasse, kann man hoffen, sie ist aber
nicht nötig, um den S taat als R egulator der unvernünftigen Men­
schen wirken zu lassen 78.
Ebensowenig ist es erforderlich, daß der U ntertan als Mensch, um
den Staat in seiner Funktion als Friedenswahrer aufrechtzuerhal­
ten, sich mit den politischen Gesetzen gesinnungsmäßig identifizie­
ren m uß79. Dagegen ist für den Menschen als Staatsbürger die
prim a causa der moralischen Gesetze nicht mehr bei G ott zu suchen,
sondern bei einer zeitlichen Größe, nämlich bei der Macht, die dem
Bürgerkrieg ein Ende setzt. Diese Gesetze sind moralisch, nicht weil
sie einer ewigen Gesetzlichkeit der M oral entsprechen — mögen sie
das auch tun — , sondern weil sie einem unmittelbar aus der p oliti­
schen Situation abgeleiteten Gebot entsprungen sind. Es sind die
Gesetze der politischen M oral, über die — aus Gründen eben dieser
M oral — der Souverän entscheidet. Nicht die Gesinnung oder ein
rechtes Maß, sondern der politische Grund macht die Tugend zur
T u gen d 80. Für den Menschen als Menschen aber bleibt die Gesin­
nung, das eigne Gewissen letztes Kriterium der M oral. D aß diese
Gesinnung sich ebenfalls an der politischen N otw endigkeit orien­
tiert, bleibt auch nur zu hoffen81.
So bricht der Mensch bei H obbes entzwei, er wird geteilt in eine
private und in eine öffentliche H älfte: H andlungen und Taten
unterliegen restlos dem Staatsgesetz, die Gesinnung ist frei, „in
secret free“ 82. Fortan w ird es dem Individuum möglich sein, in die
Gesinnung zu emigrieren, ohne dafür verantwortlich zu sein. So­
weit es teil hatte an der Welt der Politik, wurde das Gewissen zur
K ontrollinstanz der Gehorsamspflicht. Der souveräne Befehl ent­
hob den U ntertan jeder Verantwortlichkeit. „The Law is the publi­
que Conscience — priv ate Consciences are but private opi-
nions .“ 83 M aßt sich das Individuum dagegen eine Zuständigkeit an,
die sich der Sta at vorbehält, muß es sich mystifizieren, um nicht zur
Rechenschaft gezogen zu w erden84. D ie A ufspaltung des Menschen
in das Private und das Etatistische ist konstitutiv für die Genese
des Geheimnisses. D ie A ufklärung w ird später den Innenraum der
Gesinnung sukzessive ausweiten, aber jeder Anspruch au f das S ta at­
liche blieb zw angsläufig von dem Schleier des Geheimen umhüllt.
D ie D ialektik von Geheimnis und A ufklärung, von Entlarvung und
M ystifikation ist bereits an der Wurzel des absolutistischen Staates
angelegt. Es ist die Erbschaft der religiösen Glaubenskäm pfe, die
mit der bewußt akzeptierten D ualität ihren Eingang fand in das
Prinzip des absolutistischen Staates.
Für die Vernunft, der es einzig und allein darum ging, den Bürger­
krieg zu beenden, ist der Unterschied zwischen dem Moralischen
und dem Politischen irrelevant. Sie w ar gleichsam vernünftig genug
geworden, die geschichtliche R ealität tatsächlich verschiedener G e­
wissensbindungen anzuerkennen. Sie konnte es sich sogar leisten, sie
anzuerkennen, denn die form ale Technizität des absolutistischen
Gesetzesbegriffes brachte eine E lastizität, die jede ordnungsgefähr­
dende D ifferenz zwischen Gewissen und T a t vermied. Ruhe und
Sicherheit waren dam it garantiert. D er S taat wurde nicht zum
R aum politischer U nm oral, sondern moralischer N eutralität. Als
moralisch neutraler Raum ist er ein echter Entlastungsraum . „Po-
tentia, si eximia sit, bona est, quia utilis ad praesidium ; in praesidio
autem securitas .“ 85 Indessen ist auch er nur um den Preis der S p al­
tung des Menschen zu haben. Ein Preis, der, weil von H obbes be­
wußt akzeptiert, legal ist. Der Mensch im geheimen ist frei; nur im
geheimen ist der Mensch Mensch. D er Mensch als Bürger ist dem
Souverän unterworfen; nur als U ntertan ist der Mensch Bürger.
D ie Entlastung des Menschen w ird zur Belastung des Staates.
D aß der Mensch „Mensch“ ist, ist das Geheimnis dieses Menschen,
d as als ein solches dem Souverän zw angsläufig entgeht. Sow eit er
als Untertan seiner Gehorsamspflicht genügt, ist der Souverän an
seinem Privatleben desinteressiert. H ier liegt, wie später zu zeigen
sein wird, der spezifische Einsatzpunkt der A ufklärung. Sie breitet
sich in jener Lücke aus, die der absolutistische S taat ausgespart hat,
um den Bürgerkrieg überhaupt zu beenden. Die N otw endigkeit,
einen dauerhaften Frieden herbeizuführen, veranlaßt den Staat,
dem Individuum einen Binnenraum zu konzedieren, der die sou­
veräne Entscheidung so wenig beeinträchtigt, daß er vielmehr unab­
dingbar wird für sie. Daß der Binnenraum politisch indifferent sein
muß, ist konstitutiv für den Staat, wenn er seine politische Form
wahren will. Im M aß jedoch, als die moralische N eutralität, die die
souveräne Entscheidung auszeichnet, verfällt, geht dem absolutisti­
schen S taat seine spezifisch situationsgebundene Evidenz verloren.
D er Staat schuf eine Neuordnung, w urde aber dann — echt ge­
schichtlich — ein O pfer dieser Ordnung. Bereits im A nsatz bedeu­
tete, wie bei H obbes sichtbar wurde, der aus dem S taat ausgegrenzte
moralische Innenraum, der dem Menschen als „Menschen“ Vorbe­
halten blieb, einen Unruheherd, der dem absolutistischen System
in ursprünglicher Weise eigentümlich w ar. D ie Gewissensinstanz
blieb der unbewältigte R est des N aturzustandes, der in den form ­
vollendeten S ta at hineinragte.
D ie Neutralisierung des Gewissens durch die Politik leistet der
Verweltlichung der M oral Vorschub. D ie M ediatisierung der kirch­
lichen Gegensätze, die mit der A usprägung des absolutistischen
Staates einherging, macht die schrittweise Ausweitung der au f N a ­
tur und Vernunft gegründeten moralischen Weitsicht möglich. Die
Aufweichung der O ffenbarungsreligiosität856, die den Staat bedingt,
w ird diesem Staat zum Verhängnis, indem sich die alte Them atik —
in säkularisierter Form — wiederholt. D as Moralische, das danach
trachtet, politisch zu werden, wird das große Thema des achtzehn­
ten Jahrhunderts sein. Im Maße, als die A usgangssituation, der re­
ligiöse Bürgerkrieg, der dieser Staat seine Existenz und seine Form
verdankt, vergessen wurde, erscheint die Staatsräson als das U n ­
moralische schlechthin.
Die Morallehren, als die eigentlichen Erben der Religion, richte­
ten sich bewußt auf das Diesseits, blieben aber im Rahmen des ab­
solutistischen Staates außerstaatlich. D er Mensch w ar als Mensch —
wie gezeigt wurde — absichtlich aus dem Staat ausgespart worden,
nur als U ntertan besaß er staatliche Q ualität.
D ie A ufklärung bewirkt nun, daß die Trennung zwischen Mensch
und U ntertan nicht mehr verstanden wird. Staatlich soll sich der
Mensch als Mensch verwirklichen, w as den V erfall des absolutisti­
schen Staates zur Folge hat. D aß es ausgerechnet die Trennung zw i­
schen M oral und Politik w ar, die diesen Prozeß einleitete und dann
beschleunigte, konnte H obbes nicht ahnen. Die bürgerliche Geistig­
keit übernahm das Erbe der theologischen Geistlichkeit, und auf
dem Felde der Politik sollte der Spruch aus dem Neuen Testam ent:
„Spiritualis homo judicat omnia, ipse autem a nemine judicatur“ 88,
bald eine neue und unerwartete A ktualität gewinnen.
Zusammenfassend läßt sich sagen, H obbes w ar kein H istoriker,
der vergangene und gegenwärtige Fakten gesammelt oder darge­
stellt h ätte87. A ls ein Geschichtsdenker, dem es darum ging, den
Bürgerkrieg zu überwinden, hat er eine A ntw ort gefunden, die die
A usgangssituation übersteigt. Der bereits von den Zeitgenossen er­
hobene Einwand, daß H obbes aus dem, was ist, ableite, w as sein
soll, daß er aus einem N aturzustand, in dem die Menschen einander
W ölfe sind, den geordneten Staat entspringen lasse88, ein Einwand,
der D ilthev veranlaßte, von der „impetuosen Su bjek tivität“ des
H obbes zu sprechen, beweist gerade die Geschichtlichkeit seines
Denkens. In der Geschichte ergibt sich immer mehr oder weniger,
in jedem F all anderes, als in den Vorgegebenheiten enthalten ist;
darin ist ja gerade ihre A ktualität begründet. H obbes dachte
geschichtlich sogar in hervorragendem Maße, als er den logisch p ara ­
doxen Sprung aus dem N aturzustan d des Bürgerkriegs in den per­
fekten Staat vollzog. H obbes brachte zur Sprache, was das sieb­
zehnte Jahrhundert ausgezeichnet hat. Die K raft seines Denkens
erweist sich an dem prognostischen Element, das ihm inhärent ist.

III

D ie überkonfessionelle Rechtsordnung bewirkte nicht nur die Be­


friedung der jeweiligen Einzelstaaten; mehr noch prägte sie die
zwischenstaatlichen Beziehungen. D as europäische Völkerrecht
konnte nur wirksam sein, weil es über die Pluralität der Religionen
hinweg eine neuartige Verbindlichkeit erzeugte. Diese Verbindlich­
keit w ar politisch. Sie, die den Rahmen absteckte für die inter­
nationalen Beziehungen, w ar der Gedankenführung analog, mit der
H obbes den S taat deduzierte. Erst die scharfe Trennung von Innen
und Außen ermöglichte es, auch einen außerpolitischen Spielraum
aus dem Bereich religiöser Kompetenzen herauszuschälen, was au f
dem geschichtlichen H intergrund der konfessionellen Leidenschaften
geradezu zwangsläufig einer Rationalisierung gleichkam.
D ie geheime K abinettspolitik, das zur Routine gewordene ratio­
nale K alk ü l, sollte im achtzehnten Jahrhundert so sehr eine Ziel­
scheibe der Publizität fordernden K ritik werden wie das absolutisti­
sche System selber89. Die U niversalität der aufgeklärten Morallehren
überstieg alle Grenzen, die die Politik sorgsam gezogen hatte. Indem
die aufgeklärte M oral von China bis A m erika, von Paris bis Peking
die gleiche Gültigkeit beanspruchte90, verwischte sie jeden U nter­
schied von Innen und Außen: den zwischen den S taate n 91, den
zwischen E uropa und Ü bersee 92 so sehr wie den Unterschied zw i­
schen Staat und In dividuum 93, zwischen Mensch und Bürger. D ie
absolutistische Politik, die au f diesen Trennungen beruhte, wurde
allseitig in Frage gestellt93“. Es ist daher auch nach der historischen
Bedeutung zu fragen, die die europäische Völkerrechtsordnung für
das au f kommende bürgerliche Selbstverständnis gehabt hat.
D ie Beendigung der religiösen Bürgerkriege, und das hieß die
A usprägung der entscheidenden souveränen Instanzen, die dann die
kirchlichen Probleme a u f je eigene Weise lösten, führte zur straffen
A usform ung der einheitlichen Flächenstaaten. K raft der absoluten
Souveränität wurde das Innere eines Staates scharf abgegrenzt
gegen die Innenräume der anderen Staaten. D as Gewissen des
Souveräns w ar absolut frei, aber zuständig für den großen Innen­
raum des durch ihn repräsentierten Staates. D er S ta at wurde dam it
selber zu einer persona m oralis, die unabhängig von ihrer inneren
V erfassung — ob katholisch oder protestantisch, ob monarchisch
oder republikanisch — frei und selbständig den anderen, ebenfalls
als personae morales verstandenen Staaten gegenüberstand94. Erst
diese A bgrenzung eines von den anderen Staaten unabhängigen
staatlichen Innenraumes, dessen moralische Integrität — wie H o b ­
bes zeigte — allein in der Staatlichkeit beschlossen lag, bew irkte
nach außen die En tfaltu ng einer zwischenstaatlichen, überindivi­
duellen Verbindlichkeit. Vattel, der klassische Vertreter des euro­
päischen Völkerrechts im achtzehnten Jah rh u n dert95, sagte deshalb
von H obbes, er sei der erste gewesen, „qui ait donne une idee
distincte, mais encore im parfaite du D roit des G ens“ 96.
D er N aturzustan d, das bellum omnium contra omnes, herrscht
für H obbes, wenn er im Innern des Staates einmal beendet ist, nicht
mehr zwischen den einzelnen Menschen, sondern nur noch zwischen
den als magni homines verstandenen S ta ate n 97. D as N aturrecht der
vorstaatlichen Individuen konnte durch diese Personifizierung der
in der geschichtlichen W irklichkeit entstandenen Staaten zu einem
zwischenstaatlichen Völkerrecht ausgeform t werden. D as jus publi­
cum europaeum beruhte au f der strengen Trennung des moralisch
unantastbaren staatlichen Innenraumes von den äußeren und po­
litischen Beziehungen der Staaten untereinander. D ie Staaten
waren absolut frei und die Souveräne — wie bei H obbes der Mensch
als Mensch — nur ihrem eigenen Gewissen unterworfen, ohne sich
— wie die Menschen als Bürger — einer gemeinsamen höheren
institutionellen A utorität unterzuordnen. Aber gerade in dieser
naturrechtlichen Freiheit erkannten sich ganz politisch — im U nter­
schied zu den Bürgerkriegsparteien — die Staaten gegenseitig als
freie personae morales an. M it dieser Form der gegenseitigen A n ­
erkennung wurde das bellum omnium contra omnes nicht — wie
der Bürgerkrieg -r- gänzlich beendet, aber eingeengt a u f ein rein
zwischenstaatliches Verhältnis®8. Jed er Souverän hatte das gleiche
jus ad bellum, und der K rieg wurde zu einem M ittel der fürstlichen
Politik, die sich von der Staatsräson leiten ließ und die im „euro­
päischen Gleichgewicht“ eine gemeinsame Form ulierung fa n d 9®.
M it der Beendigung des Bürgerkrieges, mit der staatlichen K onso­
lidierung nach innen w ird der K rieg gleichsam nach außen abge­
dreht, und viele absolutistische Staatstheoretiker sehen in ihm eine
ständige Institution zur Verhinderung des Bürgerkrieges. D er K rieg
w ird von ihnen aus den gleichen rational-psychologischen, jenseits
einer Gesinnungsmoral liegenden Überlegungen heraus akzeptiert,
mit deren H ilfe man auch der religiösen Wirren H err werden
konnte. D ie Beendigung der religiösen Bürgerkriege und die B än ­
digung des K rieges zum reinen Staatenkrieg sind zwei korrespon­
dierende Phänomene, die beide in der Trennung von M oral und
Politik wurzeln, dort im plizit, hier e x p liz it100. Völkerrechtlich
drückte sich diese Trennung darin aus, daß sich die Staaten im
K riege — wie die Menschen im N aturzustan d — jenseits von der
Frage nach der moralischen justa causa gleichberechtigt gegenüber­
traten und sich unabhängig von dem moralischen K riegsgrund allein
kraft ihrer staatlichen Q u alität als justus hostis verstan den 101.
D ie juristische Erfassung und Freilegung auch eines außenpoliti­
schen Sachbereiches jenseits moralischer Argumentationen bedeutete
aber nicht die Erteilung eines Freibriefes für gewissenloses Agieren
in K rieg und Frieden, sondern beruhte wie bei der hobbessdien D e­
duktion des Staates ebenfalls au f der Überlegung, daß eine Beru­
fung auf das Gewissen, das an ewige moralische Gesetze gebunden
ist, kein hinreichendes M ittel ist, für eine zwischenstaatliche O rd ­
nung zu sorgen, diese vielmehr gefährdet. Die souveränen N ationen,
sagt V attel 1758, als er an dem erbitterten Ringen mit dem Preußen
Friedrichs des Großen als kursächsischer Staatsbeam ter beteiligt
w ar, sind frei und unabhängig und wie die Menschen im N a tu r­
zustand nur ihrem eigenen Gewissen unterw orfen102. D as Gewissen
der verschiedenen N ationen ist zw ar an das immer sich gleichblei­
bende ewige N aturgesetz gebunden und unterliegt insofern stets
dem jus internum, dem D roit des Gens necessaire103. Wie aber läßt
sich das reine M oralgesetz erfüllen, frag t V attel. „M ais comment
faire valoir cette Regle, dans les demeles des Peuples et des Sou-
verains, qui vivent ensemble dans Tetat de N a tu re ?“ 104 Es ist die
analoge Frage, die bei H obbes au f tauchte, als er im Bürgerkrieg
danach fragte, wie das allen einsichtige moralische Gebot des Frie­
dens auch erfüllt werden könnte. Wie H obbes au f der staatlichen
Ebene, so gelangt V attel auch für den zwischenstaatlichen Verkehr
zu dem Ergebnis, daß sich eine O rdnung nur dann wahren ließe,
wenn sich das Gewissen der Souveräne nicht nur an die moralischen
Gesetze hält, sondern sich in erster Linie an den politischen G e­
gebenheiten orientiert. Diese bringen es mit sich, daß es sich immer
um mehrere K räfte, und das hieß dam als, daß es sich um eine
Vielzahl von Staaten handelt, die sich auseinandersetzen, und m ag
auch im Sinne der ewigen M oral in einem Streitfall nur eine Seite
recht haben, faktisch handeln alle Beteiligten im guten Glauben,
„dans la bonne fo i“ 105. U m diesem Tatbestand gerecht zu werden,
entfaltet sich neben dem D roit des Gens n^cessaire der D roit des
Gens volontaire. Dieses Recht — ein jus externum — begründet die
Regeln einer zwischenstaatlichen, wesenhaft politischen A ktions-
m o ra l10*.
Beide Formen des Rechts gründen in der Vernunft, die aber an
der politischen W irklichkeit orientiert, gegebenenfalls das m ora­
lische jus internum zugunsten des politischen jus externum zu
suspendieren heißt. N u r dann, sagt V attel, läßt sich eine Friedens­
ordnung herstellen. Diese U nterordnung moralischer Gesetze unter
politische N otw endigkeiten leuchtet ein, wenn man hört, daß die
Berufung au f das moralische Gewissen einen Streit nicht nur nicht
beenden hilft, sondern, da alle Beteiligten „dans la bonne fo i“ han­
deln, ihn vielmehr verschärft und perpetuiert. „L a d£cision du
droit, de la controverse, n’en sera plus avanc£e, et la quereile en
deviendra plus cruelle, plus funeste dans ses effets, plus difficile k
terminer .“ 107 Eine M oralisierung der K riegsführung bringe es über­
dies mit sich, daß der K rieg sich ausweitet, denn die N eutralen
sähen sich dann unter dem Gebot einer strengen M oral gezwungen,
in den Streit einzugreifen. Auch diese U nterw erfung der M oral
unter die Politik verbleibt noch in dem Erfahrungshorizont der
religiösen Bürgerkriege.
V attel polemisiert heftig gegen Grotius, der aus einer eklatanten
Verletzung des moralischen N atu r rechts ein Interventionsrecht
anderer Staaten ableite. E r vergesse im Zuge seiner moralischen
Argum entationen völlig die voraussehbaren Folgen. „Son Senti­
ment ouvre la porte a toutes les fureurs de PEnthousiasme et du
Fanatism e, et fournit aux Am bitieux des pretextes sans nombre . “ 168
D ie Schrecken eines Dreißigjährigen Krieges stehen V attel noch
deutlich vor Augen. A lle Staaten sind, wie im W estfälischen Frieden
für M itteleuropa festgelegt wurde, gemeinsam die Garanten einer
Ordnung, die den religiösen Bürgerkrieg niederhält. V attel durch­
bricht deshalb an einer bezeichnenden Stelle selber das von ihm
streng vertretene Prinzip der N ichtintervention109, das die inner­
staatliche Ordnung gewährleisten sollte, wenn nämlich ein Volk,
um einer mit staatlichen M itteln ausgeübten religiösen Tyrannis zu
entgehen, H ilfe von ausw ärts anfordert.
M it dieser Durchbrechung des Prinzips der Nichtintervention
steht V attel an der Grenze zwischen bürgerlich-moralischer und
staatlich-politischer Argum entation. A ls protestantischer Bürger
suchte er die Landung Wilhelms von O ranien in England zu recht-
fertigen, wie er auch — durch seine Berufung au f V olk und Tole­
ranz — das absolutistische System bereits von innen her in Frage
stellte110. A ber zugleich beweist dieser Passus deutlich, daß die
geschichtliche Voraussetzung des modernen Staates, nämlich die
Beendigung des religiösen Bürgerkrieges, als die innere V oraus­
setzung der Staaten in die zwischenstaatliche O rdnung übernom­
men w u rd e111. G efährdet ein S taat seine Funktion als N eutralisa­
tor religiöser Gegensätze, dann ist es notfalls erlaubt, seine staatliche
Souveränität durch Intervention seitens der anderen Staaten zu
durchbrechen. Diese Form einer (im achtzehnten Jahrhundert nur
noch seltenen) Intervention geschähe dann nicht nur aus m ora­
lischen Gründen, sondern diente vor allem der Sicherung einer
politischen Ordnung, die die fanatischen Religionen an ihren Ü ber­
griffen auf die Politik zu hindern hat.
Im K a m p f gegen religiösen D espotism us bleiben die Prinzipien
einer bürgerlichen Laienm oral und einer überkirchlichen staatlichen
Politik noch in D eckung112. Treten sie dagegen auseinander, so ist
es gerade das Wissen um die grausamen Auswirkungen eines reli­
giösen U topism us, das V attel veranlaßt, auch die „natürliche M o­
ra l“ der Politik zu unterwerfen, um die staatliche O rdnung zu
erhalten. D ie wahre moralische Gerechtigkeit ist für V attel nur im
Jenseits zu finden; eine M oral aber, die am Diesseits und seinen
politischen Erfordernissen orientiert ist, verdrängt zw angsläufig
individuelle Gewissen und Gesinnungen, soweit diese au f „ewige
N aturgesetze“ oder den Glauben bezogen sin d 11S. So gelangt V attel
bei aller Anerkennung der moralischen Gewissenspflichten, denen
er als ein aufgeklärter Bürger des achtzehnten Jahrhunderts hul­
digte, zu dem Schluß, daß ein Völkerrecht, um überhaupt ein Recht
sein zu können, der N atu r der Sache nach im moralischen Sinne
notwendig unvollkommen sein und auch bleiben m uß114.
D er M oral einer politischen Vernunft entspringt der D roit des
Gens volontaire, der im Unterschied zum natürlichen Völkerrecht
die eigentliche Leistung des absolutistischen Staatsdenkens dar stellt:
dieses Recht „tolere ce qu’il est impossible d ^ v iter sans introduire
de plus grands m au x“ 115.
Im Bewußtsein menschlicher Unzulänglichkeit — darin das Erbe
des christlichen Sündenbewußtseins rational verwandelnd — ent­
sagte das Völkerrecht freiw illig jedem gesinnungsmoralischen Richt­
stuhl. N u r so konnten sich die Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft
gegenseitig ihrer Freiheit versichern. Mochten mit dieser im m ora­
lischen Sinne inhaltslosen und form alen Anerkennung Ungerechtig­
keiten verbunden sein: V attel erblickte gerade im Prim at der P o­
litik die Chance, daß auch moralische Forderungen — gleichsam
au f dem Um w eg über eine Rationalisierung von S taat und K rieg —
ihre Erfüllung finden würden. Die Voraussetzung dieser bestmög­
lichen O rdnung w ar die Trennung des Völkerrechts in den D roit
des Gens necessaire, dem nur die Gewissen der Souveräne — ohne
äußere Zw angsgew alt — unterworfen waren, und den D roit des
Gens volontaire, der die Regeln eines von moralischen Argumenten
frei gehaltenen Sachbereiches der Politik in sich barg.
So entfaltete sich aus den grausamen Erfahrungen der konfessio­
nellen Bürgerkriege die europäische Staatenordnung. D as Gesetz,
unter dem sie geschaffen wurde, hieß die Unterordnung der M oral
unter die Politik. Es hat das Zeitalter der Staatenkriege und der
großen Friedensschlüsse geprägt: des Westfälischen Friedens, der
die in Europa erste Lösung religiöser Streitfragen auf einer zw i­
schenstaatlichen Ebene darstellt, oder des Friedens von Utrecht, wo
erstmalig das Gleichgewicht form uliert wurde, das unter anderem
auf der vorgängigen Anerkennung beruhte, mit der sich die Partner,
ob katholisch oder protestantisch, ob monarchisch oder republika­
nisch, ihrer staatlichen Integrität versicherten. „Den Frieden hütet
jetzt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staates
setzt ihn zum Wächter über den W ohlstand des anderen. D ie euro­
päische Staatengesellschaft scheint in eine große Fam ilie verwan­
delt .“ 116 M it diesen Worten, ausgesprochen 1789 zu Beginn der
großen Revolution, faßte Schiller in seiner Jenenser A ntrittsrede
das Ergebnis dieser Entwicklung zusammen und brachte das Be­
wußtsein dieser politischen O rdnung prägnant zum Ausdruck.
Es ist also die Grundkonstellation des achtzehnten Jahrhunderts,
daß die En tfaltung der moralischen Welt gerade au f der vorgängig
gesicherten politischen Stabilität beruhte. Erst mit der politischen
Neutralisierung der religiösen Auseinandersetzungen und mit der
Einschränkung der K riege au f reine Staatenkriege wurde der ge­
sellschaftliche Raum freigelegt, in dem sich die neue Elite entfalten
konnte. D er Bürger wußte sich innerhalb dieser Ordnung, gemessen
an der Vergangenheit, sicher und geborgen. Die Zeiten der L iga
und der Fronde, des Dreißigjährigen Krieges und der konfessionel­
len Wirren waren vorbei, die Bürgerkriege waren beendet und die
K riege tangierten sowenig wie möglich die zivile Zone des Bürger­
tums. A ufgeklärte Monarchen förderten planm äßig das Glück ihrer
Völker. An die herrschende Balance knüpfte sich die optimistische
H offnung, daß selbst die Kriege immer mehr beseitigt werden
könnten. Wie weit die Hoffnungen im einzelnen auch getrieben w ur­
den, in jedem Falle waren sie nicht nur utopische Wünsche, sondern
als Folgen der tatsächlichen O rdnung ein Sym ptom für diese. Erst
au f dem H intergrund der herrschenden Sekurität gewann der ge­
schichtsphilosophische Glaube an den moralischen Fortschritt des
bürgerlichen Menschen seine geschichtliche E v id en z117. Der m ora­
lische Fortschritt ist also, in den geschichtlichen Zusammenhang
gestellt, ein Produkt der politischen Stabilität. Die Stabilität be­
ruhte aber ihrerseits auf einer politischen Verfassung, der zw angs­
läufig die M oral unterzuordnen sei. Im Zuge ihrer En tfaltung
mußte daher die moralische Welt ebenso zwangsläufig, wie sie in
der politischen O rdnung gründete, dieser O rdnung entwachsen.
Der Weg, den sie dabei einschlagen sollte, w ar vorgezeichnet
durch die einmal vollzogene Trennung des Naturrechts vom freien
fürstlichen Entscheidungsbereich. Den Vertretern eines einheitlichen
und vereinheitlichenden Naturrechts konnte diese Trennung nun­
mehr als eine doppelte M oral erscheinen, die es zu entlarven galt.
Im Zuge der Entlarvung, d. h. der A ufklärung, verflüchtigte sich in
gleicher Weise der ursprüngliche geschichtliche Sinn dieser Tren­
nung: einen rationalen Bereich abzustecken für die politische V er­
antwortung. D ie Politik wurde nur noch unter dem Blickwinkel
des aufgeklärten Gewissens betrachtet.
„M an kann sagen“ , so faßt ein aufgeklärter K ritiker sein U rteil
über die Völkerrechtsordnung zusammen, „daß so, wie die K önige
ihre G ew alt über ihre Unterthanen vergrößert, ünd die Staatskunst
sie durch einen genaueren U m gang unter einander verbunden hat,
ihre Ehre und Gewissen Bankerott gemacht haben .“ 118 D as in­
direkte Verhältnis zur Politik ist bestimmend für den bürgerlichen
Menschen. Er verbleibt in einer A rt Privatreserve, die den M onar­
chen zum Schuldigen an der eigenen Unschuld macht. W ährend es
zunächst so aussah, als ob der U ntertan potentiell schuldig sei, ge­
messen an der Unschuld der fürstlichen Macht, ist jetzt der Monarch
immer schon schuldig, gemessen an der Unschuld der Bürger.
ZW EITES K A P IT E L

D er Aufbruch der bürgerlichen Intelligenz erfolgt aus dem privaten


Innenraum , au f den der S ta at seine Untertanen beschränkt hatte.
Jed er Schritt nach außen ist ein Schritt ans Licht, ein A k t der A u f­
klärung. D ie A ufklärun g nimmt ihren Siegeszug im gleichen M aße
als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet. Ohne
sich ihres privaten C harakters zu begeben, w ird die Öffentlichkeit
zum Forum der Gesellschaft, die den gesamten S ta at durchsetzt.
Schließlich w ird die Gesellschaft anpochen an den Türen der poli­
tischen Machthaber, um auch hier Öffentlichkeit zu fordern und
Einlaß zu erheischen.
M it jedem Schritt der A ufklärun g w ird die Grenze der Z ustän­
digkeiten verschoben, die der absolutistische S taat so sorgsam zw i­
schen dem moralischen Innenraum und der Politik zu ziehen ver­
sucht hatte. Bereits die entstehende bürgerliche Gesellschaft hat
diese Grenze in selbstgewisser Weise verschoben. Dies aufzuzeigen
ist die nächste A ufgabe der Untersuchung. Zur D em onstration w ird
noch einmal au f das Lan d zurückgegriffen, in dem das moderne
Bürgertum seine erste A usprägung erfahren hat, au f England, das
dem Kontinent M odell stand. D abei w ird die für das Bürgertum
konstitutive außerstaatliche U rteilstätigkeit in den Blick kommen
und ebenso ihre spezifische W irksamkeit.
John Locke, geistiger V ater der bürgerlichen A ufklärung, begann
1670 unter der Herrschaft der absolutistischen Stuarts die A rbeit an
seinem „E ssay concerning H um an U nderstanding“ . D as um fang­
reiche W erk wurde während des sechsjährigen Exils in H ollan d be­
endet und konnte nach dem Sturz Ja k o b s II. in England veröffent­
licht werden. In diesem Werk, das im folgenden Jahrhundert zu
den heiligen Schriften des modernen Bürgertum s zählen sollte, be­
handelt Locke auch die Gesetze, nach denen die Bürger ihr Leben
ausrichten. E r betrete dam it ein Gebiet, so sagt er, das m it ganz be-
»n d e re r Sorg falt bedacht sein wolle, um alle D unkelheit und V er­
w irrung zu vermeiden
Locke unterscheidet hier drei Arten der Gesetze: erstens „The
D iv in eL aw theM easure o f Sin and D u ty “ , das dem Menschen durch
N a tu r oder O ffenbarung kundgetan werde; zweitens „The C ivil
Law the M easure o f Crim es and Innocence“ , es ist das mit Z w angs­
gew alt verbundene Gesetz des Staates, dessen A ufgabe darin be­
steht, die Bürger zu beschützen; und an dritter Stelle nennt Locke
das spezifisch moralische G esetz: „The Philosophical Law the
M easure o f Virtue and V ice.“ 2
M it diesen Unterscheidungen hat Locke das Verhältnis der m ora­
lischen zu den staatlichen Gesetzen, so wie es bei H obbes vorlag,
bereits einer gründlichen Revision unterzogen. Er räum t durch die
Trennung des D ivine and C ivil Law erneut den Religionen eine
gesetzmäßige Verbindlichkeit ein, und zugleich bricht er durch die­
selbe Trennung das von H obbes zur Rechtfertigung des Staates zu­
sam mengefaßte N atur- und Staatsgesetz wieder auseinander. Aber
ohne auf diese Fragen hier näher einzugehen, lenkt er ganz bewußt
die A ufm erksam keit au f die dritte A rt der Gesetze, die ganz neu­
artig neben dem staatlichen und neben dem göttlichen Gesetz auf-
tritt. Es ist das Gesetz der Philosophen oder, wie er es auch nennt,
„The Law o f opinion or reputation“ , das Gesetz der öffentlichen
Meinung, das mehr als alle anderen Gesetzesform en besprochen und
diskutiert werde, das eine erstaunliche A utorität besitze, aber in
seiner Herkunft und Bedeutung noch gar nicht recht erkannt w or­
den sei3. D ie N euartigkeit des Philosophical Law , des spezifisch
bürgerlichen Gesetzes, erweist sich schon darin, daß Locke es in den
N euauflagen seines Essays immer wieder gegen A ngriffe verteidi­
gen m ußte4.
D ie bürgerlichen M oralgesetze entstehen, wie Locke ganz em pi­
risch aufzeigt, in dem von H obbes aus dem staatlichen Machtbereich
ausg'esparten Innenraum des menschlichen Gewissens. O bwohl die
Bürger die V erfügung über alle ihre Macht an den S taat abgetreten
haben, so daß sie gegen keinen M itbürger weiter vorgehen können,
als das Landesgesetz es zuläßt — „yet they still retain the power
o f thinking well or ill, approving or disapproving the actions of
those they live am ongst and converse w ith“ 5. D ie Bürger haben
zw ar keine Exekutivgew alt, aber sie besitzen und behalten die
geistige Macht des moralischen U rteils. Insoweit weiß sich Locke
m it H obbes einig, aber, so fährt er fort, durch ihre Zustim m ung und
Ablehnung setzen die Bürger selbst fest, w as Tugend heißen soll
und w as nicht: „an d by this approbation and dislike they establish
am ongst themselves w hat they will call virtue and vice“ fl. D ie A n­
sichten der Bürger über Tugend und Laster verbleiben für Locke
nicht mehr im Bereich privater Gesinnungen und Meinungen, son­
dern die moralischen Urteile der Bürger besitzen selber Gesetzes­
charakter. D ie von H obbes aus dem Staate ausgeklamm erte Gesin­
nungsm oral w ird dadurch in einer doppelten Weise erweitert.
Ohne staatliche A utorisation bestehen die Gesetze der bürger­
lichen M oral wie bei H obbes nur stillschweigend und geheim, aber
sie bleiben nicht mehr auf die Individuen als solche beschränkt, son­
dern sie gewinnen ihre allgemeine Verbindlichkeit durch eine ge­
heime und unausgesprochene Übereinstimmung der Bürger, „b y a
secret and tacite consent“ 7. Der Träger der geheimen M oral ist
nicht mehr das Individuum , sondern die Gesellschaft, die „society“ ,
die sich in den „clubs“ form iert, in denen sich z. B. die Philosophen
mit der Erforschung der moralischen Gesetze besonders beschäf­
tigen 8. D ie Bürger ordnen sich nicht mehr nur der Staatsgew alt
unter, sondern sie bilden zusammen eine society, die ihre eigenen
moralischen Gesetze entwickelt, die neben die Gesetze des Staates
treten. D am it rückt die bürgerliche M oral — ihrem Wesen nach
zw ar stillschweigend und geheim — in den Raum der Öffentlich­
keit, und es wird zugleich die zweite A bw andlung sichtbar, der die
hobbessche Gesinnungsmoral bei Locke unterlegen ist: die im ge­
heimen geltenden bürgerlichen M oralgesetze bleiben nicht mehr au f
die Gesinnung beschränkt, sondern sie bestimmen den moralischen
Wert der actions, der Taten. Die Bürger setzen selber, w as bei
H obbes dem Souverän Vorbehalten blieb, „the m ark o f the value“
aller H andlungen, „an d give the name of virtue to those actions,
which am ongst them are judged praisew orthy, and call that vice,
which they account blam able“ 9.
Die Gesetzm äßigkeit des philosophischen Gesetzes beruht nicht
in seiner inhaltlichen Q ualifikation, sondern gründet in dem volun-
tativen A kt seiner Entstehung. A ber nicht mehr der Souverän ent-
sdieidet, sondern die Bürger konstituieren durch ihren Urteilsspruch
— wie die K aufleu te einen H andelsw ert ermitteln — die m ora­
lischen Gesetze. W as die Bürger in den verschiedenen Ländern durch
ihr judgement jeweils als Tugend oder Laster festlegen, ist für die
Gesetzlichkeit der M oral nicht entscheidend; sie können je nach
Zeit, O rt und Gegebenheit Tugend für Laster und Laster für T u ­
gend erklären. D ie Gesetzlichkeit ihrer moralischen Ansichten be­
steht vielmehr in dem reinen Urteilsspruch der Bürger selber:
„ • . . everywhere virtue and prise, vice and blame go together.“ 10
Auch die zum Gesetz erforderlichen Zw angsm ittel, die dem Gesetz
seine öffentliche G eltung verleihen, bestehen in Lob und Tadel,
„its Inforcement is Com m endation and D iscredit“ u . D er jeweilige
U rteilsakt der Bürger, ihr Scheidungsvollzug zwischen dem, was für
gut befunden und w as für böse befunden wird, wird dam it als
Scheidungsvollzug schon gesetzlich. D ie privaten Ansichten der
Bürger erheben sich allein kraft der ihnen innewohnenden Zensur
zum Gesetz. Deshalb nennt Locke das Gesetz der öffentlichen M ei­
nung auch „the Law o f private censure“ 12. Privatraum und Ö ffent­
lichkeit schließen sich so wenig aus, als daß vielmehr diese aus jenem
hervorgeht. D ie Selbstgewißheit des moralischen Innenraums liegt
in seiner Fähigkeit zur Publizität. D er Privatraum weitet sich eigen­
mächtig zur Öffentlichkeit aus, erst in ihrem Medium erweisen sich
die persönlichen Meinungen als Gesetz.
M it der Einführung dieses privaten Zensurgesetzes schien Locke,
so wurde ihm vorgew orfen, der W illkür Tür und T or zu öffnen.
Er suchte daher in der N euauflage seines E ssa y s18 die G ültigkeit des
Law o f opinion gegen die sich erhebenden Einw ände näher zu be­
gründen. Er lege mit seiner D arstellung keineswegs den moralischen
G ehalt der bürgerlichen Gesetze fest, vielmehr gehe es ihm nur dar­
um, die Entstehung und die A rt der Gesetze aufzuzeigen, die im
konkreten sozialen Leben tatsächlich herrschten. Inhaltlich, so ver­
sicherte er, würden sich die Bürger im allgemeinen an die Gebote
Gottes und die Gesetze der N atu r halten, aber diese Gesetze erhiel­
ten ihre gesetzmäßige Geltung erst durch die Zustim mung oder A b ­
lehnung der bürgerlichen Gesellschaft. U nd er finde dies gar nicht
befremdend, so fügte er hinzu, „since otherwise they w ould con-
demn themselves, if they (the private men) should think anything
right, to which they allowed not commendation, anything wrong,
which they let pass without blam e“ 14. U m sich nicht selbst ins U n ­
recht zu setzen, sind die Bürger genötigt, ständig ihre U rteile selber
zu fällen, und nur durch ihre eigenen U rteile legen sie fest, was im
S ta at moralisch recht ist und w as nicht. U nter dem Z w ang zur
näheren Begründung stößt Locke dam it au f die für die society
konstitutive Bedeutung der moralischen Gesetzgebung. D ie m ora­
lischen Gesinnungen werden hier von Locke in ihrer sozialen Funk­
tion interpretiert, aber nicht mehr wie bei H obbes, um den S taat
zu deduzieren, sondern sie werden zu einem ständigen U rteilsvoll­
zug der aufstrebenden Gesellschaft. D ie Bürger müssen für Locke
ihre privaten Ansichten geradezu als allgemeinverbindliches Gesetz
deklarieren, denn erst im selbständigen Urteilsspruch der Bürger
konstituiert sich die G ew alt der society, und nur im ständigen V oll­
zug der moralischen Zensur erweist sich diese Zensur als Gesetz. D er
schwankende K ursw ert der privaten Zensuren ist kein Einw and
gegen ihre Gesetzlichkeit. Gerade daß sie sich ständig überholen,
macht ihre Gesetzlichkeit aus. „The Law o f private censure“ heißt
daher zugleich „the Law o f fashion“ 15.
Wie sich die Vernunft bei Bayle nur in dem ewigen Prozeß der
K ritik als oberste Instanz etabliert, so erheben sich die moralischen
Ansichten der Bürger bei Locke nur im ständigen V ollzug der cen­
sure zum allgemeinverbindlichen G esetz.D ie der Vernunft zugeord­
nete K ritik und die der M oral zugeordnete Zensur wurden für das
bürgerliche Selbstbewußtsein zur gleichen, und zw ar sich selbst
begründenden T ä tig k e it1#. Ihre Gemeinsamkeit besteht im U rteils­
spruch, im judgement, das einerseits die Welt in die Reiche von G u t
und Böse oder W ahr und Falsch aufteilt, aber zugleich die Bürger
im V ollzug dieser Scheidung und au f G rund dieser zur obersten
U rteilsinstanz erhebt. Ohne sich au f die staatlichen Gesetze zu be­
rufen, aber auch ohne eine eigene politische Exekutivgew alt zu
besitzen, entfaltet sich im dauernden Wechsel zwischen geistiger
K ritik und moralischer Zensur das moderne Bürgertum. „D an n
nur“ , sagt ein Jahrhundert später Schiller, „dann nur, wenn wir bei
uns selbst erst entschieden haben, was wir sind und w as wir nicht
sind, nur dann sind wir der G efahr entgangen, von fremdem U rteil
zu leiden.“ 17 D er sich selbst als gerecht und wahr legitimierende
Urteilsspruch der Bürger, die Zensur, die K ritik werden zur Exeku­
tive der neuen Gesellschaft.
Locke hat durch seine Interpretation des philosophischen Gesetzes
den von H obbes einer staatlichen Politik untergeordneten Innen­
raum des menschlichen Gewissens politisch aufgeladen. D ie öffent­
lichen H andlungen unterliegen nicht nur der staatlichen Jn stan z,
sondern zugleich der moralischen Instanz der Bürger. D am it hat
Locke den entscheidenen Einbruch in die absolutistische O rdnung
form uliert, die sich in dem Verhältnis von Schutz und Gehorsam
ausdrückte: die M oral ist nicht mehr eine form ale Gehorsamsmoral,
nicht einer absolutistischen Politik untergeordnet, sondern sie tritt
den staatlichen Gesetzen gegenüber.
Die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis der privaten und
staatlichen Gesetzgebung wird durch diese Gegenüberstellung er­
neut gestellt. Welche Instanz entscheidet? D ie moralische Instanz
der Bürger? O der die politische Instanz des Staates? O der beide zu­
sammen? U nd wenn beide zusammen, wie verhalten sie sich zuein­
ander? Locke hat diese Fragen keineswegs beantwortet, er hat die
jeweiligen Bereiche weder abgegrenzt noch gedanklich geklärt. D a ­
durch daß er die moralischen Gesetze nicht inhaltlich bestimmt hat,
sondern nur form al in der ihnen eigentümlichen Entstehung be­
schrieben hat, blieb es durchaus möglich, daß sie in ihrer inhalt­
lichen fconkretion mit den staatlichen oder göttlichen Gesetzen zu­
sam menfallen konnten. Locke konnte daher die verschiedenen G e­
walten ruhig nebeneinander bestehen lassen, ohne sie gegenseitig
abzugrenzen. Gerade daß er sie nicht als Gegensätzlichkeit em pfun­
den hat, gehört zu der Eigentümlichkeit seiner politischen T h eorie18.
Locke lieferte mit seinem deskriptiven A ufriß die Rechtfertigung
der englischen Regierungsform , wie sie sich mit der H eraufkunft
der ökonomisch bestimmten, bürgerlich whigistischen Schicht seit
1688 durchgesetzt hatte. D as Zusammenspiel der im Parlam ent
vertretenen führenden Gesellschaft und der königlichen Exekutive
verhinderte es, daß sich die systematisch aufgewiesene Gegenüber­
stellung zu einer innerpolitischen Differenz verschärftei9. Ist freilich
die bürgerliche M oralgesetzgebung inhaltlich und nicht nur form al
von der staatlichen Gesetzgebung verschieden, dann tritt sie zu
dieser notwendig in Konkurrenz. In die absolutistische Staaten weit
des Kontinents übertragen, spielte daher das von Locke dargestellte
„Philosophical L a w “ politisch eine völlig andere Rolle. Diese zeich­
net sich bereits ab, wenn man die verschiedenartige W irksam keit der
jeweiligen Gew alten verfolgt, die Locke schon in ihrer für das acht­
zehnte Jahrhundert typischen Weise umrissen hat. D ie moralische
Gesetzgebung ist für ihn von größerer, aber auch ganz andersartiger
W irkung als die des Staates. W ährend die staatliche Gesetzgebung
direkt durch die staatliche Macht verwirklicht wird, w irkt die
moralische Gesetzgebung indirekt, durch den Druck der öffentlichen
Meinung. D ie direkte politische Macht bleibt dem Staate Vorbehal­
ten, das Law o f opinion ist nicht mit staatlichen Zwangsm itteln aus­
gestattet. Aber mögen die Bürger ihre politische Verfügungsgew alt
auch an die Staatsleitung abgetreten haben, ihr „Philosophical
L a w “ ist deshalb nur scheinbar ohne A u to rität20. Es besteht und
w irkt zw ar nur durch Lob und Tadel, faktisch aber, in seiner A us­
wirkung, in seinem Effekt ist es um so wirksam er. Denn diesem
Urteilsspruch kann niemand entrinnen. Keiner von Zehntausenden
sei fähig, sich dem moralischen U rteil seiner Mitmenschen zu ent­
ziehen. „N o man escapes the punishment of their censure and dis-
like, who offends against the fashion and opinion of the Company
he keeps.“ Neben den staatlichen und religiösen Instanzen erweist
sich dam it die dritte G ew alt als die mächtigste, denn ihr sind alle
Bürger unterworfen, „an d so they do that which keeps them in re-
putation with their Company, little regard the laws of God, or the
m agistrate“ . Über die englische Situation hinaus hat Locke dam it
die der moralischen Gesetzgebung eigentümliche W irksamkeit be­
schrieben.
D ie staatlichen Gesetze wirken direkt durch die hinter ihnen
stehende Zw angsgew alt des Staates, die moralische Gesetzgebung
w irkt im gleichen Staat, aber indirekt und um so stärker. Die bür­
gerliche M oral w ird zu einer öffentlichen Gew alt, die zw ar nur
geistig wirkt, aber in ihrer Auswirkung politisch ist,.indem sie den
Bürger zwingt, seine H andlungen nicht nur den Gesetzen des
Staates, sondern zugleich und vor allem dem Gesetz der öffentlichen
Meinung anzupassen. D am it ist an einem Beispiel, das auch w ir­
kungsgeschichtlich durch den steigenden englischen Einfluß auf dem
Kontinent von großer Bedeutung werden sollte, ein neuer Zugang
geschaffen zu der kritischen Scheidung von M oral und Politik.
Es lag bei Locke im Wesen seiner Differenzierung zwischen m ora­
lischer und politischer Gesetzgebung, daß auf Grund ihrer verschie­
denen H erkunft und W irksamkeit eine mögliche Überschneidung
— den englischen Verhältnissen entsprechend — nicht in den Blick
rücken mußte. Treten — wie auf dem Kontinent — der Inhalt der
bürgerlichen M oral und die staatliche Gesetzgebung auseinander, so
ist das „Philosophical L a w “ zw ar ein indirekt wirkender poli­
tischer Faktor, dem niemand entrinnt, direkt aber bleibt es — poli­
tisch unsichtbar — ein reiner Urteilsspruch. D araus ergab sich im
Fall des Konflikts für den Bürger eine doppelte Konsequenz: erstens
erübrigt sich eine offene Auseinandersetzung, denn die moralische
Gesetzgebung wurde dank ihrer unsichtbaren K raft und größeren
Reichweite zw angsläufig vollstreckt. U nd zweitens w ar jeder K on ­
flikt, moralisch betrachtet, schon entschieden; denn entsprach einmal
das moralische Gesetz dem U rteil der Philosophen und dem Sinn
der Gesellschaft, dann hatte — wenn sie die Zensur nur ausübte —
die Gesellschaft von vornherein recht21. D ie Beweglichkeit ihrer
privaten U rteilsfindung verleiht den Bürgern die Gewißheit des
Rechthabens und eine unsichtbare Sicherheit auf E rfolg. D ie stets
und ständig sich überholenden Richtsprüche sind die Gesetzlichkeit
des Fortschritts, der alle staatlichen Gesetze immer schon hinter sich
läßt. D ie M obilität der moralischen Richter ist der Fortschritt
selbst.
D ie Voraussetzung für die reine moralische U rteilsinstanz, die
Abgrenzung gegen die herrschende Politik, wurde daher für den
Bürger im absolutistischen S taat zu einem U rteilsakt selber. Er
übernahm die dem absolutistischen System zugrunde liegende Tren­
nung von M oral und Politik, verw andelte sie aber in eine spezi­
fische A ntw ort auf seine Situation innerhalb des Staates, durch den
er seinen Bereich der M oral ausgegrenzt sah: die Bürger machten
aus der U nterordnung der M oral unter die Politik keine Bei-,
Neben- oder Zuordnung wie Locke, sondern radikalisierten die
Gegensätzlichkeit, sie vollzogen eine Polarisierung, die Sym ptom
und Instigator der heraufziehenden politischen K rise werden sollte.
Wie die Bürger ihr moralisches Reich entfaltet haben und dabei
durch eine Polarisierung von M oral und Politik ihren Herrschafts­
anspruch ausprägten, zugleich aber jeden Konflikt mit dem S taat
— ganz nach dem G rad ihrer Bewußtheit geplant oder gutgläubig —
zu umgehen schienen, ist im folgenden zu zeigen.
Zwei gesellschaftliche Form ationen haben au f dem Kontinent das
Z eitalter der A ufklärun g entscheidend geprägt: die Republique des
lettres und die Logen der Freimauerei. A ufklärun g und Geheimnis
treten von Anbeginn au f als ein geschichtliches Z w illingspaar. Ihre
Wege sollen zuerst einzeln verfolgt werden, und zw ar zunächst die
O rganisationsform en und Selbstbezeugungen der Freimaurerei, dann
die En tfaltung der Gelehrtenrepublik am Leitfaden ihres kritischen
Bewußtseins. Ein Vergleich beider voneinander relativ unab­
hängiger Form ationen w ird von der erstaunlichen P arallelität zeu­
gen, die zwischen ihnen geherrscht hat. Beide G ruppen entwickeln
in Sprache und Verhalten einen bestimmten Stil, und gerade ihre
strukturelle Gemeinsamkeit verweist bei allen Unterschieden dar­
auf, daß es sich um eine spezifische A ntw ort a u f das System des
Absolutism us gehandelt hat. Diese A ntw ort au f den A bsolutism us
w ird entfaltet und ausgebaut. U nd wie für den Absolutism us im
17. Jahrhundert w ird für die A ufklärun g im 18. Jahrhundert die
A usgangssituation nicht ohne anhaltenden Einfluß bleiben au f ihren
weiteren V erlauf. D er politische Stil der A ufklärun g entwickelt ein
Eigengefälle, das seine wahre W irksam keit erst erreichen sollte, als
das absolutistische System innerlich bereits ausgehöhlt w ar.
D er H öhepunkt der absolutistischen Macht, die Zeit Ludw igs
X IV ., gehört in Frankreich zur G eburtskoiistellation der neuen
Elite. Sie setzte sich aus den verschiedensten* ja heterogensten G rup­
pen zusammen, deren gemeinsames Kennzeichen aber darin be­
stand, daß sie sich in dem modernen Staat, der allein in der Person
des absoluten Fürsten repräsentiert w ar, jeglicher politischen E n t­
scheidungsfreiheit entblößt oder beraubt sahen. In dieser A usgangs­
situation lag die gemeinsame H erausforderung, die zunächst das
verbindende Element der neuen Gesellschaft w u rd e*2.
Ein Teil der neuen Schicht besaß eine alte politische Tradition,
die aber vom absolutistischen S taat durch den A bbau der Stände­
vertretungen abgekappt schien: es ist der ehedem frondierende
A del, der nach dem Tode des Sonnenkönigs wieder auflebte und
seine Eigenständigkeit m it neuem Selbstbewußtsein pflegte. Zu ihm
gehören M änner wie der H erzog St. Sim on oder Boulainvilliers und
in gewisser Weise noch Montesquieu 2S. D ie N ob ilität käm pfte stets
gegen das Herrschaftsmonopol des Königs, aber wie wenig sie ein
wirklich selbständiger Faktor neben dem aufsteigenden Bürgertum
w ar, beweist der politische Selbstm ord, den sie am 4. August 1789
leichtfertig verübte.
Eine völlig entgegengesetzte, aber mächtige G ruppe der neuen
Gesellschaft entfaltet^ sich unter der Regentschaft. Sie bestand aus
den Kaufleuten, Bankiers, Steuerpächtern und Geschäftsleuten. Es
waren arbeitende und spekulierende Bürger, die zu Reichtum und
sozialem Ansehen gelangten, oft sich den A delstitel kauften, und die
wirtschaftlich — keineswegs aber in der staatlichen Politik — die
führende Rolle spielten. „Ses courriers portent ses ordres dans
toutes places de PEurope“ , so schildert 1755 ein Redner der M ar­
seiller A kadem ie den Großkaufm ann, „et son nom, sur un papier
circulant, fait rouler et multiplier les fonds qu’il veut transporter,
ou repandre. II ordonne, il recommande, il protege.“ 24 Selbst­
bewußtsein und soziale Macht der Financiers wuchs in dem Maße,
als sie zum G läubiger des Staates wurden, dessen politische H err­
schaft nicht in ihren .H änden lag. Vielmehr wurden sie von der
staatlichen Leitung in einerW eise ferngehalten, daß sie es gerade an
der Substanz ihrer sozialen Macht, am Gelde, zu spüren bekamen.
Viele Financiers profitierten zw ar bis in Millionensummen hinein
von dem korrupten Steuer- und Steuerpachtsystem des Staates, aber
zugleich w ar die geheimgehaltene und undurchsichtige H aush alt­
führung des Staates dem Zugriffe der bürgerlichen Geldleute ent­
zogen. D ie Financiers hatten aber nicht nur keinen Einfluß au f die
Finanzverw altung, sondern obendrein besaßen sie überhaupt keine
Sicherheiten für ihre K apitalien : sie wurden durch königliche Ent­
scheidungen immer wieder willkürlich um spekulierte und erarbei­
tete Gelder gebracht. Dem T otalban krott unter L aw folgten, um
einem weiteren Zusammenbruch des Staatshaushaltes zu entgehen,
dauernd verschleierte Teilbankrotte und andere Finanzm anipula­
tionen: staatliche W irtschaftsverträge wurden aus souveräner
M achtvollkommenheit suspendiert, Renten nicht ausgezahlt, und
die wichtigste politische Institution, in der auch bürgerliche Inter­
essen vertreten wurden, das Pariser Parlam ent, wurde von ständi­
schen Sonderwünschen geleitet und besaß nicht genügend Macht,
dem staatlichen Finanzgebaren Einhalt zu gebieten25. So behielt
sich der S taat die Verw altung der Gelder, die er der G eldaristokra­
tie schuldete, selber vor, und darüber hinaus beraubte er — ganz
„unm oralisch“ — seine G läubiger willkürlich ihrer Gewinne. D as
1788 auf etwa 200 Millionen angewachsene jährliche D efizit des
Staates verwandelte sich dam it au f doppelte Weise in ein m ora­
lisches K ap ital der Gesellschaft, gerade weil sie die politische Macht
in den H änden ihres Schuldners konzentriert sah. „Presque tous les
sujets sont creanciers du m a itre . . . qui est esclave comme tout
debiteur“ , so apostrophierte R iv a ro l26 die A usgangssituation der
Französischen Revolution. Die finanzkräftige Gesellschaft und der
absolutistische Sta at standen sich gegenüber, ohne daß durch die
Reformversuche die Differenz behoben werden konnte. In diesem
W echselverhältnis zwischen dem finanziellen K ap ital, das in den
H änden der Gesellschaft zugleich ein moralisches Guthaben war,
und der finanziellen Verschuldung des Staates, der aus politischer
M achtvollkommenheit, aber ganz unmoralisch, die Schulden ver­
deckte oder ausstrich, liegt einer der stärksten sozialen Im pulse für
die D ialektik von M oral und Politik.
Zu dem antiabsolutistischen Adel und zur finanzkräftigen Bürger­
schicht kam eine weitere Gruppe, die in ausgesprochener Weise
O bjekt und O pfer einer absolutistischen Politik w ar: es sind die
vierhundertausend Em igranten, die nach der Aufhebung des E d ik ­
tes von N antes 1685 Frankreich verlassen mußten und sich in den
nord- und nordosteuropäischen Raum ergossen. Allein achtzigtau­
send von ihnen gingen nach England, wo sie — au f dem whigisti-
schen Flügel stehend — zu glühenden Verteidigern der parlam en­
tarischen V erfassung wurden. Sie gründeten im Rain-Bow -Coffee-
H ouse, einem Freim aurerlokal zu London, eine Inform ationszen­
trale, von wo aus sie englischen Geist, englische Philosophie und
vor allem die englische V erfassung über den geistigen Umschlag­
platz H olland im absolutistischen Europa propagierten. Desmai-
zeaux, der Biograph Pierre Bayles, Pierre D aude und Le Clerc,
der Freund von Locke, gehörten zu dieser besonders aktiven
G ru p p e27.
Im engsten Zusammenhang mit den Em igranten, führenden Gei­
stern ihrer Zeit, und auf ihnen aufbauend, stehen die Philosophen
der A ufklärung. Sie stellten die Truppen, die ihren unschuldigen
K rieg innerhalb des Regne de la C ritique führten und waren von
entscheidendem Einfluß auf den C harakter der bürgerlichen Elite.
Diese frei schwebende Schicht der Schriftsteller und A ufklärer der
„philosophes m ilitan ts“ , die sich um die moralische Gesetzlichkeit
bemühten, w ar schon dank ihrer H erkunft — zumeist aus den
unteren und mittleren Schichten stammend — in ihrer sozialen
Existenz bar aller politischen Fun k tion 28. H inzu kam die wachsende
Schicht der bürgerlichen Beamten und Richter — etw a eine V iertel­
million K ö p fe zählend — , die zw ar mit staatlichen A ufgaben be­
traut waren, deren O rganisation aber ein Eigengefälle entwickelte,
so daß sie sich innerlich bereits von der absolutistischen Herrschaft
ablösen kon nte29.
A us allen diesen Gruppen verschiedenster A rt: sozial anerkannt,
aber ohne politischen Einfluß wie der A del, oder von wirtschaft­
licher Macht, aber sozial als homines novi abgestempelt wie die
Financiers, oder sozial ohne rechten O rt, aber von höchster geistiger
Bedeutung wie die Philosophen, form ierte sich eine neue Schicht,
die verschiedenste, ja entgegengesetzte Interessen verfolgte, deren
gemeinsames Schicksal es aber w ar, in den bestehenden Einrichtun­
gen des absolutistischen Staates keinen zureichenden P latz zu fin­
den. D er absolutistische Fürst hielt seine H an d au f alle Zugänge zu
dem Befehlsapparat im Staat, a u f Gesetzgebung, Polizei und M ili­
tär, und er führte zudem einen erbitterten K a m p f gegen die letzten
Reste der ständischen Vertretung, in der die neue Elite, wenigstens
teilweise vertreten, einige Interessen wahren konnte. V öllig ver­
schlossen w ar ihr ein Einfluß au f die Außenpolitik, durch die über
K rieg und Frieden entschieden wurde. Diese Männer, die das gei­
stige Gesicht ihres Landes bestimmten oder auch die Lasten ihres
Staates trugen, waren nicht dazu ausersehen, über das Schicksal
eben dieses Staates zu entscheiden, denn es lag im System der abso­
lutistischen O rdnung, daß sie gerade nichts zu entscheiden hatten;
sie waren alle U ntertanen. A u f G rund dieser Gemeinsamkeit bildete
sich eine für den absolutistischen S ta at außerstaatliche Interessen­
sphäre heraus, die der Gesellschaft, der societe, in der die verschie­
denen Gruppen ihren eigenständigen P latz sahen. Die Spannung
zwischen der sozial zunehmenden Bedeutung einerseits und der U n ­
möglichkeit, dieser Bedeutung einen politischen Ausdruck zu ver­
leihen, bestimmte die geschichtliche Situation, in der sich die neue
Gesellschaft konstituierte. Sie sollte entscheidend sein für ihr Wesen
und ihre Entwicklung. D ie kritische Scheidung zwischen M oral und
Politik, au f die sich die bürgerliche Intelligenz berief, folgt aus
dieser Differenz und verschärft sie zugleich.
Im ganzen ausgeschaltet von der Politik, fanden sich die Männer
der Gesellschaft an völlig „unpolitischen“ Orten zusammen: an der
Börse oder in Kaffeehäusern, in den Akademien, wo die neuen
Wissenschaften getrieben wurden, ohne der staatskirchlichen A uto­
rität einer Sorbonne zu erliegen, oder in den Clubs, wo sie nicht
Recht sprechen konnten, aber das herrschende Recht besprachen;
in den Salons, in denen der Geist unverbindlich walten konnte und
nicht den offiziellen C harakter trug wie auf K anzeln und in K a n z ­
leien, oder in Bibliotheken und literarischen Gesellschaften, in denen
K unst und Wissenschaft, nicht aber staatliche Politik betrieben
wurde. So schuf sich im Schutze des absolutistischen Staates die neue
Gesellschaft ihre Institutionen, deren A ufgaben — ob vom Staate
geduldet, gefördert oder nicht — „gesellschaftliche“ waren. Es kam
zu einer Institutionalisierung im H intergrund, deren politische
K raft sich nicht offen, d. h. in den Bahnen fürstlicher Gesetzgebung
oder im Rahmen staatlicher oder noch bestehender ständischer Ein­
richtungen, entfalten konnte; vielmehr konnten die Vertreter der
Gesellschaft von vornherein einen politischen Einfluß, wenn über­
haupt, nur indirekt ausüben. Alle sozialen Einrichtungen dieser
neuen geselligen und gesellschaftlichen Schicht gewinnen somit einen
potentiell politischen C harakter, und soweit sie einen Einfluß auf
die Politik und staatliche Gesetzgebung bereits ausübten, wurden
sie zu indirekten politischen Gewalten.
Sowie der S taat aus dieser Richtung das M onopel seiner G esetz­
gebung bedroht sah, schritt er gegen die neuartigen Institutionen
ein. Bezeichnend hierfür ist das Schicksal des Club de VEntresol.
„ C ’etait une espece de club a l’anglaise, ou de societe politique
parfaitem ent libre“ , berichtet der M arquis d ’Argenson, das bedeu­
tendste M itglied, in seinen Erinnerungen, „composee de gens qui
aim aient a raisonner sur ce qui se passait, pouvaient se reunir, et
dire leur avis sans crainte d ’etre compromis, parce qu’ils se con-
naissaient tous les uns les autres, et savaient avec qui et devant qui
ils parlaien t.“ 30 In dieser von Bolingbroke angeregte Gesellschaft31
fanden sich achtbare Gelehrte, fortschrittliche Kleriker, hohe M i­
litärs und erfahrene Beamte zusammen, die die Nachrichten aus
aller Welt sammelten und besprachen; jeder hatte ein bestimmtes
Fach, und die H aup tarbeit galt den Fragen der inneren und äuße­
ren Politik. D 'A rgenson selber trug hier seinen ersten Entw urf zu
den „Consid^rations sur le Gouvernement ancien et present de la
France“ vor, die bis zu ihrer Drucklegung in Am sterdam 1764
handschriftlich in Frankreich kursierten und eine radikale V erw al­
tungsreform mit dem Ziel des demokratischen Staatsabsolutism us
propagierten 32.
Ein anderes M itglied und der M entor des K lubs w ar der greise
Abbe de St. Pierre, einer der ersten und bekanntesten Vertreter der
neuen Gesellschaft, die ihre K ritik gegen den absolutistischen S taat
richteten. 1718 hatte er seinen „D iscours sur la Polysynodie ou
Pluralite des conseils“ veröffentlicht, in dem er das System des
korrupten „V isirat“ heftig angriff; er hoffte dam als durch seinen
Vorschlag die vom Regenten eingesetzten Ministerconseils — mit
bezeichnenden Abwandlungen, wie durch die Einführung eines ge­
heimen W ahlverfahrens — zu einer dauernden Regierungseinrich­
tung auszubauen33. D ie Elite der N atio n sollte — in parlam entari­
schen Fachausschüssen vertreten — einen „P lan general“ zur N eu ­
ordnung Frankreichs ausarbeiten. M it diesem Vorschlag übte der
Abbe zugleich eine politische K ritik , deren indirekte Methode
Rousseau später charakterisiert h a t34:

„Il tourne meme avec assez d’adresse en objections contre son


propre systeme, les defauts a relever dans celui du Regent; et sous
le nom de r^ponses a ses objections, il montroit sans danger et ses
defauts et leurs remedes. II n’est pas impossible que le Regent. . .
ait p£netr£ la finesse de cette critique.“

D er Regent w ird die Finesse wohl bemerkt haben, jedenfalls


wurde St. Pierre daraufhin aus der französischen A kadem ie rele­
giert. St. Pierre hoffte nun in der privaten Akadem ie des C lub
de l’Entresol ein neues A rbeitsfeld zu finden35.
Durch die Institutionalisierung der Gesellschaft zu einer privaten
Akadem ie entwickelte die politische K ritik , die in ihr gepflegt
wurde, eine nach außen, unter Umgehung der staatlichen Gewalten,
d. h. indirekt wirkende politische Gew alt. W alpole suchte die Gunst
des K lubs, dessen Überlegungen und Ansichten am H o fe wie in
Paris kursierten, und so übte er bereits einen bedeutenden Einfluß
au f die gerade durch ihn gebildete öffentliche Meinung a u s36.
St. Pierre allerdings hätte am liebsten diese private Gesellschaft im
Sinne seiner Polysynodie ebenfalls zu einem offiziellen Gremium
erhoben, das die politische Planungsarbeit zu leisten habe. Doch
als er in aller N a iv itä t den K ardin al Fleury um offene A utorisation
für politische Untersuchungen bat, erhielt er zur A ntw ort: „ J e vois,
monsieur, que dans vos assemblees vous proposeriez de traiter des
ouvrages de politique. Com m e ces sortes de matieres conduisent
ordinairem ent plus loin qu’on ne voudrait, il ne convient pas
qu’elles en fassent le sujet.“ 37
Während der M arquis d ’Argenson in klarer Voraussicht der
staatlichen Reaktion immer auf strengste Verschwiegenheit und
D iskretion 38 gedrungen hatte, um den Bestand des K lubs überhaupt
zu garantieren, wurde der Versuch des Abbe de St. Pierre, die
p rivate Gesellschaft in ein halbstaatliches oder staatliches O rgan zu
verwandeln, mit dem Verbot beantwortet. D er französische K a n z ­
ler duldete weder die politische Planung noch den indirekten Ein­
fluß einer Gesellschaft, und so sah sich unter seinem Druck der K lub
gezwungen, sein Zwischengeschoß zu verlassen. Auch der Versuch,
unter strikter Geheimhaltung und an wechselnden Orten weiter­
zutagen, bewahrte ihn nicht vor dem Zw ang, seine Sitzungen zu
schließen.
Dieses Ereignis aus dem Jahre 1731 ist symptomatisch für die
Differenz zwischen Staat und Gesellschaft: der S taat sieht seine
Ordnung durch eine selbständige politische Tätigkeit der führenden
neuen Gesellschaftsschicht bedroht und zwingt sie, wieder in den
privaten Untergrund zu emigrieren, in dem sie sich konstituierte39.
D ie einzige Institution der Bürger, die diesem absolutistischen
Herrschaftsanspruch Rechnung trug, in der aber zugleich alle M aß­
nahmen ergriffen wurden, um ihm dennoch zu entgehen, w ar die
Freim aurerei40. Die Logen der M aurer sind die für das neue Bürger­
tum typische Bildung einer indirekten G ew alt im absolutistischen
Staat. Sie waren umgeben von einem selbstgeschaffenen Schleier:
dem Geheimnis. Die Verschwiegenheit, die mißachtet zu haben nach
d ’Argenson der C lub de l’Entresol mit seiner A uflösung bezahlen
mußte, die Schweigsamkeit, die Bindung an ein Geheimnis waren
für die M aurer verpflichtend, sie haben das Wesen ihrer Gesellschaft
bestimmt. D as Geheimnis, dieses dem Zeitalter der A ufklärung
-cheinbar so widersprechende Element, bedarf der näheren K lärung,
denn das maurerische Geheimnis führt in das Zentrum der D ialek­
tik von M oral und Politik. D as Geheimnis verdeckt — wie sich
heraussteilen wird, in am bivalenter Weise — die politische K ehr­
seite der A ufklärung.
D ie M aurer haben den außerstaatlichen geistigen Innenraum, den
sie mit den anderen bürgerlichen Gemeinschaften teilten, von vorn­
herein und ganz bewußt mit einem Geheimnis umgrenzt und zum
Mysterium erhoben. Durch diesen A kt und den beharrlichen N ach­
druck, den sie darau f legten, unterschieden sie sich — obwohl sie
selbst von halbreligiösem Pathos erfüllt und von kultischer Strenge
durchstimmt waren — von den vielen Religionsgemeinschaften,
etwa von den Pietisten oder Methodisten, die sich auch neu bildeten,
oder von den Jansenisten, die ebenfalls teils verfolgt, teils nur ge­
duldet ein streng religiöses Leben führten41.
D ie inhaltlichen Bestimmungen des maurerischen Mysteriums, die
konkreten Gehalte der Geheimarbeit gingen je nach den Lehrmei-
nungen stark auseinander. Von System zu System hatte das G e­
heimnis für die Brüder selber einen anderen C harakter, es fand,
durch zeitliche und soziale U m stände bedingt wie durch nationale
Eigentümlichkeiten bestimmt, völlig unterschiedliche Prägungen42.
D as durchgängige Ziel der königlichen Kunst, den rohen Menschen,
diesen „unbehauenen Stein“ , zu „polieren“ und die Brüder in die
Regionen des Lichts zu erheben, wurde auf den verschiedensten
Wegen angestrebt. Sittliche Läuterung der niederen Sinnlichkeit43
und sinnliche Freuden auf den Festen brüderlicher G esittun g44
waren beide zugleich möglich und ergänzten einander.
D ie Sk ala der Vorstellungen und Hoffnungen, die dem Geheim­
nis der verschiedenen Systeme seinen Inhalt verliehen, reichte von
rationalen Plänen des sozialen Zusammenlebens bis hinüber zu
romantisierenden und mystisierenden Phantasmen, es gab mannig­
faltige Mischungen und Schattierungen, ja es ist geradezu charakte­
ristisch für die Maurerei, daß die widersprechendsten Elemente eine
unlösliche Verbindung eingingen45. J e nach dem Schwerpunkt unter­
schieden sich die Richtungen, die — um einige der wichtigen zu
nennen — von der moralisch-humanitären Vereinigung der eng­
lischen, der blauen M aurerei und der deutschen Illuminaten über
die ritterlichen Orden etwa der Tempelherren bis zu dem protestan-
tisch-schwedischen System reichten und weiter zu den sektiererischen
Bünden der Rosenkreuzer oder der Philaleten, die den Menschen
durch okkulte Wissenschaften zu erleuchten und erlösen hofften46.
In den maurerischen Geheimorganisationen gehen religiöse und
politische Elemente eine neuartige Verbindung ein. Rationale E r­
weckungen antiker Mythen und Mysterien und die Entfaltung einer
eigenständigen Herrschaftshierarchie prägen die Bünde, die als
Ganzes aber weder kirchlich noch staatlich waren, sondern eine der
neuen bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche Organisationsform
darstellten. „Ihrem Wesen nach ist die Freimaurerei ebenso alt als
die bürgerliche Gesellschaft. Beide konnten nicht anders als mit­
einander entstehen — wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft
nur ein Sprößling der Freimaurerei ist.“ 47 Diese sozialontologische
Feststellung von Lessing behält ihre geschichtliche Wahrheit. In den
Logen und durch sie gewinnt das Bürgertum eine eigene soziale
Form. Ihr Geheimnis tritt — in Nachahmung beider — neben die
Mysterien der Kirche und neben die Arcanpolitik der Staaten. Es
ist das Geheimnis einer dritten Gewalt, die nach ihrem eigenen,
selbstgeschaffenen Gesetz lebte, wie es bei Locke als „L aw of private
Censure“ neben das Divine Law und C ivil L aw getreten war.
Das Geheimnis hatte in den verschiedenen Systemen einen ver­
schiedenen Inhalt, aber immer dieselbe soziale Funktion. Die Funk­
tionen des Maurergeheimnisses sind im Rahmen des absolutistischen
Staates weit wichtiger als ihr wirklicher oder vermeintlicher Inhalt,
dem nachzuforschen meist vergeblich bleiben wird. Diesen Funk­
tionen soll im folgenden nachgefragt werden, und es wird sich dabei
heraussteilen, daß es gerade die Funktionen sind, die — im Rahmen
des Staates — für die führenden K öpfe der Gesellschaft den wahren
Sinn und eigentlichen Gehalt des arcanum bildeten.
In die Logen, zunächst eine rein bürgerliche Schöpfung, verstehen
es die Bürger den sozial zwar anerkannten, aber politisch ebenfalls
entrechteten Adel hineinzuziehen und so auf der Basis sozialer
Gleichberechtigung mit ihm zu verkehren. Wie in den Salons vor
den Frauen kein sozialer Rangunterschied galt, so behauptete sich
auch in den Logen das Prinzip der egalite48. „Noblemen, gentlemen
and working men“ 49 fanden hier Zutritt, und der Bürger gewann
somit eine Plattform , auf der alle ständischen Unterschiede ein­
geebnet wurden. M it dieser Tätigkeit richteten sich die Maurer zwar
gegen das bestehende Sozialgefüge, standen aber noch nicht in un­
abweisbarem Widerspruch zu dem absolutistischen Staat. Die poli­
tische Gleichheit der Untertanen führte zur sozialen Ängleichung
ständischer Unterschiede: dieses durchführen hieß noch nicht das
politische System des absolutistischen Staates selber sprengen. Aber
gerade dort, wo die soziale Einebnung der ständischen Hierarchie
am stärksten angestrebt und zum O rganisationsprinzip gezählt
wurde, in den Logen, w ar die soziale Gleichheit eine Gleichheit
außerhalb des Staates. Der Bruder w ar innerhalb der Logen kein
U ntertan der Staatsgew alt mehr, sondern Mensch unter Menschen:
er dachte, plante und handelte in der Logenarbeit frei.

„Le cri de la nature, ami, c’est Liberte!


Ce droit si eher a l’homme est ici respecte.
Egaux sans anarchie et libres sans licence,
Ob&r a nos lois fait notre independence.“ 50

Die Freiheit vom bestehenden S taat w ar — mehr als ihre soziale


Gleichheit — das eigentliche Politicum der bürgerlichen Logen. Die
innere Gesetzlichkeit der Legen, ihre Freiheit und U nabhängigkeit
waren nur möglich in einem Bereich, der dem Einfluß sowohl der
kirchlichen Instanzen wie dem politischen Zugriff der herrschenden
Staatsgew alt entzogen blieb. D as Geheimnis hatte daher von vorn­
herein eine abweisende, eine schützende Funktion. „D ie Geheim­
nisse und das Schweigen“ , heißt es 1738 ausdrücklich in einem Z u­
satzprotokoll zur Verfassung der H am burger Loge, dieser ersten
Gründung auf deutschem B oden 51, „die Geheimnisse und das
Schweigen (sind) die hauptsächlichsten M ittel, um uns zu behaup­
ten und uns den Genuß der Maurerei zu erhalten und zu bekräf­
tigen.“ An die Stelle des Schutzes durch den Staat tritt der Schutz
vor dem Staat.
Diese schützende-Funktion nun, die das Geheimnis für die M au­
rer gehabt hat, fand ihr geistiges K orrelat in der Trennung von
M oral und Politik. Bereits bei der Gründung der bürgerlichen Frei­
maurerei wurde sie in aller Bewußtheit festgelegt. Die Trennung
zu beachten und einzuhalten gehörte zu den „Alten Pflichten“ , die
1723 unter der Regie von Desaguliers verfaßt wurden, und dam it
bestimmte sie auch die Richtung der übrigen Systeme, die mit der
Ausbreitung der königlichen K unst über Europa die „Alten Pflich­
ten“ als A rbeitsgrundlage übernommen hatten. „A M ason is ob-
liged, by his Tenure, to obey the M oral Law . . .“ 52, so lautet der
erste Satz der Verfassung, der M aurer ist durch seinen Beruf ver­
bunden, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. M it dieser Ver­
pflichtung legte Desaguliers eine doppelte Frontstellung fest: die
Front gegen die bestehenden Staaten und die Front gegen die herr­
schenden Kirchen. W ährend man früher verpflichtet war, sich den
jeweiligen Landes- oder Staatskirchen anzuschließen, so heißt es
statt dessen jetzt, sich nur der M oral, dieser für alle Menschen
unterschiedslos gültigen Religion, der neuen „Catholick Religion“
unterwerfen: „yet ’tis now thought more expedient only to oblige
them to that Religion in which all Men agree . . 53 Wie der absolu­
tistische Staat bisher die religiösen Spannungen politisch neutrali­
siert hatte, so wollen die Bürger nunmehr selber alle G laubensdif­
ferenzen moralisch überbrücken. In der Freimaurerei w ird die
bürgerliche M orallehre sozial verwirklicht. „W hereby M asonry be-
comes the Center o f Union, and the M eans o f conciliating true
Friendship among Persons that must eise have remain’d in a per-
petual D istance.“ 54
Noch wichtiger aber w ar, um die gesellschaftliche Welt zusam ­
menzuschließen, die ausdrückliche Abwendung von der herrschen­
den Politik, die sich nicht von den Gesetzen einer außerstaatlichen
M oral, sondern von der jeweiligen Staatsräson leiten ließ. „W e are
resolw’d against all Politicks“ , stellen die M aurer im sechsten A r­
tikel ihrer Verfassungen fest, und dieses Bekenntnis verkünden sie
wie heute noch im ganzen achtzehnten Jah rh u n d ert55.
Diese Ablehnung der Politik w ar in England zunächst von der
innerpolitischen Absicht getragen, über die bestehenden Parteien
hinweg eine neue soziale Einheit zu stiften56, aber zugleich sollte sie
die Regierung davon überzeugen, daß die geheime Gesellschaft un­
gefährlich und daher zu dulden sei. Doch während in England die
königliche K unst bald eine enge Liäson mit der georgianischen Poli­
tik einging und auch auf dem Festland in ihren Dienst trat, blieb
innerhalb der absolutistischen Staaten die in der V erfassung aus­
gesprochene Trennung von M oral und Politik in aller Schärfe be­
stehen. Aus der N ot, keine politische A utorität zu besitzen, machte
die neue Gesellschaft ihre Tugend: sie verstand auch ihre geheime
Institution nicht als „politisch“ , sondern von vornherein als „m ora­
lisch“ 57. In den Logen herrscht ein besserer Souverän, es ist die T u ­
gend, die das Szepter führt: „L a vertu a son Trone dans nos loges,
nos coeurs sont les sujets, et nos actions le seul encens qu’elle y
regoive avec com plaisance.“ 58 D ie M aurer versicherten immer
wieder heilig, keine politischen Zwecke zu verfolgen, denn unter
ihrer gemeinsamen Herrschaft im Zeichen der Tugend bedarf es
keiner politischen Kunstgriffe mehr, äußerliche Konstruktionen wie
die Balance erübrigen sich — allein schon in der inneren Verbin­
dung ist das Glück garan tiert59. Mögen die Staaten die Macht in
ihren H änden halten, durch das Geheimnis monopolisieren die
M aurer für ihre soziale Institution die M o ra l60.
D as Geheimnis war, wie expressis verbis in den C onstitutions
ausgesprochen, die Grenzscheide zwischen M oral und Politik: es
schützt und umgrenzt den sozialen Raum , in dem sich die M oral
verwirklichen sollte.
Ein entwicklungsgeschichtlicher Rückblick macht die aus der
Struktur des absolutistischen System s sich ergebende Zw angsläufig­
keit deutlich, mit der sich der moralische Innenraum nur im ge­
heimen Gegenzug gegen die staatliche Politik entfalten konnte: die
Freiheit im geheimen Innern, in der Seele des einzelnen S ta ats­
bürgers, die H obbes aus dem absolutistischen Staate ausgrenzen
mußte, um seinen Souveränitätsbegriff ableiten zu können61, die
Freiheit, die sich dann bei Locke „by a secret and tacit consent“ der
Individuen in einer vom Staate unabhängigen philosophischen G e­
setzgebung niederschlug62, diese bürgerliche Freiheit w ar in dem
absolutistischen Staat nur zu verwirklichen, solange sie sich weiter­
hin auf einen geheimen Innenraum beschränkte. D as moderne Bür­
gertum wächst zw ar aus dem geheimen Innenraum einer privaten
Gesinnungsmoral heraus und konsolidiert sich in privaten G esell­
schaften; aber diese bleiben weiterhin von dem Geheimnis um­
grenzt. D ie bürgerlichen M aurer verzichten nicht auf das Geheim­
nis des moralischen Innern, denn gerade in ihm finden sie ihre vom
Staate unabhängige Existenz garantiert. D ie geistige Tatsache, „to
be in secret free“ 63, erhält dam it in den Logen ihre soziale K on kre­
tion. Scheinbar ohne den S taat zu tangieren, schaffen die Bürger in
den Logen, diesem geheimen Innenraum im Staate, in eben diesem
S taat einen Raum , in dem — unter dem Schutz des Geheimnisses —
die bürgerliche Freiheit bereits verwirklicht wird. D ie Freiheit im
geheimen w ird zum Geheimnis der Freiheit.
Um die Freiheit zu verwirklichen, hatte das Geheimnis über seine
Schutzfunktion hinaus eine weitere, ebenfalls bewußt angesetzte
Funktion: die bürgerliche Welt innergesellschaftlich in genuiner
Weise auch zusammenzuschließen64. Wie sich kraft dieser Funk­
tion die moralische Welt unsichtbar in den politisch durchgängig
festgelegten Raum der absolutistischen Staatenw elt hineinschiebt,
wird jetzt verfolgt. D abei wird sich erweisen, daß durch diesen
scheinbar unpolitischen Prozeß der S taat — gleichsam per nega-
tionem — bereits in Frage gestellt wird und daß es gerade
die moralische Gerichtsbarkeit ist, die diesen Prozeß überwacht
und führt, indem sie sich auf die dualistisch abgespaltete Politik
ausweitet.

III

D as Mysterium der Logen lag allem Inhalt zuvor in dem Nim bus,
der von ihm ausstrahlte. Im Geheimnis lag die Verheißung, eines
neuen, besseren und bisher nicht gekannten Lebens teilhaftig zu
werden. Die Initiation bedeutete „die Entdeckung einer neuen,
mitten in der alten verborgenen W elt“ 65. Der eudämonistische, der
christlichen Offenbarung bereits entfremdete Bürger erblickte in
den geheimen Gesellschaften eine Einrichtung, „in der er alles das­
jenige finden werde, w as er sich nur immer wünschen könne“ 66.
Daher „herrschte ein so unbeschreiblich weit ausgebreiteter T rieb“ 67,
und es gehörte geradezu zum guten Ton, in einen der Geheimorden
einzutreten, die, wie Friedrich der Große einmal bemerkte, „der
Geschmack und dieM ode des Jahrhunderts allein gebildet haben“ 68.
War man einmal initiiert, so schuf das Geheimnis eine neuartige
Gemeinsamkeit. Der königliche Tempel wurde durch das Geheimnis
erbaut und zusammengehalten, das arcanum w ar der „ K itt“ der
Brüderlichkeit. D ie gemeinsame Teilnahme am selben arcanum ver­
bürgte zunächst die Gleichheit der Brüder, sie vermittelte die
ständischen D ifferenzen69. D as Geheimnis verband, gleich worin
sie eingeweiht waren, alle M itwisser unabhängig von ihrer Stellung
in der bestehenden Hierarchie auf einer neuen Ebene. „Lorsque
nous sommes rassembles, nous devenons tous Freres, le reste de
PUnivers est etranger: le Prince et le Sujet, le Gentil-homme et
PArtisan, le Riehe et le Pauvre y sont confondus, rien ne les distin-
gue, rien ne les separe.“ 70 D as Geheimnis trennte die Brüder von der
übrigen Außenwelt, und so entwickelte sich durch die Abweisung
aller bestehenden sozialen, religiösen und staatlichen Ordnungen
die neue Elite, die Elite als „Menschheit“ 71. D ie Teilnahme am
Geheimnis hielt ein unbestimmtes Mißtrauen und Vorsicht gegen
die Außenstehenden wach, die ständig beschworene Sorge vor „V er­
r a t“ trug immer dazu bei, das Bewußtsein der eigenen, der neuen
W elt zu steigern und dam it die Verpflichtung, ihr zu dienen. So
festigte sich durch das Geheimnis das Uberlegenheitsgefühl der
Mitwisser, das Elitebewußtsein der neuen Gesellschaft72. Inner­
halb der Gesellschaft schuf wiederum die A bstufung der arcana in
die verschiedenen G rade, die in den Hochgraden der strikten O b ­
servanz geradezu krankhafte Auswüchse zeitigten, eine Hierarchie
sui generis, in der Bürger und A del gemeinsam verbunden w aren 73.
J e mehr er eingeweiht wurde, desto mehr gewann — oder hoffte sie
zu gewinnen — der M aurer an Einfluß und Geltung, deren M ög­
lichkeit jedenfalls von rein innergesellschaftlichen Qualifikationen
abhing. So förderte die A bstufung einen ständigen D rang nach
ob en 74, der wiederum zu einer dauernden A ufstufung der G rade
führte, und das letzte arcanum versprach die Teilhabe an der Licht­
quelle der A ufklärung. Diesen D ran g befriedigen hieß aber zu­
nächst sich unterordnen, man mußte Gehorsam wahren, den man
freiw illig leistete, da er nur Leuten gleichen Geistes gezollt wurde.
Innerhalb der strikten O bservanz entwickelte sich die im „U n ­
bekannten“ verschwindende Spitze zu einem sozialen M ythos, der
die Gewichtigkeit des arcanum und der daran geknüpften m ora­
lischen Selbstkontrolle steigern h a lf75. D ie „großen U nbekannten“
waren immer irgendwo, aber zugleich überall anwesend und konn­
ten wie die „Verschwundenen" der Illuminaten, die insgeheim die­
sen leeren P latz zu besetzen trachteten70, jederzeit über Führung
und Verhalten der Glieder zu Gericht sitzen 77. Der ursprüngliche
Zw ang zum Geheimnis hatte sich in dem deutschen Logenwesen
gleichsam verselbständigt. Er w ar einem Trend zur M ystifikation
gewichen, der dem Glauben an eine allmächtige, geheime und in­
direkte Herrschaft jenseits des Staates Vorschub leistete. Die un­
bekannte Spitze erschien so fern und so nahe zugleich wie das un­
endliche Ziel des Fortschritts, der alles H eutige schon reguliert.
In jedem Fall entwickelte sich in den verschiedenen Obödienzen
eine eigenständige Herrschaftsordnung. D as Geheimnis sicherte d a­
bei durch seine A bstufung der tatsächlichen Führungsschicht ein
überlegenes Wissen. Die Trennung zwischen einem weltlichen
Außenraum und einem moralischen Innenraum wurde dam it in die
Gesellschaft selber übertragen und zum Zwecke der Führungsauf­
gaben differenziert. Durch die verschiedenen G rade der Geheim­
haltung wurde ein Schleusensystem geschaffen, das nach innen, in
die Maurerei hinein und innerhalb der Systeme nach oben hin, offen
w ar, aber nicht nach unten und außen. D as Geheimnis wurde da­
mit zu einem Herrschaftsinstrument, das z. B. in dem Illum inaten­
orden konsequent gehandhabt wurde. D ie Priesterregenten dieses
Ordens gingen — in Anlehnung an jesuitische V orbilder — dazu
über, ein akkurates System geheimer Kontrollberichte einzuführen.
Die Brüder waren verpflichtet, monatlich über sich selbst — in mo­
ralischer Offenheit — und über ihre M itbrüder — in gegenseitiger
Bespitzelung — versiegelte Meldungen zu erstatten. „Dadurch muß
er sich und andere notwendig entziffern, und schriftlich compromit-
tiren.“ 78 A u f dem Wege dieser geheimen K ontrollen „erfahren die
Oberen alles, was sie immer zu erfahren verlangen. Daher sagen sie
von sich selbsten: Wir sind imstand, mehr zu wissen, als die übrigen
Menschen, mehr zu wirken, als andere.“ 79 U m zum Illum inatus
m ajor aufrücken zu können, w ar wie bei der Zulassung ein gew al­
tiger Fragebogen auszufüllen, der auf 32 Druckseiten mehrere hun­
dert Fragen umfaßte, die den A nw ärter in geistiger, charakterlicher,
sozialer und ökonomischer Hinsicht restlos aufschlüsselten. D as
Geheimnis galt hier zunächst als ein Vehikel moralischer Erziehung,
indem „der H an g des Menschen zum Verborgenen und Geheimnis­
vollen au f eine für die M oralität so vorteilhafte A rt benutzt
w ird“ 80, aber zugleich lieferte es den Zögling dem „Sittenregim ent“
aus, diesem „D irektorium der T oleran z“ 81, das kraft des Geheim­
nisses die Brüder im N am en der M oral bereits moralisch terrori­
sierte. D ie Illuminaten bildeten innerhalb der zahllosen Geheim­
bünde zweifellos den deutschen Extrem fall eigenständiger H err­
schaftsplanung. Aber insofern sind sie symptomatisch. A nalog zielte
in England — entsprechend früher — die Gründung der „G rand
Lodge“ zunächst darau f ab, die bereits bestehenden verstreuten L o ­
gen einer strengen und einheitlichen K ontrolle zu unterw erfen81*;
ein Vorgang, der sich in Frankreich 1773 w iederholte81”. A udi die
Illuminaten suchten nur die Konsequenz zu ziehen, die sich au f­
drängte, sowie das Geheimnis einen neuen sozialen Raum erschlos­
sen hatte.
Im Zeichen des M aurermysteriums entstand das soziale G erüst
der moralischen Internationale, die sich aus den Kaufleuten und
Reisenden, den Philosophen, Seeleuten und Em igranten, kurz den
Kosm opoliten im Verein mit dem Adel und den Offizieren zusam ­
mensetzte. Die Logen wurden zum stärksten Sozialinstitut der
moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert. Ihr großes Gewicht
erweist sich bereits daran, daß sich auch die Staatsm änner der
Logen bedienten, um Einfluß zu gewinnen und politische Ziele
zu verfolgen. Die K önige von Schweden, der H erzog Ferdinand
von Braunschweig — als der Protektor der Strikten O bservanz — ,
die Hohenzollern und viele deutsche M ittelfürsten zählen in diese
Reihe, wie in Frankreich der H erzog Louis Philippe von Orleans,
Philippe £galite der großen R evolu tion 82.
Im Unterschied zu dem Chaos, das, in dem deutschen O rdens­
wesen in den sechziger Jahren einmal eingerissen, auch von den
Illuminaten nicht beseitigt werden konnte, entfaltete sich in F rank­
reich nach der R eform von 1773 das Logenwesen zu neuer B lü te83.
Von großem Einfluß auf die N euordnung w ar die 1769 gegründete
Philosophen- und Enzyklopädistenloge „Les N eu f Sceurs“ . Sie w ar
das soziale Bindeglied zwischen den Vertretern des geistigen „Regne
de la C ritiqu e“ und der O rganisation der Maurer. Unter der m ora­
lisch gewichtigen Führung Benjamin Franklins, der von 1779 bis
1782 ihr Stuhlmeister w ar, entfaltete sie eine breit angelegte Pro­
pagandaarbeit für die republikanischen Ideale, die in A m erika
gerade verwirklicht w urden84. M it der Einführung einer ebenfalls
republikanischen V erfassung innerhalb des G rand O rient von
Frankreich 1773 — die M aurer verstanden sich selber als die „B ür­
ger der Freim aurer-D em okratie“ — , schnellte die Zahl der Logen
sprunghaft in die Höhe. Während 1772 nur 164 Logen in Frank­
reich bestanden, betrug ihre Zahl 1789 bereits 629, von denen sich
allein 65 in Paris befan den 85. So stellte am V orabend der Französi­
schen Revolution die Freimaurerei neben den „societes de pensee“
eine wichtige und selbständige O rganisation der neuen Gesellschaft
dar, die nicht dem S taat unterworfen w a r 86. Sie w ar nicht nur in
geistiger Hinsicht ein K am pforgan gegen den absolutistischen Staat,
sondern bildete zugleich ein soziales Gerüst, auf das sich nach dem
Emportauchen der radikalen Elemente auch der jakobinische Partei­
ap p arat stützen konnte87.
A lso jenseits und zuvor aller politischen Planungsarbeit, die ge­
leistet wurde, m arkiert das Geheimnis durch seine doppelte Funk­
tion, nämlich die Gesellschaft zusammenzuschließen und zu schützen,
eine geistige Frontlinie, die durch die absolutistische Staatenw elt
hindurchlief. Durch das Geheimnis und hinter ihm vollzog sich eine
soziale Gruppierung, die das Gewicht einer indirekten G ew alt
b ek am 88, während auf der anderen Seite der absolutistische Staat
stand in der H oheit und in Frankreich schließlich in der Hohlheit
seiner direkten Herrschergewalt. Es sind bereits und gerade die
innergesellschaftlichen Funktionen, die — scheinbar ohne den Staat
zu berühren — die absolutistische Souveränität in Fragen stellten89.
D as Geheimnis, sagt 1782 de M aistre, ist die G rundlage der G e­
sellschaft, „le secret est le droit naturel parce qu’il est le lien de la
confiance, grande base de la societe humaine“ 90. Weil das Geheim­
nis als das Bindeglied des gegenseitigen Vertrauens die entstehende
Gesellschaft zusammenschließt, deshalb erhält das Geheimnis die
Würde und die Priorität des Naturrechts. U nd deshalb kann de
M aistre die delikate moralische Frage, wie er sie nennt, ob die G e­
sellschaft ihre Pläne vor der Staatsgew alt geheimhalten dürfe, auch
bejahen. D as Geheimnis gehört zum Naturrecht, vor ihm schwindet
alles positive Recht. D as Logengeheimnis bricht die Staatsgew alt.
Dies wäre möglich, fügt er stereotyp wie alle M aurer hinzu, da es
ohnehin nichts zum Inhalt habe, was sich gegen Staat oder Kirche
richte. Aber dieses Argument setzt er bewußt als sekundär: nicht
erst, weil das Geheimnis dem Staat — für den Staat gesagt — un­
gefährlich sei, sondern schon und gerade kraft seiner sozialen Funk­
tion, die bürgerliche Welt zusammenzuschließen, muß das Geheim­
nis, dieses O bstakel des Staates, bestehen bleiben.
Wie sehr es gerade diese außerstaatlichen, rein innergesellschaft­
lichen Funktionen waren, durch die die Gesellschaft den S taat in
Frage stellte, zeigt sich an der D ialektik zwischen M oral und
Politik, die sich an dem Geheimnis entzündete.
Um den Zusammenschluß der Brüder zu einer inneren Gemein­
schaft, um die En tfaltung einer eigenständigen Hierarchie, die
Sicherung überlegenen Wissens und die Chance einer gesellschaft­
lichen Führungsordnung zu garantieren, bedurfte es der W ahrung
des Geheimnisses. D ie Verschwiegenheit w ar die Grundlage und
Voraussetzung des gesellschaftlichen arcanum. Die U nerzw ingbar-
keit dieses ersten Grundgesetzes der Geheimorden, ihr Mangel an
direkter Zw angsgew alt rief die Jurisdiktion hervor, die spezifisch
moralisch war. Zunächst bedeutete die Selbstverpflichtung zur V er­
schwiegenheit eine ständige Selbstkontrolle des Gewissens, sie aus­
üben hieß für den Maurer, sich als tugendhaft, unabhängig und
souverän erweisen. Ein guter M aurer „muß sein eigener Richter
werden, das Urtheil über sich selbst sprechen“ 91. Die durch das G e­
heimnis vollzogene A ufspaltung der Welt mißachten hieß daher
für den M aurer sich selbst verurteilen, die Scheidung zu vollziehen
w ar ein würdiger A kt der moralischen Jurisdiktion. Die Schaffung
eines sozialen Sonderraumes, die kritische Scheidung zwischen G e­
sellschaft und Außenwelt war also gleich ursprünglich mit der
moralischen Gerichtsbarkeit, die diese Trennung vollzog und über­
wachte.
D ie Zwangsm ittel der moralischen Rechtsprechung waren ganz
in den von Locke aufgewiesenen Bahnen indirekt und wirkten sich
aus in sozialem D ruck92. Aber mit der zunehmenden Entfaltung
einer innergesellschaftlichen H oheit planten die M aurer, ihre m ora­
lischen Richtsprüche auch direkt zu vollstrecken. A ls de M aistre
sein großes Reform program m für die Strikte O bservanz in Deutsch­
land und Frankreich entwickelte, kam er au f den Verräter zu spre­
chen und stellte fest: „D ans quelques annees nous serons en etat de
faire taire ce Frere, ou nous ne serons rien.“ 93 Die Frage, inwieweit
die symbolisch strenge, aber nur indirekt wirkende Gerichtsbarkeit
direkt zu verwirklichen sei, wird 1782 — sieben Ja h re vor der
Französischen Revolution — bereits als eine alternative Entschei­
dungsfrage gestellt, von der die künftige Existenz der Gesellschaft
überhaupt abhängt. D ie direkte A uswirkung der gesellschaftlichen
Gerichtsbarkeit zeichnet sich deutlich ab: die Gesellschaft trat mit
ihrer Rechtsprechung dem Anspruch nach bereits in offene K on ku r­
renz zu der des Staates. Die alternative Entscheidungsfrage, die sich
daran anschloß, w ar bereits ein akutes Sym ptom der K rise 94.
Aber lange bevor sich diese Frage derart zuspitzte, stellte die
moralische Jurisdiktion den Staat auf ganz andere Weise, nämlich
indirekt, in Frage. Sie richtete sich nicht nur nach innen, sondern
ebenso nach außen. D er A kt der sozialen Selbstkonstitution w ar
immer zugleich ein moralischer U rteilsakt, der auch über den S taat
gefällt wurde.
„A mesure que le vice s’eleva, la vertu fut abaissee . . . et pour
n’etre point la victime de son cruel antagoniste, eile se fit un azile
inaccessible ä. tout autre qu’ä. ses fideles adorateurs.“ 95

D er durch das Geheimnis ermöglichte Abschluß von der Außen­


welt bewirkte eine soziale Existenzform , die als solche schon die
moralische Q ualifikation in sich schloß, über diese Außenwelt zu
Gericht zu sitzen. D as p rivate Gewissen erweitert sich durch das
M edium des Geheimnisses zur Gesellschaft, die Gesellschaft w ird zu
einem großen Gewissen, und zw ar zu einem Gewissen der Welt, von
der sich die Gesellschaft voluntativ durch das Geheimnis a u ssp art96.
M it der Ablehnung der Politik etablieren sich die M aurer zugleich
als das bessere Gewissen der Politik. D ie Trennung von M oral und
Politik im plizierte ein moralisches V erdikt über die herrschende
Politik. Solange die Politik der absolutistischen Fürsten herrschte,
hüllte das Geheimnis die M aurer in den M antel ihrer moralischen
Unschuld und politischen Abwesenheit. M an denkt nur, k lärt auf,
verkörpert den Geist und ist Träger des Lichts. Vom Boden der
Logen aus wird bewußt neben die geltende politische O rdnung ein
völlig neues W ertesystem gestellt. D a aber die politische W irklich­
keit gerade als die N egation der moralischen Position betrachtet
wird, die innerhalb der Logen bereits verwirklicht wird — „la p ra-
tique de ce que Ton appelle communement L o y N aturelle fa it trois
quarts et demy du M ä^on “ 97 — , erweist sich die politische Abwesen­
heit im N am en der M oral als eine indirekte politische Anwesenheit.
Die, ohne es zu wissen, mit den M axim en M achiavellis gespeisten
Politiker, heißt es 1744, befürchteten das Schlimmste von den
Logen: ihr Geheimnis verberge eine Revolution. Dem sei keines­
wegs so, versicherten die von dem Pathos der Unschuld erfüllten
Maurer, sie lebten vielmehr nach dem Prinzip, das alle Revolution
erübrigt:
„La Religion et l’£tat n’auroient pas si souvent la proye des
Revolutions les plus sanglantes, si ceux qui les gouvernoient eussent
connu et pratique comme les Masons, cette vertu dont on leur
fait un crime.“ 98
D irekt haben die M aurer mit der Politik nichts zu tun, aber sie
leben nach einem Gesetz, das — wenn es herrscht — einen U m ­
sturz überflüssig macht. Einerseits sparen sie sich aus dem Staate
aus, entziehen sich der Herrschaft und bilden eine indirekte G ew alt,
die die Souveränität b e d ro h t", aber dies nur moralisch. A nderer­
seits hört ihre Tugend erst dann auf, ein „Verbrechen“ zu sein,
d. h. den S taat zu bedrohen, wenn sie selber und nicht der Souverän
bestimmt, w as Recht ist und was Unrecht. D ie M oral ist der prä-
sumptive Souverän. D irekt unpolitisch, ist der M aurer indirekt doch
politisch. D ie M oral bleibt zw ar gew altlos und friedlich, aber ge­
rade als solche stellt sie — durch ihre Polarisierung zur Politik —
den bestehenden S ta at in Frage.
A lle Logen waren auf Grund der Konstitution verpflichtet, A u f­
ständischen und Rebellen, wenn sie moralisch intangibel waren,
Schutz und Zuflucht zu gewähren 10°. D as nicht nur außerstaatliche,
sondern als solches schon antistaatliche A rbeitsfeld wurde mit dieser
Bestimmung abgesteckt.
D aß die politische Konsequenz der moralischen Innenarbeit, daß
die politisch entscheidende W endung von der inneren moralischen
Freiheit zu einer auch äußeren, politischen Freiheit verborgen blei­
ben sollte, ist nun eine weitere, die spezifisch politische Funktion des
arcanum. Auch sie w ar geplant.
D aß die politische Bedeutung dieser Wendung aber für das Gros
der Gesellschaft ebenfalls verborgen lag, w ar in der D ialektik zw i­
schen M oral und Politik begründet, die das Geheimnis provozierte.
D as politische Geheimnis der A ufklärun g sollte nicht nur nach
außen verhüllt werden, sondern verbarg sich — infolge ihres schein­
bar unpolitischen A nsatzes — den meisten A ufklärern selbst. —
Diese beiden Verdeckungen einzeln aufzudecken, ist die A ufgabe
des folgenden Abschnitts. D abei w ird sich zugleich ihre innere Z u­
sam mengehörigkeit erweisen.

IV

D ie politische Funktion, die das Maurergeheimnis gehabt hat, wird


deutlich bei Lessing, in seinen Gesprächen für Freim aurer zwischen
E rnst und F alk . Diese Schrift eröffnet einen völlig neuen H orizont.
N u r wenige gehörten zu der geistigen Elite der A ufklärung, die die
polemischen Funktionen ihres Begriffsinstrum entariums durch­
schaut und mitgedacht hat. Lessing zählte zu ihr wie kein anderer
in Deutschland. E r wußte mehr anzudeuten als andere und mehr
noch zu verschweigen. E r kannte das Politicum des Maurergeheim­
nisses, nicht weil er tiefer ein geweiht worden w äre: im Gegenteil,
er erreichte nur den dritten Jo h an n esgrad 101, er w ar tief enttäuscht
über die H arm losigkeit der deutschen M aurer, und diese Enttäu­
schung w ar sicherlich echt. Peinlich hat er die D ürftigkeit und A u f­
dringlichkeit vieler Logenbrüder em pfunden und die Zerrissenheit
der Systeme bedauert. A ber Lessing wußte mehr zu verschweigen
und auch anzudeuten, weil er politische Sym ptom e scharfsinnig er­
faßte, weil er sich gleichsam selber in die geheimen H intergänge ein­
geweiht hatte, die die A ufklärun g als eine politische Bewegung ge­
habt hat. E r kannte die D oppelbodigkeit aufklärerischer D enk­
formen und Verhaltensweisen, die in Deutschland noch wenig ent­
wickelt waren, weil er mit begrifflicher D istinktionsfreudigkeit102
ihre politisch-moralische Gegenläufigkeit zu Ende gedacht hat. D a ­
von zeugt seine Schrift über die Freimaurerei, die kennenzulernen
sich die führenden deutschen A ufklärer eifrig bemüht h atten 10#.
D ie M aurer breiten sich aus, sagt Lessing in seinem D ialog,
„durch T aten “ . Aber nicht durch philanthropische und pädagogische
Tätigkeit, die sie leisten, zeichnen sie sich vor den anderen Menschen
aus. Praktizierte M oral gehört zu ihrer E x o terik 104. „Ih re wahren
Taten sind ihr Geheim nis“ , stellt F alk , der Eingeweihte, fest. Ohne
auf das Geheimnis näher einzugehen, w ird zunächst das A rbeits­
feld dieser wahren Taten der M aurer umrissen. Sie haben „alles
Gute getan, w as noch in der Welt ist — merke wohl: in der
W e l t ! — , und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, w as
noch in der Welt werden w ird, merke wohl, in der W e l t ! “ 105 D ie
Welt, dieses Planungsfeld der Freim aurer, zeigt drei Grundübel,
„die die unauflöslichsten Ein w ürfe wider Vorsehung und Tugend
zu sein scheinen“ . Es ist dies erstens die A ufsplitterung der mensch­
lichen Welt in die verschiedensten Staaten, die sich durch „K lü fte“
und „Scheidemauern“ gegenseitig abgrenzen und durch ihre ver­
schiedenen Interessen immer wieder in „C ollision “ geraten. D as
zweite Grundübel sind die Schichtungen, die sich durch die stän­
dische Gliederung innerhalb der Staaten ergeben, und das dritte
schließlich ist die Trennung der Menschen durch die verschiedenen
Religionen. D am it liefert Lessing einen A ufriß der drei H a u p t­
angriffspunkte der kosmopolitischen Freim aurer: Staaten, Stände,
Kirchen; aber — und das ist das Entscheidende für den Gedanken­
gang Lessings, und er erweist sich dabei als ein politischer Denker —
die au f gezählten Übel, die sich aus der menschlichen Verschieden­
heit, ihren Grenzsetzungen und Trennungen ergeben, sind fü r
ihn keine Zufälligkeiten, die auch unterbleiben oder beseitigt
werden könnten, sondern sie gehören zur Struktur der ge­
schichtlichen R ealität. D ie menschliche Verschiedenheit ist ihren
historischen M anifestationen, den Staaten, Schichtungen und R eli­
gionen für Lessing ontologisch vorgeordnet. Nicht „bloße Menschen
gegen bloße Menschen“ , sondern „solche Menschen“ stehen gegen
„solche Menschen“ . E s gibt „Ü bel, ohne welche auch der glücklichste
Bürger nicht sein k ann “ , und vor allem der S ta at und seine H err­
schaftsstruktur gehören zu solchen Übeln, denen der Mensch nicht
entrinnt. E s liegt bereits im Wesen der bürgerlichen Gesellschaft
— „gan z ihrer Absicht entgegen“ , wie Lessing die hoffnungsfreu­
digen Pläne paraphrasiert, und nicht erst am Staate als solchem, daß
sie „die Menschen nicht vereinigen kann, ohne sie zu trennen, nicht
trennen“ , ohne Grenzen zu ziehen und Unterschiede festzulegen.
D as gleiche gilt für die Verfassungen innerhalb der Staaten: „U n ­
möglich können alle Glieder desselben unter sich das nämliche V er­
hältnis haben. — Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil
haben, so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens
nicht gleich unmittelbaren Anteil. E s w ird also vornehmere und
geringere Glieder geben.“ D ie gleichen Differenzen herrschen not­
wendig auch in Besitz und Eigentum. „N u n ja !“ schließt Lessing
diese Überlegungen, „die Menschen sind nur durch Trennung zu
vereinigen, nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu
erhalten. D as ist nun einmal so. D as kann nun nicht anders sein.“
D ie Unterschiede zwischen den Menschen, die Grenzen zwischen
den Staaten und deren P lu ralität sind für Lessing zw ar moralische
Ü bel, aber sie tragen nicht, wie für die naiv-utopistischen M aurer,
den C harakter unmoralischer W illkür, sondern sie sind m it der
N a tu r des Menschen gegeben. Lessing hat mit der D arstellung der
„unvermeidlichen Ü bel“ zugleich den Bereich der Politik umrissen.
D as Gespräch zwischen Ernst und F alk wendet sich d arau f den
wahren Taten der M aurer zu.
D ie Freim aurerei ist eine einzige gewaltige Gegenbewegung gegen
die „unverm eidlidien Ü b el“ , diesen Bereich, dem die staatliche
Politik entspringt und m it dem sie es zu tun hat. Gegen die grund­
sätzlich „nachteiligen D inge“ anzugehen — und nicht nur gegen
historisch bedingte M ängel, etwa einer bestimmten Staatsverfas­
sung — ist die eigentliche und wahre T ätigkeit der M aurer. Sie sind
die „Leute, die es freiw illig über sich genommen haben, den unver­
meidlichen Übeln des Staates entgegenzuarbeiten“ . D ie U nver-
m eidbarkeit der Staaten und sozialer Differenzen und dam it auch
der Politik, w ird von den eingeweihten M aurern anerkannt, aber
ihre Absicht richtet sich darau f, alle jene Übel, die mit der Politik
unentrinnbar gegeben sind, „nicht größer einreißen zu lassen, als
die N otw endigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich
zu machen, als möglich.“ D ie M aurer kreuzen also, wenn auch mit
moralischer Zielsetzung, zw angsläufig die Sphäre der staatlichen
Politik. M it der gleichen Notw endigkeit, wie die Übel der Politik
gegeben sind, gehen die M aurer gegen sie an. D am it hat Lessing die
historische A usgangssituation der bürgerlichen Geheimverbände in
ihre geschichtliche Bestimmung verwandelt. Wie die Gesellschaft
sich im Schutz der Staaten heranbildete, sich aber zugleich von
ihnen aussparte, um gegen sie Front zu beziehen, so gründen nach
Lessings „O ntologie“ die wahren Taten der M aurer in der U nzu­
länglichkeit der Welt, von der sich die M aurer dualistisch abspalten,
um ihr entgegenzuarbeiten. Diese Arbeit w ird politisch, auch und
gerade wenn die Zielsetzung nur moralisch ist.
D as Fernziel der M aurer besteht darin — Lessing deutet es nur
an — , die Staaten soweit wie möglich zu erübrigen. D as geheime
Gebot der M oral fordert das politisch Unmögliche zu versuchen.
D ie tugendhaft vollendete bürgerliche Gesellschaft, die sie als
Brüder bereits selber verkörpern, ist für sie der Endzweck der
N atur. Über die herrschende Staatenordnung stülpen sie gleichsam
das kosmopolitische System der moralischen Zwecke, und im H in ­
blick au f diese w ird der S ta at für die bürgerliche Gesellschaft zu
einem untergeordneten M ittel, zu einem M ittel „fü r die Menschen“ .
Es liegt in der Zielsetzung dieser Menschen beschlossen, daß die
(politischen) Übel, die es überhaupt erst möglich und erforderlich
machen, (moralisch) gute Taten zu leisten, überwunden werden.
„D ie wahren Taten der Freim aurer“ , die also ihr Geheimnis sin d 100,
„zielen dahin, um größtenteils alles, w as man gemeiniglich gute
Taten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen.“ D ie M aurer be­
käm pfen also nicht nur exoterisch die täglichen Übel, was zur A u f­
gabe jedes anständigen Menschen gehört, sondern als Esoteriker
erheben sie sich über die A lltagsfront von G ut und Böse zugleich.
Sow ie sie den Anlaß für gute Taten überhaupt, nämlich die Übel
der Politik, erübrigen, verliert auch das Gute seinen Sinn. D as Böse
schwindet, und folglich wird das Gute so selbstverständlich, daß es
sich aufhebt. Dies bleibt zw ar ein unendlicher Annäherungswert,
aber als solcher ist er utopisch. D am it hat Lessing das esoterische
Fernziel der tugendhaften A rbeit umrissen. D as arcanum ver­
pflichtet die M aurer, kraft einer ungehemmten Güte innerhalb der
Logen auch au f die Beseitigung aller Übel in der Außenwelt hinzu­
wirken. Aber das Geheimnis dieser esoterischen Stufe, das in seinem
Gehalt utopisch ist, ist seiner Funktion nach, nämlich als Geheim­
haltung, hochpolitisch. U nd gerade das ist es, was Lessing durch-
blicken läßt. D as moralische Fernziel, als solches scheinbar unver­
dächtig, muß früher oder später, jedenfalls zwangsläufig, zur W ur­
zel alles Übels vorstoßen, und das hieß, geschichtlich konkret ge­
sehen, mit der Sphäre der staatlichen Politik in K onflikt geraten. —
D ie kritische Scheidung zwischen M oral und Politik tritt also auch
bei Lessing auf, aber darüber hinaus macht er ihre D ialektik sicht­
bar: die moralische T ätigkeit der M aurer ist einerseits nur möglich
a u f G rund der „unvermeidlichen Übel des Staates“ , richtet sich
aber andererseits gegen diese. D as Wissen um diese D ialektik ist
das politische arcanum der M aurer. Daß es in der Konsequenz der
moralischen A rbeit lag, auch in den Raum des Politischen hinein
vorzustoßen, von dem sich die M aurer zunächst ausgespart hatten,
w ird durch die Geheimhaltung gerade verdeckt. Zu den Funktionen
des arcanum, die moralische A rbeit der M aurer zu schützen und zu
ermöglichen, tritt also die weitere Funktion, den indirekt p oliti­
schen C harakter dieser A rbeit zu verbergen, und sie gehört als diese
Funktion zum wahren G ehalt des arcanum selbst.
„D as Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die
Glückseligkeit des Staates“ , sagt F alk zu seinem Adepten. „Außer
dieser gibt es gar keine.“ E r faßte dam it in eudämonistischer Term i­
nologie die Totalitätsvorstellung zusammen, unter deren Sugge­
stion die M aurer standen, wenn sie dem S taat die runde Summe der
individuellen Glückseligkeit als seinen Endzweck vorschrieben.
„Je d e andere Glückseligkeit des S taates“ , fährt F alk fort, „bei
welcher auch noch so wenige einzelne Glieder leiden, und leiden
m ü s s e n , ist Bemäntelung der Tyrannei. Anderes nichts!“ W ird
der S taat durch politische M aximen der Staatsräson geleitet, kraft
derer die moralischen Gesetze, die auf die totale Vollkommenheit
des bürgerlichen Glücks abgestimmt sind, zwangsläufig außer K raft
treten, dann ist das eo ipso verschleierte Despotie. D er Gegensatz
zwischen den kosmopolitischen Gesetzen und den unvermeidlidien
Übeln des Staates treibt also auf einen radikalen D ualism us zu. A u f
der einen Seite steht die moralische T o talität der Gesellschaft und
au f der anderen Seite alles andere, was sich ihr nicht fügt: es ist die
„T yrann ei“ und sonst „nichts“ . „Ich möchte das nicht so laut
sagen“ , entgegnete Ernst. — „W arum nicht?“ — Ernst: „Eine
Wahrheit, die jeder nach seiner eigenen Lage beurteilt, kann leicht
mißbraucht werden.“ In der konkreten Anwendung der m ora­
lischen Totalitätsvorstellung au f die staatliche Wirklichkeit liefert
die W ahrheit der M oral einen Rechtstitel, der gefährlich wird,
sowie er in die falschen H ände gerät. O b zuungunsten des Staates
oder zuungunsten der Gesellschaft w ird von Lessing gar nicht er­
örtert, und es spielt auch keine Rolle. D ie Durchführung der m ora­
lischen Vorhaben weitet sich zwangsläufig auf die staatliche Politik
aus und macht aus der theoretisch von der Politik abgesonderten
M oral ein Politicum. D aß das Politicum der M oral besser ver­
schwiegen wird, ist die Erkenntnis von Ernst, die ihn bereits ini­
tiiert.
F alk : „W eißt du, Freund, daß du schon ein halber Freim aurer
bist?“ — „Ich?“ — „D u. Denn du erkennst schon Wahrheiten, die
man besser verschweigt.“ — „A ber doch sagen könnte“ , wendet Ernst
ein. „D er Weise k a n n nicht sagen, was er besser verschweigt.“
Lessing macht also keineswegs ein Geheimnis aus der inhalt­
lichen Zielsetzung, aus der moralischen Endabsicht der Maurer,
sondern das Geheimnis verbirgt nur die politische Konsequenz, die
sich aus den moralischen Plänen ergib t107. Lessing will in seinem
M aurer-Program m keineswegs unbeschwert die M oral zur Politik
erklären, sondern er hat in politischer Bewußtheit die Folgen vor
Augen, die eine moralische Tätigkeit in dem Bereich der Politik
hervorrufen muß. D ie tugendhafte Arbeit ist sich bei ihm der U n ­
möglichkeit bewußt, die Politik total zu absorbieren, um die Übel
der Staaten vollends auszümerzen. D a die menschlichen Tren­
nungen und Klüfte ontologische Gegebenheiten sind, kann man sie
nur „überbrücken“ , nicht aber beseitigen. Sie „völlig heben“ hieße
„den Staat mit ihnen zugleich vernichten“ . Dies bleibt für Lessing
— nicht etwa aus Patriotism us oder Staatsergebenheit, sondern auf
G rund seiner politischen Einsicht — eine unerfüllbare H offn u n g108.
Lessing umreißt also nicht nur die utopischen Endzwecke, wie dies
die populären Maurerschriften zu tun pflegen, sondern er zeigt zu­
gleich die Grenzen der moralischen Zielsetzung. Daß diese Grenzen
in der Durchführung der moralischen Planung zwangsläufig über­
schritten werden, ist das Wissen des Eingeweihten F alk ; daß die
M oral dabei zw angsläufig zu einem Politicum w ird und daß man
gerade dieses besser verschweigt, ist die Wahrheit, die Ernst er­
kennt. Er weiß dam it um ein Geheimnis der M aurer, das er „nicht
über die Lippen bringen kann, auch wenn es möglich wäre, daß er
es w ollte“ .
Lessing lieferte in dieser Schrift von 1778 „die wahre O ntologie
der Freim aurerei“ , wie er es selbst form ulierte und wie es heute
noch von den freimaurerischen H istorikern bestätigt w ird 109. Die
Gespräche beinhalten zw ar eine strenge K ritik an dem in Deutsch­
land herrschenden Tempelherrensystem, dafür aber kann man an
ihnen die Struktur der humanitären Planung ablesen, wie sie für
die englische und die französische M aurerei und in Deutschland
vor allem für die Uluminaten maßgeblich war. D as Geheimnis
im pliziert keine direkten U m sturzpläne, aber es verschleiert die
politische Konsequenz der moralischen P län e,.die sich gegen den
absolutistischen Staat richten. Daß der K a m p f gegen diese unver­
meidlichen Übel der Welt, die Staaten, sich unbemerkt, unsichtbar
und leise vollzieht, ist die A ufgabe nur „w ürdiger M änner“ , ist das
Geheimnis, die Esoterik der Freimaurerei.
Auch von seiner Schrift beeinflußt, aber weit hinter der poli­
tischen K lugheit Lessings zurückstehend, arbeiteten die Illumi-
naten. Sie waren von minderer politischer Bewußtheit, ver­
werteten aber die dam als zugänglichen Aufklärungsschriften, aus
denen sie sich einen populären E xtrak t zusammenbrauten. Euro­
päisch gesehen, was nämlich die aufgeklärten Gedanken betraf,
lebten .also die Illuminaten au f derselben vorrevolutionären Stufe
wie die Franzosen; regional gesehen, im H inblick auf die soziale
Situation in B a y e rn 110, standen sie weit hinter Frankreich oder
auch Preußen zurück. A us dieser D iskrepanz entstand eine U n ­
stimm igkeit, die einer gewissen Lächerlichkeit nicht entbehrt110*.
A u f dem beschränkten H intergrund w irkt die utopische Groß­
planung als bram arbasierende Wichtigtuerei. A ber gerade darin
w ird — gleichsam in der K arik atu r — das Schema des Jahrhunderts
sichtbar. D ie W endung vom Schutz zum A ngriff, von der Bildung
einer indirekten G ew alt zur indirekten Gewaltnahm e, die sich
hinter dem gleichen Geheimnis und immer unter der Berufung au f
den rein moralischen und unpolitischen C harakter der Gesellschaft
vollzog, w ird bei den Illum inaten vollends deutlich. — D er Orden
w urde 1776, im Jah re der amerikanischen U nabhängigkeitserklä-
rung, gegründet und stand seit dem Tage seiner Stiftung in einer
bewußten Frontstellung gegen den A bsolutism us und gegen die
„R eligionäre“ . E r w ar ein Sammelbecken für alle m it dem Regim e
K a rl Theodors in Bayern unzufriedenen B ü rger111 und galt den
M itgliedern zunächst als ein Schutzinstitut, oder wie sie sagten, als
„ein A ufenthalt des Friedens, eine Zuflucht der Unglücklichen, eine
Frey stad t gegen V erfolgun g“ 112. Durch das Geheimnis glaubten
sie einen R aum aus dem Staate auszusparen, in welchem „die p oli­
tischen Verhältnisse keine Änderung bewirken können“ . D ie A b ­
weisung der Politik sollte es ihnen ermöglichen, im Innern eine rein
moralische Herrschaftsordnung einzuführen118. „A lle K unstgriffe
der Bösen (werden) unw irksam gem acht. . . die Menschen bloß nach
ihrer ächten Güte, nach innerem Werth beurtheilt“ 114, und dieser
wiederum nur an der bloßen Gesinnung bemessen, „daß die V er­
stellung so unwirksam w ird “ . D er G ehalt der unteren G rade lag in
einer tugendhaften Selbstzucht, die die Brüder einzuüben hatten,
wozu nunmehr eine neue A rt der „V erstellung“ gehörte. D ie Be­
freiung aus der „V erstellung“ im Innern des O rdens w ar begleitet
von steter Schulung zur Verstellung nach außen. Diese w ar jetzt
m it umgekehrten Vorzeichen — zugunsten der guten Sache — zu
lernen115. D er G rad der moralischen Befreiung erweist sich an der
politischen K unst, sie zu verbergen. So wurden die G lieder der
säkularen Beichthierarchie unter Anleitung der Oberen zu „brauch­
baren M itarbeitern“ herangebildet, um für die höchsten Zwecke
reif zu w erden116.
M it Staats*- und Religionsfragen dagegen „müssen w ir bey A n­
fängern (noch) behutsam seyn“ , stellten die M atadore des O rdens
fest. E rst nach innerer Bewährung wurden den Teilnehmern m it der
zunehmenden Einweihung die wahren und eigentlichen Ziele des
O rdens offenbart. „U n d am Ende folgte die totale Einsicht in die
Politic und M axim en des Ordens. In dem oberen Conseil werden
die Projekte entworfen, wie den Feinden der Vernunft und Mensch­
lichkeit nach und nach a u f den Leib zu gehen sey“ 117.
A us der Stätte der Zuflucht w ird eine Z entrale des A ngriffs. D er
moralische Innenraum galt nicht nur als eine außer staatliche Ein­
richtung, sondern hatte von vornherein einen politischen A kzent.
Gegen die M ysterien der Abergläubischen und die A rcan a der P o­
litik stand das Geheimnis der Illum inaten. „W arum geheime Ge­
sellschaften?“ frag t Bode, ihr V orkäm pfer im norddeutschen R aum ,
„die A ntw ort ist leicht, weil es Thorheit wäre, m it offenen K arten
zu spielen, wenn der Gegner sein Spiel deckt.“ 118 D ie D ifferenz
zwischen Staat und Gesellschaft verschärft sich zu einer bewußten
und klaren K am pfstellung. D er Illum inatenorden trachtete nicht
mehr, wie die meisten Logen bisher, m it U nterstützung der Fürsten
a u f exoterischem Wege Einfluß zu gewinnen, sondern ohne und
gegen sie119 die alleinige Herrschaft in die H an d zu bekom m en12*.
D er oberste G rad offenbarte *d a s größte aller Geheimnisse, das so
viele sehnlich gewünscht, so oft fruchtlos gesucht haben, (die) K unst,
Menschen zu regieren, zum Guten zu leiten . . . und dann alles aus­
zuführen, w as den Menschen bishero Traum , und nur den A ufge­
klärtesten möglich erschien“ 121. H inter dem Geheimnis form ierte
sich nicht nur eine vom Staate unabhängige G ew alt, sondern zu­
gleich plante diese — das w ar das arcanum der oberen G rad e —
das moralische Herrschaftssystem, das innerhalb des O rdens bereits
verwirklicht wurde, auch nach außen auszudehnen122.
Erziehung, Schulung, P ropagan da und A ufklärun g allein seien
unzureichende M ittel, um den moralischen Endzweck zu erreichen.
Vielmehr bedürfte es, „um das G ute wieder über das Böse siegen zu
machen“ 123, der politischen A ktion. „N icht W orte, Thaten werden
hier verlangt.“ 124 In dem Führungsgrem ium der „R egenten“ wurde
der „O peration splan “ entworfen, nach dem die Herrschaft des
Bösen zu bekäm pfen sei. D as politische A ktionsprogram m bestand
in der indirekten, stillschweigenden O kkupation des Staates. M an
suchte „die fürstlichen D ikasterien und Räthe nach und nach m it
den eifrigen O rdensm itgliedern“ zu besetzen, d. h. den S ta at von
innen her zu absorbieren. A u f diesem Wege würden die Illuminaten
„noch mehr“ leisten, wie sie sagten, „als wenn der Fürst selber vom
O rden w äre“ 125. H a t der Orden einmal alle Schlüsselpositionen
besetzt — in Bayern hielten sie sechshundert M itglieder dafü r hin­
reichend12* — , dann hat er „die gehörige Stärke erh alte n ... und
kann in einem Orte, wenn er will, denen, so nicht folgen, fürchter­
lich gefährlich werden“ 127. D er S taat w ird von dem moralischen
Innenraum her gesteuert, und dam it ist die Herrschaft der Freiheit
gesichert. D er O rden hat dann „von der Regierung nichts mehr zu
fürchten, sondern solche ist vielmehr in seinen H änden “ .
D ie Phase, in der die geheime Gesellschaft nicht nur potentiell,
sondern de facto als Gegner des absolutistischen Staates au f tritt
— die Decknamen der Illuminaten hießen „nom s de guerre“ 128 — ,
ist erreicht. Unmerklich haben sich dabei Gewicht und Bedeutung
des arcanum in das rein Politische verlagert. D ie Funktion des
Schutzes ist schon völlig identisch m it der rein politischen Funktion,
den A ngriff, die indirekte O kkupation des Staates zu tarnen.
A ber auch in dieser Phase wird die Trennung von M oral und
Politik, die im Rahm en des absolutistischen Staates einmal vorge­
sehen w a r 12#, keineswegs aufgegeben. Vielmehr w ird trotz der ein­
w andfrei politischen Funktion des arcanum die dam it hyposta-
sierte Trennung beider Bereiche bewußt übernommen und ver­
schärft. Auch wenn man von der etw as lächerlichen und aufgebla­
senen A rt des Freiherrn von K n igge absieht, der dem O rden das
künftige W eltkommando zusprach180, und ebenso von der schüch­
ternen Unbescheidenheit, mit der A dam W eishaupt als der „S p arta-
cus“ der N euzeit au ftrat — der moralische Dualism us erweist sich
als eine situationsgebundene, spezifische A ntw ort au f den abso­
lutistischen Staat, als die der indirekten A ktion zugeordnete D enk­
form , um eine stillschweigende Inbesitznahm e dieses Staates zu
ermöglichen und zu legitimieren.
D ie Bedingung dafür, eipe Gewaltnahm e nur indirekt anzu­
steuern, lag zunächst in der schwachen A usgangsposition der neuen
Gesellschaft. D ie über M itteleuropa verzweigten Illum inaten oder
Perfektibilisten, wie sie sich zunächst nannten, hegten zw ar be­
geisterte Wünsche au f eine allgemein herbeizuführende Glückselig­
keit und M oralität, und sie propagierten diese Ziele auch eifrigst,
aber ihre tatsächliche Macht, diese Zielsetzung zu verwirklichen,
w ar im Gegensatz zur M achtkonzentration in den H änden der
absolutistischen Fürsten verschwindend gering. „A us Nichts etwas
zu machen“ , form uliert daher tiefsinnig W eishaupt131, „ist das
Meisterstück der mit der M oral vereinigten P olitik .“ D as größte
H indernis für die Realisierung der M oral, das die Gesellschaft
zwang, sich überhaupt im Geheimen zu konstituieren: die abso­
lutistische Herrschaft konnte nicht direkt beseitigt werden. Nicht
K raft solle gegen K raft gestellt, nicht G ew alt mit G ew alt vertrieben
werden, vielmehr sei, wie die Illuminaten versicherten, jede gew alt­
same R eform verw erflich132. D ie Ebene einer offenen politischen
Auseinandersetzung w ird aber nicht nur in der T at, sondern ebenso
— trotz der aktivistischen Planung — in Gedanken vermieden. D ie
ursprüngliche A ntw ort au f den absolutistischen S taat entwickelte
sich zw anglos zu einer D enkform , die weiterhin unpolitisch bleibt.
In der konkreten Situation, im U rsprung und in der Absicht anti­
staatlich, verharren die Illuminaten in einer apolitischen H altung.
A ber gerade darin ist gedanklich die indirekte Gewaltnahm e be­
gründet, die eine unpolitische Position zur V oraussetzung hat. Die
tatsächliche Ohnmacht, die Bedingung und Voraussetzung der
Ordensgründung ist, steht im Bunde mit der moralischen Unschuld
und der reinen Erkenntnis, die nur innerhalb des Ordens gewonnen
werden können133. So erkennen die Brüder, innerlich von jeder G e­
w alt ungetrübt, „die höchsten und allgemeinsten Zwecke“ der
Menschheit, und sind „daher auch im Stande, die Gränzen und Be­
griffe von Recht und Unrecht am genauesten zu bestimmen“ 134.
A us der politischen Unterlegenheit w ird nicht nur au f größere
Einsicht und moralische Überlegenheit geschlossen, sondern diese
werden unbesehen auch für die staatliche Legislation in Anspruch
genommen. Einm al außerstaatlich, glauben die Illum inaten auch
überstaatlich sein zu können. Dieser Sprung liegt, wie bei allen
M aurern, die quer durch die bestehenden Staaten über den ver­
schiedenen Regierungen eine neue Herrschaftsinstanz errichten w oll­
ten, in der Trennung von M oral und Politik beschlossen. Diese
Trennung ermöglichte eine Inversionslogik, die aus der tiefsten
Machtlosigkeit au f das Höchste schließt. N u r au f dem U m w eg über
die A ufspaltun g von M oral und Politik beziehen die M aurer die
moralische Q ualifikation, als politische Instanzen-Instanz zu fun­
gieren. In der moralischen Unschuld liegt paradoxerw eise ihr poli­
tischer Legitimitätsanspruch. D aher w ird die situationsgebundene
V oraussetzung der indirekten A ktion, ihr „unpolitischer“ C h arak ­
ter, auch in die tatsächliche A ktion übernommen.
Scheinbar ohne den S ta at zu tangieren, sagen die Illum inaten
in ihrer unbekümmerten N aiv ität, „entziehen (sie) den Arbeiten
des Staates und der Kirche die fähigsten K ö p fe und Arbeiter, und
. . . untergraben eben dadurch den Staat, wenn sie es gleich nicht zum
Zweck haben“ 1S5. D ie nur moralische Zielsetzung lieferte über die
L egitim ität hinaus zweitens die G arantie, daß die notwendige
A ktion ' auch in aller Unschuld vollzogen wird. D ie moralischen
Planer haben den Sturz des Staates gar nicht zum „Zw eck“ . —
A ber dennoch stürzt der Staat. D am it ist drittens auch der poli­
tische E rfo lg selber nur akziden tell18#.
D as moralische Selbstverständnis, das heißt die A bstraktion von
dem Politicum ihrer indirekten Gewaltnahm e, reicht bei den Illu­
minaten so weit, daß sie nicht nur den S taat hic et nunc, sondern
den Sta at überhaupt beseitigen zu können glauben. Es liegt in der
K onsequenz ihrer unpolitischen Legitim ität, daß die M oral zu der
„K u n st“ wird, „welche die Menschen lehrt, die Fürsten und Staaten
entbehrlich zu machen“ 187. D am it werden nicht nur die politischen
P län e verborgen, sondern auch die politischen Pläne selbst bleiben
a ls p o l i t i s c h e Pläne verdeckt. Diese Verdeckung erweist sich als
die geschichtliche Im plikation des K am pfes gegen den souveränen
absolutistischen Staat. Aus der ursprünglichen Tarnung wurde im
Rahm en des dualistischen Selbst Verständnisses eine Verdeckung des
Politischen für die Agenten selbst.
D ie Entscheidung, die zwischen den Herrschaftsansprüchen der
neuen Gesellschaft und der tatsächlichen Herrschaft des Staates
fallen mußte und mit dem Pathos eines K am pfes zwischen G ut und
Böse beschworen wurde, bleibt also als politische Entscheidung in
einem doppelten Sinne verborgen. Einm al durch das Geheimnis, das
als ein solches dem Sta at entgeht. Zwischen der politischen Ohn­
macht der neuen Gesellschaft und der von ihr angestrebten H err­
schaft arbeitet das Geheimnis. D as Geheimnis verdeckt die poli­
tische Kehrseite der A ufklärung, zu deren entschiedensten Vertre­
tern die Illum inaten in Deutschland zählen. Zweitens verbirgt sich
die politische Entscheidungsfrage auch der Gesellschaft: durdi ihre
Trennung von M oral und Politik. D ie innere und anfängliche V or­
aussetzung für eine antistaatliche Arbeit, die moralische D istan ­
zierung von der Politik, verw andelt sich in die scheinbar unpoli­
tische G rundlage für den K a m p f gegen den Absolutismus.
D ie Wendung in das Politische, die im Rahmen des moralischen
D ualism us zugleich keine ist, birgt also in sich eine spezifische
D ialektik. D ie Verdeckung der politischen A ktion gegen den S ta at
ist identisch mit der steten polemischen Verschärfung der A nti-
thetik zwischen S taat und Gesellschaft. D er Gegensatz w ird m ora­
lisch verschärft, aber politisch verdeckt. Diese D ialektik gehört zur
D ialektik der K rise. Sie w ar seit Beginn der Auseinandersetzung
zwischen S taat und Gesellschaft in den moralischen Antithesen an­
gelegt: der kritische Prozeß hat sie forciert und die indirekte Ge-
waltnahm e vorangetrieben. In ihrem Zeichen wurde der absolu­
tistische Sta at zerstört.
D ie anwachsende Bedeutung der neuen Elite erheischt eine neue
politische Form . A u f beiden Ebenen, im Regne de la C ritique und
in den Logen käm pfen die Bürger m it indirekt politischen M e­
thoden, um einen neuen Zustand herbeizuführen.
D ie aufstrebende Gesellschaft verwickelt den herrschenden S ta at
in einen dualistischen Prozeß, indem sie sich von ihm distanziert,
ihn scheinbar neutral kritisiert, als moralischer Richter verurteilt
und als geheimer Exekutor zugleich das U rteil zu vollstrecken sucht.
D er Prozeß treibt auf eine jähe Entscheidung zu. „N och immer“ ,
ruft W ieland aus, als er über das „Geheimnis des Kosm opoliten-
O rdens“ schrieb, „noch immer liegt der größere und schönere Teil
von E uropa unter einem die edelsten K räfte der Menschheit erstik-
kenden D rucke. . . noch gibt es Staaten, wo nicht die allgemeine V er­
nunft, sondern der sehr oft blödsichtige V erstand und der schwan­
kende Wille eines Einzigen . . . die Quelle der Gesetze ist.“ D ie
politische Entscheidung zwischen S taat und Gesellschaft ist unent­
rinnbar, aber noch nicht gefallen. D ie Spannung verschärft sich zur
K rise.
„Was zu diesem Ende im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts
schon geschehen, ist bekannt: was im Werden ist, wird vielleicht
noch vor Verfluß desselben entschieden und von den wichtigsten
Folgen sein; und man kann sich darauf verlassen, daß die Kosmo­
politen bei allem diesem keine müßigen Zuschauer abgeben.“ 188
D ie scheinbare Unparteilichkeit der Kosm opoliten, sagt W ieland,
würde sich schlagartig, sobald es darum geht, der „guten Sache“ zu
helfen und durch diese H ilfe „wirklich den Ausschlag“ zu geben189,
in eine entschiedene und offene Parteinahme verwandeln, um die
moralisch erstrebte Entscheidung auch politisch herbeizuführen.
W ielands V orausage steht bereits unter dem Eindruck der fran ­
zösischen Ereignisse von 1787, der Notabelnversam m lung und der
bevorstehenden Einberufung der Generalstände. Aber zugleich
nahm er mit seiner Schrift Stellung in der großen Auseinander­
setzung, die mit der A uflösung des Illuminatenordens 1784 in ganz
Deutschland entfesselt wurde. Beide Ereignisse, das politische in
Frankreich und das publizistische in Deutschland, sind bereits akute
Sym ptom e der tatsächlichen Krise, der politischen Krise, die das
achtzehnte Jahrhundert beschließt, ohne freilich selber deshalb
schon beendet zu sein.

D ie Stadien der indirekten Gewaltnahm e, die anhand der Logen­


schriften verfolgt wurden, zeichnen sich ganz analog innerhalb der
Gelehrtenrepublik ab. Was auf dem Boden der Logen für die
bürgerliche Elite die Etappen ihrer sozialen Integration waren, sind
in der Republique des lettres die Aktionen einer Prozeßführung, die
sich zunehmend gegen den Staat richtet. Diese Prozeßführung, die
stets neue Schuldfragen aufw irft und zu klären scheint, ist jetzt
zu verfolgen. Wiederum w ird der Weg vom Selbstschutz zum
Herrschaftsanspruch deutlich werden und dabei die geschichtliche
Bedeutung der Trennung von Innen und Außen erneut beleuchtet.
Erwies sich bisher die Grenzziehung zwischen M oral und Politik als
die Voraussetzung und als der Ausdruck einer indirekten G ew alt­
nahme, so wird sich jetzt zeigen, daß in eben dieser Grenzziehung
die überlegene, scheinbar unpolitische K ritik gründet. Wie sich die
M aurer kraft des Geheimnisses vom S taat absetzen, zunächst, um
sich seinem Einfluß zu entziehen, dann aber, um gerade auf Grund
dieses Entzuges den S taat scheinbar unpolitisch zu okkupieren, so
spart sich die K ritik zunächst aus dem Staate aus, um dann gerade
auf Grund dieser A ussparung sich scheinbar neutral auf den Staat
auszuweiten und ihn ihrem Richterspruch zu unterwerfen. Die
K ritik , w ird sich zeigen, erliegt dem Schein ihrer N eu tralität; sie
w ird zur H ypokrisie.
„D ie Gerichtsbarkeit der Bühne fän gt an, wo das Gebiet der
weltlichen Gesetze sich endigt.“ 140 D iese Feststellung tra f Friedrich
Schiller, als er in einer Rede vor der kurpfälzischen deutschen G e­
sellschaft zu M annheim im Som mer 1784 die Frage au f w arf, w as
eine gute stehende Schaubühne, als moralische A nstalt betrachtet,
eigentlich bewirken k a n n 141. Them a und Fragestellung des V or­
trages stehen im Zuge der Kunst- und Theaterkritik, wie sie im
achtzehnten Jahrhundert getrieben wurde, von Popes „E ssay on
C riticism “ angefangen, über D iderot, der Part pour la m orale p o­
stulierte, bis zu Lessings „H am burgischer D ram aturgie“ .
Auch die A ntw ort, die Schiller gefunden hat — bei der er
freilich nicht stehenblieb — , reiht sich w ürdig den Vorgängern
an. Ihr bündiger Schluß besteht darin, daß die Bühne bei den
verschiedenen Menschen P latz zu schaffen habe für e i n e Em p­
findung, „ein M e n s c h zu sein“ 142. D ie Einfachheit und Ein­
deutigkeit dieser An w ort, die uns noch beschäftigen w ird, be­
ruht au f einer ebenso einfachen wie eindeutigen Antithese, die die
herrschenden Gesetze der neuen, bühnenhaften und im N am en der
menschlichen Em pfindung handelnden Gerichtsbarkeit gegenüber­
stellt. Schiller zieht eine begriffliche Linie, die die beiden Gebiete
sorgsam und in einer Weise trennt, daß das Ende der weltlichen G e­
setze dem Beginn der neuen Rechtsprechung gleichkommt. „T ausend
Laster, die jene (die weltliche Gerichtsbarkeit) ungestraft duldet,
straft sie; tausend Tugenden, w ovon jene schweigt, werden von der
Bühne em pfohlen.“ 143 H ier w ird eine gegenseitige Ausschließlich­
keit festgestellt: das J a au f der einen bedeutet ein N ein au f der
anderen Seite und umgekehrt. U n d zugleich fordert der augenblick­
liche Gegensatz den verheißungsvollen Schluß heraus, daß das
gegenwärtig und räumlich Gemeinte — die Grenze zwischen Bühne
und Staat — auch zeitlich gedacht werden soll: als A blösung der
alten Gerichtsbarkeit durch eine neue, gerechtere Rechtsprechung.
M it diesem gedanklichen D ualism us verbleibt Schiller ebenfalls
in dem von seinen V orgängern gespannten Rahmen. D as direkte
V orbild findet sich bei Lessing, der sich dagegen wehrte, die Laster
a u f der Bühne zu heroisieren und der bei der Eröffnung des H am ­
burger Theaters fragt:
„Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann,
Der schlaue Bösewicht, der blutige Tyrann,
Wenn der die Unschuld drückt, wer wagt es, sie zu decken?
Wer? Sie, die itzt den Dolch, die Geissel trägt,
Die unerschrockene Kunst. . 144

Wendungen wie diese beschränken sich offenbar nicht au f die


Theaterwelt, sowenig sie Ausdruck ästhetischer Überlegungen sind,
vielmehr tritt die K unst als Antipode der bestehenden Herrschaft
auf. Sie ist ein Sym ptom der geistigen Struktur des achtzehnten
Jahrhunderts, die die ganze Welt zur Bühne polarer K räfte machte.
D ie Serie von Begriffen und Gegenbegriffen, die die Literatur
der A ufklärer und ihrer Gegner prägt, wie Vernunft und O ffen­
barung, Freiheit und Despotie, N atu r und Zivilisation, H andel und
K rieg, M oral und Politik, D ekadenz und Fortschritt, Licht und
Finsternis läßt sich beliebig verlängern, ohne daß die gesetzten Be­
griffe jem als den C harakter verlieren, ihre Gegenbegriffe zugleich
mitzusetzen und auszuschließen.
So steht auch für Schiller die Gerichtsbarkeit der Bühne mit den
weltlichen Gesetzen in einem wechselseitigen Zusammenhang. „Eben
diese Unzulänglichkeit, diese schwankende Eigenschaft der p oliti­
schen Gesetze“ , sagt er, „bestim m t den sittlichen Einfluß der
Bühne.“ 145 D ie moralische Rechtsprechung wird also durch die
mangelhaften politischen Gesetze hervorgerufen, ihr Urteilsspruch
w ird durch die Politik provoziert, wie andererseits die U nzuläng­
lichkeit der politischen Gesetze erst au f der Bühne in aller Deutlich­
keit sichtbar wird. „H ier nur hören die Großen der W elt“ das, was
sie in ihrer Eigenschaft als Politiker „nie oder selten hören — W ahr­
heit; w as sie nie oder selten sehen, sehen sie hier — den Men­
schen.“ 146 D ie moralische Gerichtsbarkeit zeigt ihnen, w as ihre G e­
setze wirklich sind: sie „drehen sich nur um verneinende Pflich­
ten . . . sind glatt und geschmeidig, w andelbar wie Laune und Lei­
denschaft“ 147. So w ird in unserem Beispiel der Begriff der weltlichen
Gesetze aus der M oral gewonnen, wie die M oral via negationis
durch die von ihr interpretierte Politik „bestim m t“ wird. Es treten
sich nicht nur gegenüber ein moralisches Recht und ein politisches
Recht, sondern das politische Gesetz ist zugleich unmoralisch wie
das moralische Gesetz zugleich politisch „m achtlos“ ist und als sol­
ches mit der herrschenden Politik nichts zu tun hat. D ie Gerichts­
barkeit der weltlichen Gesetze herrscht für Schiller tatsächlich, aber
zu unrecht, während die Gerichtsbarkeit der Bühne zw ar nicht
herrscht, aber recht hat.
D ie Bühne ist für Schiller also einmal die Stätte moralischer
Gerichtsbarkeit, au f der in majestätischer H oheit „die W ahrheit un­
bestechlich wie Rhadam anthus Gericht h ält“ 148, aber zugleich steht
die moralische Gerichtsbarkeit in einer dialektischen Spannung, die
sich aus der A ufspaltun g der W irklichkeit in einen Bereich der M o­
ral und einen Bereich der Politik ergibt. Beide Phänomene: die
moralische Bühne und ihr dialektisches Verhältnis zu den herr­
schenden Gesetzen zeigen gemeinsam den gleichen, und zw ar ge­
schichtlichen Sachverhalt: die politische K ritik .
D ie moralische Schaubühne zeigt ein erhabenes, in Schönheit und
Schrecken aufgespaltenes W eltbild, um die herrschende Politik ihrer
K ritik zu unterwerfen. D ie Bühne w ird zum Gericht. Ihr Richt­
spruch teilt die W elt in zwei H älften, indem sie die herrschenden
Dualism en des Jahrhunderts: „L aster und Tugend, Glückseligkeit
und Elend, Torheit und Weisheit in tausend Gemälden faßlich und
w ahr an den Menschen vorübergehen läß t.“ So scheidet sie, was
recht ist und w as unrecht, und im V ollzug dieser Trennung erliegen
die „M ächtigen“ und die „O brigk eit“ , deren „Gerechtigkeit für
G o ld erblindet und im Solde der Laster schwelgt“ , auf der Bühne
ihrem gerechteren Urteil. Im Augenblick, als die dualistisch abge­
sonderte herrschende Politik dem moralischen Richtspruch unter­
w orfen wird, verw andelt sich das moralische U rteil in ein Politi-
cum: in politische K ritik . D as dualistische Schaubild au f der Bühne
ist, moralisch gesehen, zw ar nur ein U rteil, faktisch gesehen aber
eine K ritik am Staat, der sich dem Urteilsspruch entzieht, ge­
schweige denn, daß er ihn ausführt. D as dualistische W eltbild steht
somit im Dienst und ist Funktion der politischen K ritik.
Andererseits aber ist die Scheidung der geschichtlichen W irklich­
keit in ein Reich der M oral und ein Reich der Politik, wie sie der
Absolutism us akzeptiert hatte, zugleich die V oraussetzung für die
K ritik . D ie moralische U rteilsfähigkeit der Bühne ist nur gesichert,
wenn sie sich dem A rm des weltlichen Gesetzes entziehen kann. In­
dem für Schiller die Politik gleichsam an der R am pe der moralischen
Bühne „sich endigt“ , gewinnt die Schaubühne die erforderliche Frei­
heit von den weltlichen Gesetzen, um zu dem „gemeinschaftlichen
K a n a l“ werden zu können, „in welchem von dem denkenden, bes­
seren Teil des Volkes das Licht herunterström t“ 149. D as Licht ver­
breitet sich dann in eben dem Staate, von dem sich die Bühne aus­
gespart hatte, um ihn im gleichen V ollzug einer K ritik zu unter­
werfen. D ie moralische K un st und der herrschende S taat werden
einander gegenübergestellt, um die Bühne unbehindert selber eine
Rolle spielen zu lassen, nämlich die der politischen K ritik. In E r­
mangelung eigener gesetzlicher Herrschaft ergreift die K unst „Dolch
und Geißel“ oder, mit Schiller zu reden, „Schwert und W aage“ , und
zw ingt au f dem vom Staate ausgesparten R aum der moralischen
Schaubühne die Laster der Politik „vor ihren schrecklichen Richter­
stuhl“ 15°. Eine eigene Gerichtsbarkeit der Bühne w ar nur denkbar,
wenn sie außerhalb der bestehenden Gesetze gehandhabt wurde,
und das hieß, solange sie nicht effektiv w ar, eine K ritik des be­
stehenden Staates einschloß.
D ie politische K ritik liegt also nicht nur in dem moralischen
Urteilsspruch als solchem, sondern sie liegtschon in der vollzogenen
Trennung einer moralischen von einer politischen Instanz: das
moralische Gericht w ird zur politischen K ritik , nicht nur indem es
die Politik seinem strengen U rteil unterwirft, sondern gerade auch
umgekehrt, indem es sich als U rteilsinstanz aus dem Bereich des
Politischen ausspart. In diesem Entzug liegt bereits die K ritik am
Staat beschlossen. Indem die Bühne als eigene Gerichtsbarkeit sidi
konsolidierte und den weltlichen Gesetzen sich gegenüberstellte,
übte sie ursprünglicher ihre K ritik am S taat und schärfer als durch
die einzelnen Urteile, die sie verkündete. D er D ualism us von Politik
und M oral, der in der Feststellung von Schiller sichtbar wurde, steht
also im Dienst einer politischen K ritik , ist aber zugleich die V or­
aussetzung dieser K ritik . D ie politische K ritik beruht au f dieser
Scheidung und vollzieht sie zugleich.
D am it ist ein echt geschichtlicher — in sich dialektischer — T a t­
bestand erfaßt, in dem die politische Bedeutung der K ritik gründet,
die dem achtzehnten Jahrhundert ihren N am en verliehen h a t 151.
D ie dualistische A ufspaltung der Welt in einen Bereich der M oral
und einen Bereich der Politik ist in ihrer Geschichtlichkeit V oraus­
setzung und Folge der politischen K ritik . D ie K ritik tritt also nicht
nur da auf, wo sie explizit zum Ausdruck gebracht wird, sondern
sie liegt bereits dem dualistischen W eltbild zugrunde, das diese
Z eit geprägt hat. D ie gegenseitige Polarisierung aller Begriffe, in
denen das Jahrhundert gedacht hat, gewinnt Sinn und inneren Z u­
sammenhang durch die allen Dualism en innewohnende kritische
Funktion. Wie umgekehrt die politische K ritik nur gründen konnte
in einer geschichtlichen Wirklichkeit, in der M oral und Politik tat­
sächlich auseinanderfielen. D er Absolutism us, der bewußt eine Tren­
nung dieser beiden Bereiche vollzogen hatte, rief eine K ritik hervor,
die nur einen zuvor schon akzeptierten Tatbestand polemisch au f­
zuladen brauchte, um die dem A bsolutism us gemäße A ntw ort zu
finden.
Schillers A ntw ort steht bereits am Ende eines langen kritischen
Prozesses, den die Intelligenz der neu her au f kommenden Gesell­
schaft gegen den S ta at angestrengt hatte. D as Ende des Prozesses
zeichnet sich bei Schiller bereits ab. D ie Bühne ist für Schiller eine
gesellschaftliche Institution, um jene „m erkw ürdige K lasse von
Menschen“ 1M, die Politiker, ihrem U rteil zu unterwerfen. „M it die­
sen Lasterhaften, diesen Toren müssen wir leben“ , ruft Schiller aus.
A ber mit ihrer Entlarvung allein sei es nicht getan. D ie kritischen
U rteile fordern vielmehr zur A ktion heraus: „W ir müssen ihnen
ausweichen oder begegnen, wir müssen sie untergraben oder ihnen
unterliegen.“ 158 Herrscht weiterhin der absolutistische Staat? O der
siegt die neue Gesellschaft? Diese Frage w ird hier beschworen. D as
indirekte Verhalten allein reicht nicht mehr hin. D er kritische P ro­
zeß steht vor seinem Ende, eine Entscheidung ist unentrinnbar, aber
noch nicht gefallen: die K rise w ird m anifest. In der K ritik liegt die
K rise verborgen. U m dieses Verhältnis näher zu untersuchen, be­
d a rf es zuvor einer A nalyse des kritischen Prozesses selbst.
Es liegt schon in dem Begriff der K ritik, daß durch die K ritik
eine Scheidung vollzogen wird. D ie K ritik ist eine K un st des U r­
teils, ihre T ätigkeit besteht darin, einen vorgegebenen Sachverhalt
au f seine Echtheit oder Wahrheit, seine Richtigkeit oder Schönheit
hin zu befragen, um aus der gewonnenen Erkenntnis heraus ein U r­
teil zu fällen, das sich nach Ausweis des Wortgebrauchs auch au f
Personen erstrecken k a n n 164. Im Zuge der K ritik scheidet sich also
das Echte vom Unechten, das W ahre vom Falschen, das Schöne vom
Häßlichen, das Rechte vom Unrechten. D ie „K ritik “ 155 steht als die
K un st des Urteilens und der dam it verbundenen Scheidung offen­
sichtlich schon au f G rund dieser ihrer allgemeinen Bedeutung, die
sie auch im achtzehnten Jahrhundert gehabt hat, in einem ursprüng­
lichen Zusammenhang m it dem dam als herrschenden dualistischen
W eltbild. Dieser Zusammenhang ist an einigen Zeugnissen der K ri­
tik selber aufzuzeigen. D abei gilt es, um die dem achtzehnten Ja h r­
hundert eigentümliche politische Bedeutung der K ritik zu verstehen,
zunächst die H erausbildung der kritischen Instanz in ihrem gegen­
sätzlichen Verhältnis zum S taat aufzuzeigen, um dann die schritt­
weise En tfaltung und den zunehmenden Anspruch der kritischen
Instanz au f diesen S taat zu verfolgen. D am it ergibt sich zugleich
eine zeitliche Einstufung.
D ie W ortgruppe, die sich an den Begriff der K ritik anschließt,
wurde in England und Frankreich um 1600 herum aus dem Latei­
nischen in die N ation al sprachen übernomm en15#. D er Ausdruck der
„critique“ und des „criticism “ (und „criticks“ ) hat sich im L au fe des
siebzehnten Jahrhunderts eingebürgert, und man verstand unter
ihm die K unst einer sachgerechten Beurteilung, die sich besonders
au f die antiken Texte, aber auch au f die Literatur- und Kunstwerke,
sowie au f Volk und Menschen bezog. D as W ort wurde zunächst
von den Hum anisten verw andt; U rteilsfähigkeit und gelehrte B il­
dung waren ihm zugeordnet, und als man die philologische Methode
au f die Heiligen Schriften ausweitete, nannte man auch dieses Ver­
fahren „K ritik ". M an w ar noch kritisch und christlich zugleich und
setzte sich ab gegen ungläubige critici durch deren Bezeichnung als
„criticaster“ 157.
D ie K ritik stand noch im Dienst der religiösen Parteien. A ls
Richard Simon 1678 seine „H istoire Critique du Vieux Testam ent“
herausgab, verw andte er ganz bewußt das bisher nur unter den
„personnes sjav an tes" gebräuchliche W ort der „critique“ , um seine
Methode zu kennzeichnen, mit der er die Bibel untersuchte158. W ort
und Methode übernahm er von C appelle, der 1650 in seiner „critica
sacra . . . “ 159 U rtext und Übersetzungen des Alten Testam ents phi­
lologisch miteinander verglich, und Simon meinte dazu, daß sich
C appelle als C alvin ist gar nicht über die unentrinnbaren K onse­
quenzen klar gewesen sei, die aus der neuen M ethode folgten: näm ­
lich die A uflösung des protestantischen Prinzips der Schriftgläubig­
keit. G erade um dieses Fundam ent des Protestantism us anzugreifen,
zeigte Simon mit der kritischen M ethode die Zufälligkeiten und
Überlagerungen in der Entstehung des Alten Testaments auf, um
au f diesem Wege die N otw endigkeit einer kirchlichen Tradition zu
beweisen. Simon berief sich dabei au f die „veritables L o ix de la
C ritique“ , die die Theologen ganz unbegreiflich so sehr mißachte­
ten, die aber den großen Vorteil hätten, „claires et evidentes“ zu
sein. D ie Regeln der K ritik seien unabhängig vom Glauben, so
argumentiert er mit Spinoza, also müßten sich auch die Protestanten
ihnen unterw erfen180. D am it stellte Simon die neue K unst der K ri­
tik zw ar in den Dienst seiner Kirche, aber faktisch verlegte er das
K riterium der W ahrheit aus der O ffenbarung in das klare und ver­
nünftige, und das hieß für ihn: in das kritische Denken. A u f Grund
dieser häretischen Ansicht ereilte Simon das gleiche Schicksal, wie
es seinen calvinistischen Gegner C appelle auch innerhalb der prote­
stantischen Kirchen getroffen h a tte161: er wurde von der Kirche ver­
dam m t. Solange die religiösen Streitfragen vorherrschten, rückten
die humanistischen und rationalen K ritik er in dieselbe Front mit
den Politikern. Sie hatten in den kirchlichen Autoritäten noch einen
gemeinsamen, wenn auch von verschiedenen Seiten her anvisierten
Gegner. Bezeichnend dafü r ist, daß sie oft noch in Personalunion
standen wie in Bodin oder in H obbes, die in gleich hervorragender
Weise zu den Bibelkritikern wie zu den „P olitikern“ zählten. Erst
nach Überwindung der konfessionellen K äm pfe, d. h. erst im acht­
zehnten Jahrhundert, trennten sich die Lager: die rationale K ritik
erfaßte auch den Staat.
Schon durch die gemeinsame Reaktion aller Kirchen gewann das
W ort der K ritik einen polemischen Sinn, auch und gerade wenn
bloße Textkritik darunter verstanden w u rd e162. Diesen polem i­
schen Sinn sollte der Begriff der K ritik seitdem nicht mehr verlieren,
er blieb konstitutiv für den Sinngehalt der „K ritik “ auch im ganzen
folgenden Jahrhundert.
So bildete sich im Zuge der Textkritik an den H eiligen Schriften
aus den religiösen Streitigkeiten eine neue Front heraus, deren
N euartigkeit darin bestand, daß sich die Vertreter der einander
feindlichen Kirchen einem ihnen allen gemeinsamen Gegner gegen­
übersahen. Es ist die Front zwischen Vernunft und Offenbarung,
die vorzüglich die erste H älfte des achtzehnten Jahrhunderts be­
stimm t h a t 163. Indem Simon erklärte, das Studium der philologi­
schen K ritik sei erforderlich, „si Ton veut avoir une connaissance
p arfaite de la Theologie“ , berief er sich au f ein Prinzip, das grund­
sätzlich der O ffenbarung w idersprach164. D am it wurde er — ob­
wohl ein Priester — sinngemäß zum Schrittmacher des Pierre Bayle,
der 1695 mit seinem „D ictionnaire historique et critique“ das A r­
senal bereitstellte, aus dem das kommende Jahrhundert seine W af­
fen bezog. W ar die K ritik zunächst nur ein Sym ptom der sich
verschärfenden Differenz zwischen Vernunft und Offenbarung, so
w ird bei Pierre Bayle die K ritik selber die Tätigkeit, die beide Be­
reiche trennt.
Pierre Bayle verstand unter der „critique“ im strengen Sinn des
Wortes auch die A rbeit an den Texten, die zur A ufklärung ihrer
echten G estalt und ihres wahren Gehalts erforderlich ist. „L a criti­
que est un travail perilleux; car si Ton ignore certains faits particu-
liers, toutes les autres connaissances n’empechent pas qu’on ne juge
m al des choses.“ 165 „L e regne de la critique“ , in dem die gelehrten
Philologen, die Gram m atiker der alten Sprachen und ihre Ü ber­
setzer herrsdien, beginnt für ihn — wie auch die K unst-K ritik für
P o p e166 — mit dem Humanism us, von dem sich aber die Gegenwart
wesentlich unterscheide. H eute — um 1700 — schreibe man keine
dicken Bücher mehr: „on s’est tourne vers la justesse du raisonne-
ment, on a cultive l'esprit beaucoup plus que la memoire . . . on
devient sensible au sens et a la raison plus qu’a tout le reste“ 167.
Indem Bayle mit der kritischen Methode bereits alle Gebiete des
menschlichen Wissens und der menschlichen Geschichte erfaßte und
in einen unendlichen Prozeß der Relativierung verwickelte, wurde
die K ritik zur eigentlichen Tätigkeit der Vernunft. Die raison wog
bei Bayle ständig das „pour et contre“ gegeneinander aus, sie stieß
dabei au f Widersprüche, die stets neue Widersprüche hervorriefen,
und so löste sich die Vernunft gleichsam auf in einen ständigen
V ollzug der K ritik . Ist die K ritik der scheinbare Ruhepunkt des
menschlichen Denkens, dann gerät das Denken in eine rastlose
Flucht der Bew egung168. D ie die Vernunft als U rteilsinstanz aus­
zeichnende Tätigkeit wird die K ritik, die den Prozeß des Für und
W ider dauernd vorw ärtstreibt. Nach der gewaltigen Arbeitsleistung
des Pierre Bayle bleibt der Begriff der K ritik untrennbar dem der
Vernunft zugeordnet169. So konnte Vico 1709 sagen: „A critica
studia hodie inauguram ur . . . Etenim critica id nobis dat primum
verum, de quo, vel cum dubitas, certus fias“ , freilich, um sich gegen
diese kritische Denkweise zu wehren, da sie alle Wahrscheinlich­
keiten und den sensus communis ignoriere170. — D ie K ritik blieb
also keineswegs au f philologische, ästhetische oder historische Sach­
gebiete beschränkt, sondern sie wurde ganz allgemein die Kunst,
durch vernünftiges Denken richtige Erkenntnisse und Ergebnisse zu
erzielen171. Aber während das Denken im Für und W ider sich ins
Unendliche vorw ärtstreibt, werden die Aporien des Denkens über­
sprungen. Insofern w ird K an t der erste sein, der den Prozeß der
A ufklärung einem Ende zugeführt hat. Bis die K ritik sich gegen die
Vernunft selber richtete, zog sie ständig neue Wechsel auf die Zu­
kunft.
Erst im A u f spüren der Widersprüche läßt sich hoffen, die wider­
spruchslose W ahrheit zu finden. Ein K ritiker, sagt deshalb Pierre
Bayle, „m ontre . . . ce que Ton peut dire pour et contre les Auteurs:
il soutient successivement le personnage d ’un A vocat demandeur,
et d ’un A vocat defendeur“ 172. Gerade kraft seiner doppelten Funk­
tion, A nkläger und Verteidiger in einem zu sein, erhebt sich der
K ritiker zur überparteilichen Instanz, w ird er zum A nw alt der
Vernunft. „L e seul nom meme de p arty m ’etant odieux“ , sagte
schon Sim on 178, „je n’ay aucun interest particulier qui m ’engage
dans ce qu’on appelle p arty .“ Der K ritiker steht über den Parteien,
seine A ufgabe sei nicht die, zu „zerstören“ , sondern die Wahrheit
zu „etablieren“ . D er K ritiker tritt in Konkurrenz zu dem S ta at der
Vernunft, der sich über die Religionsparteien erhebt. Aber nicht,
daß er eine neue O rdnung schüfe hic et nunc; vielmehr erweist sich
die Herrschaft der K ritik als überparteilich nur in einem unendlich
sich erneuernden Prozeß. So kennt auch bei Bayle der K ritiker nur
eine einzige Verpflichtung: die Verpflichtung an die Zukunft, in
der die W ahrheit durch den V ollzug der K ritik erst zu finden ist.
D er Anspruch auf Überparteilichkeit trieb den Prozeß im gleichen
M aße vorw ärts, als sein Ende immer noch ausstand. In der Bindung
des K ritikers an die noch zu entdeckende Wahrheit lag die Selbst­
garantie der K ritik. Jeder Fehler, den man entdeckt, jedes entlarvte
H indernis läßt neue Hindernisse auftauchen, und so ersinnt die
menschliche Sucht, zu zerpflücken, immer subtilere Methoden, um
der Übel habhaft zu werden und die stets neu einreißende U nord­
nung zu beseitigen. Schließlich gibt es nichts mehr, was die Vernunft
zufriedenstellen kön nte174. D ie K ritik hat die Zukunft in einen
Sog verwandelt, der dem K ritiker das H eute unter den Füßen
wegzieht. U nter diesen U m ständen blieb dem K ritiker gar nichts
anderes mehr übrig, als im Fortschritt die seiner Seinsweise zuge­
ordnete Zeitstruktur zu entdecken. D er Fortschritt ist der modus
vivendi der K ritik , auch dort, wo er — wie von Bayle — nicht als
eine A ufw ärtsbew egung verstanden wurde, sondern als D estruk­
tion, als D ekadenz.
In jedem F all befreite die selbstgeschaffene Bindung an die Z u­
kunft den Vernunftsrichter zur K ritik am H eute. Sie verschaffte dem
Vollstrecker der K ritik in der Gegenw art einen R aum absoluter
Freiheit.

»C’est la liberte, qui regne dans la R^publique des Lettres. Cette


Rdpublique est un £tat extremement libre. On n*y reconoit que
l’empire de la verit£ et de la raison; et sous leurs auspices on fait
la guerre innocement a qui que ce soit. Les amis s’y doivent tenir
en garde contre leurs amis, les peres contre leurs enfants, les beaux-
peres contre leurs gendres: c’est comme en siecle de fer;
Non hospes ab hospite tutus
non socer a genero.
Chacun y est taut ensemble souverain, et justiciable de diacun.“ 175

E rst in absoluter Freiheit ist es möglich, den kritischen Prozeß zu


entfesseln, der die W ahrheit ermittelt. In der Gelehrtenrepublik ist
daher jeder eines jeden H err und durch jeden richtbar. D er Bürger­
krieg, den der S taat eliminierte, taucht unversehens wieder au f; und
zw ar genau in dem privaten Innenraum, den der S taat dem M en­
schen als Menschen konzedieren mußte. In ihm herrscht absolute
Freiheit, das bellum omnium contra omnes; das gemeinsame Ziel
aller ist die Wahrheit, und der wahre Souverän im geistigen Streit
ist die K ritik , die ein jeder übt und der sich jeder unterwirft. G n a­
denlos w altet die Souveränität, an der jeder partizipiert. D ie totale
D em okratie, die Rousseau ein halbes Jahrhundert später konzipie­
ren sollte, ist die au f den S ta at ausgeweitete Gelehrtenrepublik des
B a y le 178. Sie lieferte das M odell einer Staatsform , für die der Bür­
gerkrieg, wenn auch nur geistig, legalisiert und G rundlage der L e­
gitim ität ist.
Jed e Verbindlichkeit entfällt, denn erst in dem gemeinsamen
K a m p f aller K ritiker untereinander w ird die W ahrheit ermittelt.
D ie erst morgen zu findende W ahrheit enthebt den K ritiker heute
jeglicher Schuld. So gewann der K ritiker im V ollzug seiner T ätig­
keit Freiheit, Schuldlosigkeit und Teilhabe an einer zukunftweisen­
den, überparteilichen Souveränität. In diesem Gefüge lag die ent­
scheidende, für die D auer des achtzehnten Jahrhunderts seit Bayle
weiterwirkende Bedeutung der K ritik . Sie sollte bestimmend sein
auch für die politische K ritik.
D ie geschichtliche Bedeutung der K ritik kann freilich nur erfaßt
werden, wenn auch ihre andere Seite: der jeweilige Prozeß des Für
und W ider selber in den Blick rückt, in dessen V ollzug sich die K ri­
tik erst als Souverän etabliert. Mochte für den Skeptiker Bayle die
kritische Instanz der Vernunft auch keine eindeutigen und endgül­
tigen Ergebnisse erzielen, eine Grenze w urde im Zuge der kritischen
Scheidungen m it Sicherheit festgelegt: Religion und O ffenbarung
haben mit der Vernunft keine Gemeinsamkeit. D am it vollzog Bayle
eine Abgrenzung, die es der kommenden Z eit erleichterte, Religion
und O ffenbarung selber der K ritik zu unterwerfen, um weiter
vorzustoßen zur K ritik an dem Bestand der Kirchen überhaupt. D ie
richtende T ätigk eit der Vernunft beruhte einerseits au f dieser A b ­
grenzung der Religion, vollzog aber zugleich diese Scheidung, um
die Religion selber zu kritisieren. Schon für Bayle w ar gerade au f
G rund dieser Trennung der absolute Herrschaftsanspruch der alles
kritisierenden Vernunft gegenüber jeder A rt der dualistisch abge­
sonderten Religionen völlige Gewißheit. „M an muß notwendig
zu dem Schluß kommen, daß jedes einzelne D ogm a, ob man es nun
als in der H eiligen Schrift enthalten ausgibt oder sonst aufstellt,
falsch ist, wenn es von klaren und deutlichen Erkenntnissen der
Vernunft w iderlegt wird, besonders, soweit es sich um die M oral
h a n d e l t ...“ 177
D ie Bereiche der Vernunft und der Religionen wurden kritisch
getrennt, gerade um die Herrschaft der Vernunft und das Vorrecht
der M oral über die Religionen zu sichern. Dagegen zog B ayle der
richtenden U rteilsinstanz ganz entschieden eine zweite, eine andere
Grenze, die sie nicht überschreiten d arf, ja die eine vernünftige K ri­
tik, gerade weil sie vernünftig ist, gar nicht überschreiten kann. Es
ist ihre Grenze gegen den Staat. M ag der S taat gerecht oder unge­
recht herrschen, immer sei es ein Verbrechen, sich gegen ihn zu er­
heben. „T ou t ce que l’on peut opposer ä son injustice, c’est la raison,
la soumission, la retraite.“ 178 D ie Vernunft erheischt noch — wie bei
H obbes — die U nterw erfung, sie empfiehlt den Rückweg nach In-

o*>
nen, denn es gebe keine Instanz, die zwischen S taat und Individuum
schlichten könne. D ie Vernunft, im Innern kritisch, bleibt nach
außen staatstreu.
Pierre Bayle wußte noch um die D ialektik eines Bürgerkrieges,
der den Menschen stets zur Entscheidung gegen sein Gewissen und
seine besseren Einsichten zwinge. Dieses Wissen wahrte er auch noch
in der Em igration. Vergebens hoffe man, sagte er hier, den feind­
lichen Parteien zu entrinnen, um N eu tralität zu wahren. S ta tt
Freunde und Feinde habe man nur noch Feinde, ohne Freunde zu
haben. „So rt d£plorable de Phomme, vanit£ manifeste de la raison
philosophique.“ 179 Es sei der spezifische Irrw ahn der philosophi­
schen Raison, zu hoffen, daß sich ihre fortschrittliche Suche nach
O bjektivität und N eu tralität unbesehen in die widerständige W elt
der Politik übertragen ließe. Gewiß, so versicherte Bayle, seien
fortschrittliche K ö p fe nötig, aber sie sollten sich auf Geist und Wis­
senschaft beschränken. Erfasse der Fortschritt einmal das Feld der
Politik, so sei es sicher, daß die Übel eines Bürgerkrieges, die daraus
folgten, immer größer seien als die Übel, die er beseitigen solle. V or
den „furchtbaren W ohltaten“ eines Bürgerkrieges wollte Bayle ver­
schont bleiben. A u f dem H intergrund dieser Erfahrung, die noch
ganz dem siebzehnten Jahrhundert entstammt, schied B ayle streng
zwischen der „critique“ einerseits und den „satires“ und „libelles
diffam atoires“ andererseits. Bayle grenzte sauber die richtende In ­
stanz der K ritik ab gegen die politische Zuständigkeit des Staates.
Innerhalb der Gelehrtenrepublik herrscht in aller Unschuld der un­
politische K a m p f um die W ahrheit. U m Unwissenheit und Irrtum
zu bekäm pfen, sind alle M ittel erlaubt:

„Tous les particuliers ont a cet £gard le droit du glaive, et le


peuvent exercer sans en demander la permission sl ceux qui gouver-
nent. II est bien aise de connoitre pourquoi la Puissance Souveraine
a du laisser a chacun le droit d*£crire contre les auteurs qüi se
trompent, mais non pas celui de publier des Satires. C ’est que les
Satires tendent a d£pouiller un homme de son honneur, ce qui est
une espece d’homicide civil et, par cons^quent, une peine, qui ne
doit etre inflig^e que par le Souverain; mais le Critique d’un livre
ne tend qu’a montrer qu’un Auteur n'a pas tel et tel d£gr£ de lu-
miere. . . On n’usurpe rien de ce qui dopend de la Majest6 de
l’£tat, en faisant connoitre au public les fautes qui sont dans un
livre.“ 180
D ie Reichweite der K ritik w ird m it dem Ziel der Erkenntnis
bew ußt au f den R aum des menschlichen Wissens eingeschränkt; der
Mensch als „honnete homme“ , als „bon sujet de la R£publique“ ist
ihrem U rteil nicht unterworfen, er bleibt dem S taate untertan.
B ay le spart also bewußt das Reich der K ritik aus dem R aum des
Staates aus, um die Eigengesetzlichkeit der K ritik innerhalb der
„R^publique des lettres“ zu sichern. D ie K ritik setzt sich bewußt als
unpolitisch, sie tangiert nicht den Staat, aber zugleich ist sie dem
S ta at nicht unterworfen. Für B ayle laufen nebeneinander her: ein­
m al der totale Anspruch der K ritik , alle Bereiche, die der Vernunft
zugänglich sind, ihrem U rteil zu unterwerfen, aber zugleich ihre
Bescheidung aus geistiger Rechtsvollkommenheit heraus, ihr Verzicht,
den politischen Bereich des Staates zu berühren. M ag Bayle selber
die Tätigkeit der K ritik nur als rein „geistig“ und unpolitisch ver­
standen haben — galt seine K ritik doch vorzüglich den fanatischen
Religionen — , tatsächlich vollzog er bewußt die entscheidende
Trennung zwischen dem „r£gne de la critique“ und der Herrschaft
des Staates, die die Voraussetzung gerade der politischen K ritik
werden sollte. D ies w ird deutlich bei Voltaire, der den Erfahrungs­
horizont von B ayle bereits fortschrittlich verlassen hatte.
Auch Voltaire berief sich — mit B ayle — 1733 a u f die Scheidung
zwischen „la critique, la satire et la libelle“ , um den unpolitischen
C harakter seiner K ritik zu begründen. W as er treibe, sei K un st­
kritik , aber er wisse genau, mußte er feststellen, „que les politiques
ont regard£ cette innocente plaisanterie du Tem ple du G oüt comme
un grave atten tat“ m . Nachdem das Reich der K ritik einmal aus dem
Sta at ausgegrenzt w ar, berief sich V oltaire gerade au f diese Schei­
dung, um in gleicher Unschuld wie Pierre Bayle völlig „unpolitisch“
und rein „geistig“ die Grenze in den Bereich des Politischen zu über­
schreiten. Indem V oltaire literarische, ästhetische oder historische
K ritik trieb, kritisierte er indirekt die Kirche und den Staat. D am it
gewann seine ganze K ritik , die er übte, eine politische Bedeutung.
U n d zw ar eine Bedeutung ganz spezifischer A rt, wie sie sich aus
dem Begriff der K ritik und der ihm korrespondierenden dualisti­
schen W elt ergab.
W ar anfangs der zentrale Gegenbegriff zu Vernunft, M oral
und N atu r die Offenbarungsreligion, so bedurfte es nur einer Ver­
lagerung der K ritik au f das „G ebiet der weltlichen Gesetze“ , um
die einmal au f gerissene geistige Front politisch zu verschärfen. D as
Bündnis der Raison m it dem bestehenden S ta at w ar zerfallen. D ie
P olitik der absolutistischen Staatenw elt wurde mehr ijnd mehr
zum gemeinsamen Gegenpol aller dualistischen Positionen. D ie
herrschende Politik wurde in den Prozeß der K ritik verwickelt.
D am it wurde aus dem Für und Wider der K ritik, die innerhalb der
R^publique des lettres ihren unpolitischen Prozeß führte, tatsächlich
ein Prozeß zwischen dem „regne de la critique“ und der Herrschaft
des Staates. Auch in diesem Prozeß waren die K ritiker Ankläger,
oberste Urteilsinstanz und Partei zugleich. Indem sich die K ritiker
a u f die überparteiliche Souveränität der K ritik beriefen, aber zu­
gleich die Politik in ihren Prozeß verwickelten, blieben sie als K ri­
tiker kraft ihrer K ritik zw ar überparteilich, waren aber gerade als
K ritiker des Staates Partei. D er C harakter der Partei konnte frei­
lich in einer Überlegenheit sichernden Weise geleugnet werden. Die
geistige K ritik, die in der Scheidung zwischen der unpolitischen
R^publique des lettres und dem politischen S ta at gründete, berief
sich jetzt au f diese Trennung und verschärfte sie zugleich, um ihre
geistigen U rteile — scheinbar neutral ynd im Nam en der über­
parteilichen W ahrheit — auch auf den S ta at auszudehnen. Es ist
gerade und zunächst nur die K ritik, mit der die von ihr selbst ge­
zogene Grenze zwischen der Gelehrtenrepublik und dem S taat
überschritten w ird. D ie K ritik scheidet sich zw ar als unpolitisch
vom Staate ab, unterwirft ihn aber dennoch ihrem U rteil. H ieraus
entspringt die A m bivalenz der K ritik , die seit V oltaire ihr ge­
schichtliches Charakteristikum w ird: scheinbar unpolitisch und
überpolitisch, w ar sie tatsächlich doch politisch182.
D ie K ritik ist die endlich erschienene zehnte Muse, sagt V oltaire
1765, sie w ird den Unsinn aus dieser Welt vertreiben. „L a critique
a du bon; je Paime et je Phonore. Le parterre £claire juge les com-
battants, et la saine raison triomphe avec le tem ps .“ 183 D ie K ritik
dient zw ar noch als innergesellschaftliche K ritik den bürgerlichen
Streitern, die im Parkett sitzend mit den D arstellern des m orali­
schen Schauspiels au f der Bühne verbündet sind. A ber zugleich ist
sie die gemeinsame W affe der Kom battanten, die mit ihrer K ritik
— gerade au f dem U m w eg über die K unst — den S taat erfassen. In
„F igaros H ochzeit“ wird die Vermählung von K unst und p oliti­
scher K ritik gefeiert werden. N u r durch K ritik kann die Vernunft
triumphieren. D ie K ritik hat also den ihr früher zugemessenen
Raum der K unst und Wissenschaft verlassen, und seit V oltaire wer­
den die ehemaligen O bjekte der K ritik selber zu den W affen einer
politischen K r itik 184.
D er Prozeß des Fortschritts erfaßt den Staat. Dies tut er im
gleichen Maße, als seit etwa der M itte des Jahrhunderts der Sieg
über die Offenbarungsreligion gesichert schien185. D ie K ritik über­
nimmt die Funktionen, die Locke seinerzeit der moralischen Zensur
zugewiesen hatte; sie w ird zum Sprachrohr der öffentlichen M ei­
nung. Wenn sie schon nicht mehr die privaten Sitten beeinflussen
könne, heißt es in dem A rtikel „C ritiq u e“ der E n zy k lo p äd ie18#:
„II est du moins incontestable qu’elle decide des actions publiques.“
D ie Wendung nach außen ist vollzogen und ein Gradm esser dessen
liegt in D iderots Feststellung, daß man nicht nur zwischen Mensch
und Bürger zu unterscheiden habe, sondern bereits innerhalb der
kritischen Gesellschaft zwischen Person und A u to r187. „ L ’£quit 6
veut qu’on distingue bien la personne de Popinion, et Pauteur de
Pouvrage; car c’est bien ici qu’on a la preuve complete que les
moeurs et les Berits sont deux choses differentes .“ 188 D ie K ritik
der A ufklärun g hat den Binnenraum der Gesellschaft, den Bereich
privater M oral verlassen. W ar die Trennung zwischen Mensch und
U ntertan konstitutiv für die absolutistische Ordnung, so w ird jetzt
— bei Bayle schon konzipiert — die Trennung von Person und
A utor zur Bedingung der kritischen O rdnungslosigkeit. D ie K ritik
hat sich Absolution erteilt, indem sie nicht nur vom Staat, sondern
auch von ihrem gesellschaftlichen H intergrund sich abzulösen im­
stande scheint. D ie Schriften verbergen nicht nur des A utors w ahre
Gedanken, weil die staatliche Zensur sie dazu zwingt, sondern die
Schriften entfremden den Menschen, der sich in ihnen nicht mehr
wiederfindet. „Wenn, ohne falsch zu sein, man nicht alles das
schreibt, w as man tut, dann, ohne inkonsequent zu sein, tut man
auch nicht alles, w as man schreibt.“ 189 In dieser W endung D iderots
w ird die geschichtliche Wende m anifest. D ie K ritik ist so souverän
geworden, daß sie weiterherrscht auch ohne die Personen, die sie
initiiert haben. D ie Depersonalisierung, die die Person durch die
em anzipierte K ritik erleidet, kom m t darin zum Ausdruck, daß die
Person zum Funktionär der K ritik wird. D ie politisch bedingte
Geheimhaltung, zunächst ein echtes arcanum der A ufklärung, w ird
von der Logik der A ufklärung erfaßt. Die A ufklärung baut alle
T abus ab, indem sie die Privilegien zerstört. Dadurch wird alles und
jedes in den Strudel der Öffentlichkeit gezogen. Es gibt nichts, was
nicht von dieser Öffentlichkeit erfaßt würde. Aber diese Ö ffent­
lichkeit ist dialektisch, d. h. im Maße, als alles öffentlich wird, w ird
alles ideologisch verfrem det. Der Wunsch nach Naturhaftigkeit, zur
Rückkehr zur N atu r ist nur ein Sym ptom dieser Bewegung. U nd
der T ag w ird kommen, an dem man selbst der Hosentracht eine
politische Bedeutung vindiziert. D ie ursprünglich politisch bedingte
Geheimhaltung hat eine K ritik freigesetzt, die zu einer unkontrol­
lierbaren und insofern geheimnisvollen Herrschaft angewachsen ist,
die alle Lebensäußerungen verfrem det. Diese K ritik macht auch
nicht mehr H a lt vor dem Souverän. Was Bayle noch der Satire
vorbehielt, daß sie die Macht des Todes habe, die keine Wache vor
den Gattern des Louvre aufhalten könne, das sagt D iderot — unter
versteckter Anspielung auf Bayle — 1765 ganz ungeniert von der
K ritik selbst: „T ou t est soumis a sa loi.“ 190 D ie Eingeweihten der
A ufklärun g werden den Wortaustausch von Satire und K ritik so
gut verstanden haben wie den Vergleich. Die K ritik ist der T od des
Königs.
D ie Expansion über die ursprünglich vorgegebene Grenze zw i­
schen Innen und Außen zeitigte also unerwartete Folgen. D ie alles
erfassende K ritik weitete sich zw ar au f die Politik aus, verzichtete
aber nicht auf ihren eigenen unpolitischen, d. h. au f ihren vernünf­
tigen, natürlichen oder moralischen, das Vorrecht der Wahrheit ga­
rantierenden Anspruch. U nter der M aske der Allgemeinheit be­
diente sie sich weiterhin der polaren Setzungen. Jede dualistische
Setzung implizierte als solche schon die K ritik, wie die K ritik ihrer­
seits erst durch die polare D enkstruktur ihre Schärfe und scheinbare
Eindeutigkeit gewann. Wo dagegen der Versuch unternommen
wurde, die Antithesen ernst zu nehmen, scheiterte das Unternehmen
an dem abwertenden D enkgefälle, das sich aus der Begriffsbildung
ergab; und wer dennoch Harmonisierungsversuche unternahm,
wurde alsbald au f dem Felde der Publizistik der Inkonsequenz ge­
ziehen und erlag seinerseits einer verschärften K r itik 191.
Bezeichnend für das Dilemma, in das man geraten konnte, wenn
man den polemischen Sinn der Begriffsbildung ernst nahm, sich
aber dennoch beider Gegenbegriffe im positiven Sinne bedienen
mußte, ist die Äußerung Friedrichs des Großen, die er 1742 seiner
„H istoire de mon tem ps“ voranschickte. „Ich hoffe, daß die N ach­
welt, für die ich schreibe, den Philosophen in mir vom Fürsten und
den anständigen Menschen vom Politiker unterscheiden w ird .“
Friedrich erliegt dem epochalen Z w ang zu dualistischer A u fsp al­
tung. E r sieht sich außerstande, die zeitgemäßen polaren Begriffe
wie Mensch und Fürst oder Philosoph und Politiker in sich zu ver­
einen192; vielmehr implizierte die kritische Funktion der dualisti­
schen Begriffsbildung, wenn man sich ihr einmal unterw arf, die
Selbstkritik. Friedrich w ar Philosoph genug, um sie an sich als
Fürsten auszuüben, aber zu sehr K önig, als daß sie in eine Selbst­
bezichtigung umgeschlagen wäre.
Einen größeren Effekt zeitigte der Strudel der K ritik im Lager
der aufgeklärten Intelligenz selbst. W as V oltaire, der Freund Fried­
richs des Großen, noch wußte — er handhabte die scheinbar unpo­
litische K ritik m it souveräner Ironie und in ironischer Souveräni­
tät — , das ging der folgenden Generation der A ufklärung bereits
verloren. Sie sollte die scheinbar unpolitischen, aber dennoch schar­
fen W affen im vollen Glauben an eine Souveränität verwenden, die
sie de facto gar nicht besaß. A us der K ritik entspringt die H ypo-
krisie. Was bei V oltaire noch T ak tik w ar, sich zu tarnen, wird zum
generellen H abitus der Nachgeborenen. Sie erliegen ihrer eigenen
M ystifikation. A us der K riegslist w ird Verlogenheit. Ihren tieri­
schen Ernst, ihre U nfähigkeit, eine Lüge aus taktischen Gründen als
W affe einzusetzen, bezahlen sie mit prinzipieller Verlogenheit.
Wesentlich für diese Verlogenheit ist, daß ihr die Einsicht in ihr
Wesen beständig entgeht. Es ist der Preis, ohne den ihre Anmaßung
nicht zu haben w a r 193. V oltaire in seinem Alter hat diesen neuen
T y p m it seinem selbstüberzogenen Pathos noch erlebt. „II n’y a
p as un seul de ces critiques“ , schreibt er in einem Supplem ent zum
D ictionnaire philosophique 1771, „qui ne se croie juge de Punivers,
et £coute de Punivers .“ 194 D er K ön ig in seinem Gottesgnadentum
nimmt sich bescheiden aus neben dem Richter der H um anität, der
an seine Stelle tritt, dem K ritiker, der wie G ott am jüngsten Tage
das Universum seinen Richtsprüchen unterwerfen zu können glaubt.
V erfangen in seinen dualistischen Setzungen, entzieht sich dem
K ritiker die geschichtliche Bedeutung des Prozesses, den er ange­
strengt hat. D er K ritiker ist ein Führer, sagt die Enzyklopädie, der
zu unterscheiden w isse195: die Wahrheit von der Meinung, das Recht
von der A utorität, die Pflicht vom Interesse, die Tugend vom
Ruhm. A lle Begriffe umgehen in ihrer dualen Setzung die politische
Problem atik, die in ihnen enthalten ist. Die Wahrheit, die Pflicht,
die Tugend, das Recht, alle sind zuvor schon au f einer Seite ver-
ortet.
K ritik heißt Unterscheidung. K ritik am K önig bestand früher
darin, ihm sein Recht zu zeigen. U nter Um ständen bedeutete das,
ihm gegen seinen eigenen Schmerz recht zu geben. Bayle hatte das
noch getan, seine K ritik w ar sich ihrer politischen Position noch be­
wußt. Den K önig dagegen ins Unrecht setzen heißt alle U nter­
schiede aufheben. U nd genau das tut die Enzyklopädie mit dem
N etz ihrer dualistischen Begriffe. Der K ritiker richtet alle Menschen
„en homme vertueux, mais en homme“ 196. Kritisches Richten heiße
alles einebnen, auch den K önig reduzieren, „en un mot de reduire
Phomme, quel qu’il füt, a la condition de citoyen“ . Die A ufklärer
demaskieren, reduzieren, sie entlarven, wobei ihnen entgeht, daß
im V ollzug der Entlarvung sich der Eigengehalt des Entlarvten
auflöst. Macht ist für den hypokritischen A ufklärer immer M iß­
brauch der Macht. Daß die Macht den Mächtigen inspiriere, darum
weiß er nicht. In der Perspektive des politischen Privatiers ver­
w andelt sich Macht in Gew alt. D araus ergab sich für den späten
A ufklärer von selbst, daß ein guter Monarch schlimmer sei als ein
böser, weil er die getretene K reatur daran hindere, den U n fu g des
absolutistischen Prinzips zu durchschauen197. Die A ufklärer ent­
larven den K ön ig als Menschen, und als Mensch kann er gar nichts
anderes sein als ein U surpator. D ie K ritik listet der geschichtlichen
Figur ihre Bedeutung ab. So wird der seinem Element, nämlich
dem Politischen, entfremdete K önig zu einem Menschen, und als
solcher ist er ein G ew alttäter, ein Tyrann. Ist er aber ein Tyrann,
dann haben die A ufklärer m it ihrer K ritik recht. Der rechte K ritiker
ist der Richter, nicht der Tyrann der Menschheit. „T el seroit
Temploi d’un critique superieur: etre enfin le juge, non le tyran de
rhum anite .“ 198 D ie K ritik übersteigt bei weitem ihren Anlaß, sie
wird zum M otor der Selbstgerechtigkeit. Sie produziert ihre eigene
Verblendung.
W ar der Schritt aus der Gelehrtenrepublik in den S ta at einmal
vollzogen, so dienten alle dualistischen Setzungen nur noch, um den
Herrscher ins Unrecht zu setzen, um alle Unterschiede aufzuheben.
U nd das hieß, sich um den Preis eines Unrechts ins Recht setzen.
Nicht der K önig, sondern der K ritiker w ar der eigentliche U sur­
pator. Daß diese U surpation rechtens sei, darin besteht der Selbst­
betrug. U ngew ollt, aber doch nicht unfreiw illig provoziert die D e­
maskierung, die Entlarvung, den Selbstbetrug. Wer den K ön ig duzt,
verw andelt sich aus dem U ntertan in den Vertreter der N ation, in
ein O rgan der W ahrheit, der Tugend und der H u m an ität199. Die
stete Entlarvung der anderen führt zur Verblendung des Entlarvers
selbst.
Ins Unendliche steigend, schien sich die Souveränität der K ritiker
fortschrittlich nach oben aufzustufen. Wer seine U rteile auf die
Spitze trieb, der sah sich als H err der H erren; er schien der wahre
Souverän. Ironisch pointiert, schildert D iderot 1758 diesen bei Bayle
schon angelegten V organg: „ L ’auteur dit: Messieurs, ecoutez-moi;
car je suis votre maitre. E t le critique: C ’est moi, messieurs, qu’il
faut eeouter; car je suis le maitre de vos m aitres.“ 200 Dieser Ja g d
nach oben und vorne korrespondierte ein Vorgang, der sich ganz im
G egensatz zu der postulierten Gleichheit aller K ritiker einstellte:
die Enzyklopädie gliederte, als handele es sich um eine Loge, den
Regne de la Critique in eine Hierarchie von drei Graden, der C riti-
ques ignorants, subalternes und superieurs.
Sich selbst überholend, überholen die K ritik er die A ufklärung
selbst. Sie sind die A vantgarde des Fortschritts, der zur Revolution
w ird. Es sind die K ritiker, sagt V oltaire 1765, „qui revoltent un
siecle aussi eclaire que le notre“ 201. U nd aus der Situation ergab
sich, daß auch der K ön ig sich selbst unglaubw ürdig wurde. W as
a u f Friedrich den Großen noch nicht zutraf, ereignete sich in F rank ­
reich, denn der politische Sinn der ständischen Ordnung, der der
K ön ig sich zugeordnet fühlte, verflüchtigte sich in dem Maße, als
sie ihre Funktion verlor. Nicht als K ön ig mehr, sondern als Mensch
sollte Ludw ig X V I. vor dem Revolutionstribunal verteidigt wer­
den; und was er als Mensch w ar, daran ließ St. Ju st keinen Zw eifel:
ein Feind der Menschheit202.
D ie K ritiker erlagen ihrer Argum entation um so mehr, als der
K ön ig selbst dieser Argum entation erlag. Der Prozeß, den die
K ritik er entfesselt hatten, erfaßte sie schließlich auch und riß sie
in den A bgrund. C ondorcet entging ihm nur durch den Selbstm ord,
nachdem er gerade seine Skizze vom ewigen Fortschritt entworfen
hatte. D er Selbstm ord, um der Guillotine zu entgehen, ist der T od
der H ypokrisie. Rousseau sollte es Vorbehalten bleiben, in der
Selbstbezichtigung seine Selbstrechtfertigung zu suchen. Seine Be­
kenntnisse sind die ersten modernen „G eständnisse“ , die durch ihre
schamlose Enthüllung die W ahrheit zur Lüge verkehren, daß gar
nicht mehr ermittelt werden kann, was wahr ist und w as falsch.
N u r scheinbar hatte sich das Verhältnis zwischen dem Regne de
la critique und der Politik total verwandelt. Am Vorabend der
Revolution schienen die Rollen seit Bayle vertauscht. Eindeutig
ausgesprochen hat den Herrschaftsanspruch der K ritik über den
S ta at Im m anuel K an t, 1781 in der Vorrede zu^seiner „K ritik der
reinen Vernunft“ :
„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich
alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetz­
gebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben
entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich
und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die
die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffent­
liche Prüfung hat aushalten können.“ 203

D ie K ritik , die sich anfangs vom S taat abgesetzt hatte, um unge­


hindert walten zu können, beseitigt jetzt kraft eigener A utorität
die Grenze, die sie sich einst selbst gezogen. Im V ollzug ihrer kriti­
schen Selbstbegründung tritt der Herrschaftsanspruch der kritischen
Vernunft auch au f den S taat offen zutage. D ie Herrschaft der K ritik
über die Öffentlichkeit gewinnt politische D ignität. „A lle wahre
Politik ist auf die Bedingung eingeschränkt, mit der Idee des öffent­
lichen Rechts übereinzustimmen, ihr nicht zu w iderstreiten. . . H ier­
aus folgt, daß die wahre Politik nicht allein ehrlich, sondern auch
offen verfahren müsse, daß sie nicht nach M axim en handeln dürfe,
die man verbergen müsse.“ 204 Die A ufklärun g und ihr politisches
Geheimnis scheinen die Funktionen des Staates und seiner arcana
übernommen zu haben. Nicht die K ritik mehr entzieht sich dem
Staat, sondern sie tritt mit so souveränem Herrschaftsanspruch auf,
daß es vielmehr S taat und Kirche zu sein scheinen, die sich vor dem
Richtspruch der K ritik verbergen, „sich gemeiniglich derselben ent­
ziehen“ . D ie K ritik w ird so selbstsicher, daß sie auch noch die
Schuld an der H ypokrisie au f den S taat abzuw älzen vermag. Fügt
sich der Staat der kritischen Vernunft nicht, dann komm t ihm nur
„verstellte Achtung“ zu; erst wenn er sich den aufgeklärten Rich­
tern unterwirft, kann er Anspruch erheben auf „unverstellte Ach­
tung“ .
Durch diese Wendung ist die K ritik nicht mehr wie bisher still­
schweigend und geheim die oberste Instanz, sondern wird frei und
öffentlich als solche proklam iert. A ber die Frage der Souveränität
blieb ungelöst. Solange der S taat sich ihr nicht unterw arf, blieb die
kritische Vernunft in ihrer Geschichtlichkeit politische K ritik.
D ie Etappen der K ritik , die mit Simon, Bayle, V oltaire, D iderot
und K an t Umrissen wurden, zeugen von der zunehmenden poli­
tischen Bedeutsam keit, die dem Begriff der K ritik im achtzehnten
Jahrhundert zukommt. D as Politicum der K ritik lag nicht in der
verbalen Bedeutung dessen, w as unter ihr verstanden wurde, son­
dern entsprang jeweils dem Verhältnis, das sich aus der Trennung
des „regne de la critique“ und dem S taat zwischen diesen beiden
Bereichen ergab.
In diesem Dualism us gründete zunächst die K ritik, um ihren
unpolitischen Prozeß des Für und Wider zuerst gegen die R eli­
gionen zu eröffnen. D ann verwickelte sie zunehmend den Staat in
diesen Prozeß, verschärfte aber zugleich den Dualismus, um, schein­
bar unpolitisch, dennoch politische K ritik zu werden. Endlich wurde
ihre Zuständigkeit offen au f den S taat ausgedehnt und eine recht­
liche Differenz zwischen einer eigenen und einer staatlichen U rteils­
instanz negiert. Scheinbar hatte das Reich der K ritik den Staat schon
okkupiert. Diesen Schein zu entlarven blieb der dualistischen K ritik
ursprungsgemäß versagt. Die K ritik steigerte sich in Gegenkritik
zur Superkritik. Schließlich verdummte sie zur H ypokrisie. Die
H ypokrisie w ar der Schleier, den die A ufklärung ständig webend
vor sich hertrug und den zu zerreißen sie niemals imstande war.
D ie dualistische „D en k form “ — religionsgeschichtlich ein altes
E rb e 205 — ist kraft der ihr innewohnenden indirekten und schließ­
lich direkten politischen K ritik Ausdruck und Interpretation eines
epochalen Geschehens: der H eraufkunft der bürgerlichen W elt206.
D ie bürgerliche Schicht, in soziale und wirtschaftliche Stellungen
von zunehmender Macht aufrückend und mit einem neuen W elt­
bild vor Augen, betrachtete sich auf Grund dessen und in steigenden
M aße als den potentiellen Träger der politischen Macht. Aber erst
durch die dualistische D enkstruktur gewann die neue Elite das ihr
eigentümliche Selbstbewußtsein, durch das sie zu dem wurde, was
sie w ar: eine G ruppe von Menschen, die als Vertreter und Erzieher
einer neuen Gesellschaft ihre geistigen Positionen bezogen, indem
sie den absolutistischen Staat und die herrschende Kirche negierten.
So rissen die Dualismen des achtzehnten Jahrhunderts eine geistige
Front auf, die, in sich vielfach gebrochen, oft durch den einzelnen
Menschen hindurch ging, aber immer gleichbedeutend w ar mit
K ritik. Gesetzte Begriffe setzten ihre Gegenbegriffe, die im selben
Vollzüge abgewertet und meist auf diese Weise „kritisiert“ wurden.
D er unbewältigte Irrtum , in dem die A ufklärung befangen blieb,
ihre geschichtliche H ypokrisie bestand darin, in dieser N egation
bereits eine politische Position zu erblicken. Die dualistischen S p al­
tungen, derer sich die K ritiker bedienten, erweisen sich dam it als
eine einzige P aradoxie: sie dienten als Ferment, alle Unterschiede
und Gegensätze zu beseitigen, d. h. die dualistisch konstruierten
Spannungen aufzuheben, aus denen die A ufklärung gerade ihre
Evidenz bezog.
D ie K ritik führt sich in ihrer H ypokrisie ad absurdum. Der
unendliche Prozeß des Fortschritts wurde jäh unterbrochen. Wie die
tatsächliche K rise durch die K ritik in ihrer H ypokrisie erfahren,
gefördert und bestimmt wurde, ist im letzten K apitel zu zeigen.
Dabei wird sich der innere Zusammenhang zwischen der bürger­
lichen K ritik, ihrer indirekten Gewaltnahm e und der politischen
K rise aufhellen. In verschiedenen Stadien wird die zunehmende
Verschärfung der K rise sichtbar — zunächst wird von der ver­
gleichsweise ruhigen Situation in Deutschland ausgegangen, u n
dann in Frankreich die Wende von der R eform zur Revolution zu
behandeln — , aber immer wird sich zeigen, daß der Verschärfung
der K rise ganz dialektisch eine Verdeckung ihrer politischen Bedeu­
tung korrespondiert. Diese Verdeckung des Politischen bleibt durch
die bürgerliche Geschichtsphilosophie als diese Verdeckung ver­
borgen. Die K rise wird, auch als der Bürgerkrieg bereits drohend
vor Augen steht, als ein moralisches Gericht beschworen, das den
geschichtlich sinnvollen Abschluß darstelle — Ende nur des
kritischen Prozesses, den das Bürgertum gegen den S taat ange­
strengt hat.
I

Es liegt im Wesen einer Krise, daß eine Entscheidung fällig ist, aber
noch nicht gefallen. U nd es gehört ebenso zur Krise, daß offen­
bleibt, welche Entscheidung fällt. Die allgemeine Unsicherheit in
einer kritischen Situation ist also durchzogen von der einen Gewiß­
heit, daß — unbestimmt wann, aber doch bestimmt, unsicher wie,
aber doch sicher — ein Ende des kritischen Zustandes bevorsteht.
D ie mögliche Lösung bleibt ungewiß, das Ende selbst aber, ein U m ­
schlag der bestehenden Verhältnisse — drohend und befürchtet
oder hoffnungsfroh herbeigewünscht — ist den Menschen gewiß.
D ie K rise beschwört die Frage an die geschichtliche Zukunft.
Aus dem Bewußtsein der Krise, aus dem Wissen um eine poli­
tische Spannung mit unentrinnbaren Folgen ergeben sich nun in
Deutschland — und sie sind zugleich Sym ptom der K rise — eine
Reihe von Prognosen, die das kommende Ende der bisherigen po­
litischen Ordnung vorwegnehmen. Die Revolution wird prophe­
zeit. — Es lag nun andererseits, wie bisher gezeigt wurde, in der
Spannung zwischen M oral und Politik beschlossen, daß die Schei­
dung zwischen beiden Bereichen zw ar eine Scheidung zwischen
Staat und Gesellschaft hervorrief, daß aber die politische Ent­
scheidung, die dam it intendiert wurde, von den Bürgern als eine
politische Entscheidung gar nicht erkannt wurde. Die intendierte
Um w älzung als Revolution, ja auch nur die Möglichkeit einer
Revolution werden verdeckt. Zugleich w ird die Spannung selber
— durch die Zuspitzung der D ialektik von M oral und Politik —
verschärft. Verdeckung und Verschärfung sind ein und derselbe
Vorgang. -Seine Einheit ist in der Geschichtsphilosophie der prä-
sumptiven Elite beschlossen. Die Geschichtsphilosophie ist die K ehr­
seite der Revolutionsprognostik. In ihrem Wechselverhältnis wird
die K rise manifest. Dies aufzuzeigen — zunächst an deutschen
Zeugnissen — dient der nächste Schritt der Untersuchung.
D ie politische Frage, ob der A pp arat des Absolutismus und sein
souveräner H err weiterhin herrschen würden oder die Spitzen der
neuen Gesellschaft, tauchte in Deutschland erstmals auf in der Zeit
des „Sturm und D ran g“ . Sie entzündete sich in aller Schärfe an dem
sozialen Exponenten des neuen Bürgertums, an der geheimen G e­
sellschaft1.. In der Polemik über die Geheim orden,,in der Presse­
fehde, die durch die V erfolgung der Illuminaten in Bayern aus­
gelöst wurde, bildeten sich erstmals politische Lager, die von dem
Bewußtsein getragen waren, sich in einer latenten Entscheidungs­
situation zu befinden. Protestanten und K ath olik en 2, absolutistische
Beamte und Verfechter des Ständewesens schlossen sich zusammen:
sie erblickten in den geheimen Orden einen gemeinsamen, die ge­
meinsame Struktur der bestehenden Ordnung bedrohenden Feind.
D er gegenseitige Ausschließlidikeitsanspruch, den Lessing einmal
an den A ufklärern und ihren Gegnern auf dem religiösen Gebiet
feststellte, fing jetzt auch in Deutschland an, wie lange schon in
Frankreich, die politischen Konturen zu bestimmen: „So hat der
eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaf­
fen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrei
erklären zu dürfen . " 3
D ie D ialektik von M oral und Politik verlieh dem K a m p f eine
R ad ik alität, die dem sozialen Gewicht des deutschen Bürgertums
insgesamt noch keineswegs entsprach. So fand auch die geheime
O rganisation der Illuminaten ihr jähes Ende durch die blanke
Überlegenheit der staatlichen Gew alt. Die Illuminaten, die die D es­
poten, „denen an Dummheit und Unsittlichkeit so viel gelegen ist“ ,
moralisch diskriminierten und ihnen politisch vorw arfen, „eine so
lange usurpierte G ew alt noch ferner zu behaupten“ 4, wurden ihrer­
seits als Gottesschänder und ruchlose Rebellen verfolgt, des Landes
verwiesen, gefangengesetzt und schließlich unter Androhung der
Todesstrafe an ihrer weiteren Arbeit gehindert5. Trotz der un­
gleichen M ittel, die den Gegnern zur Verfügung standen und die
eine direkte Bedrohung des Staates gar nicht möglich machten, ent­
sprangen dieser Situation eine ganze Reihe von Prognosen, die den
Um sturz der bestehenden Ordnung vorwegnahmen. Die Prognosen
beziehen sich nicht auf die faktische Macht der Geheimbünde, son­
dern entzünden sich an der indirekt politischen Rolle, die diese G e­
sellschaften gespielt haben. Neben den bis dahin in der antifrei­
maurerischen Polemik vorzüglich gebräuchlichen Argumenten der
Sittenlosigkeit und Religionsfeindschaft herrscht plötzlich eine
neue, und zw ar rein politische Beweisführung vor, die die G efahr
eines Um sturzes aus der politischen Stellung eines Geheimordens
zum Staat ableitet. Wie meist die Angegriffenen, haben sie als erste
das unmittelbar Politische offen beim N am en genannt.
D ie Bedrohung der fürstlichen Souveränität tritt in das Zentrum
der Argum entation, und daraus w ird zunächst — ganz im Sinne
der absolutistischen Staatsauffassun g — die Unrechtmäßigkeit der
indirekten G ew alt bewiesen. Gleichgültig, ob die Tagespropheten
in den „geheimen O beren“ der M aurer die Jesuiten, Freidenker
oder Calvinisten — je nach ihrem eigenen religiösen Standort —
vermuten, alle gemeinsam stellen sie fest, daß die geheime Gesell­
schaft mit ihren „Chefen einen Staat im Staate, oder vielmehr einen
S taat über den souveränen Staaten “ b ild e6. U nd das Bewußtsein
der herrschenden O rdnung w ar für sie noch so selbstverständlich
an den Begriff der absoluten Souveränität geknüpft, daß mit der
Bildung einer andersartigen, außer- und überstaatlichen G ew alt
nicht nur die Souveränität des Monarchen, sondern auch die staat­
liche Ordnung selbst im Nebel einer ungewissen Zukunft sich au f­
zulösen schien. W ährend die M aurer gerade die moralische N o t­
wendigkeit und daher, wie sie schließen: die politische Möglichkeit
einer überstaatlichen Souveränität betonen, die auszuüben sie selber
a u f G rund ihres reinen C harakters berufen seien7, verlegen die V er­
treter des Staates den A kzent aus dem Moralischen heraus au f den
Herrschaftsanspruch derjenigen, die sich au f die M oral berufen. Die
moralischen und friedlichen Absichten der M aurer werden ganz
„machiavellistisch“ interpretiert: „D ie Spitzfindigkeit der philo­
sophischen Freydenker hat eine List erdacht, dam it unvermerkt den
Feind gefangen zu nehmen, den sie mit ihrer Macht zu bezwingen
nicht im Stande ist. Sie stellen aller Orten die Fahne des Friedens
aus; sie bitten nur um D uldung und E in tra c h t...“ , aber gerade im
Schutz dieser D uldung werde der „P lan ihrer Eroberung“ vor­
bereitet. Er ziele zunächst auf den Sturz der Kirchen, um dann
„aus den Aschen der lieben Toleranz ein solches gräßliches K riegs­
feuer hervorbrechen (zu lassen), dessen Flam men nicht eher werden
gedäm pft werden können, als bis die Reichsgrundgesetze aufge­
hoben (sind ).“ 8
Aus dem konkurrierenden Herrschaftsanspruch zwischen dem
S taat und der Gesellschaft ergeben sich die Prognosen der Revo-
lution, die sich — wenn auch auf dem U m w eg über die Französische
Revolution — bald erfüllen sollten. Diese und ähnliche Prognosen
sind also einmal aus der politischen R olle abgeleitet, die die Geheim­
orden zw angsläufig innerhalb der Staaten gespielt haben: sie
weichen die Souveränität auf. W as aber veranlaßt die Prognostiker,
obwohl die M aurer — wie expressis verbis zugegeben — direkt
nur eine geringe Macht besaßen, aus der Bedrohung und G efäh r­
dung der Souveränität au f einen totalen U m sturz zu schließen, den
U m sturz, der au f die „P eripetie" folge, als eine „C atastrop h e " 9
vorauszusagen? Was w ar denn die Macht, die den E rfolg des „Erobe­
rungsplanes“ garantiert? Worin lag die Drohung, die den S taat
derart gefährdete, daß die Prognosen immer noch erschienen, auch
als die Illum inaten längst zerschlagen waren?
Es ist die Geschichtsphilosophie. D ie Geschichtsphilosophie lie­
ferte dem elitären Bewußtsein der A ufklärer seine Evidenz. Sie
w ar die Macht, die die Illum inaten gehabt haben, und diese Macht
hatten sie gemeinsam mit der ganzen A ufklärung. Sie w ar die
Drohung, in ihr trat der Plan der Eroberung — wie sich zeigen
w ird — für die Angegriffenen deutlich ans Licht.
D aß der moralische Innenraum, an sich machtlos, auch wirklich
zur Herrschaft gelangt, w ar durch die bloße M oral für den Bürger
noch nicht garantiert. D er H iatus zwischen der moralischen Posi­
tion und der erstrebten Herrschaft wurde durch die Geschichts­
philosophie scheinbar überbrückt.
D er moralische Bürger w ar immer, ob ausgesprochen oder nicht,
geborgen in einer Geschichtsphilosophie, die auch dem N am en nach
ein Produkt des achtzehnten Jahrhunderts is t 10. Sie trat weitgehend
das Erbe der Theologie an. D ie christliche Eschatologie in ihrer ab­
gewandelten Form als säkularer Fortschritt, gnostisch-mani-
chäische Elemente, die in dem D ualism us von M oral und Politik
verschwunden sind, antike Kreisläuflehren, schließlich die jüngste
naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit, die auf die Geschichte über­
tragen wurde — all dies hat dazu beigetragen, das geschichtsphilo­
sophische Bewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts zu formen.
Auch die Freim aurer standen in vorderster Front, um wie di