Gesundheit beginnt vor der Zeugung Geburt als Start der Gesundheit eines Menschen erklären. Allerdings hat sich längst herumgesprochen, wie wichtig auch die Zeit im Mutterleib für Muss die Präventionspolitik umdenken? die Ausprägung zahlreicher oft erst sehr viel später wirksamer Erkrankungsrisiken ist. Die Frage, wie wir wurden, was wir sind, beantwortet Plagemann nicht ohne Grund so: „Maßgeblich durch die VON PETER SPORK natürlichen und sozialen Umwelt- und Entwicklungsbedingungen, unter https://www.riffreporter.de/erbe-umwelt-peter- denen wir als Individuum schon im Mutterleib und in den ersten spork/gesundheit_vor_der_zeugung/?ref=oembed Lebenswochen heranwuchsen.“ Gleich drei Artikel im führenden Mediziner-Fachblatt „The Lancet“ Was und wie viel die Schwangere isst, ob und wie viel Alkohol sie trinkt, fordern mehr Aufmerksamkeit für ein bislang eher belächeltes Thema: Die ob sie traumatisiert wird oder Zigaretten konsumiert: All das bestimmt mit präkonzeptionelle Gesundheit. Das Protokoll eines Paradigmenwechsels. darüber, wie krankheitsanfällig ihr Kind später im Leben sein wird. Der Trierer Psychobiologe Dirk Hellhammer, der auf vier Jahrzehnte Viele Mediziner, Psychologen und Biologen denken derzeit um. Sie erfolgreiche Stressforschung zurückblickt, sagt, „frühkindliche Einflüsse betrachten Gesundheit nicht länger als Zustand, sondern als Prozess, der sind mit Abstand der größte Risikofaktor für stressbezogene jeden Menschen täglich begleitet. Mit seiner Hilfe passen wir uns stetig an Gesundheitsstörungen“. Traumatische Erlebnisse der Mutter während der die Anforderungen unserer spezifischen Umwelt und unseres Lebensstils Schwangerschaft oder des Kindes im ersten Lebensjahr fänden sich „bei an. Diese Betrachtung ist eine logische Konsequenz aus der modernen etwa 50 bis 70 Prozent aller Patienten mit derartigen Leiden“. Genregulationsforschung. Sie belegt, dass Umwelteinflüsse und Veränderungen etwa der Ernährung oder des Bewegungsverhaltens die Offenbar startet unsere Gesundheit also mit der Zeugung. Oder doch Aktivierbarkeit zahlreicher Gene in wichtigen Organen dauerhaft nicht? Ist selbst diese Annahme zu kurz gegriffen? Gleich drei Artikel im verstellen können. führenden Mediziner-Fachblatt The Lancet blicken jetzt weit über diese Grenze hinaus. Ihnen zufolge beginnt die Gesundheit eines Menschen Unsere Zellen haben eine Art Gedächtnis für Umwelteinflüsse und nicht erst in dem Moment, in dem Samen- und Eizelle verschmelzen. Sie Lebensstilfaktoren. Im Idealfall hilft uns dieses Gedächtnis, zeitlebens beginnt bereits Monate bis Jahre zuvor. Sie beginnt im Leben der besonders widerstandsfähig zu sein und dabei möglichst lange geistig rege vorangegangenen Generation. Die Artikel schildern eindrucksvolle neue und gesund zu bleiben. Andreas Plagemann, Leiter der Befunde über die so genannte präkonzeptionelle Gesundheit – also Forschungsabteilung an der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner darüber, wie bereits die Lebensstile beider Eltern in der Zeit bevor sie ihre Charité beschreibt unser Leben konsequenterweise als „individuellen, Kinder zeugen deren spätere Krankheitsanfälligkeit beeinflussen (doi: permanent umweltabhängigen Entwicklungsprozess“. Unsere Entwicklung 10.1016/S0140-6736(18)30311-8, -30312-X, -30313-1). endet demnach nicht mit der Adoleszenz sondern wir verändern uns auch als Erwachsene biologisch stetig fort. Plagemann nennt das die Das Fazit der Autoren ist eindeutig: Zukünftige und potenzielle Eltern „Ontogenese bis ins Alter.“ sollten in Zukunft viel mehr als heute unterstützt, entlastet und beraten werden. Die Gesellschaft sollte deutlich mehr in die Gesundheit aller Die Gesundheit unserer Enkel beginnt ein Stück Heranwachsender und junger Erwachsener investieren. Mediziner und weit bereits bei der Gesundheit unserer Kinder Gesundheitsberater sollten zudem vermehrt nach Frauen Ausschau halten, Klar scheint also, dass unsere Gesundheit im Sinne einer neuen Definition die eine Schwangerschaft planen. als lebensbegleitender Anpassungsprozess erst mit dem Tod endet. Doch wann startet sie? Wann beginnen Umwelteinflüsse auf uns einzuwirken Zum Beispiel sollte man zukünftige Eltern zu ausgewogener, nicht zu Folsäuremangel führe dabei offenbar zu Fehlern. Und das gefährde kalorienreicher Ernährung mit frischen Zutaten und ausreichender mitunter die gesunde Entwicklung. Sicher ist es noch zu früh, nun ähnlich Bewegung motivieren, über ungesunde Verhaltensweisen wie das Rauchen wie bei Müttern mit Kinderwunsch auch den Vätern Folsäuretabletten zu oder starken Alkoholkonsum noch besser aufklären sowie gezielte verschreiben, aber auf eine ausgewogene und abwechslungsreiche Maßnahmen gegen Übergewicht oder Mangelernährung ergreifen. Bei Ernährung sollten auch die Väter allemal achten. zukünftigen Müttern sollte man zudem besser als heute auf ausreichende Blutspiegel wichtiger Mikronährstoffe wie Folsäure oder Eisen achten. Das bekannteste Beispiel dafür, dass auch heutige Eltern sich schon vor der „Wir müssen die Politik der öffentlichen Gesundheit Zeugung des Nachwuchses aktiv um dessen Gesundheit kümmern, ist die überarbeiten.“ (Judith Stephenson) gezielte Folsäureeinnahme bei Frauen mit Kinderwunsch. Doch auch zukünftige Väter sollten wahrscheinlich mehr auf ihren Folsäurespiegel achten. Der auch All diese Maßnahmen seien vergleichsweise kostengünstig. Vor allem aber Vitamin B9 genannte Mikronährstoff findet sich unter anderem in Blattsalaten sei es bestens angelegtes Geld. Denn von den Investitionen profitierten und anderen grünen Blattgemüsen, aber auch in Weizenkeimen, Hülsenfrüchten nicht nur die Betroffenen selbst, sondern zusätzlich die folgende (rote Linsen), Eigelb, Sonnenblumenkernen und vielem mehr. Generation. Die Gabe von Folsäure zum Beispiel sei ein schon heute allgemein akzeptiertes und entsprechend gut untersuchtes Mittel zur Das Zeitfenster vor der Empfängnis „ist eine kritische Zeit, in der der Steigerung der Gesundheit des Nachwuchses. Achte man in der Zeit von Gesundheitsstatus der Eltern – einschließlich ihres Körpergewichts, ihres zwei bis drei Monaten vor und nach der Empfängnis auf einen Stoffwechsels und ihrer Ernährung – das Risiko ihrer Kinder beeinflusst, ausreichenden Folsäurespiegel bei der Mutter, verringere sich um 70 später im Leben eine chronische Krankheit zu bekommen“, sagt deshalb Prozent das Risiko des Kindes, einen Neuralrohrdefekt zu bekommen – auch Judith Stephenson vom Institute for Women`s Health am University einen offenen Rücken zum Beispiel. College London, eine der Hauptautorinnen der Lancet-Artikel. Und sie Dass Folsäuremangel von schwangeren Frauen das Fehlbildungsrisiko des fügt an: „Wir müssen jetzt die Politik der öffentlichen Gesundheit so Kindes erhöht, ist schon lange bekannt. Das wird unter anderem damit überarbeiten, dass sie hilft, diese Risiken zu reduzieren“ erklärt, dass das Vitamin wichtig für ein Ko-Enzym ist, das den Zellen bei Unsicher sind sich die Experten noch, was die Dauer des maßgeblichen der Regulierung ihrer Gene hilft. Es existieren mittlerweile aber auch Zeitfensters betrifft. Bisher bezeichnet man die präkonzeptionelle Phase Indizien, dass vielleicht sogar der Folsäurespiegel im Blut der Väter als die letzten drei Monate vor der Empfängnis, vor allem weil dies die wichtig ist. Kanadische Biologen entdeckten bei männlichen Mäusen, die durchschnittliche Zeit ist, die Paare mit Kinderwunsch benötigen, um zeitlebens kaum Folsäure in der Nahrung hatten, systematische erfolgreich zu sein. Manche Präventionsmaßnahmen der zukünftigen epigenetische Veränderungen in den Spermien. Gleichzeitig kamen deren Eltern, wie zum Beispiel eine Normalisierung des Körpergewichts bei Jungen besonders häufig mit Geburtsfehlern zur Welt (doi: stark Über- oder Untergewichtigen, benötigen mitunter aber ein bis 10.1038/ncomms3889). mehrere Jahre Zeit. Andere Maßnahmen wie eine Anhebung des Es gebe Hinweise aus großen epidemiologischen Studien bei Menschen, Folsäurespiegels im Blut oder die Enthaltsamkeit von Suchtmitteln, dass auch die Ernährung von Vätern vor der Zeugung ihres Nachwuchses wirken hingegen schon nach einigen Wochen. die Gesundheit der Kinder beeinflussen könne, schreiben die Forscher. Die Experten schlagen deshalb vor, die Präkonzeption je nach Blickwinkel Ihre Studie – wenngleich ein Tierexperiment – lasse vermuten, was dabei unterschiedlich zu bemessen: Biologisch gesehen seien es die Tage bis im Detail geschehe: Je nach Nahrung könne die Maschinerie der Enzyme, Wochen vor der Zeugung bis zur Einnistung des befruchteten Eis. die die Genaktivität kontrollieren, ihre umfangreiche Arbeit in der Zeit Individuell gesehen starte die präkonzeptionelle Phase bereits mit dem rings um die Befruchtung mal mehr, mal weniger gut erledigen. Kinderwunsch der Eltern. Aus der Warte der öffentlichen Krankheitsvorsorge aber müsse sie oft schon Monate bis Jahre früher Sollten sich all diese Resultate eines Tages auch beim Menschen beginnen, nämlich zu dem Zeitpunkt, zu dem man damit anfängt, die bestätigen, wird es schwer fallen, überhaupt noch eine Grenze für den Gesundheit der zukünftigen Eltern positiv zu beeinflussen um Beginn der präkonzeptionellen Phase zu finden. Streng genommen hätte Krankheitsvorsorge für die folgenden Generation zu betreiben. unsere Gesundheit dann ja bereits im Leben der Großeltern begonnen – spätestens in der Zeit, bevor diese unsere Eltern gezeugt hatten. Überernährung und Zigaretten verändern bei Männern die Spermien „Die Freude an einer gesunden Lebensweise müsste uns allen sozusagen in die Wiege gelegt werden.“ (Dirk Hellhammer) Auch an diesem Punkt adressieren die Forscher übrigens ganz bewusst nicht nur die Frauen. Viele neue Studien zeigen nämlich, dass die Männer Doch das ist Zukunftsmusik. Noch geht es vor allem darum, die Wege mit im Boot sitzen, wenn es um präkonzeptionelle Gesundheit geht. Die besser zu erforschen, auf denen es unserer Gesundheit überhaupt gelingt, Ernährung, der Zigarettenkonsum, das Stressniveau und andere Faktoren die Grenzen zwischen den Generationen zu durchbrechen. Nach dem verändern nachweislich die Qualität der Spermien. Schon vor zwei Jahren derzeitigen Wissensstand seien „epigenetische, zelluläre, metabolische und zeigten Forscher um Romain Barrès von der Universität Kopenhagen physiologische Effekte beteiligt“, weiß Keith Godfrey von der MRC beispielsweise, dass adipöse Männer, sie sich ihren Magen operativ Lifecourse Epidemiology Unit an der University of Southampton und verkleinern lassen, ein Jahr später deutlich veränderte Spermien aufweisen ebenfalls Hauptautor eines der aktuellen Lancet-Artikel: „Noch besser zu (doi: 10.1016/j.cmet.2015.11.004). verstehen, welches die Mechanismen sind und welche Faktoren sie antreiben, ist besonders wichtig, weil es dabei hilft, zukünftige Offenbar sorgte allein der Umstand, dass die Männer sehr viel weniger als Gesundheitsempfehlungen für die Zeit vor der Konzeption festzulegen.“ früher aßen, für „einen dramatischen Umbau der Methylierungen an der DNA der Spermien“, so die Forscher. Es wurden also so genannte Egal wie diese Suche ausgeht, die neuesten Erkenntnisse dürften schon Methylgruppen (CH-3) an das Erbgutmolekül an- oder abgebaut. Dadurch bald dazu beitragen, dass auch weiterhin - so wie in den vergangenen 180 und auch auf anderem Weg veränderte sich die epigenetische – also neben- Jahren - die durchschnittliche menschliche Lebenserwartung stetig steigt. oder zusatzgenetische - Struktur der Keimzellen. Und damit transportieren Die wichtigste Botschaft der drei Fachartikel sollten wir alle jedenfalls sie „unter dem Druck von Umwelteinflüssen auf dynamische Weise“ sehr schon jetzt verinnerlichen: Die Gesundheit unserer Enkel beginnt ein wahrscheinlich auch geänderte Botschaften in das zukünftige Leben. Stück weit bereits bei der Gesundheit unserer Kinder. Stressforscher Dirk Epigenetische Strukturen verändern zwar nicht den genetischen Code, aber Hellhammer hat das bereits begriffen, als er unlängst im großen sie enthalten Informationen darüber, welche ihrer geerbten Gene die Erbe&Umwelt-Interview forderte: „Die Freude an einer gesunden Zellen der neu entstehenden Organismen besonders gut benutzen können Lebensweise müsste uns allen sozusagen in die Wiege gelegt werden, und welche weniger gut. indem die Gesellschaft bereits die Eltern kleiner Kinder und die Kinder und Jugendlichen selbst sehr viel mehr als heute entlastet und unterstützt.“ Das könne erklären, warum die Kinder übergewichtiger Väter oft ebenfalls zu Störungen des Stoffwechsels neigten, weiß Barrès. Anders als man früher dachte, scheinen streng genetisch vererbte Übergewichts- oder Diabetes-Gene dafür jedenfalls nicht nötig zu sein. Diese These untermauert inzwischen übrigens auch eine Vielzahl von Studien mit Nagetieren. Egal ob bestimmte Vergiftungen, traumatische Erlebnisse, eine Fehlernährung oder Anpassungen an eine Hitzeperiode: Sowohl Mütter als auch Väter scheinen Informationen zu solchen Einflüssen auf außergenetischem Weg weiter zu vererben.