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Thilo von Pape

Aneignung neuer Kommunikationstechnologien


in sozialen Netzwerken
VS RESEARCH
Thilo von Pape

Aneignung neuer
Kommunikations-
technologien in
sozialen Netzwerken
Am Beispiel des Mobiltelefons
unter Jugendlichen

VS RESEARCH
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Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im
Frühjahrssemester 2008 auf Antrag von Prof. Dr. Werner Wirth und Prof. Dr. Vincent Meyer
als Dissertation angenommen.

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Christina M. Brian / Ingrid Walther

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe


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wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISBN 978-3-531-16133-4
Danksagung
Diese Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbei-
ter an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Rahmen des For-
schungsprojekts „Diffusion und Aneignung mobiler und interaktiver Medienan-
gebote“. Mein erster Dank gilt Professor Dr. Werner Wirth als Initiator und Lei-
ter des Projekts, der mich über die vier Jahre mit der richtigen Mischung aus
Fürsorge und Autonomie an das selbständige wissenschaftliche Arbeiten heran-
geführt hat. Dass das Projekt ein Erfolg wurde – und damit auch die Dissertation
– habe ich außerdem der beherzten Mitarbeit von Veronika Karnowski zu ver-
danken.
Weiter bedanke ich mich bei meinen Ansprechpartnern an den beiden betei-
ligten Schulen Gymnasium Eversten und Helene-Lange Schule in Oldenburg:
Bei den Schulleitern Herrn Hoyndorff, Herrn Smidt und Herrn Steinbrink und
den Koordinatorinnen der Jahrgänge Frau Dörr und Frau Böckmann dafür, dass
sie mich zu dem Vorhaben ermutigt und mir bei seiner Durchführung beigestan-
den haben; bei den Lehrern dafür, dass sie mir Zeit in ihren Unterrichtsstunden
eingeräumt haben; bei den Eltern dafür, dass sie damit einverstanden waren, und
bei den Schülern selbst dafür, dass sie die langen Fragebögen geduldig und ge-
wissenhaft beantwortet haben.
Meinen Eltern möchte ich danken für ihre moralische Unterstützung, aber
auch für die ganz handwerkliche Hilfestellung bei der Vorbereitung der Feldar-
beit in Oldenburg, bei der Dateneingabe und den letzten Überarbeitungen.
Schließlich danke ich von ganzem Herzen meiner Frau Stéphanie. Sie hat
mir immer wieder das Leben jenseits der Dissertation ins Bewusstsein gerufen
und mir gleichzeitig den für die Arbeit nötigen Freiraum gewährt. Dabei hat sie
mich unermüdlich zur Arbeit angestiftet durch das Setzen unzähliger Deadlines
(von denen ich keine einzige eingehalten habe).

Thilo von Pape


Inhalt

1 Einleitung .................................................................................................. 11

2 Relevanz des Themas ................................................................................ 15


2.1 Kommunikationswissenschaftliche Bedeutung der Entwicklung von
(Medien-)Innovationen ......................................................................... 15
2.2 Gesellschaftliche Bedeutung der Aneignung des Mobiltelefons durch
Jugendliche ........................................................................................... 18
2.2.1 Umfang und Dimensionen der Handynutzung
durch Jugendliche ....................................................................... 19
2.2.2 Bedeutung des Mobiltelefons für die Sozialisation
von Jugendlichen ........................................................................ 22
2.3 Resümee .............................................................................................. 27

3 Stand der Forschung ................................................................................ 29


3.1 Klassische Diffusionstheorie ............................................................... 30
3.1.1 Theorie ........................................................................................ 31
3.1.2 Methoden .................................................................................... 38
3.1.3 Befunde ....................................................................................... 39
3.1.4 Kritik ........................................................................................... 46
3.1.5 Resümee ...................................................................................... 52
3.2 Vertiefende Ansätze............................................................................. 53
3.2.1 Qualitative vs. quantitative Ansätze ............................................ 54
3.2.2 Quantitative Ansätze zur Vertiefung........................................... 56
3.2.3 Qualitative Ansätze zur Vertiefung............................................. 81
3.2.4 Resümee ...................................................................................... 95

8 Inhalt

3.3 Integrative Ansätze ............................................................................. 97


3.3.1 Integration auf der Mikroebene durch das
„Mobile Phone Appropriation“-Modell .................................... 101
3.3.2 Ausgangspunkte für eine Integration auf der Mesoebene ......... 114

4 Forschungsfragen und Hypothesen ....................................................... 121

5 Methode ................................................................................................... 129


5.1 Datenerhebung.................................................................................. 130
5.1.1 Organisatorischer Rahmen der Panelbefragung ........................ 130
5.1.2 Aufbau der Fragebögen............................................................. 132
5.1.3 Pretest ....................................................................................... 135
5.2 Dateneingabe und -bereinigung........................................................ 135
5.2.1 Dateneingabe ............................................................................ 135
5.2.2 Datenbereinigung und Rekonstruktion fehlender
Netzwerkdaten .......................................................................... 136
5.3 Maße ................................................................................................. 138
5.3.1 „Aneignungsskala“ ................................................................... 139
5.3.2 Verfahren zur Analyse der sozialen Struktur
von Schulklassen ....................................................................... 150
5.4 Beschreibung der Stichprobe ............................................................ 162
5.4.1 Individuelle Ebene .................................................................... 162
5.4.2 Im Netzwerk ............................................................................. 163
5.5 Vorgehen bei der Datenanalyse ........................................................ 165

6 Ergebnisse ................................................................................................ 175


6.1 Individuelle Ausprägungen der Aneignung ....................................... 175
6.1.1 Entwicklung der Aneignung in der gesamten Stichprobe ......... 176
6.1.2 Differenzierung nach soziodemographischen Merkmalen ........ 180
6.1.3 Resümee .................................................................................... 185
6.2 Zusammenwirken der Faktoren des MPA-Modells ........................... 186
6.2.1 Einfluss auf Nutzung................................................................. 187
6.2.2 Einfluss auf Relevanz- Normen- und Restriktionsbewertung ... 192
6.2.3 Resümee .................................................................................... 200

Inhalt 9

6.3 Arenen des Aushandelns von Aneignung im Netzwerk ...................... 204


6.3.1 Homogenität der Aneignung im Rahmen sozialer Gruppen ..... 205
6.3.2 Homogenität im Verlauf ........................................................... 212
6.3.3 Resümee .................................................................................... 214
6.4 Persönlicher Einfluss beim Aushandeln von Aneignung
im Netzwerk ....................................................................................... 216
6.4.1 Besondere Aneignung bei Meinungsführern............................. 216
6.4.2 Persönlicher Einfluss in Netzwerken ........................................ 221
6.4.3 Resümee .................................................................................... 227

7 Resümee und Ausblick ........................................................................... 231

Literatur .......................................................................................................... 243

Anhang ............................................................................................................. 265


Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 265
Tabellenverzeichnis .......................................................................... 266
Fragebogen (Nutzer, 1. Welle).......................................................... 268
Tabellen ............................................................................................ 281
1 Einleitung

„If a man can write a better book, preach a better sermon or make a better mouse-
trap than his neighbor, though he builds his house in the woods, the world will make
a beaten path to his door.”
Ralph Waldo Emerson, 1803-1882 (nach Shapiro & Epstein, 2006)

Dieses viel zitierte Motto soll der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt die-
nen, und zwar in dem eigentlichen Wortsinne, dass wir es mit fortschreitendem
Gedankengang immer weiter hinter uns lassen. Eine überlegene Idee, so prophe-
zeit Emerson, wird früher oder später ihre Anhänger finden und letztlich der
Gesellschaft ihre eigene Prägung geben. Die Beliebtheit des Spruchs unter politi-
schen Reformern wie auch unter Management-Gurus bis in die heutigen Tage
hinein zeigt, dass die hier zum Ausdruck gebrachte Ansicht unter Praktikern
noch immer Einfluss hat (M. L. King, 2000; Wellman, 1997; Reilly, 2003).
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts fasste aber – zunächst unter den
Pionieren der Sozialwissenschaft – die Feststellung Fuß, dass nicht jede überle-
gene Neuerung sich später auch tatsächlich durchsetzt: Manche vielversprechen-
de Idee schien schlicht zu versanden – etwa durch die Unkenntnis auf Seiten der
potentiellen Übernehmer oder durch innovationsfeindliche soziale Normen. Es
war der französische Soziologe Gabriel de Tarde, der dieses aus Reformersicht
lästige Phänomen zu einem eigenständigen Gegenstand der Forschung erklärte:
„Warum gibt es unter hundert gleichzeitig ausgedachten Innovationen – seien sie
Ausdrucksformen, mythologische Ideen, Industrieverfahren oder andere – nur
zehn, die sich in der Öffentlichkeit nach dem Vorbild ihrer Erzeuger verbreiten,
und neunzig, die in Vergessen verbleiben? Hier liegt das Problem“ (de Tarde,
2003 [1890], S. 123).
Mit dieser Frage stieß de Tarde ein Forschungsprojekt an, das nach mehr als
hundert Jahren heute noch aktuell ist und nicht aufhört, sich weiter zu entwi-
ckeln: Es geht darum, die Entwicklung neuer Ideen und Produkte jenseits der
Türschwelle des Erzeugers nachzuvollziehen.
Auf der Suche nach einer Antwort haben verschiedene Disziplinen sich da-
ran gemacht, die Verbreitung von Innovationen unter Menschen zu untersuchen.
Die unterschiedlichen Heuristiken und Methoden dieser Disziplinen vereinte
Everett Rogers zu einer Diffusionstheorie (1962; vgl. Rogers, 1983; Rogers,
2003, 1995; Rogers & Shoemaker, 1971). Als gemeinsamen theoretischen Rah-
12 1 Einleitung

men für diese Integration setzte er das Bild von Diffusion als einem linearen
Kommunikationsprozess im Sinne des Lasswell’schen Kommunikationsmodells
durch. So wurde die Diffusionstheorie zu einem wichtigen Bestandteil des kom-
munikationswissenschaftlichen Fachkanons.
Im Zuge dieser Forschung wurde bald eine zweite Entdeckung gemacht, die
de Tarde mit seiner Frage nicht in Betracht gezogen hatte: Neben den 90 erfolg-
losen Innovationen und jenen zehn, die sich nach dem Vorbild ihrer Erzeuger
verbreiten, gibt es eine große Anzahl an Innovationen, die zwar Erfolg haben,
aber keineswegs im ursprünglichen Sinne des Erfinders. Sie setzen sich durch in
einer unerwarteten Form, die sich erst außerhalb der Entwicklungslabors durch
die Nutzer entwickelt: Ein Klebeband, das als solches versagte, erlebte eine Re-
naissance als PostIt (T. J. Peters & Waterman, 1982), Anrufbeantworter fanden
Verwendung als Anruffilter (Frissen, 2000) und ein schlichtes System zur Ver-
mittlung von Textbotschaften auf Mobiltelefonen wurde zum zentralen Kommu-
nikationsmittel unter Jugendlichen (Wirth, von Pape, & Karnowski, 2007, S. 79).
Mit den Jahren wurden auch über die klassische Diffusionstheorie hinaus
Ansätze zur Erforschung der weiteren Entwicklung von Innovationen hervorge-
bracht, die immer besser elaboriert waren: Im unmittelbaren Anschluss an die
Diffusionstheorie brachte die Analyse sozialer Netzwerke1 weitere Einsichten in
die Verbreitung von Innovationen von Mensch zu Mensch. In freier Anlehnung
daran half die sozialpsychologische Handlungstheorie bei der Erklärung indivi-
dueller Adoptionsentscheidungen. Weitgehend losgelöst von der Diffusionstheo-
rie brachte der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz Konzepte, auch unterschiedli-
che Nutzungen von Innovationen zu beschreiben.
Diese drei Ansätze stellen hoch entwickelte Forschungszweige einer stan-
dardisierten quantitativen Forschung dar, und sie haben dementsprechend extrem
valide und differenzierte Befunde vorgelegt. Die Ansätze selbst sind dabei ganz
unabhängig und gegeneinander isoliert. Das von ihnen zu erklärende Phänomen
dagegen ist ein Ganzes, in dem die von den verschiedenen Ansätzen beschriebe-
nen Aspekte zusammenhängen.
Dem gegenüber stehen Ansätze der qualitativen Forschung, die das empiri-
sche Phänomen der Verbreitung und Aneignung von Innovationen in seiner
Breite erforschten unter Konstellationen von Nutzern mit unterschiedlichen indi-
viduellen Merkmalen: Wie „domestizieren“ Übernehmer eine Innovation im
Rahmen ihrer Implementierung? Wie handeln Familien, Jugendcliquen, Arbeits-

1
Die geläufige Bezeichnung für den Ansatz ist „soziale Netzwerkanalyse“ als Übersetzung des
englischen Begriffs „social network analysis“. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend, da
das Adjektiv „sozial“ sich sinngemäß auf die Netzwerke bezieht und nicht auf die Analyse. Auf-
grund der weiten Verbreitung der Bezeichnung wird im Folgenden dennoch auch von „sozialer
Netzwerkanalyse“ gesprochen.
1 Einleitung 13

kollegen untereinander aus, in welchem „Rahmen“ und nach welchen „Spielre-


geln“ Innovationen genutzt werden? Hierzu wurden etliche Fallstudien erstellt,
die jeweils ein sehr plastisches Bild abgeben. Gerade aufgrund ihrer breiten
Aufstellung sind diese Ansätze allerdings nicht so weit standardisiert, dass man
aus ihren Befunden ohne Weiteres allgemeine Hypothesen ableiten könnte, die
empirisch zu testen wären.
Somit ist heute festzuhalten: Für die Erforschung der Frage, wie Innovatio-
nen sich nach Verlassen der Labors ihrer Erzeuger entwickeln, gibt es in der
quantitativen Forschung drei gegen einander isolierte Ansätze. In der qualitati-
ven Forschung gibt es jedoch zahlreiche Hinweise darauf, dass eine Integration
dieser Ansätze unsere Kenntnisse deutlich ausweiten würde.
Ein Versuch der Integration wurde in den letzten Jahren angegangen als
Teil des Forschungsprojekts „intermedia“2. Im Rahmen dieses Projekts entstand
auch die vorliegende Arbeit. Erste Schritte wurden getan mit der Entwicklung
eines integrativen Modells der individuellen Aneignung neuer Kommunikations-
dienste (Wirth, von Pape et al., 2007; Wirth, von Pape, & Karnowski, 2008),
einer Operationalisierung des Modells zu einer Skala und der Verwendung dieser
Skala zur Messung von Aneignungsmustern (von Pape, Karnowski, & Wirth,
2008). Einen weiteren Schritt soll die vorliegende Arbeit liefern: Sie überträgt
den integrativen Ansatz von der Ebene individueller Aneignung auf die Meso-
Ebene von Aneignungsprozessen in sozialen Netzwerken. Damit schafft sie eine
Verbindung mit der netzwerkanalytischen Diffusionsforschung.
Wie die Aneignungsskala von Wirth et al. (2008), so konzentriert sich auch
die vorliegende Arbeit auf die Innovation des Mobiltelefons. Genauer gesagt
geht es um die Aneignung des Mobiltelefons durch Jugendliche. Dieser Gegen-
stand ist für die Forschungsfrage idealtypisch, denn die Dynamik von Diffusion
und Aneignung ist hier in höchstem Maße konzentriert an der Schnittstelle einer
schnelllebigen Technologie mit der dynamischen Alltagswelt Jugendlicher. Auch
die gesellschaftliche Relevanz der Frage tritt hier deutlich zutage. Soziale Beob-
achter fragen, welchen Einfluss die Technologie auf die Entwicklung Heran-
wachsender hat. Die wirtschaftlichen Akteure sehen die Jugendlichen als beson-
ders innovationsfreudige Konsumenten, deren Marktmacht beachtlich ist.
Am Beginn steht eine Einführung in den Untersuchungsgegenstand „Nut-
zung des Mobiltelefons durch Jugendliche“. Es folgt eine Aufarbeitung der theo-

2
„intermedia“ war ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der LMU München unter Beteili-
gung von Wirtschaftsinformatik, Informatik und Kommunikationswissenschaft. Die vorliegende
Studie entstand im Rahmen des Teilprojekts „Diffusion und Aneignung mobiler und interaktiver
Medienangebote“ unter Leitung von Prof. Dr. Werner Wirth. Das Projekt wurde gefördert vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (für eine Übersicht der Ergebnisse des
gesamten Projekts`, vgl. Hess, 2007).
14 1 Einleitung

retischen Entwicklung von der klassischen Diffusionsforschung über die drei


daran anknüpfenden Erweiterungen mit quantitativer Methodologie bis hin zu
den qualitativen Ansätzen. Der dritte Teil ist der Integration dieser Ansätze ge-
widmet. Dabei wird als erster Schritt das integrative Aneignungsmodell von
Wirth et al. vorgestellt (Wirth, von Pape et al., 2007). In einer Zusammenfassung
der theoretischen Übersicht werden anschließend die Grundlagen gelegt, um
Aneignung auch innerhalb sozialer Netzwerke zu verstehen und zu messen.
Schließlich werden aus den vorgestellten Ansätzen exemplarische Hypothe-
sen abgeleitet, die durch die geplante Integration erstmals überprüft werden kön-
nen.
Im methodischen und im empirischen Teil soll gezeigt werden, welche
Möglichkeiten sich ergeben, anhand des entwickelten Ansatzes das konkrete
Phänomen der Aneignung des Mobiltelefons unter Jugendlichen empirisch zu
erforschen. Neben einer eher explorativen und deskriptiven Darstellung von
Aneignungsprozessen im Netzwerk geht es hier insbesondere um ein Testen der
erarbeiteten Hypothesen.
Schließlich wird anhand der Ergebnisse der Ansatz mit seinen Stärken und
Einschränkungen diskutiert, und es werden weitere Entwicklungsperspektiven
skizziert.
2 Relevanz des Themas

Die vorliegende Studie soll beitragen zu einem besseren Verständnis der Ent-
wicklung von Innovationen nach dem Verlassen des Entwicklungslabors. Es geht
um Innovationen im Allgemeinen und Medieninnovationen im Besonderen, ganz
speziell aber um das Mobiltelefon in seiner Aneignung durch Jugendliche.
Ein pauschales gesellschaftliches Interesse an der Entwicklung von Innova-
tionen kann vorausgesetzt werden. Was das Thema für die Kommunikationswis-
senschaft bedeutet und worin die Relevanz des spezifischen Forschungsobjekts
„Aneignung des Mobiltelefons durch Jugendliche“ liegt, das bedarf noch einer
näheren Erläuterung.

2.1 Kommunikationswissenschaftliche Bedeutung der Entwicklung von


(Medien-)Innovationen

Zunächst soll erläutert werden, inwiefern die Frage der Diffusion und der weite-
ren Entwicklung von Innovationen allgemein für die Kommunikationswissen-
schaft relevant ist. Vom Allgemeinen zum Speziellen vordringend, schließt sich
die Frage an, warum sich die Kommunikationswissenschaft speziell mit der
Entwicklung von Medieninnovationen befassen sollte.
Eine sehr pragmatische Antwort auf die erste, allgemeinere Frage liefert
Elihu Katz (1999, S. 145). In einem theoretischen Grundsatzartikel konstatiert er
schlicht, die Kommunikationswissenschaft habe nun einmal heute die Rolle des
„custodian of diffusion theory and research“ übernommen, quasi die Vormund-
schaft für dieses verwaiste interdisziplinäre Forschungsprojekt, das von anderen
bereits lange aufgegeben ist: „Anthropology, archeology, and geography made
their bids rather long ago but withdrew“ (E. Katz, 1999, S. 145).
Will man sich mit dieser mehr moralischen Argumentation nicht zufrieden
geben, so findet man aber auch inhaltliche Gründe dafür, dass die Kommunika-
tionswissenschaft sich für Diffusionstheorie zuständig fühlen sollte: Als Everett
Rogers nämlich den Ansatz vereinte und ihn dem Fach zuordnete, geschah dies
aus der Erwägung heraus, dass Kommunikationswissenschaft die besten Konzep-
te und Methoden zur Untersuchung dieses Phänomen bereitstellt (Rogers, 1962;
vgl. Dearing & Singhal, 2006). So richtete er seine neue Theorie auch an Kon-
16 2 Relevanz des Themas

zepten der Kommunikationswissenschaft aus. Drei Gesichtspunkte dafür wurden


bereits erwähnt und werden an späterer Stelle weiter ausgeführt:
ƒ Rogers definiert Diffusion als Kommunikationsprozess: „Diffusion is the
process by which an innovation is communicated through certain channels
over time among the members of a social system“ (Rogers, 2003, S. 5 [Her-
vorhebung T. v. P.]).
ƒ Als theoretischen Kern und Leitlinie zur Strukturierung des Ansatzes wählt
er das S-M-C-R-E-Modell von Lasswell (1948; vgl. Schenk, 2002, S. 374).
ƒ In eben dieser Anlehnung an ein Kommunikationsmodell, das mit der Zeit
veraltet ist, liegt die Problematik der Diffusionstheorie im Umgang mit dem
Phänomen qualitativer Änderungen von Innovationen durch Übernehmer.
Damit liegt gerade hier aber auch die Chance, dass die Kommunikations-
wissenschaft mit neueren Modellen weiterhelfen kann.
Dass die Zuständigkeit der Kommunikationswissenschaft erhöht erscheint, wenn
es bei dem Objekt der Diffusion um Medien geht, liegt auf der Hand. Aber auch
der Verweis auf das Materialobjekt „Medieninnovationen“ kann noch nicht hin-
reichen: Selbst wenn das Fach sich für den Zustand von Medien in der Zukunft
interessieren sollte, bleibt die Frage, warum man ein Verständnis ihrer Entwick-
lung braucht, um diesen Zustand zu beschreiben.
Bereits die frühesten unter den Medienforschern haben Aussagen gemacht
zur Zukunft der Medien und daraus Schlussfolgerungen gezogen, ganz ohne den
Prozess von deren Entwicklung zu berücksichtigen. Dies reicht aber nicht. Zur
Erläuterung kann man zurückgreifen auf die wohl früheste Medieninnovations-
Theorie. Sie findet sich bei Platon: Im Phaidros-Dialog berichtet Sokrates von
einem Streitgespräch zwischen dem Pharao Thamon und dem Erfinder der
Schrift, Theut, über Nutzen und Nutzungen dieser Innovation (Platon, 2004).

„‘Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher,
denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden.‘ Jener aber
habe erwidert: ‚O kunstreichster Theuth, einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans
Licht zu gebären; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen
bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben
aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung
wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung
des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermit-
tels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern wer-
den.‘“

Platons Text umfasst zwei Zeitebenen, die jeweils für bestimmte kommunikati-
onswissenschaftliche Sichtweisen auf Medien stehen:
2.1 Kommunikationswissenschaftliche Bedeutung 17

ƒ Die Sichtweise von Sokrates und Phaidros stammt aus einer Zeit, da das
Medium (Schrift) gut etabliert ist. Die meisten Ansätze der empirischen
Nutzungs- und Wirkungsforschung befassen sich mit etablierten Medien,
etwa den klassischen Massenmedien. Typische Fragen zielen hier auf den
Einfluss von Fernsehen und Printmedien auf den einzelnen Nutzer (z.B.
Gewaltforschung) oder auf die Gesellschaft (z.B. Agenda-Setting) (Bonfa-
delli, 2004).
ƒ Die Sichtweise von Theut und Thamos stammt aus einer Zeit, als die Schrift
noch keine Verbreitung gefunden hatte. Ihre Prognosen über die Nutzungs-
weisen und Wirkungen der Schrift extrapolieren sie von den Eigenschaften,
die sie dem Medium zuschreiben in Verbindung mit ihrem eigenen Men-
schenbild und vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung mit anderen Medien.
Diesem Vorgehen entsprechen historische Medientheorien, die – wie zum
Beispiel Harold Innis – den Medien eine ganz eigene, wesenhafte „Ten-
denz“ („Bias“) zuschreiben (Innis, 1991 [1951]). Einmal etabliert, würden
die Medien dann unweigerlich der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken.
In der Kommunikationswissenschaft hat sich aber noch eine dritte Perspektive
herausgebildet, die bei Platon nicht angesprochen wird: Es ist zu fragen, nach
welchen Regeln sich die Innovation vom Moment ihrer ersten Nutzung bis hin
zu ihrer Verbreitung und Institutionalisierung entwickelt (Rogers, 2003; Silver-
stone, 2006; O. Peters & Ben Allouch, 2005; Höflich, 1998; V. Venkatesh, Mor-
ris, Davis, & Davis, 2003; Valente, 2006; vgl. für eine Übersicht Karnowski, von
Pape, & Wirth, 2006). Für Platon, der sich für das Wesen der Dinge interessierte
– ihre ουσια ҟ – erschien eine solche Frage des Werdens wohl unbedeutend, denn
sie richtet sich auf eine bloße Übergangsphase, an deren Ende sich alles im
prognostizierten Sinne einpendelt. Gerade diesem Werden, diesem Übergang gilt
in der heutigen Kommunikationswissenschaft aber eine wachsende Aufmerk-
samkeit, und zwar aus zwei Gründen:
ƒ Der Übergang ist ein permanentes Grundphänomen: Seit dem 19. Jahrhun-
dert haben mediale Innovationen einander in immer schnelleren Zyklen ab-
gelöst – von der Fotografie über das Radio bis zum mobilen Internet.
ƒ Der Anschein, dass sich am Ende einer Übergangsphase die Dinge in einem
irgendwie vorgezeichneten Sinne „einpendeln“, dürfte trügen: Die Dynamik
des Wandels hat vielmehr ihre eigenen Gesetze: Im Zuge ihrer Verbreitung
kann eine Innovation ihren Charakter radikal ändern. Diesen Wandel selbst
zu verstehen, darum geht es.
Die Nachfolger des Pharaos Thamon in der heutigen demokratischen sozialen
Marktwirtschaft sind politische und ökonomische Akteure, aber auch Individuen,
die über ihre eigene Mediennutzung reflektieren. Als Grundvoraussetzung für die
Einschätzung möglicher Konsequenzen neuer Medien werden diese Nachfolger
18 2 Relevanz des Themas

zunächst nach den Entwicklungsmöglichkeiten dieser Medien fragen. Dabei


werden sie sich vermutlich an die Kommunikationswissenschaft wenden. In der
Politik werden immer wieder Prognosen benötigt als Grundlage für Entschei-
dungen, etwa für Europa der Bangemann-Report zur Informationsgesellschaft
(Bangemann, 1994) oder für Frankreich der auch international wahrgenommene
Nora-Minc-Report zur Informatisierung der Gesellschaft (Nora & Minc, 1979;
vgl. Latzer, 1997). Aber auch die alltägliche Arbeit staatlicher Einrichtungen –
etwa im Rahmen der Sozialarbeit (V. Meyer, 2004) – ist auf verlässliche Ein-
schätzungen zur Entwicklung neuer Medien angewiesen. So kann man über die
Medien gerade zum Thema „Mobiltelefon“ eine lebendige Debatte verfolgen
unter Politikern wie Lehrern und Sozialarbeitern zu Themen wie „Schuldenfalle
Handy“ (Mitteldeutscher Rundfunk, 2003; Schwarz, 2004), „Gewaltfilme auf
dem Handy“ (Bayerischer Landtag, 2005), „Verhunzung der Sprache durch
SMS“ (Frean, 2006) und Ähnliches.
Bei den ökonomischen Akteuren ist der Entscheidungs- und Handlungs-
druck noch größer. Eine Investition in ein vielversprechendes Angebot muss
möglichst frühzeitig erfolgen. Das Risiko, das man dabei eingeht, ist aber erheb-
lich. Die Gewinne von Akteuren wie „Youtube“ und „Google“ zeigen, welche
Chancen bestehen. Auf der anderen Seite zeigen die Verluste bei UMTS-
Lizenzen sowie die Probleme der Musikindustrie die Gefahren auf (Leyshon,
French, Thrift, Crewe, & Webb, 2005; de Marez & Verleye, 2004).
Das Individuum schließlich ist als Wähler und als Konsument immer wieder
vor die Entscheidung gestellt, auf die eine oder andere Vision – auf das eine oder
andere Angebot – zu setzen.
Um für Anfragen von diesen Seiten gerüstet zu sein, kann sich die Kommu-
nikationswissenschaft nicht auf das Extrapolieren von Prognosen aus Betrach-
tungen des Wesens von Innovationen und Nutzern beschränken. Sie muss auch
die Dynamik, die in diesem Entwicklungsprozess steckt, als solche verstehen.
Hier liegt die Bedeutung dieses Ansatzes: Er ist eine Vorbedingung, um die
zukünftigen Bedeutungen, Chancen und Risiken neuer Medien abschätzen zu
können.
Um welche Bedeutungen, Chancen und Risiken es gehen kann, das wird an-
schaulich am konkreten Forschungsobjekt dieser Studie, nämlich der Aneignung
des Mobiltelefons durch Jugendliche.

2.2 Gesellschaftliche Bedeutung der Aneignung des Mobiltelefons durch


Jugendliche

Betrachtet man das ganz konkrete Phänomen der Ausbreitung des Mobilfunks
unter Jugendlichen, so konkretisieren sich die im Vorkapitel erwähnten Frage-
2.2 Gesellschaftliche Bedeutung 19

stellungen. Die Bedeutung des Mobiltelefons für Jugendliche wird zunächst


eingeschätzt anhand quantitativer und qualitativer Indikatoren, dann wird sie
erläutert vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Jugendalters und der
heutigen Gesellschaft.

2.2.1 Umfang und Dimensionen der Handynutzung durch Jugendliche

Die Wichtigkeit des Mobiltelefons für Jugendliche lässt sich festmachen schon
an rein deskriptiven Daten zum Besitz und zur Nutzung. Laut der repräsentativen
Studie Jugend, Information, (Multi-)Media (JIM) 2007 (Feierabend & Rathgeb,
2007) war das Mobiltelefon im Sommer 2007 das unter den 12- bis 19jährigen in
Deutschland am weitesten verbreitete elektronische Medium. Mit einer Quote
von 94 Prozent Handybesitzern liegt es weit vor klassischen Unterhaltungsme-
dien wie dem Radio (78%) oder dem Fernseher (67%). Selbst in der jüngsten
Gruppe der 12- bis 13jährigen verfügen 85 Prozent über ein eigenes Gerät. Mit
ca. 20 Euro im Durchschnitt für Handydienste geben sie mehr als ein Fünftel
ihres Taschengelds aus (107 Euro bei Jungen, 86 Euro bei Mädchen; Feierabend
& Rathgeb, 2007, S. 68). Zwei Drittel der Jugendlichen nutzen ihr Handy täglich
und über 80 Prozent mehr als einmal pro Woche (Feierabend & Rathgeb, 2007).
Die Verwendung des Mobiltelefons beschränkt sich dabei schon lange nicht
mehr auf das Telefonieren und das Versenden von SMS-Kurzmittteilungen.
Beinahe die Hälfte der Jugendlichen nimmt auch mehrmals pro Woche Fotos
oder Filme auf, 30 Prozent verschicken von ihrem Handy aus Musik in Form von
MP3-Dateien (meist über die kostenfreie Bluetooth-Technologie, teilweise auch
per MMS). Ein Viertel verschickt auf diesem Weg Fotos oder Videos. Handy-
spiele sind für jeden siebten Jugendlichen regelmäßiger Bestandteil des Alltags,
das Radiohören für jeden zehnten. Nur das Surfen im Internet und das Fernsehen
können noch als marginal angesehen werden (Feierabend & Rathgeb, 2007) (vgl.
Abbildung 1).
20 2 Relevanz des Themas

100%
Anteil der 12- bis 19jährigen

90%
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%

Nutzung mehr als wöchentlich

Abbildung 1: Nutzung von Handy-Funktionen durch Jugendliche 2007

Auch der Stellenwert des Handys in der Anschlusskommunikation der Jugendli-


chen ist beträchtlich: Im Jahr 2005 gaben 34 Prozent an, mehrmals pro Woche
mit Freunden über „Handys“ mit ihren unterschiedlichen Diensten und Funktio-
nalitäten zu reden. Damit lag das Mobiltelefon auch in der Anschlusskommuni-
kation vor vielen klassischen Massenmedien wie Zeitschriften (30%), Zeitungen
(29%), Radio (14%) und Büchern (10%). Allein dem Leitmedium Fernsehen
(50%) stand es nach (Feierabend & Rathgeb, 2005)3.
Die Bedeutung zeigt sich schließlich auch in den Befunden vieler qualitati-
ver Studien. Diese ziehen nicht Nutzungsfrequenzen als Maßstab heran, sondern
sie fragen nach dem Sinn und den Funktionen, die Jugendliche der Technologie
zuweisen. Schon zu einer Zeit, da die Nutzung sich fast noch auf das Telefonie-
ren und das Versenden von Kurzmitteilungen beschränkte, beschrieb der norwe-
gische Soziologe Richard Ling (Ling & Yttri, 2002; Ling, 2004) zwei grundle-

3
Vergleichsdaten aus den späteren Jahren liegen leider nicht vor.
2.2 Gesellschaftliche Bedeutung 21

gende Funktionen des Mobiltelefons für die Koordination des Alltags von Ju-
gendlichen:
„Micro-coordination“ ist die ganz pragmatische Organisation des Alltags-
lebens: Man fühlt per SMS bei den Freunden vor, ob sie Zeit und Lust haben,
etwas zu unternehmen, man verabredet sich spontan im Laufe eines Abends, man
nutzt das Mobiltelefon, um bei Verabredungen vor Ort zusammenzufinden, oder
man ruft die Eltern an, wenn man mit dem Auto irgendwo abgeholt werden
möchte. Häufig handelt es sich dabei um eine ganz konkrete geographische und
zeitliche Positionierung und Abstimmung mit den Freunden oder auch mit den
Eltern (Ling & Yttri, 2002).
Gleichzeitig betreiben die Jugendlichen aber auch eine symbolische, soziale
Positionierung, die sogenannte „hyper-coordination“. „That is, in addition to the
simple coordination of where and when, the device is employed for emotional
and social communication”(Ling & Yttri, 2002, S. 140). Die Art, in der das Mo-
biltelefon dabei zum Einsatz kommt, ist ganz unterschiedlich. Etliche qualitative
Studien belegen dies. Taylor und Harper etwa berichten von Jugendlichen, die
ihren besten Freunden oder Partnern regelmäßig ritualisierte SMS-
Kurzmitteilungen schicken, um ihnen ihre Wertschätzung zu bekunden (Taylor
& Harper, 2003). Das gezielte Ignorieren von Kurzmitteilungen einer Schulka-
meradin dagegen ist ein Zeichen der Abgrenzung (von Pape, Karnowski, &
Wirth, 2006a), genau wie das Nichtherausrücken der eigenen Telefonnummer
(Licoppe & Heurtin, 2001). Auch für die „hyper-coordination“ sind neben den
Freunden die Eltern wichtige Partner. Hier ist die symbolische Bedeutung aller-
dings ambivalent: Einerseits bedeutet das Mobiltelefon Unabhängigkeit von den
Eltern, andererseits stellt es eine verlängerte Nabelschnur zu ihnen dar (O. Mar-
tin & de Singly, 2000; C. Martin, 2003). Auch die Herausbildung eines gemein-
samen Kommunikationscodes in Form einer stilisierten gemeinsamen SMS-
Sprache oder eines Systems von Anklopf-Signalen, das Verbindungskosten um-
geht, bedeuten gleichzeitig eine Affirmation sozialer Beziehungen und eine Ab-
grenzung gegenüber anderen (Androutsopoulos & Schmidt, 2002; Ling & Yttri,
2002; Weilenmann, 2001; Oksman & Rautiainen, 2003; Höflich & Gebhardt,
2003). Neue multimediale Funktionalitäten von Klingeltönen und Logos über
Fotos, Videos, Spiele und die aus dem Internet bekannten „Messenger“ fürs
Handy stellen weitere Ressourcen für die „hyper-coordination“ bereit (von Pape
et al., 2006a; vgl. Koskinen, 2007). So beschreibt Rivière (2005), wie die „Ka-
mera“-Funktion des Mobiltelefons durch die Erzeugung und Konservierung
geteilter Momente neue Möglichkeiten zur Artikulation und Festigung von
Freundschaft bietet, und Döring (Döring, 2002) führt aus, wie Logos und Klin-
geltöne genutzt werden zur Darstellung sozialer Zugehörigkeit und zur sozialen
Abgrenzung.
22 2 Relevanz des Themas

Diese Befunde mögen erklären, warum das Mobiltelefon mit seinen ver-
schiedenen Funktionen gerade unter Jugendlichen so beliebt ist.
Will man die Technologie nicht einfach als „Modeerscheinung“ abtun – für
die Jugendliche nun einmal besonders anfällig seien –, so muss man nach einer
Erklärung suchen, die zurückgreift auf die speziellen Rahmenbedingungen der
Sozialisation der heutigen Jugendlichen.

2.2.2 Bedeutung des Mobiltelefons für die Sozialisation von Jugendlichen

Sozialisation bedeutet im weitesten Sinne die Entwicklung des Individuums zu


einem gesellschaftlichen Wesen (Hurrelmann, 2006; Durkheim, 1972; Geulen &
Hurrelmann, 1980; Fend, 1990; Faulstich-Wieland, 2000; Tillmann, 2006; Zim-
mermann, 2006). Der Terminus „Sozialisation“ hat aber von seinem Ursprung
bis heute einen Bedeutungswandel erfahren. Geprägt wurde er von Durkheim
(1972 [1922]) im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie junge
Menschen durch Erziehung zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft werden
können. Hier beinhaltete der Begriff zunächst eine „Vermittlung der Gesell-
schaftsstruktur in das Innere des Individuums“ (Baumgart, 1997). Die heutigen
westlichen Gesellschaften sind aber in wesentlich höherem Maße plural und
dynamisch geprägt als Durkheims Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Die
von Durkheim propagierte feste, von außen geleitete Implementierung einer
Gesellschaftsstruktur in das Denken und Handeln des Individuums würde heut-
zutage nicht mehr greifen, da nämlich der Mensch in wesentlich stärkerem Maße
gleichzeitig Anteil hat an unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen und
Teilgruppierungen (Hurrelmann, 2006; Veith, 2001; Geulen & Hurrelmann,
1980; Zimmermann, 2006). Ein Jugendlicher ist Mitglied nicht nur in Familie,
Peer-Gruppe und einem Klassenverband in der Schule. Gleichzeitig ist er auch in
Vereinen aktiv und ist verbunden mit globalen Ereignissen der Popkultur. Zwi-
schen diesen unterschiedlichen Rollen wechselt er in nicht gekannter Geschwin-
digkeit. So hat sich ein neues Verständnis von Sozialisation herausgebildet. Hur-
relmann (2006, S. 15-16) fasst es folgendermaßen zusammen:

„Sozialisation bezeichnet [...] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer bio-
logischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial hand-
lungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Ausein-
andersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die le-
benslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, in-
sbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Men-
schen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die
für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden“.
2.2 Gesellschaftliche Bedeutung 23

Mit dem Hinweis auf die „innere Realität“ und die „äußere Realität“ verweist
diese Definition auf psychologische und gesamtgesellschaftliche Herausforde-
rungen an den Sozialisationsprozess. Auf diese wird hier noch flankierend ein-
gegangen.

2.2.2.1 Psychologische Perspektive

Psychoanalytische Sozialisationstheorie kann vor allem Einblick geben in die


Entwicklung verborgener innerer Triebe des Individuums sowie in deren Ein-
fluss auf den Sozialisationsprozess (Oerter & Montada, 2002). Freud (1991)
sieht die entscheidenden Momente dieses Prozesses in der körperlichen und
geschlechtlichen Entwicklung des Kindes. Ausgehend von dieser Annahme be-
schreibt er stufenweise die psychosexuelle Entwicklung des Kindes bis zur Pu-
bertät.
Im Anschluss an Freud hat sich die psychoanalytische Sozialisationsfor-
schung zunächst auf das Kindesalter konzentriert. Eine verstärkte Hinwendung
zum Jugendalter setzte erst in den 1950er Jahren ein (A. Freud, 1958; E. H. Kap-
lan, 1988; Perret-Catipovic & Ladame, 1998; Greenspan & Pollock, 1980; Erik-
son, 2003; Erikson, 1966; Mertens, 1991; Blos, 1973). Als zentrale Antriebskraft
wird dabei – im Anschluss an Freuds Arbeit zum Kind – wiederum die physische
Entwicklung des Jugendlichen gesehen, insbesondere seine geschlechtliche Ent-
wicklung (K. Martin, 1996; Perret-Catipovic & Ladame, 1998).
So kann etwa die eigene Geschlechtsreife einen Anstoß geben zur Entideali-
sierung der Eltern, wenn nämlich der Jugendliche sich aufgrund seiner eigenen
Sexualität auch die Eltern als „nur“ geschlechtliche Wesen bewusst macht.
Gleichzeitig beginnt mit der Geschlechtsreife die Suche nach einem Ge-
schlechtspartner – in der Regel im weiteren Spektrum der Gleichaltrigen –, der
dann die Bedeutung der Eltern als Bezugspersonen weiter mindert (vgl. Mertens,
1991).
Die geschlechtliche Entwicklung der Pubertät läuft so hinaus auf eine
Schwächung der Sozialisationsinstanz „Eltern“ zugunsten der Gleichaltrigen.
Eine unvermittelte Zurückführung bestimmter Phänomene auf die physische
Entwicklung des Kindes wird von Sozialisationsforschern jenseits der Psychoa-
nalyse häufig als Überbetonung des Körpers kritisiert (Tillmann, 2006; Geulen &
Hurrelmann, 1980). Besonders attraktiv für andere Disziplinen wird die psy-
choanalytische Perspektive deshalb dann, wenn die physische und psychische
Entwicklung im Zusammenhang gesehen wird mit der sozialen Entwicklung.
Dies ist insbesondere der Fall bei der Sozialisationstheorie von Erikson (1966,
2003).
24 2 Relevanz des Themas

Eriksons (1966) acht „Stufen der psychosozialen Entwicklung“ umreißen


einen Prozess, der sich von der Kindheit fortsetzt bis ins hohe Erwachsenenalter.
Entscheidende Aufgabe für das Jugendalter ist die Herausbildung einer neuen
Identität. Ganz im Sinne Freuds führt Erikson (1966, S. 106) die Notwendigkeit
dieser sozialen Neupositionierung zurück auf die physische „Revolution“ im
Körper des Jugendlichen, welche die Geschlechtsreife darstellt.

„Die sich herauskristallisierende Ich-Identität verknüpft also die früheren Kindheits-


phasen, in denen der Körper und die Elternfiguren führend waren, mit den späteren
Stadien, in denen eine Vielfalt sozialer Rollen sich darbietet und im wachsenden
Maße aufdrängt“ (Erikson, 1966, S. 109).

Die Herausforderung in diesem Prozess liegt darin, dass die Identität bei dieser
Vielfalt sozialer Rollen nicht in die Beliebigkeit einer „Identitätsdiffusion“ zer-
fällt, aber auch nicht – wie Krappmann (1969) in Fortführung Eriksons darlegt –
in einer „Identitäts-Starrheit“ verharrt. Damit diese Herausforderung bewältig
werden kann, wird mit dem Jugendalter laut Erikson (2003; vgl. Lange &
Schorb, 2006; Zinnecker, 2000; Baake, 2003) ein „Moratorium“ eingeräumt, also
eine soziale „Auszeit“ zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Diese Zeit
bietet den Jugendlichen einen Freiraum zur Entwicklung, der von den Ansprü-
chen der Erwachsenenwelt abgeschirmt ist.
Bei welchen der Herausforderungen, denen sich Jugendliche im Rahmen ih-
rer Sozialisation aus einer psychologischen Perspektive heraus konfrontiert se-
hen, könnte ihnen nun das Mobiltelefon als Werkzeug nützlich erscheinen?
Zunächst ermöglicht es durch seine Optionen zur „micro-coordination“ die
ganz pragmatische Loslösung von den Eltern und eine stärkere Orientierung am
sozialen Umfeld der Gleichaltrigen: Die Freunde müssen nicht mehr bei den
Eltern anrufen, um sich zu verabreden. Zum anderen lassen Eltern ihre Kinder
vielleicht eher allein losziehen, wenn sie als Absicherung wissen, dass sie diese
im Notfall über das Mobiltelefon erreichen können. Darüber hinaus kommt das
Mobiltelefon mit seinen vielen Möglichkeiten zur „hyper-coordination“ dem
Bedürfnis entgegen, sich auch symbolisch unter den Gleichaltrigen zuzuordnen
bzw. abzugrenzen und Beziehungen aufzubauen und zu pflegen – nicht umsonst
ist das Flirten eine der beliebteren Nutzungsweisen der SMS unter Jugendlichen
(Höflich, 2001).
2.2 Gesellschaftliche Bedeutung 25

2.2.2.2 Gesellschaftsstrukturelle Perspektive

Sozialstrukturelle Ansätze stehen im klaren Gegensatz zur Psychoanalyse da-


durch, dass sie die entscheidenden Einflüsse auf Sozialisation Jugendlicher in
gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen suchen.
Der Ansatz, der in seiner Zeitdiagnose derzeit am meisten Zustimmung fin-
det, ist der der „reflexiven Moderne“ des Soziologen Ulrich Beck (1986). Dieser
greift selbst weniger auf Sozialisationstheorie zurück, andererseits ist er aber von
Sozialisationstheoretikern stark rezipiert worden (Tillmann, 2006; vgl. Heit-
meyer, 1995).
Ausgangspunkt ist bei Beck der Befund, dass die Moderne in eine neue
Phase eingetreten ist, in der sie sich neuartigen, selbst geschaffenen Herausforde-
rungen stellen muss (Tillmann, 2006, S. 259). Diese neue Phase bezeichnet er als
„Reflexive Moderne“: Die Herausforderung der Moderne lag zunächst in der
technischen und der ökonomischen Überwindung naturgegebener Mängel. Nun
aber – nach weitgehendem Erfolg in der Überwindung dieser Mängel – liegt sie
in der Bekämpfung der Nebenwirkungen der verwendeten technischen und öko-
nomischen Maßnahmen: „Es geht nicht mehr [nur] um die Nutzbarmachung der
Natur, um die Herauslösung des Menschen aus traditionalen Zwängen, sondern
[...] wesentlich um Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung
selbst. Der Modernisierungsprozeß wird ‚reflexiv‘, sich selbst zum Thema und
Problem“ (U. Beck, 1986, S. 26). Das klassische Beispiel, dem auch ein Teil des
Erfolgs von Becks Theorie zuzuschreiben ist, ist die Atomenergie: Nicht mehr
die Überwindung eines Energiemangels steht im Zentrum der Bemühungen,
sondern die Nebenwirkungen unserer Methoden zur Energiegewinnung. Beck
betont, dass diese Nebenwirkungen insbesondere Risiken beinhalten. Deshalb
spricht er von einer „Risikogesellschaft“.
Die Konsequenzen, die sich daraus für die Sozialisation Jugendlicher erge-
ben, muss man als zwei Seiten einer Medaille ansehen:
Die Überwindung einschränkender Strukturen bedeutet eine Entstrukturie-
rung auch im Hinblick auf den Sozialisationsprozess. Aufgrund einer gesell-
schaftlichen Umstrukturierung ist die Einbettung in bestimmte soziale Kontexte
deutlich reduziert. So hat etwa – gemäß Becks Theorie – das Verschwinden der
Industriearbeit im Zuge der Modernisierung zur Auflösung bestimmter Schicht-
Unterschiede geführt, und die Erfindung der Anti-Baby-Pille hat beigetragen
zum Ende der klassischen Familienstruktur. Darunter haben auch implizite und
explizite Strukturen gelitten wie klassische schichtspezifische Lebensläufe und
entsprechende soziale Institutionen (Vereine, Kirchen usw., aber auch die Fami-
lie).
26 2 Relevanz des Themas

Dies lässt sich teilweise auch empirisch belegen. Dass die Familie die pri-
märe Sozialisationsinstanz ist, das ist – besonders in der klassischen Form (El-
tern mit mehreren Kindern) – heute weitaus seltener als noch vor 30 Jahren.
Dafür sind alleinerziehende Väter und Mütter weit häufiger vertreten. In den
Haushalten, in denen Kinder unter 18 leben, hat das Modell „Ehepaar mit Kin-
dern“ deutlich abgenommen, in den alten Bundesländern von 93,4 Prozent im
Jahre 1974 auf 83,9 Prozent im Jahr 2000. Gleichzeitig hat hier der Anteil von
ledigen und getrennt lebenden Vätern und Müttern zugenommen von 4,1 auf
14,8 Prozent. Die Tendenz hat sich in den letzten Jahren weiter fortgesetzt, so
dass nach den Daten des Mikrozensus 2006 in Deutschland insgesamt ein Viertel
der Haushalte mit Kindern alternative Familienformen darstellten, in den neuen
Ländern sogar 42 Prozent (Radermacher, 2007).
Bei den übrigen klassischen Sozialisationsinstanzen sieht das Bild gemischt
aus: Kirchen, Parteien und Gewerkschaften melden weiterhin einen Mitglieder-
schwund. Neue Organisationsformen etwa im Bereich neuer Sportarten erfreuen
sich dagegen großer Beliebtheit. Die Gesamttendenz geht dahin, dass die tiefe,
wert- und milieugebundene Integration in Vereinen nachgelassen hat zugunsten
von eher spontanen, situationsabhängigen aber darum nicht weniger aktiven
Teilnahmen und Engagements (Keupp et al., 2003).
Mit den beschriebenen Auflösungserscheinungen einher geht die Individua-
lisierung:

„Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus
vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Auf-
gabe in das individuelle Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prin-
zipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab und die Antei-
le der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Indivi-
dualisierung von Lebensläufen heißt also hier [...]: sozial vorgegebene Biographie
wird in selbst hergestellte und herzustellende transformiert, und zwar so, daß der
einzelne selbst zum ‚Gestalter seines eigenen Lebens‘ wird und damit auch zum
‚Auslöffler der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat‘“ (Beck, 1983, S. 58-59).

Gerade diese Diagnose wird von Sozialisationsforschern aufgegriffen und geteilt.


Nach Krappmann (1997, S. 80) ist die Gesellschaft gezeichnet durch „Auflösung
traditionaler Rollen, Entnormativierung, Wertewandel, Unübersichtlichkeit,
Pluralisierung, Individualisierung“.
Diese Entwicklung könnte eine Tendenz zur Vereinzelung bedeuten: Man
ist dazu verurteilt, sich seine Beziehungen und normativen Orientierungen selbst
zu suchen, diese gehen nicht mehr „automatisch“ einher mit der sozialen Her-
kunft. Andererseits stehen Möglichkeiten bereit in einer Breite, die in der Ge-
schichte noch nie dagewesen ist. Das ist die positive Seite der Medaille.
2.3 Resümee 27

Aus diesen Deutungen ergibt sich auch eine Erklärung für den Erfolg neuer,
digitaler Medien wie Internet und Mobiltelefon: Sie bieten ungeahnte Möglich-
keiten, als „Gestalter seines eigenen Lebens“ aktiv zu werden – etwa in Form
von Blogs und sozialen Netzwerkangeboten im Internet, aber auch in Form mo-
biler Kommunikation. Die wachsende Bedeutung dieser Möglichkeiten betonen
van Dijk (2005), Castells (2000) und Campbell (Campbell & Park, 2008), indem
sie das Aufkommen einer „Network Society“ bzw. einer „personal communica-
tion society“ voraussagen.
Wellman (1997; vgl. Wellman et al., 2005) und Diewald (1991) beschreiben
die beiden Seiten der Medaille als eine Gleichzeitigkeit eines „Verlusts von Ge-
meinschaft“ und einer „befreiten Gemeinschaft“: Automatisch Mitglied ist man
in keiner Gemeinschaft, von allein gehört man nirgends dazu. Durch eigene
Initiative aber kann man fast überall Anschluss finden.
Sollten diese Zeitdiagnosen und Prognosen auch nur teilweise richtig liegen,
so wird im Zuge des gesellschaftlichen Wandels die Fähigkeit immer wichtiger,
neue Medien als Ressource der eigenen Sozialisation einzusetzen.
Das spielerische „Beziehungsmanagement“ Jugendlicher per Handy wäre –
im Zuge des „Moratoriums Jugend“ – eine wichtige Vorbereitung auf kommende
Herausforderungen der Sozialisation im Erwachsenenalter.

2.3 Resümee

Das Anliegen der vorliegenden Arbeit wurde bereits in der Einleitung umrissen:
Ganz allgemein geht es um die Dynamik der weiteren Entwicklung von Innova-
tionen in der Zeit, nachdem sie die Entwicklungslabors verlassen haben. Im
Besonderen geht es um die Entwicklung der Mobilkommunikation im Zuge der
Diffusion und der Aneignung durch Jugendliche.
In diesem zweiten Kapitel wurde die Bedeutung dieser Frage in ihrer allge-
meinen wie in ihrer speziellen Fassung auf zwei Ebenen erörtert:
ƒ Zum einen wurde die Zuständigkeit des Faches „Kommunikationswissen-
schaft“ für diesen Problemkreis aufgezeigt. Sie ergibt sich zunächst aus der
Tatsache, dass die Entwicklung neuer Kommunikationsdienste im Rahmen
der Diffusionstheorie als Kommunikationsprozess betrachtet wird. Die Zu-
ständigkeit ist noch erhöht dadurch, dass hier Medieninnovationen das Ob-
jekt der Diffusion oder Aneignung abgeben. Aus Sicht des Faches liegt ein
besonderes Interesse bei der Frage nach der Entwicklung von Medieninno-
vationen: Bloße Analogieschlüsse, die aus allgemeinen Eigenschaften der
Medien auf deren zukünftige Entwicklung und Ausbreitung schließen, rei-
chen – auch wenn sie sich auf Erfahrungen aus der Vergangenheit stützen –
allein nicht aus. Sie werden der Dynamik von Diffusions- und Aneignungs-
28 2 Relevanz des Themas

prozessen nicht gerecht, denn diese verlaufen keineswegs linear, sie folgen
vielmehr eigenen Gesetzen.
ƒ Zum anderen wurde die gesellschaftliche Relevanz der Frage nach der Ent-
wicklung von Medieninnovationen diskutiert anhand des Forschungsobjekts
„Mobilkommunikation unter Jugendlichen“. Quantitative und qualitative
Befunde zur Nutzung der Technologie durch Jugendliche dienten als Indi-
kator für die Relevanz aus der Perspektive der Jugendlichen selbst. Diese
Befunde könnte man noch damit abtun, dass es sich schlicht um ein Mode-
phänomen handelt, dem die Jugendlichen nun einmal erlegen sind, dem aber
keine tiefere Bedeutung zukommt. Um diesem Bedenken zu begegnen wur-
den soziologische und psychologische Theorien der Sozialisation herange-
zogen. Hier wird die besondere Nutzung des Mobiltelefons durch Jugendli-
che aus den spezifischen Herausforderungen des Heranwachsenden erklärt.
Ferner beschreiben makrogesellschaftliche Ansätze die spezifischen Vor-
aussetzungen für das Heranwachsen in einer individualisierten, technolo-
gisch vernetzten Gesellschaft. Deren Anforderungen zur ständigen An-
schlussfähigkeit und Selbstpositionierung kommt das Mobiltelefon entge-
gen.
Die Ausführungen zur Bedeutung des Themas dienen nicht allein einer Rechtfer-
tigung der Themenwahl durch Aufzeigen seiner Relevanz. Sie sollen vielmehr
auch Bedeutung vermitteln in dem Sinne, dass sie zeigen, welche Rolle das Mo-
biltelefon beim Heranwachsen heutiger Jugendlicher spielt. Die folgenden Kapi-
tel bewegen sich auf der abstrakteren Ebene von Diffusions- und Aneignungs-
prozessen von Medieninnovationen insgesamt oder Innovationen ganz allge-
mein. Der Hintergrund zur Rolle von Jugendlichen wird bei den Forschungsfra-
gen, Methoden und Ergebnissen aber immer wieder als zusätzliche Verständnis-
ebene herangezogen.
3 Stand der Forschung

Die vorliegende Studie gilt einem besseren Verständnis der Entwicklung von
Innovationen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie in Nutzerhand übergehen. Auf dieses
Ziel hin ist auch der folgende Überblick über den Forschungsstand ausgerichtet.
Vier Phasen lassen sich in der bisherigen Forschung ausmachen:
Zu Beginn untersuchten verschiedene Disziplinen – von der Anthropologie
bis hin zur Landwirtschaftssoziologie – getrennt von einander die Verbreitung
von Innovationen im Rahmen ihres jeweiligen Forschungsfelds (vgl. für eine
Übersicht Rogers, 2003, S. 39-101; E. Katz, Levin, & Hamilton, 1963).
Dann gründete Everett Rogers die „Diffusionstheorie“ als einheitliches For-
schungsprogramm im Rahmen der Kommunikationswissenschaft (Rogers, 1962,
1983, 2003, 1995; Rogers & Shoemaker, 1971). Sein Ansatz ist bis heute der
Referenzpunkt für jede sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Thema. Die besondere Herausforderung lag für Rogers zunächst in der Hetero-
genität der bestehenden Befunde. Er bemühte sich, diese zu allgemeinen Aussa-
gen zu generalisieren. Dabei zeigte sich aber, dass die Diffusionstheorie auf
theoretische und methodische Erweiterungen von außen angewiesen war.
In einem dritten Stadium haben diese Erweiterungen die bestehenden Kon-
zepte, Methoden und Befunde der Diffusionstheorie weiter vorangetrieben auf
der Basis quantitativer wie qualitativer Methodologie. Der Rückgriff auf den
Ansatz selbst war dabei keineswegs immer sehr direkt. Als quantitative Ansätze
mit standardisierten Methoden taten sich besonders hervor die sozialpsychologi-
schen Handlungstheorien im Anschluss an die „Theory of Reasoned Action“ (V.
Venkatesh et al., 2003; vgl. Fishbein, 1980), die Analyse sozialer Netzwerke
(Rogers & Kincaid, 1981; Valente, 2006; vgl. Wassermann & Faust, 1994) und
der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz (O. Peters & Ben Allouch, 2005; vgl. E.
Katz, Blumler, & Gurevitch, 1974). Als qualitative Ansätze waren es insbeson-
dere die „Cultural Studies“ (Silverstone & Haddon, 1996; vgl. Hall, 1980; de
Certeau, 1988), die „Rahmenanalyse“ (Höflich, 2003; vgl. Goffman, 1974) so-
wie die sozialkonstruktivistische Techniksoziologie (Bijker, Hughes, & Pinch,
1987; Williams & Edge, 1996; Latour, 2005; DeSanctis & Poole, 1994).
Diese Initiativen bleiben aber – ähnlich den frühesten Theorien der Diffusi-
onsforschung – weitgehend isoliert. Deshalb wurde in den letzten Jahren ein
Ansatz zu ihrer Integration entwickelt. Hierin kann man die vierte Entwick-
lungsphase sehen. Eine erste Verbindung der Diffusionstheorie und ihrer Erwei-
30 3 Stand der Forschung

terungen qualitativer wie quantitativer Ausrichtung leistete das integrative Mo-


dell zur Aneignung des Mobiltelefons („Mobile Phone Appropriation Model“
bzw. „MPA-Modell“) (Wirth, von Pape et al., 2007; Wirth et al., 2008). Dieser
Ansatz beschränkt sich auf die Mikroebene individueller Nutzer. Auf dieser
Ebene kann er aber manchen Aspekten der Aneignung von Innovationen nicht
gerecht werden. Aneignung wird nämlich sozial ausgehandelt, und dieses Aus-
handeln spielt sich eher auf der Meso- oder der Makroebene ab. Andererseits
liegen aber mit dem „Mobile Phone Appropriation“-Modell und der Analyse
sozialer Netzwerke sämtliche Elemente bereit für eine Erforschung von Aneig-
nungsprozessen auf der Mesoebene sozialer Netzwerke. Das ist im Weiteren zu
zeigen.
Die nachfolgende Zusammenfassung zur „Vorgeschichte“ der Diffusions-
theorie hält sich ganz im Rahmen von Rogers‘ Integrationsbemühungen. Im
Anschluss werden die Erweiterungen dargestellt. Ein Blick auf den Stand der
Integration legt dann die Voraussetzungen für den nächsten Integrationsschritt
offen, der in dieser Arbeit erst noch angegangen werden soll.

3.1 Klassische Diffusionstheorie

Ein theoretischer Ausgangspunkt der Diffusionsforschung – ein Punkt, von dem


aus der Ansatz selbst diffundiert wäre – ist schwerlich auszumachen (E. Katz et
al., 1963). Vielmehr speist sie sich aus mehreren Traditionen, die sich seit Be-
ginn des zwanzigsten Jahrhunderts unabhängig voneinander mit Phänomenen der
Diffusion auseinandersetzten. Hier sind zu nennen: Soziologie (de Tarde, 2003
[1890]), Anthropologie (Wissler, 1914), Erziehungswissenschaft (Mort, 1957),
Geographie (Hägerstand, 1952) und Kommunikationswissenschaft (Deutsch-
mann, 1963; vgl. für eine Übersicht Rogers, 2003, S. 39-101; E. Katz et al.,
1963; von Pape, 2008). Sollte man unter diesen parallelen Vorläufern einen
„primus inter pares“ benennen, so käme die Ehre wohl dem Soziologen Gabriel
de Tarde zu. Er hat als erster die in der Einleitung zitierte Grundfrage der Diffu-
sionstheorie formuliert, darüber hinaus hat er auch bereits entscheidende Ele-
mente wie den Einfluss von Meinungsführern und den s-förmigen Verlauf der
Diffusionskurve aufgewiesen (de Tarde, 1895, 2003(1890), 1902; vgl. E. Katz,
1999; Kinnunen, 1996; Rogers, 2003, S. 41-42).
Wenn aber die Arbeiten von de Tarde und anderen Pionieren heute über-
haupt im Rahmen von Diffusionstheorie angeführt werden, so nur deshalb, weil
deren Ideen von Everett Rogers gebündelt und weiterentwickelt wurden zu ei-
nem der einflussreichsten Zweige der kommunikationswissenschaftlichen Theo-
rie. Vor diesem Hintergrund ist als Prämisse für die Darstellung der Diffusions-
theorie davon ausgegangen worden, dass der entscheidende Beitrag für deren
3.1 Klassische Diffusionstheorie 31

Erfolg in Rogers‘ Konsolidierung liegt. Damit liegt auch der Schlüssel zum Ver-
ständnis dieses Ansatzes und seiner Fortführungen in der Arbeit von Rogers.
Im ersten Abschnitt werden zunächst die theoretischen Leitlinien vorge-
stellt, an denen sich Rogers bei der Integration des heterogenen Wissenstands zur
Diffusion von Innovationen orientierte. Eine Darstellung des metatheoretischen
Dachkonzepts, aus dem er den Geltungsanspruch und das methodologische Vor-
gehen ableitete, schließt sich an. Im zweiten Abschnitt wird dann eine Übersicht
gegeben über die Methoden, die im Rahmen der Diffusionstheorie zum Einsatz
kommen. Eine Zusammenstellung der empirischen Befunde und eine kritische
Bewertung des Ansatzes runden diesen Teil ab.

3.1.1 Theorie

Bei seinem Vorhaben, eine einheitliche Diffusionstheorie zu entwickeln und


fortzuschreiben, orientierte Rogers sich von Beginn an zwei Punkten: Einer ist
das Ideal einer „Theorie mittlerer Reichweite“ als metatheoretischer Anspruch an
das Integrationsprojekt. Der andere ist das Verständnis von Diffusion als kom-
munikativer Prozess. Damit bündelte und verschmolz Rogers die verstreuten
Ansätze zu einer kommunikationswissenschaftlichen Theorie.

3.1.1.1 Diffusionstheorie als Theorie mittlerer Reichweite

Schon Rogers‘ Dissertation – über die Diffusion eines neuen Sprühmittels und
einiger anderer landwirtschaftlicher Innovationen – umfasst vielerlei Hinweise
auf Innovationen aus anderen Disziplinen wie Erziehungswissenschaft, Medizin-
Soziologie und Marketing. Bei der Verteidigung seiner Schrift brachte das dem
damaligen Studenten den Vorwurf ein, er habe sich zu weit von seinem eigentli-
chen Thema entfernt und sich verstiegen in die Höhen einer allgemeinen Theorie
(vgl. Dearing & Singhal, 2006, S. 19). Später gab ihm der Erfolg gerade dieses
Kapitels Recht: Als eigenständige Publikation avancierte es zur ersten Ausgabe
von Rogers‘ späterem Standardwerk.
Nicht nur dem Vorwurf einer theoretischen Abgehobenheit sah sich Rogers
ausgesetzt. Gleichzeitig wollte er sich schützen vor dem Verdacht, sein Ansatz
sei zu wenig theoretisch und zu sehr „variablenfixiert“ (2006, S. 19). Entspre-
chende Vorhaltungen wurden in den 1960er Jahren im Anschluss an den Sozio-
logen Herbert Blumer (1956) gegenüber weiten Teilen der Sozialwissenschaft
erhoben. So wählte Rogers einen Platz in der Mitte zwischen beiden Polen: Er
bekannte sich zu dem Konzept Robert K. Mertons einer „Theorie mittlerer
32 3 Stand der Forschung

Reichweite“ (Merton, 1967) als Leitlinie für sein eigenes Forschungsprojekt


(vgl. Dearing & Singhal, 2006).
Seinen Ansatz charakterisierte er zusammen mit Shoemaker in der zweiten
Auflage von “Diffusion of Innovations” (Rogers & Shoemaker, 1971, S. 88):

„[O]ur theoretical basis must be specific enough to be empirically testable, and our
data must test theoretical hypotheses. Theory that cannot be tested is useless, and da-
ta not related to theoretic hypotheses become irrelevant”.

Soweit liegen Rogers und mit ihm die Diffusionstheorie ganz auf der Linie des
kritischen Rationalismus. Dieser war gerade erst im Begriff, das Selbstverständ-
nis der Sozialwissenschaft zu durchdringen. Die englische Fassung von Poppers
„Logik der Forschung“ war 1959 erschienen (Popper, 1959). In seiner Umset-
zung von Mertons Konzept verließ Rogers aber – so wird sich im Folgenden
zeigen – den Boden einer kritisch-rationalistischen Theorie wieder.
Eine ständig wachsende Zahl empirischer Studien drohte seinerzeit die Dif-
fusionsforschung zu überfordern. So erschien die Entwicklung eines theoreti-
schen Dachkonzepts zur Integration der bestehenden empirischen Forschung für
Rogers die dringlichste Aufgabe. Als Motto in der zweiten Auflage von “Diffu-
sion of Innovations” wählt er deshalb ein Dictum von McGrath und Altman, das
diese Notwendigkeit alarmierend verdeutlicht4: “The rate at which empirical
results have been adequately digested and integrated into theoretical formulati-
ons has not kept pace. If we continue to generate studies at even the present rate,
without a major ‘leap forward’ in terms of integrative theory, we shall drown in
our data” (vgl. McGrath & Altman, 1966, S. 9; Rogers & Shoemaker, 1971, S.
346). Rogers‘ Antwort auf diesen Missstand ist sein Integrationskonzept der
“Meta-Forschung” (Rogers & Shoemaker, 1971), hergeleitet aus Mertons Leitli-
nie einer “Theorie Mittlerer Reichweite”. Sein Vorgehen beschreibt Rogers all-
gemein als “the synthesis of empirical research results into more general conclu-
sions at a theoretical level” (Rogers, 1983, S. 130; vgl. Rogers, 1985). Ziel dabei
ist, ein Maximum an Befunden zur Verbreitung spezifischer Innovationen in-
haltsanalytisch auszuwerten und daraus Aussagen zu gewinnen, die für Innova-
tionen im Allgemeinen Gültigkeit besitzen. Um das umfangreiche Angebot und
die breite Vielfalt der zu integrierenden Studien bewältigen zu können, macht
Rogers zwei Zugeständnisse.
Erstens verzichtet er auf das Aufstellen komplexer Modelle. Stattdessen
fasst er seine Theorie in ein Bündel bivariater Aussagen. Zur Rechtfertigung
schreibt er:

4
Allerdings beziehen sich McGrath und Altman nicht auf Diffusionstheorie, sondern auf Klein-
gruppenforschung.
3.1 Klassische Diffusionstheorie 33

„We know, for example, that more innovative individuals are often of relatively
higher socioeconomic status, as are cosmopolites (...). Then should not social status
also be included in the innovativeness-cosmopoliteness generalization? Unfortunate-
ly, it cannot be. Most of the empirical diffusion studies reviewed in this book focus
upon only two-variable hypotheses, and we cannot summarize findings that do not
exist” (Rogers, 1983, S. 131).

Die Idee, die fehlenden Befunde aufzuarbeiten, liegt nahe. In Vorwegnahme


dieses Ansatzes zu einer Verbesserung artikuliert Rogers aber gleich im An-
schluss eine grundsätzliche Skepsis gegenüber komplexen Modellen: „Further,
the ability to understand three-variable, four-variable, and so on generalizations
usually suffers in direct proportion to the number of variables included“ (Rogers,
1985, S. 131; vgl. Rogers & Shoemaker, 1971; Schmidt, 1976; Schenk, 2002, S.
370-373).
Als zweites Zugeständnis an das Ziel, möglichst schnell möglichst viele Be-
funde zu integrieren, beschränkt Rogers sich darauf, die bestehende Literatur auf
ihre Ergebnisse hin auszuwerten. Die jeweilige Operationalisierung einzelner
Konstrukte oder die genaue Methodologie nimmt er nicht unter die Lupe. Ob
also „sozialer Status“ über den Beruf gemessen wurde oder über den Bildungs-
stand oder andere Indikatoren, das findet bei ihm keine weitere Berücksichtigung
(Rogers, 1983, S. 126-133; vgl. Rogers, 1985; Schmidt, 1976; Schenk, 2002).
Die so gewonnenen Befunde zu den verschiedenen bivariaten Generalisie-
rungen werden gesammelt in einem „Aussagen-Inventar“ („propositional inven-
tory“). Für jede Generalisierung wird dabei aufgelistet, wie viele Studien sie mit
ihren Befunden unterstützen und wie viele dagegen sprechen. Der Katalog im
Anhang der zweiten Auflage von „Diffusion of Innovations“ umfasst 103 Gene-
ralisierungen, von denen manche bereits auf über 200 Referenzstudien verweisen
können (Rogers & Shoemaker, 1971, S. 346-385).
Die empirischen Befunde in Verbindung mit dem Ausmaß an unterstützen-
den Ergebnissen erlauben schließlich, die „Validität“ einer Generalisierung zu
beurteilen: Je höher die Zahl der Befunde und je höher die Zustimmung, desto
höher ist die Gültigkeit einzustufen – bis hin zu dem Punkt, wo sie aufgewertet
wird zum „Prinzip“ oder sogar zum „Gesetz“ (Rogers & Shoemaker, 1971, S.
130). Noch 1981 geben Rogers und Kincaid als Kriterium einer „befriedigenden“
Validität für die Bestätigungen eine Quote von 60 bis 70 Prozent an (Rogers &
Kincaid, 1981, S. 132).
Die Übersicht über die Belege, die für und gegen eine Generalisierung spre-
chen, verschwand in späteren Auflagen, die Generalisierungen selbst aber sind
bis heute Wesensmerkmal der Diffusionstheorie geblieben.
Diese Art des Vorgehens ist wohl eine wichtige Grundlage für den enormen
Erfolg der Diffusionstheorie. Ohne seine Prinzipien der „Meta-Forschung“ – und
34 3 Stand der Forschung

die genannten Zugeständnisse – hätte Rogers sicherlich innerhalb seines Zeit-


rahmens nicht die Vielzahl an Diffusionsstudien zusammenfassen können. Im-
merhin ist die Zahl der ausgewerteten Studien bis zum Jahre 2004 angewachsen
auf 5000 (Rogers, 2004).
Dass die so konzipierte „Meta-Forschung“ auch zum Gegenstand scharfer
Kritik wurde, wird aus der heutigen, vom kritischen Rationalismus geprägten
Perspektive kaum verwundern (vgl. 3.1.4, S. 46).

3.1.1.2 Diffusion als Kommunikation

In ihrer derzeitigen Gestalt beruht die Diffusionstheorie zu einem großen Teil auf
einem rein induktiven Vorgehen: Aus der bereitstehenden Literatur werden Ge-
neralsierungen abgeleitet, diese werden dann auf der Basis weiterer Publikatio-
nen bewertet5. So hat sich mit der Zeit ein Kanon an diffusionstheoretischen
Forschungsfragen und zugehörigen Befunden herausgebildet. Dabei geht es etwa
um die Merkmale früher Übernehmer und die Merkmale erfolgreicher Innova-
tionen.
Daneben aber hat Rogers der Diffusionstheorie durchaus eine theoretische
Heimat gegeben: Er ordnete sie dem jungen Fach der Kommunikationswissen-
schaft („mass communication research“) zu. Er definierte Diffusion als den Pro-
zess, in dem eine Innovation kommuniziert wird (Rogers, 2003, S. 5), eben als
einen Kommunikationsprozess. Zwar konnten große Teile der bestehenden Ge-
neralisierungen nicht systematisch einem theoretischen Konzept zugeführt wer-
den (E. Katz, 1999; Schenk, 2002). Theoretische Anknüpfungs- und Entwick-
lungsmöglichkeiten waren aber dennoch damit geschaffen.
Seinen Diffusionsbegriff lehnte Rogers an das „S-M-C-R-E“-Modell von
Lasswell („Source“ [Quelle] =>“Message“ [Botschaft] =>“Channel“ [Kanal]
=>“Receiver“ [Empfänger] =>“Effects“ [Wirkungen]) (Lasswell, 1948; Rogers
& Shoemaker, 1971, S. 20; vgl. Schenk, 2002, S. 373-374).
Dabei entspricht
ƒ der Quelle der Erfinder oder Wissenschaftler (oder als Grenzfall ein erster
Nutzer),
ƒ der Botschaft die Innovation,
ƒ dem Kommunikationskanal die massenmediale und interpersonale Kommu-
nikation über die Innovation,

5
Rogers war selbst auch als empirischer Forscher in hohem Umfang aktiv (vgl. Rogers, 1958a,
1993; Rogers, Dearing, Meyer, Betts, & Casey, 1995). Im Vergleich zu den Tausenden an Publi-
kationen zum Thema aus der Literatur, denen im Sinne der Meta-Forschung der gleiche Wert
zukam, fällt diese Feldarbeit allerdings kaum ins Gewicht.
3.1 Klassische Diffusionstheorie 35

ƒ dem Empfänger die potentiellen Übernehmer, und


ƒ der Wirkung die Übernahme der Innovation einschließlich der Konsequen-
zen, die diese nach sich ziehen kann (Rogers & Shoemaker, 1971, S. 20;
Schenk, 2002, S. 373-374) (vgl. Abbildung 2).

Elemente im S-M-C-R-E Modell

“Source” „Message“ „Channel“ „Receiver“ „Effects“

Korrespondierende Elemente der Diffusion von Innovationen

Erfinder, Wissen- Innovation (wahr- Kommunikations- Mitglieder Wirkungen im


schaftler, Ent- genommene kanäle (Massen- eines sozialen Zeitverlauf
wicklungshelfer Eigenschaften, medien oder Systems (Wissenszuwachs,
oder Meinung- z.B. relativer interpersonale Persuasion, Adop-
sführer Vorteil, Kompati- Kommunikation) tion bzw. Ableh-
bilität usw.) nung)
Abbildung 2: Parallelität von Diffusionstheorie und SMCRE-Modell (Darstellung nach Schenk,
2002, S. 374, vgl. Rogers & Shoemaker, 1971, S. 20).

In späteren Auflagen distanziert Rogers sich wieder von dem linearen Denken
dieses Modells, und er betont, dass Kommunikation als wechselseitiger Prozess
zu verstehen ist (Rogers, 2003, S. 6). In der Entwicklung der Diffusionsfor-
schung spiegelt sich dieses Umdenken aber nur marginal wider: Als Zugeständ-
nis an ein gewandeltes, wechselseitiges Konzept von Kommunikation wird das
Konzept der Reinvention eingeführt (Rogers, 1993; Rogers & Kincaid, 1981;
vgl. Schenk, Dahm, & Sonje, 1996).
Als zweites theoretisches Konzept aus der Kommunikationswissenschaft
übernahm Rogers von Beginn an das Modell eines „Two Step Flow“ der Kom-
munikation. In den 1950er Jahren stellte es den theoretischen „State of the Art“
dar (Lazarsfeld, Berelson, & Gaudet, 1944). Dieses Modell ermöglichte es, die
Befunde aus der Landwirtschaftssoziologie zum Einfluss von massenmedialer
und interpersonaler Kommunikation bei der Übernahme von Innovationen auf-
zugreifen. Schon Ryan und Gross, die diese Daten zusammengetragen hatten
(Ryan & Gross, 1943), hatten festgestellt, dass manche Farmer sich damit her-
vortaten, dass sie besonders früh den neuen Hybridmais übernahmen. Das waren
Farmer mit vornehmlich kosmopolitischer Lebensführung sowie solche, die auch
landwirtschaftliche Fachzeitschriften lasen. Farmer aus ihrer Umgebung orien-
tierten sich dann an diesen Leitfiguren.
36 3 Stand der Forschung

Die Agrarsoziologen selbst waren – wie Katz anmerkt – nie auf die Idee ge-
kommen, dass Farmer eventuell nicht mit anderen Farmern sprechen könnten (E.
Katz, 1999, S. 147), und sie hatten diesem Befund so kaum Bedeutung zugemes-
sen. Rogers konnte ihn dagegen einordnen in die fachliche Entwicklungslinie des
„mass communication research“. Ausgehend von einem Paradigma der Rezipien-
ten als atomisierter Masse, war diese gerade bei der Feststellung eines zweistufi-
gen Kommunikationsprozesses angekommen, und von dort wies sie weiter in
Richtung einer systematischen Untersuchung von interpersonalem Einfluss im
sozialen Netzwerk. So setzte Rogers im Rahmen der Diffusionstheorie neue
Schwerpunkte: Die Identifikation von Meinungsführern (Rogers & Cartano,
1962), die Evaluation massenmedialer und interpersonaler Einflüsse auf die
Adoptionsentscheidung (Rogers, 1958b) und – wenigstens ansatzweise – die
Erforschung von Diffusion im Rahmen sozialer Netzwerke (Rogers & Kincaid,
1981).
Dieser Rahmen erlaubte es letztlich auch, manche seit Gabriel de Tarde
(2003 [1890]) notorischen Befunde der empirischen Diffusionstheorie theore-
tisch einzuordnen. Dazu zählt insbesondere der s-förmige Verlauf der Diffu-
sionskurve, der sich in der Ausbreitung von Epidemien ergibt. Ein großer Teil
der Diffusionstheorie – so, wie sie sich in Rogers‘ Generalisierungen darstellt
und wie sie in Lehrbüchern wiedergegeben wird – läuft dennoch hinaus auf blo-
ße Auflistungen von Faktoren oder auch Heuristiken, die weitgehend losgelöst
von theoretischen Modellen schlicht empirische Befunde induktiv (und intuitiv,
vgl. Rogers, 1983, S. 132) zusammenfassen (Rogers, 1985, 1983; vgl. E. Katz,
1999).
Dazu gehört die Übersicht über diejenigen Faktoren, die eine Übernahme-
entscheidung beschleunigen. Derartige Faktoren finden sich auf Seiten von In-
novationen (Generalisierungen 6.1-6.5 [Rogers, 2003, S. 265-266]), bei Über-
nehmern (Generalisierungen 7.2-7.26 [Rogers, 2003, S. 297-299]) und bei sozia-
len Systemen (Generalisierungen 8.1-8.13 [Rogers, 2003, S. 362-364]). Auch die
Unterscheidung von Übernehmertypen nach Zeitpunkt der Adoption (Rogers,
2003, S. 282-284) ist so zu sehen als eher bloßes Aufzählen. Hinzu kommen
schließlich Angaben, wie Innovationen sich in Organisationen verbreiten (Gene-
ralisierungen 10.1-10.5 [Rogers, 2003, S. 433-435]) und wie gezielte Interven-
tionen von „change agents“ (Vertretern oder Verkäufern) die Übernahme be-
schleunigen können (Generalisierungen 9.1-9.12 [Rogers, 2003, S. 400-401]).
All diese Betrachtungen beschränken sich jeweils auf bivariate Zusammenhänge
bzw. Auflistungen dieser Zusammenhänge, ganz so wie das Konzept der Meta-
Forschung es verlangt (Rogers, 1983, S. 131).
Ansätze zu komplexeren Modellierungen, deren Anspruch über diese biva-
riaten Modelle hinausgeht, lassen sich im Umfeld der Diffusionstheorie aller-
3.1 Klassische Diffusionstheorie 37

dings durchaus finden. Das reicht von einer simplen Verknüpfung dreier Kon-
strukte bis zur Integration des gesamten Ansatzes in ein neues Theoriegerüst. So
hat Venkatraman im Kleinen Zusammenhänge zwischen Übernehmermerkmalen
und Innovationsmerkmalen im Hinblick auf die Übernahmewahrscheinlichkeit
identifiziert (Venkatraman, 1991). Damit konnte er zeigen, dass frühe Überneh-
mer ihre Prioritäten bei Attributen der Innovationen ganz anders setzen als späte
Übernehmer. Ferner haben Lin und Zaltman (1973) ein theoretisches Modell
entwickelt, um die von Rogers schlicht aufgelisteten adoptionsrelevanten Attri-
bute von Innovationen den drei theoretisch begründeten Dimensionen „Aktivi-
tät“, „Bewegung“ und „Stärke“ zuzuordnen.
Im Großen hat Schmidt (1976) eine soziologische „Alternative zum Integra-
tionsversuch von Rogers“ entwickelt mit der Strategie, „allgemeinere Theorien
zu suchen und mit diesen die heterogenen Hypothesen weniger allgemeiner Art
zu erklären“. Dieser Versuch einer Integration der „bei Rogers unzusammenhän-
genden Hypothesen“ verweist auf frühere Ansätze etwa von Hummel und Opp
(1973).
Die angeführten Ansätze einer punktuellen oder übergreifenden Differen-
zierung der Konzepte der Diffusionstheorie haben sich jedoch keineswegs
durchgesetzt, sie fanden in der Diffusionsforschung weder eine theoretische
Integration noch auch nur Nachhall. So fällt auch die Bilanz von Katz (1999, S.
146-147) aus: „I may be wrong, but I think the best we can say about diffusion
theory is that there is a more or less agreed paradigm – better, an accounting
scheme – that allows for the classification of the wide variety of available case
studies [...] what we have is a set of tools for making generalizations possible,
providing that somebody is willing to do the work.”
Folgt man Dearing und Singhal (2006, S. 20), so hat Rogers eine Beschrän-
kung in der theoretischen Unterfütterung selbst angestrebt in Sorge um genügend
Freiraum zur induktiven Integration der vielfältigen Befunde zur Diffusion. Ge-
rade dieses Anliegen sprach auch dafür, als Heimstatt der Diffusionsforschung
die noch wenig entwickelte Disziplin der Kommunikationswissenschaft zu wäh-
len:

„Ev[eret]’s pursuit of generalizable knowledge a.k.a Merton meant that he needed


an intellectual home that was sufficiently broad so that he could study the spread of
any type of innovation [...] The prize question was how well the diffusion process
that he along with others were busily codifying mapped across fields and disciplines.
The fewer the qualifications that had to be made, the better. More qualifications
meant less parsimony, and would reduce the eloquence of the theory. Communica-
tion, a derivative field institutionalized by Wilbur Schramm at the University of Illi-
nois in the late 1940s, and then solidified at Stanford University in the mid-1950s,
38 3 Stand der Forschung

was sufficiently new and undetermined so as to suit the proclivities of such a pur-
suit.”

3.1.2 Methoden

Seine methodologischen Standards für die Diffusionstheorie bezog Rogers weit-


gehend aus einer einzigen Studie. Die Agrarsoziologen Ryan und Gross (1943)
hatten sie zur Verbreitung eines neuen Saatgutes durchgeführt: „This investigati-
on, more than any other, provided the basic framework for the diffusion model”.
(Rogers, 2004, S. 13; vgl. Rogers, 2003; Lowery & DeFleur, 1995; G. Meyer,
2004). Im Anschluss an die erfolgreiche Verbreitung einer neuen hybriden Sa-
mensorte in einer Gegend Iowas hatte man Landwirte danach befragt, wann und
aus welchen Beweggründen sie an ihrem Hof die Innovation übernommen hat-
ten. Außerdem waren persönliche Eigenschaften der Landwirte erhoben worden,
etwa ihre formale Bildung, die Lektüre landwirtschaftlicher Fachzeitschriften,
die Größe des Hofes, sowie die Anzahl der Fahrten in Iowas Hauptstadt Des
Moines. Das letztere wurde als Maß für eine kosmopolitische Lebensweise ge-
nommen. Auf der Basis dieser Befunde wurde untersucht, welche Übernehmer-
faktoren mit einer früheren Übernahme zusammenhängen (Ryan & Gross, 1943;
vgl. Lowery & DeFleur, 1995).
Meyer (2004, S. 59) stellt die fünf zentralen Merkmale des Vorgehens zu-
sammen, die so in beinahe jeder Diffusionsstudie seit Ryan und Gross auftau-
chen:

„1. quantitative data,


2. concerning a single innovation,
3. collected from adopters,
4. at a single point in time,
5. after widespread diffusion had already taken place.”

Zweifellos tauchen auch andere Methoden auf: Zusätzlich zum Sammeln quanti-
tativer Daten wurden im Rahmen von Diffusionsstudien auch Leitfadeninter-
views mit potentiellen Übernehmern durchgeführt (Anderson & Kanuka, 1997).
Anstelle einer Beschränkung auf einzelne Innovationen wurden auch Technolo-
giecluster untersucht (Silverman & Bailey, 1961). Es wurden Daten auch über
Verhaltensspuren erhoben, und zwar an Hand von „Logfiles“ zur Adoption von
Online-Foren (Anderson & Kanuka, 1997). In einer Langzeitanalyse wurde die
Einstellung von Übernehmern zu technologischen Innovationen vor und nach der
Übernahme gemessen (Karahanna, Straub, & Chervany, 1999).
3.1 Klassische Diffusionstheorie 39

Diese Studien stellen aber handverlesene Ausnahmen dar, die im Rahmen der
Diffusionstheorie kaum rezipiert und noch weniger nachgeahmt wurden. Einen
Grund für dies Geringachtung sieht Meyer in der theoretischen Begrenztheit der
Diffusionstheorie: „When considering the methods that have become institutio-
nalized in diffusion research, one cannot help but wonder whether the research
questions asked over time have limited the methods selected, or rather if the
methods established early on have restricted the research questions asked”. Wo
auch immer der Ursprung liegt, Meyers Beschreibung lässt sich als ein Teufels-
kreis lesen zwischen theoretischer und methodischer Stagnation.
Selbst wenn man die Methoden betrachtet, die in der Untersuchung der be-
stehenden Forschungsfragen zum Einsatz kommen, so zeigt sich ein Stillstand
auf der Ebene der Operationalisierung und der empirischen Maße.
Moore und Benbasat (1991) haben eine Skala zu den fünf Attributen von
Innovationen für den Bereich von PCs systematisch entwickelt, und diese wurde
auch auf andere Innovationen angewendet (so im Hinblick auf „e-learning“-
Websites, wo „relative advantage“ und „compatibility“ die entscheidenden Attri-
bute waren [H.-P. Lu, Liu, Yuan, & Liao, 2005]). Auf Seiten der klassischen
Diffusionstheorie fanden derartige Entwicklungen jedoch kaum Beachtung.
Die stärksten systematischen Bemühungen zur Standardisierung innerhalb
der Diffusionsforschung lassen sich noch bei der Identifizierung von Meinungs-
führern feststellen (für eine Übersicht, vgl. Rogers, 2003, S. 308-325). Rogers
(2003, S. 308-312) unterscheidet hierzu vier Vorgehensweisen: Soziometrische
Verfahren (Valente & Davis, 1999; vgl. Schenk, 1983), Einschätzung durch
„Experten“, die das Netzwerk kennen (Buller et al., 2001), Selbsteinschätzung
(Nisbet, 2006; Noelle-Neumann, 1985; Noelle-Neumann, Haumann, & Petersen,
1999) und schließlich Beobachtung (Kelly et al., 1997). Eine maßgebliche Skala
als gemeinsame Referenz der Diffusionsforschung hat sich allerdings auch hier
nicht etabliert (vgl. Abschnitt 3.1.3.3, S. 42 und Abschnitt 5.3.2.2, S. 160).

3.1.3 Befunde

Das Grundprinzip der „Meta-Forschung“ läuft hinaus auf das Katalogisieren von
Generalisierungen. So lassen sich die Befunde dieses Ansatzes zum heutigen
Zeitpunkt genau bilanzieren. Die aktuelle Ausgabe von „Diffusion of Innova-
tions“ listet sie auf in Form von 86 Generalisierungen (Rogers, 2003).
In der folgenden Übersicht wird der Schwerpunkt auf diejenigen Generali-
sierungen gelegt, die für die vorliegende Arbeit zentral erscheinen, bei denen
also ein Bezug besteht zu der Frage, in welcher Weise Innovationen sich inner-
halb sozialer Netzwerke ausbreiten. Innerhalb dieses Rahmens werden Aussagen
gemacht im Hinblick auf (a) die Eigenschaften von Innovationen und (b) die
40 3 Stand der Forschung

Eigenschaften von Übernehmern, ferner in Bezug auf (c) die Kommunikations-


kanäle im sozialen Netzwerk und schließlich (d) den zeitlichen Verlauf der Dif-
fusion und den Zeitpunkt der Übernahmeentscheidung. Die für die Arbeit zentra-
len Aspekte in den Erweiterungen der Diffusionstheorie – persönlicher Einfluss
in sozialen Netzwerken, Faktoren der individuellen Adoptionsentscheidung,
Reinvention von Innovationen – werden im folgenden Kapitel später noch weiter
vertieft (Abschnitt 3.2, S. 53). Deshalb wird zunächst nur auf dem diffusions-
theoretischen Niveau von Generalisierungen referiert.

3.1.3.1 Eigenschaften von Innovationen

Fünf Attribute entscheiden über die Adoptionsrate von Innovationen (Rogers,


2003, S. 219-266):
ƒ „Trialability“ als die Möglichkeit, die Innovation unverbindlich zu testen.
ƒ „Compatibility“ als die Verträglichkeit mit einem vorher bestehenden Kon-
text. Dieser kann technischer Natur sein, etwa als Vorhandensein eines In-
novationsclusters, in das die Innovation integriert werden kann, wie im Fall
eines Computernetzwerkes. Er kann aber auch kultureller Art sein, bei-
spielsweise in Form von Normen.
ƒ „Relative advantage“ als tatsächlicher Vorteil für den Nutzer.
ƒ „Complexity“ als der kognitive Aufwand, der zum Einsatz der Innovation
erforderlich ist.
ƒ „Observability“ als Sichtbarkeit der Innovation im Alltag.
Rogers selbst belässt es – ganz im Sinne der Beschränkung von Meta-Forschung
auf bivariate Aussagen – bei dieser Auflistung. Andere Autoren haben unterdes-
sen versucht, die relative Bedeutung der einzelnen Faktoren zu bestimmen. Moo-
re und Benbasat (1996) fanden durch Verwendung ihrer im vorherigen Abschnitt
erwähnten Skala zu den fünf Attributen heraus, dass für die Innovation „Perso-
nalcomputer“ der relative Vorteil das bedeutendste Attribut ist. Anwendungen
der Skala auf andere Innovationen haben dies Ergebnis repliziert (so im Hinblick
auf Websites zu „e-learning“, wo „relative advantage“ und „compatibility“ die
entscheidenden Attribute waren [H.-P. Lu et al., 2005]). Auch mit weiteren em-
pirischen Instrumenten wurden „relative advantage“ und „compatibility“ als die
bedeutendsten unter den Faktoren identifiziert (Holak & Lehmann, 1990; Holak,
1988; Cestre & Darmon, 1998). In Studien von Leung & Wei (1999) sowie
Vishwanath & Goldhaber (2003) dagegen erwiesen sich neben der „compatibili-
ty“ die „observability“ als entscheidend. Für Tornatzky und Klein (1982)
schließlich war es die Trias „compatibility“, „relative advantage“ und „complexi-
ty“. Will man im Sinne der Diffusionstheorie über unterschiedliche Innovationen
hinweg generalisieren, so lassen diese Befunde sich wie folgt zusammenfassen:
3.1 Klassische Diffusionstheorie 41

Der „observability“ kommt insgesamt die geringste Bedeutung zu, dem „relative
advantage“ und der „compatibility“ die höchste.
Der Wert einer solchen Generalisierung steht unter dem Vorbehalt der Ver-
gleichbarkeit der mit unterschiedlichen Maßen erhobenen Befunde. Für eine
differenziertere Betrachtung – etwa im Hinblick auf unterschiedliche Medienty-
pen – reicht der Bestand an vergleichenden Studien nicht aus.

3.1.3.2 Eigenschaften von Übernehmern

Die Generalisierungen zu übernahmerelevanten Eigenschaften auf Übernehmer-


seite berücksichtigen soziodemographische Faktoren und Persönlichkeitsmerk-
male sowie Umfang und Art der Mediennutzung und die sozialen Beziehungen
des potentiellen Übernehmers. Formale Bildung, insbesondere die Fähigkeit zum
Lesen, sozialer Status und eine aufwärtsstrebende soziale Mobilität zählen hier
zu den entscheidenden Faktoren, die zu einer relativ frühen Übernahme von
Innovationen führen. Dem Alter dagegen spricht Rogers eine Relevanz ausdrück-
lich ab (Rogers, 2003, S. 288-289).
Unter den Persönlichkeitsmerkmalen begünstigen nach Rogers (2003, S.
289-290) insbesondere die Folgenden eine frühzeitige Übernahme von Innova-
tionen: Empathie, Abstraktionsfähigkeit, Rationalität, Intelligenz, Aufgeschlos-
senheit gegenüber Wandel, die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Gefahren umzu-
gehen, sowie eine positive Einstellung zur Wissenschaft, ferner Selbstwirksam-
keit (Bandura, 1997) und Ehrgeiz bezüglich des eigenen sozialen Status. Eine
dogmatische Grundhaltung steht der Bereitschaft zur Übernahme von Innova-
tionen häufig im Weg. Zu den begünstigenden Faktoren zählt schließlich auch
noch ein hoher Grad an Meinungsführerschaft. Die spezifischen Merkmale, die
damit einhergehen, werden noch im Rahmen der Beschreibung von Kommunika-
tionskanälen der Diffusion benannt.
Die Suche nach einem „Trait“, der als generelle innovationsübergreifende
„Innovativeness“ zu beschreiben wäre, ist bisher fruchtlos geblieben (Goldsmith
& Hofacker, 1991; Blythe, 1999). So wird heute eher mit bereichsspezifischer
„Innovativeness“ gearbeitet (Goldsmith, Flynn, & Goldsmith, 2003; Bowden &
Corkindale, 2005).
Was die soziale Einbettung angeht, so sind als positive Faktoren zu nennen:
Soziale Partizipation, der Grad der Einbettung in soziale Netzwerke, ein kosmo-
politischer Lebensstil, der Kontakt mit Anbietern von Innovationen sowie allge-
mein der Zugang zu interpersonaler Kommunikation. Hinzu kommen als positive
Einflussfaktoren im Hinblick auf Mediennutzung die intensive Zuwendung zu
Massenmedien und eine aktive Suche nach Informationen („information see-
king“) (Rogers, 2003, S. 290-292).
42 3 Stand der Forschung

Studien, in denen die Bedeutung der unterschiedlichen Faktoren auf Nutzer-


seite abgewogen wird – analog zu den am Ende des vorherigen Abschnitts refe-
rierten Befunden – sind nicht bekannt. Studien, die einzelnen Generalsierungen
widersprechen, finden sich dagegen durchaus. Insbesondere die Aussage, Alter
spiele keine Rolle auf den Adoptionszeitpunkt, wird durch mehrere Befunde
widerlegt. Dabei wird entweder das Alter direkt zugrunde gelegt (Morris & Ven-
katesh, 2000; Gilly & Zeithaml, 1985; Uhl, Andrus, & Poulsen, 1970; D. J. At-
kin, Jeffres, & Neuendorf, 1998; C. A. Lin, 1998; Wei, 2006), oder die mit dem
Alter verbundene Situation im Lebenszyklus (insbesondere Anwesenheit von
Kindern im Haushalt als Prädiktor von Adoption [Uhl et al., 1970]).

3.1.3.3 Kommunikationskanäle

Die persönliche Verbreitung von Innovationen vollzieht sich zumeist in Netz-


werken, die als homophil zu betrachten sind. Dies sind – im Gegensatz zu hete-
rophilen Netzwerken – solche Kreise, deren Zusammenhalt man auf eine Ähn-
lichkeit der Mitglieder in bestimmten Eigenschaften zurückführen kann. Diese
Ähnlichkeit kann etwa in der Persönlichkeit der Akteure liegen oder in ihren
soziodemographischen Merkmalen. Während die Verbreitung von Innovationen
sich also innerhalb homophiler Netzwerke sehr schnell vollzieht, stellt die Ho-
mophilie gleichzeitig eine Barriere für das Eindringen von Innovationen von
außen dar. Diejenigen Akteure, die eine hohe Zahl an persönlichen Verbindun-
gen aufweisen, sind in der Übernahme von Innovationen besonders schnell (Ro-
gers, 2003, S. 305-308).
Innerhalb persönlicher Netzwerke ist zu differenzieren zwischen Meinungs-
führern und Meinungsfolgern. Die Letzteren orientieren sich bei der Adoptions-
entscheidung an den Ersteren. Die Meinungsführer heben sich durch eine ganze
Reihe von Eigenschaften ab: Sie nehmen intensiver Massenmedien wahr, ihre
Lebensweise ist eher kosmopolitisch, sie haben mehr Kontakt mit den Anbietern
von Innovationen, sie partizipieren stärker an sozialen Prozessen, sie genießen
einen höheren sozialen Status, sie sind stärker an Normen orientiert und insge-
samt innovativer (Rogers, 2003, S. 308-330).

3.1.3.4 Zeit

Die zeitliche Abfolge nimmt die klassische Diffusionstheorie sowohl auf der
Ebene individueller Adoption als auch auf der Ebene sozialer Diffusion ins
Blickfeld
3.1 Klassische Diffusionstheorie 43

Auf Seiten des Individuums gliedert Rogers den Entscheidungsprozess in


fünf Phasen: Die Kenntnis der Innovation („Knowledge“) führt zur Überzeugung
von deren Nutzen („Persuasion“). Über die Entscheidung zur Übernahme („De-
cision“) geht es im Ablauf weiter über die Implementierung („Implementation“)
bis hin zur Bestätigung der Übernahme-Entscheidung („Confirmation“) (Rogers,
2003, S. 168-194). Die Generalisierungen hierzu besagen zunächst nur, dass
solche Phasen im Prinzip existieren. Im Weiteren betreffen sie dann den Ablauf
des Prozesses über die unterschiedlichen Phasen hinweg (Rogers, 2003, S. 168-
218).
Was die Dauer des Prozesses anbetrifft, so ist festzuhalten, dass sie bei frü-
hen Übernehmern einer Innovation geringer ist als bei späteren.
Die „Knowledge“-Phase ist geprägt von der Aufnahme massenmedialer
Angebote sowie vom persönlichen Einfluss kosmopolitischer Akteure. Diese
tragen das Wissen über Innovationen selbst aktiv in ein Netzwerk hinein (Ro-
gers, 2003, S. 171-174). In der Phase der „Persuasion“ wird die tatsächliche
Übernahmeentscheidung abgewogen. Hier spielen persönliche Kontakte die
Hauptrolle, insbesondere mit Personen, die lokal ohnehin größeren Einfluss
haben (Rogers, 2003, S. 174-177) (vgl. Abbildung 3).

I Knowledge II Persuasion III Decision IV Implemen- V Confir-


tation mation

Abbildung 3: Innovations-Entscheidungsprozess (Rogers, 2003, S. 170)

In der Phase der Implementierung kann es zur „Reinvention“ kommen, das ist
eine konstruktive Abwandlung der Innovation durch den Übernehmer. Dieser
Prozess kommt der Diffusion einer Innovation allgemein entgegen. Er ermög-
licht eine flexible Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse der Übernehmer
und damit eine schnelle Verbreitung. Zum anderen kommt der Integration im
jeweiligen Kontext der Übernahme eine stärkere Nachhaltigkeit zu (Rogers,
2003, S. 179-188, 1993; vgl. Glick & Hays, 1991; Hays, 1996a, 1996b; Rice &
Rogers, 1980).
Als Anhaltspunkt zur Differenzierung der Übernehmertypen orientiert Ro-
gers sich an der Normalverteilungskurve. Sie gibt die zeitliche Zuwachsrate der
Anzahl der Übernehmer näherungsweise wieder. Auf der Grundlage des Mittel-
werts – als dem Zeitpunkt, zu dem die Übernahme gerade „boomt“ – und der
Standardabweichung unterscheidet Rogers fünf Gruppen: Diejenigen, für die der
Zeitpunkt der Übernahme der Innovation mehr als zwei Standardabweichungen
vor dem Mittelwert liegt, gelten als Innovatoren. Diejenigen, die mit ihrer Über-
44 3 Stand der Forschung

nahme dem allgemeinen Hoch wenigstens noch um mindestens eine Standard-


abweichungen voraus sind, werden als „Early Adopters“ bezeichnet. Die „Early
Majority“ liegt mit der Übernahme auch noch vor dem Mittel, sie bildet also die
vordere Hälfte des 68 Prozent-Bereichs um den Mittelwert. Die „Late Majority“
bleibt hinter dem Mittel um höchstens eine Standardabweichung zurück. Die
verbleibenden 16 Prozent machen „Laggards“ aus (Rogers, 2003, S. 279-285).
Zahl/Anteil der Übernehmer

Zeit

Abbildung 4: Adoptionskurve mit Übernehmer-Kategorien

Die quantitative Verbreitung einer Innovation lässt sich durch die logistische
Funktion beschreiben. Der Verlauf ihres Graphen ist s-förmig (Rogers, 2003, S.
272-274).
Zahl/Anteil der Übernehmer (kumuliert)

Zeit
Abbildung 5: Diffusionskurve

Abweichend von dem hier zugrundeliegenden mathematischen Modell gibt es


viele Innovationen, deren Wert mit der Anzahl der Übernehmer steigt. Dies lässt
3.1 Klassische Diffusionstheorie 45

sich über direkte und indirekte Netzwerkeffekte erfassen (M. L. Katz & Shapiro,
1985, 1994):
ƒ Direkte Netzwerkeffekte stellen sich ein, wenn der Wert einer Innovation
mit der Anzahl der Nutzer unmittelbar zunimmt. Dies ist etwa bei vernetz-
ten Kommunikationstechnologien der Fall: Je mehr Menschen aus dem ei-
genen Umfeld ein Telefon, ein Faxgerät oder ein Konto auf einer spezifi-
schen „Social Networking“-Plattform haben, desto größer wird der Nutzen,
den man hat, wenn man diese Innovation auch übernimmt.
ƒ Indirekte Netzwerkeffekte ergeben sich aus Vorteilen, die über den Markt
vermittelt werden. So kann etwa eine höhere Nutzerzahl einer Innovation in
der Produktion Einsparungen durch Skaleneffekte ermöglichen. Diese er-
lauben dann ein günstigeres Angebot.
Beides erhöht jeweils den relativen Vorteil der Innovation (Rogers, 2003, S. 343-
362). Eine Zunahme der Nutzerzahlen kann sich aber auch förderlich auf die
„compatibility“ einer Innovation auswirken – da sich auch die Normen und die
Infrastruktur eines sozialen Systems mit zunehmender Nutzerzahl adoptionsför-
dernd verändern, sowie auf die „observability“ – da die meisten Innovationen
mit zunehmender Verbreitung schlicht häufiger gesichtet werden.
Diese Einflüsse heben die Symmetrie im Verlauf der Diffusionskurve auf:
Die Kurve ist im hinteren Bereich in t-Richtung gestaut, der Anstieg ist erhöht –
entsprechend einer Beschleunigung der Zunahme. Bei der Glockenkurve der
Normalverteilung fällt der Bereich der „Late Majority“ und der „Laggards“
schmaler und höher aus: Das Erreichen des Endbestands wird zeitlich vorgezo-
gen.
Belege für den Einfluss von Netzwerkeffekten auf die Diffusion neuer
Kommunikationstechnologien liegen vor insbesondere zum Telefon (Markus,
1987) zu Modems und Faxgeräten (Antonelli, 1990; Markus, 1987), zu Video-
formaten (R. Beck, 2006; Liebowitz & Margolis, 2001) und zu dem frühen fran-
zösischen Kommunikationsnetzwerk Minitel, aber auch zu den Angeboten
„ISDN“ und „Teletext“ in Deutschland (Schoder, 2000).
In Sonderfällen lässt sich ein Schwellenwert ausmachen, ab dem die Netz-
werkeffekte die Verbreitung einer Innovation sprunghaft antreiben. Dann spricht
man von einer „kritischen Masse“ (Allen, 1988; Markus, 1987). Erst der Spiel-
theoretiker Schelling erklärte das Phänomen in seinem Werk „Micromotives and
Macrobehavior“ (Schelling, 1978), und zwar als eine sprunghafte Wirkung der
Interdependenz menschlichen Handelns. Der Terminus ist der Atomphysik ent-
lehnt. Dort kann das Zusammenkommen einer kritischen Masse im Zuge einer
Kettenreaktion eine selbsttragende Dynamik auslösen (Schelling, 1978).
Im Hinblick auf Innovationen bedeutet es, dass im Zuge des Diffusionspro-
zesses ein Grenzwert von Übernehmern erreicht werden kann, der für andere
46 3 Stand der Forschung

Übernehmer einen hinreichenden Grund abgibt, sich der Adoption anzuschlie-


ßen.
Diese Zusammenfassung konzentriert sich auf die Befunde, die für die vor-
liegende Studie relevant sind. Damit deckt sie dennoch zwei Drittel der Genera-
lisierungen ab. Ausgeblendet bleiben Aussagen zur Bedeutung von Anbietern
von Innovationen als „change agents“, Aussagen zu Organisationen als Über-
nahmeeinheiten und zu den Konsequenzen der Diffusion.

3.1.4 Kritik

Die Kritik, die im Laufe der letzten 40 Jahre zur Diffusionstheorie vorgetragen
wurde, konzentrierte sich auf zwei Punkte: Zum einen wurde ganz allgemein
eine theoretische und methodologische Stagnation beklagt. Zum anderen wurde
konkret Rogers methodologisches Verfahren der „Meta-Forschung“ – mit dem er
die Diffusionstheorie überhaupt erst konsolidierte – generell in Frage gestellt.
Die epistemologische Kritik am Grundansatz wurde schon von Beginn an
von außen gegen die Meta-Forschung vorgebracht. In den letzten Jahren hat sich
eine Unzufriedenheit über die theoretische und methodische Entwicklung des
Ansatzes nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Diffusionstheorie
breitgemacht. Rogers schrieb selbst im Vorwort der dritten Ausgabe: “We do not
need ‘more-of-the-same’ diffusion research” (Rogers, 1995, S. xvii). Katz (1999,
S. 145) schreibt dies einem mangelnden theoretischen Fortschritt zu. Er beklagt:
“the number of diffusion studies continues at a high rate while the growth of
appropriate theory is at an apparent standstill”. Meyer (G. Meyer, 2004) schließt
auch die Methodologie in seine Kritik ein, wenn er – wie bereits zitiert – einen
Teufelskreis skizziert zwischen immer gleich bleibenden Forschungsfragen und
gleichbleibender Methode.
Im Folgenden werden zunächst die Hauptpunkte der theoretischen und der
methodischen Kritik referiert. Dann wird noch einmal auf die epistemologische
Kritik eingegangen: Sie hält eine tiefer gehende Erklärung für die Kritik bereit.

3.1.4.1 Theoretische Stagnation

Die theoretische Stagnation wird festgemacht zum einen daran, dass das Niveau
der theoretischen Elaboration der einzelnen Generalisierungen durchgehend nie-
drig geblieben ist. Zum anderen wird konstatiert, dass eine Aktualisierung der
zugrunde gelegten kommunikationswissenschaftlichen Theoriemodelle nicht
zustande gekommen ist.
3.1 Klassische Diffusionstheorie 47

Die Kritik an der mangelnden Elaboration im Einzelnen wird festgemacht


am Beispiel der adoptionsrelevanten Attribute von Innovationen und Überneh-
mern. So kritisiert Schenk (2002, S. 376) in Bezug auf die klassischen fünf „At-
tribute von Innovationen“, diese würden „ziemlich unsystematisch aufgezählt“.
Diese Sicht war es auch, die mehrere Autoren zu den genannten Versuchen zur
Ausdifferenzierung der Modelle geführt hat (Schmidt, 1976; N. Lin & Zaltman,
1973; Venkatraman, 1991).
Ebenfalls Gegenstand vielfältiger Kritik ist die Unterteilung der Überneh-
mer in fünf Typen. McDonald, Corkindale & Sharp (2003) monieren, dass ihre
Basis – eben die Standardabweichung der Normalverteilung – eine bloße statisti-
sche Konvention ist. Dem lässt sich noch hinzufügen, dass Rogers‘ Orientierung
an den statistischen Merkmalen der Normalverteilungskurve bis auf die Nach-
kommastellen hin ohnehin nicht für eine Generalisierung empirischer Befunde
geeignet ist. Sie ist nur in dem Rahmen gerechtfertigt, in dem man theoretisch
eine Normalverteilung voraussetzen kann. Wie oben dargelegt, spielen aber bei
der Verbreitung vieler Innovationen zusätzlich Netzwerkeffekte hinein. So kann
die Normalverteilungskurve nur als eines unter vielen Diffusionsmodellen gelten
– ebenso wie das logistische Modell, welches von einer epidemischen Verbrei-
tung ausgeht (für eine Übersicht, vgl. Geroski, 2000). In diesem Sinne mahnen
schon Ryan und Gross (1943, S. 24):

„It may indeed be that for some classes of diffusion the normal frequency or logistic
may be found to be more than interesting analogies, but at best this could be true on-
ly of limited types of diffusion, i.e. where the methodological assumptions underly-
ing those curves are identical with conditions of social interaction basic to the trait’s
spread”.

Goldsmith und Hofacker (1991) bemängeln das Fehlen eines inhaltlichen Zu-
sammenhangs mit dem latenten Konstrukt der „Innovativeness“. Bowden und
Corkindale (2005) merken an, eine Charakterisierung der Innovatoren als frühes-
te Übernehmer sei schlicht tautologisch.
Schließlich müssen auch die Aussagen zur Bedeutung der sozialen Stellung
von Übernehmern als wenig systematisch angesehen werden. So finden sich
schwer abgrenzbare Generalisierungen dazu an ganz verschiedenen Stellen:
In der Auflistung von Attributen der Übernehmer von Innovationen nennt
Rogers den sozialen Status (Generalisierung 7-5) sowie soziale Partizipation
(Generalisierung 7-18) als Kriterien.
„Sozialer Status“ und „soziale Partizipation“ sind ebenfalls Merkmale von
Meinungsführern (Generalisierungen 8-6 und 8-7), die sich ihrerseits durch frühe
Übernahme auszeichnen.
48 3 Stand der Forschung

Die „interconnectedness“ eines Akteurs als Grad der Vernetzung innerhalb


seines sozialen Umfelds korreliert mit der Adoptionsgeschwindigkeit (Generali-
sierung 8-10). Schließlich wird noch gemäß Granovetters (1973) Theorie der
Stärke von „weak ties“ erwartet, dass besonders ähnliche und nahestehende Ak-
teure einander eher wenig mit Innovationen in Kontakt bringen.
All diese Aussagen zum Zusammenhang von Adoption und der sozialen In-
tegration gehören zusammen, aber sie werden nicht explizit in Bezug zu einander
gestellt: Ist die „interconnectedness“ nicht nur ein Aspekt (und ein Indikator) von
sozialer Partizipation und sozialem Status? Ließen sich auf Basis der Theorie
von „weak ties“ nicht alternative Aspekte finden, die weniger auf die Anzahl von
Verbindungen achten als auf die Qualität der Verbindungen im Hinblick auf den
Innovationsgrad, den sie versprechen? Sind all diese Merkmale nicht letztlich
Attribute von Meinungsführern?
Weiter stellt sich im Hinblick auf die grundlegende Betrachtung von Diffu-
sion als Kommunikationsprozess die Frage, ob die Diffusionstheorie die Ent-
wicklungen des Faches – ausgehend von dem linearen Modell von Lasswell –
tatsächlich nachvollzogen hat. Rogers verweist heute zwar unmittelbar nach der
Definition von Diffusion einmal darauf, dass der Prozess der Kommunikation für
ihn rekursiv ist, ganz im Sinne moderner Kommunikationsmodelle: „We think of
communication as a two-way process of convergence, rather than as a one-way,
linear act in which one individual seeks to transfer a message to another in order
to achieve certain effects“ (Rogers, 2003, S. 6; vgl. Rogers & Kincaid, 1981).
Sucht man aber nach Spuren dieses Umdenkens in den einzelnen Konzepten der
Diffusionstheorie, so findet man nur ein marginales Zugeständnis, nämlich die
Einbeziehung der Implementierungsphase in den vormals nur vierstufigen Über-
nahmeprozess (Rogers & Kincaid, 1981). Im Prozess der Übernahme, so geste-
hen Rogers und Kincaid zu, kann es zum Phänomen der „Reinvention“ kommen
(vgl. Rice & Rogers, 1980; Rogers, 2003, S. 179-188). Dabei macht der Über-
nehmer sich die Innovation aktiv und kreativ zu eigen. Als Konsequenz aus die-
ser Feststellung nimmt Rogers drei neue Generalisierungen auf, die die positiven
Auswirkungen von „Reinvention“ auf den Diffusionsprozess betreffen. Die
überwiegende Mehrheit der 86 Generalisierungen greift dagegen weiterhin auf
das dichotome Adoptionskonzept zurück.
Diese Zugeständnisse an eine neue Sicht von Innovation und Diffusion als
rekursiver Prozess erscheinen umso weniger konsequent, wenn man betrachtet,
wie andere Disziplinen damit umgingen: Das gleiche Umdenken hat in der be-
triebswirtschaftlichen Innovationstheorie einen Paradigmenwechsel ausgelöst,
und zwar von einer „angebotszentrierten“ hin zur „nutzerzentrierten Innovations-
forschung“ (von Hippel, 1986; Brockhoff, 1998; Leder, 1989; Wengenroth,
2001; Pleschak & Sabisch, 1996).
3.1 Klassische Diffusionstheorie 49

Ein Grund für die Zurückhaltung der Diffusionsforschung mag hier in Fol-
gendem liegen: Ein konsequentes Eingeständnis dessen, dass die Nutzer selbst
aktiv sind, hätte den Kanon der Methoden und der theoretischen Konzepte
gründlich in Frage gestellt, insbesondere den Begriff der Innovation in seiner
statischen Verankerung und den der Adoption in seiner dichotomen Interpretati-
on. Gerade diese beiden Begriffe sind aber für die – in der Diffusionstheorie
wesentliche – Betrachtung von Diffusionsverläufen auf aggregierter Ebene zen-
tral. Rammert (1993, S. 245) kritisiert das statische Denken der Diffusionsfor-
schung schon am Beispiel des klassischen Telefons:

„Kann man zum Beispiel realistisch voraussetzen, daß es bei [der] Diffusion immer
um die gleiche Technik geht? Die einzelnen Geräte, wie im ersten Patent von Bell
beschrieben, der erste funktionierende Bellsche Apparat, der spätere Wechselspre-
cher, der Apparat mit Netzanschluss und das moderne Telefon mit automatischem
Selbstwähldienst unterscheiden sich erheblich voneinander. In den Diffusionstheo-
rien werden sie einfach identisch gesetzt.“

Was Rammert bereits in Bezug auf die von Angebotsseite wandelnde Technolo-
gie des Telefons betonte, das gilt noch viel mehr für Innovationen, die von ihren
Nutzern weiterentwickelt werden. Genau das ist aber etwa beim Mobiltelefon der
Fall.
Es bleibt festzuhalten: Die Diffusionstheorie ist zunehmend dem Vorwurf
ausgesetzt, dass sie festgelegt ist auf ein lineares Konzept der Diffusion und ein
statisches Konzept der Innovation (Rammert, 1993; Flichy, 1995; Karnowski et
al., 2006).
Vertreter der Diffusionsforschung erkennen diese Kritik heute durchaus an.
So gestehen Dearing und Meyer (Dearing & Meyer, 2006, S. 30) in Bezug auf
das heutige Verständnis von Diffusion zu: „[It] positions adopters in a reactive
role as socially-connected receivers and evaluators of new ideas and objects“.

3.1.4.2 Methodologische Stagnation

Als Symptom einer methodologischen Stagnation der Diffusionstheorie genügt


Meyer die Tatsache, dass die „Hybrid Corn“-Studie von Ryan und Gross (1943)
– aus der Zeit der frühen 40er Jahre – noch im angehenden 21. Jahrhundert für
die Methodologie maßgeblich ist. So stellt er die rhetorische Frage: „Diffusion
methodology: Time to innovate?“ (G. Meyer, 2004).
Meyer selbst nennt fünf methodologische Entwicklungsperspektiven: Er
verweist auf a) Panelstudien, b) Studien, die zum Zeitpunkt der Adoption durch-
geführt werden (und nicht erst im Nachhinein), c) die Analyse von Archivdaten,
50 3 Stand der Forschung

wie sie schon in der frühesten Diffusionsforschung von Tarde (2003 [1890])
kam, d) quasi-experimentelle Designs (etwa in Form von Feldstudien anhand
von Innovationen, die sich noch in der Frühphase ihrer Diffusion befinden), und
e) die Integration qualitativer Methoden.
Die Tatsache, dass derartige Methoden nicht zum Einsatz kommen, erklärt
Meyer aus einem mangelnden Bedarf an methodologischen Innovationen. Dieser
wiederum resultiere daraus, dass der Kanon der Forschungsfragen nicht ausge-
weitet wird.
Diese Vermutung lässt sich auch anhand seiner Vorschläge erhärten: Es gibt
Anlass zu erwarten, dass ihre Umsetzung wenig Resonanz in der Diffusionsfor-
schung finden würde. Für einen seiner Vorschläge regt Meyer an:

„A quasi-experimental design would enable the investigator to better specify which


innovation attributes (e.g., „relative advantage“, „compatibility“, „complexity“, „tri-
alability“, „observability“) are most important for certain classes or clusters of inno-
vations and to determine how attributes interact with each other to affect adoption”
(G. Meyer, 2004, S. 66).

Ähnliches wurde schon von einer Vielzahl an Forschern mit weniger aufwendi-
gen Methoden unternommen (vgl. Moore & Benbasat, 1996; Leung & Wei,
1999; Cestre & Darmon, 1998; H.-P. Lu et al., 2005; Holak, 1988; Holak &
Lehmann, 1990; Tornatzky & Klein, 1982; V. Venkatesh et al., 2003) (vgl. Kapi-
tel 3.1.3). Die Ergebnisse fanden jedoch kaum Nachhall, und zwar vermutlich
aus dem einfachen Grund, dass sie nicht auf die heutigen bivariaten Generalisie-
rungen der Diffusionstheorie anzuwenden waren.
Bessere empirische Instrumente werden aber auch innerhalb der bestehenden
Forschungsfragen und Generalsierungen der Diffusionstheorie benötigt. Ins-
besondere standardisierte Skalen, die für die grundlegenden Konstrukte wie
Attribute von Innovationen oder Nutzern anzuwenden wären, fehlen noch im-
mer. Gerade für einen Ansatz, der sich auf den Vergleich tausender Studien
stützt, wären solche Standards notwendig. Die Versuche, etwas derartiges durch-
zusetzen, fanden allenfalls am Rande statt (Moore & Benbasat, 1991). So kann
der heutige Diffusionsforscher nicht auf ein Instrumentarium zurückgreifen, das
eine Überprüfung und den Nachvollzug anderer Studien ermöglicht. Liegen
keine Skalen vor, so ist auch eine Akkumulation von Befunden fragwürdig.
Schmidt (1976, S. 14) verweist auf die wissenschaftstheoretische Dimension
dieser Problematik:

„Dieselben theoretischen Konzepte wie Kosmopolitismus oder Status werden in ver-


schiedenen Gesellschaften und empirischen Untersuchungen zwar durch vielleicht
ähnliche Meßoperationen gemessen. Ob diese Meßoperationen aber wirklich ver-
3.1 Klassische Diffusionstheorie 51

gleichbar sind, scheint oft mehr als fraglich. Wenn aber die Messungen verschieden
sind, kann man nicht mehr vom Test der gleichen Hypothese in verschiedenen Ge-
sellschaften reden. In Wirklichkeit sind dann unterschiedliche Hypothesen getestet
worden“.

Diese Kritik verweist auf die grundlegende wissenschaftstheoretische Problema-


tik: Im Rahmen der „Meta-Forschung“ geht es Rogers streng genommen nicht
um die kritische Fortentwicklung von Hypothesen, es geht ihm um eine Akku-
mulation von Befunden zu seinen Generalisierungen.

3.1.4.3 Epistemologische Kritik am Positivismus

Will man nicht jede der beiden Stagnationen – die theoretische und die methodo-
logische – jeweils auf die andere zurückführen, so muss man eine Ebene tiefer
gehen und dort Ursachen für beide Probleme aufspüren. Bereits mit den letzten
Überlegungen des Vorkapitels drängte sich der Verdacht auf, dass diese Ursa-
chen in der metatheoretischen Ausrichtung von Rogers liegen, in seinem Ansatz
der Forschung als „Meta-Research“.
Rogers‘ Form der Metaanalyse als „Meta-Research“ war in den 1960er Jah-
ren weit verbreitet. Die Vertreter des kritischen Rationalismus – der sich in die-
ser Zeit gerade Bahn brach – betrachteten dieses Vorgehen als Unsitte. So kriti-
siert Glass in einer allgemeinen Stellungnahme (1976, S. 4):

„These are praiseworthy attempts to cope with large and perplexing bodies of litera-
ture. But the methodologies we have applied have been too weak for the complexity
of the problem. Measurement of the outcomes of the studies have typically been di-
chotomous: statistically significant vs. non-significant. Few properties of the studies
have been related to outcomes, and examination of relationships has made use of
simple two-factor crosstabulations instead of more versatile multivariate techniques.
The methodology in widest use is the voting method of tabulating study results. Sta-
tistically significant vs. non-significant findings are classified by one, or perhaps
two, attributes of the studies”.

Der Vorwurf einer oberflächlichen „voting method“ zielt insbesondere auf eine
Vernachlässigung der methodologischen Rahmenbedingungen, unter denen die
zusammengefassten Ergebnisse zustande gekommen waren (Unterschiede insbe-
sondere in den Fassungen der Indikatoren wie auch in den Stichprobengrößen).
Gegen ein solches Verfahren spricht nicht nur das Argument von Schmidt (1976,
S. 14), Hypothesen, die nicht garantiert gleich operationalisiert wurden, seien
potentiell unterschiedliche Hypothesen. Dagegen sprechen auch die Gefahren
einer Verzerrung, die Studien mit größeren Stichproben begünstigt, da diese eher
52 3 Stand der Forschung

signifikante Befunde hervorbringen, und eines „file drawer bias“ (Publikations-


bias). Dieses rührt daher, dass Studien ohne signifikante Befunde seltener publi-
ziert werden und häufiger „in der Schublade“ enden (Glass, 1976).
Ob eine bestimmte Quote der Bestätigung einer Generalisierung tatsächlich
auf Varianz im Hinblick auf die Generalisierung zu deuten ist, bleibt offen. Ge-
nauso gut könnten sekundäre Effekte wie Unterschiede in der Operationalisie-
rung, in der Größe des Samples oder in einem anderen Faktor dahinter stehen
(Downs & Mohr, 1976).
Problematisch ist auch Rogers‘ Umgang mit Defiziten in der Quote der Zu-
stimmung: Die Idee, an einer Generalisierung festzuhalten selbst bei einer Ab-
lehnungsquote von 29 Prozent – ja von einem befriedigenden Grad an Bestäti-
gung (Rogers 1981, 132) auszugehen angesichts der verbleibenden 71 Prozent –
erscheint sehr unbefriedigend (Downs & Mohr, 1976; Schmidt, 1976; Glass,
1976). Das Ethos der Wissenschaft legt ein anderes Vorgehen nahe:
Angenommen, die folgende Generalisierung würde durch eine Studie wi-
derlegt: „Die wahrgenommene Komplexität von Innovationen hängt negativ
zusammen mit der Adoptionsrate“ (Generalisierung 6-3, Rogers, 2003, S. 266).
In diesem Fall sollte man auf Basis dieser Gegeninstanz nach neuen Differenzie-
rungen suchen, um zu einer Verfeinerung der Hypothese zu kommen. Dann
käme es schnell zu Forschungsfragen, deren Anspruch über die bisherigen biva-
riaten Sätze hinausgehen. Hier würde etwa gefragt nach Interaktionen zwischen
Attributen von Innovationen und Übernehmern: Vielleicht dominieren in der
befragten Stichprobe die „kognitiven Innovatoren“, die – nach der Theorie von
Venkatraman (1991) – mit Komplexität weniger Berührungsängste haben. Mit
den Forschungsfragen würde die Nachfrage nach neuen Methoden steigen, und
vor allem nach verlässlichen Skalen. Sie sind für jede Falsifizierung eine unab-
dingbare Voraussetzung. Gäbe man der Falsifizierung eine solche Bedeutung, so
müsste die Diffusionstheorie – im Sinne von Poppers (1972) evolutionärem
Verständnis des Erkenntnisfortschritts – eine ganz neue theoretische und metho-
dische Dynamik erhalten.

3.1.5 Resümee

Rogers‘ Verdienst liegt darin, dass er die vielfältigen diffusionstheoretischen


Bestrebungen aus unterschiedlichen Disziplinen zu einem einzigen Forschungs-
ansatz vereint hat. Dabei konsolidierte er die vorhandenen Heuristiken und Me-
thoden, und er sammelte Befunde u.a. zu nutzer- wie innovationsseitigen Adop-
tionsfaktoren sowie zu Phänomenen wie Meinungsführerschaft und Verbreitung
von Innovationen in sozialen Netzwerken.
3.2 Vertiefende Ansätze 53

Betrachtet man den theoretischen und methodologischen Fortschritt im Zu-


ge der klassischen Diffusionstheorie, wie er sich über die fünf Auflagen von
Rogers‘ Standardwerk abzeichnet, so sind aber auch Einschränkungen festzuhal-
ten: Die Theorie bleibt – in Form von Generalisierungen – auf einem niedrigen
Niveau der Komplexität. Damit kann sie dem Zusammenspiel unterschiedlicher
Faktoren bei der Verbreitung von Innovationen nicht gerecht werden, geschwei-
ge denn deren Veränderung im Zuge der Reinvention. Unterkomplex sind nicht
zuletzt auch die klassischen Elemente der Diffusionstheorie wie die Normalver-
teilung als Modellierung der Verbreitung einer Innovation in einem sozialen
System: Deren theoretische Basis ist schlicht die Annahme einer zufälligen Ver-
teilung von Übernehmern. Netzwerkeffekte und das Phänomen der Sättigung
würden aber nach differenzierteren Betrachtungen verlangen, ausgehend etwa
von der logistischen Kurve.
Auch die Methoden entwickeln sich zu wenig fort über den frühen Stand
der maßgeblichen Diffusionsstudie von Ryan und Gross. Standardisierte Indika-
toren etwa in Form von Skalen zu den Attributen von Innovationen oder Über-
nehmern haben sich nicht etabliert. Ein Vergleich zwischen unterschiedlichen
Diffusionsstudien ist aufgrund der schweren Vergleichbarkeit von Messmetho-
den nur oberflächlich möglich.
Dieser methodische und theoretische Stillstand bei gleichzeitiger Akkumu-
lation von Daten ist zurückzuführen auf die induktivistische Vorgehensweise von
Rogers bei der Integration vieler Ansätze zu einer Diffusionstheorie. Dafür spre-
chen jedenfalls eine ganze Reihe von Indizien. Die in den 1960er Jahren verbrei-
tete Form der Metaanalyse – so wurde argumentiert – verhinderte geradezu eine
dynamische Fortentwicklung im Sinne einer Evolution von Hypothesen und
Theorien. Rogers selbst (1976, S. 299) fasst die Kritik mit einem Diktum zu-
sammen, das er von einem nicht namentlich genannten amerikanischen Kommu-
nikationswissenschaftler gehört hatte: Diffusionstheorie sei „a mile wide but an
inch deep“. Diese Diagnose passt gut in das Bild eines theoriearmen, weil induk-
tivistischen Ansatzes.

3.2 Vertiefende Ansätze

Mit dieser Diagnose ist auch ein Ansatz für eine Therapie leicht gefunden: Man
muss in die Tiefe gehen. Dafür bieten sich zwei Herangehensweisen an, die
jeweils mit eigenen Forschungsfragen und Methoden verbunden sind. In Gegen-
überstellung werden sie gemeinhin charakterisiert als „qualitative“ versus „quan-
titative“ Methoden (Punch, 1998; Kelle, 2007; Lamneck, 2005). Im Folgenden
wird einführend dieses Gegensatzpaar erläutert. Vorgestellt werden dann zu-
nächst als quantitative Ansätze Sozialpsychologische Handlungstheorien, die
54 3 Stand der Forschung

Analyse sozialer Netzwerke und der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz. Als qua-


litative Ansätze werden verschiedene Konzepte der „Cultural Studies“ sowie die
soziologische Rahmenanalyse dargestellt.

3.2.1 Qualitative vs. quantitative Ansätze

Das Gegenüberstellung von „qualitativer“ und „quantitativer“ Forschung ver-


weist auf die Vorgehensweisen, die eingesetzt werden, nämlich qualifizierende
versus zählende (Kelle, 2007). Andere Forscher fassen die Gegenüberstellung
unter Slogans wie „Sensibilisierung versus Operationalisierung“ (Brüsemeister,
2001) oder „Holism versus Reductionism“ (Verschuren, 2001). Die folgenden
Ausführungen sollen zeigen, welche Forschungsfragen und Methoden die beiden
Ansätze für eine Vertiefung der Diffusionstheorie bereitstellen.
Grundsätzlich sucht der qualitative Weg die Vertiefung im empirischen
Phänomen selbst. Darauf lässt sich der Forscher – gemäß dem „Prinzip der Of-
fenheit“ (Hoffmann-Riem, 1980) – vollkommen ein, um es „als Ganzes“ zu
erfassen. Zu diesem Zweck reduziert er die eigenen Erwartungen auf ein Mini-
mum, um so offen zu sein für Aspekte am empirischen Phänomen, die er im
Voraus vielleicht nicht erwartet hätte. Dafür ist etwa die Methode des Leitfaden-
interviews (Lamneck, 2005) geeignet. An Stelle der standardisierten Befragung
gibt es dem Befragten die Möglichkeit, seine Sicht in eigenen Worten frei aus-
zudrücken. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren gerade zur Erfor-
schung technischer Innovationen Methoden durchgesetzt, die als „ethnogra-
phisch“ bezeichnet werden, weil sie aus der völkerkundlichen Feldforschung
übernommen wurden. Dieser Ansatz ist in den Sozialwissenschaften insbesonde-
re im Anschluss an Whytes (1943) Studie „Street Corner Society“ unter Einwan-
derern in Chicago zum Synonym geworden für ein spezifisches Ensemble quali-
tativer Methoden (O’Reilly, 2005).
Beim subjektiven Ansatz wird der Forscher selbst in seiner Subjektivität
zum „menschlichen Messinstrument“ (Powdermaker, 1966, S. 19). Er begibt sich
in der Regel durch teilnehmende Beobachtung ins Feld, um so das zu untersu-
chende Phänomen möglichst umfassend wahrnehmen zu können (O’Reilly,
2005). Bekanntlich ist die Erwartung, ein empirisches Phänomen in seiner Gänze
erfassen zu können, schon allein aufgrund der reduktionistischen Funktionsweise
menschlicher Sinne und des menschlichen Bewusstseins eine Fiktion (Verschu-
ren, 2001). Um sich dieser unvermeidbaren Einschränkungen und der Verfäl-
schungen der eigenen Wahrnehmung zumindest bewusst zu werden, führen eth-
nographische Forscher ein Tagebuch über mögliche Einflüsse auf ihre Wahr-
nehmung (O’Reilly, 2005, S. 181). Auch Transskripte von Leitfadeninterviews,
Aufzeichnungen von Beobachtungen und Tagebücher können aber nicht „als
3.2 Vertiefende Ansätze 55

Ganzes“ ausgewertet werden. Deshalb werden auch qualitative Methoden in der


Regel von Theorien begleitet, die Heuristiken zur Auswertung bieten. Im Hin-
blick auf Innovationen sind besonders fruchtbare Theorien mit entsprechenden
Heuristiken eingeführt worden im Kontext der „Cultural Studies“ (Hall, 1980; de
Certeau, 1988; Silverstone & Haddon, 1996) sowie in der Rahmenanalyse
(Goffman, 1974).
Der quantitative Ansatz bleibt dagegen der grundsätzlichen Methodologie
der Diffusionstheorie insofern treu, als er Befunde anstrebt, die auch zahlenmä-
ßig angebbar sind (Verschuren, 2001). Eine Vertiefung soll dadurch erreicht
werden, dass man die Generalisierungen ersetzt durch Hypothesen, die von ande-
ren Disziplinen abgeleitet werden können. Diese Hypothesen werden dann getes-
tet und – sofern sie sich nicht bewähren – auf der Basis erneuter theoretischer
Überlegungen modifiziert bzw. verfeinert. So werden in einem Prozess des „tri-
al-and-error“ im Sinne Poppers (1959) die Hypothesen schrittweise optimiert
und zusammengefasst zu Modellen, die dem fraglichen empirischen Phänomen
schließlich sehr nahe kommen.
Voraussetzung für dieses Vorgehen ist ein hoher Grad an methodischer
Standardisierung: Empirische Befunde können – wie bereits in der Kritik der
Diffusionstheorie angemerkt – nur dann überprüft werden, wenn die Messin-
strumente der ursprünglichen Studie offen liegen, so dass die wissenschaftliche
Community mit denselben Instrumenten arbeiten kann. Außerdem muss die
Stichprobe, die untersucht wird, repräsentativ sein für die Gesamtheit, für die die
Hypothese aufgestellt worden ist (vgl. D. Kaplan, 2004; Bortz & Döring, 2006).
Auch wenn heute gelegentlich ein „Paradigmenkrieg“ (Kelle, 2007, S. 14)
konstatiert wird, sind beide Ansätze sehr wohl miteinander vereinbar (Kelle,
2007; Punch, 1998). Dies zeigt sich historisch schon am Beispiel der frühen
Ethnographie. So schreibt Malinowski (1935, S. 459) als einer der Begründer der
Ethnographie im Rückblick auf seine empirische Arbeit: "Were I able to embark
once more on fieldwork, I would certainly take much greater care to measure,
weigh and count everything that can be legitimately measured, weighed and
counted.". Ganz konkrete Vorschläge zur Verbindung beider Methoden bringt
der Malinowski-Schüler Günter Wagner – noch ein Jahr vor Whytes „Street
Corner Society“ (1943) – indem er empfiehlt, der quantitativen Forschung quali-
tative Methoden zur Exploration vorzuschalten (1942, S. 122):

„Der Ethnograph [...] wird […] zweckmäßigerweise mit dem quantitativen Verfah-
ren erst dann zu arbeiten beginnen, wenn er bereits einen guten Überblick über die
Kulturwandelsituation in dem von ihm zu erforschenden Gebiet gewonnen hat.“

Verlässt man sich aber bei der Betrachtung neuer, fremder Phänomene von Be-
ginn an allein auf quantitative Forschung, so droht man abzugleiten in ein „Nar-
56 3 Stand der Forschung

renparadies“ (Wagner, 1942, S. 122) der eigenen Konstrukte und Messungen,


das dem empirischen Phänomen schließlich überhaupt nicht mehr gerecht wird.
Bildlich gesprochen besteht bei der quantitativen Forschung die Gefahr, dass
man „den Wald vor lauter Bäumen“ nicht sieht (Kleining, 2007, S. 215).

3.2.2 Quantitative Ansätze zur Vertiefung

Quantitative Ansätze, die sich zur Überwindung der theoretischen und der me-
thodischen Stagnation der Diffusionsforschung anbieten, sind
ƒ die sozialpsychologische Handlungstheorie (Ajzen, 1985; Fishbein, 1980,
1967; Ajzen, 2005; Ajzen & Fishbein, 1975) zur Analyse individueller
Adoptionsentscheidungen auf der Mikroebene,
ƒ die Analyse sozialer Netzwerke zur Erforschung der Verbreitung von Adop-
tionsentscheidungen innerhalb sozialer Netzwerke (Wassermann & Faust,
1994), und
ƒ der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz (Dimmick, Sikand, & Patterson,
1994; E. Katz et al., 1974; Palmgreen & Rayburn, 1985; Ruggiero, 2000)
zur Untersuchung des breiten Spektrums an Funktionen, die Nutzer Innova-
tionen im Zuge von deren Implementierung zuweisen können.
Die Darstellung dieser Ansätze geht auf den jeweiligen theoretischen Hinter-
grund ein sowie auf die wichtigsten Konzepte und Methoden im Hinblick auf die
weitere Entwicklung von Innovationen in Nutzerhand.

3.2.2.1 Sozialpsychologische Handlungstheorien

Ein zentraler Punkt der Kritik an der diffusionstheoretischen Adoptionsfor-


schung ist die Beschränkung auf bivariate Zusammenhänge und der Mangel an
umfassenden Modellen, die mehrere Faktoren einbeziehen müssten. Im Hinblick
auf das zentrale Forschungsinteresse der Vorhersage von Adoptionsentscheidun-
gen bedeutet dies, dass die Faktoren, die die Adoption beeinflussen, „ziemlich
unsystematisch aufgezählt“ werden (Schenk, 2002, S. 376). Die Ansätze, die
diesen Aufzählungen mehr Komplexität vermitteln sollten, konnten sich inner-
halb der Diffusionstheorie allerdings nicht durchsetzen (Schmidt, 1976; N. Lin &
Zaltman, 1973; Venkatraman, 1991, vgl. Kap. 3.1.3).
In der Sozialpsychologie wurden parallel seit den 1970er Jahren Modelle
zur Erklärung menschlichen Verhaltens entwickelt, die ein breites Spektrum an
Verhaltensweisen auf eine beschränkte Zahl von Einflussfaktoren zurückführten.
Ursprünglich war dies Modell nicht etwa auf die Adoption von Innovationen
ausgerichtet, sondern auf Fragen der Sicherheit (Nutzung von Anschnallgurten;
3.2 Vertiefende Ansätze 57

Budd, North, & Spencer, 1984) oder des Verhaltens in Gesundheitsfragen (Art
der Ernährung von Säuglingen; Manstead, Proffitt, & Smart, 1983).
Im Folgenden werden zunächst die sozialpsychologischen Handlungsmo-
delle vorgestellt mit ihren jeweiligen Anwendungen zur Erklärung von Adopti-
onsverhalten. Eine kritische Würdigung ihres Beitrags zur Diffusionstheorie
schließt sich an.
Der innerste theoretische Kern, aus dem alle im Folgenden vorgestellten so-
zialpsychologischen Handlungsmodelle abgeleitet sind, ist ein gemeinsames
Grundmodell zur Erklärung von Einstellungen gegenüber Objekten oder Hand-
lungen. Dieses Modell sieht die Einstellung eines Menschen determiniert durch
zwei Komplexe: Zum einen sind es die Erwartungen bezüglich der Eigenschaften
des fraglichen Objekts bzw. der Konsequenzen der Handlung, zum anderen sind
es die zugehörigen Bewertungen: Einstellungen resultieren – im Sinne eines
Menschenbilds des homo oeconomicus – aus einem rationalen Abwägen (Persky,
1995).

„Theory of Reasoned Action“

Das „Erwartungs-Bewertungsmodell“ von Fishbein (Fishbein, 1967) ist in der


Kommunikationswissenschaft vor allem aufgrund seiner Rezeption durch den
„Uses-and-Gratifications“-Ansatz bekannt. Dieser greift auf Erwartungen und
Bewertungen zurück in der Beschreibung des Verhaltens im Zuge der Nutzung
von Medien, etwa bei der Programmwahl beim Fernsehen (E. Katz et al., 1974;
vgl. Schenk, 2002, S. 638).
Dieser Ansatz ging ein in ein komplexeres Handlungsmodell, das Handlun-
gen als Objekte der Bewertung betrachtet und die Einflussfaktoren für bestimmte
Handlungsweisen strukturiert. Dabei wurde das Modell erweitert um soziale
Faktoren, wie sie dem Menschenbild eines „homo sociologicus“ (Dahrendorf,
2006) entsprechen. Als zweiten Erklärungsgrund eines Verhaltens – neben der
subjektiven Einstellung – zieht dies Modell die subjektive Norm bezüglich des
Verhaltens heran. Wie bereits die Einstellung zum Verhalten ist auch diese Norm
bestimmt durch das, was Menschen aus der persönlichen Umgebung hinsichtlich
des in Frage stehenden Verhaltens erwarten, und durch unsere Gewichtungen
dieser Einstellungen: Wie stehen bestimmte Menschen dazu, wenn ich mich so
verhalte, und wie wichtig ist mir die Meinung dieser Menschen (Fishbein,
1980)?
Die subjektive Norm und die Einstellung gegenüber dem Verhalten beein-
flussen zusammen die Intention zu einem Verhalten. Die relative Bedeutung der
beiden Einflüsse kann variieren. Die Intention ist schließlich ein starker Prädik-
58 3 Stand der Forschung

tor auf das Verhalten selbst. In seiner Urform erschien dies Modell als „Theory
of Reasoned Action“ (TRA) (Ajzen & Fishbein, 1975) (Abbildung 6).

The person’s beliefs


that the behaviour leads Attitude toward
to certain outcomes and the behaviour
higher evaluations of
these outcomes

Relative
importance Intention Behaviour
of attitudinal
and normative
The person’s beliefs
that specific individuals
or groups think he/she
should or should not
perform the behaviour Subjective norm
and his/her motivation
to comply with
the specific referents

Abbildung 6: „Theory of Reasoned Action“

Nimmt man nun als zu erklärendes Verhalten die Adoption einer Innovation, so
lässt sich dieses Modell auch im Rahmen der Diffusionstheorie verwenden.
Während in den meisten Diffusionsstudien Nutzer um die Bewertung einer
Innovation gebeten werden, geht es hier um die Bewertung einer möglichen
Handlung. Diese Sichtweise rückt die Adoptionsentscheidung noch näher an das
Denken des Nutzers heran und verhindert Rationalisierungen über den Wert
einer Innovation „im Allgemeinen“.
Die beiden meistzitierten Anwendungen dieses Modells auf Adoptionsent-
scheidungen (Moore & Benbasat, 1996; Karahanna et al., 1999) verbinden die
Theorien, indem sie Rogers‘ fünf Attribute als Erwartungen gegenüber dem
Adoptionsverhalten ansehen. Einzelne Faktoren werden angepasst, gegebenen-
falls werden andere Faktoren hinzugenommen. Bewertungen der Erwartungen
werden nicht berücksichtigt. So bleibt als substanzielle Erweiterung gegenüber
Rogers‘ Attributen nur die subjektive Norm als zweite Ebene des TRA-Modells.
Als exemplarisch gelten kann die Studie von Karahanna et al. (1999). Hier
geht es um die Adoption des Betriebssystems Windows 3.1 bei den Angestellten
eines US-amerikanischen Finanzunternehmens.
3.2 Vertiefende Ansätze 59

Als Faktoren zur Übernahmeentscheidung berücksichtigt das getestete Mo-


dell „compatibility“ und „trialability“ in Form gleichnamiger Konstrukte, ferner
„relative advantage“ in dem Konstrukt „perceived usefulness“, „complexity“ in
„ease of use“, und „observability“ in „visibility“. Zusätzlich werden die Faktoren
„image“ und „result demonstrability“ hinzugezogen. Dabei geht es um die Be-
rücksichtigung des Prestigegewinns durch die Übernahme der Innovation bzw.
der nach außen wahrnehmbaren Vorteile (Karahanna et al., 1999, S. 187-188).
Als Einflüsse auf die subjektive Norm zählen die Einstellungen von Kolle-
gen, Computerexperten und Vorgesetzten (Abbildung 7). Auf beiden Ebenen
wird allerdings in soweit von der TRA abgewichen, als die Einstellung nur auf
Erwartungen bezogen wird und nicht auf deren Bewertung.

Compatibility trialability Perceived Ease of use


Usefulness

Image
Perceived
Voluntariness
Visibility

Result de-
Attitude toward
monstrability
Adopting Behavioral
Intention to
adopt
Top Subjective Norm
management toward Adopting

Supervisor

Peers

Department Local Computer Friends


Specialists

Abbildung 7: Integration von TRA und “Innovation Attributes” (Karahanna et al., 1999, S. 197-198)
60 3 Stand der Forschung

Die genannte Studie veranschaulicht auch noch einmal den Mehrwert eines
TRA-basierten Ansatzes gegenüber der klassischen Diffusionstheorie. Anhand
der dargestellten Konstrukte wurden die Einstellungen der Befragten vor und
nach der Übernahme der Innovation erhoben und miteinander verglichen. Auf
der Basis von klassischer Diffusionstheorie hätte ein solches Vorgehen höchstens
unterschiedliche Bewertungen im Hinblick auf die Innovation festmachen kön-
nen sowie eine gestiegene Adoptionsrate. Das TRA-Modell dagegen ermöglicht
es, den Einfluss von Erwartungen bezüglich der Übernahmeentscheidung zu
vergleichen mit dem Einfluss von Normen. Die Studie von Karahanna et al.
(1999) zeigt, dass vor der Übernahme die Normen als Einflussfaktor dominieren,
während für die Bestätigung der Übernahmeentscheidung die Einstellung auf
Basis eigener Erfahrungen zum wichtigsten Faktor wird.
Die Integration von Rogers‘ Innovationsattributen in die „Theory of Reaso-
ned Action“ stellt zweifellos einen Gewinn an Elaboration dar. Dennoch hat sich
dieser Ansatz nicht zur Erklärung von Adoptionsverhalten durchgesetzt. Dies
mag teilweise darauf zurückgeführt werden, dass der Erwartungs-Bewertungs-
Ansatz nicht konsequent umgesetzt wurde insofern, als Einstellung und subjekti-
ve Norm allein auf Erwartungen zurückgeführt wurden.
Ein anderer wichtiger Grund für den Mangel an Erfolg liegt in einer Be-
schränkung der „Theory of Reasoned Action“ selbst: Verhalten wird erklärt
allein auf Basis von Einstellungen und Normen. Damit vernachlässigt der Ansatz
all die Einflüsse, die jenseits von individuellen Einstellungen und sozialen Nor-
men liegen. Die Problematik dieser Einschränkung ergibt sich schon aus der
Betrachtung der zugrunde liegenden Menschenbilder: Die „Theory of Reasoned
Action“ fußt insgesamt auf dem Bild eines Menschen, der sein Verhalten einer-
seits – im Sinne des Erwartungs-Bewertungsansatzes – auf der Basis eigener
Bewertungen optimiert, sich andererseits aber auch an sozialen Normen orien-
tiert. In der Sozialwissenschaft hat sich dagegen heute ein Menschenbild durch-
gesetzt, das zusätzlich die Einschränkungen berücksichtigt, denen das Indivi-
duum in seinem Handeln unterworfen ist. Dieses Menschenbild des „homo so-
cio-oeconomicus“ nach S. Lindenberg (Lindenberg, 1990) geht davon aus, dass
das Individuum seine Verhaltensoptionen nicht nur von handlungs- und normen-
bezogenen Erwartungen und Bewertungen abhängig macht – deren Produkt er zu
maximieren sucht –, sondern auch von Ressourcen und Restriktionen. Zusam-
men genommen ergibt sich so das RREEMM-Modell des Menschen (resource-
ful, restricted, expecting, evaluating, maximizing man) (Lindenberg, 2001a,
1990, 2001b).
In den von Rogers berücksichtigten Attributen von Innovationen sind die
Ressourcen und die Restriktionen der potentiellen Übernehmer – implizit –
durchaus berücksichtigt, etwa in Form der Komplexität von Innovationen oder
3.2 Vertiefende Ansätze 61

ihrer Kompatibilität. Die empfundene Komplexität ist höher, je stärker die kog-
nitiven Restriktionen des Übernehmers ausgeprägt sind, und die Kompatibilität
kann etwa von einer bestehenden technischen Infrastruktur abhängen, also Re-
striktionen technischer Art unterworfen sein. Rogers betrachtet aber Attribute
von Innovationen und Eigenschaften von Übernehmern getrennt. Deshalb blei-
ben diese Zusammenhänge verdeckt.
Die Adoption von Innovationen unterliegt solchen Kontrollfaktoren in un-
terschiedlichem Maße. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Innovation aus
finanziellen oder kognitiven Restriktionen heraus nicht genutzt wird, desto ge-
ringer, je billiger bzw. einfacher die jeweilige Innovation ist. In diesem Fall sind
die Kontrollfaktoren nicht salient, und auch das Ignorieren dieser Kontrollfakto-
ren durch die TRA fällt weniger ins Gewicht als bei einer teuren und komplexen
Innovation. In einer Metaanalyse von TRA-basierten Studien stellten Sheppard
et al. (1988) fest, dass es bei mehr als der Hälfte der untersuchten Studien um
Verhalten ging, das derartigen Kontrollfaktoren in hohem Maße unterworfen ist.
Damit war die TRA nach Sheppard et al. in diesen Fällen prinzipiell gar nicht
geeignet, um die Adoptionsentscheidung vorauszusagen.

„Theory of Planned Behavior“

Zur Überwindung dieser Einschränkungen hat Ajzen (1985; 2005) das Modell
um eine Faktorendimension erweitert, die den Ressourcen und Restriktionen zur
persönlichen Kontrolle über eigene Handlungen Rechnung trägt. Wie die verhal-
tensbezogenen Einstellungen und Normen, so geht auch die wahrgenommene
Verhaltenskontrolle („perceived behavioral control“) zurück auf Erwartungen
und Bewertungen dieser Erwartungen.
So leitet seine „Theory of Planned Behavior“ (TPB) das Verhalten her aus
Einstellungen, subjektiver Norm und wahrgenommenen Verhaltenskontrollen
(Abbildung 8).
62 3 Stand der Forschung

Behavioral beliefs
Attitudes

Outcome evaluations

Normative beliefs
Subjective Behavioral Behavior
Norms Intentions
Motivation to comply

Control beliefs
Perceived
Behavioral
Control
Influence of contr. beliefs

Abbildung 8: „Theory of Planned Behavior“ (Ajzen, 2005)

An dieser Stelle soll noch festgehalten werden, dass einige Darstellungen des
TPB-Modells auch einen Zusammenhang zwischen den drei Einstellungsebenen
postulieren in Form zusätzlicher Pfeile zwischen den verhaltensbezogenen, den
normativen und den kontrollbezogenen „beliefs“ (Ajzen, 2005, S. 126). Diese
Pfeile werden theoretisch nicht explizit erläutert und sie werden stillschweigend
aus der Darstellung entfernt, sobald Hintergrundfaktoren wie Persönlichkeit,
Soziodemographie und Mediennutzung mit berücksichtigt werden (Ajzen, 2005,
S. 135). Dazu ist festzuhalten: Zusammenhänge zwischen den verhaltensbezoge-
nen, den normativen und den kontrollbezogenen „beliefs“ werden durchaus er-
wartet. Theoretisch werden sie aber auf die gemeinsame Abhängigkeit von Hin-
tergrundfaktoren zurückgeführt. Das ist der Grund dafür, dass diese Zusammen-
hänge nicht weiter berücksichtigt werden, sobald diese Hintergrundfaktoren in
die Betrachtung einbezogen werden.
Diese Theorie wurde im Rahmen von Adoptionsstudien vielfach angewen-
det, etwa auf die Adoption von Mobilfunk und Online-Kommunikation (Schenk
et al., 1996), WAP (Hung, Ku & Chan 2003) sowie weiteren mobilen Diensten
(Pedersen, Nysveen, & Thorbjornsen, 2002). Dabei wurden weiterhin zumeist
die Attribute von Innovationen nach Rogers als „Behavioral Beliefs“ gesetzt. Die
Faktoren der Kompatibilität und der Komplexität kamen aber implizit in die
3.2 Vertiefende Ansätze 63

jeweiligen Modelle hinein in Form der Kontrollerwartungen und -bewertungen


(teilweise als „Restriktionen“ bezeichnet) (vgl. Schenk et al., 1996).
Als methodologische Besonderheit der Anwendungen von „Theory of Rea-
soned Action“ wie auch der „Theory of Planned Behavior“ ist festzuhalten: In
den unterschiedlichen Studien wird großer Wert gelegt auf Vergleichbarkeit der
Messmethoden. Diese Bemühungen werden zentral von Ajzen koordiniert. In
seinen Publikationen bietet er ganz konkrete Beispiele und Vorlagen für die
Gestaltung TPB-orientierter Fragebögen an (Ajzen, 2005).

„Technology Acceptance Model“ und “Unified Theory of Acceptance and Use


of Technology”

Zwei weitere Ansätze, die wesentlich auf TRA gründen, sind gerade im Hinblick
auf neue Kommunikationstechnologie weit verbreitet: Das „Technology Accep-
tance Model“ (TAM) (Davis, 1989, 1986; Davis, Bagozzi, & Warshaw, 1989)
und die „Unified Theory of Acceptance and Use of Technology“ (UTAUT) (V.
Venkatesh et al., 2003).
Das „Technology Acceptance Model“ leitet aus theoretischen Analysen
(Auseinandersetzung u.a. mit der Adoptionstheorie von Rogers, Sozialer Lern-
theorie [Bandura, 1977] und TRA) zusammen mit empirischen Befunden ab, was
es ist, das den Ausschlag gibt für die Übernahme von Innovationen: Der wahrge-
nommene Nutzen („Perceived Usefulness“) und die Schwierigkeit der Nutzung
(„Perceived Ease of Use“) (vgl. Abbildung 9, Davis et al., 1989).

Perceived
usefulness
Attitude Behavioral Actual
External toward intention system
variables using to use use
Perceived
ease of use

Abbildung 9: „Technology Acceptance Model“ (TAM)

Die Befunde wurden seither in einer Vielzahl von Studien überprüft (Hubona &
Burton-Jones, 2003; Pedersen & Nysveen, 2003). Dabei ergab sich, dass der
Ansatz gerade der Übernahme von Innovationen im beruflichen Rahmen sehr
gerecht wird (vgl. Reviews von Legris, Ingham, & Collerette, 2003; Schepers &
Wetzels, 2007; W. R. King & He, 2006).
64 3 Stand der Forschung

Die Unified Theory of Acceptance and Use of Technology (UTAUT) von


Venkatesh et al. (2003) schließlich greift zur Erklärung von Adoption auf Ele-
mente einer ganzen Reihe von Ansätzen zurück: TRA, TPB, TAM, Diffusions-
theorie und Soziale Lerntheorie) (Abbildung 10). Dabei stützt sie sich nicht nur
auf bestehende Konstrukte, sondern auch auf Skalen und Items, die sich bereits
in früheren Studien bewährt hatten (V. Venkatesh et al., 2003, S. 437-438).
Auch dieser Ansatz ist spezialisiert auf die Übernahme von Innovationen im
beruflichen Rahmen. Drei der vier nicht unmittelbar nutzerbezogenen Variablen
lassen sich leicht auf Rogers‘ Attribute von Innovationen zurückführen. So ent-
spricht „performance expectancy“ dem „relative advantage“, „effort expectancy“
entspricht der „complexity“ und „facilitating conditions“ der „compatibility“” (V.
Venkatesh et al., 2003). Hinzu kommt mit „social influence“ wieder ein den
Normen entsprechender Faktor und mit „facilitating conditions” ein Pendant zu
„Kontrollfaktoren“. Die „facilitating conditions“ sind die einzige Variable, die in
ihrem Einfluss nicht über die Intention moderiert wird, sondern das Nutzungs-
verhalten unmittelbar beeinflusst. Schließlich werden Geschlecht, Alter, berufli-
che Erfahrung und Freiwilligkeit der Übernahme einer Innovation berücksichtigt,
und zwar als intervenierende Variablen.
Performance
expectancy

Effort expectancy

Behavioral Use
Social influence intention behavior

Facilitating
conditions

Gender Age Experience Voluntariness


of use

Abbildung 10: Unified Theory of Acceptance and Use of Technology (UTAUT) (V. Venkatesh et al.,
2003)

Unter den Modellen zur Adoption von Innovationen sind TPB – als allgemeines
Modell – und UTAUT – im Hinblick auf Adoption in Organisationen – diejeni-
gen, die derzeit als die fortschrittlichsten gelten. Dies Urteil reklamiert auch
Venkatesh für seinen Ansatz, indem er die Erklärungsmacht herausstreicht, wie
3.2 Vertiefende Ansätze 65

sie sich in empirischen Tests erweist: “Given that UTAUT explains as much as
70 percent of the variance in intention, it is possible that we may be approaching
the practical limits of our ability to explain individual acceptance and usage
decisions in organizations” (V. Venkatesh et al., 2003, S. 471).

Kritik und Würdigung

Das Bild, das die Diffusionstheorie seit den 1970er Jahren abgab, war geprägt
von einer Stagnation sowohl im Theoretischen wie auch im Empirischen. Ganz
anders bei den sozialpsychologischen Modellen: Hier kam es zu einer rasanten
Entwicklung. Teilweise lösten die Modelle einander ab, so im Falle der TPB, die
die TRA weitgehend verdrängt hat. Teilweise wurden sie aber auch optimiert für
die Anwendung auf spezifische Rahmenbedingungen hin – etwa Organisationen
als Übernahmekontext. Insgesamt ergibt sich das Bild eines evolutionären Wett-
kampfs der Modelle, ganz im Sinne von Poppers (1972) Verständnis des Fort-
schreitens einer Wissenschaft.
Dieser Fortschritt war nur möglich dadurch, dass in diesem Rahmen auch
methodologische Standards im Hinblick auf die Messung von adoptionsrelevan-
ten Einflussfaktoren eingeführt und respektiert wurden.
Der Zugewinn ist wie folgt zu sehen:
ƒ Die Aufschlüsselung der Einflussfaktoren für die Übernahmeentscheidung
auf drei Ebenen – verhaltensbezogene Einstellungen, Normen und Ressour-
cen bzw. Restriktionen – stellt im Vergleich zu den fünf innovationsbezo-
genen Attributen eine Betrachtung dar, die theoretisch wesentlich tiefer
fundiert ist. Diese Faktoren lassen sich letztlich auf verschiedene Aspekte
eines soziologischen Menschenbilds zurückführen. Manche Konstrukte aus
Rogers‘ Modellen lassen sich – je nach Lesart – gleich mehreren Ebenen
zuordnen. So kann etwa das Konstrukt der Kompatibilität die Frage nach
technischer Anschlussfähigkeit aufwerfen – damit auch nach technischen
Restriktionen –, ebenso aber auch die Frage nach sozialen Normen. Die er-
wähnten Studien zur Adoption neuer Medien zeigen, dass die Berücksichti-
gung von Normen als Einflussfaktor einen Erkenntnisgewinn bringt: Nor-
men sind also im Hinblick auf die Adoption von Medieninnovationen als
Faktor relevant.
ƒ Der handlungstheoretische Ansatz bringt mit sich, dass nicht Objekte be-
wertet werden, sondern Handlungen. Bei der Betrachtung neuer Kommuni-
kationstechnologien ist dies von Vorteil, sofern diese nicht an technische
Artefakte gebunden sind, sondern eher Dienste und schlicht Handlungswei-
sen beinhalten. So ist etwa die Nutzung des Internet über ein Mobiltelefon
66 3 Stand der Forschung

als Handlung klar definiert, während es wesentlich schwieriger ist, diese In-
novation als eine Art Objekt anzusehen.
ƒ Das Erheben von individuellen Erwartungen und Bewertungen bezüglich
eines Verhaltens erlaubt es, das Zusammenwirken von nutzer- und von in-
novationsseitigen Faktoren unmittelbar zu erheben, also ohne dass man nut-
zerseitige und innovationsseitige Merkmale separat misst. Gibt ein poten-
tieller Übernehmer einer Innovation die erwarteten kognitiven Restriktionen
zur Übernahme an – zusammen mit der Bewertung dieser Restriktionen – so
ergibt sich damit ein genaues Bild davon, wie dieser Faktor die Adoptions-
entscheidung beeinflusst: Es werden nicht die technische Komplexität der
Innovation auf der einen Seite und die technischen Fähigkeiten des Nutzers
auf der anderen erhoben: Hier geht es direkt um die subjektiv empfundene
Schwierigkeit, die Innovation technisch zu meistern.
ƒ Die höhere Komplexität der Modelle erlaubt es schließlich, Einflussfaktoren
für die Adoption zu identifizieren, die mit den bivariaten Generalisierungen
der klassischen Diffusionstheorie nicht zu erkennen gewesen wären. Ein
Beispiel dafür ist die Studie von Karahanna et al. (1999), in der die relative
Bedeutung der Faktorengruppen „verhaltensbezogene Einstellungen“ und
„Normen“ verglichen wurden.
Diesem Zugewinn durch die Anwendung sozialpsychologischer Ansätze auf die
Adoptionsentscheidung stehen Abstriche gegenüber:
ƒ Dass man Innovationen nicht als Objekte ansieht, sondern als Handlungs-
weisen, bringt nicht nur die oben erwähnten Vorteile. In Abhängigkeit von
der fraglichen Innovation kann es auch Nachteile haben. Bei Innovationen,
die stark von einem technischen Gerät mit seinen technischen oder auch
ästhetischen Eigenschaften abhängt, kommt so ein wichtiger Faktor zu kurz.
Orlikowski und Iacono mahnen: „The IT artifact itself tends to disappear
from view” (Orlikowski & Iacono, 2001, S. 121).
ƒ Die Handlungssicht ist dynamischer als eine objektorientierte Perspektive.
Die relevanten Faktoren – wie Normen – dagegen werden weiterhin als sta-
tisch vorgegeben. Dieser Sichtweise widerspricht alle sozialwissenschaftli-
chen und psychologischen Evidenz. In Psychologie und Sozialwissenschaft
geht man nämlich im Gegenteil aus von einem ständigen „Aushandeln“ von
Normen bzw. einer ständigen Aktualisierung von Einstellungen (Jonas &
Doll, 1996; Kendzierski, 1990).
Zwar hat die sozialpsychologische Handlungstheorie der Diffusionstheorie – mit
den genannten Vorbehalten – einen deutlichen theoretischen und methodologi-
schen Gewinn gebracht. Dieser Gewinn beschränkt sich aber ganz auf die Mi-
kroebene persönlicher Übernahmeentscheidungen. Nur mit dem Konstrukt der
Normen sind die Meso- und die Makroebene sozialen Einflusses mit einbezogen.
3.2 Vertiefende Ansätze 67

Auf die Mesoebene wird im folgenden Abschnitt eingegangen. Hier hat die Ana-
lyse sozialer Netzwerke die Diffusionstheorie wesentlich vorangebracht.

3.2.2.2 Analyse sozialer Netzwerke

Die wissenschaftliche Einordnung der Analyse sozialer Netzwerke ist seit lan-
gem umstritten. Für die einen stellt sie ein neues Forschungsparadigma dar (Ro-
gers & Kincaid, 1981), andere gehen davon aus, dass der Ansatz mit seiner „be-
merkenswerten Schlichtheit“ weniger eine Theorie darstelle als nur eine Metho-
de (Keupp 1987). Wieder andere Forscher verwenden die Netzwerkmetapher vor
allem als Zeitdiagnose einer „Network Society“. Sie ist dadurch gekennzeichnet,
dass relevante soziale Prozesse sich hier mehr und mehr in digital vermittelten
interpersonalen Netzwerken abspielen (van Dijk, 2005; Castells, 2000).
Den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Konzeptionen von Netzwerken
treffen Wassermann und Faust (1994, S. 3), wenn sie von der Analyse sozialer
Netzwerke als einer Perspektive in der Betrachtung unterschiedlicher humanwis-
senschaftlicher Forschungsfragen sprechen. Diese Perspektive zeichnet sich
dadurch aus, dass sie den Fokus auf die Betrachtung von Beziehungen unter
Akteuren legt einschließlich der Muster und der Bedeutungen dieser Beziehun-
gen.
Im Rahmen dieser Analyse werden sozialwissenschaftliche Fragestellungen
verbunden mit mathematischen Modellen. Ursprünge lassen sich finden einer-
seits in der Mathematik (insbesondere Graphentheorie, vgl. Erdös & Renyi,
1960) und andererseits in der Gruppenpsychologie (insbesondere Soziometrie,
vgl. Moreno, 1934).
Wassermann und Faust (1994, S. 4) nennen vier Prämissen sozialer Netz-
werkanalyse:
ƒ Akteure und ihre Handlungen sind nicht voneinander unabhängig, sie be-
einflussen sich gegenseitig.
ƒ Beziehungen („Links“) zwischen Akteuren sind Kanäle für die Vermittlung
von Ressourcen.
ƒ Die strukturelle Netzwerkumgebung schafft Gelegenheiten oder Einschrän-
kungen für individuelles Handeln.
ƒ Struktur ist ein längerfristiges Muster sozialer Beziehungen unter Akteuren
betrachtet.
Diese Grundannahmen stellen notwendige Voraussetzungen dafür dar, dass die
Anwendung der Analyse sozialer Netzwerke überhaupt sinnvoll erscheinen kann.
Je weniger man im Rahmen einer spezifischen Forschungsfrage davon ausgehen
kann, dass Akteure einander gegenseitig beeinflussen, desto weniger Erkenntnis-
68 3 Stand der Forschung

gewinn wird die Beantwortung dieser Frage aus der Perspektive der Analyse
sozialer Netzwerke bringen.
Sowohl die Diffusionstheorie als auch die angeführten sozialpsychologi-
schen Handlungstheorien ergeben deutliche Hinweise darauf, dass die Überneh-
mer von Innovationen im Allgemeinen – und insbesondere im Falle interaktiver
Technologien – einander stark persönlich beeinflussen (Stern, Craig, La Greca,
& Salem, 1976; Sarker & Wells, 2003; Rogers, 2003; Vishwanath & Goldhaber,
2003). So überrascht nicht, dass Diffusionsforscher immer wieder Konzepte und
Methoden der Analyse sozialer Netzwerke zur Erklärung von Diffusionsprozes-
sen herangezogen haben (Rogers, 1979; Rogers & Kincaid, 1981; Valente,
2006).
Die folgende Darstellung grundlegender Konzepte der Analyse sozialer
Netzwerke und ihrer Bedeutung im Hinblick auf die Diffusion von Innovationen
soll vor allem der Identifikation relevanter Konzepte dienen. Dafür werden un-
terschiedliche Typen netzwerkanalytischer Modelle vorgestellt, wie sie im Zuge
der Entwicklung des Ansatzes herausgearbeitet wurden. Abschließend folgt eine
kritische Würdigung der sozialen Netzwerkanalyse als Erweiterung zur Diffusi-
onstheorie. Im Rahmen der Darstellung werden die Aspekte gesammelt, die in
die Fragestellung, Theorie und Methode der vorliegenden Arbeit hineinspielen.
Valente (2006) unterscheidet fünf Typen von Analysemodellen der Netz-
werkanalyse. Mit wachsender Komplexität nehmen sie jeweils andere Aspekte
von Netzwerken und ihren Akteuren in den Blick: a) Integrations-, b) Struktur-,
c) Kritischer Punkt-, d) Interventionsorientierte und e) dynamische Modelle.
Dem letztgenannten Typ kommt im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine Be-
deutung zu, da er eine ganz pragmatische Ausrichtung zur Herbeiführung von
Verhaltensänderungen hat (Valente, 2006, S. 77-79). Hier liegt das Erkenntnis-
interesse jedoch zunächst auf der Beschreibung von (Diffusions-)Prozessen in-
nerhalb von Netzwerken. Die vier erstgenannten Ansätze werden dagegen im
Folgenden erläutert. Dabei werden zunehmend elaborierte Modelle zur Betrach-
tung von Diffusionsprozessen und individuellen Adoptionsentscheidungen vor-
gestellt.

Integrationsorientierte Netzwerkmodelle

Die frühesten integrationsorientierten Netzwerkmodelle berücksichtigen schlicht


die Frage der sozialen Integration eines potentiellen Übernehmers. Nach diesem
Verständnis kann bereits die Hybrid Corn-Studie von Ryan und Gross (1943) als
ein Vorläufer betrachtet werden, denn auch hier heben die Autoren die Bedeu-
tung sozialer Kontakte im Vergleich zu Massenmedien für die Adoptionsent-
scheidung hervor. Dabei betrachten sie nicht nur die Integration in das lokale
3.2 Vertiefende Ansätze 69

Netzwerk – Gespräche mit Nachbarn über die Innovation –, sondern auch die
Kontakte über den lokalen Kontext hinaus. Ryan und Gross fragen aber nur all-
gemein ab, ob man überhaupt mit Nachbarn über die Innovation kommuniziert
hat, sie wollen nicht im Detail wissen, mit welchem Nachbarn. Deshalb eignen
sich ihre Daten nicht als Grundlage für netzwerkanalytische Modelle.
Die früheste einflussreiche Diffusionsstudie, die die Kommunikation zwi-
schen den potentiellen Übernehmern einer Innovation tatsächlich personenbezo-
gen erhebt, ist die Studie von Coleman, Katz und Menzel (1960) zur Diffusion
eines neuen Medikaments innerhalb von Netzwerken von Ärzten in vier Klein-
städten in Illinois. Diese Studie beschreibt nicht nur den Prototyp integrations-
orientierter Netzwerkmodelle, gleichzeitig bildet sie auch den Ausgangspunkt für
differenziertere und komplexere Sichtweisen (R. S. Burt, 1987; Marsden & Po-
dolny, 1990). Deshalb wird sie hier kurz beschrieben.
Um den Grad an sozialer Integration der befragten Ärzte zu bestimmen,
stellen Coleman et al. sämtlichen Ärzten, die an der Befragung teilnehmen, drei
soziometrische Fragen: An wen wenden sie sich am häufigsten, um Rat und
Informationen zu bekommen? Mit wem sprechen sie im Laufe einer Woche am
häufigsten über ihre Patienten? Welche Kollegen sehen sie auch als Freunde
privat am häufigsten (Coleman et al., 1960)? Parallel dazu erheben sie durch
einen Katalog von vier Fragen die berufliche Einstellung der Ärzte zwischen den
beiden Polen „patientenorientiert“ und „professionell orientiert“.
Betrachtet man nun die Diffusionskurve der neuen Medikamente in Abhän-
gigkeit von der beruflichen Orientierung der Ärzte, so zeigt sich wie erwartet
eine höhere Diffusionsrate bei den professionell orientierten Ärzten. Deutlich
stärker als die berufliche Orientierung wirkt sich aber die soziale Integration auf
die Übernahme der neuen Medikamente aus: Ärzte, die von vielen Kollegen im
Rahmen einer der drei soziometrischen Fragen genannt werden (hoher „Inde-
gree“), erweisen sich als deutlich innovativer als die weniger häufig genannten
Ärzte. Diese wiederum sind innovativer als diejenigen, die gar nicht genannt
werden. Die weitere Differenzierung nach Art der jeweiligen soziometrischen
Verbindungen zeigt, dass fachbezogene und freundschaftliche Beziehungen zu
unterschiedlichen Zeitpunkten die Übernahme beeinflussen: Fachliche Netzwer-
ke zeigen zu Beginn der Diffusion ihre Wirkung, Netzwerke der Freundschaft
dagegen erst in einer späteren Phase.
Eine Differenzierung dieser Befunde ergibt sich aus einer Replikation dieser
Studie mit zwei anderen neuen Medikamenten. Eines davon gilt als unproblema-
tisch, das andere dagegen als risikobeladen, weil es zunächst in seiner Wirkung
nicht eindeutig einschätzbar ist. Becker (1970) entdeckt, dass die gut integrierten
Ärzte bei dem als riskant geltenden Medikament nicht die frühesten Übernehmer
sind. Sie folgen erst an zweiter Stelle hinter der Gruppe der Ärzte, die die ge-
70 3 Stand der Forschung

ringste Integration in professionelle und private Kollegennetzwerke aufweisen.


Geht man davon aus, dass es die allgemeinen Vorbehalte sind, die die gut inte-
grierten Ärzte zunächst von einer Übernahme abhalten, so lässt sich daraus
schließen, dass diese im Vergleich zu ihren Kollegen besonders stark an Normen
orientiert sind (Becker, 1970, S. 273).
Der Ansatz von Coleman et al. (1960) wurde wiederholt auch auf die Diffusion
neuer Medien angewendet, das Spektrum reicht vom Fernsehen (Larsen, 1962)
bis hin zu Onlinediensten und Mobilkommunikation (Schenk et al., 1996). Dabei
zeigt sich, dass Kommunikationstechnologien durchaus nicht normativ neutral
sind (Kraut, Rice, Cool, & Fish, 1998) und im Sinne von Becker sogar als ris-
kante Innovationen betrachtet werden können: Nutzt man als „Innovator“ eine
zukunftsweisende Technologie, so steht zwar nicht etwa die Gesundheit eines
Patienten auf dem Spiel, aber immerhin doch etwa im beruflichen Kontext die
eigene Leistungsfähigkeit (Karahanna et al., 1999) und im Privaten das Prestige
(J. Lu, Yao, & Chun-Sheng, 2005). In jedem Fall besteht die Gefahr, aufgrund
von „Lock-in“-Effekten die übernommene Innovation nicht verwenden zu kön-
nen. Klassische Beispiele hierfür sind die Videoformate „Betamax“ (Sony) und
„Video2000“ (Grundig und Philips), die gegen das VHS-System von JVC unter-
lagen und bei vielen frühen Übernehmern als unbrauchbar und wenig attraktiv
verblieben (R. Beck, 2006; Liebowitz & Margolis, 2001).
Nimmt man die Befunde von Becker (1970) zu dem anerkannten und dem
als riskant geltenden Medikament, so fallen die Ergebnisse der meisten Studien
zwischen diese beiden Extreme: Stark integrierte Personen übernehmen Innova-
tionen zwar nicht als erste, sie sind aber doch der Mehrheit voraus und so noch
in der Lage, die „Innovations-Agenda“ zu setzen. An vorderster Stelle stehen
entweder Personen, die stark an der spezifischen Innovation interessiert sind,
oder aber auch solche, die innerhalb ihrer Netzwerke marginal sind, aber über
Kontakte zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Netzwerken verfügen (Valente
& Davis, 1999). Um eben diese Personen zu identifizieren, muss die Struktur
von Netzwerken stärker berücksichtigt werden.

Strukturorientierte Netzwerkmodelle

Ein zusätzlicher Grad an Differenzierung ergibt sich mit den strukturorientierten


Netzwerkmodellen. Integrationsorientierte Modelle bauen zwar auf soziometri-
schen Daten auf, sie addieren aber schlicht die Nennungen, um einen Integrati-
onsgrad („Indegree“) als personenbezogene Variable zu gewinnen.
Die strukturorientierten Modelle dagegen betrachten die tatsächliche Kon-
stellation von Beziehungen zwischen den Akteuren eines Netzwerks, so wie sie
sich anhand der Netzwerkstruktur ergibt. In ihrer Netzwerkposition lassen Ak-
3.2 Vertiefende Ansätze 71

teure sich nicht allein auf der quantitativen Basis des „Indegree“ beurteilen, hier
spielt auch die Qualität ihrer Position und ihrer Verbindungen hinein.
Derartige Information hat in der Diffusionsforschung vor allem im Rahmen
zweier Konzepte Bedeutung erlangt, und zwar einmal im Hinblick auf Akteure,
die als „weak ties“ Netzwerkcluster miteinander verbinden, und zum anderen im
Hinblick auf das Phänomen der Diffusion durch Kohäsion und strukturelle
Äquivalenz.
Die Hypothese der „strength of weak ties“ (Granovetter, 1973) geht davon
aus, dass gerade den Verbindungen mit den Personen eine besondere Bedeutung
zukommt, mit denen man nicht sehr intensiv und nicht alltäglich verbunden ist.
Gerade diese „schwachen Verbindungen“ führen nämlich aus dem unmittelbaren
eigenen Kontext heraus und stellen damit den Kontakt zu anderen Umgebungen
dar. Gerade von diesen aber sind am ehesten Informationen zu erwarten, die auch
tatsächlich neu sind. Ihren Ursprung hat diese Hypothese in einer Studie zur
Suche nach neuer Arbeit (Granovetter, 1973). Sie hat sich aber auch im Hinblick
auf Innovationen bewährt, etwa bei einer Untersuchung zur Verbreitung von
Maßnahmen der Empfängnisverhütung in einem koreanischen Dorf (Rogers &
Kincaid, 1981; Rogers, 1979).
Die Konzepte der Kohäsion („Cohesion“) und der strukturellen Äquivalenz
(„Structural Equivalence“) beschreiben zwei Formen, in denen Innovationen sich
über die Struktur eines Netzwerks verbreiten können. Bis in die 1970er Jahre
ging man davon aus, dass persönlicher Einfluss eine Funktion von sozialer Nähe
ist (Mizruchi, 1993). Im Rahmen sozialer Netzwerke erschien folglich „Kohäsi-
on“ (lat. cohaerere: "zusammenhängen") als der entscheidende Faktor, der eine
Vermittlung von Einfluss durch „face-to-face“-Kommunikation oder über kurze
Kommunikationswege durch Vermittler ermöglicht (Friedkin, 1984). Später
zeichnete sich aber ein zweiter Weg ab: „Influence does not require face-to-face
interaction; indeed, the only precondition for social influence is information
(which allows social comparison) about the attitudes or behaviors of [...] a refer-
ence group of similar others” (Marsden & Friedkin, 1993). Auf diese Feststel-
lung gründet sich das Konzept der strukturellen Äquivalenz: „an actor will quick-
ly adopt an innovation after actors he perceives to be structurally equivalent to
him have adopted it” (R. Burt, 1982, S. 209). Eine solche Äquivalenz kann etwa
bestehen zwischen zwei Akteuren, die sich innerhalb einer Organisation auf der
gleichen Hierarchieebene befinden, sich als potentielle Konkurrenten sehen und
jeweils das Verhalten des anderen sich selbst gegenüber sehr aufmerksam regist-
rieren. Burt (1987) testete seine Hypothese anhand der Daten aus der bereits
erwähnten Studie von Coleman Katz und Menzel (1960). Dabei kam er zu dem
Schluss, dass strukturelle Äquivalenz die individuellen Adoptionsentscheidungen
besser erklärt als Kohäsion.
72 3 Stand der Forschung

Ein aktuelles Beispiel für eine Medieninnovation, die sich in höchstem Gra-
de über Kohäsion ausbreitet, sind „social networking“-Plattformen wie „Face-
book“ oder „StudiVZ“ (Boyd & Ellison, 2008). Sie verbreiten sich erst durch
interpersonale Kontakte im Sinne der Kohäsion, dann bilden sie selbst die Platt-
form für die interpersonale Verbreitung eingebetteter Dienste (Sun, Youn, Wu,
& Kuntaraporn, 2006). Ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung sozialer Kohäsi-
on bei der Adoption neuer Kommunikationstechnologien stammt aus der Studie
von Schenk et al. (1996) zur Diffusion von Online-Diensten und Mobilkommu-
nikation innerhalb egozentrischer Netzwerke. Danach orientieren sich potentielle
Übernehmer dieser Innovationen besonders stark an ihrem beruflichen Netzwerk.
Campbell und Russo (2003) weisen schließlich nach, dass die Wahrnehmung des
Mobiltelefons innerhalb sozialer Netzwerke deutlich homogener ausfällt also
zwischen Personen, die nicht durch persönliche Kontakte mit einander verbun-
den sind.

Kritischer Punkt-orientierte Modelle

Will man über die bloße Betrachtung des Integrationsgrads von Akteuren hinaus
über Diffusionsprozesse Aufklärung erhalten, so kann ein zweiter Schritt darin
bestehen, dass man die dynamische Entwicklung von Diffusion in der Zeit ver-
folgt. Dies ist die Perspektive von sogenannten „Kritischer Punkt-orientierten
Modellen“.
Hier spielen zwei Phänomene eine Rolle: Der Effekt der „Kritischen Mas-
se“ und die Schwellenwerte der Adoption („adoption thresholds“).
Wie der persönliche Einfluss von Meinungsführern so hat auch der Effekt
der Kritischen Masse schon seit den Tagen Gabriel de Tardes (2003 [1890]) die
Aufmerksamkeit von Diffusionstheoretikern auf sich gezogen. Der Effekt der
Kritischen Masse wird zwar in „Diffusion of Innovations“ angesprochen (vgl.
Abschnitt 3.1.3.4, S. 42). Hinreichend erfasst und gewürdigt werden kann dieses
Phänomen aufgrund der Komplexität des Zusammenhangs jedoch erst außerhalb
der bivariaten Generalisierungen der Diffusionstheorie. Immerhin macht er die
Bewertung von Adoptionsattributen abhängig von der Perspektive des Überneh-
mers und vom Bewertungszeitpunkt.
Will man vor diesem Hintergrund Adoptionsentscheidungen im Rahmen
sozialer Netzwerke beschreiben, so liefert die Netzwerkanalyse mit dem Begriff
der „Adoptions-Thresholds“ den passenden Rahmen.
Eingeführt wird das Konzept des „Threshold“ von Granovetter (1978). Er
definiert es im Hinblick auf die individuelle Schwelle, sich einem sozialen Ver-
halten anzuschließen, als „the proportion of the group he would have to see join
before he would do so“ (Granovetter, 1978, S. 1422).
3.2 Vertiefende Ansätze 73

Valente (1996) differenziert das Konzept in einem Punkt, der für Netzwerk-
analyse entscheidend ist: Die Annahme, ein Individuum habe Einsicht in die
Diffusionsrate innerhalb seines sozialen Systems, ist – so betont Valente – nicht
realistisch. Der einzelne wird sich an seiner unmittelbaren Umgebung orientie-
ren. So führte Valente den Begriff des netzwerkbezogenen Adoptionsthresholds
ein, der sich vom systembezogenen „Threshold“ klar unterscheidet:

“A collective behavior threshold is the proportion of prior adopters in a group which


is appropriate for collective behaviors, such as a riot, because everyone’s behavior is
observable (and thus information is complete). However, because adoption of inno-
vation is not always observable and often involves risk, it is more likely to be a
function of direct communication and persuasion between network partners. There-
fore, diffusion thresholds are the proportion of prior adopters in an individual’s per-
sonal network of direct personal contacts when the individual adopts”.

Dies gilt nicht allein für Innovationen, die schwer zu beobachten sind, es gilt ins-
besondere auch für solche, die stark von Normen abhängen. Diese Feststellung
trafen bereits Rogers und Kincaid in Hinblick auf die – stark normenabhängige –
Übernahme von Methoden der Geburtenkontrolle (Rogers & Kincaid, 1981). Der
Befund wurde jüngst durch Kincaids (2004, S. 38) Prinzip des „bounded norma-
tive influence“ erweitert: “Bounded normative influence is the tendency of social
norms to influence behavior within relatively bounded, local subgroups of a
social system rather than the system as a whole.”
Zur Überprüfung dieser Hypothese liegen noch keine Befunde im Kontext
von Medieninnovationen vor. Medien sind aber keineswegs normativ neutral,
immerhin ist ihre Nutzung Normen unterworfen (Kraut et al., 1998). Diese be-
reits im Vorkapitel angeführte Tatsache legt die Annahme nahe, dass Kincaids
Befunde auch im Bereich der Medien zutreffen.

Dynamische Modelle

Die neuesten und wohl auch derzeit komplexesten Ansätze zur Analyse sozialer
Netzwerke sind dynamische Netzwerkmodelle (Marsden & Podolny, 1990; Va-
lente, 2006, S. 76-77). Sie stellen einen Versuch dar, die Interdependenzen im
Adoptionsverhalten innerhalb eines Netzwerks in der Zeit zu betrachten und zu
Voraussagen zu kommen. Strang und Tuma (1993) weisen empirisch nach, dass
nicht nur die Netzwerkstruktur die Adoption von Innovationen beeinflusst, son-
dern dass umgekehrt auch das Adoptionsverhalten Einfluss nimmt auf die Netz-
werkstruktur. Dies ist ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor in der dynamischen
Modellierung von Diffusionsprozessen im Netzwerk.
74 3 Stand der Forschung

Will man in der Beschreibung von Diffusionsprozessen eine hohe Genauig-


keit erreichen, so muss man die Struktur des Netzwerkes sowie die Positionie-
rung von Akteuren über die Zeit hinweg immer wieder neu überprüfen, insbe-
sondere im Hinblick darauf, wer die Innovation bereits bzw. noch nicht über-
nommen hat. Die Einbeziehung dieser komplexen Wechselbeziehungen ermög-
licht im Idealfall eine wesentlich höhere Genauigkeit in der Modellierung von
Diffusionsprozessen. Der Mehrwert dieser Perspektive wurde belegt auf der
Basis einer erneuten Sekundäranalyse des Datensatzes von Coleman, Katz und
Menzel (1960).
Die zugrunde liegenden Interdependenzen zwischen dem Verhalten der Ak-
teure und der Netzwerkstruktur sind Gegenstand der derzeitigen netzwerkanaly-
tischen Grundlagenforschung (Snijders, 2005). Arbeiten zur Diffusion von Inno-
vationen im Kommunikationsbereich stehen dabei noch aus.

Resümee

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit machen soziale Netzwerke den Gegenstand


aus. Im Kern geht es aber um die Phänomene der Diffusion und der Aneignung.
Die Fragen dazu ergeben sich weitgehend aus den theoretischen Ansätzen zu
diesen beiden thematisierten Phänomenen.
Die Analyse sozialer Netzwerke soll daher nur als Analysemethode heran-
gezogen werden in den Punkten, wo die Konzepte der Diffusionstheorie nicht
ausreichend erscheinen, weil sie nicht hinreichend differenziert sind.
Die vier behandelten Modelltypen stellen in diesem Punkt unterschiedliche
Möglichkeiten zur Differenzierung in Aussicht:
ƒ Integrationsorientierte Modelle helfen bei der Identifikation von Meinungs-
führern.
ƒ Strukturorientierte Modelle ermöglichen es, innerhalb von Netzwerken
Substrukturen und damit potentielle Einflussräume von Normen zu identifi-
zieren. Ferner ermöglichen sie die Identifikation einflussreicher „weak ties“
als Vermittler zwischen lokalen Netzwerken.
ƒ Kritischer-Punkt-orientierte Modelle erklären, wie persönlicher Einfluss
innerhalb eines ganzen sozialen Systems oder innerhalb lokaler Netzwerke
das Adoptionsverhalten beeinflussen kann.
ƒ Dynamische Modelle versprechen, Wechselwirkungen zwischen Diffusi-
onsprozessen und Netzwerkstruktur über Zeit hinweg erklären zu können.
3.2 Vertiefende Ansätze 75

3.2.2.3 „Uses-and-Gratifications“

Die beiden in den Vorkapiteln dargestellten Ansätze gehen aus von der schlich-
ten dichotomen Entscheidung „Adoption vs. Ablehnung“, und sie vertiefen dann
die Betrachtung der Einflussfaktoren auf individueller Ebene (Handlungstheo-
rien) und im Netzwerk (Analyse sozialer Netzwerke). Der Punkt, an dem der
„Uses-and-Gratifications“-Ansatz in die Tiefe geht und differenziert, ist dagegen
die Art und Weise der Übernahme selbst.
Theoretischer Anschlusspunkt ist das ursprüngliche lineare Kommunikati-
onsmodell der Diffusionstheorie (vgl. Abschnitt 3.1.1.2, S. 34). Uses-and-
Gratifications setzt dem das Bild eines aktiven Mediennutzers entgegen. Der
Satz, mit dem die Vertreter des Ansatzes zuerst ihre Sichtweise zum Ausdruck
brachten, gehört bereits zur Folklore der kommunikationswissenschaftlichen
Paradigmengeschichte: „This is the approach that asks the question, not ‘What
do the media do to people?’ but, rather, ‘What do people do with the media?’“
(E. Katz & Foulkes, 1962, S. 378). Es geht hier also nicht darum, den Erfolg
einer Medienbotschaft aus den Interessen des Kommunikators heraus zu bewer-
ten im Sinne der Frage, ob seine Botschaft „angekommen sei“. Stattdessen fragt
man nach den Gratifikationen, die die Menschen in der Nutzung von Medien
suchen (E. Katz et al., 1974).
Der Geltungsanspruch von „Uses-and-Gratifications“ beschränkt sich aber
nicht auf die Rezeption von Massenmedien. In den letzten Jahren wurde der
Ansatz verstärkt auch zur Erforschung der Nutzung neuer Kommunikationstech-
nologien eingesetzt. Die frühesten Studien befassten sich mit Unterhaltungssen-
dungen im Radio (Lazarsfeld & Stanton, 1942), danach war man zunächst auf
das Medium „Fernsehen“ ausgerichtet (Rosengren & Windahl, 1989; Kubey,
1986). In der weiteren Folge rückten verstärkt neue Kommunikationstechnolo-
gien in den Vordergrund des Interesses (vgl. Schenk, 2002; Wimmer & Domi-
nick, 1994; Ruggiero, 2000). So erlebten die „Uses-and-Gratifications“ ein regel-
rechtes „Revival“ in der Erforschung neuer Medientechnologien (Ruggiero,
2000, S. 20). Zunächst wurden Innovationen beim Fernsehen in den Blick ge-
nommen: Die Fernbedienung (Walker & Bellamy, 1991), das Kabelfernsehen
(D. Atkin, 1993; Heeter & Greenberg, 1985; Jacobs, 1995), der Videorekorder
(C. A. Lin, 1993) und der Videotext (Cowles, 1989). Dann wurde der Ansatz
ausgeweitet und kam zum Einsatz in der Untersuchung der Nutzung von Perso-
nalcomputern (Perse & Dunn, 1998), Computerspielen (Sherry, Lucas, Green-
berg, & Lachlan, 2006), elektronischen Foren (James, Wotring, & Forrest, 1995),
Websites (Eighmey & McCord, 1998), E-Mails (Dimmick, Kline, & Stafford,
2000) und Chat (Leung, 2001).
76 3 Stand der Forschung

Auch die aktuellsten Studien zu Nutzungsweisen und Gratifikationen mobi-


ler Medienangebote knüpfen an diese Entwicklungslinie an. Ein zweiter Einfluss
kommt von einer speziellen Forschungslinie zu Nutzungen und Gratifikationen
des Telefons (Noble, 1989; Dimmick et al., 1994; O'Keefe & Sulanowski, 1995).
Das Mobiltelefon wird dabei entweder als Ganzes betrachtet (Leung & Wei,
2000), oder es geht um spezielle Typen wie den Personal Digital Assistant
(PDA) (Trepte, Ranné, & Becker, 2003; O. Peters & Ben Allouch, 2005). Wie-
der andere Studien sind speziellen Diensten gewidmet wie dem „Short Messa-
ging Service“ (SMS) (Höflich & Rössler, 2001) oder massenmedialen Angebo-
ten (Wei, 2008) wie dem mobilen Fernsehen.
In ihrem Vorgehen entsprechen diese Studien der klassischen Methode der
„Uses-and-Gratifications“: Grundlage ist eine standardisierte Befragung der
Nutzer zu ihren Motiven der Zuwendung zu neuen Medien anhand von Skalen,
die unterschiedliche Nutzungsdimensionen abdecken. Dabei greift man zurück
auf die Befunde und die Instrumente vorheriger Studien zu gleichen oder ver-
wandten Medien. In ihrer Studie zum PDA stützen Peters und ben Allouch
(2005) sich auf die Skalen und Items von Trepte et al. (2003) zu PDAs, zusätz-
lich aber auch auf die Instrumente von Leung und Wei (2000) zu Mobiltelefonen
sowie auf die Skalen von O’Keefe und Sulanowski (1995) zum Festnetztelefon.
Seit kurzem stützen sich „Uses-and-Gratifications“-Studien bei der Abgren-
zung von Gratifikationsdimensionen auch verstärkt auf Befunde, die außerhalb
des eigenen Ansatzes gewonnen wurden. Dafür werden besonders die Ergebnisse
qualitativer Forschungsansätze wie „Cultural Studies“ (Silverstone & Haddon,
1996) und „Rahmenanalyse“ (Goffman, 1974) berücksichtigt. So stützen sich
Peters und ben Allouch auch auf qualitative Studien mit Leitfadeninterviews von
Ling und Yttri (2002; vgl. Goffman, 1974) sowie von de Gournay (2002).
Die Gratifikationen, die in den unterschiedlichen Studien identifiziert wer-
den, passen zusammen und ergeben ein Bild, das weitgehend stimmig ist. Dabei
lassen sich vier Dimensionen ausmachen6:
ƒ Status: Drei der vier Studien weisen hin auf die Nutzung des Mobiltelefons
als Symbol für sozialen Status. Nur bei Höflich & Rössler (2001), die sich
auf die eingebettete Innovation der SMS konzentrieren, findet dieser Aspekt
keine Berücksichtigung. Die zugehörige Dimension heißt „fashion/status“
(O. Peters & Ben Allouch, 2005; Leung & Wei, 2000) bzw. „status“ (Trepte
et al., 2003)
ƒ Pflege sozialer Kontakte: Eine zweite Dimension der Gratifikation ist die
Pflege sozialer Kontakte („social interaction“ [O. Peters & Ben Allouch,
2005], „affection/sociability“ [Leung & Wei, 2000] bzw. bei Höflich &

6
Die Ergebnisse von Wei, 2008, lagen zum Zeitpunkt der Redaktion noch nicht im Detail vor.
3.2 Vertiefende Ansätze 77

Rössler, 2001, „Kontaktpflege“, „Rückversicherung“, „Lebenshilfe“). Sie


bleibt nur bei Trepte et al. (2003) ohne Berücksichtigung, möglicherweise
wegen der eher professionellen Ausrichtung von PDAs. Höflich und Rössler
dagegen differenzieren diese Dimension besonders stark. Das dürfte seinen
Grund darin haben, dass die SMS ein Medium der interpersonalen Kommu-
nikation ist, das auf Kontaktpflege zugeschnitten ist.
ƒ Unterhaltung: Als dritte Gratifikationsdimension erscheint die Unterhaltung
– im Sinne von „entertainment“ –, die in der Exploration der neuen Techno-
logie liegen kann („playful exploration“ (Trepte et al., 2003), „attraction“
[O. Peters & Ben Allouch, 2005]). Hinzu kommt der Unterhaltungswert, der
sich aus den spezifischen Diensten und Angeboten eines Geräts ergibt oder
aus der unverbindlichen interpersonalen Kommunikation („entertainment“
[O. Peters & Ben Allouch, 2005]) bzw. dem „Nutz-Spaß“ (Höflich & Röss-
ler, 2001).
ƒ Erreichbarkeit im Notfall: Bei drei der vier Studien kommt eine Dimension
der „Erreichbarkeit im Notfall“ hinzu, bezeichnet als „permanent access“
(O. Peters & Ben Allouch, 2005), „reassurance“ (Wei, 2008) bzw. „Verfüg-
barkeit“ (Höflich & Rössler, 2001).
Wenn „Uses-and-Gratifications“ mit Diffusionstheorie verbunden wird, so wer-
den in der Regel die Nutzungsmotive als Kriterien für die Adoptionsentschei-
dung oder aber die Entscheidung zur „Confirmation“ der Nutzung betrachtet
(Scherer & Berens, 1998) – neuerdings auch in Verbindung mit sozialpsycholo-
gischen Handlungstheorien wie dem „Technology Acceptance Model“ (Park,
Lee, & Cheong, 2007).
Die für die Aneignung relevante Frage der Reinvention kann etwa von
Scherer und Berens nicht berücksichtigt werden, da sie sich an der zweiten Auf-
lage von „Diffusion of Innovations“ (Rogers & Shoemaker, 1971) orientieren.
Hier werden die Reinvention und die Implementierung von Innovationen noch
gar nicht erwähnt.
Hier ist die Studie von Peters und ben Allouch wegweisend. Sie misst als
Langzeitstudie den Wandel an Bedeutung unterschiedlicher Gratifikationsdimen-
sionen. Im Hinblick auf die Frage, in welcher Weise sich neue Nutzungsweisen
entwickeln, ist sie von besonderem Wert. Ein wichtiger Befund liegt darin, dass
man die Richtung des Wandels festmachen kann: Von den ursprünglichen funk-
tionalen Gratifikationen, die bei der Anschaffung der Geräte dominiert hatten,
führt er hin zu eher intrinsischen und spielerischen Gratifikationen wie Prestige
und Unterhaltung:

“Over time, important initial gratifications, like permanent access and social interac-
tion, appeared to be less dominant for using the new mobile communication tech-
nology and became more latent, while gratifications like fashion/status and enter-
78 3 Stand der Forschung

tainment appeared to become more manifest” (O. Peters & Ben Allouch, 2005, S.
252).

Diese Studie macht in vorbildlicher Weise deutlich, wie der „Uses-and-


Gratifications“-Ansatz dazu genutzt werden kann, eine qualitative Entwicklung
von Innovationen im Zuge ihrer Implementierung durch Nutzer quantitativ zu
erfassen: Im Zentrum des Interesses steht der Bedeutungs- und Funktionswandel
dieser Innovation für die Nutzer. Die Frage des „Uses-and-Gratifications“-
Ansatzes „Was machen die Nutzer mit den Medien?“ lässt sich somit auch in der
Perspektive eines Medienwandels sehen, indem man fragt: „Was machen die
Nutzer aus den Medien?“ (Wirth, Karnowski, & von Pape, 2007, S. 85).
Insgesamt stehen die Befunde unter dem Vorbehalt der bekannten Kritik
am Ansatz der „Uses-and-Gratifications“ (vgl. Elliott, 1974): Erstens besteht die
Gefahr, dass man mit der starken Betonung des aktiven Nutzers den Einfluss von
Werbung und lenkender Produktgestaltung durch die Anbieter unterschätzt (vgl.
Samarajiva 1996). Zweitens berücksichtigt der Individualismus des Ansatzes
nicht die sozialen Strukturen, die etwa in Form von Normen bestimmte Verhal-
tensweisen begünstigen oder hemmen können (Höflich 1999; Ling 1997). Drit-
tens lässt er in seiner eher statischen empirischen Umsetzung meist offen, wie
sich Nutzungsmuster und -motive im Verlauf der Implementierung ändern und
ihrerseits geprägt werden von psychologischen und sozialen Prozessen (vgl.
Trepte et al. 2003).

3.2.2.4 Resümee

Ausgehend von der Feststellung, dass die klassische Diffusionstheorie mit ihrem
Grundkonzept der Meta-Forschung theoretisch und methodisch auf der Stelle
trat, wurden in diesem Kapitel drei quantitative Ansätze zur Vertiefung vorges-
tellt. Sowohl die sozialpsychologischen Ansätze zur Erklärung von individuel-
lem Adoptionsverhalten als auch die netzwerkanalytische Sicht auf Diffusion
und der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz zeichnen sich aus durch eine extrem
hohe Dynamik in der Fortentwicklung von Methoden und theoretischen Konzep-
ten. Davon konnte und kann auch die Diffusionstheorie profitieren.
ƒ Die Erklärung der individuellen Adoptionsentscheidung kann wesentlich
differenzierter erfolgen, wenn man zurückgeht auf Einflüsse, die aus der
Erwartung und der Bewertung von Konsequenzen der Adoption resultieren,
sowie auf normative Einstellungen und Kontrollbedingungen.
ƒ Die Netzwerkperspektive erlaubt ergänzend eine differenzierte Betrachtung
von Diffusion innerhalb sozialer Systeme auf der Ebene von Netzwerken.
Die Diffusionstheorie betrachtet auf Netzwerkebene in erster Linie aggre-
3.2 Vertiefende Ansätze 79

gierte Daten, die Netzwerkanalyse dagegen bietet Methoden an zur Identifi-


kation sozialer Strukturen innerhalb dieser Netzwerke. Die Befunde der
Netzwerkanalyse zeigen, dass persönlicher Einfluss häufig viel stärker in-
nerhalb dieser Strukturen wirkt, als es durch aggregierte Betrachtung auf
der Ebene eines ganzen sozialen Systems auszumachen wäre.
ƒ Der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz zeigt das breite Spektrum an Funk-
tionen symbolischer wie pragmatischer Art an, die Innovationen den Nut-
zern zu bieten haben. Während dabei traditionell Unterschiede in Abhän-
gigkeit von der Innovation und der Persönlichkeit des Nutzers betrachtet
wurden, untersucht die neueste Forschung auch den Wandel im Prozess der
Implementierung (O. Peters & Ben Allouch, 2005).
Alle drei Ansätze haben mit der Theorie zugleich auch extrem verlässliche Me-
thoden und empirische Instrumente zur quantitativen Erfassung der zu untersu-
chenden Phänomene hervorgebracht. Diese gehen über die Standards der klassi-
schen Diffusionstheorie weit hinaus.
Die Rezeption der drei Ansätze innerhalb der Diffusionsforschung fällt sehr
unterschiedlich aus.
Rogers und Kincaid (1981) setzen zunächst ganz auf die Analyse sozialer
Netzwerke, um das überkommene lineare SMMCR-Kommunikationsmodell
durch ein neues Verständnis von Kommunikation als einen zweiseitigen Prozess
der „Konvergenz“ zu ersetzen. Dieser Vorschlag ergibt sich im Rahmen ihrer
Präsentation von Netzwerkanalyse als das „neue Paradigma“ der Kommunikati-
onsforschung (Rogers & Kincaid, 1981). Dem Phänomen, dass Übernehmer an
der Gestaltung von Innovationen aktiv teilnehmen, werden sie allerdings auch
damit nicht besser gerecht. Der Hauptkritikpunkt an klassischer Diffusionstheo-
rie in Bezug auf „Reinvention“ – ihre dichotome Ausrichtung auf „Adoption vs.
Ablehnung“ – bleibt nämlich im Rahmen von netzwerkanalytischen Betrachtun-
gen bestehen. Wie die Diffusionstheorie, basiert die Analyse sozialer Netzwerke
traditionell auf einer binären Unterscheidung: Besteht zwischen zwei Akteuren
ein Link oder besteht er nicht (Wassermann & Faust, 1994, S. 18)? Diesem binä-
ren Denken ganz treu bleibend, begnügt die netzwerkanalytische Diffusionsfor-
schung sich mit der Unterscheidung von Akteuren in Übernehmer und solche,
die eine Innovation (noch) nicht übernommen haben (Valente, 1995, 2006).
Bemerkenswert dabei ist, dass Rogers nicht innerhalb des eigenen Faches
nach neuen Kommunikationsmodellen zur Überwindung der linearen Grundaus-
richtung von Diffusionstheorie sucht. Der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz
hätte durchaus eine solche Alternative dargestellt. Seine Antworten haben aber
im Rahmen der Diffusionstheorie bisher keine Berücksichtigung gefunden. Und
selbst der Versuch von außen durch Scherer und Behrens, „Uses-and-
Gratifications“ und Diffusionstheorie zusammenzubringen, setzt an einer ande-
80 3 Stand der Forschung

ren Stelle an als der Implementierung von Innovationen. Von Seiten der Uses-
and-Gratifications dagegen wurden erste Brücken herüber zur Diffusionstheorie
gebaut, zum Beispiel durch Verweise in der Studie von Trepte et al (2003).
Auch die sozialpsychologischen Handlungstheorien erwähnt Rogers in kei-
ner der Auflagen von „Diffusion of Innovations“ (Rogers, 1983, 2003, 1995;
Rogers & Kincaid, 1981; Rogers & Shoemaker, 1971) und auch nicht in seiner
letzten zusammenfassenden und ausblickenden Publikation zum Ansatz (Rogers,
2004). Dabei verweisen die Studien im Anschluss an TRA ihrerseits immer wie-
der explizit auf die Diffusionstheorie (V. Venkatesh et al., 2003; Karahanna et
al., 1999; Moore & Benbasat, 1996).
Abschließend soll noch hingewiesen werden auf Berührungspunkte zwi-
schen den drei vorgestellten Ansätzen. Diese wurden bisher nicht berücksichtigt,
vermutlich da jeder Ansatz seine eigene Entwicklung verfolgte.
ƒ Zwischen Sozialer Netzwerkanalyse und Handlungstheorie bestehen Berüh-
rungspunkte insbesondere im Konzept der Normen, das auf beiden Ebenen
zentral ist (Kincaid, 2004; Karahanna et al., 1999; Kraut et al., 1998; Sche-
pers & Wetzels, 2007). Eine Verbindung zwischen den Ansätzen wurde
aber bisher noch nicht unternommen.
ƒ „Uses-and-Gratifications“ und „Theory of Planned Behavior“ sind verbun-
den durch die gemeinsamen Ursprünge in einem Erwartungs-
Bewertungsmodell (Palmgreen & Rayburn, 1985; Fishbein, 1980). Die ver-
haltensbezogenen Einstellungen der „Theory of Planned Behavior“ stehen
dabei den von den „Uses-and-Gratifications“ untersuchten „Gesuchten Gra-
tifikationen“ sehr nahe.
ƒ Zwischen „Uses-and-Gratifications“ und Netzwerkanalyse sind Anknüp-
fungspunkte dagegen schwer zu finden. Sattdessen ist aber die Komplemen-
tarität augenscheinlich: Der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz ist viel kriti-
siert worden für seine individualistische Perspektive, weil diese nicht den
Einfluss der sozialen Einbettung von Akteuren berücksichtigt (Elliott, 1974;
Ruggiero, 2000). Die Analyse sozialer Netzwerke dagegen berücksichtigt
nur diese Einbettung.
Das Fehlen an Zusammenhang zwischen den drei dargestellten quantitativen
Vertiefungen entspricht ganz der Kritik, die häufig an quantitativen „reduktivis-
tischen“ (Verschuren, 2001) Ansätzen laut wird. Eine Abhilfe müsste demnach
darin liegen, beim „Vertiefen“ von Diffusionstheorie qualitativ vorzugehen. Die
damit verbundene „holistische“ Perspektive müsste am konkreten Einzelfall
Zusammenhänge deutlich machen (Verschuren, 2001).
3.2 Vertiefende Ansätze 81

3.2.3 Qualitative Ansätze zur Vertiefung

Auch die qualitativen Ansätze zur Vertiefung können teilweise unmittelbar an


der kommunikationswissenschaftlichen Basis von Diffusionsforschung ansetzen.
So brachten die „Cultural Studies“ mit dem „Encoding/Decoding“-Modell (Hall,
1980) ein Gegenkonzept gleichermaßen zu den linearen Persuasionsmodellen à
la Lasswell (1948) wie zum „Uses-and-Gratifications“-Ansatz. Parallel dazu
haben im Rahmen der „Cultural Studies“ auch Michel de Certeau (1988) und
Roger Silverstone (2006; Silverstone & Haddon, 1996) Ansätze hervorgebracht,
die die aktive Aneignung von Konsumgütern (bzw. – im Falle von Silverstone –
von Innovationen) betonen. Dabei ist den Ansätzen der „Cultural Studies“ ge-
mein, dass sie die Aneignung nicht – wie „Uses-and-Gratifications“ – auf indivi-
duelle Motive und Bedürfnisse allein zurückführen, sondern den Prozess des
sozialen „Aushandelns“ von Innovationen betonen.
Auch die Soziologie hat Ansätze hervorgebracht, die den Hintergrund und
die Form dieses Aushandeln beleuchten. Das Aushandeln in der unmittelbaren
Alltagskommunikation steht im Fokus der Rahmenanalyse (Goffman, 1974,
1969, 1967) – einem Ansatz, der bei vielen qualitativen Studien zur Mobilkom-
munikation herangezogen wurde. Darüber hinaus bietet die sozialkonstruktivisti-
sche Techniksoziologie eine Vielzahl an elaborierten Ansätzen, die das Aushan-
deln der Nutzung und Bedeutung neuer Kommunikationstechnologien im Rah-
men komplex organisierter sozialer Strukturen zu erklären – wie etwa innerhalb
eines Unternehmens oder aber innerhalb einer ganzen Gesellschaft in sozial
institutionalisierten Arenen wie etwa der Börse oder dem Parlament. Diese An-
sätze lassen sich verschiedenen, teilweise einander überschneidenden Etiketten
zuordnen, wie etwa „Social Shaping of Technology“ (SST, vgl. Williams &
Edge, 1996) „Social Construction of Technology“ (SCOT, vgl. Bijker et al.,
1987), „Adaptive Structuration Theory“ (AST, vgl. DeSanctis & Poole, 1994
oder „Actor Network Theory“ (ANT, vgl. Latour, 2005).
Sämtliche Ansätze haben mit denen der „Cultural Studies“ und der Rah-
menanalyse gemein, dass sie das aktive Zueigenmachen von Innovationen an-
hand sehr differenzierter Einzelbeobachtungen untersuchen. Zu diesem Zweck
wird weitgehend auf qualitative Methoden zurückgegriffen wie insbesondere
Leitfadeninterviews und andere Methoden der Ethnographie (vgl. Abschnitt
3.2.1, S. 54).
Im Folgenden werden die Ansätze der „Cultural Studies“, der Rahmenana-
lyse und der sozialkonstruktivistischen Techniksoziologie vorgestellt aus ihren
theoretischen Ursprüngen heraus und im Hinblick auf die spezifische Frage nach
der Aneignung von Innovationen.
82 3 Stand der Forschung

3.2.3.1 „Cultural Studies“

Auch die „Cultural Studies“ bieten einen Gegenentwurf an zum linearen Persua-
sionsmodell, das zunächst als Grundlage der Diffusionstheorie gedient hatte,
nämlich das „Encoding/Decoding“-Modell von Stuart Hall (1980). Es betont
auch die aktive Rolle des Rezipienten, setzt sich aber gleichzeitig ab vom „Uses-
and-Gratifications“-Ansatz. Nach Hepp (1999, S. 110) ist das „Enco-
ding/Decoding“-Modell von Hall der „zentrale Ausgangspunkt der Medienstu-
dien der Cultural Studies“ insgesamt.
Hall setzt seinen Ansatz bewusst ab von der Medienwirkungsforschung wie
auch von der Mediennutzungsforschung im Sinne der „Uses-and-Gratifications“.
Er unterstreicht, dass sowohl die Wirkung als auch die Nutzung irgendeiner
Medienbotschaft nur sekundäre Prozesse sind:

“Before this message can have an ‘effect’ (however defined), satisfy a ‘need’ or be
put to a ‘use’, it must first be appropriated as a meaningful discourse and be mea-
ningfully decoded. It is this set of decoded meanings which ‘have an effect,’ influ-
ence, entertain, instruct or persuade, with very complex perceptual cognitive emo-
tional, ideological or behavioural consequences” (Hall, 1980, S. 130).

Der Prozess, der die Rezeption von Medienbotschaften primär ausmacht, ist
demnach die Aneignung der Medienbotschaft („appropriation“), also die Deko-
dierung des Inhalts durch den Rezipienten. Diese Decodierung erfolgt auf Basis
der Bedeutungsstrukturen („meaning structures“) (Hall, 1980; Hepp, 1999, S.
110-118), die dem Rezipienten zur Verfügung stehen. Die Dekodierung ist kein
individueller Prozess im Sinne der von den „Uses-and-Gratifications“ betrachte-
ten Nutzung, er ist vielmehr geprägt durch das soziale Umfeld des Rezipienten
und auch ganz konkret durch Gespräche, die im Prozess der Aneignung stattfin-
den (Hall, 1980; vgl. Brown, 1994; Hepp, 1998).
Der Dekodierung voraus geht eine Enkodierung auf Seiten des Kommuni-
kators. Sie erfolgt gleichfalls auf der Basis gewisser nachfrageseitiger Bedeu-
tungsstrukturen („meaning structures“). Diese Bedeutungsstrukturen wiederum
sind auf Produktions- wie auf Rezeptionsseite abhängig von Rahmenbedingun-
gen kognitiver, sozialer und technischer Art („frameworks of knowledge“, „rela-
tions of production“, „technical infrastructure“) (vgl. Abbildung 11).
3.2 Vertiefende Ansätze 83

programme as a
‚meaningful discourse‘

encoding decoding
meaning meaning
structures 1 structures 2

frameworks of knowledge frameworks of knowledge


relations of production relations of production
technical infrastructure technical infrastructure

Abbildung 11: Encoding/Decoding-Modell (Hall, 1980)

Je stärker die Bedeutungsstrukturen auf beiden Seiten sich voneinander unter-


scheiden, desto stärker kann die angeeignete Botschaft abweichen von der vom
Sender ursprünglich „gemeinten“ Botschaft. Hall unterscheidet drei Formen der
Dekodierung. Er bezeichnet sie als „Lesarten“ (Hall, 1980, S. 136-138):
ƒ Dominante Lesart („dominant/hegemonic reading“): Der Rezipient deko-
diert die Botschaft in genau dem Sinne, in dem der Sender sie auch codiert
hatte.
ƒ Oppositionelle Lesart („oppositional reading“): Der Rezipient versteht zwar
die vom Sender intendierte Botschaft, liest diese aber gewissermaßen „ge-
gen den Strich“, also in einem Sinn, der dem vom Kommunikator gemein-
ten diametral entgegen steht.
ƒ Ausgehandelte Lesart („negotiated reading“): Der Rezipient dekodiert die
Botschaft insgesamt im Sinne des Senders, macht aber in einzelnen Aspek-
ten Abstriche, indem er von der Position des Senders abweicht.
In empirischen Arbeiten zur Aneignung massenmedialer Botschaften, die an die
Theorie von Hall anknüpfen, wurde die Existenz unterschiedlicher Lesarten
nachgewiesen. Ferner wurde gezeigt, dass die Lesarten sich mit der sozialen
Herkunft unterscheiden, und dass sie durch Anschlusskommunikation „ausge-
handelt“ werden (Morley, 1980). Wie der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz so
blieb auch Halls Konzept vom aktiven Dekodieren einer Medienbotschaft nicht
auf die Rezeption von Massenmedien beschränkt.
Das Rahmenkonzept der Cultural Studies erlaubt es, als Botschaft einen
„Text“ im weitesten Sinne des Wortes zu verstehen, also irgendein bedeutungs-
tragendes Objekt, sei es ein Buch, eine Fernsehsendung oder einen Alltagsge-
genstand, der überhaupt nicht ein Medium im engeren Sinne darstellt.
84 3 Stand der Forschung

Halls Interesse bleibt stark orientiert an der Rezeption von Text als Medien-
botschaft. Ein anderer Forscher dagegen bezieht wesentlich stärker andere Er-
scheinungen der Alltagskultur in seine Betrachtung ein: Michel de Certeau
(1988, S. 297) ersetzt den Gegensatz „Text schreiben“ / „Text lesen“ durch den
Gegensatz zwischen Produktion und Konsum in der kapitalistischen Gesell-
schaft. Wie der Rezipient bei Hall – also der Leser von Text im weitesten Sinne
–, so macht sich auch der Konsument ein Produkt im Zuge seiner Nutzung zuei-
gen. De Certeau kritisiert die „Ideologie“ eines „buchstäblichen Sinns“ (de Cer-
teau, 1988). Ihr entgegen setzt er das Ideal eines autonomen Konsumenten. Das
ist einer, der den Produkten der Industriegesellschaft ihre Bedeutung erst durch
seine Aneignung zuweist. Dabei unterliegt er allerdings – wie der Rezipient bei
Hall – dem Einfluss durch seine eigene soziale Einbettung.
Soweit ist in den Konzepten von Hall (1980) und de Certeau (1988) eine ak-
tive Aneignung von „Text“ beschrieben. Sie vollzieht sich nicht individuell,
sondern als sozialer Prozess und vor dem Hintergrund sozialer Ressourcen bzw.
Einschränkungen.
Ein dritter Vertreter der „Cultural Studies“ hat nun diese Konzepte übertra-
gen auf den Umgang mit Innovationen: Silverstone (mit Hirsch und Morley,
1992, mit Haddon, 1996) greift den Dualismus zwischen Produktion und Kon-
sum auf und bezieht ihn auf die Übernahme neuer Informations- und Kommuni-
kationstechnologien in den Alltag (vgl. u.a. Habib & Cornford 2002, Lehtonen
2003, Oksman & Turtiainen 2004). Silverstone und Haddon (1996) bezeichnen
diese Herangehensweise als „Domestication-Ansatz“. In diesem Fall bringt die
Metapher der Domestication („Domestizierung“, „Zähmung“) die relative Auto-
nomie des Nutzers von Technologie gegenüber der Technologie selbst zum Aus-
druck: Die „wilde“ Kommunikationstechnologie wird gezähmt und gebändigt.
Dabei kann auch der etymologische Bezug zum „Haus“ im Begriff der „Domes-
tication“ als programmatisch gelten, denn die meisten „Domestication“-Studien
interessieren sich für den häuslichen Alltag als Rahmen der Medienaneignung
(vgl. aber aktuelle Studien zur Domestizierung des Mobiltelefons [Haddon,
2003]).
Silverstone und Haddon belassen es aber nicht bei einer Metapher, sie er-
weitern den Aneignungsbegriff der „Cultural Studies“ in drei Punkten:
ƒ Erstens dehnen sie ihn von der Rezeptionsforschung aus auf die Frage nach
der Implementierung und der Gestaltung von Innovationen.
ƒ Zweitens entwickeln sie – ohne Verweis auf Rogers’ Innovation-Decision-
Prozess – einen prozessualen Aneignungsbegriff. Danach erstreckt sich die-
ser Prozess über drei Dimensionen. In der ersten Dimension, der „Commo-
dification“, macht sich der potentielle Nutzer ein Bild von der Innovation,
und zwar unter dem Einfluss von anderen Nutzern, Werbung und Massen-
3.2 Vertiefende Ansätze 85

medien. Die zweite Dimension bezeichnet Silverstone als die eigentliche


Aneignung („Appropriation“). Sie vollzieht sich in räumlicher Hinsicht
(„Objectification“) und in zeitlicher Hinsicht („Incorporation“). Bei dem
ersten ist etwa an die Positionierung des Fernsehers im Wohnzimmer zu
denken, bei dem zweiten an die Einpassung der Innovation in den Rahmen
die bestehenden Gewohnheiten. „Conversion“ als dritte Dimension ist die
Selbstdarstellung mit dem neuen Objekt nach außen. Indem der Nutzer sich
mit der Innovation zeigt, trägt er seinerseits bei zu deren „Commodifica-
tion“ durch andere Nutzer. Die Domestizierung hat eine Runde durchlaufen,
der Gesamtprozess kommt so spiralförmig weiter (Silverstone & Haddon,
1996, S. 65):

„[I]t is through conversion that the spiral of consumption continues to turn, for in
our converting activities (and not just through initial rejection) those involved in
commodification (producers, regulators, advertisers, and the rest) learn about con-
sumption and may or may not alter their products and services to fit what they think
they have learned”.

ƒ Drittens unterscheiden Silverstone und Haddon (1996, S. 50) – im Sinne der


semiotischen Tradition von „Cultural Studies“ – zwischen zwei „Artikula-
tionen“ der neuen Kommunikationstechnologien: Einerseits kann man sie
rein funktional betrachten als Medien, also als Vermittler gewisser Bot-
schaften. Andererseits stellen sie auch Objekte dar, die gewisse technische
und ästhetische Eigenschaften aufweisen.
Auf der Basis dieser Heuristik wurde eine Vielzahl qualitativer Studien zur
„Domestizierung“ von Medien und Medieninnovationen durchgeführt, etwa für
Computer (2002; Lehtonen, 2003; A. Venkatesh, 2001; Quandt & von Pape,
2006), für das Internet (Bakardjeva & Smith, 2001) für das Mobiltelefon (Had-
don, 2003; Lehtonen, 2003) und für „Video on Demand“ (Ling, Nilsen, & Gran-
haug, 1999). In der Regel greift man dabei zurück auf Leitfadeninterviews oder
auch auf eine der Ethnographie entlehnte Vorgehensweise, die Gespräche mit
den Nutzern verbindet mit – teilweise teilnehmender – Beobachtung (A. Venka-
tesh, 2001; Habib & Cornford, 2002; Hirsch, 1992; vgl. aber als "Domestica-
tion"-Studie, die auf eine holistische Verbindung quantitative Methoden baut,
Quandt & von Pape, 2006). Verallgemeinert man die bisherigen Befunde über
den spezifischen Kontext der jeweiligen Studien hinaus, so ist festzustellen: Die
räumliche und zeitliche Einbindung von Innovationen in den (häuslichen) Kon-
text des Alltagslebens ist nicht determiniert durch die vorgegebenen Eigenschaf-
ten der Innovationen, sie wird vielmehr in einem sich ständig erneuernden Pro-
zess von den Nutzern selbst bestimmt.
86 3 Stand der Forschung

“Thus, instead of technology determining the forms of use or rational atomistic indi-
viduals simply deciding what is useful to them, there is a middle ground of com-
promises, of negotiations between different types of influences – negotiations that
result in more or less stable attachments between new technology and its users“
(Lehtonen, 2003, S. 282-283).

In die Nutzung sind in der Regel – direkt oder indirekt – mehrere Personen in-
volviert. Der Prozess der Domestizierung ist deshalb ein sozialer Prozess des
Aushandelns (vgl. für einen aktuellen Überblick des Forschungsstands Berker,
Hartmann, Punie, & Ward, 2006).
Den sozialen Rahmen dieses Aushandelns bezeichnen die „Cultural Stu-
dies“ als die „alltägliche Lebenswelt“ („everyday life“, vgl. Bakardjeva & Smith,
2001; Hepp, 1998; Silverstone, 1995; Silverstone & Haddon, 1996). Jenseits der
vorgestellten Heuristik von Silverstone ist dieses Konzept allerdings im Rahmen
der „Cultural Studies“ wenig greifbar. Dies zeigt sich etwa in der theoretischen
Einführung von Highmoore (2002, S. 1). Er macht den Alltagsbegriff der „Cultu-
ral Studies“ am einem Diktum des französischen Literaturkritikers Maurice
Blanchot fest: „Whatever its other aspects, the everyday has this essential trait: it
allows no hold. It escapes” (Blanchot, 1987, S. 14).
Ein Versuch, den Alltag und seinen Einfluss auf die Ausgestaltung von In-
novationen jenseits der „Cultural Studies“ fassbar zu machen, ist die soziologi-
sche Rahmenanalyse. Diese wird im folgenden Kapitel vorgestellt.

3.2.3.2 Rahmenanalyse

Eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Ansätze beschäftigt sich mit dem Phäno-


men der gesellschaftlichen Prägung technischer Innovationen, das wahlweise als
„Social Shaping of Technology“ (SST) (Williams & Edge, 1996), „social con-
struction of technology“ (SCOT) (Bijker et al., 1987) oder „framing“ bezeichnet
wird7. Aus dem breiten Spektrum der sozialwissenschaftlichen Ansätze soll der
jener Rahmenanalyse herausgegriffen werden, da er gerade zum Verständnis des
Alltags beiträgt, und da er in der Forschung zur Mobilkommunikation viel Be-
achtung findet. Rahmenanalyse geht aus von einem Konzept des Alltags als dem
Handlungs- und Bedeutungsrahmen, in den Innovationen im Zuge des Adopti-
onsprozesses implementiert werden (Rogers, 2003, S. 179-188).

7
Weitere vereinzelte soziologisch orientierte Ansätze, die nicht einer der genannten Strömungen
zuzuorden sind, sind das Konzept zur Vergesellschaftung und Kultivierung neuer Medien von
Rammert (1990, 1993), das „Medien-Entwicklungs-Modell“ von Kubicek, Schmidt und Wagner
(1997)und der Ansatz des „cadre sociotechnique“ von Flichy (1995).
3.2 Vertiefende Ansätze 87

Ein Konzept zur Analyse des menschlichen Verhaltens im Alltag bietet


Goffman (1974; 1977; 1969). Er geht aus von der Vorstellung, dass die Men-
schen sich in der alltäglichen Selbstdarstellung wie Schauspieler verhalten: In
unterschiedlichen Situationen halten sie sich an unterschiedliche Rollen, die
ihnen jeweils vorgegeben sind („Wir spielen alle Theater“ [Goffman, 1969]).
Das Skript, das jeweils unser Verhalten in einer bestimmten Alltagssituation
vorschreibt, bezeichnet Goffman als den „Rahmen“ der Situation. Ganz allge-
mein gesprochen ist ein Rahmen die Antwort auf die Frage „Was geht hier ei-
gentlich vor?“ (Goffman, 1974). Ein solcher Rahmen bündelt normative Erwar-
tungen an das Verhalten aller Beteiligten in Form von Konventionen und Regeln.
Gleichzeitig dient er zur Orientierung in unterschiedlichen Situationen und zur
Reduktion von Komplexität. Beispiele für derartige Rahmen im Alltag sind etwa
eine Fahrkartenkontrolle im Zug oder das Aufgeben einer Bestellung im Restau-
rant: Haben die beteiligten Akteure den „Rahmen“ der Situation erkannt, so
werden sie sich ihrer Rolle als Fahrgast/Kontrolleur bzw. Gast/Kellner bewusst,
und sie halten sich an die Erwartungen, die in dieser Rolle an sie gestellt werden.
So muss nicht jedesmal neu ausgehandelt werden, wer sich wie zu verhalten hat.
Ohne derartige Rahmen wäre ein gesellschaftlicher Umgang schnell unmöglich,
er würde zu viel explizite Abstimmung erfordern.
Inwiefern kann nun mit der Rahmenanalyse die Aneignung neuer Medien
beschrieben und erklärt werden? Höflich (2000, S. 88) adaptiert den Begriff des
Rahmens auf den Umgang mit Medien: Man hat es „immer dann, wenn ein
Kommunikationsmedium verwendet und damit eine (gemeinsame) Mediensitua-
tion hergestellt wird, mit einem jeweiligen Medienrahmen zu tun“. Für etablierte
Medien wie das Festnetztelefon sind diese Rahmen sehr stark institutionalisiert.
Innerhalb fester Kulturräume herrscht weitgehender Konsens über Fragen etwa
dazu, zu welchen Uhrzeiten man wen anrufen kann oder welche Dinge man
telefonisch besprechen kann und welche man nur persönlich besprechen sollte.
Anders ist die Situation, wenn ein Medium sich noch entwickelt und im All-
tagsgebrauch noch neu ist. Dann ist das Gerät wie ein neues Requisit: Dazu, wie
man damit umzugehen hat, gibt es noch kein allgemein anerkanntes Skript.
Höflich (1998) erläutert diese Situation anhand des Phänomens der kulturel-
len Phasenverschiebung („Cultural Lag“) (Ogburn, 1969). Häufig „hinken“ die
sozialen und kulturellen Rahmen der technischen Entwicklung hinterher. Der
Zustand zu Beginn ist noch relativ frei von Regelungen, Rahmen müssen erst
noch ausgehandelt werden. Ein aktuelles Beispiel ist die Verbreitung des Mobil-
telefons. Es stellt die technische Grundlage bereit für eine unbeschränkte Er-
reichbarkeit. Das führt auf ein Bedürfnis und schließlich auch auf die Notwen-
digkeit, die Nutzung einzuschränken durch Regeln und Normen. So ergab sich
etwa ein allgemeiner Konsens, die Nutzung in Restaurants auf ein Minimum zu
88 3 Stand der Forschung

reduzieren. In Zügen wurden „Ruhezonen“ eingeführt, und am Steuer ist das


Telefonieren ohne Freisprechanlage ganz verboten worden. Auf der anderen
Seite wurden für Nutzung des Mobiltelefons aber durchaus auch positive Rah-
men ausgehandelt. Dazu gehören Reziprozitätsnormen. Sie drücken die Erwar-
tung aus, dass man auf eine Kurzmitteilung oder eine auf der Mailbox hinterlas-
sene Nachricht in absehbarer Zeit eine Antwort erhält (von Pape et al., 2006a;
Taylor & Harper, 2003; Ling, 1997).
Die Beispiele lassen erahnen, dass die Studien und Beobachtungen Goff-
mans zur Bedeutung von und zum Umgang mit Rahmen im Alltag vielerlei
Anknüpfungsmöglichkeiten bieten – für die Beschreibung und die Analyse nicht
nur des alltäglichen Theaterspielens, sondern auch der Rahmung von neuen
Kommunikationsdiensten.
Häufig werden sie zur Erläuterung der Befunde qualitativer Studien heran-
gezogen:
ƒ Höflich (1998) beschreibt, wie es beim neuen Medium des Online-Chats zu
Rahmenbrüchen und Rahmenstreitigkeiten kommt, nämlich etwa in Form
des sog. „flaming“, also der wüsten Beschimpfung des virtuellen Gegen-
übers bzw. in Form von Auseinandersetzungen über „Netiquette“ als den
sich herausbildenden Rahmen der Online-Kommunikation.
ƒ Taylor und Harper (2003, S. 281) knüpfen in einer ethnographischen Studie
an Goffmans Metapher des alltäglichen Theaterspielens an, um zu beschrei-
ben, wie Schulmädchen ihre Beziehungen zur besten Freundin pflegen, et-
wa indem sie diese exklusiv eine empfangene SMS-Nachricht lesen lassen.
Dieses Verhalten entspricht dem „sideplay“, einem vom allgemeinen Büh-
nengeschehen abgewendeten Dialog zwischen privilegierten Akteuren.

“The sideplay presents something of symbolic meaning to both the girls and to the
others present. It creates a bond between them through breaking the bond with the
others achieved by dint of co-presence. Thus, it ties the two girls together, establish-
ing a temporally bounded sense of intimacy and necessarily excluding those around
them” (Taylor & Harper, 2003, S. 281).

ƒ Ling (1997) verwendet Goffmans Begriff der „parallelen Bühnen“ („parallel


front stages“ [Goffman, 1967, S. 35]), um die Situation eines Restaurant-
gasts zu beschreiben, der einen Telefonanruf entgegennimmt: Im Sinne der
Schauspielerei agiert die Person auf zwei Bühnen und muss zwei mehr oder
weniger unterschiedliche Rollen spielen. Die von Ling durchgeführten Leit-
fadeninterviews zeigen, dass dieses Verhalten bei den beteiligten Personen
leicht Irritation auslöst: Wenn der Telefonierende sich nicht von einer der
Bühnen verabschiedet (indem er das Gespräch beendet oder das Restaurant
verlässt), dann wird er fast zwangsweise auf einer Bühne sprichwörtlich aus
3.2 Vertiefende Ansätze 89

der Rolle fallen: Er wird entweder für den Gesprächspartner am Telefon zu


leise und zurückhaltend sprechen, oder er wird es für seine Umgebung im
Restaurant an Diskretion mangeln lassen (Ling, 1997).
Die Stärke der Rahmentheorie ist ihre Anwendbarkeit auf entsprechende alltägli-
che Nutzungsmuster von Kommunikationsdiensten. Die essayistischen Auslas-
sungen des Soziologen sind so flexibel gehalten, dass man sie auf viele Befunde
gerade qualitativer Forschung anwenden kann. So wird auf Goffman auch in
einer Vielzahl anderer Studien verwiesen (Oksman & Turtiainen, 2004; An-
droutsopoulos & Schmidt, 2002; Gebhardt, 2001; Ling, 2004)
Gerade in dieser Flexibilität liegt aber auch eine Gefahr, nämlich die, Rah-
mentheorie als „theoretisches Passepartout“ zu verwenden (Karnowski et al.,
2006). Der Verweis auf den Soziologen Goffman vermag auch einem eher anek-
dotischen Einzelbefund noch einen Anschein von Bedeutsamkeit zu verleihen.
Als weiteren Kritikpunkt weist Ling (1997) auf den Ursprung von Goff-
mans Theorie in der Mikroebene der „face-to-face“-Kommunikation hin. Dieser
verleitet dazu, „Rahmung“ als einen ganz direkten basisdemokratischen Prozess
zu betrachten und die sozialstrukturellen Einflussfaktoren zu vernachlässigen.
Tatsächlich sind die Nutzer in ihrem Aushandeln von Innovationen durch vieler-
lei soziale Vorgaben eingeschränkt und beeinflusst: Mögliche Hierarchien zwi-
schen den Nutzern, wie sie etwa in Unternehmen gegeben sind, bestehende Re-
geln wie etwa Gesetze zur Nutzung und auch Einflüsse auf die Wahrnehmung
und Kommunikation, wie sie etwa durch Werbung in Massenmedien zur Geltung
kommen. Diesen Faktoren wird die sozialkonstruktivistische Techniksoziologie
besser gerecht.

3.2.3.3 Sozialkonstruktivistische Techniksoziologie

Die sozialkonstruktivistische Techniksoziologie teilt mit Domestication und


Rahmenanalyse den Gedanken, dass sie dem reinen technologischen Determi-
nismus die Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren entgegenstellt. Sie unterschei-
det sich von ihnen dadurch, dass sie in wesentlich differenzierterer Form dar-
stellt, wie soziale Strukturen die Technologie prägen können – während „Domes-
tication“ und „Rahmenanalyse“ dies häufig als einen basisdemokratischen Pro-
zess innerhalb von gleichberechtigten oder sehr einfach strukturierten Nutzer-
gruppen voraussetzen. Das Forschungsfeld ist höchst unübersichtlich, da viele
Ansätze einander ähneln, aber jeweils für sich den alleinigen Geltungsanspruch
erheben8. Die folgende Übersicht unterscheidet nach der Frage ob ein Autor das

8
So bezeichnen die Vertreter des „Social Shaping of Technology“ (SST)-Ansatzes ihr Konzept als
„a broad church“, welche den meisten anderen techniksoziologischen Ansätze ein Dach biete,
90 3 Stand der Forschung

Aushandeln technologischer Innovationen auf einem makrosozialen Niveau


untersucht oder aber im mesosozialen Rahmen spezifischer Organisationen.
Auch diese Unterscheidung ist nicht ganz trennscharf, da manche Ansätze auf
beiden Ebenen agieren.

Makroebene

Modelle zum gesamtgesellschaftlichen Aushandeln technologischer Innovatio-


nen werden u.a. von Bijker und Pinch (Bijker et al., 1987), Rammert (1993,
1990), Flichy (Flichy, 1995, 2001), Kubicek (Kubicek, Schmid, & Wagner,
1997) und Latour (Latour, 2005) angeboten. Sie stimmen darin überein, dass sie
einen schrittweise voranschreitenden Prozess darstellen, in dem technische und
gesellschaftliche Visionen zu konkreten Innovationen zusammengebracht wer-
den, und dass dieser Prozess sowohl explizit in sozial institutionalisierten Arenen
entschieden wird, als auch implizit und schleichend im Alltag der Nutzer.
Eine greifbare Unterscheidung bietet hier Rammert (1990) an:
ƒ Die Kultivierung ist ein eher informelles Aushandeln der „weichen Fakto-
ren“ der Aneignung einer Innovation, also ihre Aufnahme in das Wissens-
und Verhaltensrepertoire des alltäglichen Handelns. Dies kann – wie von
Goffman beschrieben – im mikrosozialen Miteinander geschehen, es kann
aber auch beeinflusst werden von einem massenmedial verbreiteten Be-
gleitdiskurs.
ƒ Die Vergesellschaftung wird ausgehandelt auf dem Boden zentraler institu-
tionalisierter Arenen, wie etwa den Landesmedienanstalten oder der Börse.
Diese Ansätze stützen sich in der Regel auf – häufig historische – Fallstudien,
wie etwa zum Telefon (Rammert, 1990), elektronischen Informationssystemen
(Kubicek et al., 1997), zum Internet (Flichy, 2001), zu Web-Browsern (Faraj,
Kwon, & Watts, 2004), aber auch zum Fahrrad (Bijker et al., 1987) und zu solar-
betriebenen Beleuchtungsanlagen (Akrich, 1992).

werden aber etwa im Rahmen des „Social Construction of Technology“ (SCOT)-Ansatzes kaum
zitiert, da dessen Vertreter sich mehrheitlich den „Science and Technology Studies“ (STS) zu-
rechnen. Gleichzeitig sind allein die Labels dieser drei Ansätze so generisch, dass auch andere
techniksoziologische Konzepte sie verwenden, ohne sich dabei einer speziellen Schule zuzuord-
nen. So ist auch im Rahmen der „Cultural Studies“ vom „Social Shaping of Technology“ die
Rede, und mit der Bezeichnung „Social Construction of Technology“ identifizieren sich viele
Forscher allein darum, weil sie einen Gegenentwurf zum Technikdeterminismus darstellt.
3.2 Vertiefende Ansätze 91

Mesoebene

Autoren, die der „Formung“ von technologischen Innovationen im spezifischen


Kontext bestimmter Institutionen und Organisationen nachgehen, fokussieren auf
die in diesem engen Rahmen gegebenen Bedingungen und betrachten makroso-
ziale Einflüsse vornehmlich als externe Faktoren. Sie stützen sich dabei teilweise
auf bereits genannte makrosoziale Ansätze (Latour, 2005), teilweise auf Organi-
sationssoziologie (Orlikowski, 1993) und teilweise auf soziologische Basistheo-
rien, wie Giddens‘ (1984) Strukturationstheorie (DeSanctis & Poole, 1994).
Diese Ansätze stützen sich zum großen Teil auf historische Fallstudien oder
qualitative Beobachtungen aktuell ablaufender Aneignungsprozesse. Teilweise
werden aber auch quantitative Methoden der Linguistik verwendet, um etwa
Transkriptionen von konkreten Dialogen des Aushandelns auszuwerten (DeSanc-
tis & Poole, 1994).
Die meisten Konzepte aus diesem Feld sind sehr spezifisch auf den organi-
sationalen Aneignungskontext ausgerichtet und damit weniger geeignet für die
Aneignung im alltäglichen Konsum; insbesondere ein Ansatz wurde aber genau
in diesem Sinne weiter entwickelt und soll daher genauer berücksichtigt werden:
Ausgehend von Giddens‘ Strukturationstheorie untersucht Fulk, wie Tech-
nologie in Unternehmen herangezogen wird. Anstatt aber die besonderen Gege-
benheiten verschiedener Unternehmen mit qualitativen Methoden zu untersu-
chen, wendet sie standardisierte Befragungen an, in denen sie Angestellte nach
der vermeintlichen Wahrnehmung einer neuen Technologie durch ihre Mitarbei-
ter und Vorgesetzten befragt. So können Fulk und Kollegen (Fulk, Schmitz, &
Ryu, 1995) am Beispiel der Arbeitstechnologie E-Mail feststellen, welche Be-
deutung das Umfeld auf die Wahrnehmung und die Nutzung der Technologie
hat. Dabei haben sie herausgefunden, dass Mitarbeiter auf der gleichen Hierar-
chieebene einen stärkeren Einfluss auf die Wahrnehmung einer Technologie
haben, als Vorgesetzte.
In einem zweiten Schritt greifen Campbell und Russo (2003) dieses Kon-
zept auf und lösen sich ganz vom organisatorischen Rahmen des Unternehmens,
indem sie den Ansatz auf die Aneignung des Mobiltelefons unter Jugendlichen
anwenden.
Außerdem beschränken sie sich nicht auf die Aussagen eines Informanten
zur vermeintlichen Wahrnehmung der Technologie unter seinen Freunden, son-
dern befragen alle das Mobiltelefon nutzenden Mitglieder egozentrischer Netz-
werke.
Die Befunde zeigen, dass in der Tat die Wahrnehmung und die Nutzung
von Mobiltelefonen innerhalb egozentrischer Netzwerke homogener ausfällt als
über die gesamte Stichprobe hinweg. Dieser Befund wurde durch einen Ver-
92 3 Stand der Forschung

gleich der Standardabweichung innerhalb von existierenden Stichproben mit


zufällig gebildeten Stichproben gleicher Größe gewonnen.
Wie die Autoren selbst einräumen (Campbell & Russo, 2003, S. 332),
schränken allerdings mehrere Schwächen dieser Studie die Aussagekraft ihrer
Befunde ein:
ƒ Der Begriff der „Wahrnehmungen und Nutzungsformen“ umfasst ein sehr
weites Spektrum an Relevanzbewertungen, Normen, Restriktionen und
Nutzungsweisen, welche weitgehend atheoretisch aus der vorliegenden
Aneignungsforschung zum Mobiltelefon übernommen wurden und rein em-
pirisch – auf Basis von Faktorenanalyse – unterschiedlichen Dimensionen
zugewiesen wurden. So fällt eine Deutung unterschiedlich stark ausgepräg-
ter Grade an Homogenität schwer.
ƒ Es wurden egozentrische Netzwerke befragt, über deren Beziehung unter
einander nichts bekannt war. So konnte zwar die Homogenität innerhalb ei-
nes Netzwerks untersucht werden, aber kein Phänomen der Abgrenzung
zwischen Netzwerken.
ƒ Es wurden nur Nutzer befragt. Die Wahrnehmung des Mobiltelefons kann
aber genauso gut durch Nichtnutzer geprägt werden.
ƒ Unterschiede in der Soziodemographie wurden nicht kontrolliert. Da die
Netzwerke teilweise aus College-Studenten, teilweise aus berufstätigen Per-
sonen bestehen, könnte Homogenität schlicht auf Homogenität im Lebens-
wandel zurückzuführen sein anstatt auf tatsächlichen Kontakt.
Im Rahmen der in der gesamten Literaturübersicht entwickelten Traditionen der
Diffusions- und Aneignungsforschung nimmt die Studie von Campbell und Rus-
so also einen relativ isolierten Platz ein sowohl was ihre Anknüpfung an beste-
hende Literatur angeht, als auch was ihre Rezeption betrifft. Dabei macht sie auf
eine einzigartige Weise vor, wie Aneignungsforschung und Analyse sozialer
Netzwerke miteinander verbunden werden können.

3.2.3.4 Resümee

Die vorgestellten Ansätze zur sozialen Aneignung neuer Kommunikationstech-


nologien lassen sich zusammenfassen auf der Basis des gemeinsamen Konzepts
des Aushandelns von Aneignung: Rahmenanalyse und „Domestication“-Ansatz
beschreiben dies Aushandeln auf der Mikroebene von interpersonalen Beziehun-
gen. Sozialkonstruktivistische Ansätze aus der Techniksoziologie betrachten den
komplexeren Aneignungskontext einer ganzen Gesellschaft oder aber einer Or-
ganisation. Im Sinne der Rahmenanalyse ausgedrückt weisen sie damit auf jene
sozialstrukturellen „Rahmen“ hin, die die Rahmung selbst strukturieren.
3.2 Vertiefende Ansätze 93

Welcher Ansatz am besten geeignet ist, hängt sehr stark vom Materialobjekt
der Forschung ab. Da die Peer-Gruppe von Jugendlichen weniger komplex struk-
turiert sein dürfte als etwa ein Unternehmen, welches eine neue Software ein-
führt, scheinen Domestication und Rahmenanalyse hier durchaus geeignete An-
sätze zu sein. Dennoch sollten die sozialkonstruktivistischen Ansätze der Tech-
niksoziologie nicht vorschnell verworfen werden, denn sie können auf jene Fak-
toren hinweisen, die das basisdemokratische Aushandeln beeinflussen: Massen-
medien, aber auch etwa Hierarchien innerhalb von Peer-Gruppen.
Insgesamt erwarten wir von diesen meist qualitativ ausgerichteten Ansätzen
weniger einen Fortschritt im Sinne der Annäherung theoretischer Modelle an die
Befunde empirischer Messungen. Es geht vielmehr um einen Einblick in das
große Ganze, von dem die quantitativen Ansätze nur einzelne Aspekte sehr diffe-
renziert betrachten – also im übertragenen Sinne um den Wald, den man vor
lauter Bäumen nicht aus dem Blick verlieren sollte (Kleining, 2007).
Operationalisierbare Hypothesen finden sich kaum. So hält die Rahmenana-
lyse mehr ein Vokabular zur Beschreibung von Aushandlungsprozessen vor als
belastbare Konstrukte. Beim Angebot der Cultural Studies muss man unterschei-
den: De Certeaus Anliegen ist eher programmatisch zu sehen, als dass man ein
Abzielen auf reine Deskription und Prognose unterstellen könnte. Ihm geht es
um die Betonung der aktiven, taktischen und emanzipierten Rolle des Konsu-
menten. Hall und Silverstone bieten zwar komplexere Heuristiken an in Form
eines Kommunikationsmodells und eines Phasenmodells der Aneignung. Auch
hier lässt sich aber kaum von Operationalisierung und Prüfbarkeit sprechen.
So gesehen hat die frühe Kritik von Wren-Lewis (Wren-Lewis, 1983) am
„Encoding/Decoding“-Modell auch heute im Hinblick auf die Untersuchung von
Aneignung neuer Kommunikationstechnologien ihre Berechtigung:

“Given the wealth of material using semiological tools for the analysis of film and
television, it is remarkable that so little work has been done on the practice of decod-
ing. Obviously, empirical work on audiences is difficult to organise, but this is no
excuse for failing even to consider how such a project should be approached“.

Allein im Rahmen der sozialkonstruktivistischen Techniksoziologie finden sich


quantifizierbare und überprüfbare Hypothesen, wie insbesondere die zuletzt
vorgestellte Studie von Campbell zeigt. Diese ist als Anregung zu vermerken,
auch wenn sie ein Sonderfall bleibt.
Insgesamt liegt der Mehrwert der vorgestellten Ansätze darin, dass sie Hin-
weisen auf größere Zusammenhänge der Aneignung bieten, die über die zuvor
dargestellten drei quantitativen Ansätze hinausweisen.
94 3 Stand der Forschung

Fünf Punkte sind hier zu nennen:


ƒ Sie zeigen, dass man in Innovationen nicht nur Verhaltensweisen oder Trä-
ger bestimmter Funktionen sehen darf, sondern dass sie in der Regel auch
als Artefakte materialisiert sind. Als solche sind sie nicht nur auf Basis ihrer
Funktionen zu betrachten, sondern auch als technische und ästhetische Ob-
jekte. Dies unterstreicht vor allem der „Domestication“-Ansatz.
ƒ Die qualitativen Ansätze weisen darauf hin, dass Aneignung ein sozialer
Prozess des Aushandelns ist. Damit gehen sie vor allem hinaus über den
„Uses-and-Gratifications“-Ansatz mit seiner individualistischen Perspekti-
ve. Gleichzeitig unterstreichen sie damit die Notwendigkeit, soziale Normen
zu berücksichtigen, wie dies bei sozialpsychologischen Verhaltenstheorien
und Netzwerkanalyse häufig der Fall ist. Der Begriff des „Aushandelns“
(Weilenmann, 2001) weist aber auch über das Konzept fester Normen aus
der „Theory of Planned Behavior“ hinaus, denn er zielt ja gerade auf den
Prozess, in dem Normen überhaupt erst geprägt werden.
ƒ Schließlich unterstreichen sie die Kontinuität des Aushandelns, sei es nun in
Form der „Rahmung“ von Innovationen, sei es in Form der Domestizierung
oder der sozialen „Formung“ oder „Konstruktion“. Wie besonders der
„Domestication“-Ansatz unterstreicht, ist dieser Prozess als zirkulär zu den-
ken: Nutzung von Innovationen provoziert bei den Mitmenschen An-
schlusskommunikation, und diese Anschlusskommunikation – als Aus-
einandersetzung mit möglichen Nutzungsformen und Bedeutungen dieser
Nutzungsformen – kann wiederum zur Grundlage werden für zukünftige
Nutzung. Ein „Startpunkt“ der Aneignung ist häufig gar nicht auszumachen,
„Design“ und „Domestication“ gehen ineinander über (Silverstone & Had-
don, 1996), Aneignungsforschung ist gleichzeitig Technikgeneseforschung
(Rammert, 1993).
ƒ Sie geben Anhaltspunkte für verschiedene Formen des Aushandelns. Dies
kann ein Aushandeln im häuslichen Alltag sein (Domestication), ein relativ
freier, basisdemokratischer Austausch (Rahmenanalyse), oder aber ein
komplexeren sozialen Strukturen unterworfener Prozess etwa der Regulie-
rung (sozialkonstruktivistische Techniksoziologie).
ƒ Schließlich bleibt festzuhalten, dass die klassische Diffusionstheorie die
Befunde qualitativer Forschung praktisch überhaupt nicht zur Kenntnis
nimmt. Einzig Meyer (2004, S. 68) erwähnt als potentielle Entwicklungs-
richtung des Ansatzes auch qualitative Methoden. Er ist aber wenig ehrgei-
zig und wenig konkret, wenn es darum geht, den daraus zu erwartenden
Gewinn zu beschreiben: „At a minimum, qualitative components allow for
the potential discovery of important new directions in diffusion research“.
3.2 Vertiefende Ansätze 95

3.2.4 Resümee

Ausgangspunkt des vorangehenden Kapitels waren die Feststellungen zu drei


Einschränkungen der klassischen Diffusionstheorie im Hinblick auf die Frage,
wie Innovationen sich jenseits der Entwicklungslabors weiterentwickeln. Kon-
kret geht es um:
ƒ Die Integration von Faktoren auf der Ebene individueller Adoptionsent-
scheidungen.
ƒ Die Differenzierung von Faktoren auf der Ebene sozialer Diffusion.
ƒ Eine Differenzierung zu der Prägung der Innovation durch den Nutzer im
Zuge ihrer Aneignung.
Im Folgenden wurden Ansätze zu einer vertieften Betrachtung dieser drei Punkte
diskutiert – zunächst aus der Perspektive einer quantitativen Forschung heraus
und dann aus der qualitativen Perspektive.
ƒ Die drei quantitativen Ansätze bleiben der Diffusionstheorie treu insofern,
als sie ein hohes Niveau an Generalisierungen erlauben. In der Differenzie-
rung und in der Validität gehen sie aber deutlich über die bestehenden Kon-
zepte der Diffusionstheorie hinaus.
ƒ Die qualitative Forschung führt zu einem tieferen Verständnis bei denjeni-
gen Phänomenen, die von der Diffusionstheorie und von den drei quantita-
tiven Ansätzen vernachlässigt wurden, da sie nicht in das enge Raster der
bestehenden Modelle und Hypothesen hineinpassen. Darunter fällt insbe-
sondere der kommunikative Prozess, in dem die Aneignung einer Innovati-
on ausgehandelt wird.
Auf dieser Basis lassen sich die besprochenen Ansätze und eine überwältigende
Mehrheit der dazugehörigen Studien zusammenfassend tabellarisch festhalten
(Tabelle 1). Im Sinne der bisherigen Argumentationslinie wird der jeweilige
Ansatz zunächst festgemacht am Ausgangspunkt in der Diffusionstheorie, wel-
cher durch ihn weiter vertieft wird. Dann wird die soziale Betrachtungsebene
(Mikro-, Meso-, Makrosozial) sowie die vorherrschende methodologische Orien-
tierung (qualitativ vs. quantitativ) angegeben. Schließlich folgen beispielhafte
Studien aus dem Bereich der Innovationsforschung zu neuen Medien.
Dabei sind bestimmte Muster festzuhalten, nach denen Anknüpfungspunkt,
Betrachtungsebene und Methode zusammenhängen. So sind die an der Adoption
und Diffusion orientierten Ansätze einer quantitativen Methodologie verschrie-
ben, während die Ansätze zur Implementierung – abgesehen von Uses-and-
Gratifications – in erster Linie qualitativ ausgerichtet sind. Weiter sind Ansätze
zur Adoption stets am Individuum orientiert und Ansätze zur Diffusion an Grup-
pen oder ganzen sozialen Systemen.
96

Name des Ansatzes Anknüpfungspkt. Betrach- Methode Beispielhafte Studien


in Diff.-Theorie tungsebene

TRA Adoption Mikro quantitativ (Moore & Benbasat, 1996; Kara-


hanna et al., 1999)

TPB Adoption Mikro quantitativ (Schenk et al., 1996; Hung, Ku, &

Kommunikationsdienste
Chan, 2003)

TAM Adoption Mikro quantitativ (Hubona & Burton-Jones, 2003;


Schepers & Wetzels, 2007)

UTAUT Adoption Mikro quantitativ (V. Venkatesh et al., 2003)

SNA Diffusion Mikro, Meso, quantitativ (Schenk et al., 1996; Schnorf, 2008;
Makro Campbell & Russo, 2003)

UGA Implementierung Mikro quantitativ (Trepte et al., 2003; O. Peters &


Ben Allouch, 2005)

Domestication Implementierung Meso qualitativ (Bakardjeva & Smith, 2001; Ling


et al., 1999; Haddon, 2006)

Rahmenanalyse Implementierung Meso qualitativ (Taylor & Harper, 2003; Oksman &
Turtiainen, 2004)

Mesosoziologischer Implementierung Meso historische/ (Orlikowski, 1993; DeSanctis &


Sozialkonstrukti- meist qualita- Poole, 1994; Fulk, 1993; Campbell
vismus tive Fallstu- & Russo, 2003)

Tabelle 1: Übersicht vertiefender Ansätze zur Adoption, Diffusion und Implementierung neuer
Makrosoz. Sozial- Implementierung Makro historische/ (Rammert, 1990; Flichy, 2001; Ku-
konstruktivismus qualitative bicek et al., 1997; Faraj et al., 2004)
Fallstudien
3 Stand der Forschung
3.3 Integrative Ansätze 97

Während die Ansätze jeweils für sich genommen sehr weit entwickelt sind,
liegt noch ein großes Potential in ihrer Verbindung und im Aufbrechen der tradi-
tionellen Muster, wie sie anhand der Tabelle anschaulich werden. Warum sind
fast alle Ansätze zur Implementierung qualitativ ausgerichtet? Warum gibt es zur
Implementierung keinen Ansatz, der – wie bei der Adoption und Diffusion die
Netzwerkanalyse – gleichzeitig auf Mikro- Meso- und Makroebene greift? Gera-
de jene Studien, die nicht in das Raster der Tabelle passen, können hier den Weg
weisen: Katz, Aakhus et al. (J. E. Katz, Aakhus, Kim, & Turner, 2003) sowie
Campbell (Campbell & Park, 2008) zeigen, dass Unterschiede in der Implemen-
tierung auch quantitativ nachgewiesen werden können, etwa durch einen Ver-
gleich zwischen Kulturen.
ƒ Schenk et al. (Schenk et al., 1996) zeigen, dass Netzwerkanalyse mit TPB
verbunden und dabei sogar einzelne Aspekte der Implementierung berück-
sichtigt werden können.
ƒ Campbell und Russo (Campbell & Russo, 2003) zeigen, dass die Implemen-
tierung von Innovationen auch durch Netzwerkanalyse untersucht werden
kann.

3.3 Integrative Ansätze

Zu Beginn der letzten theoretischen Etappe dieser Arbeit soll noch einmal der
bisherige Fortschritt vor Augen geführt werden: Gedanklicher Ausgangspunkt
war die Maxime, die dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson
zugeschrieben wird: Eine überlegene Innovation setzt sich früher oder später
zwangsweise auch durch.
Erste Hinweise darauf, dass der Erfolg einer überlegenen Innovation durch-
aus noch abhängt von Größen, die auf den Prozess der Diffusion selbst Einfluss
nehmen, ergeben sich im Rahmen der klassischen Diffusionstheorie. Anhand
einer Vielzahl quantitativer empirischer Studien hat dieser Ansatz Befunde dazu
gesammelt, welche Faktoren auf Seiten der Innovation und der Übernehmer es
sind, die diesen Prozess prägen. Gleichzeitig wurden Mängel der klassischen
Diffusionstheorie identifiziert, die sich im Vorwurf der geringen „Tiefe“ zusam-
menfassen lassen: Es mangelt an Differenzierung sowohl in der Betrachtung von
individuellen Adoptionsentscheidungen als auch in der Modellierung von Pro-
zessen der sozialen Diffusion und der Implementierung von Innovationen.
Eine Analyse des Forschungsstands in benachbarten Ansätzen hat gezeigt,
dass alle bestehenden Einschränkungen für sich durch spezifische, aber isolierte
Ansätze überwunden sind.
98 3 Stand der Forschung

Es liegen also alle Mittel bereit, um die Ausgangsfrage nach der weiteren
Entwicklung von Innovationen nach Verlassen der Entwicklerlabors zu beant-
worten.
Dafür müssen nur die drei Erweiterungen der quantitativen Forschung zu-
sammengeführt werden. Die Erkenntnisse der qualitativen Forschung können
dabei leiten.
Dies soll in zwei Schritten geschehen.
ƒ In einem ersten Schritt wird die individuelle Aneignung untersucht. Dabei
stehen zusätzlich zur Diffusionstheorie die meisten oben erwähnten qualita-
tiven und quantitativen Ansätze zur Vertiefung Pate:
o Als quantitative Ansätze stehen bereit jene zur Vertiefung des
Adoptionskonzepts (insbesondere „Theory of Planned Beha-
vior“ [TPB] sowie „Uses-and-Gratifications“ [UGA] als An-
satz zur Vertiefung der Implementierung).
o Zusätzlich werden sämtliche qualitativen Ansätze herangezo-
gen, um die individuelle Aneignung zu erklären.
ƒ Im zweiten Schritt wird vom MPA-Modell ausgegangen, und es wird der
verbleibende quantitative Ansatz der Analyse sozialer Netzwerke herange-
zogen sowie jene Aspekte der qualitativen Ansätze, die zuvor nicht berück-
sichtigt wurden, weil sie über die individuelle Ebene hinaus gehen.
In zwei Schritten ergibt sich so – auf der Basis der im Forschungsstand vorge-
stellten Ansätze – ein umfassendes integratives Konzept zur Beschreibung und
Erforschung der weiteren Entwicklung von Innovationen (vgl. Abbildung 12).
3.3 Integrative Ansätze 99

soziale Faktoren:
- Analyse soziale
Netzwerke
Integrationsschritt 2:
MPA-Modell im Netzwerk

Aneignungsforschung:
- Cultural Studies,
individuelle Einstellungen
- Rahmenanalyse
TRA, TPB, TAM, UTAUT

Art der Nutzung:


UGA Integrationsschritt 1:
MPA-Modell
Abbildung 12: Fortschritte der quantitativen und qualitativen Ansätze zur Erklärung der Entwicklung
von Innovationen in Nutzerhand (eigene Darstellung)

Die Erwartung Emersons, überlegene Innovationen setzten sich zwangsweise im


Sinne des Erfinders durch, nehme man als Ursprung eines dreidimensionalen
Koordinatensystems. Anhand der drei Achsen lässt sich dann deutlich machen,
wie dieser zu schlichte Gedanke weiter ausdifferenziert werden kann:
ƒ Zum einen kann differenziert werden nach denjenigen individuellen Einstel-
lungen potentieller Übernehmer, die eine Übernahme mehr oder weniger
wahrscheinlich machen (Rechtsachse). Im Rahmen der quantitativen For-
schung bieten sozialpsychologische Handlungstheorien wie die „Theory of
Reasoned Action“ und die „Theory of Planned Behavior“ elaborierte Erklä-
100 3 Stand der Forschung

rungsmodelle. Auch die daran anknüpfenden Modelle der „information sys-


tems“ (TAM, UTAUT) können hier herangezogen werden.
ƒ Zum anderen kann gesucht werden nach sozialen Faktoren, die auf die
Übernahme Einfluss nehmen (Hochachse). Hier bietet die Analyse sozialer
Netzwerke einen sehr differenzierten Forschungsrahmen an. Sie erlaubt es,
Kanäle persönlicher Beeinflussung innerhalb von Netzwerken auszuma-
chen. Zusätzlich erlaubt sie aber auch die Identifikation von besonders ein-
flussreichen Gestalten und eine Einschätzung der Reichweite ihres Einflus-
ses.
ƒ Drittens stellt der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz Instrumente zur Verfü-
gung für eine Untersuchung der Nutzung von Medien über die binäre Frage
von Übernahme oder Ablehnung. Hier geht es um den funktionalen Nutzen:
Wird etwa ein Mobiltelefon als Kommunikationsinstrument benutzt, als
Spielzeug oder als Prestigeobjekt (nach vorne weisende Z-Achse)?
Die drei quantitativen Ansätze erlauben – für sich genommen – je sehr weitge-
hende Differenzierungen. Aber es fehlt an Querverbindungen zwischen ihnen:
Die Ansätze bleiben für sich isoliert und spannen nicht den Raum an Möglich-
keiten auf, den eine Kombination verspricht. Dieser Mangel hat – wie bereits
ausgeführt – seinen Grund wohl in der quantitativen Methode selbst, ihr hoher
Grad an Standardisierung geht vielfältig zu Lasten der Breite des Blickwinkels.
Qualitative Ansätze wären dagegen als ein Kugelausschnitt rund um den
Ursprung anzuordnen. Sie machen deutlich, wie eine differenzierte Betrachtung
von Nutzern in ihrer individuellen Situation und ihrer sozialen Einbettung ver-
bunden werden kann mit einem differenzierten Bild der Nutzung selbst. So zei-
gen sie, wie einzelne Personen Innovationen unterschiedliche Funktionen zuwei-
sen, wie verschiedene Nutzungsweisen sozial ausgehandelt werden und wie sich
die einzelnen Akteure mit ihren Präferenzen in dieses Aushandeln einbringen
(vgl. Abschnitt 3.2.3, S. 81). Aufgrund der qualitativen Methode sind diese An-
sätze allerdings Einschränkungen unterworfen durch den Mangel an Repräsenta-
tivität der Stichproben und an Standardisierung der Methoden. So können sie in
spezifischen Fragestellungen nicht so weit gehen wie die drei quantitativen An-
sätze.
Als Orientierungslinie für eine Integration der Ansätze drängt sich die Op-
tion auf, die quantitativen Ansätze, die durch die drei Achsen repräsentiert wer-
den, miteinander zu verbinden unter besonderer Beachtung der Befunde der
qualitativen Forschung, die durch den kleinen Kugelausschnitt zwischen den
Achsen repräsentiert sind.
Die zwei Schritte der Integration sind markiert durch die fett gestrichelten
Pfeile (erster Integrationsschritt) bzw. die gepunkteten Pfeile (zweiter Integrati-
onsschritt):
3.3 Integrative Ansätze 101

ƒ Der erste Schritt führt auf ein integratives Modell auf der Mikroebene indi-
vidueller Aneignung. In seinem Kern ruht es auf einer Verbindung von so-
zialpsychologischer Handlungstheorie und „Uses-and-Gratifications“. Die
Befunde qualitativer Aneignungsforschung fließen aber auch ein. Dieses
Modell existiert in Form des MPA-Modells und wird im folgenden Kapitel
erläutert.
ƒ Im zweiten Schritt kommt es zu einer darüber hinaus gehenden Integration
auf der Ebene sozialer Netzwerke. Sie verbindet das MPA-Modell weiter
mit der Analyse sozialer Netzwerke. Diese Integration ist Ziel der vorlie-
genden Arbeit. Die Grundlagen dafür werden im zweiten anschließenden
Kapitel zusammengefasst.

3.3.1 Integration auf der Mikroebene durch das „Mobile Phone Appropriati-
on“-Modell

Entwickelt wurde das „Mobile Phone Appropriation“-Modell (MPA-Modell) in


den Jahren von 2003 bis 2007 im Rahmen des Forschungsprojekts „intermedia“
(Hess, 2007). Der Prozess der Entwicklung bestand in einer engen Verzahnung
von Theoriearbeit und qualitativer wie quantitativer Forschung (Wirth, Kar-
nowski et al., 2007; Wirth et al., 2008).
Die Entstehung des Modells ist aber natürlich nicht nur historisch zu sehen.
In seiner endgültigen Form lässt das Modell sich auch analytisch herleiten aus
den in den vorigen Kapiteln ausgeführten Konzepten. Diese Zurückführung soll
im Folgenden dargestellt werden. Eine kurze Vorstellung der Operationalisie-
rung des Modells in die MPA-Skala mit den ersten empirischen Befunden im
Einsatz dieser Skala schließt sich an. Eine kritische Würdigung des Modells in
seinem heutigen Entwicklungsstand rundet die Darstellung ab.

3.3.1.1 Theoretische Herleitung

Die Darstellung zum ersten Integrationsschritt auf dem Wege zum Mobile Phone
Appropriation-Modell erfolgt in drei Schritten: Als Ausgangspunkt dient die
„Theory of Planned Behavior“ (Ajzen, 1985, 2005) als ein etablierter Ansatz zur
Erklärung individuellen Verhaltens (vgl. Abbildung 8, S. 62). Das zu erklärende
Verhalten wird im zweiten Schritt ausdifferenziert im Sinne der funktionalen
Unterscheidungen durch den „Uses-and-Gratifications“-Ansatz. In einem dritten
Schritt werden auf der Basis der Befunde qualitativer Ansätze zwei weitere Ele-
mente dem Modell hinzugefügt. Dabei handelt es sich um die Unterscheidung
nach verschiedenen Objektebenen von Technologie sowie um den Aspekt der
102 3 Stand der Forschung

Metakommunikation als einem permanenten Katalysator der Aneignung, der den


Prozess am Laufen hält.

Ausgangspunkt „Theory of Planned Behavior“ (TPB)

Wirth et al. (2007) verwenden den Ansatz der „Theory of Planned Behavior“
wegen seiner vielfältigen empirischen Bewährung einmal zur Erklärung mensch-
lichen Verhaltens ganz allgemein, dann aber insbesondere auch zur Erklärung
der Adoption neuer Kommunikationstechnologien im besonderen. Diese Bewäh-
rung stellt eine solide Grundlage dar auf dem Weg dahin, das integrativen Mo-
dell empirisch überprüfbar zu machen.
Die Probleme des TPB-Modells liegen zum einen darin, dass es allein auf
der Individualebene angelegt ist, und zum anderen darin, dass es das zu erklären-
de Verhalten nur binär versteht, nämlich als Übernahme oder als Ablehnung.
Qualitative Aneignungsforschung und die netzwerkanalytische Diffusionstheorie
zeigen jedoch, dass dieser Prozess einer sozialen Prägung unterliegt. Weiter
zeigen die qualitativen Ansätze wie „Uses-and-Gratifications“, dass die Nutzung
von Innovationen ein multidimensionaler Prozess ist, der zwischen Nutzern und
über die Zeit hinweg variieren kann.
Im Rahmen des MPA-Modells wurde die Frage nach dem sozialen Prozess
– jenseits der ohnehin von der TPB vorgenommenen Berücksichtigung von
Normen – zunächst zurückgestellt. Stattdessen bemühte man sich, Aneignung als
individuellen Prozess in seiner ganzen Komplexität zu erfassen und den Ansatz
weiter auszudifferenzieren im Hinblick auf seine abhängige Variable des „Ver-
haltens“.
Im Zuge seiner Adaptation auf den Prozess der Aneignung wird das TPB-
Modell stark erweitert und ausdifferenziert. In dieser ganzen Komplexität eignet
es sich nicht mehr als Ausgangsbasis: Das erweiterte Modell würde überkomplex
und praktisch nicht mehr sinnvoll operationalisierbar. Aus diesem Grund muss
zunächst mit einer Vereinfachung des Grundmodells erst noch die Vorausset-
zung für eine Erweiterung geschaffen werden.
Eine erste Vereinfachung ist im Modell selbst angelegt: „attitude“, „subjec-
tive norm“ und „perceived behavioral control“ stellen rein theoretisch nichts
anderes dar als die Produkte der ihnen jeweils vorangestellten beiden Konstrukte,
die sich jeweils aus Erwartungen („beliefs“) und deren Bewertungen („evalua-
tions“) zusammensetzen: „Attitude“ ist das Produkt von „behavioral beliefs“ und
„outcome evaluations“, „subjective norm“ ist das Produkt von „normative be-
liefs“ und „motivations to comply“ und „perceived behavioral control“ ist das
Produkt von „control beliefs“ und dem „influence of control beliefs“ (Ajzen,
1985, 2005).
3.3 Integrative Ansätze 103

So lässt sich theoretisch rechtfertigen, dass man direkt die „attitude“ auf den
einzelnen Ebenen erfragt, ohne zusätzlich die jeweiligen verhaltensbezogenen
normativen und kontrollbezogenen Erwartungen und Bewertungen zu erheben.
Die „Intention“ wiederum stellt eine vermittelnde Variable dar (Thomson et al.
2006). Somit kann auch sie als Faktor in der Betrachtung vernachlässigt werden,
ohne dass die grundlegende theoretische Struktur des Modells Schaden nimmt.
Das daraus resultierende vereinfachte TPB-Modell (Abbildung 13) dient als
Grundlage des integrativen Modells von Wirth et al.

Behavioral Attitudes
(Behavioral beliefs x
outcome evaluations)

Subjective Norms
(Behavioral beliefs x Behavior
outcome evaluations)

Perceived Behavioral Control


(Control beliefs x
influence of contr. beliefs)

Abbildung 13: Vereinfachtes TPB-Modell (eigene Darstellung)

Auf dieser Basis kann nunmehr die Ausdifferenzierung des Verhaltens angegan-
gen werden. Hier wird auf den „Uses-and-Gratifications“-Ansatz zurückgegrif-
fen.

Ausdifferenzierung der individuellen Aneignung durch UGA

Der „Uses-and-Gratifications“-Ansatz (UGA) bietet Möglichkeiten zur funktio-


nalen Differenzierung von Adoptionsverhalten. Die Funktionen lassen sich –
ganz im Sinne des UGA – bestimmten Gratifikationsdimensionen zuordnen wie
„Unterhaltung“, „Alltagsorganisation“, „Status“, usw. (O. Peters & Ben Allouch,
2005; Trepte et al., 2003; Leung & Wei, 2000; vgl. Abschnitt 3.2.2.3). Diese
104 3 Stand der Forschung

Gratifikationen werden nicht direkt abgefragt, sondern im Rahmen typischer


Nutzungsszenarien wie sie etwa durch explorative qualitative Studien erhoben
wurden.
Die funktionale Dimension der Nutzung wird von Wirth et al. (2007) noch
einmal weiter ausdifferenziert in einen pragmatischen und einen symbolischen
Aspekt. Der pragmatische Aspekt umfasst Nutzungsszenarien aus den funktiona-
len Dimensionen „Ablenkung/Zeitvertreib“, „Alltagsmanagement“, „Kontakt-
pflege“ und „Kontrolle“. Mit dem symbolischen Aspekt will man der subtilen
symbolischen Dimension der Nutzung gerecht werden. Nach übereinstimmenden
Befunden vieler qualitativer Studien kommt ihr zwar eine große Bedeutung zu,
aber aufgrund der Schwierigkeiten, sie abzufragen, wird diese Dimension leicht
übergangen. Wirth et al. (2007) differenzieren bei der symbolischen funktionalen
Nutzung – in Anlehnung an Mead (1973) – danach, ob auf die persönliche Iden-
tität abgestellt ist oder auf die soziale.
Gemäß der TPB ist das Verhalten geprägt von Faktoren auf den Dimensio-
nen der Einstellung zum Verhalten, der Normen und der Verhaltenskontrolle.
Will man der Ausdifferenzierung auf Seiten der abhängigen Variablen gerecht
werden, so müssen auch diese unabhängigen Variablen weiter ausdifferenziert
werden.
In diesem Sinne wird die Einstellung zum Verhalten aufgeschlüsselt nach
Funktionen, die den symbolischen und den funktionalen Nutzungsaspekten ent-
sprechen. Im Unterschied zu den funktionalen Aspekten der Nutzung sind die
funktionalen Einstellungen nicht mit konkreten Alltagsszenarien der Nutzung
verbunden, sie sind auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt. Die Ein-
stellung zu funktionalen Relevanzbewertungen wirken sich unmittelbar nur auf
die funktionale Nutzung aus und erst in zweiter Linie – über diesen Faktor –
auch auf die objektorientierte Nutzung.
Die normenbezogenen Einstellungen umfassen die wahrgenommenen Nor-
men im Hinblick auf Handynutzung und die Bereitschaft, diesen Normen gerecht
zu werden. Die Normen können sich sowohl auf die objektorientierte Nutzung
beziehen als auch auf die funktionale. Im Hinblick auf Handy-Nutzung existieren
Normen, die sich auf spezielle Funktionalitäten beziehen wie die grundsätzliche
Ablehnung des Telefonierens an bestimmten Orten. Andere Normen beziehen
sich auf den Einsatz des Handys oder bestimmter Funktionalitäten für spezifi-
sche Funktionen. Dazu zählen Normen bezüglich der Unangemessenheit, z.B.
die, per Handy oder gar per Kurzmitteilung mit dem Partner „Schluss zu ma-
chen“.
Schließlich beziehen sich die Einstellungen zur Verhaltenskontrolle auf
spezifische (zeitliche, kognitive, finanzielle, technische) Restriktionen in der
Handy-Nutzung. Diese Restriktionen wirken sich in erster Linie auf die techni-
3.3 Integrative Ansätze 105

sche Nutzung aus und erst mittelbar auch auf die funktionale Nutzung: Wenn
Mobile-TV, mobiles Internet, Handyspiele und lange Telefongespräche zu teuer
sind, dann werden wahrscheinlich auch die funktionalen Nutzungssituationen
seltener vorkommen, in denen das Handy zur reinen Unterhaltung und zum Zeit-
vertreib genutzt wird.
Als Zwischenstufe in der Entwicklung des MPA-Modells ergibt sich so ein
Modell, das „Theory of Planned Behavior“ und „Uses-and-Gratifications“ be-
rücksichtigt (vgl. Abbildung 14).

Kontaktpflege, Kontrolle
Relevanzbewertungen

Ablenkung/Zeitvertreib,
Alltagsmanagment,
Pragmatisch
Ablenkung/Zeitvertreib Alltagsmanagement Kontaktpflege Kontrolle

Symbolische Bewertungen

Nutzung
Soziale Dimension Psychologische Dimension

Psychologische Dimension
Normative Bewertungen

Soziale Dimension
Objektbezogene Aspekte Funktionale symb. Aspekte Funktionale pragm. Aspekte
Symbolisch

Restriktionsbewertungen
Finanziell Technisch Zeitlich Kognitiv

Abbildung 14: Verbindung von „Theory of Planned Behavior“ und „Uses-and-Gratifications“ (Zwi-
schenstufe der Entwicklung des MPA-Modells)

Erweiterungen auf der Basis qualitativer Forschung

Aus der Komplementarität von TPB und dem „Uses-and-Gratifications“-Ansatz


ergeben sich bereits deutliche Vorteile gegenüber jedem der beiden Einzel-
ansätze. Durch die „Uses-and-Gratifications“ wird die Nutzung ausdifferenziert.
Durch TPB werden einige überindividualistische Einflussfaktoren betont, die
von „Uses-and-Gratifications“ häufig vernachlässigt werden. Dabei kann es sich
handeln um soziale Faktoren im Sinne von Normen, die eine bestimmte Nutzung
begünstigen oder behindern, oder auch um individuelle Restriktionen etwa fi-
nanzieller oder kognitiver Art.
106 3 Stand der Forschung

Zwei Kritikpunkte stehen allerdings noch aus, die sich aus den jeweiligen Ein-
schränkungen von TPB und Uses-and-Gratifications ergeben:
ƒ Die Innovationen selbst – als (technologische) Objekte – kommen in der
Betrachtung zu kurz. Gerade bei Medientechnologien reicht es nicht, das
Blickfeld auf ihre Funktionen einzuschränken. Das legt Silverstone (Silver-
stone & Haddon, 1996) im Rahmen des Domestication-Ansatzes dar mit
dem Begriff der „doppelten Artikulation“ von Kommunikationstechnolo-
gien einmal als Medien und zum anderen als (ästhetische und technische)
Objekte. Die Tatsache, dass dieser Aspekt vernachlässigt wird, kritisiert
auch Orlikowski (Orlikowski & Iacono, 2001) an den von der „Theory of
Planned Behavior“ abgeleiteten Handlungsmodellen der information sys-
tems.
ƒ Die Einstellungen zu funktionalen Relevanzen, zu Normen und zu Restrik-
tionen werden als feststehend betrachtet. Tatsächlich aber unterliegen sie
einem ständigen Wandel. Das zeigen Rahmenanalyse und Cultural Studies
gleichermaßen. Die Statik leitet sich hier auch aus der TPB her. und wurde
bereits bei der TPB moniert (Jonas & Doll, 1996).
Diese beiden Punkte werden im MPA-Modell im Rückgriff auf qualitative An-
sätze zusätzlich berücksichtigt.

Differenzierung nach technischen Aspekten

In Anlehnung an Silverstone und Haddons Unterscheidung in zwei „Artikulatio-


nen“ von Medientechnologie (1996, S. 50) differenzieren Wirth et al. (2007) in
eine funktionale und eine objektorientierte Ebene der Nutzung.
Die funktionale Ebene definiert sich, wie beschrieben, über Alltagsszenarien der
Nutzung, die Funktionen wie „Kommunikation“ oder „Prestige“ entsprechen.
Die objektbezogene Ebene wird auf Basis des technischen Artefakts abgegrenzt
mit seinen technischen wie ästhetischen Eigenschaften und Funktionalitäten.
Die objektorientierte Dimension der Nutzung bezieht sich also auf die kon-
kreten technischen Möglichkeiten, die dem Nutzer zur Verfügung stehen: Wel-
che Optionen verwendet er überhaupt und in welchem Ausmaß verwendet er
diese? Benutzt er sein Mobiltelefon genauso wie ein altes Festnetztelefon – nur
eben überall – oder nimmt er auch neue Dienste wie SMS, MMS, Mobile TV in
Anspruch? Wie ist die Stabilität der Nutzung, mit welcher Häufigkeit und Kons-
tanz greift er auf die einzelnen Funktionalitäten zu? Dazu gehören auch die eher
ästhetischen Aspekte: Wie häufig wechselt der Nutzer seine Klingeltöne und sein
Logo? Wechselt er die Oberschale? Wie setzt er schließlich das Gerät als Ganzes
in Szene: Trägt er es im Restaurant zu Schau, indem er es auf den Tisch legt,
oder nutzt er es eher diskret?
3.3 Integrative Ansätze 107

In einer konkreten Nutzungssituation kommen stets der objektorientierte


und der funktionale Aspekt der Nutzung zusammen. Zwischen den beiden Di-
mensionen gibt es Zusammenhänge, sie resultieren aus den Dispositionen der
einzelnen technischen Funktionalitäten. So kann das Hören von MP3-Dateien
nicht der Alltagsorganisation dienen, die Sprachtelefonie dient eher der Kontakt-
pflege als dem reinen Zeitvertreib. Zu den genauen Zusammenhängen zwischen
funktionaler und objektorientierter Nutzung trifft das Modell aber keine Voraus-
sagen – sie bedürfen einer empirischen Klärung.

Dynamisches Aushandeln durch Metakommunikation

Eine Kritik an der TPB bezieht sich auf den Umstand, dass sie ihre unabhängi-
gen Variablen (Erwartungen und Bewertungen in Hinblick auf Verhalten, Nor-
men und Restriktionen) als statisch ansieht (Jonas & Doll 1996). Eigentlich soll-
te man erwarten, dass diese Variablen sich durchaus über die Zeit hinweg än-
dern. Gerade im Hinblick auf Mobilkommunikation zeigt eine Vielzahl an Stu-
dien, dass sich im Laufe der Diffusion und der Aneignung einer Innovation die
Erwartungen und Bewertungen ihr gegenüber dynamisch entwickeln. Für eben
diesen Prozess gibt es in qualitativen Ansätzen mannigfache Bezeichnungen:
Man spricht von „Rahmenverhandlungen“ (Höflich, 1998; Höflich, 2000, 2003)
oder „domestication“ (bzw. genauer „conversion“ [Silverstone & Haddon,
1996]), aber auch – in der Techniksoziologie – von „Social Shaping“ (Bijker et
al., 1987) und von einem „Aushandeln von sozio-technischen Rahmen“ (Flichy,
1995). Diesen Ansätzen und Metaphern ist gemein, dass sie einen Prozess der
Kommunikation über die Nutzung einer Innovation umschreiben. Eben diesen
Prozess bezeichnen Wirth et al. (2007) als „Metakommunikation“: Es handelt
sich um eine Kommunikation über Kommunikationsmittel.
Metakommunikation treibt den Aneignungsprozess voran wie ein chemi-
scher Katalysator. Sie vermittelt den Austausch an Informationen über Nut-
zungsmöglichkeiten, Normen und Restriktionen, der die Aneignung vorantreibt.
Ist eine Innovation im persönlichen und sozialen Umgang einmal habitualisiert,
dann geht der Einfluss der Metakommunikation zurück. Wie ein chemischer
Katalysator verbraucht sie sich aber nicht, sie steht weiterhin bereit, falls durch
neue Anstöße (etwa durch neue eingebettete Innovationen) neuer Bedarf am
Aushandeln aufkommt (Hepp, 1998, S. 97).
Metakommunikation tritt auf sowohl auf in interpersonaler Form als auch in
Form einer massenmedial vermittelten Kommunikation. Ein Gespräch zweier
Schüler über die Nutzungsmöglichkeiten einer Handy-Kamera stellt genauso
Metakommunikation dar wie eine Werbung am Bahnhof, die mobiles Internet
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