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Braucht Deutschland eine bewusstere,

kohäsive Sprachenpolitik?
Diskussionspapier der Alexander von Humboldt-Stiftung 11/2007

Jean-Paul-Straße 12 . D-53173 Bonn · Tel: +49(0) 228/833-0 . Fax: +49 (0) 228/833-199
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Die Diskussionspapiere der Alexander von Humboldt-Stiftung erscheinen mehrmals im Jahr zu unterschied-
lichen Themen. Sie sollen die Ergebnisse der Arbeit der Stiftung und ihres weltweiten Humboldt-Netzwerks
transparent machen und Impulse geben für die außenkulturpolitische und forschungspolitische Diskussion. Die
Beiträge geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder.
Inhalt

Vorwort

Dr. Gisela Janetzke .................................................. 3

Eröffnungsvortrag

Braucht Deutschland eine bewusste, kohäsive


Sprachenpolitik - Deutsch, Englisch als Lingua
franca und Mehrsprachigkeit?
Prof. Dr. Michael Clyne............................................. 4

Podiumsdiskussion

Sprachen als Medium in Hochschule und For-


schung
Prof. Dr. Konrad Ehlich........................................... 29

Resümee

"Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsi-


ve Sprachenpolitik?"
Was wissen wir nun mehr darüber?
Prof. Dr. Gerhard Leitner ........................................ 55

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 1


Vorwort

Vorwort 2005/2006 in Berlin und Bonn weilte. Als international


angesehener Spezialist für die Erforschung von
Sprachkontakten und Sprachvermittlung, Spracher-
In der Sprachenpolitik halt und Sprachverlust, widmete sich Michael Clyne
der linguistischen sowie psycho- und soziolinguisti-
von Australien lernen? schen Dimensionen dieser Forschungsfelder wie sie
in Immigrationsländern entstehen.

Die Alexander von Humboldt-Stiftung förderte 2006 Gegenwärtiger Stand der Diskussionen zur Mehr-
ausländische Spitzenwissenschaftlerinnen und Spit- sprachigkeit in Deutschland, Ansätze zu einer koordi-
zenwissenschaftler, die als Forschungsstipendiaten nierten Sprachenpolitik mit Bezug auf Fremd- und
(1531) oder als Forschungspreisträger (285) nach Einwanderungssprachen in Schulen und als Unter-
Deutschland kamen, um hier mit ihren Fachkollegen richtsmedium in Hochschulen, Mehrsprachigkeit als
über längere Zeit zusammen zu forschen. Individuelle soziale, kulturelle, kognitive und wirtschaftliche Res-
wissenschaftliche Exzellenz ist das wichtigste Aus- source sowie Maßnahmen zur Erweiterung der Mehr-
wahlkriterium. Es gibt keine Quoten, weder für einzel- sprachigkeit in Deutschland mit europäischem und
ne Ländern noch für einzelne akademische Diszipli- globalem Bezug standen im Mittelpunkt des Projekts,
nen. Dass 2006 22 % der Humboldtianer den Geis- das auf den reichen Erfahrungen Australiens aufbaut.
tes- und Sozialwissenschaften, 67 % den Natur- und
11 % den Ingenieurwissenschaften angehören, ist ein Dank der Initiative von Michael Clyne ist zum Ab-
Ergebnis des weltweiten Wettbewerbs. Sofern zum schluss seines Forschungsaufenthaltes vom 27.-
Gelingen des von den Humboldtianern selbst gewähl- 29.September 2006 ein Expertengespräch auf Einla-
ten Forschungsvorhabens nicht deutsche Sprach- dung der Alexander von Humboldt-Stiftung und der
kenntnisse unerlässlich sind, können sich die An- Deutschen Welle zu dem Thema „Braucht Deutsch-
tragsteller mit guten Englischkenntnissen bewerben. land eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?“ von
Auch wenn die Arbeitssprache der Mehrheit der Hum- Gerhard Leitner organisiert worden. Programm, Teil-
boldtianer Englisch ist und die Mehrzahl ihrer Publika- nehmerliste und Vortragsbeiträge sind unter
tionen in englischsprachigen Organen erscheint, ist http://www.avh.de/de/netzwerk/veranstalt/expert_2006
das Interesse der Humboldtianer an dem Angebot _index.htm zu finden.
von Intensivsprachkursen in Deutsch sehr groß. Ins-
gesamt förderte die Humboldt-Stiftung 2006 nicht nur In der Reihe der Diskussionspapiere der Alexander
292 Forschungsstipendiaten und 82 Ehepartner mit- von Humboldt-Stiftung wird hiermit die Dokumentation
mehrmonatigen Ganztagskursen, sondern finanzierte der Panel-Diskussion zu dem Themenbereich „Spra-
zusätzlich 156 Sprachkurse während des For- chen als Unterrichtsmedium in Hochschule und For-
schungsaufenthaltes. Berücksichtigt man die große schung“ schriftlich vorgelegt, die von Prof. Dr. Dr. h.c.
Zahl der Kinder der Humboldtianer, die während des Konrad Ehlich moderiert wurde. Vorangestellt ist der
Forschungsaufenthaltes ihrer Eltern in Deutschland Einführungsvortrag von Michael Clyne und ange-
„spielend“ Deutsch lernen im Kindergarten oder er- schlossen das Resümee von Gerhard Leitner mit den
folgreich deutsche Schulen besuchen, trägt die För- Schlussfolgerungen aus dem Expertengespräch.
derung der AvH langfristig aktiv zur Verbreitung der
deutschen Sprache bei. Die Humboldt-Stiftung dankt erneut allen engagierten
Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung, den
Gleichzeitig fördert die Humboldt-Stiftung die Vorha- Organisatoren, Moderatoren und Rednern sowie der
ben von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Deutschen Welle für ihre Gastgeberrolle. Besonderer
deren Forschungsgegenstand die deutsche Sprache Dank gilt Konrad Ehlich sowie seinen Mitarbeitern für
und Literatur ist. Ein außergewöhnliches Forschungs- die Leitung, Verschriftlichung und redaktionelle Über-
projekt stand im Mittelpunkt des Deutschlandaufent- arbeitung der Panel-Diskussion.
haltes von Forschungspreisträger Prof. Dr. Dr. h.c.
Michael Clyne, Ph.D., University of Melbourne, der
auf Einladung der Professoren Gerhard Leitner, Freie Dr. Gisela Janetzke
Universität Berlin und Heinrich Kelz, Universität Bonn, Stellv. Generalsekretärin Mai 2007

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 3


üben. Die pragmatische Förderung und der unre-
Braucht Deutschland flektierte Gebrauch des Englischen stehen im
Kontrast zur sporadischen Empörung über die
eine bewusste, kohä- Benachteiligung des Deutschen innerhalb der EU.
Neben Radiosendungen in einer Reihe von Spra-
sive Sprachenpolitik – chen exportiert die Deutsche Welle Fernsehpro-
gramme nicht nur auf Deutsch, sondern eben auch
Deutsch, Englisch als auf Englisch und wenn auch in geringerem Maße,
auf Spanisch.
Lingua franca und Diese kurzen Bemerkungen zeigen, dass unter-
Mehrsprachigkeit?1 schiedliche sprachpolitische Bemühungen je nach-
dem die deutsche Einsprachigkeit, das Englische als
Lingua franca oder die Mehrsprachigkeit fördern.
von Michael Clyne Diese Bemühungen schließen sich nicht gegenseitig
aus, aber ihre Funktionen und Wechselwirkungen
müssen genauer durchdacht werden. Es ist zu
Einleitung bedenken, wie die Gewichtung zwischen diesen
Zu Beginn dieses Jahres haben sich im Kontext sprachlichen Konstellationen aussehen kann.
einer Kontroverse über die Herbert Hoover Ober-
schule in Berlin Politiker der meisten Berliner Par- Als Australier mit praktischen Erfahrungen in der
teien für den ausschließlichen Gebrauch des Deut- Sprachenpolitik und Bilinguismusforschung konnte
schen im Schulhof und bei Schulausflügen ausge- ich mich mit Hilfe der Alexander von Humboldt Stif-
sprochen (Berliner Morgenpost, 21. und 23. Januar tung während mehrerer Deutschland-Aufenthalte
2006). Auch die Bundesministerin für Integration, über diese sprachpolitischen Diskussionen infor-
Prof. Dr. Maria Böhmer, befürwortete eine solche mieren. Dies tat ich durch Literaturübersicht,
Regelung (Deutschlandfunk, 25. Januar 2006). Umfragen und Besprechungen bei Behörden, in
Dabei zählt Berlin 53 staatliche höhere Schulen Schulen und Hochschulen, Unternehmungen und
und 18 staatliche Grundschulen, an denen in bei Rundfunksendern. Auf der Grundlage dieser
Deutsch und insgesamt neun anderen Sprachen Erfahrungen möchte ich versuchen, ein paar Kom-
zweisprachig unterrichtet wird. Solche bilingualen ponenten der Sprachenpolitik integriert zur Spra-
Schulprogramme bestehen in ganz Deutschland. che zu bringen, die sonst häufig getrennt voneinan-
An den Hochschulen Berlins gibt es 30 Studien- der untersucht und diskutiert werden:
gänge für deutsche und ausländische Studierende, • Die Rolle der Herkunftssprachen als Ressource.
in denen Englisch Unterrichtsmedium ist. • Das Fremdsprachenangebot in Grund- und
höheren Schulen.
Viele deutsche Unternehmen haben Englisch als • Die Bedeutung und Problematik englischspra-
Firmensprache, und es gibt zuweilen Klagen von chiger und bilingualer Studiengänge an Univer-
mitteleuropäischen Germanisten (z. B. Földes sitäten und darüber hinaus die ganze Frage des
2002), dies und die Tendenz deutscher Touristen, Deutschen als Wissenschaftssprache.
im Ausland generell Englisch zu sprechen, schade • Der Sprachgebrauch internationaler Unterneh-
der Beliebtheit des Deutschen als Fremdsprache in men deutscher Herkunft.
Schule und Hochschule in Ländern mit langer
deutschsprachiger Tradition. Ausländische Stipen- Meine Arbeit zur Mehrsprachigkeit in den elektroni-
diaten der Humboldt-Stiftung berichten allerdings, schen Medien war weniger umfangreich; diese
sie hätten nicht genügend Gelegenheit, Deutsch zu Dimension werde ich aus zeitlichen Gründen daher

1
Mein herzlicher Dank gilt der Alexander von Humboldt Stiftung (Generalsekretär, Dr. Georg Schütte), die mir durch die Verleihung
eines Forscherpreises dieses Projekt ermöglicht hat, und den beiden Gastgeberinstitutionen und Betreuern, der Freien Universität
Berlin – Prof. Dr. Gerhard Leitner – und der Universität Bonn – Prof. Dr Heinrich Kelz, die mich nominerten und mir mit vielen Anre-
gungen geholfen haben. Für unerlässliche Hilfe bei der Gewinnung und Analyse von Daten bin ich Doris Schüpbach zu Dank ver-
pflichtet. Ebenfalls danke ich Tenzile Maraslioglu für wertvolle Hilfe bei diesem Papier und Sue Fernandez für ihre Arbeit an der
Bibliographie. Ich danke den vielen Kolleginnen und Kollegen, Schulen, Universitäten, Behörden und Unternehmen, die mir auf ver-
schiedene Weise ermöglicht haben, in die hier besprochenen Themen Einsichten zu gewinnen, bzw. dieses Paper zu schreiben.

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weglassen. Der Deutschunterricht im Ausland sen), in Einklang bringen und innerhalb bestimmter
stand außerhalb meines Projekts, ist aber mit Fra- Domänen konnten von einander abhängigem
gen des Deutschen in Deutschland eng verknüpft, Bedarf (z. B. Schule, Lehrerausbildung) klären. Leit-
vor allem was den Status des Deutschen betrifft prinzipien dieser Sprachenpolitik waren:
und wird zuweilen zur Diskussion kommen. 1. Kompetenz im Englischen, das in seiner austra-
lischen Varietät die Nationalsprache ist;
Am Ende des Vortrags schlage ich Ansätze zu 2. Erhaltung und Entwicklung von einheimischen
einem kooperativen Programm für die Förderung und Einwanderersprachen (community langua-
der Mehrsprachigkeit vor, an dem z. B. Regierun- ges);
gen, ethnische Gemeinschaften, Schulen und 3. Dienstleistungen in solchen Sprachen nach
Schulbehörden, Universitäten und Unternehmen Bedarf;
mit- und zusammenarbeiten können. Zudem werde 4. Gelegenheiten, weitere Sprachen zu erwerben.
ich einige Forschungs- und Dissertationsthemen
auflisten, die die sprachpolitische Diskussion in Die umfassenderen politischen Ziele dieser Politik
Deutschland und die wissenschaftliche Koopera- waren die Förderung von sozialer Gerechtigkeit,
tion fördern können. die der Außenbeziehungen, die kulturelle Bereiche-
rung und der wirtschaftliche Nutzen. Schul- und
Was ist eine Sprachenpolitik? Hochschulprogramme, angewandte Forschungs-
In ihrer autoritativen Einführung zur Sprachplanung projekte und sonstige unterstützende Maßnahmen
definieren Kaplan und Baldauf (1997: xi) Sprachen- wurden vom Bund direkt oder über die Länder
politik als ‚einen Corpus von Ideen, Gesetzen, finanziert. Wenn Australien auch heute keine koor-
Regelungen, Regeln und Praxen, die die geplante dinierte Sprachenpolitik mehr hat, leben die Leit-
sprachliche Veränderung in einer Gesellschaft, prinzipien doch in den language-in-education poli-
Gruppe oder in einem System durchsetzen sollen‘ cies der Bundesländer fort und neuerdings in
(meine Übersetzung). Sprachenplanung ist die For- einem bundesweiten Plan zur Förderung des
mulierung und Implementierung einer Politik des (Fremd-) Sprachenunterrichts an Schulen. Zu den
Sprachgebrauchs durch offizielle bzw. inoffizielle weiter bestehenden Erscheinungen pluralistischer
Instanzen. In unserer Diskussion handelt es sich um Sprachenpolitik zählen mehr als 40 Sprachen als
Statusplanung, also um die Klärung der Stellung Abiturfächer, ein bundesweiter staatlicher Fernseh-
von Sprachen zueinander (Kloss 1969). Eine Spra- sender, der Filme in Originalversion mit englischen
chenpolitik kann stückweise, implizit und ad hoc Untertiteln und Nachrichten in einer großen Zahl
und daher unbewusst und sogar widersprüchlich von Sprachen ausstrahlt, multilinguale Radiosen-
vorgehen. Wie wir sehen werden, ist auch eine lais- der, die in über 60 Sprachen senden. Es gibt einen
sez-faire Sprachenpolitik, wie sie im großen Maße Telefondolmetscherdienst, der in 190 Sprachen
in Deutschland zur Zeit betrieben wird, eine Spra- fungiert, und multilinguale Bestände in öffentlichen
chenpolitik mit klaren Folgen. Die sprachlichen Fol- lokalen Bibliotheken. Auf ähnliche Weise könnte
gen der Globalisierung sind aber m.E. nicht auf lais- eine Sprachenpolitik in Deutschland den Bedarf an
sez-faire Weise anzugehen sondern erfordern sorg- Deutsch als Zweitsprache, den externen und inter-
fältiges Planen; denn gerade bei der Globalisierung nen Bedarf an Multilinguismus, Englisch als lingua
entstehen erneut Fragen der nationalen und regio- franca und den Unterricht von ‚Fremdsprachen‘
nalen Identität und der mehrfachen Identität. unter einen Hut bringen. Eine derartige Diskussion
über die Notwendigkeit einer Sprachenpolitik findet
Australien hat Erfahrung mit impliziter und explizi- in Österreich schon seit der österreichischen Lin-
ter, mit bruchstückhafter und umfassender kohäsi- guistentagung 2001 statt (Busch und de Cillia
ver Sprachenpolitik. Am erfolgreichsten war die 2003).
kohäsive, explizite Sprachenpolitik (Lo Bianco
1987). Sie konnte gleichzeitig den komplementären Sprachen, Integration, mehrsprachige
Rollen der Nationalsprache Englisch und den Gesellschaft?
anderen Sprachen (Eingeborenen- und Einwande- Die umfangreiche Diskussion der letzten Monate
rersprachen, Gebärdensprache usw.) Rechnung zur Integration von Zuwanderern und deren Fami-
tragen. Sie konnte die verschiedenen Domänen, in lien betont den Erwerb der deutschen Sprache und
denen Sprachen öffentlich verwendet werden Kultur. Selbstverständlich ist es erforderlich, dass
(Medien, Bildung, Dienstleistungen, Bibliothekswe- Zuwanderer möglichst adäquate Kenntnisse der

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 5


Landessprache ihrer neuen Heimat erwerben, Nutzen der Mehrsprachigkeit
denn sie ist das verbindende Glied der Gesell-
schaft. Das ist ganz sicher in ihrem eigenen Inte- Als Grundlage für die weitere Diskussion des Nut-
resse und dem ihrer Familie, für deren Zukunft zens von Mehrsprachigkeit sollte ich zunächst einige
man ja auswandert. Die frühere Voraussetzung in Funktionen von Sprache auflisten. Sprache ist:
Deutschland und vielen anderen europäischen • Hauptmedium menschlicher Verständigung.
Staaten, dass sich Zuwanderer nur vorübergehend • Symbol der Identität.
im betreffenden Land aufhalten, steht im Gegen- • Ausdruck der Kultur.
satz zu den neueren Assimilierungsforderungen. • Mittel kognitiver und begrifflicher Entwicklung,
Die Integration (sprich: nicht Assimilierung) erfor- d.h. durch Sprache erfahren Kinder die Welt;
dert m.E. nicht nur die Anpassung der Zuwanderer durch Sprache lernen Kinder und Erwachsene
sondern auch eine gewisse Anpassung der Gast- neue Begriffe.
gesellschaft sowie eine Anerkennung ihrerseits von • Handlungsinstrument, indem wir durch Sprache
Bikulturalität und Beibehaltung gewisser Aspekte versprechen, bitten, einladen, beleidigen, usw.
der mitgebrachten Kulturen, solange sie nicht im
Widerspruch zum Rechtsystem des Zuwande- Zweisprachigkeit bedeutet selten die gleichmäßige
rungslandes stehen. Die Anerkennung der Her- Beherrschung zweier Sprachen, da die beiden
kunftssprachen als Bereicherung für den Einzelnen Sprachen für verschiedene Zwecke verwendet wer-
und auch für ganz Deutschland wäre ein sehr posi- den (Haugen 1972, Fishman 1967). Die Landes-
tiver Schritt. Die Zweisprachigkeit (nicht zu ver- sprache wird meist die dominante Sprache, aber
wechseln mit Einsprachigkeit in der Herkunftsspra- eine gute Beherrschung der Familiensprache als
che) ist ein ausgezeichnetes Mittel verständnisvol- zweite Sprache ist eine wichtige Ressource.
ler Integration, die sowohl Assimilierung wie auch
Segregation vermeidet. Die Zweisprachigkeit bietet dem Individuum viele
Vorteile. Insbesondere schreibt die internationale
Die australische Erfahrung zeigt, dass eine gegen- Forschungsliteratur bilingual aufwachsenden Kin-
seitige Anerkennung der Kulturen den Integrations- dern auf Grund ihres Umgangs mit zwei Sprachen
willen der Zuwanderer eher erhöht. Die zweite folgendes zu (s. z. B. Zusammenfassungen in
Generation sähe sich dann in einer wichtigen Ver- Baker 2001, Clyne, 2005, Bialystok 2001, auch
mittlerrolle zwischen der breiteren deutschen Cummins und Gulutsan 1974, Cummins 2000,
Bevölkerung einerseits und den Zuwanderern und Mondt 2006, Bausch et al 2004, Duden 2002,
dem Ursprungsland andererseits. Kinder von Gogolin 1994):
Zuwanderern könnten Deutschland mit wichtigen • ein besseres Verständnis der Willkür sprach-
Ressourcen für kommerzielle und sonstige Außen- licher Zeichen und daher der Unterscheidung
beziehungen versorgen, wenn ihre Kompetenz in Form – Inhalt,
der Herkunftssprache über den häuslichen Bereich • divergenteres Denken,
hinaus geht – u.a. in Sprachen wie Russisch, Ara- • ökonomischere Hirntätigkeit,
bisch, Türkisch, Spanisch, Polnisch, Chinesisch, • erhöhte Lese- und Schreibefähigkeit,
Vietnamesisch, den jugoslawischen Sprachen, • besseren Umgang mit dem Erwerb einer Dritt-
auch Englisch und Französisch. Gerade in Berufen sprache.
wie Arzt, Zahnarzt, Anwalt und Sozialarbeiter
braucht ein mutilinguales Land wie Deutschland Außer diesen kognitiven gibt es auch soziale Vor-
Mehrsprachige, die z.T. unter und mit Zuwanderern teile der Mehrsprachigkeit in Zuwandererfamilien:
arbeiten können. Aus den Reihen der zweiten • höheres Selbstbewusstsein und größerer
Generation könnten gerade auch LehrerInnen kom- Zusammenhalt in Immigrantenfamilien;
men, die sowohl die Kinder von Zuwanderern als • Entfaltung der mehrfachen Identität durch beide
auch die Kultur der deutschen Schule verstehen Sprachen, das Deutsche und die Herkunfts-
und die ihre Herkunftssprache unterrichten könn- sprache, und durch Codewechsel zwischen den
ten, und zwar an SchülerInnen und StudentInnen beiden (Auer 2003, Keim 2002, 2003, Reich
verschiedenster Herkunft, denn es wäre besonders 2005: 136).
wichtig, dass sich mehr sprachbegabte Deutsch-
stämmige dem Studium von Herkunftssprachen Die Zweisprachigkeit ist auch ein Schlüssel zur
widmen. Erkennung der kulturellen Relativität.

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Was Zuwandererkinder brauchen, ist eine Förde- ländern‘. Nach den Staatsangehörigkeitsstatistiken
rung in beiden Sprachen innerhalb des deutschen 2004 zu urteilen, hat Deutschland mindestens je
Schulsystems, indem die Zweisprachigkeit als für 100.000 Sprecher der folgenden sechzehn Spra-
Deutschland akzeptabel anerkannt wird und Her- chen:
kunftssprachen auch für Kinder deutscher Herkunft Türkisch, Bosnisch,
als lernenswert empfunden werden. Dies befürwor- Italienisch, Ukrainisch,
tet Gogolin (2005) im Bezug auf die mangelhaften Serbisch, Portugiesisch,
Ergebnisse von Migrantenkindern in PISA-Studien Griechisch, Niederländisch,
und es würde vermutlich auch Essers (2006) Polnisch, Arabisch,
Bedenken entgegenwirken, der darüber bekümmert Kroatisch, Spanisch,
ist, dass die schulischen und familiären Bedingun- Englisch, Französisch,
gen zum Erwerb des Deutschen, zur Integration Russisch, Mazedonisch.
und zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt nicht
genügen und dass sich die bilingualen Kompeten- Gemäß Migrationsbericht 2005 waren 13,13 % der
zen für den Arbeitsmarkt und den Schulerfolg nicht Zuzüge seit 2000 aus Polen, 13,76 % aus Russ-
auszahlen. Er stützt sich dabei auf deutsche und land und Kasachstan und 6,21 % aus der Türkei.
internationale Studien, die z. B. den Lohn von Ein-
und Zweisprachigen vergleichen. Meiner Meinung Staatsbürgerschaft ist aus verschiedenen Gründen
nach ist der Lohn das falsche Kriterium, Bilin- eine irreführende Ersatzkategorie für Sprache.
guismus und Monolinguismus zu beurteilen, nicht Berücksichtigen müssen wir dabei:
zuletzt weil dieser sehr von der Sehweise der domi- 1. Minderheitssprachen, deren Sprecherzahlen
nanten Gruppe beeinflusst wird. Dass Esser diese durch die Staatsbürgerschaft verschleiert sind,
Meinung teilt, wird aus dem Memorandum ersicht- z. B. Kurdischsprachige aus der Türkei, Spre-
lich, das er mit unterschrieben hat (S. 2): ‚Politische cher verschiedener chinesischer Sprachen aus
Interventionen etwa über das Bildungssystem müs- Vietnam, Spanischsprachige aus den USA.
sen und können die Ziele der strukturellen Integra- 2. Naturalisierte Ausländer, deren Haus- und Mut-
tion und der kulturellen Pluralität mit ihren ethni- tersprache nicht Deutsch ist.
schen Identitäten und Vergemeinschaftungen 3. Im Ausland geborene Kinder, also nichtdeut-
gleichermaßen und vereint unterstützen, ohne sozi- sche Bürger, die die Sprache der Eltern bzw.
aler Segregation und ethnischer Schichtung den eines Elternteils nicht oder nur passiv erworben
Weg zu bahnen. Die Akzeptanz solcher Interventio- haben.
nen wird in dem Maße steigen, in dem deutlich wird, 4. Polnisch- und russischsprachige Aussiedler mit
dass kulturelle Vielfalt und die Nutzung ihrer Poten- deutscher Staatsangehörigkeit.
tiale allen Gruppen der Gesellschaft nutzen‘. 5. Staatenlose, deren Sprachen schwer feststell-
bar sind.
Ein Beispiel der bilingualen Förderung sind 6. Die große Zahl von ‚Ausländern‘ aus ‚übrigen
Deutsch-Förderprogramme in Kindergärten in Gebieten‘.
Nordrhein-Westfalen und Mannheim, deren Lehr-
stoff den Eltern auch auf türkisch zur Verfügung Wenn wir uns Berlin als Beispiel ansehen, waren
gestellt wird, damit sie mit den Kindern zuhause dort am 30.6.2005 117.624 türkische Staatsbürger
daran arbeiten können (lt.frd.Mitt. Inken Keim). Es registriert (Für die Statistiken danke ich Sylvia
ist wichtig, dass Familien eine konsistente Sprach- Maas, Amt des Berliner Integrationsbeauftragten).
politik entwickeln, die die Zweisprachigkeit fördert. Wir wissen aber nicht, wie viele davon Kurdisch
oder andere Minderheitssprachen sprechen. Hinzu
Zur internen Mehrsprachigkeit in Deutschland zählen müssen wir auch 57.776 Menschen türki-
Zuwanderung und Globalisierung haben Deutsch- scher Staatsangehörigkeit, die von 1988 bis 2005
lands sprachliches Potential wesentlich vergrößert in Berlin eingebürgert wurden. Außer den 18823
und zwar über den begrenzten Gebrauch der offi- russischen Staatsbürgern in Berlin haben sich seit
ziellen Minderheitssprachen Dänisch, Nordfrie- 2000 7402 Spätaussiedler aus Russland und 3975
sisch und Sorbisch hinaus. Wir wissen aber nicht, aus Kasachstan dort angesiedelt. Das sind auch
wie viele Sprecher von Herkunftssprachen es in etwa zwei Drittel der in Berlin Ansässigen russi-
Deutschland gibt, denn die Statistiken beruhen schen (oder sowjetischen) Staatsbürger (18823).
hauptsächlich auf ‚melderechtlich registrierten Aus- Für Hamburg und Essen gibt es immerhin Statisti-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 7


ken zum Hausgebrauch von Herkunftssprachen sprachen außer Englisch werden mit wenigen Aus-
unter Schülern im Rahmen eines Projekts über nahmen für kürzere Zeit angeboten.
mehrsprachige Städte Europas (Extra und Yagmur
2004, Fürstenau, Gogolin und Yagmur 2004, Chlos- Ein Vergleich zwischen Statistiken für 2001 und
ta, Ostermann und Schroeder 2004). 2004 (Fremdsprachen in der Grundschule – Sach-
bestand und Konventionen. Beschluss der Kultusmi-
Das PISA-Konsortium konnte feststellen, dass 26 % nisterkonferenz: in der Fassung vom Februar 2005
seiner Stichprobe aus Zuwandererfamilien stammt (Stand: Oktober 2004) und der früheren Fassung
(Bühler-Otten und Fürstenau 2004: 164). 19 % der (Stand: November 2001)) zeigen zwei Tendenzen:
deutschen Bevölkerung hat jetzt einen Migranten- • Viele Begegnungskonzepte, Nachbarsprachen
hintergrund in der 1., 2. oder 3. Generation (Peter, und Arbeitsgemeinschaften werden zurückge-
von Borstel und Solen-Laubach 2006). Wichtig stuft (z. B. in Rheinland-Pfalz auf Vorschulstufe)
wäre es, im Mikrozensus eine Sprachgebrauchs- oder laufen aus und werden durch lehrplan-
frage einzuführen, denn verlässliche Sprachstatisti- orientierten Pflichtunterricht ersetzt (z. B. Sach-
ken sind für sprachpolitische Überlegungen uner- sen-Anhalt, Baden-Württemberg).
lässlich, ganz besonders in den Bereichen Integra- • Im Pflichtunterricht wurde ab Jahrgangsstufe 3
tion, Bildung, Medien und Dienstleistungen (z. B. die Anzahl der angebotenen Sprachen reduziert
öffentliche Mitteilungen, Dolmetschen und Überset- und vielfach vom Englischen ersetzt (z. B. Bay-
zen). Sprachstatistiken machen außerdem auf die ern: Englisch, Französisch, Italienisch (2001),
sprachlichen Ressourcen in Deutschland aufmerk- aber ab 2005-06 ausschließlich Englisch).
sam (beispielsweise ist Englisch die vierthäufigste
Herkunftssprache in Berlin nach Türkisch, Polnisch Außerdem sind in vielen Bundesländern die Konse-
und Serbisch, Russisch Nr. 5, Französisch Nr. 9, quenzen für den Fremdsprachenunterricht in der
Spanisch Nr. 11). Sekundarstufe I (und II) überdacht worden.
‚Gesamtkonzepte Fremdsprachenunterricht‘ wur-
Moderne Fremdsprachen und Herkunfts- den oder werden erarbeitet (z. B. in Mecklenburg-
sprachen in Schulen Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz,
Die Schule ist vielleicht die Institution, die die Mehr- Sachsen). Grundsätzlich wird die erste Fremdspra-
sprachigkeit in Deutschland am meisten fördert, che (meistens Englisch) weitergeführt. Nach Erkun-
denn das Fremdsprachenlernen gehört zum deut- digungen scheint die Wahl des Englischen vielfach
schen Bildungsideal. Neben der Dominanz des mit dessen Status als Hauptschul-Fremdsprache
Englischen besteht eine Vielfalt von anderen begründet zu sein. In Realschulen wird eine zweite
Sprachprogrammen (im ganzen 23) in den ersten Fremdsprache meist als Wahl- oder Wahlpflichtfach
Jahren der Grundschule, als zweite und dritte eingeführt, an Gymnasien beginnt sie in der 5. oder
Fremdsprache, als spätbeginnende Fremdsprache 6. Klasse (obligatorisch bis zum Abitur), dazu
in der Oberschule, und als ‚Muttersprache‘. kommt eine dritte Fremdsprache als Wahlfach.

‚Fremdsprachen‘ sind heutzutage Teil des allgemei- Welche Sprachen als zweite oder dritte Fremdspra-
nen Grundschulcurriculums. Von den 16 Bundes- che eingeführt werden, ist je nach Bundesland und
ländern bieten in der 1. und 2. Klasse fünf flächen- Schule verschieden. Am populärsten sind Franzö-
deckend eine zweite Sprache an und in elf steht ein sisch, dann Spanisch und Italienisch und in viel
Teilangebot zur Verfügung. Allerdings ist in den geringerem Maße Russisch und Portugiesisch (s.
ersten zwei Grundschulklassen das Angebot am aber HH3), besonders in Städten. Das Angebot für
vielfältigsten, indem es internationale, Nachbar-, Türkisch als Zweitsprache ist ziemlich bescheiden
Minderheits- und Herkunftssprachen enthält. Von und für andere Nicht-EU-Sprachen wie Arabisch,
der 3. Klasse an ist der Fremdsprachunterricht Chinesisch (trotz steigender Nachfrage), Farsi und
generell verpflichtend und Englisch fast überall die Hindi sehr gering. Auf Grund von Erkundigungen in
einzige oder dominante FS. (Die Ausnahme ist das Berlin und Nordrhein-Westfalen, den Bundeslän-
Saarland mit seinen engen Beziehungen zum dern von deren Universitäten ich eingeladen
Französischen.) Es gibt aber keine Statistik, die wurde, und in Hamburg, wird nach Englisch und
darüber Auskunft gibt, ob eine in der 1. und 2. Französisch als 2. Fremdsprache in Berlin Rus-
Klasse gelernte Sprache von den gleichen Schüle- sisch und Spanisch, in NRW und Hamburg Türkisch
rInnen später wieder aufgenommen wird. Fremd- gelehrt. Auch in Hamburg steht Spanisch knapp an

8 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


3. Stelle nach Französisch. In der 9. Klasse werden kunftssprache und die vorhandene sprachliche
in NRW neben Französisch vorwiegend Spanisch Vielfalt unter SchülerInnen deutscher Herkunft för-
und Italienisch eingeführt, und in der elften Spa- dern können. Auf jeden Fall scheint das Angebot
nisch, Französisch und Italienisch. Schullehrpläne nicht sehr stark an der Demographie orientiert zu
gibt es in NRW für 11 Sprachen. s. Tabelle 1, 2, 3. In sein, z. B. wird Türkisch in einer relativ geringen
Nordrhein-Westfalen lernten 2005 95,4 % der (und abnehmenden) Zahl von Schulen gelehrt und
SchülerInnen in der 13. Klasse Englisch, 22,1 % jugoslawische Sprachen sind im Schulprogramm
Spanisch, 21,7 % Französisch, 5 % Italienisch und fast unsichtbar. Interessant sind aber die starken
1,8 % Niederländisch. (Lt. Frdl. Mitt. Henny Rönne- Zahlen für Portugiesisch. Bedauerlicherweise
per). Manche Sprachen werden im Rahmen eines scheinen Herkunftsprachen in Gymnasien sehr
bilateralen Abkommens gefördert, z. B. Tsche- schwach vertreten zu sein, wo es besonders
chisch in Bayern und Sachsen, Polnisch in den sprachbegabte deutschstämmige SchülerInnen
meisten Bundesländern, hauptsächlich aber in gäbe und die 2. Fremdsprache Pflichtfach ist. Das
Brandenburg und Nordrhein-Westfalen, wo sie als kann auf eine attitüdinale Sprachenhierarchie, den
Begegnungssprache, als erste, zweite und elitären Status des Gymnasiums und auf die gerin-
besonders als dritte Fremdsprache und als ‚Mutter- gen Zahlen von Kindern aus Zuwandererfamilien in
sprache‘ angeboten wird. Wenn die Schülerzahlen Gymnasien zurückzuführen sein.
auch bescheiden sind, ist Polnisch eine Sprache,
der trotz Mangel an internationalem Status im Berliner Europaschulen haben modellbildende
Schulsystem eine Chance gegeben wird. Funktion. Sie bieten einen konsequent zweisprachi-
gen schulischen Werdegang (darunter bilinguale
Was bilinguale Züge angeht, so gibt es bundesweit Alphabetisierung) von der 1. bis zur 10./13. Klasse
schätzungsweise 600 höhere Schulen mit bilingua- an: der Unterricht in Deutsch (50 %) und Englisch,
len Zügen, neben Englisch und Französisch auch Französisch, Russisch, Spanisch, Italienisch, Tür-
in Spanisch, Italienisch, Dänisch, Griechisch, kisch, Neugriechisch, Portugiesisch oder Polnisch
Niederländisch, Portugiesisch, Russisch und Tür- (50 %) wird durch muttersprachliche Lehrkräfte
kisch (Flohr, Die Zeit, 2006). In der Zweitsprache erteilt. Klassen bestehen je zur Hälfte aus Schü-
wird meistens Sachunterricht erteilt (Geographie, lern, die in Deutsch und der Partnersprache domi-
Geschichte, Politik oder Biologie) (lt. frdl. Mitteilung: nant sind und ein Seiteneinstieg ist nur möglich,
Wolfgang Zydatiß, 13.06.06) wenn es freie Plätze gibt. Unterricht in weiteren
Sprachen kann dazu kommen. Diese und ähnliche
Unsere Diskussion über ‚Fremdsprachen‘ außer Programme, die ich besucht habe, haben mich
Englisch betrifft auch solche Sprachen, die sehr beeindruckt – die positiven Einstellungen der
zugleich Fremdsprache und Herkunftsprache sind. Schulleitungen und Lehrkräfte, das sprachliche
Diese sind für unsere Diskussion in verschiedener Niveau und Sprachbewusstsein der Schüler – sie
Hinsicht wichtig – für ‚Muttersprachler‘ (und dies zeigen, was möglich ist. Andererseits fielen mir
kann verschiedenes bedeuten) ist es eine Sprache, aber auch die relativ geringe Schülerzahl in Her-
auf deren häuslichen Gebrauch die Schule eine for- kunftssprachen auf, etwa 50 bis 100 in Schulen von
mellere Beherrschung mit Literalisierung aufbauen mehr als 1000 SchülerInnen, die niedrige und
kann, was als Grundlage für weitere Sprachen die- abnehmende Zahl von Schülern deutscher Her-
nen kann. Für die dominante Gruppe ist es eine kunft, die an solchen Programmen teilnehmen.
wichtige Motivation zum Erwerb einer Zweitspra-
che, zu der man Input, Output und kulturelles Wis- In über 100 Schulen in Nordrhein-Westfalen lässt
sen im eigenen Land erhalten kann. Und es gibt in sich die zweite bzw. dritte Fremdsprache mit einer
der Literatur Hinweise dazu, dass Kinder deutscher von 19 Herkunftssprachen bis zur 11. Klasse erset-
Eltern auf der Straße etwas Türkisch erwerben zen. Diese Sprachen werden als 2. Fremdsprache
(Androutsopulos 2001, Auer and Dirim 2003, Dep- in der Mittelstufe eingeführt. Nicht-Muttersprachler
permann in Druck, Krumm 2004). können diese Sprachen erst in der 9. Klasse als 3.
Fremdsprache nehmen (Laut frdl. Mitt., Jagoda
Zum Lernen von Herkunftssprachen scheint Zah- Koeditz). Unklar ist, wie diese SchülerInnen, die mit
lenmaterial nicht erhältlich zu sein. Eine kleine viel weniger Grundlagen beginnen, aufholen kön-
Stichprobe (Tabelle 4) zeigt, wie unterschiedlich nen, wenn sie den formellen Unterricht später auf-
das Angebot ist und wie Schulen zugleich die Her- nehmen. Unklar ist ebenfalls, inwieweit Ressourcen

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 9


in der Zuwanderergemeinde, auch für Englisch und fen 1 bis 4 ‚Freude und Motivation für das Lernen
Französisch, genutzt werden (Laut Sabine Reich, fremder Sprachen wecken und stärken‘ soll.
KMK (Mai 2005) ist der Spanischunterricht ‚kein Edmondson (2004) weist darauf hin, dass solche
Verknüpfungspunkt für Muttersprachler‘ aber die Programme mehrsprachige (nicht nur zweispra-
Präsenz russischer Muttersprachler, die miteinan- chige) Lehrer benötigen und dies in der Lehreraus-
der Russisch sprechen, sei ein Ansporn für die bildung berücksichtigt werden muss.
Zweitspracherwerber). Die meisten mir bekannten
bilingualen Schulen arbeiten eher mit Auslandsbe- Dennoch ist aus Beiträgen von Gogolin (1994),
ziehungen als mit lokalen Gemeinschaften. Der Bausch (2004), List (2004) und Hufeisen (2004) zu
Unterricht von Herkunftssprachen wird vielfach den ersehen, dass deutsche KollegInnen mit ähnlichen
Konsularschulen überlassen, was heißt, dass Min- Problemen zu kämpfen haben wie diejenigen in
derheitssprachen wie Kurdisch nicht gelehrt wer- englischsprachigen Ländern: mit mangelnden
den und dass eine didaktische Kluft zwischen der Finanzen und beschränkter Lehrerausbildung und
Herkunftssprache und den Fächern der deutschen insbesondere mit einer monolingualen Denkart, die
Schule besteht. Krumm (2004: 107) plädiert für davon ausgeht, dass das Sprachlernvermögen
‚Modelle für eine stärkere Diversifikation des begrenzt ist, und die nicht einsieht, dass sich
Sprachangebots sowie für eine Aufnahme der Min- Sprachfähigkeiten von Sprache zu Sprache auch
derheitssprachen ... dass die SprecherInnen sol- transferieren lassen.
cher Sprachen nicht länger ausgegrenzt, sondern
in die Entwicklung von europäischer Mehrsprachig- Eine wichtige Entwicklung ist das Eurocom-Pro-
keit eingebunden werden‘. Diese Verbindung ist gramm, das SchülerInnen und StudentInnen
eine wesentliche Aufgabe für eine künftige deut- ermöglicht, auf Grund einer Fremdsprache eine
sche Sprachenpolitik. ganze Sprachfamilie rezeptiv zu beherrschen.
Lern- und Lehrmaterialien werden dafür entwickelt
Die Stellung des Englischen als erste Fremdsprache (z. B. Klien 2004) und es gibt in Frankfurt/Main, Gie-
ist 1990 von Weinrich in Frage gestellt worden, mit ßen und Saarbrücken ‚Leuchtturmprogramme‘, die
dem m.E. überzeugenden Argument, dass Englisch z. B. auf der Basis von Französisch auch Italie-
ohnehin gelernt wird und es nützlicher wäre, den nisch, Spanisch, Portugiesisch bzw. Rumänisch
SchülerInnen zu einer Zeit, wo sie noch stark moti- rezeptiv unterrichten. Ich verweise in diesem
viert sind, einen Vorsprung in einer anderen Fremd- Zusammenhang auf Duke, Hufeisen und Lutje-
sprache zu geben (vgl. auch Weinrich 2004:110). harms (2004) im Zuge der internationalen For-
Englisch wird in der einschlägigen Literatur (wie schung über die Dritt- und Mehrsprachigkeit. Hufei-
etwa im Sammelband von Bausch 2004) unter- sen und Marx (Marx 2005) haben auch bei auslän-
schiedlich als ‚entkulturalisierte‘ lingua franca, als dischen StudentInnen an der Technischen Univer-
Grundlage für weiteres Sprachenlernen und für sität Darmstadt durch das Programm Deutsch nach
metasprachliches Bewusstsein und nicht als Selbst- Englisch den Erwerb des Deutschen beschleunigt
zweck (Rück 2004, Quetz 2004) dargestellt. In der und verbessert. Ich hoffe, dass künftige Pro-
Praxis habe ich weder bei Schulbesuchen noch in gramme dieses Projekts auf systematische Weise
Gesprächen mit Lehrern und Studenten noch in auch aktive grammatische und kommunikative
Schulbüchern Beweise für einen entkulturalisierten Kompetenz ermöglichen werden.
Englischunterricht gefunden, bis auf einzelne Schu-
len mit bilingualen Programmen wenige Hinweise für Neben den offiziellen gibt es auch private Pro-
den Mehrsprachigkeitsunterricht, aber vieles das gramme, die nach der Schule und in Ferienlagern
dafür spricht, dass die Kenntnis anderer Sprachen stattfinden. Wichtig ist auch der Fremdsprachunter-
einen positiven Einfluss auf das Englische ausübt. richt in der Erwachsenenbildung, den ich aus Zeit-
mangel nicht untersuchen konnte.
Edmondson (2004), Gnutzmann (2004), List (2004)
und Meißner (2004) plädieren für die Mehrspra- Der bestehende Unterricht in Fremdsprachen
chigkeit als Ziel des Sprachunterrichts bzw. für eine außer Englisch zeigt also, dass solche Sprachen
Mehrsprachigkeitsdidaktik. Dies verträgt sich mit Chancen haben; das Interesse an Sprachen muss
dem Konzept des KMK-Berichts ‚Fremdsprachen in aber mehr gefördert werden, damit diese anderen
der Grundschule‘ (2002:3), der dafür einsteht, dass Sprachen nicht zunehmend an die Peripherie
der Fremdsprachenunterricht in den Jahrgangstu- gedrängt werden. In diesem Zusammenhang

10 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


möchte ich auf Weinrichs Vorschlag zurückkom- druck zu geben, dass Deutschsprachigen das Deut-
men, Englisch als chronologisch 2. Fremdsprache sche im Vergleich zum Englischen gleichgültig sei.
einzuführen, damit bis dahin ein Interesse an Mehr- Pragmatisch ist Englisch für den Handel und für die
sprachigkeit vorhanden ist. Wo eine Sprache wie Mobilität, auch von Studenten und Wissenschaftlern
Türkisch oder Russisch in der Nachbarschaft viel von Vorteil. Eine rein pragmatische Orientierung läuft
verwendet wird, empfehle ich sie als 1. Fremdspra- darauf hinaus, Sprache nur als Konsumgut im Lichte
che und als Einführung in die Mehrsprachigkeit. des ökonomischen Rationalismus zu sehen. Dies
Solche Sprachen sollen so gelehrt werden, dass führt zum Dilemma – soll man deutsche Interessen
die Programme den Bedürfnissen von SchülerIn- über das Englische oder lieber die deutsche Spra-
nen jeglicher Herkunft und Kompetenz gerecht che als eine Grundlage deutscher Kultur und daher
werden. Sprachen, die nicht in allen Schulen ange- deutscher Interessen fördern. Oder geht beides
boten werden, für die jedoch eine Nachfrage noch über den Bi- und Multilinguismus? Dies ist eine
besteht, könnten in Samstags-Sprachschulen wichtige Sache für ein Land, das so lange die
angeboten werden, die gewissen Schulen ange- Sprachförderung als Teil der Außenpolitik betrachtet
schlossen sind. Eine solche Institution des Kultus- (Ammon 2005b, der ein Bündnis mit Ländern mit
ministeriums in Victoria, Australien z. B. bietet anderen mittelgroßen Sprachen befürwortet).
samstags in 33 staatlichen Schulen mit staatlich
registrierten Lehrkräften insgesamt 45 Sprachen Deutsche haben großes Vertrauen in das Englische
bis zum Abitur an, die von lokalem Interesse sind. als lingua franca. Dieses Vertrauen hat seinen
Ursprung in den ‚sprachfaulen‘ englischsprachigen
Englisch als lingua franca und andere Formen Ländern, verbreitet sich aber auch in Ländern, die
interkultureller Kommunikation traditionell mehrsprachlich interessiert sind. Ich
Einen besonderen Stellenwert wird dem Engli- muss auch den auf das Englische bezogenen Termi-
schen als lingua franca zugewiesen. Nach Crystal nus lingua franca in Frage stellen, denn er schließt
(1997:139) wird Englisch mehr verwendet als jede die ‚Muttersprachler‘ aus. (Die wissenschaftliche lin-
andere Sprache in der Weltgeschichte. Dies sei gua franca des 17. Jahrhunderts Latein hatte keine
sowohl für das Deutsche wie auch für die Mehr- Muttersprachler.) In vielen gegenwärtigen Kontexten
sprachigkeit eine potentielle Gefahr, denn wird das Englische in der Kommunikation zwischen
• eine lingua franca könne das Erlernen jeder Muttersprachlern und anderen verwendet, was den
Menge anderer Sprachen ersparen, englischen ‚Muttersprachlern‘ einen Vorteil gibt. Trotz
• die Übernahme von Domänen aus der Landes- Graddols (1999) Behauptung über den Untergang
sprache könne diese verarmen und die interna- der Muttersprachler, beharren die traditionellen
tionale Nachfrage dafür verringern (vgl. Crystal englischen Muttersprachler auf ihren Normen und
1997: 12). verlangen sie von den anderen, die Englisch ver-
wenden. Es wird darauf hingewiesen, dass Wissen-
Die unreflektierte Expansion der Domänen des schaftler aus nicht-englischsprachigen Ländern mit
Englischen in deutschen Institutionen vermindert ausgezeichneten Englischkenntnissen dennoch auf
tatsächlich den Status und die Funktion des Deut- Grund der Struktur ihrer wissenschaftlichen Texte in
schen im In- und Ausland. Diese Entwicklung im Bil- Rezensionen und bei der Begutachtung ihrer Artikel
dungswesen hat Konsequenzen für alle Sprachen in diskriminiert werden (z. B. Clyne 1987, Ammon
Europa und kann damit das gemeinsame europäi- 2000). Das ist auf kulturelle Unterschiede im Aufbau
sche Kulturgut schwächen. Eine gewisse Desintel- wissenscahftlicher Texte zurückzuführen.
lektualisierung der Landessprache(n) lässt sich
schon in Skandinavien beobachten (Picht 2004, Doch als lingua franca ist Englisch nicht die einzige
Laurén, Myking und Picht 2004). Schweden hat mögliche Form der interkulturellen Kommunikation
2002 eine Sprachpolitik ‚Mun i mål‘ entwickelt, gro- in Europa. Zu den anderen Möglichkeiten zähle ich
ßenteils um die Nationalsprache zu ‚verteidigen‘, (Clyne 2003)
damit sie neben Englisch in wissenschaftlichen und a) Polyglotten Dialog – jeder spricht die eigene
anderen formellen Domänen weiter verwendet und Sprache und versteht die des anderen (Posner
beherrscht wird (Boyd 2006). Weinrich (2004: 35) 1991).
bezeichnet das Lernen von Deutsch durch Einwan- b) die multilaterale Kompetenz in einigen verwand-
derer als ‚Indikator vom Wert der Sprache‘. Vielleicht ten Sprachen (Duke et al 1996).
ist es deshalb wichtig, Zuwanderern nicht den Ein- c) Mehrsprachigkeit in verschiedenen Sprachen.

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 11


Diese Modelle lassen sich verbinden (z. B. (a) mit ablegen müssten (DAAD 2002). In zunehmendem
(b) oder (c)). Außerdem ist Englisch nicht die ein- Maße wird Englisch als Unterrichtsmedium für Stu-
zige Sprache, die täglich als lingua franca verwen- diengänge für Ausländer bzw. für gemischte Grup-
det wird: Nach der EU-Umfrage vom November/ pen von deutschen und ausländischen Studenten
Dezember 2005 (Europeans and Languages) ist eingeführt. Das Bologna-Abkommen hat den
Deutsch (mit 14 %) zusammen mit Französisch die Bedarf an Programmen für ausländische Studie-
zweithäufigste Zweitsprache in den EU-Ländern, rende erhöht, die nur relativ kurze Zeit in einem
hinter Englisch (38 %). Dahinter folgen Spanisch gewissen Land verbringen. Zugleich müssen deut-
und Russisch (je 6 %). Nach der Umfrage vom Sep- sche Studenten auf einen Studienaufenthalt an
tember 2005 ist Deutsch in Tschechien (31 %) die einer Universität mit englischen Vorlesungen vorbe-
häufigste Fremdsprache, steht in Ungarn mit Eng- reitet werden. Im folgenden Teil möchte ich die
lisch zusammen an erster Stelle (16 %) und in langfristigen sprachlichen Folgen dieser neuen Ein-
sechs anderen EU-Staaten an zweiter Stelle. Unter richtungen erörtern.
den ‚wichtigen Sprachen‘ Europas befinden sich
aus demographischen und funktionalen Gründen Die Zunahme von englischsprachigen Studiengän-
Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und gen muss man im Kontext der stark abnehmenden
aufgrund seiner großen außereuropäischen Bedeutung des Deutschen und der steigenden
Sprachgemeinschaft Spanisch. Es ist aber von Bedeutung des Englischen als Wissenschaftsspra-
Bedeutung, dass es Deutsche gibt, die Fachwissen che, zunächst in den Naturwissenschaften, dann
über andere Sprachen, Regionen und Kulturen auch in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften
Europas besitzen. (Skudlik 1990, Ammon 1998), verstehen. Dieser
Entwicklung muss aber nicht unkritisch zugesehen
Dem Internet wird vielfach die Schuld für die werden. Für Ehlich (2004: 173) ist die ‚Monolingua-
Dominanz des Englischen zugeschoben. Den- lisierung des wissenschaftlichen Betriebs mit dem
noch gibt es Indizien, dass der Gebrauch des Globalisierungsdiskurs verbunden‘; dies schade
Internets heutzutage bedeutend mehrsprachiger vor allem den Geisteswissenschaften. Ehlich
ist als noch vor zehn Jahren (Ammon 2006). Auf (2002: 53) sieht als Aufgabe für Europa, den Reich-
Grund mehrerer Quellen konstatiert Ammon tum mehrsprachiger Wissenskommunikation zu
‚Deutsch (rangiere) nach der Zahl der Web-Sites erhalten und zu entfalten‘. Nach Ehlich erschwert
oder auch Homepages an zweiter Stelle aller der wissenschaftliche Gebrauch von Englisch als
Sprachen.., wenn auch mit großem Abstand hinter lingua franca den Wissenstransfer vom Wissen-
Englisch und mit nur geringem Vorsprung vor schaftler zu Laien, der in der Landessprache statt-
nachfolgenden Sprachen‘ wie Japanisch, Franzö- findet; vor allem verliere die Sprache an Domänen.
sisch, Spanisch und Chinesisch. Das Aufkommen Nach einer Umfrage von Ammon und McConnell
neuer Technologien, die die multilinguale Kommu- (2002: 168) unter Professoren, die an bilingualen
nikation im Internet fördern, ist zeitlich schwer bzw. englischsprachigen Studiengängen an der
abzuschätzen (Ammon 2006). Universität Aachen oder Duisburg-Essen lehren,
meinen 78,9 %, dass englischsprachige Studien-
Englische und bilinguale Studiengänge und gänge eine Bedrohung für Deutsch als Wissen-
deren Verhältnis zur Wissenschaftssprache schaftssprache darstellen.
Im Wintersemester 2005/06 gab es bundesweit
schon 312 bilinguale und englische Masters-Stu- Sehen manche (z. B. Ehlich 2005) in bilingualen
diengänge und 74 derartige Bachelor-Studien- Studiengängen eine Bedrohung für Deutsch und
gänge (lt. frdl. Mitt. DAAD). Das ist ein kleiner aber die europäische Mehrsprachigkeit, betrachten
steigender Anteil aller Studiengänge in Deutsch- andere (z. B. Ammon 2005) sie als Gelegenheit für
land. Entstanden sind sie, um Deutschland im Wett- den Deutschunterricht; etwas Deutsch lernen die
bewerb um ausländische Studierende und Wissen- Studenten auf jeden Fall. Allerdings benötige dies
schaftler konkurrenzfähiger zu machen. Der DAAD viel individuelle Unterstützung. Ammon (2005a: 81)
wollte einen deutschsprachigen Inhalt vorschrei- meint, man müsse prüfen, ‚inwieweit die erworbe-
ben, indem Studierende, die ohne oder mit wenig nen Deutschkenntnisse der Studierenden über die
Deutsch ins Land kommen, in den höheren Jahr- alltäglichen Kommunikation hinausgehen, so dass
gängen auch Lehrveranstaltungen auf deutsch sie auch zur wissenschaftlichen Kommunikation in
belegen bzw. Praktika oder Examen auf deutsch deutscher Sprache befähigen‘ (Ammon 2005: 81).

12 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Ein Sammelband von Motz (2005) enthält auch Inhalte vermitteln, die eng mit Deutsch in Verbindung
einige Erfolgsgeschichten aus diesem Bereich (da- steht, wie etwa in einem MA (European Studies), für
runter Dunst 2005, Soltau und Thelen 2005 und Voe- den deutsche Grundkenntnisse erwartet werden.
geli 2005) über die Integration des Deutschen in den
Fachunterricht an der Hochschule für Wirtschaft und Zwischen 60 % und 100 % der Dozierenden in den
Politik in Hamburg. En passant lernen Ausländer englischsprachigen Studiengängen sind deutsche
nicht Deutsch; laut Motz (2005: 140) wollen sie Muttersprachler mit Studien-, Lehr-, Arbeits- oder
Unterricht in der Alltagssprache. Außerdem klagen Forschungserfahrung im englischsprachigen Aus-
sie über den Verlust ihrer Englischkenntnisse, da sie land. Vier englischsprachige Studiengänge bieten
an keinem Englischunterricht teilnehmen. keine direkte Englisch-Unterstützung für Lehrende
an und begründen dies damit, dass genügende
Einige dieser Fragen wurden anhand von Websei- Englischkenntnisse Voraussetzung für die Anstel-
ten und anderer Informationen über 25 vergleich- lung sind und deshalb kein Bedarf bestehe. Fünf
bare Studiengänge an fünf verschiedenen Univer- englischsprachige und ein bilingualer Studiengang
sitäten bzw. Fachhochschulen in Bonn, Berlin und haben verschiedene Englischkurse in ihrem Weiter-
Darmstadt untersucht. 12 Kursleitern und deren bildungsangebot, die durch das Sprachenzentrum
Prorektoren konnte ich direkte Fragen stellen. der betreffenden Hochschule durchgeführt werden.
DaF-Unterstützung für englischsprachige Dozie-
Englischkenntnisse werden für alle 25 Studien- rende in englischsprachigen Studiengängen wird in
gänge vorausgesetzt und explizit erwähnt. Meis- keinem Fall angeboten. In den wenigen Bemerkun-
tens wird IELTS 6,0 erwartet; in einigen Fällen gen zu bisherigen Erfahrungen werden diese in
IELTS 6,5. Vorkenntnisse in deutscher Sprache den meisten Fällen positiv dargestellt und selten
werden nur für sieben Studiengänge explizit er- konkretisiert.
wähnt, meistens Tests wie DSH (Deutsche Sprach-
prüfung für die Hochschulzulassung) oder TestDaF Es fällt auf, dass deutsche Universitäten Sprach-
(Niveau 4). tests wie IELTS viel mehr Vertrauen schenken als
wir in Australien. Die Universität Melbourne z. B.
Fast alle ausgewählten englischsprachigen Stu- verlangt von ausländischen Master-Studierenden
diengänge richten sich sowohl an Deutsche wie einen IELTS-Score von 7,0 (im Vergleich zu 6,0 mit
auch an Ausländer, mit durchschnittlich 66,5 % aus- wenigen Ausnahmen in Deutschland). Im Jahr
ländischen StudentInnen. Vier englischsprachige 2005 hat die Languages and Learning Unit der Uni-
Studiengänge verlangen von den ausländischen versität 1895 Stunden Unterstützungsunterricht für
Studierenden keine Deutschkenntnisse, drei erwar- Nicht-Muttersprachler des Englischen und 867
ten oder empfehlen deutsche „Grundkenntnisse für Stunden Workshops durchgeführt (lt. frdl. Mitt. Lau-
Alltagssituationen im Rahmen ihrer Möglichkeiten“, rie Ramson). Wie alle anderen australischen Uni-
und in zwei Studiengängen ist ein Einführungskurs versitäten bietet Melbourne Studierenden Englisch-
bzw. studienbegleitender Sprachkurs Pflicht. Nur unterricht und Korrektur-Hilfe bei englischsprachi-
ein Viertel der englischsprachigen Studiengänge gen Klassenarbeiten und Dissertationen an. Die
verpflichtet Studierende DaF-Kurse vor Semester- ausländischen Studenten befinden sich ja in einer
beginn bzw. im 1. und 2. Semester zu belegen; in Umgebung, in der Englisch die Landessprache und
einigen Fällen wird auf der Webseite nur auf das lingua franca ist. Dennoch erfahren die Meisten
Sprachenzentrum oder auf externe Kurse hingewie- große Probleme mit Englisch, suchen Hilfe bei Mut-
sen. Begründet wird dies damit, dass für das Stu- tersprachlern und Dozenten und Betreuer werden
dium keine Deutschkenntnisse notwendig sind und dadurch stark belastet. Eine Untersuchung zur Gül-
deshalb auch nicht erwartet werden können. tigkeit der IELTS-Scores von Elder und O’Loughlin
in Australien und Neuseeland (2003) zeigt, dass
Beinahe die Hälfte der englischsprachigen Studien- intensive Sprachkurse an Ort und Stelle und vor
gänge bietet keine Unterstützung im Englischen an allem täglicher Kontakt mit dem Englischen, das
und begründet dies damit, dass Englischkenntnisse Englischniveau sehr erhöhen kann. Ist man in
für die Zulassung vorausgesetzt würden. Die übri- Deutschland zu optimistisch?
gen englischsprachigen Studiengänge verweisen
Studenten auf Kurse. Interessant ist, dass manche In Dänemark und den Niederlanden, Ländern in
rein englischsprachigen Studiengänge kulturelle denen Englisch schon längst Domänen der Lan-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 13


dessprachen durchgedrungen ist, sind neue informellen Kontakten, zuweilen auch beim Ver-
DozentInnen aus dem Ausland verpflichtet, im such, die deutsche Kultur besser kennenzulernen,
ersten Jahr Ihrer Anstellung einen Kurs in der ent- aber sehr selten wurden direkt berufsbezogene Auf-
sprechenden Landessprache zu absolvieren. gaben und Berichte erwähnt (z. B. „schreiben“, „lec-
Braucht man das nicht, um der Tätigkeit an einer tures“). Nicht überraschend ist auch der fast ein-
nicht-englischsprachig verwalteten Universität stimmige Ja-Anteil zur Frage, ob man es für sinnvoll
gerechtzuwerden? hielte, dass künftige Stipendiaten zumindest
Grundkenntnisse des Deutschen erwerben sollten.
Ich möchte auch auf die Viadrina Universität in Mehrere TeilnehmerInnen fügten hier kurze Bemer-
Frankfurt an der Oder hinweisen, die ein multikultu- kungen an (wie z. B. „unbedingt!“, „sehr wichtig“,
relles, multilinguales Konzept entwickelt hat und „auf jeden Fall“ oder „It greatly improves the whole
deren Kulturwissenschaftliche Fakultät mindestens ‚Germany‘ experience“).
eine von fünf frei wählbaren Fremdsprachen im
Grundstudium vorschreibt. Für die Universität Die Ergebnisse der Umfrage, zusammen mit denen
bedeutet Internationalisierung Mehrsprachigkeit. früherer Befragungen durch die AvH, bieten Sukkurs
Die Präsidentin der Universität betrachtet die Mehr- für die renommierten Naturwissenschaftler Mocikat,
sprachigkeit als „europäischen Trumpf“ (Prof. Dr. Haße und Dietrich (2005) und andere, die meinen,
Gesine Schwan, 08.06.06)! Vier Sprachen stehen dass sich deutsche wissenschaftliche Institutionen
im Zentrum des mehrsprachigen Konzepts: von ihrer Landessprache entfremden und mehr tun
Deutsch, Polnisch, Französisch und Englisch. Und sollten, um die sprachliche Integration von ausländi-
in bestimmten Studiengängen werden diese als schen KollegInnen und StudentInnen zu ermög-
Unterrichtsmedium eingesetzt, z. B. im MBA und im lichen. Integrationskurse in Hamburg und anderswo
M. Europ.Studies. bieten ein mögliches Modell. Ich will keineswegs die
Bedeutung von entsprechendem Unterricht in
Eine Umfrage bei 128 TeilnehmerInnen an der Sti- schriftlicher und mündlicher englischer Fachsprache
pendiatInnen-Jahresversammlung der Humboldt- schmälern. Im Gegenteil: Deutsche Hochschulen
Stiftung im Juli 2005 ergab, dass fast alle irgend- müssen DozentInnen und StudentInnen solchen
wann etwas Deutsch gelernt hatten. Als wichtigste Unterricht und Korrekturhilfe mehr zur Verfügung
Gründe, warum sie die Sprache nicht beherrschen, stellen. Aber der Gebrauch von Englisch soll nicht
gaben die Informanten an: auf Kosten von Deutsch als Wissenschaftssprache
• Mangel an Gelegenheit, da im Institut jeder gehen. Außerdem wäre es gut, wenn die Universitä-
Englisch spricht, schreibt und mailt. ten die Möglichkeiten zur fachsprachlichen Kenntnis-
• Zeitmangel. erweiterung in der 2. (bzw. 3.) Schulfremdsprache
• Die begrenzte Nützlichkeit und das relative bieten könnte. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet
niedrige Prestige des Deutschen im Herkunfts- bedarf es eines mehrsprachlichen Modells, an dem
land (besonders im Vergleich zum Englischen). Deutsch einen wesentlichen Anteil hat. Die pragma-
Rund drei Viertel derer, die Deutsch verwenden, tische Einstellung zur Wissenschaftssprache im
gebrauchten es zum Austausch mit KollegIn- Kontext der freien Marktwirtschaft der globalen Wis-
nen, sei es schriftlich (Email) oder mündlich senschaft muss überdacht werden.
(Diskussionen/Fachgespräche). Ebenfalls etwa
70 % liest Fachliteratur auf Deutsch, aber nur Im Großen und Ganzen spiegeln die gegenwärti-
20 % verwenden Deutsch zum Verfassen von gen Tendenzen also eine Gleichgültigkeit gegen-
Veröffentlichungen. Im Privatleben berichteten über der Muttersprache wider.
mehr als drei Viertel, Deutsch für praktische
Zwecke (einkaufen, nach dem Weg fragen, Sprache und Wirtschaft
öffentliche Verkehrsmittel) zu verwenden. Fast Anhand von Umfragen bei neun Berliner Firmen
ebenso viele gaben an, Deutsch in ihrem sozia- bestätigen Erling und Watson (2003) Vollstedts
len Umfeld, z. B. mit Freunden, zu verwenden Äußerung, dass sehr wenige Firmen eine Spra-
und fast die Hälfte (46 %) mit Behörden. chenpolitik entwickelt haben, vielleicht weil sie die
Kosten von Sprachunterricht und Dolmetschen/
Die meisten Informanten bedauern ihr mangelndes Übersetzen ersparen wollen. Die interkulturelle
Deutsch im sozialen Bereich– wie etwa in der Kommunikation verlaufe meist erfolgreich. Deutsch
Mensa, im Umgang mit Nachbarn, bei Partys und verliere an Bedeutung in der internationalen Wirt-

14 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


schaftskommunikation, bleibe aber für den lokalen Unternehmen besucht. Von den 12 Unternehmen
Markt wichtig. Je höher der Status des Angestell- sind vier jetzt mit nichtdeutschen Firmen fusioniert
ten, desto mehr Englisch würde gebraucht. Eng- und im Umbau begriffen. Die Fusion von Unterneh-
lisch sei zwar für das höhere und mittlere Manage- men erfordert eine Amalgamierung der Unterneh-
ment unerlässlich, aber nicht zum Ausschluss menskulturen, darunter auch oft sprachliche
anderer Sprachen, insbesondere Spanisch. Akkommodierung. Drei sind internationale Unter-
nehmen mit einer starken deutschen Basis und ver-
Vollstedts (2005) vergleichende Studie bei mittel- wenden Englisch vorwiegend für Marketing, Bezie-
ständischen Firmen (1996-2000) bestätigt die hungen mit Investoren und als Fachsprache. Eines
dominante Rolle des Englischen. Der Anteil von Fir- davon hatte bis vor einigen Jahren Deutsch als Fir-
men mit Englisch als Hauptkorrespondenzsprache mensprache auch auf internationaler Ebene, so
sei von 70,8 % auf 82,2 % gestiegen. Als Ko-Kor- dass z. B. in Australien Ingenieure Deutsch lernen
respondenzsprache sei Deutsch in dieser Zeit mussten und deutsche Fachsprache in das Engli-
dementsprechend von 63 % auf 48,6 % gesunken. sche transferierten, das sie mit lokalen Fachkolle-
Bis auf Russisch sind alle Ko-Korrespondenzspra- gen verwendeten. Daneben gibt es vier klar deut-
chen (Französisch, Spanisch, Schwedisch und Ita- sche Unternehmen, die für die Investoren und, falls
lienisch) wesentlich zurückgegangen. Der Bedarf nötig, zur länderübergreifenden Kommunikation zu
an selten gebrauchten Sprachen wie Chinesisch Englisch übergegangen sind und eine Firma, die
und Japanisch sei demgegenüber gewachsen. multilingualer umgeht.
,Sprachexperten‘ (Dolmetscher, Übersetzer, Kor-
respondenten) würden eingesetzt aber nur für die Trotz wesentlicher Unterschiede zwischen den Fir-
wichtigsten Sprachen Englisch, Französisch, Spa- men werden Entscheidungen zum Sprachgebrauch
nisch, Italienisch. Der Fokus sei nicht die symboli- überall pragmatisch im Sinne der freien Marktwirt-
sche Funktion der Sprache sondern reibungslose schaft getroffen. Vielfach sind Deutsch und Eng-
Kommunikation. Dafür sei Englisch geeignet und lisch kodominante Sprachen. Hauptversammlun-
die Firmen akzeptieren Englisch als internationale gen werden vorwiegend auf deutsch abgehalten
Wirtschaftssprache. mit englischem Dolmetschen. Internationales Per-
sonal, internationale Investoren und Fusionierun-
Bleich (2005: 282) bemerkt in ihrer Studie von gen führen dazu, dass Englisch immer mehr ver-
schwedischen Unternehmen, dass diese ‚im Kon- wendet wird. Englisch wird als die Sprache des
takt mit deutschsprachigen Geschäftspartnern zu internationalen Geschäftslebens betrachtet. In min-
gut 50 % die deutsche Sprache, während die deut- destens einer der Firmen hat die rapide Anglisie-
schen Unternehmen zu 80 % die englische Spra- rung zu Protesten unter Angestellten geführt, z. B.
che bevorzugen‘. Sie stimmt mit Meyers Kontstatie- wegen der Reihenfolge der Sprachen im Mitarbei-
rung überein (2004: 66): terbrief und den Überschriften im Firmenmagazin.
Der Rückzug des Deutschen vor dem Englischen – Mit Nicht-Deutschen, auch mit Zweigstellen und
weltweit und im eigenen Land – ist weithin eine Mitarbeitern in mitteleuropäischen Ländern mit
selbstverschuldete Tragödie‘. Meyer beklagt zwei deutschsprachiger Tradition, wird automatisch Eng-
deutsche Reaktionen – Verleugnung, dass die lisch gesprochen. Viele Entscheidungen erfolgen
deutsche Sprache in Gefahr sei und die Begrüßung ad hoc, d.h. man wechselt zum Englischen, wenn in
des Erfolgs des Englischen. einer Gruppe ein Teilnehmer nicht Deutsch versteht
bzw. spricht. Es gibt wenig Bemühungen zur Ver-
Webseiten der zehn größten deutschen Unterneh- breitung des Deutschen in den Firmen und sehr
men und zwei anderer uns als interessant empfoh- wenige, die Mehrsprachigkeit zu fördern, wenn sie
lener deutscher Firmen2 wurden unter zwei nicht kurzfristig pragmatisch motiviert sind. Firmen-
Gesichtspunkten untersucht: einerseits die Spra- interne Sprachkurse betreffen überwiegend Eng-
che(n) der Webseite und andererseits explizite lisch, andere Kurse in mehreren anderen Sprachen
Bemerkungen zum Sprachgebrauch der Firma. sind eingestellt worden. Ist dies alles im langfristi-
Zudem haben wir Fragebögen verschickt und ein gen Interesse der Unternehmen?

2 Eine Firma soll mehr den Weg der Mehrsprachigkeit eingeschlagen haben; die andere sei eine intern deutsche Firma, die dennoch
viel Englisch als Konzernsprache verwende. Eine Reihe von Schwer- und Dienstleistungsindustrien sind vertreten.

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 15


Sprache und elektronische Medien Öffentlich-rechtliche Sender und Lokal- und Bür-
gerradios senden etwa 170 Stunden pro Woche in
Für unsere Zwecke stellen sich zwei wichtige Fra- 27 verschiedenen Herkunftssprachen (s. Tabelle
gen bezüglich der elektronischen Medien: 12); das ist relativ wenig im Vergleich mit Australien
a) Inwieweit reflektiert die Sprachenpolitik der – in Sydney allein 584 Wochenstunden in mehr als
Deutschen Welle (DW) die der bereits bespro- 80 Sprachen. Die meistgesendeten Sprachen sind
chenen Institutionen in der Wahl zwischen Türkisch (37 Std.), Italienisch (19,5) und Griechisch
Deutsch, Englisch als lingua franca und Mehr- (19). Die breiteste Palette von Sprache ist bei
sprachigkeit? Radio MultiKulti zu hören, gefolgt von WDR5. Radio
b) Inwieweit fördern öffentlich-rechtliche und MultiKulti ist zwar die ‚Stimme der Zuwanderer‘ und
andere Radio- und Fernsehsender die in der kulturellen Vielfalt in Berlin, aber die Sendun-
Deutschland vorhandene Mehrsprachigkeit? gen sind vielfach auf deutsch. Die russischspra-
chige Sendung sieht ihre Aufgabe auch z. B. im
Radioprogramme innerhalb und außerhalb Austausch von Sprachen:
Deutschlands liefern einen wichtigen Beitrag zur
Mehrsprachigkeit, indem deutsche Radio- und Wir senden auf Russisch für alle, die Russisch ver-
Fernsehsendungen international empfangen wer- stehen, gleich welcher Nationalität. Aber auch
den können und deutsche Medien für internen und geborene Berliner zählen zu unserem Hörerkreis,
externen Konsum durch Muttersprachler in vielen seien es Studenten der Slawistik, Eheleute, deren
Herkunftssprachen zur Verfügung stellen. Partner aus dem russischen Sprachraum kommen,
oder auch Menschen, die früher einmal in Russ-
Die Novelle des Deutsche-Welle-Gesetzes 2004 land beruflich tätig gewesen sind oder dort studiert
hatte weiterhin die Förderung des Deutschen im Aus- haben. Mit unseren Berichten über das Leben in
land als wichtiges Ziel. Gemeinsam mit ARD und Berlin möchten wir eine Brücke zwischen ihnen
ZDF hat die Deutsche Welle einen Auslandskanal, allen schlagen‘. (Webseite)
German-TV, errichtet. DW-TV wird deutsch und eng-
lisch ausgestrahlt und in geringerem Maße auch Dies könnte ein gutes Modell für eine pluralistische
Spanisch (? Tag pro Woche), aber nicht auf Franzö- Medienpolitik sein.
sisch (Lt. frdl. Mitt.. Wolfgang Lenz, DW, 3 June,
2004). DW-Radio hingegen fördert die Mehrsprachig- Zur EU-Sprachenpolitik in Europa
keit indem in Deutsch und in 29 anderen Sprachen Inwieweit könnte die EU Deutschland helfen, eine
gesendet wird, darunter in mehreren afrikanischen pluralistische Sprachenpolitik zu entwickeln? Die
und asiatischen Sprachen, Sprachen von Krisenge- EU hat im Prinzip eine multilinguale Sprachenpoli-
bieten (z. B. Dari) und europäischen Sprachen. Unter tik, die bekanntlich beinhaltet, dass die Amtsspra-
den Sprachen sind mehrere wichtige Herkunftspra- chen aller Mitgliedsstaaten innerhalb der EU offi-
chen wie Türkisch, Polnisch, Englisch, Serbisch, ziell den gleichen Status genießen. Auch die langu-
Russisch, Arabisch, Französisch, Griechisch und age-in-education Politik der EU befürwortet und
Spanisch. Abwesend von der Liste sind aber Italie- unterstützt die Mehrsprachigkeit, wobei sie Fremd-
nisch und auch Vietnamesisch. Wiederholt werden sprachenerwerb vielfach auf den Erwerb von Fer-
Programme auf Englisch und Russisch. Internetpro- tigkeiten (skills) reduziert.
gramme (DW World) sind in 31 Sprachen vorhanden.
Nach dem Aktionsplan der EU für 2004-2006 (EU
Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, wie 2003) sollen als Priorität bereits im Kindergarten
unentbehrlich das Journal von DW-TV ist, das vom und in der Grundschule zwei Fremdsprachen
multikulturellen staatlichen Fernsehkanal in Austra- gelernt werden. Modellprogramme innovativer Pra-
lien ausgestrahlt wird. Nicht nur die aktuellen Nach- xis sollen unterstützt werden, Sprachenlernen in
richten sondern auch die aktuelle deutsche Spra- Schule und Hochschule fortgesetzt und durch Aus-
che bietet eine sprachlich-landeskundliche Auffri- landsstudium ergänzt werden. Besondere Maßnah-
schung und unterstützt die Erhaltung des Deut- men in der Lehrerausbildung sollen dies fördern.
schen und den Zweitspracherwerb. Zuwanderer in Größere und kleinere europäische Sprachen,
Deutschland haben freilich über Satellitenfernse- regionale, Minderheits- und Herkunftssprachen sol-
hen auch Zugang zu türkischen, polnischen und len unterrichtet werden – all dies als Teil eines Pro-
sonstigen ausländischen Sendern. gramms für lebenslanges Sprachenlernen im Rah-

16 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


men des Mottos ‚in Vielfalt vereinigt‘. Mitgliedstaa- Fazit
ten sollen Eltern über die Wahl der ersten Fremd-
sprache adäquat informieren, um ihnen eine ent- Wir haben sowohl positive wie auch negative Zei-
sprechende Wahl zu ermöglichen. Der Aktionsplan chen gesehen von Anerkennung und Nutzung der
befasst sich nicht mit Migrantensprachen und Mehrsprachigkeit in Deutschland. In manchen
ermutigt Mitgliedsstaaten Migranten eher als ‚Bei- Schulen (besonders Gymnasien und Realschulen)
spiele guter Praxis denn als Probleme zu betrach- haben SchülerInnen die Möglichkeit, ihre Kenntnis
ten‘ (Paul Holdsworth, 5. Mai 2005). mehrerer europäischer Sprachen zu fördern; in
anderen sind alle anderen Sprachen nebensächlich
Die EU kann aber die Mehrsprachigkeit nicht neben dem Englischen. Bilinguale Programme des
durchsetzen, weder EU-intern noch sonst in der Berliner Europaschulmodells sind empfehlenswert.
interkulturellen Kommunikation. Gerade die euro- Es gäbe Gelegenheiten, durch Lehrprogramme, die
päische Integration scheint die Dominanz des für die jeweilige Schülergruppe geeignet sind, eine
Englischen und die Marginalisierung anderer Spra- Gruppe von ‚Mehrsprachigen‘ zu entwickeln und zu
chen zu verstärken, besonders in Wissenschaft fördern. Dies und auch die Möglichkeiten zum Aus-
und Wirtschaft. Man denke an Mobilitätspro- tausch von Sprachen werden m.E. zu wenig wahr-
gramme (Erasmus, Sokrates), die mit einer großen genommen. Am besten scheint dies z. Zt. für Rus-
Zunahme an englischsprachigen Studiengängen sisch zu wirken. Ich finde, man geht in Deutschland
einhergehen. Die Möglichkeiten, den Wortlaut der vor allem in den Domänen Wirtschaft und Hoch-
EU-Richtlinien mit der Implementierung in Einklang schule zu schnell und unreflektiert von einer Zwei-
zu bringen, sind äußerst beschränkt, denn für sprachigkeit ‘Deutsch für uns und Englisch als Lin-
Schulsysteme und für Curriculumfragen tragen Mit- gua franca zu den anderen‘ aus, ohne Konsequen-
gliedstaaten die alleinige Verantwortung (lt.frdl.Mitt, zen und Alternativen zu durchdenken. Dies wider-
Paul Holdsworth, 5. Mai 2005). spricht der gewünschten Förderung des Deutschen.

Von Zeit zu Zeit wird die EU-Sprachenpolitik pro- Es ist in Deutschlands Interesse, eine bewusste
blematisiert, wie z. B. die Zahl der erforderlichen pluralistische Sprachenpolitik kohäsiv durchzufüh-
Dolmetscher nach dem Beitritt neuer Staaten 2005. ren, um die interne Mehrsprachigkeit (einschließlich
Trotz des EU-Prinzips der Amtssprachengleichheit Deutsch und Englisch) mehr zu würdigen, pflegen,
befindet sich Deutsch – die Sprache mit weitaus stärken und verbreiten, aber zugleich den Status
der größten Zahl von Muttersprachlern innerhalb des Deutschen international zu erhöhen. Um das zu
der EU – in einer untergeordneten Rolle gegenüber ermöglichen, müssen durch Information zwei vor-
Englisch und Französisch. Zwar ist Deutsch eine herrschende Trugschlüsse entmutigt werden:
Arbeitssprache, auch in einigen wichtigen EU-
Instutionen, ist aber selten Vorlagesprache von • Die Kenntnis einer Sprache schadet der anderen
Dokumenten (Nach Ammon werden nur 5 % der • Englisch genügt, um mit ‚Anderssprachigen‘
Dokumente auf Deutsch verfasst). umzugehen.

In zunehmendem Maße ist Englisch innerhalb der Verschiedene Institutionen der Gesellschaft kön-
EU zur lingua franca und zur vorherrschenden nen ihren Beitrag zu einem Gesamtprogramm lie-
Sprache geworden. Im März 2004 hat der Deut- fern, um das Sprachpotential zu verwirklichen, z. B.
sche Bundesrat einen Beschluss gegen die Diskri-
minierung der deutschen Sprache in der EU ver- Was Regierungen tun können, ...
abschiedet. Es wurde betont, dass ‚die Stärkung ... um die Entwicklung des Sprachpotentials in der
der deutschen Sprache in der EU...Hauptziel der Bevölkerung zu fördern:
deutschen Sprachenpolitik bleiben muss‘ (S. 1) 1. eine bewusste, koordinierte Sprachenpolitik for-
(unterstellt, dass es eine gibt – MC). Ziel muss es mulieren und umsetzen,
sein, die deutsche Sprache gegenüber anderen 2. das Sprachbewusstsein in der Bevölkerung för-
Sprachen, insbesondere Englisch und Franzö- dern,
sisch nicht zu benachteiligen‘. Aber am wichtigs- 3. interkulturelle Kommunikation und den Aus-
ten wäre es, der Praxis der Mehrsprachigkeit in tausch von Sprachen fördern,
der inter-kulturellen Kommunikation mehr zu fol- 4. Unternehmen und Institutionen (vielleicht durch
gen. Preise oder Bonusse) dazu anhalten, die

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 17


sprachlichen und kulturellen Ressourcen ihrer Was Familien tun können, ...
Angestellten produktiv einsetzen und fördern, ... um ihren Kindern zu ermöglichen, ihr Sprachpo-
5. durch Steuerabzüge Firmen mit mehrsprachi- tenzial voll auszuschöpfen:
gen Webseiten belohnen, 1. eine Sprachenpolitik der Familie entwickeln und
6. Sprachschulen für Sprachen, die nicht in allen konsequent durchsetzen,
Schulen angeboten werden, in denen es dafür 2. für eine kommunikationsreiche Umgebung sor-
eine Nachfrage gibt. gen,
3. möglichst viele Mittel und Möglichkeiten zur
Wie dies im Rahmen des neuen Föderalismus Anwendung der Herkunftssprachen anbieten.
erfolgen kann, evtl. über eine Bund-Länder-Kom-
mission müsste überlegt werden. Was Unternehmen tun können
1. Multilinguale Webseiten entwickeln,
Was Schulen tun können, ... 2. Nicht nur von Englisch als Sprache aller „Nicht-
… damit alle Schülerinnen und Schüler ihr Sprach- deutschen“ ausgehen,
potential voll entwickeln können: 3. Von eigenem mehrsprachigen Personal mehr
1. die lokalen Gegebenheiten bei der Auswahl der Gebrauch machen,
unterrichteten Sprachen berücksichtigen, 4. Über (internen) Unterricht und Bildungsurlaub
2. Mehrsprachigkeit durchwegs positiv darstellen Kompetenz in mehreren Sprachen
und gezielt fördern, 5. entwickeln bzw. weiterentwickeln, und
3. den Bedürfnissen von Schülerinnen und Schü- 6. den Gebrauch des Deutschen im Umgang mit
lern jeglicher Herkunft gerecht werden, Mitteleuropa fördern.
4. auf die sprachlichen Ressourcen des jeweiligen
lokalen Umfeldes zurückgreifen, In vielen dieser Aufgaben haben das Goethe Insti-
5. Lehrmaterialien für verschiedene Lernergrup- tut und die Deutsche Welle einen wichtigen Beitrag
pen herstellen, zu liefern.
6. den Sprachunterricht so ausrichten, dass maxi-
maler Nutzen für Literarizität und interkulturelle
Statistische Mängel
Kommunikation erzielt werden kann.
Ich möchte noch einmal auf die mangelnden Statis-
Was Universitäten tun können, ... tiken und Evaluierungen hinweisen, die für Spra-
… um die Entwicklung des Sprachpotenzials zu chenpolitik in Deutschland wichtig sind:
fördern: 1. Die Zahl der Sprecher der verschiedenen Spra-
chen.
1. eine breite Palette von Herkunftssprachen an-
2. Die Wiederaufnahme von Sprachen, die in den
bieten, auch mit fachsprachlichem Unter-
ersten Jahrgängen gelernt wurden.
richt,
3. Mit welchem Erfolg SchülerInnen nicht-mutter-
2. das Angebot von sprachlichen Austauschpro-
sprachlichen Hintergrunds Herkunftssprachen
grammen und Auslandspraktika erweitern,
lernen, besonders da sie damit später begin-
3. relevante Forschungen betreiben,
nen.
4. die multilinguale und multikulturelle Ausrichtung
4. Inwieweit Sprachressourcen in der Einwander-
der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften ver-
gemeinschaft zunutze gemacht werden.
stärken,
5. für in- und ausländische Studierende und
Dozenten sprachliche Förderung in Deutsch Forschungsprojekte
und Englisch und anderen Sprachen anbieten Zu obigen Themen wären weitere Forschungen auf
den folgenden Gebieten wünschenswert:
Was ethnische Gemeinden tun können, ... 1. Sprachdemographie.
… um die Entwicklung des Sprachpotenzials zu 2. Evaluierung – Modelle für Herkunftssprachen,
fördern: deren Unterricht Muttersprachler und Nicht-Mut-
6. Aktivitäten für (jugendliche) Sprecher und Ler- tersprachler umfassen.
ner der Herkunftssprache organisieren 3. Beschreibungen der Kommunikation in Univer-
7. Möglichkeiten schaffen, ihre Sprache und Kultur sitätsinstituten
mit interessierten Mitgliedern der dominanten 4. Beschreibungen der Kommunikation in Firmen.
Gruppe zu teilen. 5. Bedarfsanalyse einiger Herkunftssprachen.

18 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


6. Englisch als Mittel zur Mehrsprachigkeit in werden. Diese Sprache wird ab der 3. Klasse
Schulen. gelehrt und Französisch oder Latein ab der
7. Nachfrage für herkunftsprachliche Radiosen- 5.Klasse. Die dritte FS ist Polnisch. Die Schule ist
dungen. bemüht, dass Schüler deutscher Herkunft das Pol-
nische erlernen. „Muttersprachler“ und „Nicht-Mut-
Haarmann (2004b) bezeichnet Diskutanten zu tersprachler“ werden bis zur 11. Klasse getrennt
unserem Thema als ‚Sentimentalische Jammerer‘, unterrichtet. In der 12. und 13. Klasse gibt es jahres-
sachorientierte Gesellschaftskritiker, Ideologisierte übergreifenden Unterricht für Kinder mit und ohne
Radikale und Pragmatiker. Ich frage mich, wo man muttersprachlicher Grundlage. Die Zahl der Pol-
mich einstufen wird. nischlernenden beträgt etwa 60 in einer Schule von
1026 Schülern. Die meisten deutschstämmigen
Anhang wählen nicht Polnisch als Prüfungsfach zum Abitur.
Die Zahl derer, die in diesem Jahr Polnisch wählen,
Fallstudien – Schulen beträgt zwei. (lt.fr. Mittl. Ulrich Entz und Roland Ter-
Ich möchte hier von einigen Fallstudien berichten, zewski). Obwohl die Schule Kontakt zur polnischen
die auf Schulbesuchen beruhen: Community in Berlin pflegt, hat dies jedoch einen
Einfluss auf den Unterricht. Vielmehr sieht sich die
Als erstes möchte ich das Gymnasium NRW1 vor- Schule als Begegnungsschule mit Schüleraus-
stellen, dass sich in einem Bonner Stadtteil befin- tausch und Auslandskontakten. Mit dem Konzept
det. Von den 1104 Schülern stammen 25 % von der Mehrsprachigkeit setzt sich die Schule die
zweisprachigem Hintergrund, davon 16 % ‚Auslän- interkulturelle Verständigung zum Ziel. Es bieten
der‘ und 9 % aus bilingualem Elternhaus. Einige lediglich fünf Berliner Schulen Polnisch an.
Kinder besuchten zuvor eine deutsch-französische
Grundschule, in der sie zweisprachig alphabetisiert Die Grundschule B7, die 400 Schüler zählt, befin-
wurden und in Klasse 3 mit dem Englischen ver- det sich in einem Berliner Viertel mit starker türki-
traut wurden. NRW1 leitet zwei bilinguale Pro- scher Konzentration. Sie bietet ein bilinguales
gramme – deutsch-französisch und deutsch-eng- deutsch-türkisches Programm an, nach dem Prin-
lisch. Der Zweitspracherwerb ist in die Immersions- zip „one teacher-one language“. Mathematik wird
programme in allen Fächern eingebettet. Ab der 7. auf Deutsch und Erdkunde, Geschichte und Natur-
Klasse werden Fächer wie Geschichte, Erdkunde kunde werden auf Türkisch gelehrt. Das Programm
und Politik auf Französisch unterrichtet und natur- wurde auf Initiative von deutsch- und türkisch stäm-
wissenschaftliche Fächer wie Physik werden auf migen Eltern gegründet. Vorgesehen war, dass
Englisch vermittelt. Mich beeindruckte sehr das 50 % der SchülerInnen Türkisch und 50 % Deutsch
Niveau des Englischen in den höheren Klassen. als Muttersprache haben. In Wirklichkeit stammen
Mehrere von den SchülerInnen sprechen zu Hause viele der teilnehmenden Kinder aus „Mischehen“
Englisch oder Französisch oder sind in den jeweili- und aus bikulturellen Familien. Die Schulleiterin
gen Ländern aufgewachsen. Die Klassen werden sieht die Mehrsprachigkeit als „Bereicherung“
nicht nach Muttersprachlern und Nicht-Mutter- (lt.frdl.Mittl. Christel Kotzmann-Mentz). Die Kinder
sprachlern getrennt; stattdessen wird das Lernen haben auch die Möglichkeit, den türkischen Teil
voneinander gefördert. Dies ist die einzige Schule ihrer Herkunft zu entfalten. Englisch wird in der
Nordrhein-Westfalens mit drei verbindlichen 3. Klasse als Arbeitsgemeinschaft, in der 5. als vol-
Fremdsprachen – Französisch und Englisch wer- les Fach eingeführt. Die Kinder sprechen unterein-
den mit wechselndem Schwerpunkt mindestens ander und auch zu Türkischlehrern vorwiegend
sechs Jahre gelehrt; Spanisch oder Latein werden Deutsch, obgleich 50 % des Lehrpersonals türki-
drei Jahre unterrichtet. Im deutsch-französischen scher Herkunft sind. Wie Labig-Fohsel (2000) es
Zweig werden SchülerInnen sowohl auf das franzö- ausdrückt, „Von dem Makel des Defizitären und
sische Baccelauréat wie auch auf das deutsche Kompensatorischen befreit und mit dem Prädikat
Abitur vorbereitet, im deutsch-englischen für das der Gleichwertigkeit versehen“, lassen Eltern auch
Internationale Baccalaureat und das Abitur. eine Migrantensprache ohne großes Sozialprestige
wie das Türkische als Lehrangebot für ihre Kinder
Das nächste Beispiel, die Gesamtschule B1 unter- schätzen! Das türkische Programm an der Gesamt-
hält ein bilinguales englisch-deutsch Programm, schule B2 baut auf das Programm der Schule B7
wobei zwei Sachfächer auf Englisch unterrichtet auf, die mit derselben Schule das Gelände teilt. B2

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 19


hat englisch-deutsche und türkisch-deutsche Euro- besteht nicht die Möglichkeit beides nebeneinander
paklassen. zu lernen. Dann würden meines Erachtens die
Schüler weniger Interferenzen ausgesetzt sein.
Die Schule B2 ist eine Gesamtschule mit englisch- Das wäre offensichtlich über den muttersprach-
deutschen und türkisch-deutschen Europaklassen lichen Unterricht möglich. Schüler können in der
mit 70 bzw. 93 TeilnehmerInnen. Die Zahl der Nicht- 10.Klasse entscheiden, ob Englisch oder Portugie-
Türkischstämmigen in den Europaklassen hat sisch ihre „erste FS“ ist. Die Nutzung von sprach-
abgenommen, da einige und insbesondere Schüle- lichen Ressourcen in der Einwanderergemein-
rInnen deutscher Herkunft schwer fällt Fächer wie schaft wird ermutigt.
Biologie, Erdkunde und Geschichte auf Türkisch zu
folgen; andere wurden aufgrund ihrer guten Leis- Tabelle 1 – Fremdsprachenangebot an Berliner
tungen in ein Gymnasium aufgenommen, was sie Schulen:
auch vorzogen. Türkisch wird von 111 Mutter-
sprachlern als 2. FS gelehrt; erste FS ist meist Eng- • Fremdsprache:
lisch, in manchen Fällen (53 SchülerInnen) Franzö- – Englisch alle Grundschulen
sisch. Die Klassengrößen sind angemessen. Die – Französisch 68 Schwerpunktschulen
Englischlehrerin bemerkt, dass die Kinder aus dem & 44 weiterführende
bilingualen türkisch-deutschen Zweig ein ausge- Schulen
prägtes sprachliches Bewusstsein haben und für
Sprachen offener sind als viele andere, die Angst • 2. Fremdsprachen:
vor der Kommunikation in der FS haben. Zu den – Englisch 44 Schulen (obligatorisch
grundlegendsten Problemen zählt u.a. der Mangel bei 1. FS Französisch)
eines Programms Türkisch als Fremdsprache, da – Französisch alle Real- und Gesamt-
hierfür in Berlin keine Lehrer ausgebildet werden. schulen und Gymnasien
– Italienisch 3 Schulen (2004/05:
Das letzte Beispiel, die Gesamtschule HH3 bietet
1,331 Schüler,
ein bilinguales Europa-Schulprogramm für Portu-
2./3. Fremdsprache)
giesisch an; außerdem erfolgt muttersprachlicher
– Japanisch 1 Schule (Schulversuch)
Unterricht in Türkisch, ein Immersionsprogramm für
das Englische und ein Anfängerkurs in Spanisch ab – Polnisch 1 Schule (2004/05:
der 7. Klasse. Gewählt wurde Portugiesisch, weil es 142 Schüler,
im Gegensatz zum Türkischen als kulturelle 2./3. Fremdsprache)
„Dimension empfunden wurde“. Von den 870 Schü- – Russisch 49 Schulen (2004/05:
lerInnen nehmen 250 am portugiesischen bilingua- 5,894 Schüler)
len Programm teil, davon sind 150 portugiesische – Spanisch 43 Schulen (2004/05:
Muttersprachler. Der bilinguale Unterricht wird 10,714 Schüler)
durch Teamteaching und nicht durch das Interlocu-
– Türkisch 9 Schulen (2004/05:
tor-Prinzip vermittelt. Gleich wie in den anderen
731 Schüler)
Gesamtschulen scheiden viele begabte Kinder (ein
Drittel der Gesamtschülerzahl) aus, um ein Gymna- • 3. Fremdsprachen:
sium zu besuchen. Die Klassen werden durch neue – Italienisch 10 Schulen (s. oben)
Schüler portugiesischer Herkunft gefüllt. Nur ein – Japanisch 5 Schulen
Hamburger Gymnasium bietet Portugiesisch in der (2004/05: 328 Schüler)
Oberstufe an. Auch in der Schule HH3 fällt das
– Chinesisch schulübergreifendes
hohe metasprachliche Bewusstsein der SchülerIn-
Angebot
nen des bilingualen Programms im Englischunter-
richt auf. Der bilinguale Unterricht Sachkunde wird – Polnisch 1 Schule (s. oben)
in der 4. Klasse auf Portugiesisch unterrichtet. Von
der 5.Klasse an gibt es 4 Wochenstunden Portugie- Quellen: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und
sisch-Unterricht wobei auch der Politik-Unterricht in Sport (2005) Bildung für Berlin: Fremdsprachen
dieser Sprache erfolgt. Hier kann ab der 7. Klasse in der Berliner Schule. Schuljahr 2005/2006.
eine zusätzliche 3. FS gelernt werden. Viele wählen (www.sensjs.berlin.de) und Senatsverwaltung für
Portugiesisch ab und lernen Spanisch. Leider Bildung, Jugend und Sport, 16. Juni 2005 (Email)

20 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Tabelle 2 – Fremdsprachenangebot Tabelle 3 – Fremdsprachenangebot
an Hamburger Schulen: in Nordrhein-Westfalen

– Arabisch 1 Gymnasium • ab 5. Klasse:


– Chinesisch 4 Schulen – Englisch alle Schulen
– Englisch 323 Schulen – Französisch 50 Schulen
– Farsi 2 Schulen – Italienisch 2 Schulen
– Französisch 164 Schulen – Spanisch 2 Schulen
– Hebräisch 1 Schule – Türkisch 5 Gymnasien
– Italienisch 9 Schulen
• ab 7. Klasse:
– Japanisch 3 Schulen
– Englisch 119 Schulen
– Polnisch 1 Gymnasium
– Französisch 802 Schulen
– Portugiesisch 3 Gymnasien
– Italienisch 4 Schulen
– Russisch 21 Schulen
– Portugiesisch 2 Schulen
– Spanisch 122 Schulen
– Russisch 1 Schule
– Türkisch 13 Schulen
– Spanisch 10 Schulen
– Türkisch 43 Schulen
Quelle:http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/
behorden/Bildung-Sport/service/statistik • ab 9. Klasse:
(Anzahl Klassen und Anzahl Schüler sind aus – Englisch 11 Schulen
diesen Angaben nicht ersichtlich)
– Französisch 449 Schulen
– Italienisch 18 Schulen
– Polnisch 1 Gymnasium
– Russisch 25 Schulen
– Spanisch 80 Schulen
– Türkisch 2 Schulen
• ab 11. Klasse:
– Chinesisch 2 Gymnasien
– Englisch 16 Schulen
– Französisch 171 Schulen
– Italienisch 107 Schulen
– Portugiesisch 1 Schule
– Russisch 45 Schulen
– Spanisch 411 Schulen
– Türkisch 7 Schulen

Quelle:
www.bildungsportal.nrw.de/BP/Schule/System/
SchuleSuchen/
(Anzahl Klassen und Anzahl Schüler sind aus
diesen Angaben nicht ersichtlich)

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 21


Tabelle 4 – Eine Auswahl von Schulen mit Fremdsprachenangebot in Herkunftsprachen: Umfrageergebnisse

22
29 Schulen wurden angeschrieben, 13 Schulen (45 %) haben geantwortet (3 Schulen haben 2 Fokussprachen, die gesondert aufgeführt sind; deshalb
umfasst die Tabelle insgesamt 16 Items).

Abkürzungen: MS = Muttersprache bzw. Muttersprachler; FS = Fremdsprache bzw. Fremdsprachler; B = Berlin, HH = Hamburg, NRW = Nordrhein-Westfalen
(Raum Bonn/Köln).

Schule Schultyp unterrichtete Fokussprache als ... ab ... für wen? Anzahl Schüler Bemerkungen
Sprachen
insges. bilingual Fokus- MS
sprache

B1 Gymnasium E (auch bilingual), Polnisch 3. FS, Wahl- Kl.9 bis MS & FS 1026 (250) 75 40 Kurse nach Vorkenntnissen eingeteilt,
F, L, Polnisch pflichtfach Abitur „legen besonderen Wert darauf,
dass Schüler rein deutschen Hinter-
grundes Polnisch lernen“

B2 Gesamtschule E (auch bilingual), Türkisch 1. FS auf Kl.7-10 MS & FS 1250 93 156 220 Zusammenarbeit mit/aufbauend auf
mit Europa- F, L, Türkisch MS-Niveau, Aziz-Nesin-Grundschule
klassen bilingual
2. FS, Wahl- Kl.7 bis MS 163
pflichtfach Abitur

B3 Gesamtschule E, F, Türkisch Türkisch 2. FS, Wahl- Kl. 7 od. 9 MS 671 – 37 37 2005 erstmals Angebot für FS, aber
pflichtfach zu geringe Nachfrage, ebenso für
Wahlpflichtkurs 7.Kl.
Kein Angebot auf Oberstufe

B4 Gymnasium n/a Russisch nur in AG

B5 Grundschule/ E, Port Portugies. Bilingualer Kl. 1 MS & FS 356 248 248 104 auch portugiesische Nachmittags-
Europaschule Pflichtunterricht betreuung und AGs

B6 Gymnasium E, F, L, AltGr, Port Portugies. 1. FS, bilingua- Kl.7 MS & FS 592 45 (+77) 45 22 im Aufbau, erst Kl. 7 & 8, aufbauend
& NeuGr (bilingual) les Angebot auf bilingualen Unterricht seit Kl.1

HH 1 Gymnasium E, F, L. Sp, Port Arabisch 3. od. 4. FS Kl.11-13 (FS)* 750 – 81 6-8 * dte Schüler mit Interesse an
Arabisch (+ Türk., (ohne Vor- Sprache/Kulturraum, türkische,
Russ., Poln., Chin. kenntnisse) iranische u. afghanische Schüler mit
an Partnerschulen) Interesse an Sprache des Koran,
arabische Schüler MS als Schrift-
sprache

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


4A. Berliner Europaschulen Tabelle 5 – Humboldtianer-Fragebogen zum
Die Unterrichtssprachen außer Deutsch sind: Eng- Gebrauch des Deutschen
lisch (36 Schulen), Französisch (11), Spanisch (6),
Italienisch, Russisch und Neugriechisch (je 4), Por- • Fachgespräche 58 (75,32 %)
tugiesisch (3), Polnisch und Türkisch (2). • Fachliteratur 55 (71,43 %)
• Emails 54 (70,13 %)
• Veröffentlichungen 23 (29,88 %)
• trifft nicht zu 34 (44,16 %)

• Einkaufen 70 (84 %)
• nach dem Weg fragen 64 (77 %)
• Verkehrsmittel 65 (78 %)
• Behörden 38 (46 %)
• trifft nicht zu 10 (12 %)

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 23


Tabelle 6 – Radiosendungen in anderen Sprachen (die drei öffentlich-rechtlichen und fünf lokalen
Sender mit den meisten herkunftssprachlichen Sendungen

Lokal- und öffentlich-rechtliche Insgesamt


Sprache Bürgerradios Radios (Std.:Min./Woche)

Albanisch 2 0:45 2:45


Arabisch 2 2:30 4:30
Aserbaidschanisch 1 – 1
Bosnisch 3:30 3:30
Englisch/Französisch für Afrikaner 4:45 4:45
Farsi/Persisch 4 1:15 5:15
Georgisch/Deutsch 0:30 0:30
Griechisch 3:30 14 17:30
Griechisch/Deutsch 1:30 1:30
Italienisch 8:30 10:45 19:15
Italienisch/Deutsch 0:15 0:15
Kroatisch 2 4:30 6.30
Kurdisch 6 2:30 8:30
Mazedonisch 0:45 0:45
Polnisch 2 6:50 8:50
Portugiesisch 3 3
Portugiesisch/Deutsch 1 1
Romanes 0:30 0:30
Rumänisch 1 1
Rumänisch/Deutsch 1 1
Russisch 4 5:50 9:50
Russisch/Deutsch 1 1
Serbisch 1 3:30 4:30
Slowenisch 0:45 0:45
Spanisch 4 7:50 11:50
Spanisch/Deutsch 0:30 0:30
Tamil 1 – 1
Tigrinja 6.45 6:45
Tschechisch/Deutsch 0:30 – 0:30
Türkisch 13 18 31
Türkisch für Aleviten 3 3
Türkisch/Deutsch 4:15 4:15
Ungarisch 1 1
Ungarisch/Deutsch 1 1
Vietnamesisch 0:45 0:45
Insgesamt 84 85 169
Sorbisch 29:30 *

* im Sprachgebiet (MDR und RBB)

24 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


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28 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Sprachen als Medium der Vorsitzende des deutschen Wissenschafts-
rates.

in Hochschule und Moderiert wurde das Gespräch von Prof. Dr. Dr.
h.c. Konrad Ehlich, der den Mitgliedern des Pa-
Forschung nels zuvor dreizehn „Thesen und Fragen zur
Wissenschaftssprache Deutsch“ vorgegeben
hatte. Diese stehen der Dokumentation voran;
von Konrad Ehlich ebenso kurze Abstracts, in denen die Mitglieder
des Panels ihre Grundposition knapp und präzi-
1. Einführung se zusammengefasst haben.
Vom 27. – 29. September 2006 wurde auf Ein-
ladung der Alexander von Humboldt-Stiftung Die Panel-Diskussion wurde von Diana Kühndel
und der Deutschen Welle ein Expertengespräch M.A. und Kristin Stezano Cotelo M.A. vom Insti-
zum Thema „Braucht Deutschland eine bewuss- tut für Deutsch als Fremdsprache / Transnatio-
tere, kohäsive Sprachenpolitik?“ veranstaltet. nale Germanistik der Ludwig-Maximilians-
Dieses Gespräch wurde zu Ehren von Prof. Dr. Universität München verschriftlicht und vom
h.c. Michael Clyne Ph.D., veranstaltet und durch Herausgeber redaktionell überarbeitet.
ein Basisreferat von ihm eingeleitet.
2. Die Thesen und Fragen
Einer der Themenbereiche befasste sich mit
„Sprachen als Unterrichtsmedium in Hochschule Wissenschaftssprache Deutsch
und Forschung“. Die folgenden Seiten dokumen-
tieren die Panel-Diskussion, die bei dieser Gele- Konrad Ehlich
genheit stattfand. Fünf Teilnehmer tauschten 1. Die neuzeitliche (west-)europäische Wis-
Erfahrungen, Auffassungen und pointierte senschaftsentwicklung beginnt mit der Ablö-
Standpunkte aus: sung von der Wissenschaftssprache Latein
− Frau Janine Nuyken als Vizepräsidentin der und geht mit der Ausbildung nationaler
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an Sprachen zu eigenständigen Wissen-
der Oder schaftssprachen Hand in Hand.
− Prof. Dr. Dr.h.c. mult. Theodor Berchem ist
gegenwärtig der Präsident des Deutschen Ist dieser Weg der Wissensentwicklung
Akademischen Austauschdienstes und war - ein Irrweg?
zuvor schon in vielfältigen wissenschafts- - eine Zwischenetappe zu einer erneuten
administrativen Zusammenhängen aktiv, un- wissenschaftlichen Einsprachigkeit?
ter anderem als Präsident der Universität - ein Fortschritt für die Wissenschaftsent-
Würzburg wicklung?
− Prof. Dr. Eberhard Liebau von der Universi- - eine nützliche / eine notwendige Diffe-
tät Hamburg, der zuvor an einer kleinen, renzierung?
selbständigen Universität tätig war, die jetzt
sozusagen in die größere Universität Ham- 2. Wissenschaftssprachen entwickeln sich zu
burg „eingemeindet“ wurde, ist Betriebswirt- einem gewissen Teil naturwüchsig, zu ei-
schaftler nem anderen durch explizite und implizite
− der Mediziner Prof. Dr. med. Ralph Mocikat konstruktive Verfahren (z.B. Terminologie-
von der Ludwig-Maximilians-Universität planung) sowie die Sozialisation der wissen-
München brachte die Sprachensituation in schaftlichen NovizInnen in der jeweiligen
seinem Fach und damit einer Naturwissen- Wissenschaftssprache.
schaft ein
− Prof. Dr. Peter Strohschneider, ebenfalls Lohnen sich Aufwendungen für den Erhalt,
von der Ludwig-Maximilians-Universität, die Weiterentwicklung und die Verbreitung
germanistischer Mediävist, ist gegenwärtig mehrerer Wissenschaftssprachen?

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 29


3. Nationen mit einer eigensprachlichen Wissen- Welche Möglichkeiten für die Förderung einer
schaftsstruktur weisen sehr unterschiedliche Komparatistik der gegenwärtigen Wissen-
Infrastrukturen für den Unterhalt und die Wei- schaftssprachen gibt es?
terentwicklung ihrer Wissenschaftssprache auf.
Die deutsche sprachliche Wissenschaftsinfra- 7. Es bestehen enge Zusammenhänge zwischen
struktur ist wenig entwickelt. Sprache, Wissen und Denken. Sie sind bisher
wissenschaftlich nicht hinreichend aufgeklärt.
Ist eine stärkere institutionelle Sprachentwick-
lung in den deutschsprachigen Ländern (in der Welche Rolle spielen Sprachen für die Entste-
Gestalt einer Akademie oder als Aufgabe einer hung von neuem Wissen?
„Agentur für die deutsche Sprache“) Wie und durch welche Disziplinen können Bei-
– erforderlich? träge zu einer genaueren Aufklärung des Ver-
– wünschenswert? hältnisses von (Einzel-)Sprache, Wissen und
– überflüssig? Denken gewonnen werden?

4. Die Rolle der Sprache für die Wissensge- 8. Wissenschaftssprachen sind eine wichtige bil-
winnung und die Wissensweitergabe ist offen- dungsökonomische und ökonomische Res-
bar disziplinspezifisch bzw. gilt für ganze source. Die Anglisierung der Wissenschaft
Gruppen von Disziplinen in unterschiedlicher bedeutet die Aufgabe dieser Ressource für die
Weise. anderen nationalen Wissenschaftskulturen.

Rechtfertigt dies unterschiedliche Politiken für Ist diese Entwicklung zu begrüßen?


die Sprachnutzung und Sprachentwicklung in Ist sie zu kritisieren?
den einzelnen Bereichen der Wissenschaf- Wenn letzteres: Welche wissenschaftspoliti-
ten? schen, politischen und ökonomischen Möglich-
keiten gibt es, um sie zu beeinflussen?
5. Wissenschaft in demokratischen Gesellschaf-
ten ermöglicht und erfordert den beständigen 9. Wissenschaftliche Leistungen werden zuneh-
vertikalen Wissensaustausch zwischen den (z. mend durch Verfahren wie Zitatenindices etc.
T. hochgradig spezialisierten) Disziplinen und „gemessen“. Diese Verfahren haben offensicht-
der Öffentlichkeit als dem Ort der demokrati- lich, gelinde gesagt, eine starke anglo-amerika-
schen Legitimierung und der wissenschaftsbe- nische Schieflage.
zogenen Zukunftsentscheidungen. Die Mög-
lichkeiten der sprachlichen Partizipation am Welche Möglichkeiten zur Entwicklung und
Wissensaustausch sind dafür unabdingbar. zum Einsatz eines europäischen mehrsprachi-
Das erfordert jedenfalls für die großen Sprach- gen Zitatenindex gibt es?
gemeinschaften Wissenschaft in den nationa-
len Sprachen. Welche politischen Ansprechpartner sind dafür
in den nationalen und den transnationalen
Welche Konsequenzen für die wissenschafts- europäischen Zusammenhängen auszuma-
sprachlichen Anforderungen ergeben sich hie- chen?
raus
– ethisch? 10. Wissenschaftskommunikation beschränkt sich
– gesellschaftlich? nicht auf die Publikation und Dokumentation
– politisch? neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie ist
– bildungspolitisch? vielmehr zunehmend auch eine personale
Kommunikationsform der unmittelbaren Begeg-
6. Über die Leistungsfähigkeit und die Grenzen nung auf Tagungen, Kongressen usw. Hierfür
der verschiedenen europäischen Wissen- spielen alltagskommunikative Fähigkeiten eine
schaftssprachen ist wenig bekannt. Wissen- nicht unerhebliche Rolle. Die sprachlichen
schaftliche Untersuchungen dazu und sprach- Ressourcen der eigenen Muttersprache sind
wissenschaftliche vergleichende Forschung meist wesentlich stärker entwickelt als die in
dazu findet erst in Ansätzen statt. einer Fremdsprache.

30 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Welche Erfahrungen ergeben sich im interna- Wer nach Koordinierung oder gar Steuerung fragt,
tionalen Bereich für die Kommunikation im wirft schwierige Rechts- und Verfahrensfragen auf.
Rahmen der „Wissenschaftssprache Englisch“ Hinzu kommt, dass selbst Experten sich nicht auf
für Nicht-MuttersprachlerInnen des Englischen einheitliche Positionen einigen können, wie in
hinsichtlich dieser Aspekte der Wissenschafts- Diskussionen mit ähnlichen Fragestellungen immer
kommunikation? wieder erfahrbar wird:
Zu Themen wie
11. Die verstärkte internationale Mobilität führt Wis- • Deutsch als Wissenschaftssprache,
senschaftlerInnen in andere (Sprach-)Kulturen. • Gebrauch von Anglizismen oder
Bei mangelnder sprachlicher Vorbereitung für • Sprache und Integration
diese Prozesse entstehen Wissenschaftler-
ghettos, die eingekapselt in ihren Gastkulturen finden sich äußerst kontroverse Positionen, die die
existieren. Etablierung einer kohärenten Sprachenpolitik wei-
ter erschweren.
Welche Möglichkeiten einer realistischen
Sprachunterstützung für die internationale, ins- Bleibt die Hoffnung, dass sich in wesentlichen
besondere auch für die europäische Wissen- Grundpositionen Schritt für Schritt ein Konsens he-
schaftlerInnen-Migration gibt es? rausbildet – und dass ein solcher Konsens dann von
der Schule bis zur EU-Bürokratie umgesetzt wird.
12. Mehrsprachigkeit wird in den Wissenschaftsin-
stitutionen bisher kaum als Qualifikations-Plus Gerade weil das Englische als lingua franca im glo-
angesehen. balen Diskurs dominierend ist, scheint es mir dabei
weder begründet noch aussichtsreich, dem Engli-
Wie lassen sich die Parameter so organisieren, schen und seiner Funktion frontal entgegenzutre-
dass sich das ändert? ten. Als pragmatische internationale Kommunika-
tionssprache, als Sprache der Informationstechno-
13. Sprachqualifizierung von WissenschaftlerInnen logie und der Naturwissenschaften hat sich das
erscheint bisher weithin als Bringschuld des/ Englische fest etabliert.
der Einzelnen. Dies verkennt die gesellschaftli-
che Bedeutung der wissenschaftlichen Mehr- Dies hat für die Kommunikation auch unbestreit-
sprachigkeit. bare Vorteile. Gleichwohl haben die großen Natio-
nalsprachen allen Grund, in bestimmten Ge-
Welche institutionellen und bildungspolitischen brauchsfeldern ihre Stellung zu verteidigen.
Möglichkeiten zu einer verbesserten Vermitt-
lung mehrsprachiger Kompetenzen bestehen in Wer diese Haltung vertritt, muss freilich auch dazu
der Wissenschaft? stehen, dass das Deutsche und Französische in
Europa als Fremdsprachen und grenzüberschrei-
3. Die Abstracts tende Sprachen bedeutsamer sind als etwa das
Dänische oder das Finnische.
Theodor Berchem
Sprachenpolitische Fragen erfahren seit etwa zehn In einigen Bereichen sind die Dinge noch im Fluss,
Jahren eine deutlich zunehmende Aufmerksamkeit. und gerade hier bietet sich die Möglichkeit, dezi-
Ich begrüße das ausdrücklich. Dabei sollten wir uns diert Einfluss zu nehmen:
– und dazu bietet dieses Colloquium eine gute – Stichwort Arbeitssprachen in der EU:
Plattform – vor allem der Frage stellen, wie die Eine gleichberechtigte Stellung des Deutschen
wohlbegründeten Positionen der Experten in eine neben dem Englischen und dem Französischen
effiziente politische Praxis münden können. steht noch aus,
– Stichwort moderne Fremdsprachenkenntnisse:
Die Frage ist hier in Deutschland allemal nicht Diese sind bei den Absolventen unserer Schu-
leicht zu beantworten: Wir haben bekanntlich eine len beklagenswert schlecht. Wichtig wäre auch,
große Zahl von dezentralen und selbständigen in Grenzregionen mehr für die jeweilige Nach-
Akteuren und nur eine schwache Bundeszustän- barsprache zu tun, z. B. für das Polnische, aber
digkeit. auch für das Französische.

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 31


– Stichworte Publikationen und Kongresssprache: In den sprachbasierten Wissenschaften wie
Hier würde ich mir eine bedachtere Verwendung Geschichte, Philologie, Psychologie, Soziologie
des Deutschen wünschen. oder Jura ist es besonders wichtig, dass das Deut-
– Stichwort Zeitgeist: Oft fehlt eine überlegte Ver- sche Lehr- und Publikationssprache bleibt: Denn in
wendung des Deutschen – sogar in unseren die Sprache sind Geschichte, Methodik und
wichtigsten Institutionen. Erkenntnisinteressen dieser Fachgebiete direkt
Die Bereitschaft zur Anpassung an modische eingegangen. Eine englische Terminologie würde
Trends geht oft so weit, dass es schon bizarr deshalb andere Inhalte vermitteln.
wirkt.
– Schließlich das Stichwort Kooperation: Ich schließe mich der implizit von Herrn Ehlich for-
Bei der Förderung und Unterstützung der zahl- mulierten Anregung ausdrücklich an: Viele Fragen
reichen Germanistenverbände im Ausland wäre an der Nahtstelle von Sprache, Kognition und
eine bessere Bündelung der Aktivitäten und Begriffsbildung sind noch offen, und wir wissen
Informationen wünschenswert: Hier könnte der auch noch lange nicht genug über die spezifischen
deutsche Germanistenverband stärker als bis- Leistungen der verschiedenen Nationalsprachen
her aktiv werden. als Wissenschaftssprachen.

Nun zum Bereich Hochschule und Wissenschaft. Um das Deutsche als Wissenschaftssprache zu
stützen, wäre aus meiner Sicht eine Kombination
Herr Kollege Ehlich hat dazu zielführende Fragen verschiedener Ansätze erforderlich:
formuliert, die ich mit aufnehme: 1. Wichtig ist eine selbstbewusstere, angemes-
Die großen europäischen Nationalsprachen sene Verwendung des Deutschen für Publikatio-
haben sich zu leistungsfähigen Wissenschafts- nen und auf Kongressen.
sprachen entwickelt. Wir werden mit der Einsicht 2. Hinzu kommt die Notwendigkeit eines klaren
leben müssen, dass diese Situation nicht aufrecht politischen Willens der prominenten Institutio-
zu erhalten ist. Für die Naturwissenschaften sind nen, also der Akademien, der DFG, der HRK
die Entscheidungen längst getroffen: Ihre Sprache und anderer mehr.
ist weltweit wie gesagt das Englische. Andere 3. Ob man in unseren Partnerländern Deutsch
Sprachen entwickeln sich terminologisch nicht lernt, um in Deutschland zu studieren, hängt
mehr ausreichend rasch oder hinreichend diffe- entscheidend von der Qualität der Forschung
renziert. und vom Rang der Publikationen ab: Wissen-
schaftliche Spitzenleistungen sind insofern auch
Deutsch bleibt allerdings an den deutschen Hoch- die beste Deutschförderung.
schulen in der überwiegenden Zahl der Fälle Unter-
richtssprache. Ob es angesichts der Vielzahl von Trägern und
Institutionen wirklich einen Schritt voran bedeutet,
Die Lehrangebote in Englisch – die nur ca. drei Pro- eine zusätzliche Institution zu schaffen, etwa eine
zent der Lehrangebote ausmachen – ändern daran weitere Akademie, sollte sehr genau bedacht wer-
nichts. den.

Es gibt auch keine Argumente gegen gute Eng- Ich neige zur Zeit nicht dazu, dies zu befürworten.
lischkenntnisse bei deutschen Studierenden und Wir brauchen aber dringend einen Verhaltenskodex
Lehrenden – im Gegenteil: für den Umgang mit unserer Muttersprache im Wis-
Hier gibt es sogar bedauerliche Defizite! senschaftsbereich.

Eine verbesserte Ausbildung in modernen Fremd- Es wäre ein Schritt voran, wenn die vorhandenen
sprachen ist ein Desiderat, und, das sei hier aus- (und durchaus ja einflussreichen) Institutionen zu
drücklich erwähnt, eine verbesserte muttersprachli- mehr Gemeinsamkeit in sprachenpolitischen Fra-
che Ausbildung nicht minder. gen fänden – wir sollten dieses Colloquium als
Plattform nutzen, um über realistische und gang-
Bei unseren Studierenden ist die Beherrschung der bare Möglichkeiten nachzudenken, dieses wichtige
eigenen Muttersprache in Wort und Schrift oft Zwischenziel zu erreichen!
beklagenswert schlecht.

32 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Eberhard Liebau Auslandspraktika zu absolvieren und dabei wert-
volle interkulturelle Erfahrungen zu sammeln.
Plädoyer für einen bi-lingualen Unterricht (Eng-
lisch und Deutsch) in internationalen Master- Für die ausländischen Studierenden bildet die Mög-
Programmen an deutschen Universitäten lichkeit, an einer deutschen Universität auf Englisch
Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der studieren zu können, einen enormen Anreiz, zum
europäischen Integration muss Englisch heutzu- Studium nach Deutschland zu kommen. Ein großer
tage in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Teil der ausländischen Teilnehmer unserer Master-
als die Lingua Franca angesehen werden. Programme ‚Master of International Business Admi-
nistration‘ und ‚Master of European Studies‘ hätte
Meine eigenen internationalen Erfahrungen und die sich nicht für eine deutsche Universität entschie-
Erfahrungen mit den an unserer Fakultät angebote- den, wenn die Programme nicht schwergewichtig in
nen internationalen Master-Programmen (‚Master Englisch angeboten würden. Ein Programm in aus-
of International Business Administration‘ und schließlich deutscher Sprache wird den beruflichen
‚Master of European Studies‘) bestärken mich in Anforderungen im internationalen Management
folgender These: nicht gerecht und bringt im Hinblick auf die Entwick-
Sowohl für die berufliche Praxis von international lung interkultureller Sensibilität und das Verarbeiten
orientierten Hochschulabsolventen in Wirtschaft englischsprachiger Literatur für die ausländischen
und Politik als auch in den entsprechenden Berei- Studierenden die gleichen Probleme wie für die
chen von Wissenschaft und Forschung ist ein prak- deutschen Studierenden. Um ausländische Eliten
tisches Arbeiten ohne verhandlungssichere und für ein Studium und damit einen längeren Aufent-
fachlich einschlägige Englischkenntnisse heutzu- halt in Deutschland zu gewinnen, bildet die eng-
tage kaum mehr vorstellbar. lischsprachige Orientierung bestimmter Programme
einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. Für unabding-
In unseren internationalen Programmen geht es bar halte ich es allerdings, dass die ausländischen
um zwei unterschiedliche Gruppen von Studieren- Teilnehmer neben guten Englischkenntnissen
den: 1. Deutsche Studierende; 2. Ausländische Stu- (TOEFL) auch bereits Grundkenntnisse in Deutsch
dierende. haben. Diese Deutschkenntnisse können in der
Anfangsphase des Studiums in Deutschland dann
Um die deutschen Teilnehmer internationaler relativ leichtgängig systematisch vertieft werden,
Master-Programme zu befähigen, nach ihrem Stu- sodass die ausländischen Studierenden dann im
dium als Führungskräfte oder Wissenschaftler in Fortgang des Studiums auch mehr und mehr auf
internationalen Unternehmen/Organisationen bzw. Deutsch unterrichtet werden können. Die hier er-
in internationalen Zusammenhängen erfolgreich worbenen Deutschkenntnisse haben für den aus-
tätig zu sein, sollten relevante Teile des Lehrange- ländischen Studierenden einen größeren Wert als
bots der jeweiligen internationalen Master-Pro- eine weitere von ihnen beherrschte Fremdsprache.
gramme auf Englisch durchgeführt werden. Neben Entscheidend für die Forderung, neben Englisch
diesen berufspraktischen Aspekten, spricht auch auch die deutsche Sprache systematisch im Unter-
schon der Umstand, dass weltweit ein Großteil der richt zu verankern, ist die nur dadurch garantier-
state of the art Fachliteratur in Englisch verfasst ist te Chance für die ausländischen Studierenden,
und wirbt dafür, einen Teil der Kurse unter Verwen- sich während ihres Studiums im deutschen Kul-
dung der englischsprachigen Literatur auf Englisch turraum zu integrieren und die hier gemachten
zu unterrichten. Selbstverständlich setzt dies vo- kulturellen Erfahrungen und hier aufgebaute per-
raus, dass alle Master-Studierenden bereits ausrei- sönliche Beziehungen nach Beendigung Ihres
chende Englischkenntnisse (TOEFL) mitbringen. Aufenthaltes in Deutschland wieder mit in ihr
Deshalb sollten bereits in den Bachelor-Program- Heimatland zurückzunehmen. Das gemeinsame
men einige Lehrveranstaltungen für interessierte Arbeiten in Deutsch und in Englisch erhöht bei den
Studierende auf Englisch angeboten werden – deutschen und bei den ausländischen Studieren-
natürlich mit Anspruch auf Anrechnung als Stu- den die kulturelle Sensibilität und Offenheit fürein-
dienleistung. Der englischsprachige Unterricht ander. Es trägt zu einer Erhöhung sowohl der fach-
erleichtert es den Studierenden darüber hinaus, lichen als auch insbesondere der immer wieder
während ihres Studiums als Austauschstudierende beschworenen überfachlichen Kompetenzen (soft
an ausländischen Universitäten zu studieren bzw. skills) bei.

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 33


Ralph Mocikat Lande auch inhaltlich keine eigenen Akzente mehr
zu setzen imstande oder gewillt ist.
Gedanken zur deutschen Sprache in der
biomedizinischen Forschung Sprache ist konstitutiv für wissenschaftliche
In Wissenschaft und Forschung hat sich die engli- Abstraktion. Das Denken, das neue Ideen hervor-
sche Sprache als lingua franca der weltweiten bringt, ist muttersprachlich verwurzelt. Weder in der
Kommunikation weitgehend durchgesetzt. Insbe- Diskussion mit Kollegen noch in Lehrveranstaltun-
sondere in den naturwissenschaftlichen Fächern gen vor Studenten kann ein Wissenschaftler in
ist Englisch zur alleinigen internationalen Publika- einer Fremdsprache, auch wenn er sie noch so gut
tions- und Kongresssprache geworden. Damit hat beherrscht, hinsichtlich der Treffsicherheit, der sti-
die englische Sprache jene Funktion übernom- listischen Nuancen, der Assoziationen und der
men, die bis ins 18. Jahrhundert das Lateinische Bildhaftigkeit jemals das Niveau von Muttersprach-
und bis zum Zweiten Weltkrieg das Deutsche inne- lern erreichen. Die Erfahrung zeigt, dass in Diskus-
hatten. Darüber hinaus macht sich seit 10 bis 15 sionen oder in Vorlesungen Information verloren
Jahren in Deutschland in immer mehr Disziplinen geht, wenn die Referenten und/oder die Adressa-
eine Entwicklung bemerkbar, die auf die völlige ten keine Muttersprachler sind.
Preisgabe der Landessprache auch im internen
Wissenschaftsbetrieb hinausläuft. In der biomedi- Da verschiedene Sprachen unterschiedliche Zu-
zinischen Forschung ist diese Entwicklung gänge zur Erkenntnis eröffnen, muss das Diktat
besonders weit fortgeschritten. So finden hier einer Einheitssprache überwunden werden. Jeder
nationale Tagungen mit ausschließlich deutsch- Wissenschaftler sollte, zumindest passiv, mehr
sprachigen Teilnehmern, interne Seminarvorträge Sprachen beherrschen als nur die Muttersprache
und alltägliche Laborbesprechungen meistens nur und Englisch. Um Deutsch als wissenschaftstaugli-
noch auf Englisch statt. Auch in der universitären che Sprache vor dem Untergang zu bewahren,
Lehre werden immer mehr Veranstaltungen für muss es wieder ermöglicht werden, Originalartikel
deutsche Studenten in englischer Sprache ange- auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen.
boten. Damit solche Arbeiten unabhängig von dem in den
USA etablierten Bewertungssystem honoriert wer-
So wichtig ein gemeinsames Medium für die inter- den können, ist die Einrichtung einer europäischen
nationale Verständigung ist, so folgenschwer ist der Publikationsdatenbank nötig. Weiterhin ist es zwin-
Verzicht auf die Landessprache im internen Wis- gend erforderlich, dass ausländische Gastwissen-
senschaftsbetrieb. Wissenschaftlicher Diskurs in schaftler und -studenten, wie es ja auch bis vor 10
deutscher Sprache wird immer schwieriger, weil bis 15 Jahren üblich war, die deutsche Sprache
fachspezifische Terminologien nicht mehr gepflegt erlernen und darin unterstützt werden. Auf Tagun-
werden. Einerseits wird dadurch die Vermittlung gen ohne internationale Beteiligung muss es wie-
von Ergebnissen an die Öffentlichkeit, die die For- der erlaubt sein, deutsch zu sprechen, und die uni-
schung mit Steuergeldern finanziert, sowie an die versitäre Lehre sollte in der Landessprache erfol-
Anwender zunehmend erschwert. Das ist in beson- gen. Ausnahmen müssen dabei natürlich für aus-
derem Maße verhängnisvoll in Diziplinen mit ländische Gastreferenten gelten.
unmittelbarem Anwendungsbezug wie in der Bio-
medizin, die an der Schnittstelle zwischen natur- Janine Nuyken
wissenschaftlicher Grundlagenforschung und klini-
scher Praxis steht. Andererseits sinkt eine Spra- „Mehrsprachigkeit als ein Weg zur weiteren
che, die hoch relevante und innovative Bereiche Internationalisierung der Europa-Universität
nicht mehr abzubilden vermag, zu einer zweitklas- Viadrina, Frankfurt (Oder)“
sigen und im Kern bedrohten Sprache herab. Dies Die Viadrina ist eine sehr internationale deutsche
wird insbesondere unseren ausländischen Gast- Universität, 35-40 % ihrer Studierenden kommen
wissenschaftlern bewusst, die in der Regel von nicht aus Deutschland. Die Studierenden kommen
deutscher Sprache und Kultur geradezu ferngehal- aus mittlerweile 70 Nationen aller Kontinente, vor
ten werden. Indem ihnen im wissenschaftlichen All- allem aber Europas. Die größte Gruppe der nicht-
tag die englische Sprache aufgenötigt wird, auch deutschen Studierenden sind, der Grenzlage, der
wenn sie schon viele Jahre hier zugebracht haben, Konzeption und der Aufgabe der Viadrina entspre-
gewinnen sie den Eindruck, dass man hier zu chend, die polnischen Studierenden.

34 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Die Studienprogramme der Viadrina werden in der zum Teil mit Sprachunterricht begleitet werden, auf
Regel in deutscher Sprache abgehalten, Deutsch- jeden Fall verstanden werden können.
kenntnisse auf DSH-Niveau sind Voraussetzung für
die Aufnahme eines Studiums an der Viadrina. Zugleich aber bleibt den Studierenden, ebenso wie
Einige wenige der ausschließlich geistes- und sozi- den Lehrenden, die Muttersprache als differenzier-
alwissenschaftlichen Studienprogramme sind eng- testes Ausdrucksmittel erhalten.
lischsprachig. Die Studierenden fast aller Studien-
programme müssen 2-3 Fremdsprachen lernen Wichtig für die Konzeption des Modells ist, dass wir
und ein Semester im nichtdeutschsprachigen Aus- Sprache nicht nur als technische Kompetenz ver-
land verbringen. stehen, sondern ebenso als Ausdruck von oder
auch einen Schlüssel zu Kultur. Als Schlüssel auch
Wenn auch im Vergleich recht weit gehend, so ist zu Wissenschafts- und Denkkulturen, die in der
die Internationalisierungsstrategie strukturell denen Europäisierung oder Internationalisierung, die sich
vieler Hochschulen der Bundesrepublik ähnlich: Es nur einer Sprache bedient, unterzugehen drohen.
sind im wesentlichen die Studierenden, die die
Internationalisierung durch ihre Herkünfte, ihre grö- Sich diese Denkkulturen und ihre Unterschiede
ßer werdenden Fremdsprachenkenntnisse und ihre bewusst und verständlich zu machen, scheint uns
Auslandsaufenthalte vorantreiben. Nur wenige der für das künftige Europa von herausragender
fest angestellten Professorinnen und Professoren Bedeutung.
sind nichtdeutscher Nationalität.
Überdies ist eine hohe und vielfältige Sprach- und
Die Fremdsprache, die wie ein Synonym für Inter- Kulturkompetenz aus unserer Sicht eine der ent-
nationalisierung der Lehre zu stehen scheint, ist scheidenden Schlüsselqualifikationen für die
Englisch. Leider handelt es sich, wie zahlreiche Zukunft, für die wir jetzt ausbilden müssen.
Beobachtung an verschiedensten Orten der Welt
zeigen, selten um wirklich gutes Englisch, sondern Peter Strohschneider
eher um eine Art academic pidgin english. Vor Sprachen sind nicht lediglich austauschbare Instru-
allem für die Geistes- und Sozialwissenschaften ist mente der Präsentation von auch in anderer Weise
das ein Problem. verfügbarem Wissen oder vorgängiger Erkenntnis.
Jedenfalls in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissen-
Für beide Aspekte werden wir in den kommenden schaften sind Sprachen vielmehr in mannigfacher
Jahren eine Alternative erproben: Hinsicht selbst Medium der Erkenntnisproduktion.
Zum einen verstärkt die Viadrina künftig die Inter- Es ist deswegen die Vielfalt der Sprachen – und mit
nationalisierung des Lehrkörpers durch nichtdeut- ihr die Diversität der intellektuellen Stile, Begriffsbil-
sche, genauer gesagt polnische, französische und dungsformen und Argumentationsduktus – von he-
englische bzw. amerikanische Lehrende. rausragender Bedeutung für angemessene Komple-
xität und intellektuelle Dynamik der wissenschaft-
Zum anderen, damit aber eng verknüpft, werden lichen Kommunikation. Zur Sicherung dieser Vielfalt
wir mit diesen Lehrenden ein neues Mehrsprachig- gehört auch die Pflege des Deutschen als einer in
keitsmodell für das Studium erproben: den genannten Fächergruppen nach wie vor interna-
Die Grundidee ist einfach: Lehrende mit den Mut- tional besonders wichtigen Wissenschaftssprache.
tersprachen Polnisch, Deutsch, Französisch oder
Englisch unterrichten (in ausgewählten Modellstu- 4. Die Diskussion
diengängen im Masterbereich) in ihrer Mutterspra-
che, die Studierenden dieser Studiengänge müs- Ehlich
sen drei der vier Sprachen so beherrschen, dass Es geht in diesem Panel um Hochschule und For-
sie diesen Lehrveranstaltungen folgen können. Die schung und die Rolle der Sprachlichkeit dabei. Ich
Anforderung von drei Sprachen bei den Studieren- denke, die Problematik und die Thematik werden
den stellt sicher, dass die Studierenden auf jeden zunehmend in der Universität, aber auch in der
Fall in der Lage sind, sich untereinander zu ver- Öffentlichkeit für sie deutlich.
ständigen. Außerdem stellt dies sicher, dass
Pflichtlehrveranstaltungen die konsequent in zwei Zu dieser Gesprächsrunde haben sich eingefun-
verschiedenen Sprachen angeboten werden und den:

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 35


Frau Janine Nuyken, Vizepräsidentin der Europa- es sind auch die Studierenden, die ins Ausland
Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder; Herr gehen und so die Internationalität vorantreiben. Nur
Prof. Dr. Theodor Berchem, der Präsident des wenige der fest angestellten Professorinnen und
Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der Professoren sind nichtdeutscher Nationalität. Inso-
zuvor unter anderem Präsident der Universität fern sind wir sozusagen eine ziemlich normale
Würzburg und vielfältig in wissenschaftsadministra- deutsche Universität, wenn in einer Fremdsprache
tiven Zusammenhängen tätig war; Prof. Dr. Eber- gelehrt wird, ist das dann meist Englisch. Leider –
hard Liebau von der Universität Hamburg, zuvor an das ist aber wahrscheinlich auch an vielen Orten
einer kleinen selbstständigen Universität tätig, die so, man redet nur nicht so viel darüber – handelt es
jetzt sozusagen in die größere Universität Hamburg sich sehr selten um wirklich gutes Englisch, son-
„eingemeindet“ worden ist, ist Betriebswirtschaftler. dern um so eine Art „Academical Pidgin English“,
Der Mediziner Prof. Dr. Ralph Mocikat von der LMU wie ich es mal genannt habe, ein Englisch, bei dem
in München wird Erfahrungen mit der Sprachensi- das Niveau deutlich unter dem der jeweiligen Mut-
tuation in seinem Fach einbringen. Herr Prof. Dr. tersprache liegt. Das ist vor allem für die Geistes-
Peter Strohschneider von der Ludwig-Maximilians- und Sozialwissenschaften – die es an der Viadrina
Universität in München ist Mediävist und gegen- ausschließlich gibt – ein Problem, weil dort das
wärtig der Vorsitzende des deutschen Wissen- Wort sozusagen das einzige und eigentliche Instru-
schaftsrates. ment ist: Wir brauchen keine Geräte, sondern
eben nur Worte und Bücher.
Es sind hier unterschiedliche Positionen verhan-
delt. Für beide Aspekte, die Studierenden und die Leh-
renden, – und jetzt kommt das, was spannend sein
Frau Nuyken, darf ich Sie bitten zu beginnen. könnte – wollen wir in den nächsten Jahren eine
Alternative erproben. Wir wollen einerseits
Nuyken zunächst den Lehrkörper ziemlich strategisch inter-
Vielen Dank, dass ich hier die Viadrina und ihre nationalisieren durch nicht-deutsche, in unserem
Arbeit in Bezug auf Sprachen und Sprachenpolitik Falle vor allem polnische, französische und engli-
darstellen kann. Die Viadrina ist eine sehr kleine sche bzw. amerikanische Lehrende; zum anderen –
Universität. Dreißig bis vierzig Prozent ihrer Studieren- und das ist, glaube ich, hier interessant – wollen wir
den kommen nicht aus Deutschland, sondern aus mit diesen Lehrenden ein neues Mehrsprachig-
dem nicht-deutschsprachigen Ausland. Das ist, keitsmodell im Studium erproben. Die Grundidee
glaube ich, etwas sehr Wichtiges, was unsere Posi- ist eigentlich ganz einfach: Die Lehrenden aus
tionierung in der ganzen Sprachenfrage sehr Polen, Frankreich und den angloamerikanischen
beeinflusst. Unsere Studierenden kommen aus Ländern unterrichten in ihrer Muttersprache. Die
mittlerweile 70 Nationen, wobei der Großteil von können sie in aller Regel am besten. Selbst bei den
ihnen, wie man sich vorstellen kann, aus Polen und Menschen, die sich lange mit anderen Sprachen
den daran anschließenden osteuropäischen Län- beschäftigen, sind doch gewisse Kompetenzen in
dern kommt. Die Studiengänge der Viadrina sind in der Muttersprache einfach am stärksten ausgebil-
der Regel Studiengänge in deutscher Sprache, det. Die Studierenden dieser Studiengänge müs-
Deutschkenntnisse auf dem Niveau der DSH, der sen drei dieser vier Sprachen beherrschen. Wir
Deutschen Sprachprüfung für den Hochschulzu- haben es sehr oft durchgerechnet. Es kommt aus,
gang, sind auch an der Viadrina in aller Regel Vo- dass man dann immer etwas versteht, und die Ler-
raussetzung für die Aufnahme eines Studiums. Es nenden können in allen Lehrveranstaltungen fol-
gibt einige ganz wenige Studienprogramme, in der gen. Die Anforderung von drei Sprachen stellt auch
Bachelor-Phase und dann in der Master-Phase mit sicher, dass die Studenten sich untereinander ver-
Deutsch und Englisch unterrichtet werden. Wir sind stehen, miteinander reden können, was natürlich
also relativ stark internationalisiert. Dabei sind es auch eine wichtige Komponente ist. Wir müssen
im Wesentlichen die Studierenden, die die Interna- dafür alle Pflichtveranstaltungen in zwei Sprachen
tionalisierung dadurch „machen“, dass sie aus ver- anbieten, damit das immer auskommt. Das ist das,
schiedenen Ländern zu uns kommen, dadurch, was wir zur Verfügung stellen müssen.
dass sie die Fremdsprachenkenntnisse erwerben
(die Studierenden müssen in der Regel in jedem Wichtig für die Konzeption bei uns ist, glaube ich,
Studienprogramm zwei bis drei Sprachen lernen), Sprache nicht nur als eine technische Kompetenz

36 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


zu verstehen, also eine Art Schraubenschlüssel, Das also ist unser Versuch, und wir werden in zwei
mit dem man mechanisch umgeht, sondern als oder drei Jahren vielleicht berichten können, was
einen Ausdruck von und einen Schlüssel zur Kultur, daraus wird.
als Schlüssel auch zu Wissenschafts- und Denk-
strukturen, die eben in Europa, so unsere Überzeu- Ehlich
gung, unterschiedlich sind; die freilich nach und Herzlichen Dank, Frau Nuyken, für Ihren Beitrag
nach unterzugehen drohen, wenn man sich auf nur und für die interessante Erfahrung, für dieses wirk-
eine Sprache einigt, bei der es dann gleichgültig lich innovative Konzept, das die Viadrina aus ihrer
wäre, ob man zum Beispiel Esperanto oder Eng- spezifischen Situation heraus entwickelt hat und
lisch wählt. Unser Ansatz ist also, zu versuchen, vielleicht exemplarisch für uns alle ausprobiert.
sich diese Denkkulturen und ihre Unterschiede
bewusst und verständlich zu machen. Das scheint Herr Liebau, auch Sie haben Ihre eigenen Erfah-
für Europa – und das erleben wir tagtäglich mit die- rungen jenseits der Grenzen und Kooperationen.
sen Studierenden aus verschiedenen Teilen Euro- Sie haben das Wort, uns darüber zu berichten.
pas – von herausragender Bedeutung. Für uns ist
es einfach eine entscheidende, wichtige Schlüssel- Liebau
qualifikation, sehr gute und sehr vielfältige Spra- Bevor wir von der großen bekannten Universität
chen- und Kulturkenntnisse zu haben. Hamburg „geschluckt“ wurden, habe ich an der
Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik als
Sprachunterricht heißt für uns natürlich nicht nur, Professor der BWL gelehrt, und zwar mit dem
dass die Studierenden Vokabeln lernen und Lan- Schwerpunkt ‚Internationales Management‘. Meine
deskunde schreiben. Sie müssen vielmehr auch eigenen Erfahrungen, die ich international gesam-
interkulturell trainiert werden, um mit den Sprachen melt habe (einmal durch Lehre in diesem Pro-
angemessen umgehen zu können. Das ist der gramm, zum zweiten über mehrere Jahre als Vize-
Weg, den zu gehen wir in den nächsten Jahren ver- präsident für Internationales, wobei ich sehr viel
suchen wollen. Das ist sehr ehrgeizig. 70 % der mit ausländischen Studenten entwickelt habe, und
Menschen, mit denen wir reden, sind der festen zuvor schon durch meine Arbeit über drei Jahre für
Überzeugung, dass es scheitert. Wir sind trotzdem die Vereinten Nationen), zeigen, dass mein Herz-
gewillt, es zu versuchen, weil es, glaube ich, wirk- blut von vornherein für die Förderung der interna-
lich ein Weg ist, auf dem man erproben kann, ob es tionalen Belange geflossen ist. Wir haben das
andere Chancen der Internationalisierung gibt als etwas anders gemacht, als Kollegin Nuyken von
lediglich der Rekurs einzig auf das Englische. der Viadrina das gerade berichtet hat. Wir hatten
von vornherein schon, das war unsere Besonder-
Wir haben mittlerweile eine lange Erfahrung im heit, gestufte Lehrprogramme. Früher haben wir mit
deutsch-polnischen Kulturkontakt. Gerade da zeigt Diplom I, Diplom II gearbeitet, dann haben wir das
sich, dass das ein asymmetrisches Verhältnis ist im Zuge des Bologna-Prozesses auf die Bachelor-
(und auch immer schon war), nämlich so, dass sich Master-Struktur umgestellt. Bei den Masterpro-
die Polen eher für Deutschland interessieren als grammen – insgesamt fünf, die wir angeboten
umgekehrt. Wenn man dann an einer deutsch-pol- haben – finden sich zwei internationale: einmal ein
nischen Universität nur deutsch spricht, reprodu- „International Master of International Business
ziert man diese Asymmetrie immer wieder. Ver- Administration“ und zum zweiten einen in „Euro-
gleichbares spielt sich, denke ich, bei vielen Kultur- pean Studies“. Diese Programme haben wir bilin-
kontakten ab. Deshalb ist es für uns so wichtig, gual angeboten, in dem Sinne, dass die Hälfte
über die Nutzung der Sprache sozusagen eine jeweils der beiden Programme ausländische Stu-
Wertschätzung der damit verbundenen Kultur zu dierende, die andere Hälfte deutsche Studierende
ermöglichen. Wir haben schon Versuche gemacht, sind, und wir haben zur Bedingung gemacht, dass
zum Beispiel in einem Sprachworkshop: Dort als Eingangsvoraussetzung von allen der TOEFL-
haben wir versucht zu definieren, was „Freiheit“ ist, Test abgelegt sein muss, so dass Englischkennt-
und das mit vier verschiedenen Sprachen. Das nisse da sind; zum zweiten haben wir von den aus-
wurde zu einem hochphilosophischen Diskurs über ländischen Studierenden die Mittelstufenprüfung
die dahinterstehenden Denksysteme, weil es eben des Goethe-Instituts für die Mindestkenntnisse im
nicht so schlicht ist, diese Vokabel einfach zu über- Deutschen verlangt. Wir unterrichten in den ersten
setzen. Semestern vorrangig in Englisch. Die ausländi-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 37


schen Studierenden haben dann, bevor das erste wir mit der Fachliteratur arbeiten wollen. Auch inter-
Semester losgeht, noch einen Sechs-Wochen- nationale Konferenzen laufen alle auf Englisch. Das
Intensivkurs in Deutsch. Während des Programms ist meine zentrale These.
erhalten sie parallel weiter Deutschunterricht, wäh-
rend die deutschen Studierenden während des Das würde ich auch gerne auf das beziehen, was
Programms auch noch weiter Englischunterricht im Schulunterricht gemacht werden müsste. Dort
erhalten. Zusätzlich können auch noch andere muss bezüglich des Englischen als Fremdsprache
Fremdsprachen gelernt werden. (Da hatten wir in Deutschland eine Vorbereitung stattfinden. Das
damals schon mit dem Fremdsprachenzentrum der schließt nicht aus, dass man auch andere Spra-
Universität Hamburg zusammengearbeitet, deren chen noch mit einbeziehen kann, aber ich glaube
Teil wir jetzt sind, so dass das weitergeführt wird.) schon, dass Englisch an zentraler Stelle stehen
Wir haben diesen Weg gewählt, weil wir davon aus- muss. Wir haben natürlich das Problem des „Aca-
gegangen sind, dass tatsächlich im engeren demic Pidgin English“. Auch wir sind mit diesem
Bereich der Wirtschaftswissenschaften, insbeson- Problem konfrontiert. Das Sprachniveau, auf dem
dere bei der internationalen Unternehmensfüh- wir uns da bewegen, sowohl auf studentischer
rung, im Grunde genommen für die drei beteiligten Seite als auch auf der Seite der Dozenten, kommt
Gruppen – sowohl die ausländischen Studierenden natürlich nicht an das Sprachniveau des Deutschen
wie die deutschen Studierenden wie die Lehrenden heran. Ich selber kann mich natürlich auch im Deut-
– Englisch die lingua franca ist und dass diese schen erheblich differenzierter ausdrücken, als ich
dafür unabdingbar ist. Wer heute ein Programm das im Englischen kann. Ich glaube aber, dass im
‚International Business Administration‘ macht, Bereich der Wirtschaftswissenschaften tatsächlich
muss im Grunde genommen im Englischen total fit die Sprache doch stärker ein technisches Instru-
sein, sonst erhält er gar keinen Job in irgendeinem ment ist, anders, als das in anderen Wissen-
internationalen Unternehmen. Wir wissen, dass es schaftsbereichen der Fall ist, so dass ich meine,
auch eine Reihe von Firmen in Deutschland gibt, diesen Nachteil in Kauf nehmen zu können.
die inzwischen Englisch als Firmensprache einge-
führt haben – was freilich nicht heißt, dass in die- Der große Vorteil, den wir haben, ist, dass die Stu-
sen Firmen nicht mehr Deutsch gesprochen wird. dierenden in dieser Zusammensetzung von auslän-
Insofern ist es für uns wichtig, dass die ausländi- dischen und von deutschen Studierenden bei uns
schen Studierenden nicht nach Deutschland kom- in den Arbeitsgruppen interkulturelle Erfahrungen
men, nur um jetzt hier ein englischsprachiges Pro- sammeln können. Wir erleben auch, dass so ab
gramm zu machen, ohne mit der Kultur etwas zu dem zweiten Semester in den Arbeitsgruppen sel-
tun zu haben, auch ohne Deutsch zu lernen, son- ber Deutsch und Englisch gesprochen wird. Wer
dern dass die Chance – und das erleben wir auch besser Deutsch kann, spricht Deutsch und wird von
praktisch – der ausländischen Absolventen bei uns den anderen verstanden, und umgekehrt: Wer Eng-
die ist, dass sie für deutsche Unternehmen, die im lisch spricht, wird genauso verstanden. Das hat
Ausland tätig sind, als sehr geeignet dafür angese- sich eigentlich sehr bewährt.
hen werden, die Interessen dieser Firmen im Aus-
land wahrzunehmen. Denn die meisten ausländi- Was den Lehrkörper angeht, sind wir natürlich
schen Studierenden sind ja dann dreisprachig: Sie damit konfrontiert, dass bisher eigentlich nur die in
kommen mit ihrer Muttersprache, z. B. dem Manda- Frage kommen, die auch internationale Erfahrun-
rin-Chinesischen, und erwerben noch Englisch und gen haben, die selbst einmal im Ausland gearbeitet
Deutsch dazu; oder sie kommen aus Indien mit und sich stärker in die internationale Literatur ein-
sogar zwei oder drei Sprachen von dort und lernen gearbeitet haben. Ich nehme allerdings an, dass
dann zusätzlich diese Sprachen. Aber zentral ist das in den nächsten fünf, sechs, sieben Jahren
natürlich das Englische. Dies gilt nicht nur für die sich ändern wird, weil zum Beispiel die Absolven-
Firmen, sondern auch für die Wissenschaftsspra- ten dieser Masterprogramme (in den Bachelor-Pro-
che im Bereich Wirtschaftswissenschaften, wo das grammen unterrichten wir weiter auf Deutsch, dort
Englische mehr und mehr auch die Fachsprache wird Englisch als Fremdsprache angeboten, aber
ist. Die gesamte Literatur im Bereich „Internationale es werden normalerweise keine Leistungsnach-
Unternehmensführung“ ist im Prinzip auf Englisch, weise im Englischen erbracht) auch wieder als aka-
so dass wir im Grunde genommen gar nicht darum demischer Nachwuchs dienen. Sie werden im
herum kommen, auf Englisch zu unterrichten, wenn Grunde genommen ihre Englischkenntnisse über

38 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


die Zeit so perfektionieren, dass ich davon aus- das Englische diese Funktion übernommen hat,
gehe, dass das in fünf Jahren im Bereich Wirt- wird von mir mit keinem Wort in Frage gestellt.
schaftswissenschaften nicht mehr ein solches Pro-
blem sein wird, sondern dass sich da die Sprachfä- Abgesehen davon aber beobachten wir nun in mei-
higkeiten verbessern. Deswegen würde ich stark nem Bereich seit zehn bis fünfzehn Jahren eine
dafür plädieren, solche bilingualen Angebote Entwicklung, die auf eine völlige Abschaffung des
Deutsch und Englisch zumindest im Bereich der Deutschen hinausläuft, auch im internen Diskurs,
Wirtschaftswissenschaften stärker anzubieten. auch in unserem internen Wissenschaftsbetrieb.
Das sieht dann so aus, dass auch nationale Tagun-
Ehlich gen, die ohne jegliche internationale Beteiligung
Herzlichen Dank, Herr Liebau. Herr Mocikat, Sie stattfinden, auf Englisch abgehalten werden; das
sind in einem Fach tätig, in dem sozusagen diese sieht so aus, dass auch interne Institutsseminare
Entwicklung noch ein bisschen weiter vorange- auf Englisch abgehalten werden, dass selbst die
schritten ist, nämlich in der Medizin. Sie haben mit Laborbesprechungen englisch sind. Und das geht
einer Reihe von Kollegen vor einiger Zeit eine Stel- sogar so weit, dass einzelne Wissenschaftler auch
lungnahme, einen Appell, an die deutsche Öffent- noch, wenn sie sich im Treppenhaus treffen, über
lichkeit, besonders an die politische, gerichtet, um private Dinge weiterhin auf Englisch radebrechen.
dort auf bestimmte Gefahren aufmerksam zu Das alles wird sehr forciert durch die Politik und
machen, die mit dieser Entwicklung verbunden durch die Forschungs-Förderungseinrichtungen.
sind. Ich bin gespannt, was Sie aus ihren Erfahrun- Zum Beispiel gibt es Förderschwerpunkte beim
gen heraus berichten können. Bundesforschungsministerium, bei dem deutsche
Wissenschaftler die Anträge nur in englischer Spra-
Mocikat che einreichen dürfen. Neulich wurde ich Zeuge
Meine Damen und Herren, ich möchte mich einer mündlichen DFG-Begutachtung, die natürlich
zunächst bedanken für die Einladung zu dieser Ver- auf Englisch ablaufen musste, obgleich alle Antrag-
anstaltung. Ich freue mich, den Vortrag in deutscher steller und sämtliche Gutachter deutschsprachig
Sprache halten zu dürfen. Am Ende meiner Ausfüh- waren. Es geht so weit, dass ich jüngst einmal von
rungen werden Sie vielleicht verstehen, was ich einem deutschen Kollegen in Heidelberg im Rah-
meine, denn in meinem Bereich ist es nun tatsäch- men einer brieflichen Korrespondenz explizit dazu
lich so, dass Deutsch als Wissenschaftssprache de aufgefordert wurde, doch bitte auf Englisch zu ant-
facto bereits zu Grabe getragen worden ist. Ich worten. – Das ist eine kleine Bestandsaufnahme,
möchte mich kurz vorstellen. Ich bin in dieser und sie ist recht eindeutig.
Runde vielleicht ein Außenseiter, ich bin der ein-
zige Naturwissenschaftler. Von meiner Ausbildung Wie ist dies nun zu bewerten? Zunächst einmal
her bin ich eigentlich Arzt, ich habe einige Zeit an sollte man, wenn man eine Bewertung vornehmen
einer Universitätsklinik verbracht, bin dann aber will, einmal in solche englischsprachigen Seminare
schon ziemlich früh in die Theorie gewechselt und hineingehen, in denen nur deutsche Teilnehmer sit-
beschäftige mich jetzt seit über zwanzig Jahren mit zen. Es zeigen sich zum Teil verheerende Folgen
biomedizinischer Grundlagenforschung im Bereich für die Qualität. Ich habe da selbst kleine empiri-
der Molekularbiologie, Immunologie und der experi- sche Untersuchungen unternommen, Beobachtun-
mentellen Onkologie. gen dazu angestellt, wie die Diskussionen ablau-
fen: Es kommt zu einem erheblichen Niveauverlust.
Es ist häufig die Rede von der Internationalisierung Die Diskussion ist drastisch eingeschränkt, wenn
der Wissenschaft. Ich sage dazu ganz dezidiert: deutsche Wissenschaftler über neueste Ergeb-
Die Naturwissenschaft und die Medizin sind schon nisse oder über die Planung ihrer nächsten Experi-
immer international gewesen; man hat immer mente auf Englisch verhandeln wollen.
schon international kommuniziert. Das geschah vor
einigen Jahrhunderten in lateinischer Sprache, Hinzu kommt etwas anderes, das vorhin schon von
dann bis zum Zweiten Weltkrieg in deutscher Spra- Frau Nuyken angesprochen wurde: Die Sprache,
che, und nun ist eben das Englische die lingua das Englisch, das wir hier in der biomedizinischen
franca für den internationalen Austausch gewor- Forschung gebrauchen, ist eine ganz ganz
den. Um dies gleich vorwegzuschicken: Ein solches schmale Funktionssprache mit einem sehr stark
Medium ist natürlich zwingend erforderlich. Dass eingeschränkten Wortschatz und weitgehend for-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 39


melhaften Wendungen. Das genügt, um seine men dann oft den Eindruck mit nach Hause, dass
Ergebnisse in internationalen Journalen unterzu- wir mit der Verabschiedung einer eigenen Wissen-
bringen; aber ich bezweifle, ob dieses Instrument schaftssprache uns auch von dem Anspruch verab-
auch dazu ausreicht, zu neuen Ergebnissen zu schiedet haben, inhaltlich an den Wissenschaften
kommen, ausreicht, kreativ zu denken, Hypothesen mitzuarbeiten.
zu bilden, all die heuristischen Schritte zu tun, die
zu solchen neuen Ergebnissen führen. Dies alles Das war jetzt alles eigentlich nur „Anamnese“ und
kann, so glaube ich, mit Hilfe eines solchen verein- „Diagnose“, zur „Therapie“ später.
fachten Mediums nicht bewerkstelligt werden.
Ehlich
Auch zu den internationalen Publikationen möchte Danke, Herr Mocikat, für diesen Erfahrungsbericht
ich noch etwas sagen. Natürlich werden alle Ergeb- aus einer Wissenschaft, in der das Englische zum
nisse in internationalen, d.h. englischsprachigen, allgemeinen Kommunikationsmedium geworden
Journalen veröffentlicht. Wir sind dazu gezwungen. ist. Herr Berchem, Sie sind Präsident – und das
Uns sitzt dabei das Bewertungssystem anhand von schon längere Zeit – einer Institution, des Deut-
Impact-Faktoren im Nacken. Es ist so, dass in den schen Akademischen Austauschdienstes, einer
letzten zehn bis fünfzehn Jahren auch die deut- Institution, die von ihren Zweckbestimmungen her
schen Zeitschriften in den medizinischen Grundla- unter anderem die Förderung der deutschen Wis-
genfächern ausnahmslos auf die Publikationsspra- senschaftssprache mit zum Gegenstand hat, die
che Englisch umgestellt haben. Eine deutsche Wis- auch für die Germanistik weltweit eine Menge auf-
senschaftssprache gibt es hier also nicht mehr. Ob wendet und die in diese internationalen Austausch-
jetzt durch diesen Wechsel der Publikationsspra- prozesse massiv eingebunden ist. Wie stellen sich
che die deutsche Wissenschaft tatsächlich sichtba- die Dinge aus Ihrer Sicht dar?
rer geworden ist, darüber gibt es zahlreiche Unter-
suchungen (ich möchte das hier nicht weiter vertie- Berchem
fen), die sagen: Nein, sie werden dadurch auch Meine Damen und Herren, wir befinden uns auf
nicht häufiger zitiert. einem sehr weiten Feld. Dass eine definitive
Lösung bei unseren Gesprächen herauskäme,
Eine Weiterentwicklung von wissenschaftlicher Ter- glaube ich von vornherein nicht, aber vielleicht,
minologie im Deutschen findet also nicht mehr dass wir ein paar Schritte weiterkommen. Sprach-
statt. Selbst etablierte Fachbegriffe, ja sogar solche politische Fragen sind seit Jahrzehnten auf der
Fachbegriffe, die längst Eingang in den Alltagswort- Tagesordnung, und das ist zu begrüßen. Dabei soll-
schatz gefunden haben, geraten in Vergessenheit. ten wir uns – das Kolloquium ist eine gute Plattform
Das hat Konsequenzen. Wenn eine Sprache nicht – vor allem der Frage stellen, wie die wohlbegrün-
mehr imstande ist, gerade die innovativen und die deten Positionen der Experten in eine effiziente
zukunftsweisenden Bereiche abzubilden, dann politische Praxis münden könnten, also weniger
erleidet diese Sprache einen erheblichen Status- Wissenschaft, mehr Politik. Es nützt ja nichts, dass
verlust im Inland, aber auch weltweit. wir die schönsten Ideen haben. Wenn kein Politiker
das umsetzen will, dann ist das alles für die Katz.
Das sehe ich auch an unseren ausländischen Und die Frage hier in Deutschland ist nicht leicht zu
Gastwissenschaftlern. Der Austausch von Gastwis- beantworten.
senschaftlern ist auch nichts Neues bei uns, das
gab es auch schon vor zwanzig Jahren. Vor zwan- Wir haben bekanntlich eine große Zahl von dezen-
zig Jahren haben sie aber Deutsch gelernt, ehe sie tralen und selbstständigen Akteuren – ich erinnere
ihre Tätigkeit hier aufnahmen. Heute ist es so – das nur an die Föderalismusdiskussion – und nur eine
erlebe ich immer wieder –, dass es ihnen von ihren schwache Bundeszuständigkeit. Wer nach Koordi-
deutschen Arbeitsgruppenleitern oft geradezu ver- nierung oder gar Steuerung fragt, wirft schwierige
wehrt wird, Deutsch zu lernen, selbst wenn sie Rechts- und Verfahrensfragen auf. Dazu kommt,
schon zwei Jahre oder drei Jahre oder acht Jahre dass selbst Experten sich nicht auf einheitliche
bei uns sind. Auch das hat Konsequenzen. Ich habe Positionen einigen können. Dies wird in einigen
von vielen dieser Gäste schon Befremden darüber Diskussionen immer wieder erfahrbar wird, zum
gehört; denn in der Regel interessieren sie sich für Beispiel zu Themen wie „Deutsch als Wissen-
deutsche Sprache und deutsche Kultur. Sie neh- schaftssprache“, „Gebrauch von Anglizismen“,

40 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


„Sprache und Integration“. Es gibt da es sehr kon- Zum Stichwort „moderne Fremdsprachenkennt-
troverse Positionen. Es bleibt also die Hoffnung, nisse“: hier sind bei den Absolventen unserer Schu-
dass sich in wesentlichen Grundpositionen allmäh- len die Kenntnisse generell beklagenswert
lich ein Konsens herausbilden könnte und dass ein schlecht. Dies sage ich nicht zuletzt als Philologe,
solcher Konsens dann von der Schule bis zur EU- der ich bin. Wir müssen auch einiges mehr tun für
Bürokratie umgesetzt würde. Die Schule soll man die Nachbarsprachen Polnisch, Französisch und
übrigens bei dem Ganzen nicht außen vor lassen. andere. Die Situation ist in den Jahren, in den Jahr-
Wenn wir dort nicht anfangen, dann ist unser gan- zehnten, in denen ich das verfolge, schlechter
zes Tun in der Universität viel zu spät. Die Spra- geworden. Die Zahl der jeweiligen Lernenden für
chenpolitik innerhalb unserer Schulen, auch die das Französische und das Deutsche in den ent-
europäische Sprachenpolitik, wäre hier zu themati- sprechenden Ländern ist eher herunter- als hoch-
sieren. Und gerade weil das Englische im globalen gegangen. Nun zum Stichwort „Publikations-/Kon-
Diskurs dominierend ist, scheint es mir weder gresssprache“. Ich würde mir hier eine bedachtere
begründet noch aussichtsreich, dem Englischen Verwendung des Deutschen wünschen. Sie, Herr
und seiner Funktion global gegenüberzutreten, Kollege Mocikat, haben es vorhin angesprochen,
also einen frontalen Krieg zu führen – völlig aus- dass einiges nur noch auf Englisch erscheint und
sichtslos. Als pragmatische internationale Kommu- man dadurch natürlich Positionen aufgibt. Auch das
nikationssprache, als Sprache der Informations- Stichwort „Zeitgeist“ ist anzusprechen. Oft fehlt
technologie und der Naturwissenschaften, hat sich eine überlegte Verwendung des Deutschen sogar
das Englische fest etabliert, und dies hat für die in den wichtigsten Institutionen in unserem Land.
Kommunikation natürlich auch eine Reihe von Vor- Die Bereitschaft zur Anpassung an modische
teilen. Sie können sich damit trösten: Wir haben Trends geht oft so weit, dass es schon bizarr ist.
schon mehrfach Weltkommunikationssprachen Beispiele, wie sie vorhin genannt wurden, könnte
gehabt in der Geschichte der Menschheit, vom ich zuhauf wiederholen. Ich war ja fast dreißig
Akkadischen über die Koiné, Lateinisch, im 18. Jahre lang Präsident einer Universität, und bei
Jahrhundert das Französisch, dann das Englische. jeder Begutachtung von Sonderforschungsberei-
Die gehen alle irgendwann unter. Und beim Engli- chen usw. war ich dabei. Zu meiner großen Über-
schen ist der Zersetzungsprozess auch schon in raschung sprach man dann, obwohl kaum ein
vollem Gange, etwa durch die Chicanos in Nord- Ausländer (vielleicht abgesehen von ein paar Sti-
amerika. Das dauert eben nur nicht zehn Jahre, pendiaten) dabei war, Englisch. Das ist eine Auf-
sondern hundert Jahre oder vielleicht noch mehr. gabe von Positionen, die nicht nötig ist.

Nun, gleichwohl haben große Nationalsprachen Weiter zur Kooperation. Bei der Förderung und
allen Grund, in bestimmten Gebrauchsfeldern ihre Unterstützung der zahlreichen Germanistenver-
Stellung zu verteidigen. Wer diese Haltung vertritt, bände im Ausland wäre eine bessere Bündelung
muss freilich auch dazu stehen, dass etwa das der Aktivitäten und Informationen wünschenswert.
Deutsche und Französische in Europa als Fremd- Ich rede da auch mit Blick auf unseren Beirat Ger-
sprache als grenzüberschreitende Sprachen be- manistik, der könnte hier auch etwas stärker koor-
deutsamer sind als das Dänische oder das Finni- diniert werden.
sche. Immerhin haben wir hundert Millionen deut-
sche Muttersprachler und nur zwei oder drei Millio- Nun aber zum Bereich „Hochschule, Wissen-
nen Finnen, wenn es so viele sind ... schaft“. Dazu hat der Kollege Ehlich ja zielführende
Fragen gestellt. Die europäischen Sprachen haben
Ehlich sich im Laufe von Jahrhunderten zu leistungsfähi-
Es sind ca. fünf Millionen... gen Wissenschaftssprachen entwickelt, und wir
denken alle an die vielen, an die Tausende soge-
Berchem nannter Internationalismen – das sollte man nicht
In einigen Bereichen sind die Dinge noch im Fluss. vergessen –, die einem auch erleichtern, Englisch
Und gerade hier bietet sich die Möglichkeit, dezi- in der Wissenschaft zu sprechen, weil sie ohnehin
diert Einfluss zu nehmen, so etwa zum Stichwort die gleichen Wurzeln haben. Das ist also ein Vorteil.
„Arbeitssprachen in der EU“. Eine gleichberechtigte
Stellung des Deutschen neben dem Englischen Für die Naturwissenschaften sind die Entscheidun-
und dem Französischen steht immer noch aus. gen, meine ich, längst getroffen: Deren Sprache ist

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 41


weltweit das Englische. Andere Sprachen ent- dener Ansätze erforderlich. Wichtig ist zunächst
wickeln sich daher terminologisch nicht mehr aus- eine angemessene, wohlbedachte und verantwor-
reichend weit oder hinreichend differenziert. We- tungsvolle Verwendung des Deutschen für Publika-
nigstens als Problem sollte man dies erkennen. tionen und auf Kongressen. Es gibt einige, die
Deutsch bleibt allerdings an deutschen Hochschu- reden einfach Englisch, bedenken aber nicht, wel-
len in der überwiegenden Zahl der Fälle Unter- che Konsequenzen das hat. Zweitens kommt die
richtssprache. Die Lehrangebote in Englisch, die Notwendigkeit eines klaren politischen Willens der
nur ca. 3 % aller Lehrangebote an deutschen Uni- prominenten Institutionen, also der Akademien, der
versitäten ausmachen, ändern daran nichts. Es gibt Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, der
auch keine Argumente gegen gute Englischkennt- Hochschulrektorenkonferenz HRK und anderer
nisse bei deutschen Studierenden und Lehrenden mehr hinzu. Das habe ich selber erlebt. Die Exzel-
– wer erhöbe die schon; im Gegenteil – dies ist lenzinitiative jetzt musste auf Englisch beantragt
schon mehrfach angeklungen –, es gibt bedauerli- werden.
che Defizite: Es trafen sich z. B. die deutschen Rek-
toren mit den französischen, ich war Gastgeber in Ob man in unseren Partnerländern Deutsch lernt,
Würzburg, und zu meinem großen Erstaunen rede- um in Deutschland zu studieren, hängt entschei-
ten sie Englisch miteinander. Es war furchtbar, welt- dend von der Qualität der Forschung und vom
weit berühmte Gelehrte so daherstammeln zu Rang der Publikationen ab. Wissenschaftliche Spit-
hören. In dem Fall wäre es besser gewesen, jeder zenleistungen sind insofern natürlich auch die
wäre bei seiner Muttersprache geblieben und der beste Deutschförderung. Und wer hier auf Deutsch
eine oder andere, der ein bisschen mehr kann, seine Publikation für den Nobelpreis macht, der
hätte dann eingeflüstert „Der hat jetzt das und das wird schon gelesen, davon können Sie sicher aus-
gesagt.“ Eine verbesserte Ausbildung in Fremd- gehen. Ob es angesichts der Vielzahl von Trägern
sprachen ist also ein Desiderat, auch für die und Institutionen wirklich einen Schritt voran
Schule, – und eine wesentlich verbesserte Kennt- bedeutet, eine zusätzliche Institution zu schaffen,
nis der deutschen Muttersprache. Ich weiß nicht, etwa eine weitere Akademie, möchte ich im Augen-
was sie in den heutigen Schulen treiben, ich weiß, blick zumindest bezweifeln. Es wäre aber ein
es ist viel verlangt, ich habe das ja häufig genug bei Schritt voran, wenn die vorhandenen Institutionen
meinen Kindern erlebt, aber was herauskommt, zu mehr Gemeinsamkeit in sprachenpolitischen
wenn man die jungen Studierenden vor sich hat, Fragen fänden. Und dieses Kolloquium sollte dazu
das ist zum Teil erschreckend, und ich weiß nicht, genutzt werden. Wir brauchen dringend einen Ver-
woran es liegt. Sie sind klug, das ist keine Frage haltenskodex in Bezug auf den Gebrauch unserer
des IQ, aber sie können keinen Text bauen. Ich Muttersprache.
rede gar nicht von Kommata und Ähnlichem.
Ehlich
In den sprachbasierten Wissenschaften wie Herzlichen Dank, Herr Berchem. Besonders der
Geschichte, Philologie, Psychologie, Soziologie, letzte Punkt, den Sie angesprochen haben, scheint
Jura ist es besonders wichtig, dass das Deutsche mir auch für die Institutionen eine sehr interessante
Lehr- und Publikationssprache bleibt, denn Anregung zu sein, damit dieser naturwüchsigen
Geschichte, Methodik, Erkenntnisinteressen dieser Entwicklung, die wir gegenwärtig beobachten und
Lehrbereiche sind direkt in die Sprache eingegan- deren Ende uns Herr Mocikat für seine Disziplin vor
gen, und eine englische Terminologie würde auch Augen gestellt hat, in einer vertretbaren und vor
andere Inhalte vermitteln. Ich schließe mit der allen Dingen verbindlichen Weise gegengesteuert
implizit von Herrn Ehlich formulierten Anregung an: wird.
Viele Fragen an der Nahtstelle von Sprache, Kogni-
tion, Begriffsbildung sind noch offen, und wir wis- Herr Strohschneider, Sie sind in der Funktion, dass
sen auch noch lange nicht genug über die spezifi- Sie eine der wichtigsten Steuerungsinstitutionen
schen Leistungen der verschiedenen Nationalspra- der deutschen Wissenschaft leiten, und ich könnte
chen als Wissenschaftssprachen. Das müsste mir vorstellen, dass dort eine Reihe der Probleme,
untersucht werden. die jetzt angesprochen wurden, sehr konkret erfah-
ren werden, dass die unterschiedlichen Auffassun-
Um das Deutsche als Wissenschaftssprache zu gen vielleicht auch ein Stück weit aufeinander pral-
stützen, wäre vielleicht eine Kombination verschie- len. Wie sehen Sie die Situation?

42 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Strohschneider Zusammenhang lässt sich das an dem Argument
„Englisch ist die lingua franca der Wissenschaft“
Bei der Exzellenzinitiative prallen natürlich die beobachten. Die Leistung dieses Arguments ist,
unterschiedlichen Positionen aufeinander, sowohl dass es sagt: „Das hatten wir schon mal, Latein war
im Wissenschaftsrat wie in der DFG, aber dazu die lingua franca der europäischen Wissenschaften
vielleicht später. Ich würde jetzt gern mit einer im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.“ Das ist
Anekdote anfangen, und zwar einer, die in gewis- natürlich eine sprachhistorisch einfach falsche
ser Weise die bisher angeführten noch an Bizzare- These. Latein ist nie die lingua franca im nachanti-
rie überbietet. Ich bin, wie gesagt wurde, Altgerma- ken Europa gewesen, sondern die hochexklusive,
nist, und ich war vor zwei Jahren in der Situation, hochelaborierte Spezialsprache für eine Reihe von
im deutschsprachigen Ausland für eine hochre- Spezialdiskursen mit extrem rigiden Zugänglich-
nommierte Wissenschaftsförderungsorganisation keitsregeln für sehr wenige, weswegen dann das
als Gutachter tätig zu sein. Da gab es ein mediä- patriarchalische System auch gesagt hat, es sei die
vistisches Projekt, das von einem muttersprachlich Vatersprache im Gegensatz zur Muttersprache, die
deutschen Germanisten, einem Mediävisten, auf jeder überdies noch spreche. Dennoch partizipiert
Englisch eingereicht werden musste und von mir das Argument, das da sagt, Englisch sei die lingua
als muttersprachlich deutschem Germanisten auf franca der Wissenschaft, an der vergangenen
Englisch begutachtet werden sollte, und dieses (auratischen) Geltung des Lateinischen. Es partizi-
alles zu dem Zweck, dass ein amerikanischer piert sozusagen an der verblassenden Geltung
Kunsthistoriker an dieser Diskussion auch sollte jener Sprachordnung, die abgeschafft werden soll.
teilnehmen können – der aber ein geborener Deut-
scher ist – und um den Preis, dass die beiden wirk- Ich habe zu den Vorbereitungstexten ein kurzes
lich sehr bedeutenden italienischen Kunsthistorike- Statement eingereicht, und dem möchte ich jetzt
rinnen nur partiell an der Diskussion teilnehmen auch nicht mehr viel hinzufügen. Mein Akzent ist
konnten, weil sie zwar Französisch, nicht aber Eng- „Vielfalt“. Ich will argumentieren, und das ist im
lisch sprechen. Kern ein philologisches oder sprach- und erkennt-
nistheoretisches Problem, dass Sprachen nicht
Dies ist mein Beispiel gegen die Behauptung, es lediglich austauschbare Instrumente der Präsenta-
handle sich wesentlich um funktionale Argumente, tion, der Darstellung von auch anderweitig, in ande-
die für die Anglisierung von Wissenschaft, For- rer Weise verfügbarem und produziertem Wissen
schung und Hochschulen sprechen. Es ist einer sind, also von vorgängiger Erkenntnis, sondern
meiner Belege für das, was Sie, Herr Berchem, dass Sprachen selbst in mannigfacher Hinsicht
„Zeitgeist“ genannt haben. Ich würde sagen: Es ist Instrumente, Produktionsmittel von Erkenntnis
reine Ideologieproduktion und es bestätigt meine sind. Das wäre mein erster systematischer Punkt.
allgemeine These, dass es in der kulturellen Welt Aus ihm folgt zweitens, dass man disziplinär diffe-
nichts Funktionales gibt, das nicht auch eine sym- renzieren muss. Ich kann mir leicht hochgradig
bolische Dimension hätte – so wie es umgekehrt mathematisierte Formen auch der Staatswissen-
auch nichts Symbolisches gibt, das nicht zugleich schaft, auch der Wirtschaftswissenschaft, der Poli-
auch funktionale Dimensionen hätte. Die symboli- tikwissenschaft vorstellen, die im Wesentlichen
sche Dimension des Englischen ist es natürlich, so sozusagen der mathesis universalis sich bedienen,
hätte man früher in der DDR gesagt, den „Welt- der gegenüber Sprache ein vergleichsweise belie-
standard“ zu symbolisieren. Es zeigt eben, wenn biges Präsentationsmedium ist. Ich kann mir, um
ich auf Englisch deliriere, dass ich das auf Weltni- ein zweites zu sagen, weite Bereiche vorstellen,
veau tue – international, interdisziplinär und inno- Herr Mocikat, in den Biowissenschaften, in den
vativ; das sind so die drei großen „I“, die dann Medizinwissenschaften, wo dem Bild gegenüber
immer kommen. Das ist meine erste Bemerkung. der Sprache eine sozusagen dramatisch gestei-
gerte und akzelerierend wachsende Bedeutung als
Meine zweite Bemerkung: Immer, und auch hier, ist Erkenntnismedium zukommt; wo gar nicht mehr
es in der Mediengeschichte so, dass die neuen argumentiert werden muss, sondern sozusagen
Medien die alten Medien abzuschaffen versuchen, nur noch evidentielle Sachverhalte gegeneinander-
indem sie sozusagen ihre Reputation aufsaugen, gestellt werden, weil man es auf den Bildern sieht.
um die leere Hülle dann in den Orkus der Dort kann ich mir auch vorstellen, dass man die
Geschichte versinken zu lassen. In unserem Sprachenfrage entspannter sehen kann – jeden-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 43


falls entspannter als in den sprachgebundenen Realität der Wissenschaftsverfasstheit, wie wir sie
Wissenschaften, und das sind alle, die sich mit der vorfinden. Insgesamt gibt es immer wieder diese
kulturellen Welt befassen. Ich will gar keinen Diskussion – Herr Strohschneider hat es jetzt eben
Gegensatz aufmachen zwischen Geisteswissen- angesprochen: „Wir hatten ja schon mal Latein,
schaften, Kulturwissenschaften, Sozialwissen- dann haben wir eine Phase gehabt, in der das alles
schaften auf der einen Seite und Naturwissen- sich in verschiedene Nationalsprachen ausdifferen-
schaften, ich will nur den Fächer der Erkenntnis- ziert hat, und jetzt kommen wir eben wieder zu
instrumente, also mathesis, Bild und Sprache, öff- einer einheitlichen Sprache zurück.“ Wie stehen die
nen und sagen: Wie das bewertet wird, hängt von anderen Panelisten, gerade auch aus den anderen
der jeweiligen Dominanz oder der jeweiligen Funk- Fächern, die nicht in diesem Sinn geisteswissen-
tionalität der Erkenntnisinstrumente ab, im Verhält- schaftlich sind, zur Grundthese von Herrn Stroh-
nis zu denen dann Sprache funktionalisiert wird. schneider: „Vielfalt als zentraler Motor von Wis-
Dort aber, wo – und das ist in den Geistes-, Kultur- sensgewinnung, Differenz als ein wesentliches Ele-
und Sozialwissenschaften ganz bestimmt der Fall – ment“?
die Sprachen selbst das Produktionsmittel von
Erkenntnis sind, da kommt es auf die Vielfalt der Herr Liebau.
Sprachen an, da kommt es auch auf die Kultivie-
rung des Deutschen an, zugleich aber auf die Kulti- Liebau
vierung anderer Sprachen, auf die Kultivierung Ich meine, dass in den internationalen Unterneh-
ihrer Vielfalt. Die Vielfalt der Sprachen ist eine men die funktionalen Bestandteile der Sprache
Diversität der intellektuellen Stile, der Begriffsbil- doch ein großes Gewicht haben, so dass die Pro-
dungsformen, der Argumentationsduktus. Diese bleme, die sich heute für ein internationales Unter-
Differenz der unterschiedlichen Stile, Begriffsbil- nehmen in China, Deutschland, USA oder wo auch
dungsformen und Argumentationsduktus, die Diffe- immer stellen, relativ ähnliche Probleme sind, was
renz selbst – das wäre meine These – ist von he- nicht ausschließt, dass natürlich auch kulturelle
rausragender Bedeutung für angemessene Kom- Elemente eine Rolle spielen. Aber dass diese Pro-
plexität und intellektuelle Dynamik der wissen- bleme in internationalen Unternehmen ohne Eng-
schaftlichen Kommunikation, weil sozusagen an lisch bewältigt werden können, wage ich zu bezwei-
der Reibungsstelle des Differenten das Neue ent- feln. Im Grunde, glaube ich, würde ich Ihnen
steht, Erkenntnis produziert wird. Deswegen will es zustimmen, dass man differenzieren muss. Aber in
mir überhaupt nicht einleuchten, und zwar katego- bestimmten Bereichen unseres gesellschaftlichen
risch nicht, dass wir die beschleunigt anwachsende Lebens, glaube ich, spielt eine lingua franca eben
Komplexität der Welt mit der Einfalt einer Sprache doch eine zentrale Rolle, und von daher würde ich
beantworten sollen. Warum auf kulturelle Komplexi- schon meinen, dass Englisch als diese lingua
sierung, auf ökonomische Komplexisierung, auf franca gilt und angenommen werden muss. Das
wissenschaftliche Komplexisierung, auf technische bezieht sich natürlich dann auch darauf, wie der
Komplexisierung mit sprachlicher Entkomplexisie- Unterricht an den Hochschulen gestaltet wird.
rung geantwortet werden soll, ist mir schleierhaft. Wenn wir noch einmal den Bologna-Prozess neh-
Und ich glaube auch nicht, dass es ein Modell der men und betrachten, wie er in Europa abläuft, dann
kulturellen Welt gibt, das das irgendwie angemes- ist es heute so, dass in den skandinavischen Län-
sen zu beschreiben in der Lage wäre. dern und in Holland in vielen Bereichen durchge-
hend in Englisch unterrichtet wird, so dass unsere
Ehlich Studierenden, die wir ins Ausland schicken, natür-
Herzlichen Dank, Herr Strohschneider. Wir sind lich dort gut hingehen können, weil sie sich dort
jetzt schon sehr intensiv eingegangen auf den Pro- verständigen können. Das heißt nicht, dass ich jetzt
zess der Herausbildung dieser europäischen Wis- einem Studenten oder einer Studentin raten würde,
senschaftssprachen in ihrer Vielfalt. Wir wollen da- wenn sie für ein oder zwei Semester nach Schwe-
rüber nicht die ganz anderen Entwicklungen in den gehen und dort in einem Programm studieren,
China, die ganz anderen Entwicklungen im arabi- nicht auch noch etwas Schwedisch zu lernen, aber
schen Raum und die ganz anderen Entwicklungen das würde natürlich nie ausreichen, um dem Stu-
im indischen Raum und in Japan vergessen, aber dium dort folgen zu können. Von daher würde ich
wir konzentrieren uns jetzt, denke ich, hier ein meinen, die erste Sprache sollte Englisch sein, die
wenig auf diese europäischen Aspekte und die zweite Sprache dann die Sprache des Landes in

44 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


Grundkenntnissen, sei es im Russischen, im Chi- wahl stünden (da gibt es dann auch noch Möglich-
nesischen, im Schwedischen oder im Deutschen. keiten, die Amtssprachen zu berücksichtigen,
besondere Nachbarschaftsverhältnisse und Ähnli-
Ehlich ches), dann könnte ich davon ausgehen, dass ich
Vielen Dank. Die Frage war allerdings jetzt ein bis- im Laufe von etwa zwanzig Jahren eine Situation
schen anders gelagert, nämlich in Bezug auf die antreffen könnte, bei der ich nicht mit Englisch erst
Erkenntnisgewinnungsprozesse in den wissen- anfange, sondern in der es durchaus sein kann,
schaftlichen Disziplinen selbst. dass die Leute sich französisch oder spanisch oder
italienisch unterhalten können. Aber das würde so
Berchem viel Koordination voraussetzen, dass ich daran
Also, zunächst muss unsereins für die Vielfalt sein meine Zweifel habe, denn wenn selbst die sech-
– Vielfalt auch im Erkenntnisbereich, wo die zehn Bundesländer hier schon darum streiten, wie
Erkenntnisse sprachgebunden sind. Nur scheint es sie es denn machen, dann können Sie sich bei 25
mir an dieser Stelle von Wichtigkeit zu sein, die unabhängigen Staaten innerhalb der EU deren
Dinge auseinanderzuhalten. Es wird nicht Englisch Situation vorstellen.
gelernt, auch in den Naturwissenschaften nicht,
weil es dort leichter wäre, sozusagen einen Wis- Ehlich
senschaftskomplex zu beschreiben, sondern es Nun, wenn ich irgendwo auf der Welt jemandem auf
wird Englisch gelernt, weil wir eine Hegemonial- der Straße begegne, dann tue ich das sicherlich im
macht haben im wirtschaftlichen Bereich, im militä- allgemeinen nicht mit der Erwartung, dass ich da-
rischen Bereich, im kulturellen Bereich. Das ist der raus wissenschaftliche Erkenntnisse gewinne, au-
eigentliche Grund, sonst brauchten wir hier gar ßer vielleicht als Linguist, der erforschen will, wie
nicht sitzen. Die Funktion, die das Englische jetzt in ein solcher sprachlicher Kontakt „funktioniert“.
bestimmten Wirtschaftsbereichen hat, könnte
irgendeine andere ausgebildete Sprache auch Zurück zur Wissenschaft, Herr Strohschneider.
übernehmen. Deswegen ist natürlich bei all dem,
was wir tun und was wir überlegen, dieses eine Strohschneider
nicht zu vergessen, dass wir eben nicht die Welt- Herr Berchem, ich stimme Ihnen ja fast immer zu,
macht sind in Deutschland, dass auch die Franzo- aber als die Deutschen Weltmacht waren, war es
sen dies nicht sind und auch sonst keiner hier in für die deutsche Sprache keine erfreuliche Phase
Europa – und das ist mit zu berücksichtigen. Neh- ihrer Geschichte. Ich stimme dem Argument zu,
men Sie einmal folgende Situation: Sie gehen dass es sich um ein Problem von Hegemonialität
irgendwo hin in der Welt, sei es aus beruflichen handelt. Und Sie haben gesagt, wir sind eben nicht
Gründen oder weil Sie Urlaub haben. Wenn Sie die Weltmacht, ich wollte nur sagen, und als wir
versuchen, jemanden anzusprechen auf der Weltmacht waren, ist das auch dem Deutschen
Straße, was machen Sie dann? Sie bedienen sich schlecht bekommen.
des Englischen, überall in der ganzen Welt, und
das machen die anderen Nationen auch. Wenn Berchem
mehrere zusammen treffen, mehrere Nationalitä- Na ja, gut, da kommen wie auf eine andere, politi-
ten, was machen Sie in aller Regel? Sie wechseln sche Ebene. Darüber wollte ich natürlich nicht
gleich zum Englischen. Wenn Sie diesen Zustand reden.
ändern wollen, dann können Sie das nur langfristig,
und das hängt dann mit einer bestimmten abge- Strohschneider
stimmten Sprachenpolitik in Europa zusammen. Nein, ich habe das nicht missverstanden. Ich will
Also wenn ich zum Beispiel hinginge und sagte, ich das ja unterstützen. Das Prinzip der Europäisie-
fange mit dem Englischen im Kindergarten an und rung kann nur Differenz sein, kann nur diese
mache das dann bis zum Übertritt ins Gymnasium, sprachliche Vielfalt sein. Das ist auf allen Ebenen
ab dem Moment aber muss eine andere Sprache des europäischen Einigungsprozesses gewisser-
die erste Fremdsprache sein, und ich würde mich – maßen durchgesetzt. Es gibt das Problem mit
das ist etwas kompliziert, ich will das jetzt auch Deutsch als dritter Hauptsprache in der EU, aber im
nicht näher ausführen – dann zum Beispiel dafür Prinzip ist es überall durchgesetzt, nur nicht im
entscheiden, dass in Europa, im Kerneuropa die europäischen Forschungsraum. Der europäische
vier Sprachen mit den meisten Sprechern zur Aus- Forschungsraum prozediert auf Englisch, er heißt

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 45


„European Research Center“, und auch Herr Winn- wieder an einigen Dingen vorbei, zum Beispiel an
acker muss ab 1. Januar ausschließlich Englisch diesem französischen „Nebenflüsschen“, das ja
sprechen, nicht Französisch, nicht Deutsch, nicht eine gewisse Impertinenz hat, seine eigene Spra-
Spanisch. Das ist das eine Problem. che weiter zu publizieren. Wenn man nun auf eine
solche Klientel von Studenten sieht, die beispiels-
Das zweite Problem ist ein systematisches: Da gibt weise aus Frankreich, Polen und Deutschland
es meiner Meinung nach eine relativ starke politi- kommen und die ihre Traditionen auch in ein
sche Position, weil die normativen Vorgaben in der wirtschaftswissenschaftliches oder rechtswissen-
EU völlig eindeutig sind. Die normativen Vorgaben schaftliches Studium einbringen wollen, sind die
sind Pflege der Sprache und kulturellen Vielfalt in Traditionen, die sich auch in ihren Sprachen aus-
Europa. Das ist eine Differenz des europäischen drücken, die sie quasi mitbringen, von erheblicher
Einigungsprozesses gegenüber dem amerikani- Bedeutung. Es ist dies eine immer wieder aufflam-
schen. Der amerikanische Einigungsprozess läuft mende Debatte zwischen „idealistischen“ Kultur-
jedenfalls normativ über ein hegemoniales Spra- wissenschaftlern und „pragmatischen“ Wirtschafts-
chen- und Kulturmuster, während der europäische wissenschaftlern. Ich persönlich glaube, dass der
Einigungsprozess gerade über ein Modell der Viel- Mut, beides zu kombinieren, die Lösung ist. Man
falt läuft. Da müsste jetzt, Herr Ehlich, im Hinblick darf sicher nicht total unpragmatisch werden, das
auf Wissenschaftskommunikation umgesetzt wer- wäre albern; aber man muss gleichzeitig dem Prag-
den. Das ist noch keine Antwort auf die Frage, wie matismus auch immer mal wieder sagen: Jetzt ist
man es politisch umsetzt. Der normative politische Schluss mit dem Pragmatismus, jetzt gibt es Zeit
Startpunkt aber ist an dieser Stelle eben relativ für Grundsatzfragen, für Grundsatzprobleme.
stark.
Wollten wir nun auf staatliche Vorgaben warten,
Noch eine kleine Bemerkung zum Verschwinden dann – wäre ich sicher eher pensioniert, bevor
des Lateins: Mich würde, wenn ich dafür wäre, dass etwas geschieht. Deswegen haben wir überlegt:
die Wissenschaft in einer Sprache kommuniziert, Wir wollen es einfach probieren. Ich glaube, so
die Beobachtung sehr irritieren, dass das Latein könnten vor allem diejenigen verfahren, die in einer
seinen Status als wissenschaftliche Sprache genau ähnlich glücklichen Lage wie wir sind, die wir
dort verloren hat, wo ein metaphysischer gerade so dicht an der Grenze zu Polen liegen. Es
Zusammenhang zerfallen ist und auch aus einer gibt in Deutschland viele, die an Frankreich, an
Wahrheit viele wurden. Ebenso wurden auch aus Dänemark, an anderen angrenzenden Ländern lie-
einer Wissenschaftssprache viele verschiedene. gen. Sie alle sollten das probieren; sie alle könnten
Die Vielfalt der Wissenschaftssprachen ist nicht einen Nutzen daraus ziehen und sollten nicht war-
kontingent, sondern sie wird von unhintergehbaren ten.
epistemischen Voraussetzungen erzwungen.
Ehlich:
Nuyken: Ja, herzlichen Dank Frau Nuyken auch für diesen
Auch wir haben diese Auseinandersetzung immer Mut zu einem Experiment, in dem wir alle etwas ler-
wieder, gerade auch mit den Wirtschaftswissen- nen können. Herr Mocikat.
schaftlern. Dem liegt ganz oft die These zugrunde,
dass es Wirtschaftswissenschaften jenseits von Mocikat:
Nationalität gibt, dass es also sozusagen ein Ich möchte das, was vorhin von Herrn Strohschnei-
abstraktes Medium gibt, das keine Nationalität und der vor dem Hintergrund der Geisteswissenschaf-
keine Sprache kennt; da sind dann die Kulturwis- ten gesagt wurde, zurückbeziehen auf die Natur-
senschaftler im Präsidium fundamental anderer wissenschaften und die Medizin. Ich kann das, was
Meinung, weil wir glauben, dass gerade Wirtschaft, er sagte, nur voll unterschreiben: Er sprach von der
gerade Recht kulturelle Systeme sind, die immer Sprache als Produktionsmittel von Erkenntnis und
mit Sprache agieren, die sich in Sprache aus- davon, dass die Vielfalt der Sprachen wichtig ist für
drücken, die in Sprachen auch ihre Besonderheiten die Erkenntnisgewinnung. Ich weiß, dass ich mich
zeigen. Aber damit schwimmt man natürlich – und da in einen großen Gegensatz begebe zu der Viel-
da will ich Ihnen vollkommen recht geben – gegen zahl meiner Kollegen, für die Sprache praktisch
den Hauptstrom des Faches. Aber dieser Haupt- überhaupt keine Bedeutung hat. Sprache existiert
strom geht seinerseits meiner Meinung nach selbst nicht, Sprache ist nur ein Satz von Zeichen, den

46 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


man jederzeit austauschen kann. Ob man etwas gerade wenn wir der Überzeugung sind, dass jede
auf Deutsch, auf Englisch oder auf Französisch Sprache nur einen Teil des gesamten Weltbilds hat
sagt, das erscheint als völlig gleichgültig. Ich und keine alles ausdrücken kann.
bezweifele das. Man muss sich nur einmal die
Mühe machen, verschiedene Texte, die in Englisch Es wäre vielleicht auch die Frage interessant, um
bzw. in Deutsch verfasst sind, miteinander zu ver- wiederum auf die Wissenschaft zurückzukommen,
gleichen. Man stellt dann genau das fest, was Sie dass alle europäischen Sprachen aus der grie-
gesagt haben: Die Argumentationsduktus sind chisch-lateinischen Tradition gewachsen sind und
andere, und es ist ein jeweils anderes Herangehen. wir von dort unsere wissenschaftliche Terminologie
Rundum, meine ich, dürfen wir auch die Naturwis- bezogen haben. Das hat sich international in allen
senschaften oder die Medizin jetzt nicht einengen Sprachen fortgesetzt bis z. B. ins Japanische hi-
auf die englische Monolingualität. nein. (Anders sieht es im Chinesischen aus, wo der
Versuch des „Sinismus“ unternommen wird).
Ehlich: Schließlich, und ich versuche, es auf einen einfa-
Ich denke, diese Zusammenhänge sind bisher rela- chen Nenner zu bringen: Im Bereich der Geistes-
tiv wenig untersucht, wir kommen darauf zurück. und Sozialwissenschaften ist das „Wie“ des
Aber zunächst Herr Berchem. Sagens häufig das „Was“. In den Naturwissen-
schaften steht in der Regel das „Was“ im Vorder-
Berchem: grund. Unsere Disziplinen dagegen sind gar nicht
Ich möchte zunächst noch einmal unterstreichen, denkbar ohne das „Wie“. Deswegen sind wir auch
dass ich sehr begrüße, was die Viadrina macht. Es immer unterlegen, wenn es um internationale politi-
gibt andere Universitäten, die nur englisch lehren, sche Veranstaltungen geht und man sich des Engli-
und ich selber stelle in Frage, ob das einen Sinn schen bedienen muss. Da sind dann unsere Politi-
macht, auf deutschem Boden nur das Englische ker und vielleicht auch unsere Wissenschaftler auf
einzusetzen, ohne Verpflichtung, Deutsch zu ler- einem Niveau, das vielleicht dem der Hauptschule
nen. Ich möchte in dem Zusammenhang daran entspricht, aber nicht dem Niveau eines gebildeten
erinnern, dass wir Europäer häufig geneigt sind, in Akademikers.
der Vielsprachigkeit oder in der Mehrsprachigkeit
etwas ganz Außergewöhnliches zu sehen. Das ist Auch darüber wäre nachzudenken: Was heißt das
aber weltweit nicht so. Ich sehe hier unsere indi- eigentlich, eine andere Sprache zu können? Da
schen Freunde, die von Anfang an mit Mehrspra- wird immer vom Beherrschen geredet, aber es ist
chigkeit aufgewachsen sind. Wenn Sie nach doch etwas anderes, ob ich in Frankreich kellnern
Schwarzafrika gehen, da ist es völlig undenkbar, will oder ob ich als Universitätsprofessor meine Kol-
nicht als Mehrsprachler zu leben. Insofern sollten legen der Sorbonne zum Vorbild habe. Das sind
wir uns also mit dem Gedanken anfreunden, dass unterschiedliche Niveaus, und genau das müsste
Mehrsprachigkeit ein natürlicher Zustand ist. man bei der Frage nach der „Beherrschung“ einer
anderen Sprache mit im Auge behalten, vor allem
Leute von der intellektuellen Brillanz von Stroh- auch mit Blick auf die Illusion, die wir den Schülern
schneider würde ich gerne provozieren, mir zu vermitteln, sie könnten, wenn sie da neun Jahre
erklären, weshalb in der abendländischen Bil- Englisch gemacht haben, Englisch. Sie können es
dungs- oder Geistestradition die Mehrsprachigkeit in der Regel nicht.
eigentlich sozusagen angekreidet wird als Seins-
minderung – seit der Schöpfung und dann in der Ehlich:
Geschichte vom Turmbau zu Babel im Alten Testa- Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Aspekt, was
ment, als die Menschen sich nicht mehr verstehen wir eigentlich „unter einer Sprache beherrschen“ in
konnten und die Einzelsprachen entstanden. Diese der Wissenschaft verstehen, was wir auch unter
Auffassung ist durch unsere Geistesgeschichte dem Stichwort „das Englische beherrschen“ verste-
immer als Seinsminderung gegangen, nicht als hen und darunter, es vollgültig für die wissenschaft-
eine Bereicherung. Ich habe lange danach lichen Zusammenhänge einzusetzen. Ich würde
gesucht, ob sich in anderen Kulturen etwas derarti- aber zunächst gern noch einmal diesen Aspekt,
ges findet; an einer Stelle im Koran bin ich auf eine dieses Stichwort „Hegemonialität“ aufgreifen, und
ähnliche Auffassung gestoßen, sonst nirgendwo. in demselben Zusammenhang der Frage nachge-
Es lohnte sich, einmal darüber zu diskutieren, hen: Was bedeutet es denn eigentlich in den Weite-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 47


rungen für den Wissenschaftsbetrieb eines Lan- ten im Kontakt steht. Es geht gar nicht anders, als
des, wenn – wie das in der Medizin der Fall ist – die dass von vornherein auch die landessprachlichen
Ressource Sprache nicht mehr oder nicht mehr in Terminologien weiterhin im Auge behalten und
gleicher Weise zur Verfügung steht. weiterentwickelt werden.

Hegemonialität, so hören wir ja immer wieder, ist Für die Forschung selbst gilt, dass sie selbstver-
eigentlich wie eine Art Lawine, ist eine Naturgewalt, ständlich international ist, wie wir in unseren
die unbeeinflussbar ist. Ich bin mir nicht so sicher, Labors vor 20 Jahren auch schon international
ob diese Metapher nicht auch ein Stück weit eine waren, mit vielen Austauschwissenschaftlern aus
„self-fulfilling prophecy“ darstellt in Bezug auf die Amerika, aus China, aus Osteuropa. Mein Plädoyer
weitere Entwicklung des Wissenschaftsprozesses ist, dass jeder seine Muttersprache verwenden
und in Bezug auf die Möglichkeiten, die z. B. ein sollte, sofern sie verstanden wird. Es reicht auch
Wissenschaftsraum wie der europäische mit seiner nicht aus, wenn ein Wissenschaftler nur Englisch
Potenz, also von den Sprecher- und Sprecherin- beherrscht. Ein Wissenschaftler sollte neben Eng-
nenzahlen angefangen bis zur wirtschaftlichen und lisch und seiner Muttersprache auch noch eine wei-
zur wissenschaftlichen Potenz, hin hat. Haben wir tere Fremdsprache zumindest passiv beherrschen,
Möglichkeiten der Veränderungen, oder sind solche so dass er dem anderen zuhören kann, so dass
Möglichkeiten überhaupt nicht gegeben? Gibt es nicht die Situation eintritt, dass beide in einer Spra-
Chancen, eine Internationalisierung des Wissen- che radebrechen müssen, die beide Seiten nur
schaftsprozesses zu betreiben, in der nicht hege- sehr unvollständig beherrschen.
monial, genauer nicht national hegemonial gedacht
wird? Herr Liebau, Sie haben gesagt, es sei nur eine
Frage der wachsenden Englischkenntnisse, so
Mocikat: dass sich in fünf Jahren die Situation sehr verbes-
Eine Sprache, die die zukunftsweisenden Elemente sern werde, weil dann sowohl die Studenten als
nicht mehr wiedergeben kann, wird eine Sprache auch die Postdoktoranden als auch die Dozenten
der zweiten Klasse. Dies wirkt sich vielfältig aus. alle viel besser Englisch könnten. Das mag richtig
Ein Aspekt betrifft den Transfer von Wissen in die sein. Aber ich gebe zu bedenken: Das Englische ist
Öffentlichkeit, in die Laienöffentlichkeit und in die trotzdem niemals Muttersprache, und was das
Fachöffentlichkeit. Der Dialog zwischen der Öffent- heißt, stelle ich auch bei Leuten fest, die wirklich
lichkeit und der Wissenschaft wird natürlich immer exzellente Englischkenntnisse haben, die zehn,
schwerer, wenn die Wissenschaft schon von vorn- zwanzig Jahre in englischsprachigen Ländern
herein, schon bei der Erkenntnisfindung, nur noch zugebracht haben, von denen man also wirklich
die englische Sprache kennt, wenn keine Fachbe- erwarten kann, dass sie das Englische beherr-
griffe mehr entwickelt werden. Einerseits hat die schen. Wenn man sich deren Vorträge anhört, wird
Wissenschaft die Pflicht, die Öffentlichkeit über die zwar die Information vermittelt, aber das, was einen
Ergebnisse zu informieren, die sie mithilfe unserer Vortrag auch ausmacht, das kann in der Fremd-
Steuermittel erzielt hat. Andererseits muss die Wis- sprache nicht realisiert werden: Nuancen, die rhe-
senschaft auch am öffentlichen Diskurs teilneh- torischen Stilmittel, das Zwischen-den-Zeilen-
men, z. B. was die ethischen oder ökonomischen Gesagte, das Humoristische, alles das, was zu
Folgen des wissenschaftlichen Handelns anbe- einer guten Vorlesung auch dazu gehört.
langt. Da sehe ich eine zunehmende Dissoziation
zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit. Ehlich:
Aber auch das Verhältnis zur Fachöffentlichkeit ist Jetzt zunächst Herr Strohschneider.
betroffen. Das wird besonders offensichtlich in sol-
chen anwendungsbezogenen Naturwissenschaf- Strohschneider:
ten, wie ich sie vertrete, der biomedizinischen For- Ich habe viele kleine Bemerkungen, zum Teil han-
schung. Sie wird natürlich nicht um ihrer selbst delt es sich nur um Kommentare. Der erste Kom-
willen betrieben, sondern letztlich hoffe ich ja, dass mentar: Sie werden aus dem, was ich bis jetzt zu
das, was wir machen, irgendwann einmal einem dieser Frage gesagt habe, entnommen haben,
Patienten zugute kommen könnte. Der Anwender dass der Sachverhalt, die Exzellenzinitiative auf
dessen, was wir heute machen, wird die Ärzte- Englisch zu administrieren, nicht auf mich zurück-
schaft sein, die wiederum natürlich mit den Patien- geht. Ich selber kann so leidlich Englisch, aber über

48 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


das Englisch mancher von denen, die das Eng- eine Hegemonialität der anglo-amerikanischen
lische als Wissenschaftssprache nachhaltig Wissenschaftskultur, zum anderen eine Hegemoni-
„pushen“ – um das einmal auf Deutsch zu sagen alität der Naturwissenschaften innerhalb des Wis-
–, über deren englische Praxis bei der Begehung senschaftssystems. Diese doppelte Hegemonialität
der Exzellenz-Universitäten war ich ziemlich ent- bestimmt Situationen, in denen es schwierig ist,
setzt. Das liegt daran, dass dieses Englisch ein Sprachenpolitik zu machen.
hochgradig restringierter disziplinärer Code ist, der
dann sofort nicht mehr funktioniert, wenn ich – das Herr Berchem, Sie haben die Hypothese formuliert,
ist kein Problem der Biomedizin oder der Unterneh- dass es nicht nur auf das „Was“, sondern auch auf
mensführung – ein solch komplexes Gebilde wie das „Wie“ des Sagens ankommt. Danach könnte
eine Universität beschreiben soll. Versuchen Sie man die Disziplinen auch sortieren. Alle Geistes-
einmal in einer deutsch-englischen Gruppe zu wissenschaftler wissen, dass die Form der Kommu-
sagen, was das Profil einer Universität ist oder ver- nikation gegenüber den Inhalten der Kommunika-
suchen Sie einmal zu überlegen, was es auf tion nicht indifferent ist – die Medien nicht, die Spra-
Deutsch heißt, wenn Sie Englisch lesen: „this mea- chen nicht, die Metaphern nicht, auch die techni-
sure is equipped adequate to the proposal“. Diese schen Medien nicht. Das heißt, dass jeder, der
Beispiele zeigen, wie schwer die Verständigung sagt, alles lasse sich in gleicher Weise in jeder
selbst bei vergleichsweise trivialen Sachverhalten Sprache, also auch auf Englisch, sagen, eine
sein kann. Sprachzeichentheorie hat, die einfach nicht auf
dem Stand der Wissenschaft ist. Dies ist ein Bei-
Die zweite Bemerkung betrifft die Frage, warum spiel für den hegemonialen Diskurs: Wenn Sie Auto
Mehrsprachigkeit immer als eine Form von Seins- fahren und haben ein Problem, dann fragen Sie
minderung gilt? Meine Hypothese ist, dass das mit einen Ingenieur. Wenn Sie ein Kommunikationspro-
dem Monotheismus zu tun hat, also mit der Idee, blem haben und sollen es lösen, dann fragen Sie
dass Gott eine Universalsprache spricht – den ebenfalls den Naturwissenschafter, obwohl es
logos – und Mehrsprachigkeit eine Negation dieser Experten dafür gibt, wie Sprachzeichen funktionie-
Universalsprachlichkeit ist. Diese Auffassung wird ren und was man mit ihnen machen kann.
im Mythos von Babylon vertreten. Eine andere Auf-
fassung dagegen findet sich in der Auslegung des Liebau:
Pfingstereignisses. In den Wirtschaftswissenschaften sind wir bisher
noch nicht so weit, dass die Kollegen und Kollegin-
Bevor ich nochmals auf die Frage der Hegemonia- nen mich nur noch auf Englisch ansprechen wür-
lität zurückkomme, möchte ich auf die Fragen der den. Ich glaube auch nicht, dass bei uns das Deut-
Akzeptanz von Wissenschaft eingehen. Hier ent- sche tatsächlich durch das Englische einfach ver-
steht, so scheint mir, eine sehr problematische drängt wird. Englisch ist für uns vielmehr die Spra-
Situation: Insbesondere die Naturwissenschaften che, in der wir international kommunizieren müs-
bedienen sich einer neuen Mandarinsprache, eines sen. Dabei lassen sich auch Unterschiede zwi-
für sie typischen Englisch. Dies führt – neben ande- schen den einzelnen Ländern beschreiben. Im
rem – dazu, dass gesellschaftliche Kommunikation Bereich des internationalen Managements bei-
von Wissenschaft sekundär institutionalisiert wer- spielsweise betrifft ein großer Teil dieser Fragen
den muss. Das heißt dann auf Deutsch „public das interkulturelle Management. Damit stellt sich
understanding of science and humanities“. Auch natürlich auch die Frage nach den kulturellen
sprachenpolitisch werden gewissermaßen Wissen- Unterschieden in den einzelnen Ländern. Die ein-
schaften produziert, die diesen Bedarf einer sekun- zige Möglichkeit, solche Fragen international zu
dären Institutionalisierung von gesellschaftlicher diskutieren, besteht aber in einer Diskussion auf
Kommunikation von Wissenschaft selbst schaffen, Englisch. So ist es auch möglich, in China auftre-
indem sie auf eine Weise intern kommunizieren, die tende Probleme zu beschreiben, genau wie in
nicht mehr „von alleine“ nach außen vermittelt wer- Deutschland – auf Englisch. Dies geschieht bei-
den kann. spielsweise im Augenblick durch ein EU-finanzier-
tes Projekt, in dessen Rahmen wir ein gemeinsa-
Meine vierte Bemerkung führt nun zu dem sehr mes Masterprogramm mit dem Fokus Europäisch-
wichtigen Punkt der Hegemonialität zurück. Es Asiatisches Management zusammen entwickeln.
existiert eine doppelte Hegemonialität, zum einen An diesem Projekt sind eine chinesische Univer-

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 49


sität, zwei vietnamesische Universitäten und eine Entwicklung der Sprachfähigkeit von Wissenschaft-
dänische Universität beteiligt. Ich sehe keine lern und Wissenschaftlerinnen? Ich persönlich
andere Möglichkeit, als dieses Programm in Eng- sehe hier ein riesiges Defizit, gerade auch in der
lisch durchführen. Das heißt nicht, dass wir die EU, trotz aller unterstützenden Initiativen wie
Ergebnisse des Projektes nicht ins Deutsche über- ERASMUS usw.
setzen könnten.
Zweitens: Was sind die Erfahrungen in Bezug auf
In den Wirtschaftswissenschaften sind englisch- Wissenschaft als soziale Veranstaltung?
sprachige Zeitschriften im übrigen weniger verbrei-
tet. Es gibt vielmehr sowohl in der Betriebswirt- Herr Liebau.
schaftslehre als auch in Volkswirtschaftslehre hier
in Deutschland Fachzeitschriften auf Deutsch. Das Liebau:
heißt nicht, dass nicht auch in internationalen Zeit- Ich selbst habe mehrfach Projekte durchgeführt,
schriften publiziert wird. Einige Fachzeitschriften die vom DAAD unterstützt worden sind. Ich kann
erscheinen auch auf Deutsch und auf Englisch. also nur begrüßen, dass diese Dinge weitergeführt
Insofern halte ich das nicht für ein großes Problem. werden. Der DAAD unterstützt auch unsere Master-
programme. Abgesehen vom DAAD haben wir
Ehlich: allerdings kaum weitere Unterstützung bekommen.
Wissenschaft ist mehr und mehr auch eine Unter- Daher halte ich es für wichtig, dass der DAAD auf
nehmung, die sehr von ihren konkreten, sozialen, diese Weise weiterfördert.
zwischenmenschlichen Aspekten geprägt wird. Die
Wissenschaftslandschaft vor hundert Jahren sah Ehlich:
etwas anders aus. Man blieb den größten Teil der Herr Mocikat.
Zeit an seiner Universität und publizierte in einer
der wenigen Fachzeitschriften. Die Entwicklung des Mocikat:
Kongresswesens in den letzten hundert Jahren bei- Ich habe mir das Stichwort Ghetto aufgeschrieben.
spielsweise ist, denke ich, eine sehr interessante Sie haben gefragt, ob eine wissenschaftliche Get-
wissenschaftssoziologische Erscheinung. Gerade toisierung stattfindet. Ich sehe diese Gefahr in der
im Rahmen dieser Internationalisierungsüber- medizinischen Forschung tatsächlich, beispiels-
legungen sticht dieser Aspekt gegenüber den frü- weise dann, wenn die Gastwissenschaftler, die
heren Formen der Wissenschaft am Übergang zum hierher kommen, nicht darin unterstützt werden,
20. Jahrhundert besonders hervor. Herr Mocikat auch die Landessprache zu lernen. Umgekehrt ist
hat eben schon die Schwierigkeiten angesprochen, das wohl etwas anders. Die Postdoktoranden, die
die sich daraus ergeben, dass man Feinheiten der in die USA gehen, können natürlich Englisch. Und
Sprache mit zum Ausdruck bringt, wenn man einen diejenigen, die beispielsweise nach Schweden
Vortrag hält, dies aber in der fremden Sprache gehen, lernen dann auch Schwedisch. Ich kenne
nicht in gleicher Weise kann – anders als wenn auch zwei Naturwissenschaftler, die nach Japan
man sich der voll entwickelten sprachlichen gegangen sind und dort natürlich auch Japanisch
Ressource, die die Muttersprache bietet, bedienen gelernt haben. Möglicherweise ist das bei uns ein
kann. Wir haben den hegemonialen Diskurs also Sonderfall, dass man die Gastwissenschaftler,
auch in Bezug auf die großen wissenschaftsför- dadurch dass sie keine Unterstützung erfahren,
dernden Nationen. In diesem Zusammenhang Deutsch zu lernen, wirklich „einsperrt“, obwohl sie
habe ich die folgenden Fragen an das Panel: Interesse daran haben und hier viele Jahre zubrin-
gen.
Erstens: Ist es wirklich so, dass wir hier in einem
neutralen Medium kommunizieren, wenn wir uns in Ehlich:
einigen Fällen eines relativ wenig entwickelten Herr Strohschneider.
Englisch bedienen? Wie ist die Situation, wenn wir
uns im Ausland bewegen? Sind wir in einem Wis- Strohschneider:
senschaftlerghetto eingeschlossen, wenn wir z. B. Herr Berchem hat in diesen konkreten Fragen wirk-
in den USA oder in einem anderen Land sind? Wel- lich reichste Erfahrungen, aber ich bin an diesem
che Perspektiven gibt es – das ist natürlich auch Punkt inkompetent. Ich bin der Ansicht, es gibt die
eine Frage an eine Instanz wie den DAAD – zur Instrumente des Sprachunterrichts. Der Sprach-

50 Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik?


unterricht an den Universitäten muss ausgebaut gen hat: Auf der politischen Handlungsebene stellt
werden. Die Sprachenzentren an den Universitäten sich die Hegemonialität des Englischen als Lösung
sind flächendeckend in einer eher unerfreulichen für das Problem der Vielsprachigkeit dar. Wir mer-
Situation. Der Ausbau der Sprachenzentren ist ein ken das ganz deutlich daran, dass wir immer wie-
ganz wichtiger Punkt. der legitimieren müssen, warum wir an der Univer-
sität acht Sprachen unterrichten, warum ein wis-
Insgesamt aber müssen die Wissenschaften, senschaftlich fundiertes Sprachenzentrum nötig ist,
denke ich, selbst entscheiden, wie sie mit der Spra- warum Kurse im akademischen Schreiben
chenfrage umgehen. Dass ganz bestimmte Berei- gebraucht werden. Es ist natürlich etwas anderes,
che der Betriebswirtschaftslehre in Englisch ope- eine Sprache im Sprachunterricht zu lernen oder in
rieren können, ist für mich unproblematisch. Pro- der Fremdsprache zu schreiben. Schreiben in einer
blematisch ist es aber, dass es einen hegemonia- Fremdsprache muss man noch einmal lernen.
len Diskurs gibt, aus dem die Politiker lernen, dass Dass das Legitimieren immer wieder nötig ist, so
auch die Altgermanisten Englisch sprechen sollen. meine These, ist vor dem Hintergrund zu sehen,
Dieses Beispiel zeigt, was ich mit Hegemonialität dass davon ausgegangen wird, es gebe ein einheit-
meinte. Diese Hegemonialität existiert tatsächlich. liches Mittel der Verständigung, eben das Engli-
Deswegen habe ich vorhin über die Situation im sche. Darin liegt, denke ich, wirklich eine Gefahr,
Schweizerischen Nationalfonds und bei der Exzel- denn das bedeutet, dass man den Betrag für die
lenzinitiative gesprochen. Da waren keine Funktio- Kosten, um Vielfalt zu erhalten, dann kaum aufbrin-
nen erkennbar, sondern nur Ideologieproduktion. gen kann. Auch wenn man sich vielleicht dem Pro-
blem stellt, dass Englisch die einzige Sprache ist,
Der entscheidende Punkt aber ist, dass wir uns ent- die bei einem Kongress verstanden – es gibt eben
spannt und ohne falschen Zungenschlag gelassen Experten, es gibt Dolmetscher, die sozialisiert und
ein bisschen Selbstbewusstsein leisten könnten. trainiert darin sind, Dinge von einer Kultur in eine
Die deutsche Wissenschaft ist nach wie vor in andere, von einer Sprache in eine andere Sprache
einem ziemlich guten Zustand. Sie hat ein zu übertragen. Durch einen Dolmetscher kann sich
beschreibbares Defizit bei den Spitzenuniversitä- der Ausdruck in jedem Fall reicher entfalten, als es
ten; dafür gibt es ein Instrument, von dem ich jeden- der Fall wäre, wenn beide Beteiligte Englisch spre-
falls hoffe, dass es dieses Problem beheben hilft, chen. Diese Lösung ist aber natürlich auch teuer,
nämlich die Excellenzinitiative. Es gibt auch Pro- so dass dann wieder die kritische Frage auftaucht,
bleme zum Beispiel bei der Lehre. Aber insgesamt ob wir diese Reichhaltigkeit wollen oder nicht. Ich
ist das deutsche Hochschulsystem, zumal wenn bin zwar nicht grundsätzlich für Dolmetscher, da
man seine dramatische Unterfinanzierung berück- die Qualität der Übersetzungen nicht immer über-
sichtigt, in einem bemerkenswerten Zustand. Es zeugt, aber es ist, denke ich, ein tauglicheres
gibt kaum eine öffentliche Einrichtung, die so viele Medium als ein „Transmissionssprachwerk“, das
Leistungen für so wenig Geld erbringt. Diese Situa- keine Sprache mehr ist. Sehr hoffnungsvoll stimmt
tion ermöglicht es uns, mit einer gewissen Gelas- mich, dass die Studierenden daran interessiert
senheit zu sagen: In der Betriebswirtschaftslehre sind, drei Sprachen zu lernen; sie wollen, dass wir
wird weiterhin auf Englisch kommuniziert, in der Druck machen. Wenn man sich das klarmacht,
Kunstgeschichte weltweit weithin auf Deutsch und dann wird auch schon wieder vieles einfacher,
auf Italienisch. In den Altertumswissenschaften, in denn die Studierenden muss ich nicht überzeugen.
der Archäologie, in der klassischen Philologie, in
der alten Geschichte usw. wird auf Deutsch und auf Berchem:
Englisch kommuniziert. Ich plädiere dafür, dass Anschließend an das, was Herr Strohschneider
man die Sprachenfrage differenziert betrachtet: Es gesagt hat, möchte ich auch noch einmal festhal-
gibt Fächerspezifika, es gibt epistemische Spezi- ten, dass die deutschen Universitäten seit Jahr-
fika, denn die Sprache und das Denken hängen in zehnten unterfinanziert sind. Davon sind die Geis-
einer Weise zusammen, von der man auch institu- teswissenschaften am meisten betroffen. Wenn wir
tionell Rechenschaft ablegen kann. hier über Sprachen sprechen, dann kann ich nur
darauf verweisen, dass auch zu diesem Zeitpunkt
Nuyken: immer noch Stellen in den Bereichen Sprachwis-
Auch ich würde sagen, dass diese Hegemonialität, senschaft und der Literaturwissenschaft gestrichen
dieser Durchmarsch des Englischen, politische Fol- werden. Ich war vor zwei oder drei Jahren mit dem

Diskussionspapier | Braucht Deutschland eine bewusstere, kohäsive Sprachenpolitik? 51


Bundespräsidenten in Brasilien. Er hielt dort schö- Zum Schluss möchte ich Ihnen auch noch etwas
ne Reden, schloss unter anderem einen Vertrag, darüber sagen, weshalb wir uns künftig um Mehr-
alles unter dem Motto „Zivildialog“. Zur selben Zeit sprachigkeit kümmern. Das steht nicht zur Debatte,
wurde an deutschen Universitäten die Lusitanistik denn jeder kann Ihnen gleich in ein paar Formeln
abgeschafft. Wozu dann die vielen schönen Re- nachweisen, dass die 3.000 oder 5.000 Sprachen,
den? Soviel zu diesem Komplex. die wir in der Welt haben, einen ungeheuren Reich-
tum darstellen und dass keine identisch mit einer
In Bezug auf Englisch und die Englischkurse an anderen ist. Ich erinnere an sehr komplizierte Zeit-
den Universitäten möchte ich noch einmal ganz aufteilungen in den einzelnen Sprachen, an
klar machen, dass der DAAD bei deren Einführung Aspektprobleme oder auch an das Fehlen von Aus-
mit führend gewesen ist, unter anderem als Geld- drücken für Zeit, ich erinnere an die Sprache der
geber für Programme, in deren Rahmen Studie- Hopi-Indianer und ähnliches mehr und an den
rende internationale Kurse oder Bachelor- bzw. reichhaltigen Synonymbereich im Arabischen. Das
Masterkurse besuchen konnten, und für Pilotpro- sind Reichtümer der Menschheit, und Sie begrei-
gramme, bei denen dann ein bestimmter Anteil von fen, dass man sich mit immer neuen Versuchen,
Ausländern gewünscht war. Wie stellt sich die Situ- wieder neuen Worten, Konstrukten, auch gramma-
ation dar? Ich bin von meinen Kolleginnen und Kol- tischen Konstrukten an die Wirklichkeit herangetas-
legen häufig angefeindet worden, weil man nicht tet hat. Aber keiner dieser Sprachen ist es gelun-
verstanden hat, was das eigentliche Problem ist. gen, die gesamte Wirklichkeit der Welt einzufan-
Das Problem besteht darin, dass wir weltweit in gen. Die Sprachen stellen also einen ungeheuren
einem Wettbewerb stehen, auch um begabte junge Reichtum dar, sogar den größten, den wir haben.
Leute. Die USA stand in diesem Wettbewerb, Es ist überhaupt die genialste Leistung des Men-
zumindest vor dem 11. September, mit 500.000 schen, die Sprache erfunden zu haben; die Erfin-
Ausländern, die dort ihre degrees erwarben, bei dung des Computers beispielsweise ist gar nichts
weitem an der Spitze. Weltweit gibt es momentan dagegen.
2,2 Millionen mobile Studenten, eine Zahl, die in
den nächsten zehn Jahren mindestens auf das Was heißt nun eine Sprache können? Erstens, das
Doppelte, so schätze ich, anwachsen wird. Bei Englische ist eine hoch elaborierte Sprache, die
unseren Studierenden gibt es einen Anteil von etwa gar nicht so einfach ist, wie das normalerweise
10 % Ausländern. Man könnte natürlich sagen: behauptet wird. Das fängt schon im phonetischen
Wieso sollte man sich um die Ausländer kümmern, und graphischen Bereich an. Es fängt zwar relativ
obwohl die Studienplätze schon für die Deutschen leicht an, da es nicht so viele Zeiten und kaum
nicht ausreichen? Da wir aber im internationalen Endungen gibt, aber sobald man sich elegant aus-
Wettbewerb stehen, nicht nur im Bereich der Wis- drücken möchte, wird Englisch, denke ich, hoch-
senschaft, sondern auch im Bereich der Wirtschaft kompliziert, zum Teil sogar, würde ich sagen, sehr
und im Bereich des politischen Ansehens, kann es viel komplizierter als andere Sprachen. Englisch ist
nicht unser Interesse sein, prozentual abzufallen. eine tolle Sprache, es ist aber sehr schwierig, sie
Noch stehen wir mit 220.000 Ausländern gegen so zu beherrschen wie ein gebildeter Muttersprach-
500.000 relativ gut da. Das ist das eigentliche Pro- ler; vielleicht ist es sogar unmöglich, wenn man erst
blem. Problematisch ist aber auch, dass Deutsch im Erwachsenenalter anfängt, sie zu lernen. Was
nicht ausreichend an Sekundarschulen in der Welt bedeutet das? Ich lebe selber in einem zweispra-
gelehrt wird. Wenn ich beispielsweise jemanden chigen Haushalt. Meine Kinder sind zweisprachig
aus Malaysia an eine deutsche Universität holen aufgewachsen. Ich meine, Französisch so gut zu
möchte, dann werde ich ihm nicht zur Auflage können wie ein Franzose, und zwar nicht nur im
machen können, zwei Jahre ans Goethe-Institut zu phonetischen und grammatischen Bereich, son-
gehen, da er in dieser Zeit in Amerika schon einen dern auch im stilistischen. Das ist aber auch die
Bachelor erworben hat. Aus diesem Grund haben einzige Sprache, die ich so kann. Ich habe relativ
wir englischsprachige Studiengänge gefördert. spät mit Französisch angefangen. Das bedeutet:
Gleichzeitig erwarten wir aber von den Studieren- Ich musste alles, w