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Der Verräter, Stalin, bist du.qxp 22.05.

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Bernhard H. Bayerlein
»Der Verräter, Stalin, bist du!«
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Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts

Herausgegeben
von Bernhard H. Bayerlein • Marc Ferro • John Haynes • Eric Hobsbawm •
Jerzy Holzer • Vladimir Kozlov • Moshe Lewin • Ulrich Mählert • Michal
Reiman • Brigitte Studer • Aleksandr Cubarjan • Hermann Weber • Serge
Wolikow

Band 4
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Bernhard H. Bayerlein

»Der Verräter, Stalin,


bist Du!«
Vom Ende der linken Solidarität
Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten
Weltkrieg 1939–1941

Unter Mitarbeit von Natalja S. Lebedewa, Michail Narinski und Gleb Albert

Mit einem Zeitzeugenbericht


von Wolfgang Leonhard

Mit einem Vorwort von Hermann Weber


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Aus dem Russischen von Helmut Ettinger,


aus dem Französischen, Spanischen, Rumänischen, Englischen, Niederländischen und Italieni-
schen von Bernhard H. Bayerlein

Der Band wurde gefördert von der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren
Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Berlin – Moskau

Mit Unterstützung des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES), Univer-
sität Mannheim

Mit XX Abbildungen

ISBN 978-3-351-02623-3

Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlagsgruppe GmbH

1. Auflage 2008
© Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin 2008
Einbandgestaltung Atelier Doppelpunkt
Druck und Binden AALEXX Druck GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany

www.aufbau-verlag.de
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Inhalt

Wolfgang Leonhard: Der Hitler-Stalin-Pakt. Zeitzeugen erinnern sich . . . . . . . . . . . . . . 9


Hermann Weber: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Bernhard H. Bayerlein: Innerer Verrat als Prinzip der Herrschaft. Die internationale
kommunistische Bewegung und der Zweite Weltkrieg vom Stalin-Hitler-Pakt zum
»Fall Barbarossa« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Teil 1: Ein Pakt gegen Antifaschismus und linke Solidarität. Der »Stalin-Hitler-Pakt« und
die Rolle der Komintern. Vom Abschluß des Vertrags zum Beginn des Zweiten Weltkrieges
(August–September 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Teil 2: Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, die Haltung der Sowjetunion und das erklärte
Ende des Antifaschismus (September–November 1939)
Kapitel 1. Der Schock und die Konsequenzen – Die weltweite Kultur des Antifaschismus
wird liquidiert. Den kommunistischen Parteien wird untersagt, Polen gegen Hitlers
Angriff zu verteidigen (September 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Kapitel 2. Strategische Brüche, innere und äußere Zerreißproben – Die Hintergründe der
Affäre Dahlem – Kommunisten gegen antifaschistische Legionen . . . . . . . . . . . . . . 130
Kapitel 3. Vom Nichtangriffs- zum Grenz- und Freundschaftspakt der Sowjetunion mit
Hitler: Die Komintern in Erklärungsnot und ohne Handlungsperspektiven (Septem-
ber–November 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Kapitel 4. Nach fast zwei Monaten – Die Reaktion der Komintern auf den Ausbruch des
Weltkrieges (Oktober–November 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Teil 3: Erneute Zerreißprobe: Der Angriffskrieg der Sowjetunion auf Finnland – Die verstärkte
Isolierung der Kommunistischen Parteien (Dezember 1939–März 1940)
Kapitel 1. Die Kampagne von Komintern und kommunistischen Parteien: Die unmögliche
Legitimierung des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Kapitel 2. Spekulation auf Legalisierung im Hitlerreich, Bruch der Solidarität und mora-
lische Diskreditierung der KPD. Hat die Komintern zu den nationalsozialistischen
Greueln geschwiegen? (Dezember 1939 – März 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

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Kapitel 3. Demontage der kommunistischen Parteien und forcierte Abkehr vom interna-
tionalistischen Erbe (November 1939–Juni 1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Teil 4: Zwischen Anpassung und Widerstand: Die offizielle Freundschaft der Sowjetunion
und die neue Ausrichtung der kommunistischen Parteien gegen den deutschen Vormarsch
in Europa. Den Aggressor hinnehmen, mit ihm verhandeln? Der unmögliche Spagat der kom-
munistischen Parteien (April 1940–September 1940)
Kapitel 1. Die deutsche Wehrmacht überrollt Europa: Frankreich, Belgien, die Nieder-
lande, Dänemark, Norwegen … Den Aggressor hinnehmen? (April–Juli 1940) . . 264
Kapitel 2. Widerstand oder Verhandlungen? Verstärkte Propaganda gegen Deutschland
und zugleich Hoffnungen auf ein Arrangement mit dem Aggressor (Juli–September
1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Teil 5: Das verlorene Doppelspiel: Die Fortsetzung der offiziell freundschaftlichen Beziehun-
gen der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland und die Ausrichtung der Komintern gegen das
deutsche Vordringen in Europa (Oktober 1940–Mai 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Kapitel 1. Der Molotow-Besuch bei Hitler und Ribbentrop im November 1940: Pläne für
eine Aufteilung der Welt zwischen Deutschland und der Sowjetunion . . . . . . . . . . 305
Kapitel 2. Der politische Grundwiderspruch der KPD bleibt unaufgelöst: Gegen den Vor-
marsch Hitlers, doch zugleich gegen seinen Sturz. Die Arbeit in den Nazi-Organi-
sationen hatte Priorität! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
Kapitel 3. Stalins Vorschlag zur Auflösung der Komintern auf dem Höhepunkt der Span-
nungen: Letzte Konzession zur Aufrechterhaltung der deutsch-russischen Freund-
schaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
Kapitel 4. Ein Toast Stalins, ein angeblich verschwundener Briefwechsel mit Hitler und das
weitere offizielle Ableugnen des bevorstehenden deutschen Angriffs . . . . . . . . . . . 353

Teil 6: Schock – Katastrophe – Existenzkampf – Abwehr – Terror. Der deutsche Blitzkrieg und
die Ausrichtung der Komintern auf die Verteidigung der Sowjetunion im »Großen Vaterlän-
dischen Krieg« (Juni–Oktober 1941)
Kapitel 1. Der »Meister des Verdachtes«, der sich in naivster Weise selbst täuschen ließ –
Das Steuer der Komintern wird herumgerissen (Juni–August 1940) . . . . . . . . . . . . 361
Kapitel 2. Individueller Terror, Attentate und Geiselerschießungen. Die deutsch-französi-
sche Tragödie, der problematische Beginn des Widerstands und die Folgen (August–
Oktober 1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Ausblick: Vaterländischer Krieg und nationale Fronten – Aktivierung, Rückzug aus der
Öffentlichkeit und Auflösung der Komintern (September 1941–Mai 1943) . . . . . . 428

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Anhang
Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
Auswahlbibliographie und zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
Liste der Pseudonyme, Kryptonyme und Akronyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Kommentiertes Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540

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Wolfgang Leonhard

Der Hitler-Stalin-Pakt
Zeitzeugen erinnern sich

Am 23. August 1939 wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Ich erlebte die-
sen Tag als 18jähriger Jugendlicher in der Sowjetunion, in der Stadt Jejsk am Asowschen Meer,
wo ich gemeinsam mit einer Gruppe Söhne und Töchter deutscher und österreichischer
politischer Emigranten Ferien machte.
Noch heute erinnere ich mich an jenen Schock, der uns überkam, an den überhasteten so-
fortigen Abbruch des Urlaubs, unsere Rückkehr nach Moskau und die Auflösung unseres
Heims. Es wurde geschlossen, weil es in der Sowjetunion nun keine antifaschistischen Emi-
granten mehr geben konnte!
Über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt liegen viele akademische Arbeiten, hi-
storische und diplomatische Analysen vor. Der Pakt wurde darin fast ausschließlich unter
außenpolitischen Gesichtspunkten betrachtet und analysiert, wobei die offiziellen Erklärun-
gen und die möglichen Beweggründe Hitlers und Stalins im Mittelpunkt standen.
Mein Interesse liegt auf einer anderen Ebene, denn seit ich im Westen lebe, läßt mich die
Frage nicht ruhen: Was bedeutete der Pakt damals für andere Menschen? Wie haben sie auf den
Abschluß reagiert? Wie wirkte er sich auf das Leben und Denken der Zeitzeugen aus?

Chruschtschow: Die Politbüromitglieder waren auf der Jagd

Aufschluß gibt bereits die Antwort auf die Frage, wer aus der sowjetischen Führung vom Pakt
wußte und an seinem Zustandekommen beteiligt war.
Nikita Chruschtschow, 1894 in einer Bauernfamilie geboren, seit 1918 Mitglied der Bol-
schewistischen Partei, war zunächst Rayon-Parteisekretär in Petrowo-Marinsk in der Ukraine
und rückte 1927 im ukrainischen Parteiapparat auf. 1929 kam er nach Moskau, zunächst als
Parteisekretär der »Industrieakademie«, dann ab 1932 als Zweiter Sekretär, ab März 1935 als
Erster Sekretär der Moskauer Parteiorganisation. Er gehörte dem Zentralkomitee seit 1934
und dem Politbüro seit März 1939 an.
Den Hitler-Stalin-Pakt schilderte er in seinen späteren Memoiren:
»Ich war eines Samstags in Stalins Datscha, und er erzählte mir, daß Ribbentrop am näch-
sten Tag mit dem Flugzeug käme. Stalin lächelte und beobachtete mich scharf, um zu sehen,

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welchen Eindruck diese Neuigkeit auf mich machte. Zuerst war ich sprachlos. Ich starrte ihn
an und glaubte, er habe einen Witz gemacht. Dann sagte ich: ›Warum sollte Ribbentrop mit uns
sprechen wollen? Will er etwa überlaufen?‹
›Nein‹, sagte Stalin, ›Hitler hat uns eine Nachricht geschickt, in der es heißt: ›Ich bitte Sie,
Herr Stalin, meinen Minister Ribbentrop zu empfangen, der einige konkrete Vorschläge über-
bringt.‹ Wir haben uns bereit erklärt, ihn morgen zu treffen.‹
Ich sagte Stalin, daß ich vor hätte, am nächsten Tag mit Bulganin und Malenkow in Woro-
schilows Revier auf die Jagd zu gehen. Stalin sagte: ›Tun Sie das ruhig. Für Sie wird es hier mor-
gen nichts zu tun geben. Molotow und ich werden uns mit Ribbentrop treffen und hören, was
er zu sagen hat.‹«
Chruschtschow fuhr mit Bulganin und Malenkow in das Jagdgebiet von Sawidowa. Als sie
dort ankamen, war Woroschilow schon da. Der Volkskommissar für Verteidigung hatte die
sowjetische Abordnung bei den Gesprächen mit den Militärdelegationen Englands und Frank-
reichs geleitet, die am 17. August aus Moskau abgereist waren, nun war auch er ausgeschaltet.
Kaum zu glauben, aber wahr: Die Mitglieder des Politbüros der KPdSU waren an diesem
entscheidenden 23. August 1939 auf der Jagd. Danach fuhren sie zu Stalins Datscha. Stalin war
sehr guter Laune.
Chruschtschow: »Während unsere Jagdtrophäen zubereitet wurden, berichtete Stalin, daß
Ribbentrop den Entwurf eines Freundschafts- und Nichtangriffspaktes mitgebracht habe und
daß wir unterzeichnet hatten. Stalin schien sehr mit sich zufrieden zu sein. Er sagte, wenn die
Engländer und Franzosen, die noch in Moskau seien, morgen von dem Vertrag hörten, wür-
den sie sofort abreisen…«
Chruschtschow meinte in seinen Memoiren, der Hitler-Stalin-Pakt sei letzten Endes für die
Sowjetunion vorteilhaft gewesen, weil man dadurch eine Atempause gewonnen habe. Jedoch
merkte er kritisch an: »Wir durften den Vertrag nicht einmal in Parteiversammlungen disku-
tieren … Es war sehr schwer für uns Kommunisten und Antifaschisten, die in der philosophi-
schen und politischen Opposition den Faschisten unverändert feindlich gegenüberstanden,
den Gedanken eines Bündnisses mit Deutschland zu akzeptieren.«1

Castro Delgado: Der Pakt in der Kominternzentrale

Den denkwürdigen Tag nach Abschluß des Paktes beschrieb Castro Delgado, zu jener Zeit Ver-
treter der KP Spaniens in der Komintern. Enrique Castro Delgado, damals 32 Jahre alt, gehörte
der KP Spaniens seit 1925 an. Wenige Jahre später war er im Regionalkomitee der Partei in Ma-
drid tätig sowie im Zentralorgan »Mundo Obrero«. Im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 war er
einer der Organisatoren des kommunistischen Fünften Regiments, gehörte seit 1937 dem Zen-
tralkomitee der KP Spaniens an, war vorwiegend für die Agrarreform verantwortlich und leitete
als Kommissar der Truppen an der Zentralfront auch die Ausbildung der politischen Kommissare.
Nach der Niederlage der spanischen Republik im Frühjahr 1939 kam Enrique Castro Del-

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gado über Frankreich in die UdSSR. Als der Hitler-Stalin-Pakt abgeschlossen wurde, war er un-
ter dem Namen »Luis Garcia« in der Komintern tätig und wohnte mit seiner Frau Esperanza
im Hotel »Lux«.
Der Moskauer Rundfunk begann um sechs Uhr mit den Sendungen, so auch am 24. August
1939: Castro Delgado wartete auf Nachrichten über Spanien, aber das Wort »Spanien« kam
nicht vor. Statt dessen begann eine monotone Stimme etwas zu verlesen. Castro Delgado und
seine Frau Esperanza schenkten dem keine Aufmerksamkeit. Am Ende vernahmen sie die Na-
men von Molotow und Ribbentrop. Im Zimmer nebenan hörten sie überstürzte Schritte. Als
einzige frühstückten sie völlig unbekümmert. Castro Delgado:
»Ich nahm die Aktentasche und ging schnell zum Bus hinunter, der um zehn Minuten nach
acht abfuhr. Als ich ankam, bot sich mir ein anderes Bild als an den übrigen Tagen. Heute stürz-
ten die Leute nicht los, um ihre Sitze zu erobern. Sie warteten auf dem Bürgersteig in Grup-
pen und unterhielten sich aufgeregt, einige beinahe schreiend.
Ich schaute einen nach dem anderen an; niemand sah mich. Ich wünschte einen guten Tag;
niemand antwortete mir.
Sie sprachen weiter, gestikulierten und bewegten die Arme. Der einzige, der nicht sprach,
war ich; der einzige, der nicht gestikulierte, war ich.«
Enrique Castro Delgado, damals »Luis Garcia«, dürfte der einzige Funktionär der Komin-
tern gewesen sein, der an diesem Morgen vor dem Hotel »Lux« nichts vom Hitler-Stalin-Pakt
wußte.
Als der Bus in Rostokino ankam, waren alle Passagiere so erregt, daß sie weder auf die Sta-
tue der Landwirtschaftsausstellung achteten noch auf die letzte Kurve vor der Einfahrt in den
Bereich der Komintern. Die Insassen des Busses zerstreuten sich eiliger als an anderen Tagen.
Castro Delgado ging in seinen Arbeitsraum. Um elf Uhr morgens erhielt er das amtliche
Nachrichtenblatt in spanischer Sprache und die »Prawda«.
»Auf der ersten Seite der ›Prawda‹ der Pakt und ein großes Bild von Stalin, der allen Kom-
munisten der Welt zu sagen scheint: ›Das war ich, hört ihr, ich!‹«
Delegado las den Pakt … einmal, zweimal, dreimal. »Während ich nachdenke, kommt es mir
vor, als wenn ich eine sanfte, doch energische Stimme höre, die unermüdlich wiederholt: ›Sta-
lin hat recht‹. … ›Stalin irrt sich nie.‹… Ich bin sicher, daß in den 299 Zimmern 299 Funk-
tionäre das Nachrichtenblatt lesen und in die ›Prawda‹ schauen und daß auch bei ihnen wie bei
mir eine sanfte, doch energische Stimme ohne Unterlaß wiederholt: ›Stalin hat recht‹. … ›Sta-
lin irrt sich nie.‹«
Im Laufe des Tages erhielt Enrique Castro Delgado, wie alle anderen Funktionäre der Kom-
intern, eine wichtige Nachricht: Um 18 Uhr soll ein Sprecher des Zentralkomitees der Kom-
munistischen Partei der Sowjetunion in der Komintern eine Rede über die internationale Lage
halten.
Alle fanden sich pünktlich ein, um den Funktionär des Zentralkomitees der KPdSU zu hören.
Von dieser denkwürdigen Zusammenkunft existiert nur der Bericht von Enrique Castro
Delgado. Seine Darstellung mag ein wenig ironisch überspitzt sein, dürfte aber für jeden, der

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solche Veranstaltungen in Moskau miterlebt hat, annähernd der Wahrheit entsprechen. En-
rique Castro Delgado:
»Auf der Tribüne Dimitroff, Manuilski, Marty, Togliatti, Pieck, Florin, Gottwald und einige
hohe Funktionäre des Apparates. Der Tagungsleiter Wilkow, der Sekretär der Parteiorganisa-
tion der Komintern, erhebt sich mit einem Papier in der Hand …
›Genossen, wir schlagen jetzt das Ehrenpräsidium vor.‹
Eine Pause.
Wilkow: ›Genosse Stalin …‹
Wir stehen auf und applaudieren wie verrückt. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Molotow …‹
Wir stehen auf und applaudieren etwas weniger. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Woroschilow …‹
Wir erheben uns und applaudieren wie vorher. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Kalinin …‹
Wir stehen auf und applaudieren ein bißchen weniger. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Andrejew …‹
Wir stehen auf, applaudieren genau wie vorher und setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Kaganowitsch …‹
Wir stehen auf und applaudieren etwas weniger. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Mikojan …‹
Wir stehen auf, applaudieren etwas weniger und setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Chruschtschow …‹
Wir stehen auf, applaudieren genau wie vorher und setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Berija …‹
Wir stehen auf, applaudieren wie rasend. Wir setzen uns.
Wilkow: ›Genosse Schwernik …‹
Wir stehen auf und applaudieren ein wenig. Wir setzen uns.
Und so haben wir unser Ehrenpräsidium. Ich schnappe nach Luft, trockne mir den Schweiß
ab, der mir die Stirn bedeckt, und bereite mich darauf vor, dem Referenten zuzuhören. Doch
Wilkow winkt mit noch einem Papier …
›Genossen, jetzt ernennen wir das eigentliche Präsidium …‹
Ich verkrampfe mich, ich glaube, auch die anderen. Und dieselbe Stimme, die bereits elf Na-
men angekündigt hatte, fährt unerbittlich und unermüdlich fort, als wenn die nicht genug
wären, die die glorreichste Führungsmannschaft der glorreichsten Partei bildeten.
›Genosse Dimitroff …‹
Wir stehen auf. Wir applaudieren. Wir setzen uns.
›Genosse Manuilski …‹
Wir stehen auf. Wir applaudieren. Wir setzen uns.
›Genossen Blagojewa, Bjelow, Stepanow …‹
Wir stehen nicht auf. Wir applaudieren nicht.

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Wir sind etwas müde, und ein wenig schmerzen uns die Hände. Doch die Sache ist wirklich
der Mühe wert. Wir haben zwei Präsidien: das Ehrenpräsidium und das Eigentliche Präsidium.
Der Sitzungsleiter tut, was alle Sitzungsleiter der Welt tun: Er steigt auf die Tribüne, ordnet
seine Papiere, stellt fest, ob man ihm das Glas Wasser hingestellt hat (hier ist es Tee), er fährt
sich mit der Hand über die Stirne, als wenn er darüber nachdenken müßte, was er zu sagen hat,
er schaut die Zuhörer an, hustet und … ›Genossen‹.
Zehn Minuten.
›… der Genosse Stalin, der voraussah, was uns bedrohte …‹
Der Applaus hindert den Redner daran, den Satz zubeenden, falls der Satz überhaupt anders
enden sollte… Und der Redner lächelt. … lächelt…
Zwanzig Minuten.
Der Redner bohrt seine Blicke in das Publikum, ich glaube, er sieht mich an, und ich schaue
auf die andere Seite… Er macht eine kleine Pause und …
›Die Imperialisten wollten die Richtung des deutschen Heeres nach Osten wenden … Doch
die Klarsicht unseres genialen Steuermannes, des Genossen Stalin …‹
Ein weiterer donnernder Applaus. Dreißig Minuten. Vierzig Minuten. Wir haben bereits vier
Applausstürme hinter uns. Fünfzig Minuten. Eine Stunde. Wir zählen sechs Stürme. Es ist be-
reits kein Tee mehr im Glas, und auf der linken Seite des Redners verbleiben nur noch ein paar
Blätter.
Ich glaube, viele der Zuhörer hören gar nichts mehr. In einer Reihe haben einige die Zeitung
über den Knien, so man sie von der Tribüne aus nicht sieht, und lesen.
Andere, glaube ich, schlafen mit offenen Augen. … Dimitroff malt lange Zeit auf einigen
Blättern herum, und wenn er eines vollgemalt hat, dann zerknüllt er es und legt es sorgfältig
vor sich hin: Es hat sich so bereits eine ziemlich lange Reihe gebildet. Manuilski ist sehr mit
seiner alten Pfeife beschäftigt: Ich glaube, nach langer Zeit ist es ihm gelungen, sie zu reinigen.
Die übrigen Mitglieder des Eigentlichen Präsidiums scheinen wie verzaubert zuzuhören…
Das letzte Blatt des fürchterlichen Stapels befindet sich bereits in den Händen des Redners.
›… Und das verbrecherische Manöver, von den imperialistischen Hunden eingefädelt, ist
zusammengebrochen, und zwar dank dieses Paktes mit unermeßlichen geschichtlichen Aus-
wirkungen, der Ausdruck des politischen Genies unseres Genossen Stalin.‹
Das Eigentliche Präsidium erhebt sich. Auch wir erheben uns. Das Eigentliche Präsidium
klatscht Beifall, wir klatschen Beifall. Und der letzte Sturm beginnt sich zu legen.
Dimitroff setzt sich. Manuilski setzt sich. Wir setzen uns. Der Redner nimmt die Papiere auf,
schaut nach dem Glas Tee, zieht ein Taschentuch heraus, wischt sich die Stirne ab und … geht
von der Tribüne herunter, um sich neben das Eigentliche Präsidium zu setzen. Ich warte. Wil-
kow erhebt sich. Ich erschauere. Ich glaube, selbst die Säulen erschauern.
›Genossen: Ich möchte im Namen des Präsidiums vorschlagen, daß wir dem Genossen Sta-
lin einen Beschluß senden …‹
Er liest. Ich höre zu. Ich verstehe nichts. Alle stehen auf, alle klatschen Beifall. Ich klatsche
auch Beifall. Wir sind mit dem deutsch-sowjetischen Pakt einverstanden.«2

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Ernst Fischer und die Emigrationsführung der KPD

Auch Ernst Fischer erinnerte sich daran, daß am 24. August 1939 auf der ersten Seite der
»Prawda« ein Foto von Stalin, Molotow und Ribbentrop im Kreml mit lächelnden Gesichtern
abgebildet war. An diesem Tag traf Ernst Fischer mit Wilhelm Pieck und seiner Familie zu-
sammen, die ebenfalls in Moskau lebte: der Sohn Arthur Pieck und dessen Frau Grete Lohde
sowie die Tochter Elli Winter, die Sekretärin ihres Vaters war.
Wilhelm Pieck, damals 63, war der Vorsitzende der deutschen KP-Führung in Moskau und
gehörte zur Führungsspitze der Kommunistischen Internationale. Seit 1928 war er Mitglied des
Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), seit 1931 Mitglied des EKKI-
Präsidiums und des EKKI-Sekretariats.
Ernst Fischer berichtete über die Zusammenkunft mit der Familie Pieck:
»In der Komintern war Grete Lohde die erste, die fragte: ›Was sagst Du dazu?‹ Einst ein
deutsches Arbeitermädel, nun die Schwiegertochter des Vorsitzenden der KPD Wilhelm Pieck,
intelligent, gewissenhaft, fleißig, arbeitete sie in der Redaktion der Zeitschrift ›Kommunisti-
sche Internationale‹. In ihren Augen war Ratlosigkeit.
›Wir deutschen Genossen werden es nie verstehen. Auch mein Vater versteht es nicht.‹ Die
Redaktionssekretärin Elli war die Tochter Wilhelm Piecks.
›Auch Arthur versteht es nicht!‹ sagte Grete. Arthur war ihr Mann. ›Niemand versteht es.‹«
Eine Stunde später rief Wilhelm Pieck Ernst Fischer an und fragte, ob er bereit wäre, abends
in seiner Datscha in Kunzewo an einer Diskussion mit führenden deutschen Kommunisten
teilzunehmen.
Anwesend waren außer Wilhelm Pieck und seiner Familie Wilhelm Florin, Mitglied des Polit-
büros der KPD, und Philip Dengel, Mitglied des ZK der KPD, beide gehörten ebenfalls dem
EKKI-Präsidium an, sowie einige andere wichtige deutsche KP-Funktionäre, an die sich Ernst
Fischer nicht mehr erinnerte.
Ernst Fischer versuchte eine etwas gehobene Art der Rechtfertigung. Gewiß sei es schmach-
voll, den Pakt mit freudigem Ja zu begrüßen. Hitler-Deutschland sei geblieben, was es war: der
Staat der Konzentrationslager, des Massenmords, der Judenschlächterei, der terroristischen
Diktatur. Daß Hitler sich vorübergehend mit Moskau verständige, ändere nichts an ihm und
seinem System. Der Pakt ermögliche der Sowjetunion, Zeit zu gewinnen. Den ersten Stoß der
deutschen Kriegsmaschine würde nicht die Sowjetunion aufzufangen haben, sondern England
und Frankreich. Die Sowjetunion brauche Zeit, um die Armee zu reorganisieren, damit sie der
deutschen Wehrmacht standzuhalten vermöchte. »Ich hielt diesen Pakt für verwerflich aus
moralischen Gründen, für notwendig aus politischen, weltgeschichtlichen, also war es meine
Pflicht, andere und mich selbst zu überreden, warum dann, zum Teufel, dieses Unbehagen, die-
ser Widerstreit von Gewissen und Bewußtsein?«
Er schien seine Gesprächspartner überzeugt zu haben – aber es gab einige Fragen.
»Für die deutschen Kommunisten ist also auch weiterhin der Kampf gegen Hitler die ent-
scheidende Aufgabe?«

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Ernst Fischer: »Unter allen Umständen.«


»Aber der Pakt?«
Ernst Fischer: »…darf uns nicht hindern. Natürlich können wir nicht von Moskau aus zum
revolutionären Kampf aufrufen. Aber wir müssen klarmachen, daß nicht die Arbeiterklasse
mit Hitler einen Pakt unterzeichnet hat.«
Soweit Ernst Fischer über seine damalige Diskussion mit den Führern der deutschen Kom-
munisten. In seinen Erinnerungen, die 30 Jahre später erschienen, gab er freimütig zu, den
Kern der Frage »damals nicht erkannt« zu haben – dies tat er in seinen 1969 veröffentlichten
Memoiren.3

Die Reaktionen der Sowjetbürger: Beispiel Kemerowo

Die Reaktionen der Sowjetbürger auf den Pakt waren widersprüchlich. Sie reichten von Über-
raschung, Bestürzung und Besorgnis bis zur beruhigenden Erklärung, die Stalinsche Führung
werde schon wissen, was sie tue. Noch eins kam hinzu: Unter den Bedingungen der Stalin-
Herrschaft – vor allem kurz nach der »großen Säuberung« von 1936 bis 38 – hielten sich die
Menschen in der Sowjetunion mit Meinungsäußerungen zurück.
Viktor Krawtschenko, damals 34, war seit 1929 Mitglied der Partei und erlebte sowohl die
große Säuberung als auch den Hitler-Stalin-Pakt als Betriebsdirektor in der sibirischen Indu-
striestadt Kemerowo. Im August 1943 reiste Krawtschenko mit einer sowjetischen Handels-
kommission in die USA, wo er sich im April 1944 vom Stalin-System lossagte. In seinem 1946
erschienenen Buch »Ich wählte die Freiheit« schilderte Krawtschenko, wie Parteimitglieder
und Ingenieure den Hitler-Stalin-Pakt in der sowjetischen Industriestadt Kemerowo aufnah-
men:
»Wir waren alle vollkommen überwältigt und verwirrt und vermochten es kaum zu fassen …
Für uns galt es all die Jahre als ausgemacht, daß der einzige Feind der Nazis die Sowjetunion
sei … Schließlich hatte man uns doch Jahr für Jahr den Haß gegen die Nazis eingetrichtert. Wir
hatten doch führende Armeegeneräle, darunter auch Tuchatschewski, erschossen, weil sie an-
geblich Verbündete von Hitlers Reichswehr waren. Die großen Verräterprozesse, in denen Le-
nins vertrauteste Freunde liquidiert wurden, stützten sich auf die Voraussetzung, daß Nazi-
Deutschland und seine Achsenfreunde Italien und Japan sich gegen uns zum Kriege rüsteten. …
Die Schurkerei Hitlers galt in unserem Land fast ebenso als geheiligter Glaubensartikel wie
die Unfehlbarkeit Stalins. Unsere Sowjetkinder spielten Faschisten-gegen-Kommunisten-
Spiele, wobei die Faschisten immer deutsche Namen trugen und jedes Mal grausam geschla-
gen wurden … In den Schießständen waren die Schießscheiben oft als ausgeschnittene na-
tional-sozialistische Braunhemden mit prunkendem Hakenkreuz dargestellt … Erst als wir die
Wochenschauen und Zeitungsbilder sahen, auf denen Stalin lächelnd Ribbentrop die Hand
schüttelte, begannen wir das Unglaubliche zu glauben. Hakenkreuz und Hammer und Sichel
flatterten Seite an Seite in Moskau! …

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So groß die Überraschung, ja Bestürzung auch war, so schnell stellte sich doch bald eine
Form der Rechtfertigung ein – vor allem jene, daß die Führung schon weiß, was sie zu tun hat.
Nach 22 Lebensjahren unter einer Diktatur war eine selbständige öffentliche Meinung un-
denkbar geworden …
Obschon jedermann die neue Freundschaft mit den Nazis und die sich häufenden Angriffe
auf andere europäische Staaten hinnahm, kann ich doch bezeugen, daß niemand für diese Dinge
Begeisterung zeigte. Die ganze Sache roch zu sehr nach einer Verlegenheitslösung. Unsere
politischen Versammlungen, bei denen die Sprecher aus der Hauptstadt uns die neue Lage er-
klärten, verliefen zurückhaltend und unruhig.«4

Eigene Erinnerung: Der 23. August 1939 in Jejsk

Ich lebte damals in Moskau im Kinderheim Nr. 6 für die Kinder der österreichischen Schutz-
bundkämpfer und der deutschen politischen Emigranten in der Kalaschnij-Pereulok 12. Wir wa-
ren inzwischen Jugendliche zwischen siebzehn und neunzehn, und unser Heim hatte sich in
eine Art Emigrantenheim für Jugendliche verwandelt. In den ersten Jahren waren wir recht
privilegiert: Unsere Kleidungsstücke wurden in besonderen Schneiderwerkstätten hergestellt,
für die Verpflegung sorgte eine österreichische Köchin, das Heim hatte einen eigenen Auto-
bus, mit dem wir zur Schule gebracht und wieder abgeholt wurden. Wir hatten ein eigenes Am-
bulatorium, das eine deutsche Ärztin leitete, wurden häufig eingeladen und besonders begrüßt,
erhielten Eintrittskarten für Opern, Operetten und Theaterstücke und bekamen Besuch von
deutschen antifaschistischen Schriftstellern, ausländischen Delegationen oder von Funk-
tionären der österreichischen und deutschen Sektion der Kommunistischen Internationale,
etwa von Koplenig, damals Generalsekretär der KP Österreichs, oder von Wilhelm Pieck. Aller-
dings waren wir im Heim Nr. 6 von der großen Säuberung von 1936 bis 1938 nicht verschont
geblieben. Immer häufiger wurde der Vater oder die Mutter eines Mitschülers verhaftet. Auch
meine Mutter war am 26. Oktober verhaftet und in das Lager Workuta verbannt worden. Schritt
um Schritt wurden auch Lehrer der Karl-Liebknecht-Schule verhaftet, und wir wurden 1937
in eine russische Schule eingewiesen.
Zu Beginn des Jahres 1939 hörte die blutige Säuberung auf, und wir hofften auf normale, ru-
hige und bessere Zeiten. Für die Sommerferien 1939 waren die Zöglinge des Heims auf unter-
schiedliche Orte im Süden der Sowjetunion aufgeteilt worden. Etwa zehn bis zwölf von uns,
darunter auch ich, sollten die Ferien in Jejsk am Asowschen Meer als Gäste einer großen
Militärakademie verbringen. Als wir ankamen, waren wir erstaunt. Zivilisten waren kaum zu
entdecken, überall sahen wir Uniformierte, die auf ihren Mützen die Aufschrift trugen
»W. M.A.U. imeni STALINA«. Die für uns zunächst unverständliche Abkürzung bedeutete
»Wojenno-Morskoje-Aviazionnoje Utschilischtsche«, auf deutsch etwa »Marinekriegsschule
für die Luftwaffe«. In der ganzen Stadt schienen fast nur Offiziere und Marineflieger der
WMAU zu leben.

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Uns wurde ein etwas abgelegenes schönes Gebäude zugeteilt. Die WMAU stellte uns einen
Autobus zur Verfügung, der uns täglich zum Meer und abends wieder zurückbrachte.
Nach den grauenvollen Zeiten der großen Säuberung waren diese Ferien für uns besonders
schön. Wir ruhten uns einmal richtig aus – ganz losgelöst von unserem üblichen Leben waren
wir allerdings nicht.
Jeden zweiten Nachmittag saßen wir etwas länger als eine Stunde mit unserem Politleiter
Igor Speranski zusammen und wurden politisch geschult – natürlich mit der Geschichte der
KPdSU, dem »Kurzen Lehrgang«.
Mitte August 1939 wurden wir zu einer Feier in den großen Kulturpalast der WMAU eingela-
den. Das Referat über die internationale Lage richtete sich, wie damals üblich, gegen den Faschis-
mus und Hitler-Deutschland, und der Redner ließ es sich nicht nehmen hinzuzufügen: »Genos-
sinnen und Genossen. Hier in unserem Saal befinden sich unsere ausländischen Gäste, die Söhne
und Töchter von deutschen und österreichischen Antifaschisten, die gegen die grausame Hitler-
Diktatur gekämpft haben!« Einige Tage später sollte unser Politleiter mittags in die Stadt kommen.
»Fahrt ruhig so lange baden. Ich komme abends zurück, ich bin nur in die Stadt gerufen worden.«
»Was ist denn los?«
»Keine Ahnung, etwas Wichtiges wird’s wohl kaum sein.«
Unbekümmert verbrachten wir viele Stunden am Meer und kehrten in unser Gebäude
zurück. Plötzlich stürzte unser Politleiter aufgeregt herein: »Eine ganz wichtige Nachricht«,
rief er, noch ganz außer Atem. »Ich habe in Jejsk den Bürstenabzug der morgen erscheinen-
den Zeitung erhalten.«
»Was ist denn passiert?« fragten wir wie aus einem Munde.
»Wir haben einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen.«
Wir starrten ihn mit offenem Munde an. Alles hatten wir erwartet, nur nicht das. Natürlich
hatten wir die Presse genau verfolgt, aber angenommen, es werde trotz aller Schwierigkeiten
bei den bisherigen Verhandlungen bald zu einem Bündnisvertrag mit England und Frankreich
gegen die faschistischen Aggressoren kommen.
Unser Politleiter Igor las uns mit offizieller, feierlicher Stimme den Wortlaut des Paktes zwi-
schen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland vor. Nach den ersten Sätzen glaubten wir noch,
es handele sich bei diesem Vertrag nur um eine Verpflichtung, einander nicht anzugreifen. Als
er weiter las, waren wir wie vom Donner gerührt. Das war nicht nur ein Nichtangriffspakt, hier
wurde eine völlige Änderung der sowjetischen Außenpolitik angekündigt! Gegenseitige Ge-
spräche über »gemeinsame Interessen« mit der Hitler-Regierung? Keine Teilnahme an irgend-
einer Mächtegruppierung, die sich gegen Hitler richtet? Das konnte nur eine endgültige Ab-
sage an alle Formen des Kampfes gegen die faschistischen Aggressoren bedeuten!
Erschüttert und schweigend saßen wir da. Schließlich meinte Egon Dirnbacher, der jüngste
unter uns, traurig: »Ach, wie schade, jetzt werden wir ganz bestimmt Chaplins Film ›Der große
Diktator‹ nicht sehen dürfen.« Der kleine Egon hatte die Situation richtig erfaßt, der Paktab-
schluß wirkte sich – wie wir in den nächsten Tagen sehen sollten – sofort auf das Leben in der
Sowjetunion aus.

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Eine Diskussion wollte nicht recht in Gang kommen, denn niemand, eingeschlossen unser
Politleiter, konnte für den Pakt irgendeine Erklärung geben.
Am nächsten Morgen, dem ersten Tag nach dem Paktabschluß, wurden wir schon ganz früh
von unserem Politleiter geweckt: »Eben ist ein Telegramm aus Moskau gekommen. Wir sollen
sofort zurückkehren.«
Zwei Stunden später fuhren wir ab. Im Zug beherrschten uns trübselige Gedanken. Was hatte
diese plötzliche Rückfahrt zu bedeuten? Wie würde sich unser Leben gestalten, nachdem die
Sowjetunion mit Hitler-Deutschland einen Pakt abgeschlossen hatte?
Auf dem Moskauer Bahnhof kamen uns einige Zöglinge des Heims entgegen, die sich in an-
deren Orten erholt hatten und noch vor uns zurückgekehrt waren: »Unser Heim ist aufge-
löst!« riefen sie uns zu.
Es gab wohl kaum eine Nachricht, die mich so hätte erschüttern können. Unser Heim – das
war für uns alles: unsere Wohnung, unser Leben, unser Beschützer, unser Freund! Und jetzt,
von einem Tag zum anderen, sollte es nicht mehr dasein!
Wir standen plötzlich vor einem Nichts und konnten uns unser weiteres Leben kaum vor-
stellen.
Schweren Herzens fuhren wir vom Bahnhof zu unserem Heim in der Kalaschnij-Pereulok
12. Dort sah es aus wie nach einer Schlacht: Möbelpacker, Anstreicher, Klempner liefen um-
her, renovierten und verpackten; unsere Sachen waren in irgendeinen Saal geräumt worden.
Einige waren abmarschbereit, wußten aber nicht wohin. Andere liefen ratlos und traurig in
dem Haus umher, das für viele Jahre unser Zuhause gewesen war.
Irgendwelche Sitzungen wurden abgehalten. Auf unsere Fragen zuckten die Pädagogen nur
hilflos die Achseln: »Wir wissen genausowenig wie ihr. Der Direktor ist auf einer Besprechung.«
Nach seiner Rückkehr hieß es: »Kommt alle in den großen Saal. Die Versammlung wird gleich
beginnen!«
Gegenüber den bisherigen Versammlungen war diese nicht gerade feierlich zu nennen. Wir
saßen auf Kisten und Säcken oder standen an die Wände gelehnt. Wie üblich wurde mit einer
politischen Einleitung begonnen. Unser Direktor »erklärte« uns den Pakt: Die Westmächte
hätten sich geweigert, auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu verhandeln. Sie wollten
die Sowjetunion einspannen, für die Interessen der westlichen Imperialisten zu kämpfen. Die-
ses Spiel habe der große Stalin jedoch durchschaut. Durch den sofortigen Abschluß eines Pak-
tes mit Deutschland sei die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Sowjetunion weiter in
Frieden leben und ihren Aufbau fortsetzen könne.
Dann kam er auf unser Heim zu sprechen: »Im Zusammenhang mit den neuen außenpoliti-
schen Notwendigkeiten wird auch bei uns eine gewisse Reorganisation erfolgen.« Unter der
Formulierung »gewisse Reorganisation« war die sofortige Auflösung des Heims zu verstehen.
Kurz, kalt und herzlos las der Direktor die neuen Richtlinien vor. Er gab sich keine Mühe
mehr, uns den Übergang in die neue Situation psychologisch zu erleichtern. Unwillkürlich
bekam ich den Eindruck, daß wir bereits »abgeschrieben« waren.
In einer halben Stunde war alles geregelt: Die Mehrheit unserer Zöglinge wurde in das rus-

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sische Kinderheim »Spartak« eingewiesen, die Älteren sollten entweder in einen Betrieb oder
in eine Hochschule gehen, die auch für die Unterbringung sorgen werde.
Durch den Abschluß des Nichtangriffspaktes mit Hitler-Deutschland und die Auflösung un-
seres Heims hatten wir uns über Nacht in gewöhnliche junge Leute verwandelt, die in der Sow-
jetunion lebten. Es erschien kaum glaublich, daß nicht einmal zwei Wochen vergangen waren,
seit wir mit einem Sonderautobus der Militärakademie ans Meer gefahren und auf einer fest-
lichen Veranstaltung von Hunderten von Offizieren gefeiert worden waren.

Die weitreichende Veränderung der sowjetischen Atmosphäre

Die plötzliche drastische Umstellung der Propaganda nach dem Hitler-Stalin-Pakt hinterließ
bei uns – wie bei den meisten damals in der Sowjetunion lebenden Menschen – einen ein-
schneidenden und bleibenden Eindruck.
Über Nacht unterblieben alle Angriffe, ja selbst kritische Bemerkungen über Hitler-Deutsch-
land und den Faschismus. Es schien so, als habe es niemals einen Faschismus gegeben. Statt des-
sen wurde zunehmend vom »Imperialismus« gesprochen, mit dem direkten Hinweis oder der
indirekten Andeutung, damit seien die »anglo-französischen Imperialisten« gemeint.
Besonders auffällig war die Veränderung in den Kinoprogrammen. Unmittelbar nach Ab-
schluß des Paktes wurden in allen Lichtspielhäusern der Sowjetunion die damals bekannten
antifaschistischen Spielfilme »Professor Mamlock« (nach einem Theaterstück von Friedrich
Wolf) und »Familie Oppenheim« (nach einem Roman von Lion Feuchtwanger) abgesetzt. Auch
Theaterstücke mit antifaschistischem Inhalt wurden nicht mehr gespielt, selbst Wolfs Schau-
spiel »Die Matrosen von Cattaro« wurde abgesetzt, obwohl es einen Matrosenaufstand im
Jahre 1918 zum Inhalt hat, der sich gegen die österreichisch-ungarische Monarchie richtete.
Wahrscheinlich dachte der Theaterzensor, man könne gar nicht genug Vorsicht walten lassen.
Mehrmals die Woche besuchte ich die »Bibliothek für ausländische Literatur« in der Stol-
jeschnikow Pereulok; sie war in einer kleinen Kirche untergebracht, die in den ersten Jahren
nach der Revolution geschlossen worden war. Hier lieh ich Bücher antifaschistischer Autoren
aus, vor allem Werke emigrierter deutscher Schriftsteller. Bereits wenige Tage nach dem Pakt
mußte ich feststellen, daß eine Reihe dieser Bücher aussortiert waren.5
Auch Enrique Castro Delgado wies auf die veränderte Propaganda hin: »Seit dem 24. August
haben sich die Dinge sehr verändert. Weder in der sowjetischen Tagespresse noch in den Zeit-
schriften erscheinen Anspielungen auf den deutschen Faschismus. Auch nicht in der Komin-
tern. Grundlage des Paktes ist unter anderem die Gefolgstreue, und im Namen dieser Treue ha-
ben wir den deutschen Faschismus vorübergehend vergessen.«6
Mit Hitlers Angriff auf Polen am 1. September und der Kriegserklärung Englands und Frank-
reichs hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Die offizielle These lautete, daß es sich um einen
imperialistischen Krieg von beiden Seiten handele und die Sowjetunion in diesem Krieg neutral
sei, aber die Medien neigten der deutschen Seite weit mehr zu. Sowohl im Moskauer Rundfunk

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als auch in sowjetischen Zeitungen wurde der deutsche Wehrmachtsbericht immer zuerst, die
entsprechenden Kommuniqués aus England und Frankreich dagegen an zweiter Stelle gebracht.
Die »Prawda« gab den Auszügen aus Hitler-Reden mehr Raum als den Auszügen aus Churchill-
Reden. Gegenüber Hitler-Deutschland war jede Kritik tabu, während die Kampagne gegen die
britischen und französischen Imperialisten verstärkt wurde.

Herbert Wehner über die Pakt-Zeit in Moskau

Herbert Wehner, damals in Moskau nur unter seinem Parteinamen Kurt Funk bekannt, wohnte
in jenen Jahren im Hotel »Lux«, im Wohngebäude der Kominternfunktionäre (Zimmer Nr. 271).
Wehner, 1906 in Dresden geboren, gehörte seit 1927 der KPD an und war seit 1930 Abgeord-
neter der KPD im sächsischen Landtag. Nach Hitlers Machtantritt war er zunächst in Deutsch-
land illegal für die KPD tätig, 1934 emigrierte er ins Saarland, 1935 nach Prag und gelangte von
dort nach Moskau.
In Wehners im August 1946 geschriebenen, aber erst 1982 veröffentlichten Erinnerungen
heißt es: »Der deutsch-russische Pakt war die äußerliche Kennzeichnung einer seit längerer
Zeit spürbaren Entwicklung. Für die deutschen Kommunisten in Moskau bedeutete er eine
furchtbare Belastung.«
Der Stimmungswandel führte auch zu grotesken Situationen: Deutsche kommunistische
Emigranten in der Sowjetunion wurden nun plötzlich, weil sie ja »Deutsche« waren, besser be-
handelt. So erinnert sich Herbert Wehner, daß ein alter deutscher Kommunist, mit dem er häu-
fig sprach, ihm kurz nach dem Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes von einem ungewöhnlichen
Vorfall erzählte: Er sei vom Betriebsparteisekretär, der ihm bis dahin niemals besondere Auf-
merksamkeit gewidmet hatte, begrüßt und beglückwünscht worden. Auf seine erstaunte Frage,
warum ihm solche Ehre zuteil werde, habe der Parteisekretär geantwortet: »Nun, wegen der
Erfolge der deutschen Truppen in Polen.«
Darauf der deutsche Kommunist: »Dies ist kein Grund, mich zu beglückwünschen.«
Der sowjetische Betriebsparteisekretär war erstaunt: »Sind Sie denn nicht dafür, daß die
Deutschen die Polen schlagen?« Der deutsche Kommunist versuchte zu erklären: »Ich bin für
den Sieg der Revolution, nicht für den Sieg Hitlers.« Der sowjetische Parteifunktionär schüt-
telte nur ärgerlich den Kopf: »Das sind Phrasen. Hitler hilft uns durch seine Siege über die pol-
nischen Pans.« (Gemeint waren die polnischen Großgrundbesitzer.)
Ein anderer Freund Herbert Wehners, ebenfalls ein deutscher Kommunist – der vor der Emi-
gration einige Jahre in einem Nazi-Zuchthaus inhaftiert gewesen war –, hörte während der
Fahrt in einem Moskauer Autobus, wie einige Passagiere nach den neuesten Zeitungsmeldun-
gen über deutsche Siege in Polen erklärten: »Hitler Molodez!« (etwa: »Hitler ist ein Teufels-
kerl« oder »ein tüchtiger Kerl«).
Dies entsprach der offiziellen Pressepolitik. Die sowjetischen Zeitungen räumten damals
umfangreichen Erklärungen Hitler-Deutschlands und Meldungen des deutschen Nachrich-

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tenbüros (DNB) stets Platz ein. Doch es gelang der KPD-Emigrationsleitung nicht, eine kurze
Mitteilung über den Tod und den Termin der Beisetzung eines langjährigen KPD-Funktionärs
zu veröffentlichen. Es handelte sich um Christoph Wurm, der bereits während des ersten Welt-
krieges in der (damals illegalen) Spartakusgruppe mitwirkte und als Delegierter am Grün-
dungsparteitag der KPD Ende 1918 in Berlin teilnahm, an führender Stelle im Januaraufstand
1919 sowie an der Märzaktion 1921 in Mitteldeutschland wirkte, anschließend Leiter der In-
formationsabteilung im Kominternapparat wurde, nach 1933 in der illegalen Landesleitung in
Berlin und seit April 1935 Leiter des deutschen Sektors an der Internationalen Leninschule
tätig war. In der bedrückenden Atmosphäre der Moskauer Säuberungen erlitt Christoph Wurm
einen Schlaganfall, er verstarb im September 1939.
Damals, so erinnerte sich Herbert Wehner, mußte alles unterlassen werden, was die Auf-
merksamkeit auf deutsche Flüchtlinge in der Sowjetunion lenken konnte.7

Erich Honecker und Heinz Brandt: zwei Wahrnehmungen im Zuchthaus Brandenburg

Im Zuchthaus Brandenburg befanden sich, nach den Angaben des damals inhaftierten Erich
Honecker, insgesamt 3000 Häftlinge, darunter 2200 politische Gefangene. Zwei von ihnen be-
stätigen in Augenzeugenberichten – auch auf unterschiedliche Weise –, wie die kommunisti-
schen Häftlinge in Brandenburg auf den Hitler-Stalin-Pakt reagierten.
Ein partei-optimistisches Bild zeichnet Erich Honecker in seinen Erinnerungen. Der damals
27jährige Erich Honecker, in Wiebelskirchen/Saarland geboren, gehörte seit 1929 der KPD an.
Vom August 1930 bis August 1931 besuchte er einen Lehrgang an der Leninschule in Moskau
und wurde nach seiner Rückkehr als Leiter der Bezirksleitung Saargebiet des Kommunisti-
schen Jugendverbandes (KJVD) eingesetzt. Nach Hitlers Machtantritt 1933 sollte er zunächst
in den Bezirken Mannheim und Frankfurt/Main die illegalen Verbindungen der Partei aus-
bauen. Am 4. Dezember 1935 wurde Erich Honecker in Berlin verhaftet, und im Juni 1937 zu
10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Kurz danach wurde er in das Zuchthaus Brandenburg-Görden
überführt.
Seiner Darstellung zufolge löste die Nachricht vom Hitler-Stalin-Pakt dort nur geringfü-
gige Diskussionen aus:
»Als am frühen Morgen des 24. August 1939 faschistische Zeitungen die Unterzeichnung
des Vertrages meldeten, organisierten Max Uecker und ich noch vor sieben Uhr eine Zusam-
menkunft mit Max Maddalena und Fritz Grosze in der Wartezelle des Zahnarztes, Wir waren
uns einig, daß der Abschluß des Vertrages ein diplomatischer Erfolg der Sowjetunion war. Ent-
ging sie dadurch doch der Gefahr, isoliert einem einheitlichen Block der imperialistischen
Mächte gegenüberzustehen. Zugleich behielt sie das Gesetz des Handelns und gewann Zeit,
ihre Verteidigungskraft zu stärken. Die weitere Entwicklung sollte unsere gemeinsamen Über-
legungen, die von den meisten politischen Gefangenen geteilt wurden, bestätigen.«8

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Eine ausführlichere und wohl wahrheitsgetreuere Schilderung finden wir in den Memoiren von
Heinz Brandt. Heinz Brandt, damals 30, war in Berlin aufgewachsen und 1928 in den Kom-
munistischen Jugendverband (KJVD) und 1931 in die KPD eingetreten. Von Beginn an stand
er der offiziellen Parteilinie, die sich fast ausschließlich auf den Kampf gegen den »Sozialfa-
schismus« der SPD konzentrierte, kritisch gegenüber. Brandt wurde am 5. März 1933 als Wahl-
helfer der KPD in Berlin-Weißensee verhaftet, in einem SA-Keller festgehalten und mißhan-
delt. Nach der Freilassung nahm er sofort die illegale Tätigkeit wieder auf, wurde jedoch am
4. Dezember 1934 erneut festgenommen. Wegen Verbreitung einer illegalen KPD-Betriebs-
zeitung (»Siemens-Lautsprecher«) und »Vorbereitung zum Hochverrat« wurde er zu einer
langjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Zuchthaus Brandenburg-Görden erlebte er, daß sich die
kommunistischen Häftlinge in zwei Gruppen spalteten:
»Die unbedingt Linientreuen, die nichts vergessen und nichts dazugelernt haben, durch Haft
verhärtet wurden und der Politik Stalins und der Komintern blindlings vertrauen. Sie diffa-
mieren den geringsten Zweifel bereits als beginnende ›Zersetzung‹. Aber auch eine andere
Gruppe, die der nachdenklich gewordenen Kommunisten, wuchs an. Sie verbindet sich mit all
jenen Genossen, die schon lange zuvor nicht stalinistisch waren (Genossen aus der SPD, SAP,
KPO, Trotzkisten, Gruppe ›Neu Beginnen‹).«
Bis zum Hitler-Stalin-Pakt, so Heinz Brandt, habe unter den politischen Häftlingen Solida-
rität geherrscht: »Trotz aller internen Differenzen hielten wir gegenüber dem Zuchthausappa-
rat fest zusammen – das war stillschweigende Voraussetzung auch bei der erbittertsten Dis-
kussion. Das System der gegenseitigen moralischen, ideellen und materiellen Hilfe (Austausch
von Gedanken, Informationen, Kassibern, Zeitungen, Lebensmitteln, Tabak) war fabelhaft aus-
gebaut, klappte technisch hervorragend. Wir waren die große Familie, wenn auch mit inter-
nem Familienkrach geblieben.« Dann spitzten sich die Diskussionen »gefährlich zu«. »Die ab-
solut Linientreuen begrüßten das Zustandekommen des sogenannten ›Nichtangriffspakts‹ im
August 1939, weil damit der Krieg ausgelöst, herbeigeführt wurde – der erwünschte Krieg der
›Imperialisten untereinander‹. Wir anderen aber standen aufs tiefste betroffen über diesen
schlimmsten Verrat an der internationalen Arbeiterbewegung, der vor der Welt offenbar machte,
daß auch Stalins Staat – nur mit einem anderen Vorzeichen als derjenige Hitlers – eine inhu-
mane Despotie darstellte.«
Die kritischen Kommunisten faßten ihre grundsätzliche Haltung zum Pakt in folgenden
Thesen zusammen:
»– Der Faschismus ist eine tödliche Gefahr für die menschliche Gesellschaft, insbesondere
in seiner nazistischen Erscheinungsform; der Pakt mit dem Faschismus, von wem auch ge-
schlossen, ist ein Verbrechen.
– Der Abschluß dieses Paktes im Namen angeblicher Interessen einer angeblichen Arbei-
terbewegung bedeutet keinen Fehler, sondern Verrat – so wie auch der 4. August 1914 (die Be-
willigung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion) keinen Fehler,
sondern Verrat am Sozialismus, an der großen Idee der Völkerfreundschaft, der internationa-
len Verbrüderung bedeutete.

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Bayerlein, Das Ende des Internationalismsu Umbruch

– Der Nichtangriffspakt ist ein markanter historischer Beweis dafür, daß der Stalinismus
keine Diktatur des Proletariats darstellt, sondern im Gegenteil eine Diktatur über das Prole-
tariat.
– Die III. Internationale (Komintern) erweist sich deutlich als reines Anhängsel der stalini-
stischen Außenpolitik, als Instrument des Stalinschen Terrorsystems. Die Komintern erweist
sich im Zweiten Weltkrieg genauso als ein ›verwesender Leichnam‹ wie seinerzeit im Ersten
Weltkrieg die Zweite Internationale.
– Die internationale Arbeiterbewegung kann – wie die jetzige Katastrophe beweist – nur auf
völlig neuer Grundlage, nur durch prinzipiellen Bruch mit der terroristischen Despotie, nur auf
demokratischer Grundlage, also neu erstehen. Nur eine solche humanistisch-sozialistisch-
demokratische Plattform legitimiert – politisch und moralisch – unseren Kampf gegen den
Faschismus. Nur von einer solchen Grundkonzeption aus kann der Faschismus nicht nur
gestürzt, sondern auch überwunden werden.«9

Schweiz: Hans Teubner und die »Abschnittsleitung Süd«

Hans Teubner, 1902 in Aue als Sohn eines Textilarbeiters geboren, gehörte der KPD bereits seit
1919 an und war von 1924 bis 1927 Redakteur kommunistischer Zeitungen. Dann erhielt er bis
1930 eine politische Ausbildung an der Leninschule in Moskau. Nach Hitlers Machtantritt ver-
haftet, saß Hans Teubner zwei Jahre im Zuchthaus Luckau ein. 1936 emigrierte er nach Prag,
dann nach Amsterdam. Während des spanischen Bürgerkrieges war er Mitarbeiter von Franz
Dahlem und Redakteur des Deutschen Freiheitssenders in Valencia und Barcelona. Im März
1939 gelangte er nach Zürich, wo er als Leiter der »Abschnittsleitung Süd« für die antifaschis-
tische Tätigkeit im süddeutschen Raum verantwortlich war. Bis Mai 1945 war er in der Schweiz
in verschiedenen Lagern interniert.
Er schreibt, daß in der Schweiz nach dem Pakt »viele Menschen verständnislos dastanden«.
Besonders schwierig war die Situation aber für die deutschen kommunistischen Emigranten:
»Auch bei einigen Kommunisten zeigten sich Verwirrung und Unverständnis… Während der
Emigrant das Brot des barmherzigen Gastgebers aß, wurde auf ihn eingeredet: ›Warum gehen
Sie denn nicht zu Ihrem Stalin, der sich jetzt mit Hitler verbrüdert? Sie können doch jetzt nach
Deutschland zurück, wenn sich Stalin mit den Hakenkreuzlern aussöhnt.‹ Das machte das Brot
des Flüchtlings sehr bitter.«
Hans Teubner versuchte – ähnlich wie nicht wenige Kommunisten in Frankreich und Eng-
land – sich selbst (und anderen) einzureden, der Kampf gegen den Faschismus gehe weiter. In
dem Beitrag »Die Sowjetunion – das Bollwerk des Friedens – Der faule Nazischwindel über die
SU / Niemals gibt es ein Bündnis zwischen Hitler und Stalin« für die illegal in Deutschland ver-
breitete »Süddeutsche Volksstimme« erklärte er, die Sowjetunion denke niemals daran, »sich
mit Hitler und seiner verbrecherischen Abenteuerpolitik zu verbünden … Die Sowjetunion
wird an der Seite aller vom Faschismus bedrohten Völker stehen, die entschlossen sind, sich

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gegen Angriffe zu wehren … Niemals also kann es ein Bündnis zwischen den Sowjets und Hit-
ler geben.«10
Bezeichnend ist auch die Überschrift des folgenden Artikels aus seiner Feder: »Die Politik
der Sowjetunion ist die Politik des Friedens / Der Nichtangriffspakt ist kein Bündnis und kein
Beistandspakt«. Hier wandte sich Teubner gegen alle Versuche des Hitler-Systems, die Arbei-
terklasse zu entwaffnen und der Widerstandsbewegung in Deutschland den lähmenden Ge-
danken einzuimpfen: »Wenn schon die Sowjetunion den Kampf gegen den Faschismus aufgibt
und mit ihm zusammen geht, was wollen wir dann noch? Unser Widerstand gegen Hitler ist
sinnlos.«
Um dieser – sehr richtig beschriebenen – Reaktion zuvorzukommen, spielte Hans Teubner
den Pakt herunter. Dieser behindere das Zustandekommen von Bündnissen zur Verteidigung
gegen die faschistischen Aggressoren nicht. Die Sowjetunion sei weiter um »Verhandlungen
um einen Beistandspakt mit England und Frankreich bemüht«. Er rief die deutsche Bevölke-
rung dazu auf, den Kampf gegen das Hitler-System fortzusetzen: »Stört die Kriegsmaschine-
rie! Schafft und festigt die Einheitsfront und die Volksfront! Fallt Hitler in den Arm! Hindert
Hitler, gleich nach welcher Seite er auch zum Krieg auszuholen versucht, an der Entfachung
des Weltbrandes!«11
Als Hans Teubner diese Erklärung schrieb und durch die »Süddeutsche Volksstimme« ille-
gal in Deutschland verbreiten ließ, hatten in Moskau längst intensive Gespräche mit der Hit-
ler-Führung über das gemeinsame Vorgehen gegenüber Polen stattgefunden, in denen der
Einmarsch der Sowjettruppen in Polen vereinbart wurde.

Belgien: Leopold Trepper und die »Rote Kapelle«

Leopold Trepper, als legendärer Chef der »Roten Kapelle« bekannt, wurde in Polen geboren,
ging als Jugendlicher nach Palästina, trat 1925 in die dortige KP ein, wurde mehrmals verhaf-
tet und war später als Sekretär der KP-Ortsgruppe in Haifa tätig. 1929 ging Trepper nach Frank-
reich, wo er in der jüdisch-kommunistischen Arbeiterbewegung wirkte, und 1932 in die Sow-
jetunion. Er studierte in Moskau an der »Kommunistischen Universität der Völker des
Westens«, nahm am berühmten 7. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (25. Juli
bis 8. August 1935) teil. Anschließend erteilte ihm die Zentrale des Nachrichtendienstes der
sowjetischen Armee den Auftrag, in Brüssel ein nachrichtendienstliches Zentrum aufzubauen
unter dem Deckmantel einer Import-Export-Firma, die im Herbst 1938 als »The Foreign Ex-
cellent Trench-Coat« eingetragen wurde. Trepper bezog in Brüssel eine unauffällige Wohnung
in der Avenue-Bols Nr. 117. Hier erfuhr er vom Hitler-Stalin-Pakt: »Ich konnte feststellen,
wie verwirrt die militanten belgischen Kommunisten durch diese Politik waren. Manche füg-
ten sich schweren Herzens, andere traten verzweifelt aus der Partei aus.« Er und seine Freunde,
mit denen er die »Rote Kapelle« aufbaute, klammerten sich »an einen einzigen Gedanken: Wel-
che Windungen Stalin auch vollführen mochte, der Krieg gegen Deutschland war unaus-

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weichlich. Diese Magnetnadel im Sturm bewahrte uns vor dem Untergang. Es galt durchzu-
halten, was immer geschehen mochte. Wir mochten Stimmungen haben, und die hatten wir
auch, aber aus unserer Mission durften wir nicht desertieren.«
Aber dieser Vorsatz war schwer zu verwirklichen, denn zu seiner maßlosen Erschütterung
mußte Leopold Trepper feststellen, daß Moskau an einer gegen Hitler-Deutschland gerichte-
ten nachrichtendienstlichen Tätigkeit kein Interesse mehr hatte: »Ende 1939 erhielt ich meh-
rere Weisungen, die zeigten, daß die neue Leitung der Zentrale kein weiteres Interesse an der
Bildung der Roten Kapelle hatte. Die Zentrale hatte nicht nur aufgehört, die versprochenen Ab-
gesandten in die Zweigstellen des ›Roi du Caoutchouc‹ zu schicken, sondern mehrere Funk-
sprüche, bei denen jedes Wort sorgfältig erwogen war, ersuchten mich dringend … nach Mos-
kau zurückzukehren … Seitdem erhielt ich Weisungen, die mit der Bildung der Roten Kapelle
nichts zu schaffen hatten und sogar ihre Existenz und Ziele gefährdeten.«12

Ruth Werner und die Funker von »La Taupinière«

»La Taupinière« («Der Maulwurfshügel«) liegt in den Bergen der französischen Schweiz, in
1200 Meter Höhe, nicht weit von der Ortschaft Caux entfernt. Dort stand ein modernisiertes
Bauernhaus, in dem sich der Sender befand, der eine Entfernung von über 2000 Kilometer zu
überbrücken hatte, um die Verbindung nach Moskau aufrechtzuerhalten. Nur ein schmaler,
kaum sichtbarer Graspfad führte zum »Maulwurfshügel«, der Fahrweg endete einen halben Ki-
lometer vorher.
Ruth Werner, damals 31 Jahre, war im Oktober 1938 in »La Taupinière« angekommen. In Ber-
lin geboren, zunächst als Buchhändlerin ausgebildet, war sie im Mai 1926 in die KPD einge-
treten. In China, wo sie mit ihrem ersten Mann, einem Architekten, seit 1930 lebte, wurde sie
von dem legendären Kundschafter Richard Sorge für den Nachrichtendienst der Roten Armee
gewonnen und mit den Regeln der konspirativen Arbeit vertraut gemacht. Anfang 1933 wurde
sie in der Sowjetunion auf einer »Kundschafter-Schule« für ihre weitere Tätigkeit ausgebildet.
(Das Wort »Spion« wurde im Osten nur für Gegner verwandt, die eigenen Agenten hießen
»Kundschafter«.) 1935 erhielt sie die Anweisung, polnisch zu lernen. Sie fuhr im Februar 1936
nach Warschau und anschließend nach Danzig; in beiden Orten richtete sie entsprechende Sen-
der ein und funkte nach Moskau.
Im Frühjahr 1938 kehrte Ruth Werner wieder in die Sowjetunion zurück. Ihr nächster Auf-
trag: Sich in der Schweiz für eine neue »Sende-Tätigkeit« niederzulassen. Anfang Oktober 1938
traf sie in der Schweiz ein und reiste nach einem kurzen Aufenthalt in Lausanne nach »La Tau-
pinière« weiter. Es gelang ihr verhältnismäßig schnell, mit der Arbeit zu beginnen. Die Ver-
bindung mit Moskau war gut, die Versteckmöglichkeiten waren sogar ausgezeichnet. Vom
Hausflur im ersten Stock führte eine Tür direkt auf den Heuboden; der Bauer entnahm das Heu
von der Außenseite, erreichte aber nie die zweite Tür, zu der nur Ruth Werner einen Schlüssel
hatte. Im Heu hinter dieser Tür verbarg sie das Material. Schon bald machte sie Bekanntschaften

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in Genf – darunter mit einem Engländer in höherer Position beim Völkerbund und mit der
Chefbibliothekarin beim Völkerbund, die viele Menschen kannte. Ruth Werner lernte nun,
nach englisch, russisch, polnisch und chinesisch auch noch französisch. Sie konzentrierte sich
völlig auf den Kampf gegen Hitler-Deutschland – dazu gehörten neben der Sammlung von
Informationen auch die Organisation von Sabotage und die Unterstützung der Widerstands-
bewegung.
In ihren in der DDR erschienen Memoiren hielt sich Ruth Werner bei der Einschätzung des
Hitler-Stalin-Paktes an die Parteilinie. »Der Nichtangriffspakt zwischen Stalin und Hitler ko-
stete uns viel Nachdenken. Wir begriffen, daß die Westmächte hofften, die kommunistische
Sowjetunion und das nazistische Deutschland würden sich gegenseitig kaputtmachen und sie
der lachende Dritte sein; dem sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Aber man mußte Emo-
tionen ausschalten und nur den Verstand benutzen, um richtig zu reagieren.«
Ihren damaligen engsten Mitarbeiter, »Jim« – Alexander Foote – nannte sie in ihren Erinne-
rungen einen »Verräter«.13

Besagter Alexander Foote, alias »Jim«, berichtete: »Bei Ruth Werner, damals unter dem Deck-
namen ›Sonja‹ tätig, handelt es sich in Wirklichkeit um Maria Schultz; ihr zweiter Ehemann,
den sie in den Erinnerungen nicht erwähnt, hieß Alfred Schultz. Er hatte für den Nachrich-
tendienst der Roten Armee in Polen und im Fernen Osten gearbeitet, wo er sich zu jener Zeit
befand.« Foote bezeichnet den deutsch-sowjetischen Pakt als »Blitz aus heiterem Himmel«. Im
Unterschied zu Ruth Werner weist er darauf hin, daß sie bereits in Deutschland eine größere
Zahl von Vertrauensleuten herangezogen hatten und neben einem größeren Sabotageakt auch
einen Attentatsplan auf Hitler vorbereiten sollten: »Die erste und einzige Reaktion auf den
Paktabschluß, die wir aus Moskau hörten, kam einen Tag später, als Sonja die Weisung erhielt,
möglichst alle Agenten und V-Leute aus Deutschland herauszuziehen und jeglichen Kontakt
zu dort verbleibenden Mitarbeitern abzubrechen. Das war mein erstes Erlebnis mit sowjetischer
Realpolitik; es wirkte wie ein Schock auf mich. Seine Wirkung auf Sonja, die als Kommunistin
der alten Garde während der letzten acht Jahre im Faschismus die Weltbedrohung Nr. 1 gese-
hen hatte, war natürlich verheerend.
Als einem guten Parteimitglied war ihr die Parteidisziplin so in Fleisch und Blut übergegan-
gen, daß es ihr zur zweiten Natur geworden war, den Launen eines Parteibefehls zu gehorchen;
sie war aber trotz allem immer davon überzeugt gewesen, daß sich die grundsätzliche Partei-
linie eindeutig gegen den Faschismus richte. Mit einem Schlag war dies jedoch alles anders.
Sonja gehorchte nach außen hin ihren Weisungen und löste befehlsgemäß die Organisation
auf, die sie mit so viel Mühe aufgebaut hatte; aber ich glaube, daß sie von dem Zeitpunkt an
nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache war.« Die gesamte geheime Tätigkeit sei eingestellt
worden – ähnlich wie bei der »Roten Kapelle« in Brüssel. Während Sonja mit »ihrem politischen
Gewissen rang«, hatte er die schwere Aufgabe, alle Aktivisten aus Deutschland zurückzuru-
fen.14

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Der endgültige Bruch Arthur Koestlers

Der bekannte Schriftsteller Arthur Koestler vollzog den Bruch mit dem Stalinschen Kommu-
nismus in zwei Phasen. Anfang 1938 gab er in einem Brief seinen offiziellen Austritt aus der
KPD bekannt, aber zum endgültigen Bruch mit der Sowjetunion kam es erst durch den Hit-
ler-Stalin-Pakt, ein Jahr zuvor war sie ihm noch als ein Bollwerk des Antifaschismus erschie-
nen.
Arthur Koestler, 1905 in Budapest geboren, lebte nach einem Studium der Naturwissen-
schaften an der Technischen Hochschule in Wien vorübergehend in einem Kibbuz in Palästina.
Von 1925 bis 1930 arbeitete er für die Zeitungen des Ullstein-Verlages als Auslandskorre-
spondent im Mittleren Osten und anschließend in Paris. Im Jahre 1930 zog er nach Berlin – er
kam an jenem 14. September 1930 an, als die NSDAP ihren großen Durchbruch bei den Reichs-
tagswahlen erzielte. Zu jener Zeit war Arthur Koestler im Ullstein-Verlag als wissenschaft-
licher Redakteur der »Vossischen Zeitung« sowie als wissenschaftlicher Berater angestellt. Die
Weltwirtschaftskrise, der rasche Anstieg der Arbeitslosen und die seitens der Nationalsozia-
listen drohende Nazis waren für ihn einschneidende Ereignisse: »Die Sozialdemokraten be-
trieben eine Politik opportunistischer Kompromisse; die Kommunisten, hinter denen die mäch-
tige Sowjetunion stand, schienen die einzige Kraft, um dem Ansturm der primitiven Horden
mit dem Hakenkreuz-Totem Widerstand zu leisten.«
Aber dazu veranlaßte ihn nicht nur die damalige Situation, sondern auch sein Studium der
Werke von Marx, Engels und Lenin, die, wie er schrieb, eine »geistige Explosion« bei ihm aus-
lösten. Von nun an schien es auf jede Frage eine klare Antwort zu geben. Am 31. Dezember
1931 trat er in die Kommunistische Partei Deutschlands ein.
Arthur Koestler gehörte der höchst ungewöhnlichen Parteizelle in der Künstlerkolonie am
Laubenheimer Platz an. Der Pol-Leiter war Alfred Kantorowicz, der Org-Leiter der Schrift-
steller Max Schröder und zu den 20 Zellenmitgliedern gehörte auch Dr. Wilhelm Reich, der
Gründer und Leiter des Instituts für Sexualpolitik. Arthur Koestler erlebte die Haus- und Hof-
Propaganda, die durch die groteske Politik der KPD und ihren Kampf gegen die Sozialdemo-
kratie unter der Parole des »Sozialfaschismus« geprägt war, nahm an den Zellensitzungen mit
ihrer oft eintönigen Einstimmigkeit, aber auch an den häufigen Scharmützeln mit den Nazis
teil.
Im Spätsommer 1932 fuhr er auf Einladung des »Internationalen Verbandes revolutionärer
Schriftsteller« in die Sowjetunion – mitten in der schwersten Krise der Kollektivierung. Koest-
ler sah mit eigenen Augen die Verheerungen der Hungersnot von 1932/33 in der Ukraine, die
Scharen von zerlumpten Familien, die auf den Bahnhöfen bettelten, Hunger und Elend, die
Apathie der Menschen auf den Straßen, die entsetzlichen Wohnverhältnisse, die Hunger-Ra-
tionen in den Kolchosen. Aber seine Parteierziehung, so berichtet Koestler, hatte ihn mit so
viel »kunstvollen geistigen Stoßdämpfern und dialektischen Wattepolstern ausgestattet, daß
ich alles Gesehene und Gehörte automatisch in den vorgefaßten Rahmen fügte«.
Als er im Herbst 1933 nach Deutschland zurückkehrte, war Hitler an die Macht gelangt;

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Arthur Koestler ging zu seinen Parteifreunden ins Pariser Exil. Er war im »Institut zum Stu-
dium des Faschismus« in Paris tätig – eine der vielen Organisationen Willi Münzenbergs, ar-
beitete 10 bis 12 Stunden am Tag ohne Gehalt, mit dem einzigen Privileg, in der Rue Buffon
jeden Mittag einen Topf dicker Erbsensuppe zu erhalten.
Während des spanischen Bürgerkrieges war Arthur Koestler Korrespondent des »News
Chronicle« im Hauptquartier Francos. Beim Fall Malagas Anfang 1937 wurde er von Franco-
Truppen gefangengenommen. Deren Greueltaten enthüllte er in der Dokumentation »Men-
schenopfer unerhört«. Vier Monate verbrachte er in Franco-Gefängnissen in Malaga und Se-
villa, den größten Teil davon in Einzelhaft, in Erwartung seiner baldigen Erschießung. Im Juni
1937 wurde der zum Tode Verurteilte aufgrund einer Intervention der britischen Regierung
überraschend freigelassen. Er schrieb in England sein berühmtes Buch »Ein spanisches Testa-
ment«, das durch den »Left Book Club« in der ganzen Welt verbreitet wurde. Durch die grau-
envollen Erfahrungen in den Franco-Gefängnissen hatten sich seine Bindungen an die Kom-
munistische Partei verstärkt. Aber Arthur Koestler erfuhr fast täglich neue Einzelheiten über
die Massenverhaftungen während der »großen Säuberung« in der Sowjetunion. Auch Freunde
unter den kommunistischen Emigranten wurden unter den unglaublichsten Anschuldigungen
festgenommen. Der Terror überschwemmte Rußland, begrub wie eine Flutwelle alle unter sich,
die ihm in den Weg kamen.
Im März 1938 fand der Prozeß gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« statt – mit
Nikolai Bucharin als Hauptangeklagtem. Dieser Prozeß »übertraf alles in dieser Richtung schon
vorangegangene, an Absurdität und Grauen«. Einige Tage später verfaßte Koestler einen Ab-
schiedsbrief an die KPD, die Komintern und das stalinistische Regime, der mit einer Loyalitäts-
erklärung für die Sowjetunion schloß. Bei aller Kritik gegenüber dem Regime, dem Krebs-
geschwür der Bürokratie, dem Terror und der Unterdrückung, bekannte Koestler darin seinen
Glauben an die unerschütterlichen Grundlagen des Arbeiter-und-Bauernstaates, an die Ver-
staatlichung der Produktionsmittel und erklärte, die Sowjetunion sei trotz allem noch immer
»unsere einzige und letzte Hoffnung auf einem im schnellen Verfall begriffenen Planeten«.
Erst ein Jahr später vollzog sich seine endgültige Abkehr. »Dieser Schwebezustand«, so Koest-
ler, »dauerte für mich bis zu dem Tag, an dem zu Ehren Ribbentrops die Hakenkreuzfahne auf
dem Moskauer Flugplatz gehißt wurde und die Kapelle der Roten Armee das ›Horst-Wessel-
Lied‹ anstimmte. Damit war es Schluß; von nun an war es mir wirklich egal, ob mich die neuen
Verbündeten Hitlers einen Konterrevolutionär schimpften.«15

Hans Werner Richter: Wir verbrannten unsere KP-Mitgliedsbücher

Hans Werner Richter ist vor allem durch seine schriftstellerische Tätigkeit im Nachkriegs-
deutschland bekannt – als Mitbegründer der Zeitschrift »Der Ruf«, als Begründer und aktiver
Mitarbeiter der »Gruppe 47« sowie durch seine vielen Bücher und literarischen Preise. Weit
weniger bekannt ist, daß Hans Werner Richter von 1930 bis zum August 1939 der KPD an-

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gehörte und für die Partei auch in der Illegalität tätig war. Darüber berichtet er in dem bemer-
kenswerten Buch »Briefe an einen jungen Sozialisten«, deren Grundtendenz sein Abschied von
einer Utopie ist.
Hans Werner Richter, als Sohn von Fischern in Bansin auf der Insel Usedom 1918 geboren
und Ende der 20er Jahre als Buchhändlergehilfe in Berlin tätig, trat 1930 in die KPD ein. Zwei
Dinge waren dafür ausschlaggebend. »Das war zum einen der Strahlenglanz, der von der uns
völlig unbekannten Sowjetunion auszugehen begann, zum anderen der ständige, für uns aber
doch überraschende Vormarsch der Nationalsozialisten, mit dem wir in dem Glauben, den
Gang der Geschichte für uns zu haben, nicht gerechnet hatten.«
Die Sowjetunion erschien Richter als jene ideale Gesellschaft, in der es keine Klassenunter-
schiede und auch keine Selbstentfremdung des Menschen mehr gebe. Die russischen Genos-
sen seien die Avantgarde der internationalen Revolution, berufen zur Führung und auch zu-
ständig für die deutschen Genossen.
Hans Werner Richter beschrieb sich selbst um 1930 als »einen jungen Funktionär, der sich
nicht nur im Besitz des richtigen, ja des absolut richtigen Wissens glaubte, sondern auch im Be-
sitz des großen marxistischen Seziermessers, mit dem er alles und jedes analysieren konnte
und das, einer Wünschelrute gleich, ihn mit Sicherheit aus der Nacht der Republik in das Licht
des Sozialismus führen mußte«. Zwar vertraute er der marxistischen Geschichtsauffassung,
laut der die Geschichte sich gesetzmäßig fortentwickelt: vom Feudalismus zum Kapitalismus,
vom Kapitalismus zum Sozialismus, bis zum Sieg des Proletariats. Doch die These vom »So-
zialfaschismus«, der zufolge die Sozialdemokratie der Hauptfeind sei, erschien ihm falsch. Auch
das Mißtrauen und die Bespitzelung, das Ersticken jeder innerparteilichen Demokratie, die
schematische Übertragung der Methoden der bolschewistischen Partei auf die deutsche KP
ließen bei ihm Zweifel aufkommen. Dennoch klebte er weiter nachts Plakate, nahm an De-
monstrationen teil und gründete neue KPD-Ortsgruppen in Pommerschen Dörfern.
Die Niederlage der KPD bei Hitlers Machtantritt erschütterte ihn. »Nichts rührte sich,
nichts geschah, kein Streik, kein Generalstreik, kein Aufruf zum Straßenkampf – nichts«, er-
innerte er sich. »Vergeblich warteten sozialistische und kommunistische Jugendliche, bereit zu
kämpfen und auf die Straße zu gehen, auf Anweisungen. Es gab keine, es sei denn die Anord-
nung der Kommunistischen Partei, sich in die Illegalität zu verkriechen.« Dies, so Hans Wer-
ner Richter, »war die erste Desillusionierung vieler meiner Altersgenossen«.
Die vor allem nach dem Reichstagsbrand einsetzenden Verhaftungen erlebte er in Berlin:
»Diese Verfolgung war allenfalls eine Kaninchenjagd von Totschlägern. Es gab keine Ausein-
andersetzung, keine Gegenwehr, keinen Kampf, es gab nur Angst, Fatalismus, Opportu-
nismus.« Hilflos flüchtete in jenen Nächten einer zum anderen, keiner wußte, wie und wo Wi-
derstand zu leisten wäre. Viele seiner Freunde wurden festgenommen, einige entkamen,
führende Funktionäre setzten sich überraschend schnell ins Ausland ab. Ein kleiner jämmer-
licher Buchladen, eine Art Leihbibliothek, wurde zum Treffpunkt der Genossen. Hans Wer-
ner Richter versteckte antifaschistisches Material und verbarg Parteimitglieder, die schon in
der Illegalität lebten und von Wohnung zu Wohnung zogen.

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Mit jeder Woche und jedem Monat ging der »Besuch« zurück. Das System begann sich zu
etablieren und alles und jedes zu durchdringen. Hans Werner Richter blieb in Kontakt mit jun-
gen Marxisten und anderen Antifaschisten. Die »Theorie-Diskussion« war abgeklungen – ge-
blieben war die Gegnerschaft zum Nazisystem mit dem Ziel, Hitler zu beseitigen. Die frühere
Parteizugehörigkeit zählte nun nicht mehr. Die Hitler-Gegner – Konservative, Kommunisten,
Sozialdemokraten und Katholiken – erkannten sich in den Betrieben, auf der Straße, in Ge-
schäften gegenseitig an der Nasenspitze, am Gesichtsausdruck, an kleinen Gesten.
Hitlers Erfolge waren für die deutschen Antifaschisten schwer zu ertragen. Nun schien es
nur noch eine Möglichkeit zu geben, ihm die Grenzen seiner Macht aufzuzeigen: außenpoliti-
sche Verwicklungen. Ihre Hoffnungen richteten sich auf die westlichen Demokratien, aber vor
allem auf die Sowjetunion. Zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges jubelten Hans Werner
Richter und seine Freunde. Jetzt, so dachten sie, werde die Volksfrontidee verwirklicht und
der gemeinsame Kampf aller Gegner des Faschismus sowie die internationale Solidarität zur
Realität. Aber diese Hoffnungen wurden überschattet von den Massenverhaftungen in der
Sowjetunion und den Schauprozessen in Moskau. Die Hälfte der Generalität der Roten Armee
mit Tuchatschewski an der Spitze sollten feige Verräter sein? Bucharin erschossen? Die Selbst-
anklagen in den Prozessen, die Selbstbeschuldigungen und die Anwürfe – Schakale, Scheusale,
widerliche Hunde, Bestien im Schafspelz – gegenüber alten Bolschewiki, die für die Idee des
Sozialismus ein halbes Jahrhundert gekämpft hatten?
Trotz mancher Zweifel blieb für Hans Werner Richter die Sowjetunion das Bollwerk des Wi-
derstandes gegen den Faschismus. Im August 1939 arbeitete er an der kleinen Tankstelle sei-
nes Vaters in Bansin mit. Er, seine Familie und seine Freunde – fast alle Sozialdemokraten oder
Kommunisten – wußten, es würde zum Krieg kommen, und für sie stand fest, daß Hitler die-
sen Krieg verlieren mußte. Gegen Hitler waren die Sowjetunion und Polen, Frankreich und
England, mit Amerika im Rücken. Ein solcher Zweifrontenkrieg könnte, so meinten sie, nur
wenige Monate dauern. Ein jahrelanger Durchhaltekrieg schien unmöglich. Dann aber kam
der Tag des Hitler-Stalin-Pakts. Hans Werner Richter erinnert sich:
»Es ist der 23. August 1939, der Tag, an dem sich all unsere Hoffnungen als Illusionen er-
wiesen, ein Tag der tiefsten Demütigung und Enttäuschung für mich, ja auch der Scham ge-
genüber allen, denen ich mit meinen Anschauungen immer wieder Mut gemacht und Geduld
eingeredet hatte. Alle bis dahin erlebten Niederlagen, was bedeuteten sie noch gegenüber die-
sem einen Tag, an dem alles zusammenbrach, was ich geglaubt hatte?« Er ahnte: »Die Folgen
bei den deutschen Sozialisten, aber auch in der internationalen proletarischen Bewegung, muß-
ten verheerend sein: es war die Demoralisierung schlechthin. Plötzlich waren wir allein, ver-
lassen, ohnmächtig. Was an moralischer Widerstandskraft an diesem einen Tag verloren ging,
ist heute noch nicht meßbar. Hitlers Ende wäre sehr viel schneller gekommen, hätte die Sow-
jetunion anders gehandelt. Was mußte für uns ein Tag bedeuten, an dem zu Ehren Ribbentrops
und damit Adolf Hitlers die Hakenkreuzflagge auf dem Moskauer Flugplatz gehißt wurde.«
Seine Freunde, so erinnerte er sich, hatten nichts gesagt, nur ungläubig die Köpfe geschüttelt,
denn sie wußten, daß Hitler nun den Krieg gegen Polen beginnen würde: »Mit dem Freund-

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schafts- und Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion im Rücken konnte er alles wagen, außen-
politisch wie innenpolitisch.«
Die Sowjetunion hatte die Volksfrontidee, den Kampf gegen den Faschismus beiseite ge-
worfen wie ein lästiges Übel. »Viele Intellektuelle, aber auch viele Arbeiter und kleine Funk-
tionäre in Europa, schickten in diesen Tagen ihre Parteibücher zurück. Wir konnten das nicht.
Aber ich verbrannte in der darauf folgenden Nacht die Parteibücher einer ganzen Ortsgruppe,
die ein Freund, unter ständiger Gefahr für seine eigene Sicherheit, aufbewahrt hatte; ich ver-
brannte sie im Wald und vergrub auch noch die Asche, um sicher zu sein, daß sie nicht gefun-
den wurde. Es war mein endgültiger Abschied von der Kommunistischen Partei, zu der es jetzt
keine Rückkehr mehr geben konnte.«16

Willi Münzenberg: »Der Verräter, Stalin, bist Du!«

Unter den vielen Kommunisten, die aus Enttäuschung und Empörung über den Hitler-Stalin-
Pakt mit der Sowjetunion und der Komintern brachen, war Willi Münzenberg wohl der be-
deutendste.
Willi Münzenberg, 1889 in Erfurt (Thüringen) geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen
auf, besuchte nur unregelmäßig die Volksschule, las aber heimlich alles, was ihm in die Hände
fiel. Schon in frühen Jugendjahren begann er in einer Erfurter Schuhfabrik zu arbeiten und
schloß sich der sozialistischen Jugendbewegung an. Dann ging er als Wanderbursche in die
Schweiz und lernte 1915, während des Ersten Weltkrieges, die damals in Zürich lebenden rus-
sischen Emigranten kennen: Lenin, dessen Frau Krupskaja, Trotzki und Sinowjew. Willi Mün-
zenberg war aktives Mitglied des Sozialistischen Jugendverbandes Zürich und schon bald sein
Vorsitzender. 1918 kehrte er nach Deutschland zurück, gehörte der KPD seit ihrer Gründung
an, betätigte sich jedoch vor allem in der kommunistischen Jugendbewegung.
Seit 1917 enger Freund Lenins, begründete er gemeinsam mit Leo Flieg, dem Österreicher
Richard Schüller, dem Jugoslawen Karlo Stajner und dem Schweizer Paul Thalmann die Kom-
munistische Jugendinternationale (KJI) und war gleichzeitig fast zwei Jahrzehnte der fähigste
Propagandaleiter des internationalen Kommunismus. Im Sommer 1921 beauftragte ihn Lenin,
mit dem er in persönlichem oder brieflichem Kontakt stand, angesichts der damaligen Hun-
gersnot in Rußland eine internationale Hilfsaktion einzuleiten. Als Gründer und Organisator
der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) war Münzenberg außerordentlich erfolgreich – Mil-
lionen an Geld und Sachwerten kamen in das vom Hunger heimgesuchte Sowjetrußland. Die
IAH unterstützte zunehmend auch streikende und eingekerkerte Kommunisten sowie deren
Frauen und Kinder in vielen Ländern.
Münzenberg beteiligte sich nicht an Fraktionskämpfen in der Partei oder der Komintern
und nutzte das relativ große Maß an Unabhängigkeit, das er besaß, um Zeitungen, Zeitschrif-
ten und Filmateliers zu gründen und einfallsreich zu gestalten. Seine Erfolge beruhten weit-
gehend darauf, daß er ungestört von der lähmenden Kontrolle der Parteibürokratie operieren

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konnte. Zunehmend zog er bekannte Intellektuelle und berühmte Persönlichkeiten zur Mit-
arbeit heran. Bereits 1926 verfügte Münzenberg in Deutschland über zwei Tageszeitungen mit
hohen Auflagen (»Welt am Abend« und »Berlin am Morgen«), die »Arbeiter-Illustrierte« (AIZ),
die Zeitschrift »Roter Aufbau«, ein erfolgreiches Filmunternehmen sowie den Neuen Deut-
schen Verlag und die »Universum-Bücherei«.
Wohl kein anderer prominenter deutscher Kommunist war so voller Ideen wie Münzenberg.
Den Gepflogenheiten der Jugendbewegung blieb er treu. An versammlungsfreien Sonntagen
zog es ihn in die Natur. Er trank kaum Alkohol, liebte es zu wandern, sich irgendwo im Wald
zu lagern und Sport zu treiben.
Mit der Gründung der Antiimperialistischen Liga im Jahre 1927 wurde sein Name weit über
Deutschland hinaus bekannt. An der Liga beteiligten sich u.a. der Brasilianer Luis Carlos Pre-
stes, der Inder Jawaharlal Nehru (der spätere Ministerpräsident Indiens), der berühmte mexi-
kanische Maler Diego Rivera, die Witwe Sun-Yat-Sens und General Sandino aus Nicaragua, auf
den sich die spätere Bewegung der Sandinisten berief.
Nach Hitlers Machtantritt 1933 setzte Willi Münzenberg seine politische, verlegerische und
publizistische Arbeit in Paris fort. Er gründete schon bald das Hilfskomitee für die Opfer des
deutschen Faschismus mit Zweigstellen überall in Europa und Amerika, den Verlag Editions
du Carrefour, veröffentlichte Artikel, organisierte den Londoner Gegenprozeß zum Reichs-
tagsbrandprozeß und gab das berühmte »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror«
heraus, das schon bald in alle Weltsprachen übersetzt und zur schärfsten Anklage gegen das Hit-
ler-System wurde. Der wichtigste Autor des Braunbuches war André Simone (Pseudonym für
Otto Katz), der Ende 1952 als Angeklagter im Slánský-Prozeß in der Tschechoslowakei zum
Tode verurteilt werden sollte.
Im Mai 1936 wurde Willi Münzenberg nach Moskau gerufen zwecks Beratung neuer Volks-
front- und Friedensaktivitäten. Er wirkte bei der Gründung der internationalen Friedenskam-
pagne Rassemblement Universel pour la Paix (RUP) mit, die in Veröffentlichungen deutscher
Emigranten häufig als Weltfriedensbewegung bezeichnet wird. Wenige Monate später ent-
sandte die Komintern den tschechischen Funktionär Bohumír Šmeral zur Kontrolle des von
Münzenberg geleiteten Propaganda-Apparats nach Paris. Im Oktober 1936 wurde Münzen-
berg erneut nach Moskau beordert, da er in der Agitprop-Abteilung (Agitation und Propa-
ganda) der Komintern arbeiten sollte. Nach der Ankunft stellten er und seine Frau Babette
Gross mit Schrecken fest, daß die Verfolgungswelle nach der Verurteilung Sinowjews und Ka-
menews zum Tode keineswegs zu Ende gegangen war, sondern gerade erst begonnen hatte. In
der Kominternzentrale wurde Münzenberg mitgeteilt, er solle seine Organisation in Paris an
Šmeral übergeben; gleichzeitig wurde er vor die Internationale Kontrollkommission der Kom-
intern (IKK) geladen, um sich wegen angeblicher »mangelnder revolutionärer Wachsamkeit«
zu verantworten. Er habe eine gewisse Liane Klein beschäftigt, deren Vater angeblich ein Spion
im Dienste Francos sei und durch seine Tochter an Informationen über das Unternehmen ge-
kommen sei. Anfangs erheiterte dieser Vorwurf Münzenberg, denn Liane hatte lediglich als
Stenotypistin von 1933 bis 1935 in einem seiner Büros gearbeitet und mit vertraulichen Ar-

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beiten nie etwas zu tun gehabt; aber als er zum zweiten und dritten Mal wegen dieser Angele-
genheit vorgeladen wurde, verstand er, daß der »Fall Liane« nur ein Vorwand war, um ihn zu
erledigen.
Von da an hatte er nur noch einen Gedanken: Moskau so schnell wie möglich zu verlassen.
Münzenberg ging zu Togliatti und erklärte, er müsse unbedingt die Aktion für Spanien, die er
in Paris eingeleitet hatte, zu Ende führen. Togliatti stimmte ihm zu, und Münzenberg erhielt
von der Kader-Abteilung der Komintern die Nachricht, die Abreise für ihn und seine Frau Ba-
bette sei genehmigt. Zur verabredeten Zeit fanden sich beide auf dem Bahnhof ein. Aber nie-
mand kam, um ihnen die Pässe mit der Ausreisegenehmigung und den Fahrkarten auszuhän-
digen. Niedergeschlagen kehrten sie in das Hotel zurück. »In der Nacht schlossen wir kein
Auge und warteten auf das Klopfen der NKWD-Leute an der Tür«, erinnerte sich Babette
Gross. Am nächsten Morgen stürmte Münzenberg zu Togliatti und machte ihm eine wütende
Szene. Das tat seine Wirkung. In Münzenbergs Beisein führte Togliatti eine Reihe wichtiger
Telefongespräche. Daraufhin erhielten sie die Papiere und Fahrkarten und reisten noch am glei-
chen Tag aus Moskau ab.
In Paris eingetroffen, übergab Willi Münzenberg die Abschlußberichte, Bilanzen und Ab-
rechnungen für alle Komitees und Verlage, die seiner Kontrolle unterstanden hatten, an den
neuen Kominternbeauftragten Šmeral. Das von ihm aufgebaute weltumspannende Unterneh-
men wurde nun von der Parteibürokratie übernommen und zerfiel bald darauf.
Am 10. April 1937 wurde in einem Saal in der Rue Cadet in Paris die Gründungskonferenz der
»Deutschen Volksfront« eröffnet. 300 Delegierte verschiedenster politischer Richtungen nah-
men daran teil. Zu den Referenten gehörten der Schriftsteller Heinrich Mann, der Sozialdemo-
krat Rudolf Breitscheid sowie Willi Münzenberg, der über die »Aufgaben der Volksfront« sprach.
Er wandte sich – offensichtlich auf die KP-Führung in Paris anspielend – gegen eine kleinliche
Politik von Winkelzügen, die nur das Vertrauen zerstöre. Von Heinrich Mann erhielt er darauf
einen auffälligen Dank. Hinter den Kulissen aber intrigierte Walter Ulbricht gegen Münzenbergs
Beteiligung an der Volksfront und trug damit zu ihrer weiteren Schwächung bei. Unter dem Ein-
druck der »großen Säuberung« in der Sowjetunion sagte sich eine Gruppe nach der anderen von
der Volksfront los: zunächst die fortschrittlichen Liberalen um Leopold Schwarzschild und das
»Neue Tagebuch«, dann die noch verbliebenen Sozialdemokraten und schließlich auch die Ver-
treter der »Sozialistischen Arbeiterpartei« (SAP). Vom Herbst 1937 bis Herbst 1938 betrieb die
KPD-Emigrationsführung einerseits eine Flüsterkampagne gegen Münzenberg, andererseits
wurde immer wieder versucht, Münzenberg zu einer Reise nach Moskau zu drängen. Unter dem
Eindruck dieses Kesseltreibens verschickte Münzenberg im Herbst 1938 ein (nicht veröffent-
lichtes) Rundschreiben an seine engeren Freunde, in dem er – ohne jede Schärfe und ohne Be-
schimpfungen – seine Trennung von der KPD bekannt gab: »Da die Verhältnisse in Deutschland
und die Zuspitzung der internationalen Krise den Einsatz jedes einzelnen erfordern, zwingen
mich meine politische Vergangenheit, mein sozialistisches Verantwortungsbewußtsein und mein
Temperament, mich von einer Organisation zu trennen, die mir eine politische Arbeit unmöglich
macht.« Abschließend konstatierte er, seine Stellung zur Sowjetunion habe sich nicht geändert.

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Münzenberg gründete die unabhängige überparteiliche deutsche Wochenschrift »Die Zu-


kunft«, deren erste Nummer Mitte Oktober 1938 erschien. »Die Zukunft« wollte den Kampf
gegen den Nazismus führen, sich für eine Zusammenarbeit der verschiedenen Emigrations-
gruppen einsetzen und ein Programm für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regi-
mes entwickeln. Schon die erste Nummer enthielt eine Liste von Mitarbeitern aller politischen
Richtungen: Thomas Mann, Heinrich Mann, Stefan Zweig, Josef Roth, Arnold Zweig, Lion
Feuchtwanger, Alfred Döblin, Alfred Kerr, Rudolf Olden, Manès Sperber und eine Vielzahl
von Ausländern, darunter Ignazio Silone und H.G. Wells.
»Die Zukunft« war so erfolgreich, daß die von der KPD herausgegebene »Deutsche Volks-
zeitung« völlig ins Hintertreffen geriet. Seit Anfang 1939 fanden sich die »Freunde der Zu-
kunft« zu politischen Diskussionen zusammen und versuchten, durch kulturelle Veranstal-
tungen der deutschen Emigration einen geistigen Mittelpunkt zu geben. Aus dieser lockeren
Gemeinschaft gingen die »Freunde der sozialistischen Einheit« hervor, die in enger Abstim-
mung mit österreichischen Emigranten das Programm einer künftigen reformierten deutschen
Arbeiterbewegung ausarbeiteten. Ihr Ziel war der Zusammenschluß »aller ehrlichen Antifa-
schisten« zu einer »revolutionären Einheitspartei der Arbeiterklasse« mit garantiertem inner-
parteilichem »Selbstbestimmungsrecht« und vollkommener Unabhängigkeit sowohl gegen-
über der Zweiten (Sozialistischen) als auch gegenüber der Dritten (Kommunistischen)
Internationale und die grundsätzliche Bereitschaft, »mit allen ehrlichen demokratischen Kräf-
ten Deutschlands« zu kooperieren.
In der »Zukunft« gab Willi Münzenberg am 10. März 1939 die Gründe seines Austritts aus
der KPD offiziell bekannt: »Ich trenne mich schwer von einer Organisation, die ich mitge-
gründet und mitgeschaffen habe.« Er habe sich 1915 als einer der ersten deutschen Sozialisten
Lenin und seiner Bewegung angeschlossen und sich für diese fast 25 Jahre mit seiner ganzen
Person eingesetzt. In den letzten zwei Jahren sei es jedoch zu Konflikten mit der Emigrations-
leitung der KPD gekommen, vor allem über die Ziele der Volksfront und über die innerpar-
teiliche Demokratie. Münzenberg warf der KPD eine »widerspruchsvolle Politik« vor: einer-
seits fordere sie die demokratische Volksrepublik, andererseits verzichte sie nicht auf eine
»Einparteidiktatur«. Sie trete für eine »Schaffung einer Einheitspartei der Arbeiterschaft« ein,
setze aber gleichzeitig die alte Taktik der Verunglimpfungen fort. Der Kampf gegen den Fa-
schismus werde erschwert durch das »Übergewicht eines bürokratischen Apparats, der das
Parteileben beherrscht, und durch eine Leitung, die sich trotz aller Niederlagen seit 1933 un-
fehlbar und unersetzbar dünkt«.
Münzenberg beschränkte sich jedoch nicht auf eine Kritik, sondern ging auch auf seine eige-
nen politischen Ziele ein: »Die Arbeiterpartei muß sich zu den Grundprinzipien der klassi-
schen Arbeiterbewegung bekennen, zur Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit der innerpar-
teilichen Demokratie und des Mitbestimmungsrechts aller Mitglieder.« Der Kampf gegen den
Faschismus könne nur von Menschen gewonnen werden, die von ihren eigenen Erkenntnis-
sen und Ideen überzeugt sind und auf freiwilliger Grundlage leiden und Opfer auf sich neh-
men. Mit reglementierten, kommandierten und schikanierten toten Seelen sei der Kampf nicht

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zu gewinnen. Der Kernsatz seiner Vorstellungen über ein zukünftiges Deutschland nach dem
Sturz Hitlers lautete: »Wenn das neue Deutschland Existenzberechtigung haben will, darf es
weder eine schematische Wiederholung der Weimarer Demokratie noch eine Einparteiherr-
schaft nach stalinistischem Muster sein.«
Aber selbst nach seinem öffentlich verkündeten Austritt aus der KPD vermied es Münzen-
berg, die Sowjetunion und Stalin anzugreifen: »Ich ändere meine Stellung nicht zur Sowjet-
union, dem ersten Land eines sozialistischen Aufbaus, dem großen Friedensgaranten«, schrieb
er noch in seiner Erklärung vom 10. März 1939.
Durch den Pakt waren allerdings alle Gründe, die ihn bislang zum loyalen Schweigen ge-
genüber der Sowjetunion veranlaßt hatten, weggefallen. Bei Münzenberg, so erinnerte sich Ba-
bette Gross, waren nun alle Dämme gebrochen. Sein Protest war wie ein Aufschrei. Münzen-
berg prangerte »den russischen Dolchstoß« an. Sein Artikel schloß mit den Worten:
»Frieden und Freiheit müssen verteidigt werden, gegen Hitler und Stalin. Der Sieg muß
gegen Hitler und Stalin erkämpft und die neue unabhängige Einheitspartei der deutschen Ar-
beiter im Kampf gegen Hitler und gegen Stalin geschmiedet werden … Jahrelang hat eine aus-
gehaltene Presse gehetzt und verleumdet, hat Hunderte von niederträchtigen Lügen verbrei-
tet, Tausende tapfere Arbeiter verdächtigt, keine Nummer der ›Volkszeitung‹ erschien, die
nicht hundertmal wiederholte: ›Nieder mit dem Schädling, nieder mit dem Verräter.‹
Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm, rufen, nach dem Osten
deutend:
Der Verräter, Stalin, bist Du!«17

Alexander Weißberg im »inneren Gefängnis« in Kiew

Alle hier bisher aufgeführten Erinnerungen damaliger Kommunisten betrafen den seinerzeit
veröffentlichten Teil des Hitler-Stalin-Paktes. Vom Geheimabkommen über die Aufteilung
Polens, der baltischen und osteuropäischen Länder zwischen Hitler-Deutschland auf der einen
und der Sowjetunion auf der anderen Seite wußten nur wenige. Zwar hatte es von Anfang an
Ahnungen und Befürchtungen gegeben, daß die Zusammenarbeit weit darüber hinausgehe,
aber über deren Ausmaß im militärischen Sektor und in den Geheimdiensten – bis hin zum Aus-
tausch von Gefangenen zwischen der Gestapo und dem sowjetischen Staatssicherheitsdienst
NKWD – war auch in der Entstalinisierungsphase unter Chruschtschow nichts bekannt. Erst
nachdem gegen Ende der Gorbatschow-Ära ein Untersuchungsausschuß die Existenz des Ge-
heimen Zusatzprotokolls bestätigt hatte, bestätigte das sowjetische Parlament die Echtheit des
Paktes samt Zusätzen. Selbst zu Beginn von Jelzins Herrschaft wurden diese heruntergespielt.
Um so wichtiger erscheint es, an das Schicksal zweier deutschsprachiger Kommunisten zu
erinnern, die damals infolge des Paktes ein grauenvolles Schicksal erlebt und überlebt
haben:
Alexander Weißberg erfuhr im »inneren Gefängnis« in Kiew vom Pakt. Er wurde 1901 in

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Warschau geboren, war in Wien aufgewachsen, hatte Physik studiert und war 1927 in die
Kommunistische Partei Österreichs eingetreten. 1931 erhielt Weißberg einen Ruf an das Ukrai-
nische Physikalisch-Technische Institut in Charkow, damals eine der größten und besteinge-
richteten Forschungsstätten Europas. Dort arbeitete er mit Leipunskij, der die Abteilung für
Kernspaltung leitete, und mit dem berühmten sowjetischen Physiker Landau zusammen.
Ende 1937 wurde Weißberg verhaftet und beschuldigt, einer Gruppe von Terroristen an-
gehört zu haben, die das Ziel hätten, Stalin und Woroschilow während eines Jagdausflugs im
Kaukasus zu ermorden und die wichtigsten Industriebetriebe der ukrainischen Hauptstadt im
Falle eines Krieges in die Luft zu sprengen.
In den Jahren seiner Haft in der Sowjetunion durchlief Weißberg alle Stadien der Gefäng-
niswelt: Einzelhaft, Straf- und Massenzelle. Am Anfang machte er »den großen Konveyer«
durch (so wurden in sowjetischen Gefängnissen Dauerverhöre mit Schlafentzug genannt):
7 Tage und 7 Nächte wurde er mit Ausnahme zweier kleiner Pausen am Tag ständig abwech-
selnd von drei NKWD-Leuten verhört. Dann brach er zusammen und unterschrieb sein »Ge-
ständnis«, das er 24 Stunden später zurückzog. Er kam wieder zum Dauerverhör, brach nach
4 Tagen und Nächten zusammen, unterzeichnete ein neues »Geständnis«, widerrief es und
wurde zum dritten Mal zum »Konveyer« geholt.
So wäre es sicher weitergegangen, wenn es für ihn nicht zwei positive Umstände gegeben hätte.
Erstens sicherte ihm sein österreichischer Paß ein Mindestmaß an Rücksicht, und zweitens –
viel wichtiger – setzte sich Albert Einstein in einem Brief an Stalin vom 16. Mai 1938 für ihn ein,
und auch einige Nobelpreisträger aus Frankreich verwandten sich für ihn. Nach dieser Inter-
vention reduzierten sich die üblichen Drangsalierungen für Alexander Weißberg. Er wurde in das
»innere Gefängnis« in Kiew überführt, wo die Zellen im Unterschied zu den sonstigen Massen-
gefängnissen relativ sauber und nicht überfüllt waren. Dafür waren die totale Isolation und die
Untätigkeit äußerst bedrückend. Man hörte kein lautes Wort, die Wärter flüsterten, auch die
Gefangenen mußten flüstern, es gab keinen Bleistift, kein Buch, keine Kommunikation.
Hier erfuhr Alexander Weißberg vom Hitler-Stalin-Pakt durch einen neu eingelieferten
Funktionär aus Tschernigow, der dort bereits eineinhalb Jahre in Haft gewesen war. Er brachte
Zeitungsnachrichten mit und erzählte: »Wir haben mit den Deutschen einen Pakt geschlossen.
Ribbentrop war selber in Moskau. Lustig muß das gewesen sein. Er wurde von Stalin und den
führenden Staatsmännern empfangen. Ob auch Kaganowitsch dabei war? Ob der Naz’ mit
dem Juden angestoßen hat?« Die übrigen Zelleninsassen und auch Alexander Weißberg konn-
ten den Sinn seiner Worte nicht verstehen. Keiner ahnte, daß dieser Pakt den Zweiten Welt-
krieg einleiten sollte.
Dann hörten die Häftlinge nichts mehr. Sie wußten weder, daß am 1. September Hitler-
Deutschland in Polen eingefallen war und wenige Tage später der Zweite Weltkrieg begonnen
hatte, noch, daß die Sowjettruppen am 17. September die polnische Grenze überschritten und
sich den östlichen Teil Polens einverleibt hatten.
Im November 1939 wurde Alexander Weißberg nach Moskau in die Butyrka überführt. In
diesem berüchtigten Gefängnis traf er mit Zenzl Mühsam (Witwe von Erich Mühsam), der

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Schauspielerin Carola Neher, Margarete Buber-Neumann und anderen deutschen Emigranten


zusammen.
Am 31. Dezember 1939 wurden Alexander Weißberg und einige Mithäftlinge früh geweckt;
man brachte sie in ein fast luxuriöses Bad, rasierte sie, führte sie in die Kleiderkammer und
kleidete sie bestens ein. Am Nachmittag wurde Alexander Weißberg gerufen. Ein junger
Offizier des NKWD erhob sich, reichte ihm einen Bogen Papier: »Unterschreiben Sie das, Bür-
ger.« Das Schreiben enthielt die Erklärung, das Verfahren gegen Alexander Weißberg sei ein-
gestellt und er sei »als lästiger Ausländer aus dem Gebiet der Union der Sozialistischen Sow-
jetrepubliken auszuweisen«. Aber wohin? Die Antwort des NKWD-Oberleutnants: »Sie gehen
jetzt nach Berlin.« »Ich will nicht nach Berlin«, antwortete Alexander Weißberg, »ich habe mit
dem deutschen Faschismus nichts zu tun. Ich bitte um die Erlaubnis, nach Schweden fahren
zu dürfen.«
Aber es half nichts, denn die Antwort war klar: nach Berlin.
In der Silvesternacht des Jahres 1939/40 setzte sich der Zug von Moskau aus in Bewegung.
Alexander Weißberg erinnerte sich: »Er brachte 70 geschlagene Leute nach Hause. Sie verließen
das Vaterland, das sie selber gewählt hatten, und kehrten in eine Heimat zurück, die ihnen
fremd geworden war. Sie standen zwischen den Fronten. Sie waren heimatlos geworden in bei-
den Ländern. Wir fuhren durch das verwüstete Polen auf Brest-Litowsk zu. An der Bug-Brücke
erwartete uns der Apparat des anderen totalitären Systems in Europa, die deutsche Gestapo.«18

Margarete Buber-Neumann: Von Karaganda ins KZ Ravensbrück

Margarete Buber-Neumann, 1901 in Potsdam geboren, studierte in Heidelberg und Jena,


gehörte zunächst einer sozialistischen Jugendgruppe an und trat 1926 in die KPD ein. Seit 1928
arbeitete sie, »ein gläubiges Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands«, als Redak-
teurin der Kominternzeitschrift »Internationale Pressekorrespondenz« im Karl-Liebknecht-
Haus der Berliner KPD-Zentrale.
Mehrfach begleitete sie Heinz Neumann, ihren zweiten Ehemann, in die Sowjetunion. Neu-
mann, Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre Stalins Sprachrohr in der KPD, war von
diesem zweimal eingeladen worden. Im Frühjahr 1932 wurde Neumann seiner Funktionen in
Deutschland enthoben und nach Moskau kommandiert. Im Oktober 1932 schickte ihn die
Komintern nach Spanien, und von dort wurde er nach Zürich abgeschoben. Nach seiner Ver-
haftung durch die Schweizer Fremdenpolizei verbrachte Neumann ein halbes Jahr in einem
Auslieferungslager. Die Sowjetunion bot ihm und seiner Frau Asyl an. NKWD-Mitarbeiter
verhafteten Heinz Neumann im April 1937 in Moskau, Ende November wurde er vom Mi-
litärkollegium des Obersten Gerichts zum Tode verurteilt und erschossen. Margarete Buber-
Neumann kam nach ihrer Festnahme im Juli 1938 in die Butyrka in Moskau, wurde als »sozial
gefährliches Element« zu 5 Jahren »Besserungs-Arbeitslager« verurteilt und erreichte nach lan-
ger Fahrt im Gefangenenwagen das Lager Karaganda in Nord-Kasachstan.

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Vom Hitler-Stalin-Pakt erfuhr sie erst mit großer Verspätung. Sie traf die deutsche kom-
munistische Emigrantin Grete Sonntag hinter dem Abort der Verwaltung. Flüsternd unter-
hielten sie sich. »Glaubst du, daß wir jemals hier rauskommen? Jetzt, wo Stalin auch noch einen
Freundschaftsvertrag mit Hitler gemacht hat? Da sind wir Kommunisten ihm doch erst recht
im Weg«, meinte Grete Sonntag – und ihre traurigen Augen füllten sich mit Tränen.
Ende des Jahres 1939 brachte man Margarete Buber-Neumann mit einigen anderen verhaf-
teten deutschen Kommunistinnen – darunter Carola Neher, Betty Olberg und Wally Adler –
unter weit besseren Bedingungen nach Moskau zurück. Im Butyrka-Gefängnis wurden sie von
einem Soldaten in ein besonderes Zimmer geführt:
»Im Zimmer saßen NKWD-Offiziere, die mich freundlich aufforderten, Platz zu nehmen.
›Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Fühlen Sie sich wohl? Haben Sie sich gut erholt?‹ fragte
im väterlichen Ton der eine. Dann blätterte er in irgendwelchen Papieren herum, die vor ihm
auf dem Tisch lagen. ›Haben Sie Verwandte im Ausland?‹«
Die kommunistischen Frauen wurden zu einem Friseur gebracht; in einem Raum, der mit
Kleidern, Wäsche, Schuhen und Pelzmänteln vollgestopft war, sollten sie auswählen, was sie
benötigten. Wenige Tage später erhielten sie ein vorgedrucktes Formular mit der Mitteilung,
das Urteil von 5 Jahren sei umgewandelt »in sofortige Ausweisung aus dem Territorium der
Sowjetunion«. Auf ihre Frage, wohin, gab es nur die kurze Antwort: »Darüber kann ich Ihnen
keine Auskunft geben. Unterschreiben Sie.«
Kurz darauf wurde Margarete Buber-Neumann zum Gefängniswagen gebracht, in dem be-
reits andere deutsche Antifaschisten zusammengepfercht waren. Der »Schwarze Rabe« hielt an
einem Moskauer Bahnhof, von dem aus nur Züge Richtung Westen abfuhren. Die Abteile der
Waggons hatten keine Fenster. Nur durch das Gitter über den Gang konnte man etwas von der
Außenwelt sehen.
Während des Transports wurden die Gefangenen – 28 Männer und zwei Frauen – so gut
verpflegt wie nie zuvor: Brot, Butter, Käse, Konserven, Tee und täglich eine Schachtel Ziga-
retten. Die Begleitmannschaft war freundlich – beantwortete aber keine Frage nach dem Ziel
der Reise.
Am Morgen des 7. Februar 1940 hörte sie den Ruf: »Wir haben Minsk schon passiert und
fahren in der Richtung nach Polen weiter!« Später erscholl der Ruf: »Fertigmachen, mit Sa-
chen!« Die Gitter wurden aufgeschlossen. Die Gefangenen kletterten aufs Eisenbahngleis hin-
unter und standen fröstelnd in der eisigen Winterluft. Von weitem konnte man einen Bahnhof
erkennen: Brest-Litowsk.
Margarete Buber-Neumann schildert die Übergabe:
»Alle Gesichter waren gleich starr und unbeweglich vor Angst. Wir standen und blickten
über diese Eisenbahnbrücke, die die Grenze bildete zwischen dem von den Deutschen be-
setzten Polen und dem von den Russen okkupierten Teil. Über die Brücke kam ein Soldat lang-
sam auf uns zu. Als er sich näherte, erkannte ich die Soldatenmütze der SS. Der NKWD-Of-
fizier und der von der SS hoben grüßend die Hand an die Mütze. Aus seiner hellbraunen
länglichen Ledertasche zog der NKWD-Offizier eine Liste. Er war fast einen Kopf größer als

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der von der SS. Sein Gesicht ledern und maskenhaft, wie man das in Schundromanen immer
beschrieben bekommt. Welche Namen er herunterlas, hörte ich nicht. Irgendwann vernahm ich
›Buber-Nejman‹.«
Auf der anderen Seite wurden die ausgelieferten deutschen Kommunisten, darunter Marga-
rete Buber-Neumann, in eine Holzbude gebracht. Dort sah sie zum ersten Mal die SS-Mütze
mit Totenkopf und gekreuzten Knochen aus der Nähe.
In einem Güterwagen wurden die ausgelieferten deutschen Antifaschisten zunächst in das
Gefängnis von Bialas, einer kleinen polnischen Provinzstadt in der deutsch-besetzten Zone,
transportiert. Von dort kamen sie in das Gefängnis von Lublin, und schließlich wurden sie in
das Konzentrationslager Ravensbrück überführt. Dort blieb Margarete Buber-Neumann noch
weitere fünf Jahre – bis zum Ende des Krieges. Nur wenige der dort inhaftierten Kommuni-
stinnen schenkten ihren Berichten über die Sowjetunion Glauben, die Mehrzahl der politi-
schen Häftlinge lehnte die neue Mitgefangene offen ab.19

Einige Schlußfolgerungen

Bei den Erinnerungen der damals aktiven kommunistischen Zeitzeugen erscheinen mir fol-
gende Aspekte besonders wichtig zu sein.
1. Die Geheimhaltung. In die Vorbereitung des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939
weihte Stalin offensichtlich einige ganz wenige, ausgewählte Personen ein – von der Sowjet-
führung wahrscheinlich nur Molotow. Selbst die Mitglieder des sowjetischen Politbüros wur-
den –wie aus den Erinnerungen Chruschtschows hervorgeht – von Stalin nicht informiert. Er
ließ die Politbüro-Mitglieder einfach auf die Jagd gehen. Dasselbe gilt für die Führung der
Komintern. Selbst so bedeutsame Kominternführer wie Wilhelm Pieck erfuhren über den Pakt
nur durch Zeitung und Rundfunk.
2. Die fehlende Einberufung der Gremien. Im Unterschied zu sonstigen Gepflogenheiten
bei ähnlichen Ereignissen während der Stalin-Ära gab es diesmal auch nach dem Ereignis, dem
Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts, keine »Behandlung« oder »Erörterung« in den entspre-
chenden Gremien: Weder eine Sitzung des Politbüros zu diesem Thema noch eine Tagung des
Zentralkomitees. Was bei sonstigen Beschlüssen stets üblich war, fand beim Hitler-Stalin-Pakt
nicht statt.
3. Keine Direktiven. Es gab für die sowjetischen Parteimitglieder und Funktionäre diesmal
nicht die üblichen Direktiven des Zentralkomitees bzw. Politbüros zur Erklärung und Sprach-
regelung. Vor allem: Die Führung der Kommunistischen Internationale hat weder unmittelbar
am Tage des Paktes noch in den ersten Tagen und Wochen die Führung, die Mitglieder oder die
Funktionäre der Kommunistischen Parteien anderer Länder ausreichend informiert. Es gab in
diesen entscheidenden Wochen keine öffentlichen Stellungnahmen – auch keine internen Er-
klärungen. Keiner der Zeitzeugen (von denen hier nur eine wichtige Auswahl getroffen wor-
den ist) hat eine solche Direktive je erwähnt. Auch in allen späteren offiziellen Darstellungen,

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z.B. der parteioffiziellen »Die Kommunistische Internationale – Kurzer historischer Abriß«,


wird keine Direktive der Komintern an die KP-Führung anderer Länder erwähnt.
4. Die politischen Folgen des Hitler-Stalin-Pakts. Auch die anschließenden Ereignisse nach
dem Pakt – Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939, die Kriegserklärung Englands und
Frankreichs an Hitler-Deutschland sowie die Aufteilung Polens durch den mit der Hitler-
Führung vereinbarten und abgesprochenen Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ostpolen
am 17. September 1939 – wurden niemals in einer offiziellen zusammenhängenden Darstel-
lung erklärt und begründet. Dasselbe galt für die Aufteilung der drei baltischen und ost-
europäischen Länder in jeweils eine sowjetische und eine deutsche Einflußsphäre.
5. Die Ausdehnung auf die Sphäre der Nachrichten- und Geheimdienste. Der Hitler-Sta-
lin-Pakt ist der einzige außenpolitische Vertrag während der gesamten Stalin-Ära (1929–1953),
der sich auch auf die Tätigkeit der Geheimdienste und Spionagedienste erstreckte. Selbst in
späteren kommunistisch regierten Ländern war der sowjetische Nachrichtendienst äußerst
aktiv. Um so erstaunlicher und bedeutungsvoller ist die Tatsache, daß nach dem Hitler-Stalin-
Pakt die Tätigkeit der wichtigsten sowjetischen nachrichtendienstlichen Institutionen einge-
stellt worden ist. Auch ist der Hitler-Stalin-Pakt wohl der einzige Vertrag, in dem die Sowjet-
führung mit einem anderen Staat Vereinbarungen getroffen hat, politisch unliebsame Personen
auszutauschen, und bereit war, ausländische Kommunisten, die sich in sowjetischen Lagern
befanden, anderen Regierungen auszuliefern.
6. Die Besonderheiten des Pakts. All dies scheint mir den anfangs erwähnten Hinweis zu
bestätigen, daß es sich beim Hitler-Stalin-Pakt keineswegs nur, wie oft angenommen, um einen
außenpolitischen Vertrag gehandelt hat, sondern um einen Vertrag, der die Innenpolitik, die
Ideologie und die Nachrichtendienste einbezog. Es sind dies Aspekte, die das sowjetische
Schweigen über den Pakt erklären. Seit Stalins Tod sind von offizieller sowjetischer Seite aus
viele – auch ernsthafte – Fehler zugegeben worden, doch der Hitler-Stalin-Pakt blieb, von eini-
gen kurzen Andeutungen abgesehen, von jeder objektiven Darstellung und Einschätzung aus-
geschlossen.

Anmerkungen

1 Chruschtschow erinnert sich. Hrsg. von Strobe Talbott. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 140–141.
2 Enrique Castro Delgado: Mi se fe perdió en Moscú. Mexiko 1951, S. 36–37.
3 Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 406–409.
4 Viktor A. Kravchenko: Ich wählte die Freiheit. Das private und politische Leben eines Sowjetbeamten. Hamburg
1946, S. 438–441.
5 Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder. Köln 1955, Neuauflage 1981. S. 50–55.
6 Enrique Castro Delgado: Mi se fe perdió en Moscú, S. 38–39.
7 Herbert Wehner: Zeugnis. Hrsg. von Gerhard Jahn. Köln 1982, S. 233.
8 Erich Honecker: Aus meinem Leben. Ost-Berlin 1982, S. 138.
9 Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. München 1967, S. 133–140.
10 Süddeutsche Volksstimme, Zürich, 1939; zitiert nach Hans Teubner: Exilland Schweiz. Ost-Berlin 1975, S. 58.
Nachdruck Frankfurt a.M. 1975.

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11 Ebenda, S. 56–60.
12 Leopold Trepper: Die Wahrheit. Autobiographie. München 1975, S. 100.
13 Ruth Werner: Sonjas Rapport. Ost-Berlin 1977, S. 225–229, 231–235 und 241f.
14 Alexander Foote: Handbuch für Spione. Darmstadt 1954, S. 41–43.
15 Arthur Koestler in: Ein Gott der keiner war. Köln 1952, S. 25, vgl. auch Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit. Die
Abenteuer meines Lebens. Berlin und München 1985. S. 156 und 364–365.
16 Hans Werner Richter: Brief an einen jungen Sozialisten. Hamburg 1974, S. 80–84.
17 Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie. Stuttgart 1969, S. 316, 318 und 327–328.
18 Alexander Weißberg-Cybulski: Hexensabbat. Frankfurt/Main 1977, S. 349, 356, 364–365 und 369–372.
19 Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Köln 1952, S. 130 und 149–157.

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Hermann Weber

Vorwort

Die Kommunistische Internationale, der weltweite, zentralistische Zusammenschluß kom-


munistischer Parteien von 1919 bis 1943, wurde in den dreißiger Jahren von zwei besonders
markanten Krisen erschüttert. In der Periode des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion,
insbesondere von 1936 bis 1938, haben die »Säuberungen« die Komintern hart getroffen: Ein
Großteil vom Führungspersonal ihres Exekutivkomitees, des EKKI, sowie exilierter ausländi-
scher Kommunisten wurde ermordet oder verschwand im Gulag. Von diesem Aderlaß konnte
sich die Komintern nicht mehr erholen.
Ebenfalls als verheerend für die Weltorganisation erwies sich der deutsch-sowjetische Pakt
vom August 1939. Da die von Moskau geleitete »Weltpartei der Revolution« inzwischen zum
Instrument der Stalinschen Innen- und Außenpolitik geworden war, mußte sie sich von August
1939 bis zum deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 deren Taktik unterordnen. In
diesen »dunklen Jahren« der Komintern, des Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrages der
Diktatoren einschließlich des geheimen Zusatzabkommens, hatte sie den Stalin-Hitler-Pakt
sowohl zu verteidigen, als auch ihre Politik den neuen, fast freundschaftlichen Beziehungen der
Sowjetunion gegenüber dem barbarischen Nationalsozialismus anzupassen.
Die Sowjetunion verfolgte ihre strategische Politik, ihre außenpolitischen Ziele nicht zu-
letzt über die Komintern und die kommunistischen Parteien sowie sympathisierende Strö-
mungen und Persönlichkeiten. Unter diesem Aspekt ist die Komintern mit Beginn des Zwei-
ten Weltkriegs, für die Zeit zwischen dem Stalin-Hitler-Pakt 1939 und dem deutschen Angriff
auf die Sowjetunion, von besonderem Interesse, aber noch wenig erforscht.
Nicht nur für die sowjetische Außenpolitik, sondern auch für die Komintern bedeutete der
Pakt die Beendigung der Ära des Antifaschismus der Kommunisten. Die seit 1935 gültige These,
der Hauptfeind Hitler müsse gemeinsam mit den demokratischen Staaten, den bürgerlichen Kräf-
ten und den Sozialdemokraten in einer »Volksfront« bekämpft werden, wurde verworfen. Diese
Politik war – so etwa Molotow 1939 (vgl. S. 154f., 163f., 176f.) überholt, »einige alte Formeln«
(d.h. der Antifaschismus, Hitler als Hauptfeind) seien »veraltet und heute unanwendbar«. Nun
wurden England, Frankreich und dann die USA, aber in erster Linie (wie 1929–1934) die Sozial-
demokratie als »Hauptfeind« angegriffen. NS-Deutschland war bestenfalls ein »Feind zweiter
Klasse«, entsprechend dem Freundschaftsvertrag vom September 1939 war Hitler zu schonen.
Im Gefolge des Stalin-Hitler-Paktes wurde also die Generallinie der Komintern radikal ge-

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ändert. Wie weit dabei die Verbiegungen der Kominternstrategie und -taktik, die Anpassung
ihrer Sektionen reichten, das wird in vollem Ausmaß erstmals in der vorliegenden Quellene-
dition deutlich. Dabei zeigt sich, daß es um viel mehr ging als nur um Propaganda gegen Eng-
land und die Sozialdemokratie: Es war das Verbot militärischer oder politischer antifaschisti-
scher Betätigung und Mobilisierung, diente der Verunglimpfung aller Kräfte, die einen
antifaschistischen Krieg gegen Hitler für gerechtfertigt hielten.
Wolfgang Leonhards Bericht und die erläuternde Studie des Herausgebers Bernhard H. Bay-
erlein ordnen die Dokumente in den historischen Zusammenhang ein und beleuchten die viel-
fältigen Quellen aus den unterschiedlichsten Provenienzen. Sie gestatten Innenansichten zu
Stalins Beitrag zum Entstehen des Zweiten Weltkrieges, seiner Haltung zu NS-Deutschland
bis 1941. Da unmittelbare Belege über Stalins außen- und kriegspolitische Ziele (nicht zuletzt
die über einen deutschen Angriff) noch weitgehend fehlen, können hierzu nun verstärkt Kom-
interndokumente herangezogen werden. So entsteht ein sehr viel klareres, differenzierteres
Bild des politischen Kollapses der sowjetischen Politik sowie von einer durch Prinzipienlosig-
keit und Menschenverachtung geprägten Politik und Denkweise des Stalinismus.
Der Pakt schuf Verwirrung und Desorientierung in den kommunistischen Reihen und führte
zur Isolierung der Kommunisten innerhalb der Arbeiterbewegung. Vor allem die illegal gegen
den Faschismus kämpfenden Parteien gerieten in existentielle Schwierigkeiten. In Deutsch-
land ging die Widerstandsfähigkeit durch den Pakt zurück, wie sowohl die niedrigen Zahlen der
verbreiteten Druckschriften als auch das Ausmaß der Verhaftungen 1939/40 zeigen.
Die völlige Verstörung unter deutschen Emigranten wie bei illegalen Widerstandskämpfern
war verständlich. Denn die KPD war als erste vom Hitler-Regime unterdrückt und zerschla-
gen worden, hatte die größten Opfer im »antifaschistischen Widerstandskampf« gebracht und
mußte nun Stalins Pakt mit Hitler verteidigen. Die neue Kominternlinie traf die deutschen
Kommunisten besonders hart. Ihre Führung sollte diese Politik vor allem im Exil durchsetzen.
Im Zusammenhang mit den hier präsentierten Quellen dazu ein kurzer Rückblick:
Kommunisten und Nationalsozialisten hatten sich in Deutschland schon während der Aus-
einandersetzungen bis 1933 in Straßen- und Saalschlachten blutig bekämpft. Daher galt die
KPD als streitbare »antifaschistische« Partei, und sie wurde deswegen von den Nationalsozia-
listen nach deren Sieg 1933 auch am brutalsten verfolgt, ihre Organisation zerschlagen. Die
KPD war aber – entgegen späteren SED-Legenden – bis 1933 weder die »einzig konsequente«
Partei gegen den Nationalsozialismus, noch setzte sie sich für die »Einheitsfront« mit der So-
zialdemokratie und den Freien Gewerkschaften gegen die Nazis ein. Denn als »Hauptfeind«
bezeichnete sie nicht etwa die »Hitler-Faschisten«, sondern die als »Sozialfaschisten« diffa-
mierten Sozialdemokraten. Ab 1929 lautete die Generallinie der KPD (ungeachtet der herauf-
ziehenden Gefahr durch die NSDAP): Kampf gegen die parlamentarische Republik und für die
Diktatur ihrer Partei (»Diktatur des Proletariats« genannt). Sie erstrebte nach dem Modell der
Sowjetunion ein »Sowjet-Deutschland«. Als Sektion der Komintern betrieb die KPD die ultra-
linke Politik Stalins, die für alle kommunistischen Parteien und ebenso deren Nebenorganisa-
tionen, etwa die »roten« Gewerkschaften1, verbindlich war.

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Mit ihrer verhängnisvollen Politik, der von Moskau befohlenen Gleichsetzung von demo-
kratischer Republik und Nationalsozialismus, von Hitler-Partei und SPD wollte die KPD die
Weimarer Republik und die freiheitliche Arbeiterbewegung vernichten. Damit hatte die KPD-
Politik zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen.
Und selbst nach dem Machtantritt der Nazis blieben die Kommunisten bei ihrer Fehlein-
schätzung der NS-Diktatur. Obwohl die Partei schwer getroffen und zahlreicher Funktionäre
beraubt wurde, sprach die Führung von einem »geordneten Rückzug« und behauptete bis 1935,
ihre Linie sei richtig gewesen. Im Mai 1933 erklärte das Zentralkomitee der KPD: »Die völlige
Ausschaltung der Sozialfaschisten aus dem Staatsapparat, die brutale Unterdrückung auch der
sozialdemokratischen Organisation und ihrer Presse ändern nichts an der Tatsache, daß sie
nach wie vor die soziale Hauptstütze der Kapitalsdiktatur darstellen«.2 Und noch Ende 1933
schrieb der KPD-Funktionär Fritz Heckert, der Kampf gegen die »faschistische Bourgeoisie«
müsse »nicht gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Partei, sondern gegen sie« geführt wer-
den.3
Zugleich verlangte die KPD-Spitze weiterhin den »Kampf für die Sowjetmacht«. Gemessen
an dieser irrealen Strategie war die Wirklichkeit des Widerstands der KPD ab 1933 einfach: Es
war der Kampf ums Überleben, der Neuaufbau von Teilen ihrer Parteiorganisation, es ging um
illegale Aktivitäten.
KPD-Funktionäre bildeten fast überall in Deutschland illegale Widerstandsgruppen, die frei-
lich immer wieder entdeckt und von der Gestapo vernichtet wurden. Das hatte schreckliche
Folgen, allein 1933 und 1934 sind 60000 deutsche Kommunisten inhaftiert und etwa 2000 er-
mordet worden, diese Zahl stieg von 1935 bis zum Kriegsausbruch 1939 auf 20000 Tote.
Erst 1935 in der Emigration begann die KPD-Führung über ihre verfehlte Politik zu disku-
tieren. Doch deren Selbstkritik blieb in Halbheiten stecken. Die illegale Partei in Deutschland
war bis etwa 1938/39 zusammengebrochen.
Das Hauptproblem der deutschen Sektion der Komintern bestand in ihrer völligen Abhän-
gigkeit von der Sowjetunion Stalins, was die Widerstandskämpfer in eine schwierige Situation
brachte. Sie wollten in Deutschland die brutale Hitler-Diktatur stürzen, sie verteidigten und
verherrlichten zugleich die brutale Stalin-Diktatur in der Sowjetunion. Die UdSSR war ihr Vor-
bild und »Vaterland«. In den dreißiger Jahren erfaßten die blutigen »Säuberungen« Stalins auch
die deutschen Kommunisten. Zu den Opfern der KPD zählten damals nicht nur die in Hitler-
Deutschland Ermordeten, sondern auch diejenigen, die vor dem NS-Terror geflüchtet waren
und vom Stalin-Terror umgebracht wurden.
Allein von den 1400 Spitzenführern der KPD zwischen 1919 und 1945 kam fast jeder Dritte
gewaltsam ums Leben, davon 222 unter Hitler, aber 178 auch unter Stalin. Und von der ober-
sten KPD-Führung, dem Politbüro, wurden mehr unter Stalin ermordet (sieben, nämlich Hugo
Eberlein, Leo Flieg, Heinz Neumann, Hermann Remmele, Hermann Schubert, Fritz Schulte
und Heinrich Süßkind) als unter Hitler (sechs, nämlich Karl Becker, John Schehr, Ernst Schnel-
ler, Werner Scholem, Walter Stoecker und Ernst Thälmann).4
Der Freundschaftspakt zwischen den Diktatoren Stalin und Hitler von 1939 bis 1941 stürzte

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die deutschen Kommunisten und ihren Widerstand vollends in eine verzweifelte Lage. Denn
als die Komintern verkündete, England und Frankreich seien schlimmer als Nazi-Deutschland,
mußte die KPD ihren bisherigen Kurs aufgeben. Dadurch gerieten die Überreste ihres illega-
len Widerstands in eine ebenso tragische Situation wie die Emigranten: denn wer die Hitler-
Stalin-Freundschaft kritisierte, flog aus der Partei und begab sich damit in eine gefahrvolle Iso-
lation.
Bernhard H. Bayerleins einleitende Studie bringt einen Überblick über den Forschungs-
stand, daher hier nur einige Hinweise. Den Nichtangriffspakt, das geheime Zusatzabkommen
wie den Freundschaftsvertrag haben Historiker als Teil der sowjetischen bzw. deutschen Außen-
politik umfassend erörtert. Zuletzt hat Lew Besymenski die Politik der beiden Diktatoren, ihr
»Pokerspiel«, anhand bisher unbekannter Quellen im ersten Band dieser Reihe ausführlich be-
handelt.5 Das geheime Zusatzprotokoll, seine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, ist eben-
falls genauer untersucht.6
Erstaunlicherweise hat dagegen die dunkle Phase des internationalen Kommunismus von
1939 bis 1941 bislang in der Forschung keineswegs die erforderliche Aufmerksamkeit gefun-
den. Die Bedeutung des Pakts für die Komintern und ihre Sektionen ist nur sporadisch unter-
sucht und fragmentarisch dokumentiert worden. Daher kann dieses Buch neue oder zumin-
dest differenzierte Einsichten vermitteln. Das ist deswegen möglich, weil die abgedruckten
Dokumente eine breite Quellengrundlage haben. Die bisherige Beurteilung der Komintern in
der Phase des Stalin-Hitler-Paktes beruhte auf damals veröffentlichtem Material, einigen Aus-
sagen der Komintern und ihrer Sektionen in deren Zeitungen, Zeitschriften und Publikatio-
nen sowie auf Erinnerungen. Doch selbst anhand dieses veröffentlichten Materials war der
extreme Umschwung der Kominternlinie 1939 nachzuweisen.
Eine gründliche Auswertung der Zeitschrift »Kommunistische Internationale« oder der kom-
munistischen »Die Welt« (Stockholm) zwischen 1939 und 1943, die das veränderte Verhalten
zeigen, hat leider nie stattgefunden. Dennoch lieferten die wenigen Dokumentationen zur
Komintern Material über die Abwendung des EKKI und der Sektionen vom Antifaschismus
hin zu Angriffen gegen die »Kriegstreiber« England, Frankreich und USA. Die Umkehr war
generell bekannt. Bereits in den sechziger Jahren wurde sowohl von Theo Pirker7 als auch von
mir8 die – bei aller Zustimmung zum Pakt – noch recht vorsichtig argumentierende Erklärung
des ZK der KPD vom 25. August 1939 abgedruckt, andernorts der dann fast NS-freundliche
Mai-Aufruf 1940.9
Die KPD-Erklärung vom 25. August (deren vollständiger Text allerdings erst seit 1989 vor-
liegt)10 entsprach nur bedingt dem von Moskau vorgegebenen Kurs, die deutsche Emigration
war ebenso wie die übrigen Sektionen der Komintern durch den Pakt verunsichert.
Das Stalin-Hitler-Abkommen wurde sogar in der krypto-kommunistischen »Neuen Welt-
bühne« vom 31. August 1939 als »brutale Umkehrung« der sowjetischen Politik verdammt,
die Zeitschrift forderte die Kommunisten auf, im kommenden Weltkrieg an der »Seite der De-
mokratie« zu kämpfen. Dem mußte die KPD-Führung widersprechen und statt dessen die Li-
nie Stalins propagieren: im »imperialistischen Weltkrieg« sollten die Kommunisten ja gerade

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nicht die Demokraten gegen Hitler-Deutschland unterstützen, sondern in erster Linie die
West-Mächte bekämpfen.
Im Januar 1940 verkündete die Zeitschrift »Die Kommunistische Internationale« auch offi-
ziell, England sei »unverhüllter Vorkämpfer der Weltreaktion. Damit aber ist der englische Im-
perialismus zum gefährlichen Kriegsbrandstifter und über die ganze Welt hin sichtbar zum
Hauptfeind der internationalen Arbeiterklasse geworden.«11 Doch die Irritation blieb groß.
Aus kürzlich veröffentlichten Briefen des Mitbegründers der KPD Hermann Duncker werden
die Vorbehalte deutscher Kommunisten gegen den Pakt deutlich, insbesondere aber gegen die
Wendung vom »Antifaschismus« hin zu freundlichen Beziehungen mit Hitler.
Zunächst schrieb er noch seiner Frau Käte – einst wie er Mitglied der ersten KPD-Zentrale
von 1919 –, der Pakt sei nur ein Werk der sowjetischen Außenpolitik und »absolut kein Freund-
schaftsvertrag« (24.8.), doch dann am 29. September, nach dem Freundschaftspakt: »Ich bin
entsetzt über die neuen Verhandlungen Hitler-Stalin! Nie hielt ich das für möglich. Daß man
auch das noch erleben muß! Wischt nichts diesen Spuk fort? Eine Umwertung aller Werte! Bei
dieser ›Dialektik‹ kann ich nicht mehr mit. Nie und nimmer kann man einen Sozialismus auf
dem Hitlerismus aufbauen. Pfui Teufel! Ich habe eine solche Wendung nie für möglich gehal-
ten. Dafür reicht mein Verstand nicht aus!«12
Solche privaten Einschätzungen eines Altkommunisten blieben geheim. Umstritten war die
Haltung des KPD-Leiters in der französischen Emigration Franz Dahlem. Er hatte Minister-
präsident Daladier in einem Brief am 4. September 1939 die Registrierung und Mitarbeit deut-
scher Emigranten im Krieg gegen Hitler angeboten. Ein zweites Schreiben Dahlems an Dala-
dier vom 12. September ist erst jetzt zugänglich. Nachdem er sowie Paul Merker und Paul Bertz
sich als »ehemalige deutsche Abgeordnete« in Colombes gemeldet hätten, seien sie im Lager
einem »strengen Regiment« unterworfen, von französischen Militärposten bewacht und »mit
zusätzlichen und schmutzigen Arbeiten beschäftigt« worden (vgl. S. 135f.). Dennoch wieder-
holte Dahlem die Forderung zur antifaschistischen Betätigung der deutschen politischen Emi-
gration, wofür er später vom ZK der SED angegriffen wurde (vgl. S. 137f.).
Die großen Linien und etliche Einzelheiten der Kominternpolitik waren geläufig. Wie indes
die politischen Stränge liefen, wie die Anweisungen für die Komintern und ihre Sektionen kon-
kret aussahen, wie sie die Politik der sowjetischen Freundschaft mit Hitler »umsetzten«, war
nur bruchstückhaft bekannt. Ebenso zahlreiche Details der strategischen Ziele der Sowjet-
union unter Stalin und deren Rückwirkung auf die internationale kommunistische Weltbewe-
gung. Das Buch schafft Klarheit, es spricht nicht nur die »Fachwelt« an und ermöglicht jedem
historisch Interessierten plastische Einblicke in die »dunklen Jahre« der Kommunistischen
Weltbewegung. In der dargestellten Breite wurden interne Dokumente – die vielfach bis heute
in den Moskauer Archiven unzugänglich sind – noch nicht veröffentlicht.
Die geheime Korrespondenz der Moskauer Kominternzentrale mit den kommunistischen
Parteien in West- und Mitteleuropa und die streng geheimen, informellen Quellen aus der un-
mittelbaren Umgebung Stalins und der sowjetischen Nomenklatura bilden den Kern des Bu-
ches. Bei den chiffrierten Telegrammen handelt es sich um die erste deutschsprachige Zusam-

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menstellung von Quellen der Komintern und einiger kommunistischer Parteien, besonders der
deutschen und der französischen KP in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs. Diese er-
möglichen detaillierte Einblicke in die Auswirkungen des Stalin-Hitler-Paktes und dann der er-
neuten Umkehr der Politik infolge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941.
Schon die Gliederung des Bandes bietet einen Überblick der Entwicklungsphasen. Zunächst
werden (Teil 1) der Stalin-Hitler-Pakt und die Aufgaben der Komintern vom Abschluß des
Vertrags bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dokumentiert, und zwar anhand zahlreicher
geheimer Protokolle und Chiffriertelegramme aus Moskau mit Direktiven für die einzelnen
Sektionen. Auf dichter Quellengrundlage werden dann (Teil 2) der Kriegsbeginn, das Verbot,
»Polen gegen Hitlers Angriff zu verteidigen und das erklärte Ende des Antifaschismus« bis
Januar 1940 dargestellt. Teil 2 behandelt ebenfalls am Beispiel des »Falles« Franz Dahlem die
Probleme und Schwierigkeiten, die sich gerade für die deutschen Kommunisten im Exil aus
dem Pakt zwischen beiden Diktatoren ergaben. Hier werden außerdem strategische Brüche
und »Zerreißproben« für die Kommunistischen Parteien sowie die »Liquidierung der weltwei-
ten Kultur des Antifaschismus« belegt.
In Teil 2 über den Freundschaftspakt der Sowjetunion mit Hitler-Deutschland, der die
»Komintern ohne Handlungsperspektiven« läßt, wird in Kapitel 4 »Die neue Generallinie (›Der
Imperialismus als Hauptfeind – doch welcher?‹)« thematisiert. Teil 3 illustriert den Winterkrieg
der Sowjetunion gegen Finnland und die weitere Isolierung der Kommunistischen Parteien
durch ihre bedingungslose Zustimmung zu diesem Überfall bis März 1940. Zahlreiche Do-
kumente belegen die weiterhin offizielle Freundschaft der Sowjetunion mit dem Aggressor
Deutschland sowie die widersprüchliche und zweideutige Politik der Kommunistischen Par-
teien in der Phase von April bis September 1940 (Teil 4). Der 5. Teil zeigt den beginnenden
Widerstand der europäischen Kommunistischen Parteien in der Zeit von Oktober 1940 bis
Juni 1941. Der Schlußteil geht nochmals auf Stalins Fehleinschätzung der Pläne Hitlers ein so-
wie auf die Reaktionen nach dem deutschen Überfall und die verspätete Verteidigung ab Juni
1941 und belegt mit eindrücklichen Dokumenten die Rolle der Komintern im Existenzkampf
der Sowjetunion. So wird in aller Breite anhand interner unbekannter Materialien der Welt-
kommunismus, gerade auch der deutsche Kommunismus, in der Periode von 1939 bis Ende
1941 mit seinen zwei fundamentalen Strategiewechseln dokumentiert.
Und zur veränderten KPD-Politik sind erstmals genauere Unterlagen zu finden. Die von
den Nationalsozialisten blutig verfolgten deutschen Kommunisten, die ja aufgrund der
eigenen Situation in der Illegalität seit 1935 besonders intensiv die Linie des Antifaschis-
mus vertraten, hatte die befohlene Umkehr der Politik, die der Pakt bewirkte, stark verun-
sichert.
Darüber hinaus kam es zu weiterer enger Komplizenschaft, die dem Weltkommunismus, nicht
zuletzt der KPD, schadete: nach den Säuberungen der Komintern und der Exilparteien während
der Stalinschen Verfolgungen von 1936 bis 1938 wurden zahlreiche deutsche Kommunisten
sogar an Hitler-Deutschland ausgewiesen, davon kamen viele im Nazi-KZ ums Leben. (Aus-
lieferungen erfolgten in kleinerem Maße bereits vor dem Paktabschluß.)

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Zwei Aspekte der KPD-Politik macht dieser Dokumentenband deutlich, und sie sind von
Bernhard Bayerlein zu Recht hervorgehoben worden. Die KPD-Führung, die zu allen mög-
lichen Themen und Ereignissen mit Resolutionen, Erklärungen und »Beschlüssen hervortrat,
ignorierte die barbarischen Judenverfolgungen der Nazi-Diktatur in dieser Zeit. Gerade das ist
ein schlimmer Beweis der »Schonung« Hitlers während der Phase des Paktes der Diktatoren
1939 bis 1941.
Ebenso auffällig ist, daß selbst die Komintern die schnöde Haltung der KPD-Führer ge-
genüber ihren in Deutschland verfolgten, inhaftierten Genossen rügte. Das war aber das typi-
sche stalinistische Verhalten, der kaltschnäuzige Umgang mit den »Kadern«, die von der Spitze
wie Untertanen behandelt und wie Bauern im Schachspiel geopfert wurden. Die rücksichtslose
Auslieferung deutscher Kommunisten an Nazi-Deutschland und damit oft in den Tod macht
deutlich, wo die Einpeitscher saßen: im Moskauer Politbüro der KPdSU. Und die Kom-
internführung wie die exilierte deutsche KPD-Leitung waren auch hier bloße eifrige Nach-
ahmer ihres Idols Stalin.
Im vorliegenden Werk werden nicht allein die »dunklen Jahre« des internationalen Kom-
munismus in der Zeit des Stalin-Hitler-Pakts, sondern ebenso dessen Reaktionen auf den deut-
schen Überfall auf die Sowjetunion 1941 dokumentiert. Bekanntlich vollzog die Komintern nun
abermals eine absolute Wendung. Der Weltkrieg wurde vom »imperialistischen Krieg« insbe-
sondere Englands, umgedeutet in einen Befreiungskrieg der Sowjetunion, aber jetzt auch der
westlichen Demokratien, gegen den deutschen Faschismus. Dies entsprach der Realität, und
damit kehrte der »Antifaschismus« als zentrale Vokabel wieder in die Strategie der Komintern
zurück, allerdings im Rahmen der neuen Konzeption eines »Vaterländischen Krieges« der
Sowjetunion.
Dieser erneute Umschwung verdeutlicht, daß die – dann 1943 aufgelöste – Komintern ein-
zig die Interessen der Sowjetunion Stalins vertreten wollte und sollte. Zumindest ab den 30er
Jahren waren allein deren Ziele ausschlaggebend, durch die Stalinisierung des Kommunismus
war der eingeübte straffe Zentralismus erreicht.
Die Änderung der Kominternpolitik vom Antifaschismus zur deklamatorischen Unter-
stützung Hitlers gegenüber England und dann 1941 die »Rückkehr« zur Strategie des »Anti-
faschismus« stellt die Frage nach den Mechanismen, die diese Wandlung damals ermöglichten.
Dazu hier dokumentarisch belegte Einzelbeispiele.
Kurz vor dem Kriegsausbruch und nur wenige Tage nach dem Abschluß des Nichtan-
griffspakts baten die Kominternführer Dimitroff und Manuilski (S. 117 f.) den »lieben Ge-
nossen Stalin« um »Rat«, wie sich die Kommunistischen Parteien denn verhalten sollten, die
auf den »sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag« trotz der »wütenden antisowjetischen
Kampagnen in der bürgerlichen und sozialdemokratischen Presse in geeigneter Weise« rea-
giert, nämlich den Pakt verteidigt hätten. »Allerdings erhebt sich in dieser komplizierten Si-
tuation die Frage nach der Haltung der Kommunistischen Partei zu den Maßnahmen, die die
Regierung Daladier zur sogenannten nationalen Verteidigung des Landes ergriffen hat. Wir
denken, die Kommunistische Partei muß daran festhalten, gegen die Aggression des faschisti-

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schen Deutschland Widerstand zu leisten. Sie muß die Maßnahmen zur Stärkung der Vertei-
digungsfähigkeit Frankreichs unterstützen, dies aber davon abhängig machen, daß sie ihre Mei-
nung offen zum Ausdruck bringen und ihrer Tätigkeit nachgehen darf.«
Am 5. September 1939, also nach Kriegsausbruch, wiederholte Dimitroff gegenüber Schda-
now erneut, er müsse mit Stalin über die Aufgaben der Kommunistischen Parteien sprechen.
Diese Unterredung fand dann schon am 7. September in Anwesenheit Molotows und Schda-
nows statt. (S. 124–126) Und bereits einen Tag später, am 8. September, verkündete die »Di-
rektive des Sekretariats des EKKI« (S. 126f.) die totale Wende, nun hieß es:
»Der Krieg hat die Lage wesentlich verändert: Die Teilung der Staaten in faschistische und
demokratische hat jetzt den früheren Sinn verloren. Dementsprechend muß die Taktik ge-
ändert werden. […]
Die kommunistischen Parteien, besonders Frankreichs, Englands, Belgiens und der Ver-
einigten Staaten Amerikas, welche im Gegensatz zu dieser Einstellung auftraten, müssen sofort
ihre politische Linie korrigieren.
Die zaghaften Ansätze der Kominternführung, die Reste antifaschistischer Strategie trotz
ergebener Zustimmung zum Pakt beizubehalten, hatte Stalin hinweggefegt. Er war der un-
mittelbar Verantwortliche nicht nur für die Verträge, darunter noch im September 1939 den
Freundschaftsvertrag mit Hitler-Deutschland, sondern auch für die völlige Abkehr vom An-
tifaschismus. Die Kominternführung unter Dimitroff gehörte zu seinen willigen Helfern. Wie
den Sektionen mitgeteilt wurde, war nun der Faschismus »zweitrangig«.
»Nicht faschistisches Deutschland, das durch Vertrag mit Sowjets verbündet, ist Rückgrat
des Kapitalismus, sondern antisowjetisches, reaktionäres England mit Kolonialreich. Heute
auf der Tagesordnung Kampf gegen Kapitalismus, während Kampf gegen Faschismus unter-
geordnete, zweitrangige Rolle spielt. Daher ist Taktik der antifaschistischen Front nicht mehr
anwendbar. Englische Kommunisten, die Formeln über sogenannten antifaschistischen Krieg
nachplappern, helfen englischer Bourgeoisie, Volk ins Gemetzel zu treiben. Losung des Tages
der Kommunisten in allen kriegführenden kapitalistischen Ländern ist Kampf gegen den im-
perialistischen Krieg.« (Vgl. S. 164)
Selbst gegen pronazistische Äußerungen gab es kaum noch Bedenken (vgl. S. 154f.). Di-
mitroffs bekannter Artikel vom November 1939 in der »Kommunistischen Internationale«13
durfte auch erst nach erfolgter »Zensur« durch Stalin erscheinen. Der Diktator herrschte all-
gewaltig und war für die verhängnisvolle Politik des Weltkommunismus in dieser Phase (wie
vorher und nachher) bestimmend. Willi Münzenberg hatte in seiner Zeitschrift »Die Zukunft«
dafür die richtigen Worte gefunden: »Der Verräter, Stalin, bist Du!«, und machte ihn für den
durch Hitler ausgelösten Beginn des Weltkrieges verantwortlich (vgl. S. 148f.).
Die Dokumente dieses Bandes bis hin zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im
Juni 1941 beweisen den Bankrott der fatalen Politik Stalins. Der Diktator war ja 1941 sogar be-
reit, um Hitler entgegenzukommen die Komintern aufzulösen (vgl. S. 350–352), wie er es als
Zugeständnis gegenüber den West-Alliierten 1943 dann tatsächlich tat.
Die enormen Schwierigkeiten speziell der deutschen Kommunisten sind aus verschiedenen

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Dokumenten ersichtlich, u.a. werden die Hintergründe des »Falls Dahlem« ausführlich erläu-
tert (Teil III). An der Präsidiums-Sitzung des EKKI im Oktober 1939, auf der Pieck referierte,
nahmen weitere deutsche Vertreter wie Ulbricht (Walter), Wehner (Funk), Wandel (Klassner)
teil. Und der Sitzungsbeschluß galt nunmehr auch für die KPD: Der »Kampf gegen die Sozial-
demokratie, diese Verräter an der Sache des Proletariats und Kriegshetzer, ist zu verstärken.
Gegen die Verräterpolitik der Sozialdemokratie muß an der ganzen Front zum Angriff über-
gegangen werden«.
Im November 1939 beschlossen die Kommunistischen Parteien Deutschlands, Österreichs
und der Tschechoslowakei aber einen gemeinsamen Aufruf (vgl. S. 184–186). Darin wurde ne-
ben der jetzt üblichen Diffamierung der »englischen und französischen Imperialisten« immer-
hin noch das NS-Regime angegriffen und das »freie Selbstbestimmungsrecht der Tschechen,
Slowaken, Österreicher und Polen« gefordert. Dies rief in Moskau Kritik hervor, das EKKI ver-
suchte, eine Veröffentlichung zu verhindern. Dazu war es zu spät, und Dimitroff rügte die Pu-
blikation des Aufrufs mit den gegen Hitler gerichteten Aussagen (vgl. S. 186).
Eine »Plattform« der Exil-KPD Ende 1939 fand schließlich die Zustimmung des EKKI. Die
Verteidigung des Paktes und die »Freundschaft« zur Sowjetunion wurden in deren Mittelpunkt
gestellt. Allerdings beteuerte die KPD-Führung, daß ihre »Taktik keineswegs eine Unterstüt-
zung des deutschen Imperialismus bedeutet« und der »Kampf gegen die Unterdrückungspolitik
des gegenwärtigen Regimes« (früher hätte es geheißen: des Faschismus, der faschistischen
Diktatur) fortgesetzt werden solle. Während die Begriffe »Faschismus« und »Hitlerregime« je-
doch am 21. Oktober 1939 im »Brief der Parteiführung« der KPD an die Leitungen »im Land«
noch gebraucht worden waren (vgl. S. 172–175), galten sie nun als tabu. Schließlich wurde an-
geordnet: Genossen, die »bei Kriegsausbruch oder bei Bekanntwerden des sowjetisch-deut-
schen Paktes hartnäckig einen falschen Standpunkt vertraten«, seien zu ersetzen, und wie im-
mer wurde zu »verstärkter Wachsamkeit« aufgerufen.
Erstmals geht aus der vorliegenden Dokumentation hervor, daß bei der KPD-Führung im
Exil zeitweise die völlig trügerische Hoffnung aufkam, im Rahmen des Paktes sei eine halblegale
Tätigkeit der deutschen Kommunisten unter der nationalsozialistischen Diktatur möglich oder
denkbar. Es waren das EKKI und insbesondere Stalin, welche die KPD auf diese irreale Vor-
stellung orientierten (vgl. S. 210f., 213f., 341f.).
Die KPD-Führung in Moskau paßte sich 1940 weiter der sowjetischen Linie an, und natür-
lich verteidigte sie – wie alle Sektionen der Komintern – den Überfall der Sowjetarmee auf
Finnland. Forciert wurde aber vor allem der Kampf gegen die Sozialdemokratie. Dabei erklärte
Walter Ulbricht im Februar 1940 gar (gegen den Sozialdemokraten Hilferding gewandt), »wer
gegen die Freundschaft des deutschen und des Sowjetvolkes intrigiert, ist ein Feind des deut-
schen Volkes und wird als Helfershelfer des englischen Imperialismus gebrandmarkt.«14
Die verschiedenen Richtungen des deutschen sozialdemokratischen Exils in London sahen
darin ein Zerreißen des letzten »Bandes der Solidarität mit allen illegalen Gegnern des Hitler-
systems«. Dadurch werde »jede Form der Zusammenarbeit zwischen der KPD und anderen
deutschen antifaschistischen Gruppen unmöglich« (vgl. S. 224). Mit ihrer bedingungslosen

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Unterstützung Stalins isolierten sich die deutschen Kommunisten. Der erwähnte Maiaufruf
des EKKI von 1940 (vgl. auch S. 221) verdeutlicht die Linie: England ist Hauptfeind, Deutsch-
land zu schonen.
Sogar der deutsche Einmarsch in Dänemark wurde quasi gerechtfertigt »als Antwort auf die
grobe Verletzung der Neutralität der skandinavischen Länder durch England und Frankreich«.15
Hitlers »Blitzsiege« im Westen schufen dann wie der deutsche Griff nach dem Balkan eine ge-
wisse Verwirrung der Kominternlinie. Daß es in deren Politik »neue Akzente« gab,16 ist zwar
(vor allem in den von Deutschland besetzten Ländern) nicht zu übersehen. Aber im Lichte der
hier abgedruckten Dokumente erfolgte die definitive Wendung erst als Reaktion auf den deut-
schen Angriff auf die Sowjetunion. Doch »feine Risse« im Block Deutschland-Sowjetunion
werden beim Molotow-Besuch in Berlin im November 1940 und insbesondere dem Balkankrieg
im Frühjahr 1941 gesehen.17 Die Schlußfolgerungen waren aber zwiespältig. Da Stalin hart-
näckig alle von Hitler ausgehenden Gefahren beiseite schob, orientierte sich auch die Kom-
internführung nur zögerlich gegen den Aggressor.
Aus der Dokumentenauswahl kann auch eine Periodisierung der KPD-Politik unter den Be-
dingungen des Stalin-Hitler-Paktes abgelesen werden. In der ersten Phase 1939 wurde »der
Antifaschismus« verdrängt. Mit dem Kurswechsel Anfang 1940 befahl Stalin in der zweiten
Phase der Komintern weitergehende Konzessionen an das Hitlerregime, ganz im Sinne der
neuen Linie, nicht Deutschland, sondern England als Hauptfeind der Sowjetunion anzusehen.
Und nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1940 gab es in einer dritten Phase im Früh-
herbst 1940 neue Akzente gegen die »Vorherrschaft des deutschen Imperialismus«. Die Hin-
weise der Komintern (etwa an die KP Österreich oder die KP der Tschechoslowakei), NS-
Deutschland betreibe gar »kolonialistische Ziele«, scheinen in diesem Rahmen eher verwirrend,
denn in der veröffentlichten und damit offiziellen Kominternpolitik wurde die Hitler-Dikta-
tur weiterhin »geschont«. Doch das war die übliche Doppeldeutigkeit, ja Doppelzüngigkeit
des Stalinismus. Und das verdeutlicht zugleich die oft übersehene, aber selbstverständliche
Tatsache, daß Stalins Konzeptionen nicht immer »verwirklicht« werden konnten, die Praxis
eben oftmals nicht Aktion, sondern nur Reaktion auf aktuelle Situationen war. 1941 zeichnete
sich (bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion) eine neue Phase voller Zwiespältigkeit
ab. So interessant solche Überlegungen zu den einzelnen Phasen sind, es änderte sich nichts
an der völligen Abhängigkeit der Kommunistischen Parteien, alle Wendungen erfolgten in Ab-
stimmung mit Stalin, Molotow, Schdanow und Dimitroff. Und bis zum Überfall im Juni 1941
blieb die Generallinie nach außen konstant: Der Antifaschismus sei »überholt«.
Selbst kurz vor dem deutschen Angriff, als Stalin jeden konkreten Hinweis, der ihn erreichte,
wegwischte (vgl. S. 359, 362f.), blieb die Parole der Komintern, England, nicht NS-Deutsch-
land sei der Hauptfeind, oder aber dieses Problem wurde öffentlich gar nicht behandelt. Bei-
spielsweise fand das offizielle Organ »Kommunistische Internationale« den Ausweg, lediglich
»sowjetische Erfolge« zu melden. Das Heft 4/1941 (im Mai, einen Monat vor dem deutschen
Überfall ausgeliefert) brachte nur Artikel zu diesem Thema von Malenkow, Wosnessenski und
Shukow, außerdem zur »Unionskonferenz« der KPdSU und über »Die Rote Armee – der treue

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Hüter der Errungenschaften des Sozialismus«. Dimitroff schrieb darin zum 70. Jahrestag der
Pariser Kommune, also über ein historisches Ereignis. Nur ein Aufruf der Moskauer Leitung
der KP Spaniens an die Arbeiter Spaniens, zu verhindern, »daß Spanien in den Krieg hineinge-
rissen wird«, läßt erkennen, daß die Komintern keine sowjetische, sondern eine internationale
Bewegung sein sollte.
Auch ein Blick in das Kominternorgan in Schweden, »Die Welt«, vom 9. Mai 1941 zeigt ein
ähnliches Bild, dort blieb England weiterhin als Hauptfeind im Visier: Im Hauptartikel wurde
Churchill angegriffen. Großen Platz nahmen Berichte über den 1. Mai »im Land des Sozialis-
mus« ein, die aktuelle Kriegslage wurde ebenfalls geschildert. Überraschend wirkte zunächst ein
längerer Aufsatz »Solidarität mit den Opfern der Reaktion. Wir klagen an«. Beschrieben wurde
darin ein »Konzentrationslager« und die Forderung erhoben, »keine Minute zu vergessen, daß
diese Helden befreit werden müssen«. Allerdings – es ging hier nicht etwa um eines der Ver-
nichtungs-KZs der Nazis, sondern um das französische Internierungslager Vernet. Zynismus?
– Nein, Methode; Bayerlein bringt eine Vielzahl von Nachweisen, die perplex machen.
In einem Beitrag der »Welt« wird sogar »gewagt«, den deutschen Einmarsch in Griechenland
und Jugoslawien zu »rügen«. Dies geschieht durch Abdruck eines kritischen Artikels, den an-
geblich (so der Vorspann der »Redaktion«) ein »Kenner politischer Meinungen und Bestre-
bungen im deutschen Volk« verfaßt hatte. Der Aufsatz wurde indes gebracht, »ohne sich im
einzelnen« mit den darin »entwickelten Gedankengängen identifizieren zu wollen«. Öffentlich
kniff das EKKI vor jeder Entlarvung des faschistischen Imperialismus – bis zum 22. Juni 1941.
Richtig bleibt zudem, daß die Kommunisten erst nach dem deutschen Überfall auf die So-
wjetunion im Juni 1941 gewaltsamen Widerstand gegen das NS-Regime leisteten. Und als neues
Element kam nun eine terroristische Variante ins Spiel. Deren unheilvolle Wirkung vor dem
Hintergrund der barbarischen Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht wird erstmals brei-
ter dokumentiert (vgl. S. 382 ff.). Für die deutschen Kommunisten gab es aber nun wieder
»klare Fronten«. Die größeren kommunistischen Widerstandsgruppen in Sachsen, Thüringen,
Berlin, Hamburg und Mannheim entstanden nach dem deutschen Überfall auf die Sowjet-
union.
Teilweise entsprach die Politik dieser Illegalen in Deutschland allerdings nicht der Linie Sta-
lins (vor allem die Schumann-Gruppe in Leipzig vertrat andere Konzeptionen). Sie kämpften
eben unabhängig vom Rumpf-ZK der Exil-KPD in Moskau, das sich wie immer den sowjeti-
schen Anweisungen ganz unterordnete. Doch der Gestapo gelang es, alle Gruppen in Deutsch-
land zu zerschlagen. Von den Aktivisten wurden die meisten vor Kriegsende ermordet.
Nachdem die Sowjetunion durch Stalins Mitschuld am Anfang des deutschen Überfalls fast
besiegt worden wäre, versuchte die Führung der KPdSU mit dem Aufruf zum »Großen Va-
terländischen Krieg« umzusteuern und alle Reserven zu mobilisieren. Deutsche Kommunisten
wurden beauftragt, die Truppen der Wehrmacht durch Frontpropaganda und Einsätze hinter
den Linien zu zersetzen. Um Offiziere gegen Hitler zu gewinnen, wurden später sogar die re-
aktionären Farben schwarz-weiß-rot zum Symbol des Nationalkomitees »Freies Deutschland«
gemacht.

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Soweit war es 1941 noch nicht, aber bereits Ende Juli 1941 wurde ein »Offener Brief an deut-
sche Offiziere« konzipiert (vgl. S. 398 f.). Im Überlebenskampf der Sowjetunion griff die
Führung des Weltkommunismus zu jedem Mittel. Die Dokumente des vorliegenden Bandes
decken zahlreiche neue Fakten auf und bieten Einblicke in die »dunklen Seiten« des Welt-
kommunismus sowohl während des Stalin-Hitler-Paktes als auch der Zeit danach. Dabei er-
schöpft sich die Bedeutung des Buches nicht im Nachweis interner Kominterndebatten. Viel-
mehr wird eine der Katastrophen des 20. Jahrhunderts deutlich, der Pakt der Diktatoren gegen
die zivilisatorische europäische Aufklärung, der radikale Bruch mit der internationalen Kultur
der Arbeiterbewegung. Hier wird belegt: »Das Ende des Internationalismus« war das Werk
Stalins und seiner Vasallen.

Anmerkungen
1 Vgl. Reiner Tosstorff: Profintern. Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1920–1937. Paderborn 2004.
2 Abgedruckt in Hermann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente. Köln 1963, S. 345.
3 Fritz Heckert: Ist die Sozialdemokratie noch die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie? Basel 1933, S. 15.
4 Vgl. Hermann Weber; Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918–1945. Berlin
2004.
5 Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren. Berlin 2002, Taschenbuchausgabe 2004.
6 Jan Lipinsky: Das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939
und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte 1939 bis 1999. Frankfurt a.M. 2004.
7 Theo Pirker: Utopie und Mythos der Weltrevolution. München 1964, S. 285ff. Ders.: Komintern und Faschismus
1920–1940. München 1965, S. 200f.
8 Weber: Der deutsche Kommunismus (Anm. 2), S. 361ff.
9 Jane Degras: The Communist International. Documents. Vol. III, London 1965, S. 462ff.; Hermann Weber: Die
Kommunistische Internationale. Eine Dokumentation. Hannover 1966, S. 329ff.
10 Jan Foitzik: »Die KPD und der Hitler-Stalin-Pakt«, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 37(1989) 3, S. 499ff.
11 Vgl. Weber, Die Kommunistische Internationale (Anm. 9), S. 328.
12 Heinz Deutschland: »Aus Briefen Käte und Hermann Dunckers aus den Jahren 1939 bis 1947«, Jahrbuch für For-
schungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2005, S. 116.
13 G. Dimitroff: »Der Krieg und die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder«, Kommunistische Internationale,
Zeitschrift des EKKI, Stockholm, November 1939, S. 1112ff., abgedruckt auch als Sondernummer in Die Welt
vom 6.11.1939. Vgl. auch S. 178–182.
14 Die Welt, Stockholm, Nr. 6 vom 9. Februar 1940, S. 135; abgedruckt in Weber: Der deutsche Kommunismus (Anm.
2), S. 364ff.
15 Weber: Die Kommunistische Internationale (Anm. 9), S. 329f.
16 Vgl. Terje Halvorsen: »Die kommunistischen Parteien Europas im zweiten Halbjahr des Deutsch-Sowjetischen
Pakts«, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1995, S. 32ff.
17 Vgl. den »Konferenzbericht über eine Moskauer Tagung Anfang Februar 2005«, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
(2005) 2, S. 331ff.

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Bernhard H. Bayerlein

Innerer Verrat als Prinzip der Herrschaft


Die internationale kommunistische Bewegung und der Zweite Weltkrieg vom Stalin-Hit-
ler-Pakt zum »Fall Barbarossa«

Eine traumatische Erfahrung …

Für den Kulturphilosophen Walter Benjamin, der sich auf der Flucht zwischen Pyrenäen und
Mittelmeer das Leben nahm, war mit dem Abschluß des Stalin-Hitler-Paktes im Som-
mer/Herbst 1939 tatsächlich die Situation eingetreten, in der »die Politiker, auf die die Gegner
des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eige-
nen Sache bekräftigen«.1 Sein Freund Gershom Scholem beschrieb die letzten Zeilen Benjamins
vor dem Selbstmord am 26. September 1940 als Zeugnis seines »Erwachens« aus dem trauma-
tischen Schock des Stalin-Hitler-Paktes und zugleich als Fanal, nach dem Auseinanderbrechen
der linken Solidarität neue Perspektiven jenseits des offensichtlich an seinem Ende angekom-
menen parteikonformen Arbeiterbewegungsmarxismus der Sowjetunion und der Komintern
zu suchen. Auch andere weitsichtige politische Denker wie George Orwell läuteten in der »Mit-
ternacht im Jahrhundert« (Victor Serge) die Alarmglocken und versuchten die Aufmerksam-
keit der Zeitgenossen auf die kommenden Gefahren und neue drohende Katastrophen zu len-
ken, die aus dem Zusammengehen von Hitler und Stalin und dem Niedergang der Demokratien
erwuchsen.2 Sie schlossen dabei nicht aus, daß solche globalen Verträge wie der Stalin-Hitler-
Pakt gegen die Demokratie und die Menschenrechte keine einmaligen und abgeschlossenen
Ereignisse seien und sich sogar auf einer planetaren Ebene wiederholen könnten. Die Barbarei
des Zweiten Weltkriegs ließ die Solidarität der Linken, die trotz aller Feindschaften und Spal-
tungen als kulturelles Erbe bis in die Mitte der dreißiger Jahre – zumindest in Europa – Bestand
gehabt hatte, zur Chimäre werden. Der Stalinsche Terror und der spanische Bürgerkrieg in der
zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, die in den letzten Jahren dank der »Archivrevolution« in-
tensiv erforscht wurden, haben diesen Prozeß beschleunigt. Welche unrühmliche, ja unheil-
volle Rolle der internationale Kommunismus, die Komintern und die KPD gerade angesichts
der Verbrechen der Nationalsozialisten vom Abschluß des Stalin-Hitler-Pakts über den Aus-
bruch des Zweiten Weltkriegs und den Untergang eines demokratischen Frankreichs bis zum
Existenzkampf der Sowjetunion gegen die vor Moskau stehende Wehrmacht spielten, wird in
diesem Buch erstmals anhand von Originalquellen rekonstruiert.

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Der Verräter, Stalin, bist du.qxp 22.05.2008 14:56 Seite 55

Der »Teufelspakt« und seine Konsequenzen ...

Die Erfolgsgeschichte der Sowjetunion als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs überstrahlte bis-
her die Zusammenarbeit der Diktatoren und Stalins Scheitern gegenüber Hitlers Angriff im Juni
1941. Daß der Antifaschismus nach Abschluß des Pakts nicht nur als »zweitrangig« eingestuft,
sondern auch ganz abgeschafft und für Parteimitglieder, Emigranten und Sympathisanten un-
ter Verbot gestellt wurde, erschien aufgrund der späteren Wandlung als sekundär. Doch gerade
hierauf soll das Buch den Diskurs lenken, denn die zugänglich gewordenen Dokumente bele-
gen einen tiefgehenden Bruch nicht nur der linken Solidarität. Die Prinzipien und Ideale der
Demokratie, der Selbstbestimmung von Nationen und Individuen, der Toleranz, die Arbeiter-
und Freiheitsbewegungen seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert prägten, wurden ad absur-
dum geführt, ja in ihr Gegenteil verkehrt. Die nur dürftig kaschierte Unterstützung des ver-
brecherischen nationalsozialistischen Hitlerregimes führte nicht zuletzt zu einer moralischen
Diskreditierung des orthodoxen Parteikommunismus Stalinscher Prägung. Die hier zum Teil
erstmals publizierten Dokumente und Materialien lassen keinen Zweifel daran, daß die hitler-
freundliche Außenpolitik der Sowjetunion auf eine spezifische Weise mit der Komintern ab-
gestimmt wurde. Das Buch erschließt die politischen Mechanismen, Propagandastrategien und
rhetorischen Bemäntelungen, mit denen im Namen des Kommunismus der Antifaschismus
und die linke Solidarität zerschlagen wurden und die sowjetische Führung gemeinsam mit der
Komintern und den kommunistischen Parteien in nicht unwesentlichem Maße halfen, Europa
der Kriegsmaschinerie Hitlers auszuliefern. Durch das Flankieren und Abdecken der sowjeti-
schen Freundschaftspolitik mit Hitlerdeutschland trugen Komintern und kommunistische
Parteien – besonders in Europa – zur Desorientierung und Demoralisierung der Bevölkerung
bei. Wie die weitreichende Instrumentalisierung im Sinne der Strategie Stalins zeigt, handelte
es sich bei dem im September 1939 abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Freundschaftspakt
keineswegs um ein defensiv ausgerichtetes sowjetisch-deutsches Bündnis.

Ausrichtung auf die Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland ...

Der von der Kominternpresse demonstrativ zur Schau getragene »antiimperialistische« und
gegen den Krieg gerichtete Duktus erweist sich als propagandistische Verschleierung der Tat-
sache, daß die politischen und strategischen Ziele der Sowjetunion (bzw. der sowjetischen
Führung unter Stalin) in den Jahren 1939–1941 nicht nur mit den klassischen diplomatischen
Mitteln, sondern auch – mit der Komintern als Vermittlungsebene – unter Einsatz der kom-
munistischen Parteien verfolgt wurden. Die chronologische Anordnung der hier veröffent-
lichten Dokumente belegt dies.
Nach dem Angriff Hitlers auf Polen im September 1939, der Zerschlagung des Staates und
der darauf folgenden Aufteilung der Gebiete zwischen Hitler und Stalin wurde den kom-
munistischen Parteien ausdrücklich untersagt, das Land und die polnischen Arbeiter und

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Der Verräter, Stalin, bist du.qxp 22.05.2008 14:56 Seite 56

Demokraten zu verteidigen. In unmittelbarer Reaktion darauf sprach Willi Münzenberg von


der »untilgbaren Schuld« Stalins, Hitler entscheidend geholfen zu haben und damit eine Mit-
verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu tragen.
Die Politik des internationalen Kommunismus wurde (oftmals gegen den Widerstand der na-
tionalen kommunistischen Parteien) auf die neue sowjetisch-deutsche Achse ausgerichtet. Dies
zeigen etwa die antienglischen und antifranzösischen Kampagnen in Europa oder die Auf-
standspläne in den englischen und französischen Kolonien, in Indien oder im Irak. Die neue
Logik der Hitlerdeutschland freundlich gesinnten sowjetischen Politik zog nicht nur das er-
klärte (allerdings noch vielfach verbrämte) Ende des Antifaschismus mit sich. Den weiterhin
im Widerstand gegen Hitler, Mussolini und ihren Helfern stehenden Antifaschisten wurde die
elementare Solidarität aufgekündigt, der endgültige Verzicht auf den Sturz des Hitlerregimes
wurde proklamiert und die Propaganda zur Schwächung Englands und Frankreichs gegenüber
dem kriegerischen Vordringen Hitlers ausgeweitet. Erneut wurden tiefe Gräben zur Sozialde-
mokratie und zur nichtkonformistischen Linken gezogen. Alles wurde mit einem nebulösen
»Anti-Imperialismus« und einer in ihrer Abstraktheit plakativen Antikriegskampagne der Kom-
intern und der vermeintlichen »Neutralität« der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg als ideo-
logischem Deckmantel gerechtfertigt.
Reaktionen auf zentrale Ereignisse wie den Beginn des Zweiten Weltkriegs, die Zerschla-
gung Polens, das Vorrücken der Roten Armee in Osteuropa, die Niederlage Frankreichs 1940,
die Widerstandsproblematik nach dem Molotow-Besuch in Berlin bestätigen dies. Zwischen-
staatliche Interaktionen wurden durch Intervention auf innerstaatlicher Ebene ergänzt – und
zwar gleich in mehrfacher und durchaus unterschiedlicher Weise. Dabei mußte die »zweite
Außenpolitik« der Sowjetunion nicht unbedingt mit der ersten synchron laufen, sie durfte je-
doch nicht gegen die strategischen Ausrichtungen der Sowjetunion verstoßen. Letztlich konnte
ein solches System nur funktionieren, weil weder das Politbüro der KPdSU noch das Sekreta-
riat der Komintern als Spitze des EKKI die maßgeblichen Entscheidungsgremien waren, son-
dern, wie vielfach belegt wird, vor allem inoffizielle Gruppen agierten und auf die Initiative
Stalins zurückgehende informelle Mechanismen walteten.
Ausgehend von der sowjetischen Partei- und Staatsführung bis zur Komintern und den
kommunistischen Parteien vermittelt das vorliegende Buch ein – jeweils entsprechend abge-
stuftes – Gesamtbild der Unterstützung Hitlerdeutschlands, auch wenn dieser Kurs den mei-
sten kommunistischen Parteiführungen in einem monatelangen, hier in signifikanten Aus-
schnitten dokumentierten Prozeß aufgezwungen werden mußte. Angesichts der Entfesselung
des Zweiten Weltkriegs hatte die der Sowjetunion verpflichtete Internationale in den meisten
Ländern der Welt bis zu Hitlers Angriff auf die Sowjetunion den Widerstand gegen seinen
scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch und sein KZ-Regime geschwächt. Das Beispiel der KP
Frankreichs oder auch der KPD zeigt, daß durch die Wiederaufnahme einer politischen Op-
positionshaltung gegen Hitlers Vordringen im Jahre 1940 der erlittene Substanzverlust nicht
mehr völlig wettgemacht werden konnte.

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Nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion: Verschleierung und andere Folgen ...

Das vorliegende Buch schließt mit den Reaktionen in den inneren Kreisen der Komintern und
der kommunistischen Parteiführungen auf den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion. Belegt
wird, wie nach dem von Stalin zu diesem Zeitpunkt für völlig ausgeschlossen gehaltenen An-
griff das Steuer herumgerissen und die Komintern unter chaotischen Bedingungen auf den Wi-
derstand mit allen Mitteln ausgerichtet wurde.
Der internationale Parteikommunismus trug also eine Mitverantwortung für die Konsequen-
zen, die sich aus Hitlers barbarischem Feldzug ergaben, für die »Herrschaft von Not und Ge-
walt«, die Demoralisierung der Akteure und den hohen Blutzoll der verratenen Antifaschisten,
einschließlich der kommunistischen Mitglieder selbst. Unangepaßte Intellektuelle, die die
deutsch-sowjetische Freundschaftsachse kritisierten, im aktiven antifaschistischen Wider-
standskampf standen oder in Presse, Buch und Kunst für die Niederlage des Nationalsozialismus
eintraten und etwa England und Frankreich im Widerstand gegen Hitler unterstützten, wurden
als Sowjetfeinde denunziert und weltweit, sofern man über entsprechende Kanäle und Mittel ver-
fügte, unterdrückt; der Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen den »konterrevolutionären«
Trotzkismus wurde unter Einsatz aller Mittel verstärkt. Der geniale Münzenberg wurde im Sep-
tember 1940 vermutlich heimtückisch ermordet, kurz vorher, am 20. August, wurden bereits
Stalins lange gehegte und mehrmals vorbereitete Mordpläne gegen Trotzki in die Tat umgesetzt.
Der schizophrene Spagat der moskautreuen Kommunisten beschleunigte die Krise der KP
Frankreichs als größter noch legaler Partei in Europa sowie die Preisgabe aus Deutschland und
halb Europa geflohener Antifaschisten, zehntausender Insassen der Internierungslager in
Frankreich und Spanien und der Konzentrationslager in Deutschland. Im okkupierten Frank-
reich und Belgien verhandelten Parteivertreter mit den Besatzungsverwaltungen über eine Le-
galisierung von Parteiaktivitäten unter deutscher Kontrolle. Gleichzeitig wurde der Widerstand
antifaschistischer Parteien, Verbände und Legionen gegen die Besatzer als Hilfe für den eng-
lischen bzw. französischen Imperialismus verteufelt.
Angesichts der problematischen historischen Überlieferung und einer jahrzehntelangen
Propaganda des Uminterpretierens und Verschweigens nimmt es nicht wunder, daß die unbe-
streitbare Feststellung, Stalin und die Komintern seien nicht nur für den Ausbruch des Zwei-
ten Weltkriegs mitverantwortlich, sondern hätten in den Jahren 1939 bis 1941 auch national-
sozialistische Verbrechen gedeckt, bei vielen heute noch Erstaunen hervorruft. »Gerade lese ich
über den Hitler-Stalin-Pakt. Was haben wir denn an Fakten gewußt? Fast nichts; an der Schule,
an der Universität wurde gelogen und verschwiegen«, schrieb Jürgen Fuchs am 29.8.1980 an
Manès Sperber und benennt damit nicht nur ein ostdeutsches Dilemma.3
Der von Komintern und Sowjetunion nach Hitlers Überfall im Juni 1941 wiederbelebte An-
tifaschismus und der Heroismus der Kommunisten, die sich nun in Widerstand, Résistance und
Volksbefreiungsarmeen engagierten, war bereits nicht mehr Bestandteil einer internationalisti-
schen Strategie. Das patriotische Paradigma des »Großen Vaterländischen Krieges« war dem
des Antifaschismus übergeordnet. Sofort unternahm man erste Schritte zur Organisierung des

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so geprägten Widerstands der Kommunisten in Europa durch illegale politische Gruppen,


Radiopropaganda, Aufklärung- und Spionage-Tätigkeit, Verbindungssicherung durch die mi-
litärischen Fronten, Fallschirmagenten hinter den Fronten und »Kriegsgefangenenarbeit«. Die
Komintern selbst mußte dabei von der Bildfläche verschwinden, sie durfte nicht mehr in der
Öffentlichkeit in Erscheinung treten.
Die Taktik war doppelgleisig: Einerseits sollten sich die Parteien mit den bisher schärfstens
bekämpften Antihitler-Organisationen (etwa den Gaullisten in Frankreich) im Rahmen so-
genannter »nationaler Fronten« vereinigen, andererseits enthüllen die abgedruckten Instruk-
tionen Dimitroffs, daß von nun an tatsächlich »alles« für die Verteidigung der Sowjetunion ge-
geben werden mußte. Die Instruktionen des Kominternapparats mutierten zu militärischen
Kommandos für die Anwendung von Mitteln im besetzten Europa, die wie individueller Ter-
ror und Sabotage nicht der Tradition der kommunistischen Parteien entsprachen.

I. Weiße Flecken der Zeitgeschichte

Nach über 60 Jahren – Dokumente der »dunklen Jahre« des Kommunismus …

Dieses Buch ist aus den Arbeiten der »Deutsch-Russischen Historikerkommission« (Berlin–
Moskau) hervorgegangen. Es erscheint im Aufbau-Verlag Berlin als vierter Band der Reihe »Ar-
chive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts«. Die Idee zu dieser Publikation entstand,
als sich bei der Vorbereitung für eine Grundlagenedition zur KPD-Geschichte erwies, daß kaum
Dokumente aus den »dunklen Jahren« 1939–1943 bekannt bzw. veröffentlicht worden waren.
Der ehemalige Kominternfunktionär und Stalin-Kritiker Angelo Tasca hatte bereits seit den
fünfziger Jahren mit Blick auf die KP Frankreichs die Aufdeckung der Dokumente gefordert,
und Historiker des 20. Jahrhunderts sahen darin eines der zentralen Forschungsdesiderata.4
Nicht zuletzt aufgrund der Öffnung der sowjetischen Archive kann nun eine eigentlich längst
überfällige Zusammenstellung von Dokumenten des internationalen Kommunismus aus diesem
Zeitraum vorgelegt werden.

Weiße Flecken und Erinnerung: Tabuisierung und manipulativer Umgang mit Geschichte …

Bis in die heutige Zeit nimmt der Zweite Weltkrieg den wichtigsten Platz im historischen Ge-
dächtnis Rußlands ein. Doch die Abläufe bis zum deutschen Überfall sind aus der kollektiven
Erinnerung bzw. dem historischen Wissen weitgehend verschwunden, das wird durch den Ver-
gleich mit der Geschichte des (1939 gerade zu Ende gegangenen) spanischen Bürgerkriegs und
der (allerdings vielfach mythologisierten) Internationalen Brigaden noch deutlicher.
George Orwell, später als wichtigster politischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bezeichnet

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(T. Garton Ash), charakterisierte bereits 1945 den Umgang mit dem Stalin-Hitler-Pakt in der
Sowjetunion, wo er nicht nur aus den Schulbüchern gestrichen wurde, als Schüsselbeispiel für das
schnellstmögliche Tilgen eines Ereignisses der Weltgeschichte aus dem historischen Gedächtnis
und als Muster der nationalistischen Manipulation von Geschichte.5 Gerade die Paktperiode 1939
bis 1941 erfüllt jedoch eine Scharnierfunktion, ohne die zentrale Wandlungen und Stationen der
Kommunismusgeschichte (»Nationale Fronten«, »Volksdemokratie« etc.) und damit auch Etap-
pen der Nachkriegsgeschichte rätselhaft blieben. Der Stalin-Hitler-Pakt war bis zur Implosion der
Sowjetunion in deren gesamtem Machtbereich einschließlich Polens und des Baltikums tabui-
siert: Die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle, die die Aufteilung eines großen Teil Europas
unter Hitler und Stalin markierten (siehe S. 106f., 146f.), wurde von russischer Seite erst 1992 ein-
gestanden.6 In den Ländern des »realen Sozialismus« wurde als »Geschichtsfälscher« abgekan-
zelt, wer die Ereignisgeschichte für die Wahrheit hielt. Im heutigen Diskurs sind die Tabus kei-
neswegs völlig gebrochen, nicht zuletzt russische Historiker verteidigen den Pakt weiterhin als
Defensivmaßnahme aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft der westlichen Demokra-
tien.7 Eine Schieflage ist auch dadurch entstanden, daß der Pakt selbst zwar thematisiert wurde,
doch die folgende fast zwei Jahre andauernde Zusammenarbeit seltsam ausgeklammert bleibt.
Das positive Andenken an den Sieg der Sowjetunion und der Alliierten gegen Hitler und die
Widerstandsgeschichte der Kommunisten nach dem Juni 1941 dominieren auch das Ge-
schichtsbild. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nach der deutschen Invasion vom Juni
1941 blieb vor allem als Nationalgeschichte des Widerstands präsent. In der parteioffiziellen
»marxistisch-leninistischen« Geschichtsschreibung diente sie dem Konstrukt einer linearen,
bruchlosen antifaschistischen Tradition der Sowjetunion und der kommunistischen Parteien,
so, als ob das jüngst Vergangene nur ein böser Spuk gewesen sei. Es gilt das Goethe-Wort:
»Aber nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirk-
lich geschehen, das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird […].«8

Forschungsstand und Diskurse …

Seit der Öffnung der russischen Archive sind die Herrschaftsmechanismen der Stalinzeit für be-
stimmte Bereiche in dokumentarischer Breite dargestellt worden, vor allem der Terror und das
Gulag-System.9 Der historisch-politische Diskurs über die Anfangsphase des Zweiten Welt-
kriegs, den Stalin-Hitler-Pakt und den Angriff Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion (»Fall Bar-
barossa«) wird von außen-, wirtschafts- und militärgeschichtlichen Themen dominiert.10 Fragen
nach der Verantwortung für die Auslösung des Krieges, nach den Ursprüngen des Kalten Krie-
ges oder nach der Interpretation des Paktes selbst und den Beziehungen zwischen Hitler und
Stalin sind ebenso Gegenstand einer anhaltenden Diskussion wie die (anhand der hier abge-
druckten Dokumente eher unplausibler gewordene) These, daß Stalin einen Angriffskrieg plante
und Hitler ihm mit seinem »Präventivkrieg« zuvorkam.11
In der historischen Forschung wird der Abschluß des Paktes als eine Voraussetzung, bis-

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weilen auch als Auslöser des Zweiten Weltkriegs betrachtet.12 Hitler hatte damit freie Bahn,
Polen zu überfallen. Die Geschichte des Paktes auf dem Hintergrund der deutsch-sowjetischen
Beziehungen ist weitgehend aufgearbeitet.13 Die bilateralen deutsch-sowjetischen Verhand-
lungen, außen- wie innenpolitischen Ziele und Interessen, so die von Stalin ursprünglich in-
tendierte Abwehr eines Zweifrontenkrieges bei geschwächter Roter Armee, die Grenzabkom-
men, die gegenseitigen Warenlieferungen und Militärhilfe – all das ist von Historikern wie Bianca
Pietrow-Ennker und zuletzt von Lew Besymenski grundlegend dargestellt oder durch Archiv-
dokumente unterlegt worden.14 Da diese Themen nicht im Zentrum des vorliegenden Buches
stehen, seien zum besseren Verständnis des Folgenden zwei Prämissen vorangestellt, die sich
aus der kritischen Forschung ergeben. Erstens wurde mit dem am 28.9.1939 unterzeichneten
Freundschafts- und Grenzvertrag und dem dazugehörigen geheimen Zusatzprotokoll zur Auf-
teilung Ostmitteleuropas jegliche noch vorhandene defensive Zielrichtung des Paktes durch-
brochen und mit einer strategischen Annäherung an Deutschland zur Erreichung limitierter
territorialer Ziele verbunden. Zweitens konnte – was die Gesamtbilanz angeht – das nicht zu-
letzt auf Angst vor der Bedrohung gegründete Bündnis (Besymenski) weder die innen-
politischen noch die außen- und militärpolitischen Probleme des Stalinschen Regimes lösen.
Durch neu erschlossenes sowjetisches Archivmaterial und nicht zuletzt die Dimitroff-Tage-
bücher lassen sich heute gesichertere Aussagen über Stalins Motive, den Pakt mit Hitler-
deutschland abzuschließen, machen. Mit dem chaotischen Ende und dem Sieg Francos im spa-
nischen Bürgerkrieg sowie dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938, als im Namen
der westlichen Demokratien die Tschechoslowakei im Stich gelassen und zur Beute Hitlers ge-
macht wurde, war die nicht zu den Verhandlungen eingeladene Sowjetunion in eine gefährliche
Isolierung geraten. Während sie auf diplomatischer Ebene weiterhin eine Politik der kollektiven
Sicherheit verfolgte, war die Komintern, die kaum oder zu spät reagierte, zu einer stumpfen
Waffe geworden. Von einem Automatismus bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs läßt sich
gleichwohl nicht sprechen. Die Würfel für den deutschen Angriff auf Polen fielen erst, als Hit-
ler sich sicher sein konnte, nicht gleichzeitig gegen die Westmächte und die Sowjetunion kämp-
fen zu müssen. Die Westmächte führten noch bis kurz vor dem Paktabschluß im August Ver-
handlungen mit der Sowjetunion, doch – so die neuere Forschung – hatte Stalin bereits im
Frühsommer die grundsätzliche Entscheidung für das Bündnis mit Deutschland getroffen, das
ihm nicht zuletzt aufgrund seiner abstrusen strategischen Vorstellungen über die Dauer des Krie-
ges zwischen den kapitalistischen Staaten und der Spekulation, daß Hitler ihn frühestens Ende
1942 angreifen könnte, größere Sicherheitsgarantien zu geben schien.15 Seine von Chru-
schtschow überlieferte Absicht, Hitler geradezu in den Krieg zu stoßen, verdeutlicht das
Vabanquespiel Stalins mit dem Schicksal Europas. Vermutlich sollte Hitlerdeutschland gegen
den »britischen Imperialisus« als Erzfeind sogar gestärkt werden. Die Gefahr, zusätzlich von Ja-
pan in die Zange genommen zu werden, das Mitglied im Antikominternpakt war, wurde durch
den Hitler-Stalin-Pakt gemindert.16 Der Gewinner im Paktbündnis war ohne jeden Zweifel Hit-
ler, der am 22. August 1939 in einer Ansprache vor hohen Militärs auf dem Obersalzberg her-
vorhob, dass der Pakt »nicht allein eine Verwendung der Sowjetunion als Speerspitze einer anti-

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deutschen Koalition verhindere, sondern auch durch das am 19. August abgeschlossene Kredit-
abkommen eine Blockade gegen Deutschland seitens der Westmächte wirkungslos mache, »weil
die Sowjetunion darin umfangreiche Wirtschaftslieferungen zugesichert habe«.17 So machte der
Pakt den Zweiten Weltkrieg erst möglich, konnte jedoch aufgrund der Schwäche des Regimes,
seiner Organisation und seiner Produktion die Erwartungen der deutschen Seite nicht erfüllen
und trotz weitreichender Lieferverpflichtungen die Kriegsführung Deutschlands längerfristig
absichern.

Komintern und kommunistische Parteien, die auch im Zweiten Weltkrieg als multiple Instru-
mente und »Kanäle« sowjetischer Politik eingesetzt wurden, haben Historiker bisher kaum sy-
stematisch in den Blick genommen. Im Unterschied zur vorhandenen, reichhaltigen Literatur18
über den Pakt untersucht und dokumentiert das vorliegende Buch gerade deswegen, wie sich die
durch ihn fundamental veränderte internationale Lage (Molotow), in der England und Frankreich
die Rolle des Aggressors zugeschrieben und Hitlerdeutschland (fast) zur Friedensmacht stilisiert
wurde, auf die internationale kommunistische Bewegung, die Komintern und ihre Sektionen, die
kommunistischen Parteien in den hauptsächlich betroffenen europäischen Staaten auswirkte.19
Die Phase bis zum 22. Juni 1941, in der das internationale Verbindungsnetz der Komintern zum
Teil auseinanderbrach (siehe u.a. S. 112–114, 122–124), ist gekennzeichnet von einer wohlwol-
lenden Neutralität der Sowjetunion gegenüber Hitlers Angriffskrieg und der Indienstnahme
kommunistischer Parteien für den freundlichen Kurs gegenüber dem deutschen Aggressor. Die-
sem Aspekt schenkte man bei der Erforschung des Beginns des Zweiten Weltkriegs bislang we-
nig Beachtung. Die Betrachtung des Stalin-Hitler-Paktes »durch die Brille« der Komintern führt
jedoch zu teils überraschenden Erkenntnissen, bestehende Forschungshypothesen werden durch
neue Quellen untermauert bzw. in Frage gestellt, ob es um die Kriegsziele Stalins oder den anti-
faschistischen Widerstand, die Konzessionen an das Hitlerregime oder den Beginn der Résistance
hinter den feindlichen Linien geht. Dieser einleitende Essay soll in zum Teil bewußt überspitz-
ter Form einige der neuen Forschungsergebnisse und Synthesen vorstellen. Ausführliche Her-
leitungen und Erklärungen zu den einzelnen Themen und empirischen Zusammenhängen finden
sich in den sachthematischen und chronologisch aufgebauten Kapiteln.
Im Unterschied zur Russischen Föderation (hier wurde bereits 1994 eine grundlegende Do-
kumentenedition über die Komintern im Zweiten Weltkrieg publiziert),20 Frankreich und den
Vereinigten Staaten fehlen bisher grundlegende Quellenpublikationen in deutscher Sprache –
mit Ausnahme der Dimitroff-Tagebücher.21 In Paris erschien 2003 die erste Veröffentlichung
von chiffrierten Funktelegrammen der Komintern, die wichtigste Quellengattung ihrer Korre-
spondenz mit den kommunistischen Parteien in dieser Periode.22 Die Geschichtsschreibung über
die kommunistischen Parteien im Zweiten Weltkrieg ist für einige Länder gut entwickelt (am
differenziertesten in Frankreich), für die meisten europäischen Länder fehlen quellengesättigte
Spezialmonographien.23 Gleiches gilt für die Rekonstruktion der unterschiedlichen Tätigkeits-
bereiche: Während einige von ihnen durch Spezialuntersuchungen abgedeckt sind (Agen-
teneinsätze, Exil etc.), fehlt bisher ein Gesamtüberblick.24 Fragen nach weltrevolutionärer Aus-

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richtung oder Neo-Imperialismus, Antifaschismus oder Konzessionen an den Nationalsozialis-


mus konnten daher bisher kaum zufriedenstellend beantwortet werden. Die vorliegende Do-
kumentation soll dazu beitragen, die Geschichte des Antifaschismus und des kommunistischen
Widerstands sowohl vor als auch nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion zu präzisieren
und in Teilen neu zu schreiben.

Die Schwerpunkte der Dokumentation: Zur Periodisierung …

Die herangezogenen vielfältigen Quellen illustrieren die von der sowjetischen Führung und
von der Komintern im Zweiten Weltkrieg bis 1941 verfolgten Ziele und die zu ihrer Erreichung
eingesetzten Mittel. Unmittelbare Zeugnisse Stalins über außen- und kriegspolitische Prämis-
sen und Perspektiven sind selten. Die internen Dokumente der Komintern und der kommu-
nistischen Parteien vermitteln ein genaueres Bild von der Politik und Vorstellungswelt der so-
wjetischen Führung, deren Zusammenspiel mit der Führung der Komintern, insbesondere mit
Georgi Dimitroff, und sie erhellen die Mechanismen zur Beeinflussung der Weltmeinung in der
wohl »dunkelsten« Phase des internationalen Kommunismus bis zur Jahreswende 1941/42.
Schwerpunkte bilden zwei zentrale weltgeschichtliche Einschnitte: der Abschluß des »Sta-
lin-Hitler-Pakts« im August/September 1939 und seine Auswirkungen sowie die Abwehr der
existentiellen Bedrohung der Sowjetunion nach dem deutschen Überfall im Sommer und
Herbst 1941.
Die Darstellung der internationalen kommunistischen Bewegung in diesem Zeitraum wurde
in sechs chronologisch-inhaltliche Hauptabschnitte eingeteilt. Sie bilden das Periodisierungs-
und Gliederungsmodell der Dokumentation. Teil 1 umfaßt den Zeitraum August–September
1939 und betrifft die unmittelbare Vor- und Ablaufgeschichte des Stalin-Hitler-Paktes und die
Rolle der Komintern vom Abschluß des Vertrags bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. In
Teil 2 werden der Abschluß des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrags, das erklärte Ende
des Antifaschismus und die entsprechenden Maßnahmen zur »Korrektur« der kommunisti-
schen Parteien im Zeitraum September–Dezember 1939 thematisiert. Teil 3 behandelt den An-
griffskrieg der Sowjetunion auf Finnland, der eine verstärkte Isolierung der Sowjetunion und
die weitere Disziplinierung der kommunistischen Parteien (Dezember 1939–März 1940) zur
Folge hatte. Teil 4 enthält Dokumente über den unmöglichen Spagat der kommunistischen Par-
teien zwischen Anpassung und Widerstand gegen den deutschen Vormarsch in Europa auf dem
Hintergrund der offiziellen Freundschaft der Sowjetunion (April 1940–September 1940). In Teil
5 wird illustriert, wie die Sowjetunion nach Molotows Besuch in Berlin mehr in die Defensive
geriet und gleichzeitig versuchte, die Komintern stärker auf Initiativen gegen das deutsche Vor-
dringen in Europa zu lenken (Oktober 1940–Mai 1941). Der 6. Teil (Juni–Oktober 1941) be-
handelt den für die Sowjetunion und die kommunistische Bewegung katastrophalen Beginn des
deutschen Blitzkriegs und die chaotische Umorientierung der Komintern auf die Hilfe im Exi-
stenzkampf der Sowjetunion unter dem Stichwort »Vaterländischer Krieg« und »Nationale

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Fronten«. Am Schluß des Bandes erfolgt ein Ausblick auf das weitere Verhältnis von Komin-
tern und Sowjetunion in den Jahren 1942 und 1943, der mit ihrem Rückzug aus der Öffent-
lichkeit und schließlich ihrer Auflösung im Mai 1943 endet. Die einzelnen Teile sind in sach-
systematische Kapitel gegliedert, die bisweilen auch den chronologischen Aufbau sprengen.

Ein Menetekel für die Komintern …

Die im März 1919 maßgeblich von den Führern der Oktoberrevolution, Wladimir I. Lenin und
Lew Trotzki, gegründete Kommunistische Internationale, nach der russischen Abkürzung bald
»Komintern« genannt, sollte als Antwort auf die Traumata des Ersten Weltkriegs und die Politik
des nationalen »Burgfriedens« der internationalen sozialdemokratischen Parteien den Anspruch
der von Marx 1864 gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation wiederbeleben.25 Als
Weltpartei des Proletariats sollte sie, gestützt auf die nationalen kommunistischen Parteien,
die Armee der Proletarier aller Länder zum Sturz des kapitalistischen Systems und zur inter-
nationalen Revolution führen. Die Komintern wurde jedoch russifiziert und ihre Politik wie
die der nationalen kommunistischen Parteien stärker auf die geopolitischen Interessen und die
Außenpolitik der Sowjetunion ausgerichtet. Nach dem Scheitern der deutschen Revolution
im Jahre 1923 (zu den herausragenden Akteuren in dieser Zeit gehörten neben Grigori Sinow-
jew Ruth Fischer, Karl Radek, Trotzki und Béla Kun) folgte die »Bolschewisierung« unter Bu-
charin und Stalin. 1928/29 wurde die gegen die Sozialdemokratie gerichtete »Sozialfaschis-
muspolitik« (Jossif Stalin, Wjatscheslaw Molotow, Ernst Thälmann, Dmitri Manuilski) initiiert
und ab 1935 die »Volksfrontpolitik«. Mit ihrer Betonung des Antifaschismus (Hauptreprä-
sentanten waren neben dem charismatischen Georgi Dimitroff Palmiro Togliatti und Wilhelm
Pieck) und dem Einsatz der Internationalen Brigaden als »Armee der Komintern« im spani-
schen Bürgerkrieg der Jahre 1936–1939 (bekannte Akteure waren Politiker wie André Marty,
Palmiro Togliatti, Dolores Ibárruri [»La Pasionária«], Franz Dahlem, aber auch Schriftsteller
wie Lion Feuchtwanger, André Malraux, Heinrich Mann, André Gide) rückte die Komintern
noch einmal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Gleichzeitig erfaßte der stalinistische
Terror neben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (»Große Säuberung«), dem Militär
(»Enthauptung der Roten Armee«) und der sowjetischen Gesellschaft insgesamt auch die Kom-
intern (geplanter vierter Moskauer Schauprozeß, Auflösung der KP Polens und Ermordung
ihrer Mitglieder; Hauptakteure in dieser Phase: Stalin, Manuilski, Jossif Pjatnitzki, Nikolai
Jeshow, Michail Trilisser). Trotz politischer Mißerfolge und Niederlagen unterhielt die Ko-
mintern ein subversives und zu großen Teilen illegales internationales Netzwerk transnationaler
Ströme und Strömungen von Ideen, Informationen, Know-how, Personen (vom einfachen Par-
teimitglied über die Absolventen der Kominternuniversitäten bis zum illegalen Instrukteur),
Waren, Geld, Wertsachen, Waffen und beeinflußte damit nicht nur politische Parteien und
Gewerkschaften, sondern auch Antikriegsbewegungen, nationale Minderheiten, antikolonia-
listische Strömungen, Kultur-, Exil- und Antikriegsorganisationen. Das eigene Netzwerk,

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bezogen auf die 24jährige Existenz der Komintern, umfaßte ca. 100 Struktureinheiten und ein
Vielfaches an Substrukturen, insgesamt etwa 60 Organisationen internationalen Zuschnitts mit
jeweils eigenen, oftmals über den gesamten Globus verteilten Leitungs- und Auxiliärstruktu-
ren. Zusammengeführt wurden sie im Leitungs- und Hilfsapparat des Exekutivkomitees der
Komintern (EKKI), dessen Sekretariat seit 1935 – streng von Stalin und Molotow kontrol-
liert – Georgi Dimitroff vorstand. Seine Aufgabe war die Instruktion von bis zu 80 kommu-
nistischen und revolutionären Parteien und Gruppen sowie einer Vielzahl von internationalen
Organisationen – etwa den sympathisierenden Gewerkschaften in zahlreichen Ländern.26
Der Abschluß des Stalin-Hitler-Paktes im August 1939 stellte ein Worst-Case-Szenario für die
charismatische Institution Komintern dar – und besonders für die Hunderttausende Kommu-
nisten außerhalb der Sowjetunion, in Freiheit oder in der politischen Emigration, in Internie-
rungs-, Konzentrationslagern und Gefängnissen.

Chiffrierte Telegramme, geheime Korrespondenzen, Parteiinstruktionen, Zeitzeugnisse …

Walter Kempowskis epochales Werk »Echolot« vergegenwärtigt in subjektiven Zeitzeugnissen


»Barbarossa« und seine Folgen einfühlsam und dramatisch zugleich als die bis dato größte Ka-
tastrophe, in der ein Großteil der Menschheit faktisch zu Geiseln einer Kriegsmaschinerie
wurde.27 Ähnlich einem »kollektiven Tagebuch« ist auch die vorliegende Dokumentation nach
dem Prinzip einer historischen Collage aufgebaut, wobei der Blick von oben, von den Führun-
gen der kommunistischen Bewegung, nachvollzogen wird.
Die Quellengrundlage heterogener Provenienz ermöglicht es, eine zwielichtige Kultur des
Geheimen und der Untergrundarbeit offenzulegen, die durch eine schockierende Verwischung
der bisher klar abgesteckten Fronten von Freund und Feind, von Grundkonzepten wie »rechts«
und »links« geprägt wird. Das Rückgrat der Dokumentation bilden neben der chiffrierten, über
das geheime Funknetz der Komintern (bisweilen auch der sowjetischen Militäraufklärung) ab-
gewickelten Korrespondenz der Moskauer Kominternzentrale mit den kommunistischen Par-
teien in West- und Mitteleuropa Quellen informellen Charakters aus der unmittelbaren Um-
gebung Stalins und der sowjetischen Nomenklatura.28
Die innerrussische Dimension spiegelt sich in Politbüro-Beschlüssen, Regierungserklärun-
gen, Korrespondenzen der sowjetischen Führer mit der Kominternführung (besonders zwi-
schen Stalin und Molotow, Stalin und Dimitroff, Dimitroff und Schdanow, die zwischen 1939
und Mitte 1941 die zentralen Entscheidungen für die Komintern vornahmen), Reden, Arti-
keln und Geheimdienstberichten der Militärs (GRU) wider.
Die Innenwelt der Komintern wird durch geheime Instruktionen des EKKI, die spezielle
Außenkorrespondenz der Komintern durch chiffrierte Telegramme (an die über ganz Europa
verteilten Funkstellen ihres Verbindungsdienstes) sowie die (gleichermaßen) geheimen und
unveröffentlichten Dokumente ihrer Leitungsorgane bzw. des konspirativen technischen
Apparats repräsentiert, die durch Schlüsselauszüge aus den Dimitroff-Tagebüchern ergänzt

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werden. Berücksichtigt werden zudem Beschluß- und Sitzungsprotokolle des Präsidiums, des
Sekretariats und anderer Kominternstrukturen.
Öffentliche Verlautbarungen (Auszüge aus Presseartikeln, Stellungnahmen, Resolutionen,
Aufrufen, Erklärungen) sowie interne, häufig ebenfalls informelle Quellen – wie bspw. die hand-
schriftlichen Notizen des späteren Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck – belegen die Akti-
vitäten der kommunistischen Parteien. Der Schwerpunkt der parteibezogenen Dokumente liegt
auf der KP der Sowjetunion, der KP Deutschlands und Frankreichs, für exemplarische oder be-
merkenswerte Aktivitäten und Bezüge werden auch Episoden aus den kommunistischen Par-
teien Englands, Norwegens, Italiens, Jugoslawiens, Belgiens, Bulgariens, Finnlands, Schwedens,
Rumäniens, Chinas, Spaniens, Islands und der Niederlande einbezogen.
Ausschnitte aus publizierten und unpublizierten privaten Briefen, Tagebüchern, Stellung-
nahmen und Presseartikeln von Zeitzeugen wie Heinrich Mann, Willy Brandt, dem KPD-Theo-
retiker Hermann Duncker und seiner Frau Käte, dem oppositionellen Kommunisten Arkadi
Maslow und dem Mathematiker Emil J. Gumbel, dem Reformpädagogen Alexander S. Neill und
dem Psychoanalytiker Wilhelm Reich beleuchten die Auswirkungen des Paktes auf Kommu-
nisten und Antifaschisten, die von Hilflosigkeit, Resistenz, Zersetzung oder auch erzwunge-
nem Gehorsam geprägt sind. Auszüge aus der Memoirenliteratur (Molotow, Anastas Mikojan,
Georgi Shukow), Tagebüchern (Dimitroff, Joseph Goebbels), Tischreden und Trinksprüche
Stalins und seiner engsten Umgebung sowie Stellungnahmen von Zeitzeugen ergänzen die par-
teioffiziellen Quellen.29

II. Stationen 1939–1941, neue Erkenntnisse und Erklärungsversuche: Vom Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs bis zu Hitlers »Fall Barbarossa« gegen die Sowjetunion und zur Auf-
lösung der Komintern …

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel?

Die Moskauer Instruktionen vor dem Vertragsabschluß deuten darauf hin, daß die Komintern
nicht in die dem Vertragsabschluß zugrunde liegende Neuausrichtung der sowjetischen Politik
eingeweiht war. Ob und in welchem Umfang die Kominternführung vorbereitet war, dürfte
nicht zuletzt vom Nachweis der Echtheit einer angeblichen, umstrittenen Rede Stalins im Polit-
büro vom 19.8.1939 abhängen.30 Die ersten Presseinformationen der »Prawda« führten zu er-
regten und widersprüchlichen Reaktionen, ja zu verbreitetem Unverständnis und Resistenz sei-
tens der kommunistischen Parteien (siehe S. 105–110, 189f.). Da die mit dem Pakt verbundenen
Perspektiven noch nicht durchschaut werden konnten, ergaben sich große Argumentations-
brüche. Insofern traf der Abschluß die Komintern unvorbereitet und führte zur Existenzkrise
des internationalen Apparats und zur Existenzbedrohung der kommunistischen Parteien (siehe
u.a. S. 276f.). Nach der Dezimierung durch den Terror seit 1935, der auch 1939 noch nicht zum

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Stillstand gekommen war, ergab sich nun die in der Hauptsache außenpolitisch motivierte Zer-
setzung von innen. Selbst nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der als »deutsch-polnischer
Krieg« bezeichnet wurde, verblieb die Kominternführung zunächst in Erklärungsnot, bis Stalin
am 7.9.1939 dem Generalsekretär Georgi Dimitroff die Position der Sowjetunion im Zweiten
Weltkrieg und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die kommunistischen Parteien
darlegte (siehe S. 124–126). Ob Dimitroff und Manuilski bereits durch die ominöse Stalin-Rede
vor dem Politbüro über den Pakt und die neue Ausrichtung der Sowjetunion gegen England und
Frankreich vorinformiert wurden, bleibt in der Forschung umstritten und bildet den Stoff für
eine Historikerdebatte(siehe S. 189). Vorerst wurden von der politischen Führung die kommu-
nistischen Parteien, darunter als strategisch bedeutsamste und (noch) legale die KP Frankreichs,
im Widerspruch zwischen antifaschistischem Reflex, »nationaler Union« und plakativ bekun-
deter sowjetisch-deutscher Freundschaft belassen.

Beifall für die Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion …

Trotz erheblichen »Unverständnisses« und teilweiser Auflehnung einiger Sektionen legitimierte


die Komintern die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte staatliche Auslöschung Polens und
dessen Aufteilung zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland, die, was Stalins Absichten
betrifft, fälschlicherweise als Realpolitik gedeutet wurde. Die KP der USA und die KPD wurden
zur Ordnung gerufen, weil sie anfänglich vom gerechten Krieg gegen den Faschismus sprachen
und zur Verteidigung der Unabhängigkeit Polens aufriefen (siehe S. 126f., 131–133). Die ersten
verbindlichen Direktiven an die kommunistischen Parteien erkannten jedoch keinen Unterschied
zwischen faschistischen und demokratischen Staaten mehr an. Polen habe als Schurkenstaat – Sta-
lin sprach von einem faschistischen und parasitären Staat (!) – ohnehin das Existenzrecht verloren
(siehe u.a. S. 129, 165, 176). Die Aufteilung des Landes zwischen Hitler und Stalin sowie die Be-
setzung Westweißrußlands und der Westukraine durch die Rote Armee und ihre sukzessive Ein-
verleibung in die Sowjetunion wurden von der Komintern als »Befreiungseinmarsch« gefeiert.

… zur Liquidierung des Antifaschismus.

Infolge des Paktes wurde der Antifaschismus als weltweite Kultur liquidiert, davon waren in
erster Linie die Komintern und die kommunistischen Parteien, darunter in dramatischer Weise
die französische KP betroffen. Obwohl nur in seltenen Fällen unmittelbar artikuliert und in
»antiimperialistischen« Tiraden verbrämt, hieß nun die Vorgabe für die moskautreuen kom-
munistischen Organisationen nicht mehr Widerstand gegen den Aggressor Hitlerdeutschland,
sondern Hinnahme des deutschen Vormarschs in Europa (während von Seiten der sowjeti-
schen Staatspolitik zumindest bis zum Juni 1940 offener Beifall kam).
Als zusätzlich zum Nichtangriffs- am 28.9.1939 der Grenz- und Freundschaftsvertrag der

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Sowjetunion mit Hitler abgeschlossen wurde, der das geheime Zusatzprotokoll über die Auf-
teilung Ostmitteleuropas enthielt, geriet die Komintern noch tiefer in Erklärungsnot und blieb
ohne Handlungsperspektiven (siehe S. 149–154). Noch zwei Monate nach Kriegsbeginn konnte
sie ihren verwirrten Mitgliedssektionen die Situation nicht erklären. Die KPD forderte sogar
weiterhin – gegen den neuen Kurs der Komintern – den Sturz Hitlers (siehe S. 155–157). Die
neue perfide Logik erschloß sich ihr erst langsam: Hitlers Sturz zu fordern, bedeutete ja, den
Hauptfeind, das »imperialistische« England zu unterstützen. Die europäischen Kommunisten
befanden sich im Zangengriff. Franz Dahlem und die Pariser Auslandsleitung der KPD im Sta-
tus einer operativen Leitung der Partei wurden dabei doppelt abgestraft: von der französischen
Regierung Daladier wurden sie als Deutsche und Kommunisten im Internierungslager festge-
halten, während Dimitroff Dahlem aus Moskau telegraphisch dazu aufforderte, von seinen Be-
reitschaftserklärungen zum Einsatz der deutschen Antifaschisten im Kampf gegen Hitler ab-
zuschwören. Von den Regierungen als Vollzugsorgane der mit dem Feind verbündeten
Sowjetunion betrachtet, rückten die kommunistischen Parteien auch in den noch parlamenta-
risch-demokratisch regierten Staaten in das Zentrum staatlicher Kontrolle und Unterdrückung.

Schwierigkeiten, die kommunistischen Parteien auf den Kurs zu bringen …

Die schwierige »Normalisierung« mit verstärkten Korrekturen des politischen Kurses der Par-
teien bis zum Jahresende hatte fatale Konsequenzen. Die KP Frankreichs wurde als ehemals
größte kommunistische Partei Westeuropas – mit 1938/39 noch ca. 200000 Mitgliedern – weit-
gehend demontiert und verlor rasant den Rückhalt in der Bevölkerung. Das linke Frankreich,
zusammen mit Spanien das Heimatland der »antifaschistischen Volksfront«, erlitt einen poli-
tischen und psychologischen Schock, der durch die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung
Daladier beschleunigt wurde. Als sich Marcel Cachin, der greise historische Chefredakteur des
Zentralorgans »Humanité«, weigerte, die Politik der Sowjetunion im französischen Senat zu
verteidigen, versuchte die Kominternführung in Moskau, ihn zu marginalisieren und später so-
gar außer Landes zu bringen (siehe S. 253f.). Nach einer Veröffentlichung der Presseagentur
Havas ließ Stalin am 30.11.1939 ein äußerst aufschlußreiches Dementi zu seiner angeblichen
Geheimrede im Politbüro vom 19.8.1939 über die Kriegsziele der Sowjetunion publizieren, in
dem er ostentativ England und Frankreich als Auslöser des Zweiten Weltkriegs bezeichnete.31
Auch der politische Kurs der kommunistischen Parteien Englands, der USA, Italiens und der
Tschechoslowakei wurde aus Moskau einschneidend »korrigiert«.

Sowjetunion und Komintern: Arbeitsteilig für Hitlers Krieg …

Weder die Annahme einer »Neutralität« der Sowjetunion zu Beginn des Krieges noch der von
der Komintern und ihren Parteien vertretene Kurs des »Antiimperialismus« entsprach den
historischen Tatsachen. Die Sowjetunion legitimierte nicht nur den Beginn des Zweiten Welt-

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kriegs, sondern unterstützte auch als Folge des Freundschaftspaktes mit Deutschland die Hit-
lersche Kriegspolitik. Die gegen Krieg und Imperialismus gerichteten Losungen der Komin-
tern machen die von Historikern geäußerte These von einer Neutralitätspolitik der Sowjet-
union (G. Gorodetsky) nicht plausibler. Tatsächlich stützte sich die Außen- und Militärpolitik
der Sowjetunion von 1939 bis 1941 zumindest bis zur Jahreswende 1940/41 »ausschließlich
auf offene und geheime Abkommen mit Deutschland« (Sergej Slutsch).
Die kommunistischen Parteien wurden so zu einer unmöglichen Akrobatik gezwungen. Sie
sollten einerseits nicht offen für Hitler Partei ergreifen, andererseits jedoch die freundschaft-
lichen bilateralen Beziehungen nicht konterkarieren. Wie das funktionieren sollte, wenn die
Sowjetunion gleichzeitig dem Eroberungsfeldzug Hitlers in Europa Beifall spendete, wußten
vermutlich auch Stalin, Molotow oder Dimitroff nicht. Das Ergebnis waren bizarre, skurrile,
überraschende, ja tragisch-burleske Positionen, revolutionäre Grimassen und eine »trompe-
tende Propaganda« (Arkadi Maslow). Sie führten zur Selbstamputation und zugleich Unter-
drückung der kommunistischen Bewegung von außen, wie es das französische Beispiel dra-
stisch aufzeigt.

Die verspätete Festlegung der Generallinie …

Die Komintern brauchte fast zwei Monate (!), um programmatisch auf den Ausbruch des Welt-
krieges zu reagieren. Die neue Generallinie, der »Kampf gegen den Imperialismus« und »für den
Frieden«, wurde nach langen internen Auseinandersetzungen in Moskau und der verspäteten Zu-
stimmung Stalins von Dimitroff in der Kominternpresse publiziert (siehe S. 178–182). Die Er-
klärungen der Parteien waren allerdings offenbar noch zu hitlerfeindlich und mußten von der
Kominternführung redigiert und zensiert werden. So wurde die Verbreitung eines gemeinsamen
Aufrufs der Kommunistischen Parteien Deutschlands, Österreichs und der Tschechoslowakei
gegen den Krieg untersagt (siehe S. 184–186); dasselbe Schicksal erfuhr ein gemeinsamer Aufruf
der KPD, der KP Großbritanniens und der KP Frankreichs, der sich vermutlich noch zu stark ge-
gen Hitlerdeutschland richtete (siehe S. 213). Die illegalen Parteien isolierten sich weiter von den
Bevölkerungen. Selbst die bisher größte Anti-Hitler-Demonstration in Prag am 17. November
1939 wurde von der KP der Tschechoslowakei – auf Anweisung Moskaus – in die Nähe einer Pro-
vokation der deutschen Besatzer und des »Chamberlainagenten« Beneš gerückt (siehe S. 188).

Propaganda für den sowjetisch-finnischen Krieg …

Der militärische Angriff der Sowjetunion auf Finnland am 30.11.1939 – die Sowjetunion ver-
lor ca. 130000 Soldaten, viele davon kamen durch Hunger und Erfrieren um – demonstrierte ge-
genüber der Weltöffentlichkeit die Tragweite des Bruchs mit den Prinzipien der internationalen
Solidarität. So formulierte es auch der junge Willy Brandt in einem hier veröffentlichten Brief,

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in dem er zugleich das Dilemma der gesamten Linken ausdrückte: »Schon gleich nach Beginn
der Aktion [gegen Finnland] hörte man die Stimmen, die sagten: nicht Adolf, sondern Josef ist
der Weltfeind Nr. eins usw. Auch hier im Norden vollzieht sich auf dieser Ebene eine Rechts-
schwenkung. Die Josefpolitik muß überall die Reaktion stärken. Darum müssen wir auf der Hut
sein und weder dem Josef etwas schenken noch uns vor den andern Wagen spannen lassen.«32
Die Komintern verpflichtete die kommunistischen Parteien, den weltweit geächteten An-
griffskrieg, der den Bruch mit der internationalen Sozialdemokratie zementierte, zu rechtfer-
tigen, allerdings nahmen dies der ZK-Sekretär der KP Finnlands Arvo Tuominen und andere
nicht widerstandslos hin (siehe S. 206f.). Während Stalin im Beisein von Dimitroff über Finn-
land sagte, man dürfe nur »die Jungen und Greise am Leben lassen«, sollte eine großangelegte
Kampagne von Komintern und kommunistischen Parteien den Krieg gegen die »Weißfinnen«
legitimieren. Der mit hohen Opfern seitens der Roten Armee erkaufte Waffenstillstand wurde
von der Komintern als »neuer Sieg der Friedenspolitik der Sowjetunion« dargestellt. Damit
seien die englisch-französischen Kriegspläne »durchkreuzt« worden (siehe S. 202f.). Zu seinem
60. Geburtstag am 21.12.1939 nahm Stalin sowohl die Huldigungen der kommunistischen Par-
teien als auch Glückwünsche der Naziregierung entgegen. In einem im »Völkischen Beobach-
ter« (leicht verändert) abgedruckten Danktelegramm an Ribbentrop schrieb er: »Die Freund-
schaft Deutschlands und der Sowjetunion, begründet durch gemeinsam vergossenes Blut, hat
alle Aussicht darauf, dauerhaft und fest zu sein.« (Siehe S. 195)

Beifall zum Vormarsch der Wehrmacht in Europa …

Das Verhältnis von Sowjetunion und Komintern war arbeitsteilig und komplementär. Die kom-
munistischen Parteien sollten zwar die offizielle sowjetische Politik der engen Zusammenar-
beit vor allem auf den militärischen und wirtschaftlichen Sektor nicht eins zu eins übertragen,
doch auch nicht im Widerspruch zu ihr agieren. Insgesamt legitimierte die Komintern die im
geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte Zerschlagung Polens, sie fungierte weltweit als Sprach-
rohr für den grausamen Angriffskrieg der Roten Armee gegen Finnland sowie die weiteren
sowjetischen Eroberungen in Rumänien und im Baltikum. Seit dem Jahreswechsel 1939/40 de-
finierte die Komintern die zentralen Ziele neu, die taktische Linie wurde noch schärfer gegen
England und Frankreich ausgerichtet, wodurch sich der offizielle gegen England und Frank-
reich gerichtete »Antiimperialismus« der Parteien als Chiffre für die Unterstützung von Hit-
lers Krieg erweist. Als propagandistische Unterstützung der »Neutralitätspolitik« der Sowjet-
union konzipiert, blieb die Politik der Komintern und ihrer Sektionen direkt oder indirekt
gegen die Westmächte gerichtet, mit dem Ziel, ihren Einfluß zu schwächen.33
Die Übernahme der antibritischen und antifranzösischen Kampagne durch die Komintern
und ihre Sektionen, was im Falle der skandinavischen Parteien oder der KP der Niederlande
besonders deutlich wird, ist als Hinweis auf die sehr weitgehende Bereitschaft der sowjetischen
Führung zu werten, das Deutsche Reich gegen England zu unterstützen. Tatsächlich wurden

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die gegen Hitlerdeutschland kämpfenden Alliierten und ihre Armeen, nicht die Nationalso-
zialisten, zu Hauptfeinden, ja zu Menschheitsvernichtern stilisiert (siehe u.a. S. 202). Das Hor-
rorkabinett der typischen Kominternfeindbilder vervollständigten die Sozialdemokraten, die
als Helfershelfer der westlichen imperialistischen Mächte tituliert wurden. Als Hauptfeinde
galten bereits seit den zwanziger Jahren die echten und vermeintlichen »Trotzkisten«. Wie
Trotzki selbst, ließ man diese, wo man ihrer habhaft werden konnte, in den Jahren 1940/41
durch das NKWD umbringen – eine merkwürdige Sequenz von Todesfällen betrifft einige pro-
minente Kritiker des Stalinismus wie Willi Münzenberg in Frankreich, Walter G. Krivitsky und
Raoul Laszlo [d.i. Richard Lengyel] in den USA und Arkadi Maslow in Kuba. Statt des Anti-
faschismus entstanden im Rahmen der bilateralen deutsch-russischen Beziehungen von Seiten
der Komintern ernsthafte Planungen für ein friedliches Nebeneinander, einen modus vivendi
zwischen den kommunistischen Parteien und den deutschen Machthabern. Die erstaunliche
Konzessionsbereitschaft im ersten Jahr des Paktes belegen entsprechende Avancen der Kom-
munistischen Parteien in Frankreich, Norwegen, Dänemark, Belgien und den Niederlanden.
Hinter der offiziellen Fassade träumte gar der faktische Führer der KPF im Lande, Jacques
Duclos, von einer deutsch-französischen Verständigung in einem von Großdeutschland und
der Sowjetunion »brüderlich« regierten Europa (siehe u.a. S. 112).

Die KPD im Fahrwasser Hitlers? Statt antifaschistischem Widerstand Legalisierung unter dem
Naziregime …

Neben dem französischen wurde der deutsche Kommunismus durch die neue deutsch-so-
wjetische Freundschaft regelrecht in die Zange genommen. Die hier veröffentlichten Doku-
mente beleuchten die Zwangslage zwischen Gestapo und Moskauer Direktiven, in die die KPD
durch den Freundschaftspakt geraten war, sie machen eine kritische Bewertung der Geschichts-
schreibung des Widerstands erforderlich. Ein zentral organisierter Widerstand gegen den Na-
tionalsozialismus und das Hitlerregime war nicht nur mangels Verbindungen ins Reich nicht
mehr vorhanden, sondern wurde von der Parteiführung schlechthin nicht mehr propagiert, ja
nicht einmal mehr thematisiert, allenfalls wurde er uminterpretiert, de facto jedoch für beendet
erklärt. Da zudem regelmäßige Verbindungen zwischen Tausenden von Kommunisten im Reich
und der in Moskau vertretenen KPD-Spitze nicht mehr bestanden, agierten noch vorhandene
Widerstandskerne unabhängig vom und sogar gegen den offiziellen politischen Kurs der Partei.
Bereits in der Volksfrontperiode seit dem VII. Weltkongreß im Jahre 1935 wurde der Kurs
des »Trojanischen Pferdes«, der die hauptsächliche Tätigkeit der Kommunisten in die NS-»Mas-
sen«-Organisationen verlegte, von der Mitgliedschaft in Berlin und anderswo nicht mitvollzo-
gen.34 Nach dem Paktabschluß teilten Pieck und Ulbricht mit, daß der Kampf für den Sturz des
Hitlerregimes nicht mehr aktuell sei und die Kommunisten im Deutschen Reich nun verstärkt
in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und anderen Naziorganisationen arbeiten sollten, um
die Arbeiter vom »besseren Sozialismus« zu überzeugen (siehe u.a. S. 210f.). Im Dezember

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1939 wandelte sich der Ton des Kominternorgans »Rundschau«. Dank des »heroischen und ge-
nialen« Entschlusses der Sowjetunion zum Pakt, so hieß es, werde Hitler den deutschen Ar-
beitern bald Zugeständnisse machen müssen.35 Zugleich wurden Erklärungen der KPD gegen
Hitlers Vormarsch, die sie gemeinsam mit den Schwesterparteien der besetzten Staaten ent-
wickelt hatte, von der Komintern desavouiert (siehe S. 155f.). Andeutungen Stalins und Molo-
tows sowie Notizen und Instruktionen Dimitroffs weisen darauf hin, daß Hitlers Politik in
Deutschland nicht mehr global kritisiert und seinem Plan zur Eroberung Europas kein
grundsätzlicher Widerstand mehr entgegengesetzt werden sollte (siehe u.a. S. 170f.).
Die deutschen Kommunisten, die im Konzentrationslager saßen, die Opfer der Verbrechen
des Hitlerregimes, wurden weitgehend sich selbst überlassen.36 Was die Nationalsozialisten
unter der Freundschaft mit der Sowjetunion verstanden, demonstrierten sie dagegen im De-
zember 1939: Mit der Verhaftung von Willi Gall und über 100 Nazigegnern in Berlin-Adlers-
hof wurde die letzte noch bestehende illegale Unterbezirksstruktur der KPD im Land zer-
stört, Gall wurde als Instrukteur der Abschnittsleitung Anfang 1941 zum Tode verurteilt (siehe
S. 323). Während die Sowjetunion größte – auch die eigene Bevölkerung schwächende – An-
strengungen unternahm, Hitlerdeutschland mit Rohstoffen u. a. zur Waffenproduktion zu
versorgen, gingen die Verhaftungen deutscher Kommunisten weiter.
Von Stalin, Molotow, Schdanow und Dimitroff instruiert, die entsprechende Dokumente teil-
weise selbst formulierten, wandte sich das Rumpf-ZK der KPD in Moskau (Hermann Weber),
das ohnehin keine festen Verbindungen mehr mit dem Heimatland hatte, mit fingierten Aufru-
fen an die deutschen Arbeiter, die angeblich von Kommunisten aus dem Reich stammten, um den
Anschein einer Präsenz zu wecken (siehe S. 266f.). Auf Drängen Dimitroffs und der Komin-
ternführung wurde unter regelmäßiger Konsultierung Stalins und maßgeblicher Mithilfe Ulbrichts
im Januar 1940 der politische Kurs der KPD neu festgelegt. Nicht nur in den von Deutschland
besetzten Ländern, auch im Hitlerreich selbst war nun eine Legalisierung der KPD vorgesehen.
Parallel zum Aufbau einer (illegalen) Landesleitung sollten Vorbereitungen für eine (halb-)legale
Tätigkeit der KPD im Deutschen Reich getroffen werden. KPD-Funktionäre in der Emigration
und in den französischen Internierungslagern wurden ultimativ aufgefordert, sofern ihnen keine
höheren Haftstrafen drohten(!), nach Hitlerdeutschland zurückzukehren und dort in den Nazi-
Massenorganisationen zu arbeiten. Zugleich erfolgte auf Weisung der Komintern die Auflösung
der noch verbliebenen operativen Leitungsstrukturen der KPD. Die Liquidierung der Ab-
schnittsleitungen sollte die halblegale oder sogar legale Existenz der Partei im Deutschen Reich
politisch und organisatorisch vorbereiten – vermutlich mit dem sich allerdings erst seit Februar
1941 in Schweden in Wartestellung befindlichen Herbert Wehner an der Spitze.
Entsprechende Absichten des weit entfernten ZK in Moskau werden unterlegt durch die
hier veröffentlichten Instruktionen an die KPD-Kader und Parteiarbeiter in den Niederlanden
oder in den französischen Internierungslagern, ins Hitlerreich zurückzukehren (siehe u. a.
S. 232–234). Die (hier von Dahlem) bezeugte Weigerung, dem Parteibefehl zu folgen – be-
sonders, was die in den französischen Lagern internierten Kommunisten anging –, dürfte der
Grund dafür gewesen sein, daß derartige für die Betroffenen selbstmörderische Ansätze nicht

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konsequent weiterverfolgt wurden (siehe S. 232). Selbst nach dem Überfall auf die Sowjet-
union konnte von einem durch das ZK zentral angeleiteten kommunistischen Widerstand nicht
die Rede sein. Der Aufbau einer Inlandsleitung der KPD erlebte nach kurzzeitigen Erfolgen
mit der Verhaftung von Wilhelm Knöchel im Jahre 1942 einen definitiven Rückschlag – einige
der chiffrierten Instruktionen der Komintern werden als Dokumente des letzten Versuchs bis
1945, die Parteiführung wieder im Reich zu verankern, hier abgedruckt (siehe S. 393f.).
Unter solchen Bedingungen erstaunt es nicht, daß zwischen dem Jahresende 1939 und Juni
1941 konkrete Anleitungen des ZK zu Widerstandsaktivitäten gegen das Hitlerregime im deut-
schen Reich nicht zu eruieren waren. In einigen der hier veröffentlichten Dokumente Di-
mitroffs, Ulbrichts, Dahlems und Piecks wird der Sturz des Hitlerregimes als Losung der Par-
tei sogar ausdrücklich abgelehnt (siehe u.a. S. 224–226). Die von Stalin persönlich durch den
von ihm selbst mitredigierten Aufruf des ZK vom 16.10.1941 begründete These von der anti-
faschistischen Kontinuität der KPD, die zum Ursprungsmythos der DDR wurde, erweisen die
hier veröffentlichten Dokumente als Lebenslüge.37

Das Engagement Dimitroffs und die Ablehnung Stalins: Keine Befreiung Ernst Thälmanns aus
nationalsozialistischer Haft …

Das Engagement der Komintern zur Befreiung Ernst Thälmanns, das sich in zahlreichen Kam-
pagnen und Initiativen äußerte, kann nicht in Zweifel gezogen werden. Die Frage, warum es
trotzdem nicht gelang, den seit 1933 in Nazihaft sitzenden KPD-Führer (wie den ungarischen
EKKI-Funktionär Rákosi oder das ZK-Mitglied der rumänischen KP Anna Pauker) aus dem
Gefängnis zu befreien bzw. auszutauschen, verweist auf die dem Pakt zugrunde liegende innere
Logik. Der Berliner Historiker Ronald Sassning meint, daß Thälmann nach Abschluß des Pak-
tes im Falle seiner Freilassung sowohl für die russische als auch für die deutsche Seite zu einem
Störfaktor geworden wäre. Auch habe man kein Interesse mehr daran gehabt, einen neuen
Mythos zu schaffen, nachdem Dimitroff zum charismatischen Helden des Reichstagsbrand-
prozesses wurde. Vermutlich Tausende inhaftierte Antifaschisten hätten Thälmanns Freilas-
sung als Aufruf zu ihrer eigenen Befreiung verstanden. In den Augen Stalins und Molotows,
die nicht davor zurückscheuten, antifaschistische Emigranten der Gestapo ausliefern zu lassen
und die Abmachungen des Pakts mit Hitlerdeutschland akribisch respektierten, war dies
tatsächlich eine untragbare Perspektive.38 Dimitroff und die Komintern hatten zumindest –
wie hier dokumentierte Instruktionen zur Kontaktaufnahme mit seiner Frau Rosa in Ham-
burg nachweisen – versucht, den seinerzeit als »Gold der deutschen Arbeiterklasse« titulierten
Arbeiterführer nicht einfach seinem traurigen Schicksal zu überlassen (siehe u. a. S. 196 f.).
Thälmann wurde am 18. August 1944 im KZ Buchenwald ermordet. Ein Gespräch Stalins mit
Dimitroff während der Evakuierung der Komintern aus Moskau im Oktober 1941, in dem er
Thälmann politisch abkanzelt, macht die Annahme einer politischen Liquidierung durch Sta-
lin (so die Berliner Historikerin Wilfriede Otto) plausibel.39

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Der Vormarsch der deutschen Wehrmacht in Europa 1940/1941: Hinnahme des Aggressors, Ver-
handlungen oder Widerstand …

Als die deutsche Wehrmacht im Frühjahr 1940 große Teile West- und Nordeuropas überrollte
(Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Norwegen), verschärften sich die Wider-
sprüche der Kominternpolitik, die zwischen einer Hinnahme des Aggressors, Verhandlungen
mit ihm oder politischer Opposition bzw. sogar aktivem Widerstand oszillierte. Bis zum deut-
schen Sieg über Frankreich im Juni 1940 gab es außerhalb der plakativen Antikriegspropaganda
der Komintern keine Parteidirektiven im Sinne einer politischen Opposition, geschweige denn
des Widerstands gegen Hitlers Vordringen in Europa. Die Besetzung Dänemarks und Norwe-
gens traf anfänglich sogar auf ein wohlwollendes Zögern norwegischer Kommunisten (siehe
S. 268f.). Anläßlich der deutschen Besetzung der Niederlande und des Angriffs auf Belgien
und Luxemburg trat die KP der Niederlande für die Niederlage Englands ein (siehe S. 271f.);
sie lehnte den Widerstand gegen die deutschen Besatzer ab und veröffentlichte Hetzartikel ge-
gen die antinazistischen Widerstandsaktionen von »Vrij Nederland«: »Aber England ist ge-
nauso schlecht wie Deutschland. England führt ebenso einen imperialistischen Krieg wie
Deutschland.«40 Dimitroff versuchte nun zwar, verstärkt gegenzusteuern. Er warnte davor,
den Eindruck einer pro-deutschen Haltung der kommunistischen Parteien entstehen zu las-
sen (siehe u.a. S. 270f.). Gleichzeitig wurde – bspw. in den Direktiven zum 1. Mai 1940 – der
Kampf gegen die Sozialdemokratie verschärft und die deutsche Besetzung Frankreichs anfangs
noch vom Applaus der russischen Politik begleitet. Molotow beglückwünschte den deutschen
Botschafter in Moskau »auf das wärmste zum glänzenden Erfolg« der deutschen Wehrmacht.41
De facto spielten Rußland und Deutschland ein Doppelspiel.

Mitte 1940: Die Wendung der Kominternpropaganda gegen den deutschen Vormarsch in Europa …

Die neutrale Haltung der Parteien gegenüber Hitlerdeutschland hatte nicht die gesamte Pakt-
periode bis zum Juni 1941 Bestand. Wenig bekannt war bisher, daß die Komintern mit der Ver-
änderung der Weltlage ab Sommer 1940, während die freundschaftlichen sowjetisch-deutschen
Beziehungen auf bilateraler Ebene fortgesetzt wurden, die kommunistischen Parteien der be-
setzten Länder unter dem Schlagwort der nationalen Selbstbestimmung auf eine (wenn auch
zaghafte und zumeist nur propagandistische) Ablehnung des deutschen Vormarsches und eine
(allerdings größtenteils erfolglose) Annäherung an die patriotischen Widerstandsbewegungen
ausrichtete (siehe u.a. S. 281). Offensichtlich hatte die sowjetische Führung keinesfalls mit der
raschen Niederlage Frankreichs im Juni gerechnet und versuchte gegenzusteuern. Von nun an
kritisierte die Komintern die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch »den
deutschen Imperialismus« und legitimierte damit erstmals seit 1939 die politische Opposition
der kommunistischen Parteien in den von Deutschland besetzten Ländern. Die taktische
Veränderung der politischen Linie zeigte sich darin, daß im Juni 1940 auf Drängen von Stalin,

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Molotow und Schdanow in der Kominternzentrale hastig der Text einer Erklärung der KP
Frankreichs geändert wurde, der die französische Bourgeoisie des nationalen Verrats bezich-
tigt hatte und nun stärker dazu aufrief, die Unabhängigkeit des Landes zu sichern (siehe
S. 347). Damit erfolgte eine taktische Wendung der Kominternpropaganda gegen das deutsche
Besatzungsregime in Europa; der Widerstand gegen das Hitler-Regime wurde allerdings erst
ein Jahr später infolge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion proklamiert.42
Die Komintern wurde zugleich zur Legitimierung von Stalins neoimperialer Politik der
territorialen »Abrundung« auf dem Balkan eingesetzt. Wie die Kominternpresse kolportierte,
riefen die Besetzung Bessarabiens und der Nord-Bukowina im Sommer 1940 durch die Rote
Armee und ihre Einverleibung in die Sowjetunion in den Parteien ebenso wie unter der Be-
völkerung der betreffenden Gebiete angeblich »ungeheure Begeisterung« hervor (siehe
S. 284f.). Daß dem nicht so war, belegt die gleichzeitige Kritik an Tendenzen in der KP Rumä-
niens, die im August 1940 (implizit gegen die sowjetische Eroberungspolitik) für die Integrität
des Landes Partei ergriff und im März 1941 ebenfalls gegen Moskauer Weisungen zunächst
plante, das Land gegen den Vormarsch der deutschen Truppen zu verteidigen (siehe S. 284). Mit
widersprüchlichen Anweisungen sah sich unter anderem auch die illegale KP der Tschecho-
slowakei konfrontiert: Die Forderung nach Wiederherstellung einer freien Tschechoslowakei
– die Slowakei war unter der Kontrolle Deutschlands formal unabhängig geworden – wurde von
der Komintern ausdrücklich abgelehnt (siehe S. 256f.).

Die KP Frankreichs verhandelt mit der deutschen Besatzungsmacht über eine Legalisierung …

Eine besonders für die KP Frankreichs traumatische Alternative zwischen Widerstand und Ver-
handlungen mit dem Aggressor äußerte sich in der verstärkten Propaganda gegen Deutsch-
land und den zugleich gehegten Hoffnungen auf ein Arrangement mit der Besatzungsmacht.
Die Instruktionen der Kominternführung besagten, daß jede sich bietende Möglichkeit zur le-
galen Aktivität genutzt werden sollte. Im Sommer/Herbst 1940 verhandelte die KP Frank-
reichs – wie bereits die KP Belgiens – tatsächlich mit den deutschen Besatzern in Paris. Die KPF
strebte nach dem in Belgien erfolgreich erprobten Modell die legale Herausgabe der Partei-
presse (und vermutlich auch die Legalisierung der Partei) an und wurde anfänglich von der
Kominternführung darin bestärkt. Die Hintergründe der Verhandlungen der KPF-Führung
mit dem Botschafter Otto Abetz und anderen Repräsentanten des Deutschen Reiches in Pa-
ris, wie dem Propagandachef der NSDAP, sind als Skandal im Skandal in der Historiographie
noch nicht völlig aufgeklärt (siehe Teil 4, Kap. 2). Sie werden im vorliegenden Band durch Be-
richte des faktischen Parteiführers Jacques Duclos und anderer Augenzeugen nach Moskau
sowie durch Instruktionen Dimitroffs illustriert (siehe S. 285–296).43 Die Forderungen der
deutschen Besatzer dürften der KP-Inlandsführung jedoch zu weit gegangen zu sein. Der
schließlich gescheiterten Annäherung, die, wie es die beschwörenden Instruktionen der Kom-
internführung belegen, vermutlich zu brenzlig und gefährlich geworden war, folgten Verhaf-

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tungen und Exekutionen französischer Kommunisten (siehe u. a. S. 322 f.). Zum Scheitern
dürfte auch die von Hitler veranlaßte Verschärfung der Besatzungspolitik beigetragen haben.
Gleichwohl blieb der Grundtenor der Moskauer Direktiven an die KP Frankreichs erhalten, alle
sich bietenden legalen Möglichkeiten im Sinne der Partei zu nutzen.
In den Resolutionen und Aufrufen blieb das Hitlerregime in Deutschland selbst unangeta-
stet, sein Sturz stand weiterhin explizit nicht auf der Tagesordnung. Im Rahmen einer schizo-
phren erscheinenden Doppelstrategie kam es vor allem in der ersten Hälfte des Jahres 1941
zwar zu verdeckten Widerstandsversuchen und Untergrundaktionen in einigen Ländern, doch
kann erst nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 expressis verbis
von Widerstand gesprochen werden. Die schwierige Anpassung der Komintern an die offizielle
sowjetisch-deutsche Freundschaft führte zum Auseinanderbrechen des Verbindungsnetzes der
Komintern sowie zur Instrumentalisierung, Isolierung und Schwächung der desavouierten Par-
teien, die vom politischen Gegner plötzlich als mit einer feindlichen ausländischen Macht ver-
bundene Organisationen bloßgestellt werden konnten. Die Abhängigkeit von der sowjetischen
Führung, Inkonsequenz und mangelnde Glaubwürdigkeit führten dazu, daß in dieser Zeit-
spanne Sowjetunion und Komintern ihren politischen und kulturellen Führungsanspruch
innerhalb der Linken nicht mehr durchsetzen konnten.

Der »Fall Barbarossa«: Erneute Wendung um 180 Grad – Brüche und Kontinuitäten nach dem
deutschen Angriff …

Hitlers von Stalin zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich gehaltene, als Agentendesinforma-
tion abgetane Invasion der Sowjetunion im Juni 1941 (»Fall Barbarossa«) besiegelte die wohl
gigantischste und folgenreichste strategische Fehlkalkulation im 20. Jahrhundert. Ablauf und
Folgen dieser von Stalin und Molotow persönlich zu verantwortenden Katastrophe bleiben
Gegenstand historischer Forschung. Die Ursachen für Stalins unglaubliches Zaudern gilt es
genauer zu ergründen. Dabei dürfte, wie es einige der hier abgedruckten Dokumente sugge-
rieren, politischer Starrsinn eine Hauptrolle gespielt haben, nachdem er sich in eine nicht mehr
rückführbare Situation hineinmanövriert hatte (siehe S. 350–360). Zu den Konsequenzen für
die internationale kommunistische Bewegung und die in ihrer Existenz bedrohten kommuni-
stischen Parteien liegen dagegen international vergleichende Studien noch nicht vor.
Der Blick auf die hier veröffentlichten Dokumente zeigt überraschend, daß es zwischen der
Periode des Paktes und der nachfolgenden des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion nicht
nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten gab. Gerade im Zeitraum 1939–1941 wurden unter
der Ägide Stalins, Molotows, Dimitroffs, Manuilskis und dem verstärkt für die Komintern
agierenden Schdanow strategisch-inhaltliche Konzepte wie »Nationale Fronten«, »Arbeiter-
bzw. Volksparteien«, »Patriotismus« und »Volksdemokratie« (weiter-)entwickelt, die als ideo-
logische Leitvorstellungen fortan die Geschichte des internationalen Kommunismus prägten.

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Das verlorene Doppelspiel …

Seit dem Molotow-Besuch in Berlin im November 1940, der in der Historiographie zwar noch
kontrovers diskutiert, jedoch übereinstimmend als Wendepunkt der deutsch-sowjetischen Be-
ziehungen angesehen wird, erscheint die sowjetische Politik immer deutlicher als ein verlore-
nes Doppelspiel. Von Seiten Hitlers wurde, durch die sowjetische Reaktion beschleunigt, der
bereits ausgearbeitete Angriffsplan auf die Sowjetunion definitiv beschlossen – die genaue Ter-
minierung des verdeckten, gleichwohl definitiven Bruchs, der zugleich das Ende aller Welt-
aufteilungspläne zwischen Hitler und Stalin markierte, bleibt allerdings noch schwierig.44 Auf
bilateraler staatlicher und wirtschaftlicher Ebene betrieb man gleichwohl die Fortsetzung der
Freundschaft mit Hitlerdeutschland. Stalin lancierte sogar gegenüber Dimitroff – mit der Ab-
sicht, den politischen Einfluß in Bulgarien zu bewahren – die Möglichkeit eines Beitritts der
Sowjetunion zum Dreimächtepakt, dem Nachfolger des »Antikominternpaktes«, was bisher
von zahlreichen Historikern nicht für plausibel gehalten wurde (siehe S. 311–317). Vermutlich
stand sogar die wenig später geäußerte Absicht, die Komintern aufzulösen, im Zusammenhang
mit den Beitrittsbekundungen, die die Geschichte des Kommunismus völlig auf den Kopf stel-
len. Wie dem auch sei, noch vorhandene Zweifel an Stalins tieferen (und fürwahr düsteren)
Absichten bzw. seiner Kompromißbereitschaft dernière minute dürften nun beseitigt sein. Auf
der anderen Seite wurde der Widerspruch zwischen Verhandlungs- und Widerstandsbereit-
schaft immer größer, und Molotow ließ in bestimmten Fällen Widerstandsaktionen gegen die
deutsche Besatzung zu, jedoch im Geheimen und möglichst geräuschlos(!) (siehe S. 312). Die
Internationale wurde stärker gegen die deutsche Besatzungspolitik in Europa ausgerichtet.
Komplizierte und delikate Fragen, die die sowjetische Außenpolitik betrafen, klammerte man
allerdings dabei aus. So verzichtete die Komintern sogar auf einen zentralen Aufruf zum Ju-
biläum des Jahres 1940 (siehe u.a. S. 299f.). Die kommunistischen Parteien befanden sich wei-
terhin auf dem Rückzug. Symbolische Siege wie die Freilassung von Mátyás Rákosi aus unga-
rischer Haft im November 1940 waren die Ausnahme (siehe S. 304).
Die Dokumente aus der letzten Phase vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im
Frühjahr 1941 spiegeln Defensive, Handlungsdruck, fast schon Verzweiflung der sowjetischen
Protagonisten wider. Der Eroberung großer Teile Westeuropas folgte Anfang 1941 das deut-
sche und italienische Vordringen auf dem Balkan, angesichts dessen Stalin in die Rolle des Zu-
schauers gedrängt war. Der »Grundfehler« der sowjetischen Politik, das Tempo der Kriegs-
entwicklung völlig falsch eingeschätzt zu haben (A. Maslow) entwickelte eine Eigendynamik:
Vor allem auf dem Balkan wurden die politischen Vorteile, die Stalin bis zum Herbst 1940 er-
reicht hatte, durch den deutschen Vormarsch nach Bulgarien und Rumänien im Frühjahr 1941
wieder zunichte gemacht. Die sowjetische Außenpolitik stabilisierende Positionen – wie die
Verbesserung der Beziehungen mit Bulgarien, die Wirtschaftsverträge mit Ungarn, der Slowa-
kei und die vielversprechenden Verhandlungen mit Jugoslawien – verpufften in ihrer Wirkung
infolge der beschleunigten deutschen Offensive, die ihrerseits Macht- und Vertragspolitik auf
dem Balkan demonstrierte.45 Die Komintern selbst setzte das Doppelspiel in einem gewissen

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Maße fort, gegen den Vormarsch Hitlers zu opponieren, bisweilen auch illegale Aktionen
durchzuführen, den Sturz des Hitlerregimes als politische Perspektive jedoch weiterhin abzu-
lehnen. Für die noch in Deutschland tätigen Kommunisten sollte weiterhin die Arbeit in den
nationalsozialistischen Massenorganisationen Priorität haben. Doch die im Lande verspreng-
ten Kommunisten hielten sich weiterhin kaum an diese Direktive.

Stalins Plan zur Auflösung der Komintern im Frühjahr 1940 – letzte Konzession, um Hitler um-
zustimmen?

Der Angriff Mussolinis auf Griechenland im Oktober/November 1940 offenbarte die poli-
tisch-moralische Kalamität der offiziellen deutsch-sowjetischen Freundschaft mit Hitler-
deutschland. Von Seiten der KP Italiens erfolgte in den ersten Wochen kein Protest, keine Stel-
lungnahme, kein Aufruf gegen den Krieg, und die Komintern protestierte ebenfalls nicht – ein
verordnetes Schweigen (siehe S. 337). Dagegen orientierte sich die KP Jugoslawiens im Früh-
jahr 1941 – bereits unabhängig von der Komintern – auf einen Partisanenwiderstand. Schon zu
diesem frühen Zeitpunkt wurden deutliche Unterschiede zwischen den Konzeptionen Josip
Broz »Titos« und Stalins sichtbar (siehe S. 338–340). Auch die KP Frankreichs setzte ihr Dop-
pelspiel fort: Sie wandte sich taktisch und propagandistisch einer »nationalen Front« zu, blieb
jedoch der seit dem historischen Londoner Aufruf de Gaulles in der BBC vom 18.6.1940 im
Widerstand kämpfenden Résistance von Gaullisten, Sozialisten u.a. äußerst feindlich gesonnen.
Gleichzeitig traf sie die Repression durch die Besatzer und das Vichy-Regime.
Ein bisher von der Forschung kaum wahrgenommener Kulminationspunkt der Geschichte
des internationalen Kommunismus ist Stalins Plan zur Auflösung der Komintern zwei Jahre
vor ihrem faktischen Ende 1943. Im Frühjahr 1941 setzte Stalin die Komintern direkt als Ver-
fügungsmasse ein, vermutlich um doch noch ein Übereinkommen mit Hitler zu erreichen
(siehe S. 301f.). Im Sekretariat des Exekutivkomitees der Komintern spielten sich, nachdem
am 20. 4. 1941 bei einem Umtrunk nach einem Besuch im Bolschoi-Theater Stalin den Vor-
schlag lanciert hatte, gespenstische Szenen ab. Dimitroff, Manuilski und Togliatti führten nach
Stalins Anweisungen in völliger Geheimhaltung die Auflösung der Komintern als Planspiel
durch, wobei bereits zahlreiche Argumente für die zwei Jahre später erfolgende tatsächliche
Auflösung gebraucht wurden. Der Plan wurde nicht verwirklicht, vermutlich kam auch hier der
deutsche Angriff dazwischen. Faßt man die Szenarien aus der Schlußphase vor dem Angriff zu-
sammen, lassen sich Konturen einer Schreckensvision ausmalen: Die Sowjetunion als Mit-
gliedsstaat des Dreimächtepakts nach der Auflösung der Komintern, Stalin als eine Art Un-
tervasall Hitlers in einem eurasischen Weltreich. Doch selbst der Faktor Zeitgewinn zählte
nicht mehr; Hitlers Entschluß, die Sowjetunion bereits im Frühjahr/Sommer 1941 anzugrei-
fen, stand unverrückbar fest.

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Der Schock des deutschen Blitzkriegs und die Reaktionen der Komintern …

Noch eine Woche vor dem 22. Juni 1941 gab die Sowjetunion offiziell bekannt, daß von einem
bevorstehenden deutschen Angriff nicht die Rede sein könne. Auch die letzten, dringenden War-
nungen vor dem von Hitler befohlenen Überfall, u.a. von Arvid Harnack und Harro Schulze-
Boysen aus Berlin, Tito aus Jugoslawien oder Tschou-En-lai aus China, kamen zu spät (siehe u.a.
S. 353–355, 363). Erst der deutsche Angriff auf die Sowjetunion führte dazu, daß das Steuer der
Kominternpolitik um 180 Grad herumgerissen wurde. Dem in der Literatur vielfach belegten
Zaudern Stalins in den Tagen und Wochen nach dem Überfall, das in der Forschung nicht ein-
deutig entschlüsselt wird,46 stand eine erstaunliche Aktivierung der Komintern gegenüber. Eine
Überraschung ist auch, daß Dimitroff bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt, am 22.6.1941,
Maßnahmen einleitete, um sie für den Widerstand mit allen Mitteln zur Verteidigung der So-
wjetunion umzustellen und einzusetzen (siehe S. 366–368). Dabei gingen Patriotismus, der re-
aktivierte Antifaschismus und der (individuelle) Terrorismus eine neue Symbiose ein. Jede so-
zialistische bzw. revolutionäre Stoßrichtung wurde kategorisch ausgeschlossen (siehe u.a. S. 369).
Die Feindbilder verschoben sich grundsätzlich, die Komintern wurde auf die Zusammenarbeit
mit den Alliierten ausgerichtet, was anfänglich von den Parteien nicht immer akzeptiert wurde.
Die neuen Leitvorstellungen waren: Aufgabe der Neutralität gegenüber Hitler, Denunzierung sei-
nes »Verrats« der gemeinsamen Abmachungen (!), Einsatz aller Mittel gegen den Feind, vereinter
Kampf gegen den Faschismus, Neudefinition des Verhältnisses zu ehemaligen »Todfeinden« wie
dem britischen Premier Winston Churchill, dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roose-
velt, dem tschechischen Exilpolitiker Edvard Beneš und anderen, sofortige Anbahnung von Kon-
takten mit de Gaulle sowie den bürgerlichen Widerstandsbewegungen und die weltweite Integra-
tion der Kommunisten in die Antihitlerkoalitionen (siehe u.a. S. 370, 377). Zu den ersten
Maßnahmen gehörten die Verstärkung der Rundfunkpropaganda der sowjetischen und der Kom-
internsender. Die kommunistischen Parteien wurden nun zu »entschiedenen Maßnahmen«, zu
Volksaufständen gegen die Okkupanten, zu Sabotage und Terroraktionen aufgefordert (siehe u.a.
S. 377, 382–384).

Komintern und Widerstand unter den Bedingungen des »Großen Vaterländischen Krieges« …

Die Sowjetunion geriet bis Oktober/November 1941, als der Fall Moskaus drohte, an den Rand
des Zusammenbruchs. Die Kriegspropaganda der Komintern verhüllte die reale Katastrophe und
den Existenzkampf bis zur Wende des Krieges vor Moskau im November 1941. Die Dokumente
belegen die Fassungslosigkeit und die verspätete hektische Reaktion der russischen Führung auf
den Beginn des deutschen Blitzkriegs, den Stalin nicht wahrhaben wollte, die diversen Umorien-
tierungen sowie die Rolle der Komintern bei der Mobilisierung aller Reserven gegen die faschisti-
schen Okkupationstruppen auf dem Hintergrund der ungeheuren und menschenverachtenden
Anstrengungen zur Verteidigung des Landes. Niemand hätte in dieser Situation an den (wenn auch

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unter großen Opfern) 1945 errungenen Sieg gedacht. Nicht zuletzt die extrem vorsichtige Be-
handlung der Komintern durch die sowjetische Führung in den letzten Wochen vor dem deutschen
Angriff entkräftet die Annahme angeblicher Angriffsvorbereitungen Stalins, denen Hitler zuvor-
gekommen sei, wie sie die Anhänger der Präventivkriegsthese formulieren (siehe Teil 5, Kap. 2).47
Zielvorgabe der Sowjetunion und der (nicht mehr öffentlich in Erscheinung tretenden) Kom-
intern war es nun, um jeden Preis eine Verbindung mit den Widerstandsorganisationen in West-
und Osteuropa herzustellen, was in Frankreich von de Gaulle noch bis 1943 verwehrt wurde.
Einige der Dokumente illustrieren die ersten selbständigen Schritte zur aktiven Résistance und
zur Vorbereitung des »Volkskriegs« durch die Kommunisten in Europa (siehe S. 389, 403f.). Ein
weiteres neues Aktionsfeld der Komintern waren die von der Kominternführung mit der so-
wjetischen Militäraufklärung und dem NKWD abgestimmten Einsätze operativer militärischer
oder politischer Gruppen und von Fallschirmagenten hinter den feindlichen Linien, die häufig
Todeskommandos gleichkamen. Der wichtigste, doch weitgehend erfolglose militärische Beitrag
der Komintern im Zweiten Weltkrieg erforderte eine enge Zusammenarbeit mit den sowjetischen
Diensten (siehe S. 393, 402f.). Als dritte Säule neben der Radiopropaganda und den illegalen Grup-
pen entwickelte sich seit Ende 1941 die propagandistische Arbeit mit den Kriegsgefangenen der
Achsenmächte, die u.a. am 12.7.1943 in den Aufbau des Nationalkomitees »Freies Deutschland«
mündete. Aufgezeigt werden hier frühe Strategien der »Kriegsgefangenenarbeit«, in denen es u.a.
um die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen ging.48 Ein für die Komintern, die bisher
nicht über eine eigene Nachrichtenabteilung verfügte, neues und im Krieg bedeutsames Tätig-
keitsfeld war ebenfalls der nun generalisierte und weltweite Einsatz der Parteien in der Spionage-
und Aufklärungstätigkeit.49 Die von Dimitroff angestrengten Bemühungen zur Rekrutierung von
Agenten werden wie die anderen genannten Tätigkeitsfelder im Band beispielhaft dokumentiert
(siehe u.a. S. 393f.). Unterschiedliche Auffassungen über Umfang und Bedeutung der Spionage-
tätigkeit haben in den USA zu einem noch andauernden Historikerstreit geführt.51
Bei aller notwendigen kritischen Sicht auf Formen und Inhalte des stalinistischen Regimes
sind der Widerstandswille und das Engagement der kommunistischen Mitglieder im Wider-
stand nicht in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil: Gerade angesichts einer menschenverachten-
den Kriegsstrategie spiegeln die dokumentarischen Zeugnisse spanischer, französischer und
bulgarischer Kommunisten aus der zweiten Jahreshälfte 1941 selbstlosen Einsatz und Herois-
mus – während Stalin den Ereignissen hinterherhastete und dies durch absurde Entscheidun-
gen und große Brutalität kompensierte.52 Die moralische Überlegenheit lag nun wieder ein-
deutig auf Seiten der Verteidiger der Sowjetunion.

Neue Instruktionen – neue Zwänge: Selbstmordkommandos und individueller Terror …

Gleichwohl illustrieren die Dokumente einen neuen Widerstandsdiskurs, dem bisher in der Hi-
storiographie nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dimitroffs Diktum, »alles«
für die Verteidigung der Sowjetunion zu tun, führte – neben breiten weltweiten Solidaritätsbe-

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wegungen – zur Anwendung von Methoden im »Großen Vaterländischen Krieg«, die bisher in
der kommunistischen und in der Arbeiterbewegung nicht akzeptiert waren. Instruktionen wur-
den zu militärischen Kommandos, obwohl doch sowohl seitens der Komintern (nicht zuletzt im
Programm der Komintern, Absatz VI.1) als auch der KPD Grundsatzbeschlüsse gegen den in-
dividuellen Terror gefaßt wurden.53 Im Krieg hatten sich zwar die äußeren Bedingungen ver-
ändert, doch die Konsequenz, die Kommunisten nun systematisch für Sabotage- und Terror-
einsätze zu schulen und entsprechend einzusetzen, bedeutete eine Abwendung von den
Grundprinzipien kollektiven Handelns. Von nun an waren angesichts des Existenzkampfes der
Sowjetunion alle Methoden des Widerstands, der Sabotage gegen die Besatzer, auch die radikal-
sten Formen geboten und erschienen als gerechtfertigt (siehe S. 409–418). Die Dokumente ver-
mitteln den Eindruck, daß es sich um eine militärisch-politische Doktrin neuen Typs zur
Zerschmetterung des faschistischen Deutschlands handelte, die auf die Symbolik des Vorkriegs-
Antifaschismus zurückgriff. Die Terroreinsätze im besetzten Europa belegen am Beispiel der
kommunistischen Attentate auf deutsche Soldaten in Frankreich und der barbarischen Geisel-
praxis der deutschen Besatzungsbehörden, wie die Einübung des individuellen Terrors die An-
zahl der unschuldigen Opfer des Krieges erheblich steigerte. In Frankreich, wo die Vorausset-
zungen keineswegs gegeben waren, wurde das Volk zur Erhebung aufgerufen. Individuelle
Attentate der KPF gegen Angehörige der Wehrmacht lösten einen Zyklus von Gewalt und Ge-
gengewalt aus, der in den Geiselerschießungen der nationalsozialistischen Besatzer einen Höhe-
punkt fand. Der Blutzoll der französischen Kommunisten und der völlig unbeteiligten Bevölke-
rung war erheblich, später auch in Italien, dem Balkan und anderen besetzten Regionen54 (siehe
S. 418–420).Unter Historikern ist die Frage noch nicht ausdiskutiert, ob dies sinnvoll und not-
wendig war. Tradierte nationale Tabus haben die Diskussion erschwert. Daß die Widerstands-
strategien unterschiedlichen taktischen Kalkülen untergeordnet waren, belegt anschaulich der
hier dokumentierte Fall Bulgariens. Hier lehnte Stalin eine Offensive in Richtung eines Auf-
stands gerade mit dem Hinweis auf das zu erwartende hohe Blutvergießen ausdrücklich ab (siehe
S. 408f.). Auch weigerte sich die Sowjetunion grundsätzlich, den antifaschistischen Widerstand
in Jugoslawien und Griechenland materiell zu unterstützen, wobei Dimitroff im Namen der
Komintern technische Gründe als Ausflucht anführen mußte (siehe u.a. S. 438–440). Während
im Westen der Widerstand mit allen Mitteln ausgerufen wurde, sollten auf dem Balkan im Hin-
blick auf die von Stalin sozusagen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber England respektierte
Abgrenzung der Einflußzonen die zum Aufstand bereiten Kommunisten demotiviert werden.

Das Ende des Internationalismus: Enge Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten …

Um die Jahreswende 1941/42 richtete die Komintern die Politik für Europa und Asien neu aus.
Während sich in Europa mehr oder weniger starke Widerstands- und Befreiungsbewegungen
formierten, hielt die Komintern angesichts der Bedrohung der Sowjetunion an einer undiffe-
renzierten Politik fest. Es scheint nicht übertrieben, hier in einer gewissen Rücksichtslosigkeit

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gegenüber den Kommunisten in den nationalen Oppositions- und Widerstandsgruppen eine


Parallele zur menschenverachtenden Behandlung der Soldaten der Roten Armee in der So-
wjetunion zu erkennen. In Erwartung des von Stalin bereits im Herbst 1941 für 1942 »dekre-
tierten« Erfolgs der Roten Armee wurde den kommunistischen Parteien der allgemeine be-
waffnete Aufstand gegen die Okkupanten befohlen (siehe S. 436). Auch das letzte Aufflammen
der Komintern vor ihrer Auflösung im Mai 1943 hatte größte und gewiß zu einem Teil ver-
meidbare Opfer zur Folge. Der im Zweiten Weltkrieg geborene moderne Terrorismus bestätigt
auf drastische Weise das Ende des Internationalismus im traditionellen Sinne. 55

Ein neuer Antifaschismus und neue Tätigkeitsfelder der Komintern …

Die Rückkehr zum Antifaschismus (auf der Plattform des VII. Weltkongresses der Komintern)
erfolgte nicht geradlinig. Der neue Antifaschismus war nicht das Ergebnis der Volksfrontpolitik
der dreißiger Jahre, sondern basierte auf einer neuen politisch-militärischen Doktrin, die den
kommunistischen Parteien bestimmte Aufgaben im Rahmen des »Großen Vaterländischen
Krieges« zuwies (siehe u.a. S. 377). Die Feindbilder verschoben sich entsprechend der nun in-
tendierten Zusammenarbeit mit den Alliierten. Der neue Antifaschismus war das Bindeglied,
das den Zusammenschluß aller Antihitlerkräfte in jedem Land beschleunigen sollte, unbe-
schadet ideologischer Differenzen etwa mit den liberal-bürgerlichen Formationen. Im Zuge
der Annäherung an die Alliierten und der Herstellung der Kriegsallianz sollte als Vorstufe auch
die Integration der kommunistischen Parteien in die politischen und militärischen Antihitler-
koalitionen in den in Frage kommenden Ländern erfolgen. Nun wird die Zusammenarbeit mit
den ehemaligen sozialdemokratischen und bürgerlichen Hauptfeinden Churchill und de Gaulle
gefordert, selbst im Rahmen einer »Nationalen Front« und ausdrücklich unter Verzicht einer
Hegemonie der kommunistischen Parteien (siehe u.a. S. 384f.).
Der Krieg gegen die Sowjetunion führte zwar zu einer bemerkenswerten Aktivierung im
Rahmen der bereits erwähnten Prioritäten (verstärkte Radiopropaganda, Einsatz operativer
Gruppen im Hinterland der Wehrmacht, Arbeit unter den Kriegsgefangen in Arbeitsteilung mit
der sowjetischen Militäraufklärung), nicht jedoch zu einer Stärkung und Konsolidierung der
Komintern. Tatsächlich wurden die Arbeits- und Existenzbedingungen immer prekärer. Infolge
der Instruktionen Sta