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Frhe Neuzeit

Band 148
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur
und Kultur im europischen Kontext

Herausgegeben von
Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann,
Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

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Thomas Reiser

Mythologie und Alchemie in der


Lehrepik des frhen 17. Jahrhunderts
Die ›Chryseidos Libri IIII‹ des Straßburger Dichter-
arztes Johannes Nicolaus Furichius
(1602–1633)

De Gruyter

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ISBN 978-3-11-023316-2
e-ISBN 978-3-11-023317-9
ISSN 0934-5531

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-
bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.dnb.de abrufbar.

 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York


Satz: epline, Kircheim unter Teck
Druck: Hubert & Co., Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier

Printed in Germany
www.degruyter.com

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Inhalt

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Das epische Lehrgedicht als Genus rinascimentaler Poesie –
ein Grundriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.1. Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.2. Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.3. Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.1. Etymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.2. Die spätantiken Gründungstexte und ihre Vermittlung . . 12
2.3. Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.4. Renaissance und Barock:
Hermetismus – Paracelsismus – Rosenkreutzertum . . . . 15
3. Alchemie und Lehrgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
4. Alchemie und Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
5. Mythologie und Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
6. Kommentar und Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
7. Ein Prosakommentar des Tractatus aureus
als wichtige Quelle der Chryseis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . 29
9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹
und Rosenkreutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
10. Die Chryseis: Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
11. Die Chryseis im Vergleich mit der Chrysopoeia des Augurelli 51
12. Furichius’ Chryseis im Vergleich mit seinem Frühwerk
Aurea Catena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
13. Die Chryseis als publizistisches Ensemble zwischen
Inter- und Paratextualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

B. Edition und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


Vorbemerkung zur Edition der Scholien der ›Chryseis‹: . . . . 64
Anmerkungen zur Zitierweise: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Änderungen im Text: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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VI Inhalt

C. Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Furichius, Chryseis, Praefatio, Kommentar. . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Furichius, Chryseis, Liber I, Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Furichius, Chryseis, Liber II, Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Furichius, Chryseidos, Liber III, Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . 276
Furichius, Chryseidos, Liber IIII, Kommentar. . . . . . . . . . . . . . . 310

D. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
1. Auswahl aus den Libelli Carminum Tres von 1621
Stadtarchiv Weißenburg in Bayern, Sign. 784/3. . . . . . . . . . 348
2. Edition des Briefes im Album Morsianum,
Stadtbibliothek Lübeck, Altbestand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
3. Edition des Programma Funebre Straßburg, Thomasarchiv . 356

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
1. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
2. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

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Be patient child for the wolf is ever with you
Listen my little one to the sound of your desire.
God will come out of such ignorance as this:
not like a jack-in-the-box but like a tree
turned weeping father in delirium.
[…]
God will find your genius for you in the dark:
and give it you back again without a bondsman.
The shadows wait for you to say the word.
Think: you will never have to read another book.
Malcolm Lowry, Fragment 440, v. 70–82

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ai carissimi et famigliari amici miei
Uta Schedler et Mino Gabriele

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A. Einleitung

Im Mittelpunkt der hier vorgelegten Edition und der sie begleitenden Unter-
suchungen steht das 1631 zu Straßburg in vier ›Büchern‹ (ca. 1600 Verse)
erschienene alchemische Lehrepos eines heute beinahe unbekannten Autors
und dem Paracelsismus nahestehenden Mediziners aus dem Umkreis des
Straßburger Späthumanismus: Johannes Nicolaus Furichius (1602–1633).
Obschon er früh an der Pest verstarb, brachte er ein für seine Jugend er-
staunlich umfangreiches Oeuvre zusammen. Als Schriftsteller ist er – dis-
kurs- wie formgeschichtlich betrachtet – den bedeutenden Vertretern einer
teils weit über das Schrifttum der europäischen Renaissance hinausreichen-
den Literatur-, Wissens- und Theorietradition zuzurechnen. Wenngleich
diese erst in Ansätzen erforscht ist, wird doch seit geraumer Zeit jener
schier unabsehbare Kontinent der hermetischen, oft vom Neuplatonismus
inspirierten frühneuzeitlichen Naturphilosophie sukzessive von der interna-
tionalen Forschung erschlossen.
Es beeindrucken an diesem Werk, der Chryseis, welcher Furichius ein
ähnliches, in Italien publiziertes Carmen hatte vorangehen lassen, nicht nur
die metrische Verarbeitung alchemohermetischer Fachliteratur, sondern
auch die in narrativ-fiktionaler Darstellung bevorzugten Muster der my-
thoalchemischen Exegese und Bildlichkeit in Verbindung mit Topoi der
Visionsliteratur und mit Reflexen der antiken bis zeitgenössischen Verse-
pik. Furichius schuf mit der Chryseis als Publikationsverbund aus beigege-
benen Glossen und umfangreichen Scholien ein in der europäischen Lite-
ratur wohl einzigartiges Werk. Derart findet man gerade im intellektuellen
Profil dieses Arztdichters die epochal signifikante, in den urbanen Zentren
der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnliche Kombination aus naturphilosophi-
schen Interessen und humanistisch-ästhetischer Bildungskompetenz exem-
plarisch ausgeprägt. Ihre Darstellung wirft somit auch manches Licht auf
die damaligen kulturellen Formationen der oberrheinischen Stadtkultur. Zu-
gleich wird über den Widmungsträger und Mentor des hier edierten Epos,
Joachim Morsius (1593–1643), die in ihrer Bedeutung für das Geistesleben
des frühen 17. Jahrhunderts kaum zu überschätzende Sphäre der sogenann-
ten ›frühen Rosenkreutzer‹ einbezogen.
Indem ich dieses Lehrgedicht mit einer erster Übersetzung und einem
ebenso die sehr aussagekräftigen Scholien und Glossen berücksichtigenden
Kommentar in seinen konzeptionellen Strukturen, seiner dichterischen Fak-

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2 A. Einleitung

tur und seinen ideellen Referenzen erschließe, wird nicht nur eine Fülle
literarischer Quellen und Allusionen (von Aristoteles über Ariost zu Ron-
sard wie von antiken und humanistischen Kommentatoren zu zeitgenössi-
schen Forschungsreisenden und den sogenannten Paracelsisten) sichtbar,
sondern auch ein Beitrag zur wissenschaftlich aktuellen Frage nach der
frühneuzeitlichen Konnexion von Wissensbeständen beziehungsweise phi-
losophischen Theoremen und ihrer poetischen Assimilation geleistet. Der
Edition, der Übersetzung und den Kommentaren werden in der Einleitung
die nötigen Informationen zum Autor, zu seinem Gesamtwerk und seinem
Umfeld vorangestellt. Zudem werden die Geschichte der Gattung ›Lehrge-
dicht‹ wie auch der alchemischen Literatur exponiert, um schließlich mit
einer Skizzierung des intertextuellen und paratextuellen Bezugsfeldes den
Leser auf die eigene Lektüre der Chryseis einzustimmen.1

1. Das epische Lehrgedicht als Genus rinascimentaler Poesie


– ein Grundriß2

Der ›Lehrdichtung‹ kann, da der Terminus sich erst im Barock herausbil-


dete, und auch die antike Rhetorik keine verbindlichen Gattungskriterien
aufstellte, rückblickend ein jeder Verstext mit didaktischem Anspruch zuge-
rechnet werden. Die konzeptuelle Problematik liegt hierbei in der besonde-
ren Verbindung von Inhalt und Form, von ›res‹ und ›verba‹ – dergestalt,
daß meist durch einen Hexametertext, also im Vers des Epos, sowohl Sach-
wissen vermittelt wird als auch dieses Sachwissen durch die ästhetische
Formierung in seiner hohen Bedeutung symbolisch nobilitiert werden
soll. So lavieren seit jeher alle Bestimmungsversuche zwischen einer Klas-
sifizierung als ›Sonderfall des Epos‹ und als ›versifizierter Sachtext‹, wobei
fast immer von der Verbannung der didaktischen Dichtung aus dem Kreise
der Poesie bei Aristoteles (vgl. Arist. Po. 1447b) ausgegangen wird – jene
wiederum war in Reaktion auf Platos Dichterschelte am Ende der Respu-
blica (vgl. Pl. R. 602b) erfolgt. Da nach Aristoteles aufgrund der Bindung
von Dichtung an Handlung amimetische Poesie nicht sein kann, vermag
auch der eleganteste Vers aus Fachwissen kein Gedicht zu machen. Dem-
entsprechend nahm der Stagirit trotz der Hexameter von Peri Physeos und
Katharmoi Empedokles (4. Jd. v. Chr.) nicht als Dichter wahr, sondern
betrachtete ihn als Philsophen.3

 1 Das Buch erscheint auf besonderen Wunsch des Verfassers in alter Rechtschreibung.
 2 Grundlegend zum Lehrgedicht sei verwiesen auf W. Kühlmann (2000c), vor der po-
pulärwissenschaftlichen Einführung P. Tooheys (1996) wird gewarnt; eine erhellende
›Geschichte der Geringschätzung‹ für die Gattung bietet D. Wuttke (1982); zu einzel-
nen Epochen und Teilfragen sei auf die folgenden Fußnoten verwiesen.
 3 Vgl. hierzu R. Schuler u. J. Fitch (1983), S. 9–11.

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1. Das epische Lehrgedicht als Genus rinascimentaler Poesie – ein Grundriß 3

Die Gegenposition vertrat in der Antike am prominentesten Cicero am


Beispiel der von ihm latinisierten Sterndichtung des Arat: »constat inter
doctos, hominem ignarum astrologiae ornatissimis atque optimis versibus
Aratum de caelo stellisque dixisse« (CIC. de orat. 1, 69) – zwar kein Fach-
wissen zu haben, doch den Stoff ästhetisch anspruchsvoll zu präsentieren,
macht hier den Poeten aus. Die scheinbare Dichotomie von ›aut prodesse
aut delectare‹ (vgl. HOR. ars. 333)4 löste dann anscheinend der im Mittel-
alter wieder rezipierte spätantike Grammatiker Diomedes mit der Rehabili-
tierung der von Aristoteles verworfenen Genera, insbesondere der didakti-
schen Poesie – »qua comprehenditur philosophia Empedoclis et Lucreti,
item astrologia […] et georgica Vergilii et his similia« (vgl. Diomedes,
S. 482 f.).5 Auch der kanonische Vergil-Kommentator Servius urteilte in
diesem Sinne, da er die Kommunikationssituation des Verstextes für aus-
schlaggebend erachtete: »hi libri didascalici sunt, unde necesse est, ut ad
aliquem scribantur; nam praeceptum et doctoris et discipuli personam re-
quirit: unde ad Maecenatem scribit, sicut Hesiodus ad Persen, Lucretius ad
Memmium.« (SERV. georg. prooem. 1, 1.).6 Allein, es ist wenig über die
Rezeption und damit über die Verbindlichkeit solcher (allesamt ›unschar-
fer‹) Aussagen überliefert. Dementsprechend schrieben Lehrdichter von der
Antike bis zur Neuzeit nicht nach einem Regelwerk, sondern, indem sie auf
›Prototypen‹, das heißt auf traditionsstiftende Vorbilder zurückgriffen und
diesen – im Rahmen der humanistischen Imitationsästhetik – auch neuere
Dichtungen anreihten.7

1.1. Antike
Die ersten Sachschriftsteller der Vorsokratischen Zeit waren solcher Sorgen
noch ledig, da sich bis ins 5. vorchristliche, Jahrhundert keine entsprechend
tragfähige griechische Prosa ausgebildet hatte. Später standen sich zunächst
noch Verstext und Fachprosa ebenbürtig gegenüber, dann verschob sich mit
dem Hellenistischen Zeitalter die Rolle des Dichters vom Experten und
Künstler in einer Person hin zum poetischen Könner, der einen ihm frem-
den Gegenstand ästhetisch anspruchsvoll aufbereitete, sprich Prosatraktate
in kunstvolle Verse übertrug. So heißt es über besagten Arat, den Verfasser
der Phainomena, er habe von Astronomie im Vergleich zum Astronomen
Hipparchos, welcher ihm treulich Auskunft gab, fast nichts verstanden. Der

 4 Vgl. auch E. Schäfers Nachwort zu Horatius (2008), S. 55–67.


 5 Vgl. B. Effe (1977), S. 19–22, W. Ludwig (1982), S. 151; E. Pöhlmann (1973), S. 825–
832.
 6 Vgl. A. Dalzell (1996), S. 21–34; zur Mimesis-Problematik, und deren Folgen bei
Aristoteles und Plutarch auch E. Pöhlmann (1973) S. 816–819; R. Glei (1999), Sp.
26 f.; allgemein S. Scully (2003), S. 451.
 7 Vgl. etwa W. Ludwig (1982), S. 153.

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4 A. Einleitung

literarische Ruhm fiel jedoch allein der Dichtung zu, wohingegen der Fach-
gelehrte nur als bescheidener Kommentator überdauerte.8
Da die römische Literatur sehr oft Interpretatio, Imitatio und Aemulatio
der griechischen war, übernahm sie zwar mit dem Lehrgedicht dessen Gat-
tungsproblematik, brachte jedoch dessenungeachtet die gerade für das Ri-
nascimento bedeutendsten Vorbilder hervor.9 Zwar erachteten Cicero und
Quintilian die Versdidaxe als einen ›Grenzfall des Epos‹, schlugen sie aber
der Poesie zu. Poeta und Orator, als verwandte Berufe, sollten nach beider
Dafürhalten schließlich in der Lage sein, auch ohne Fachwissen jeden Ge-
genstand adäquat zu behandeln (vgl. CIC. de orat. 1, 16 sowie QVINT. inst.
10, 1, 46–10, 1, 87). In diesem Sinne urteilte auch Horaz, der in seinem
eigenen poetologischen Lehrgedicht zwar die Schwierigkeiten bei der Vers-
dichtung abhandelte, doch das Problem der Mimesis nicht sah (vgl. HOR.
ars. 335–344). Er unterschied allein nach den angemessenen Metren (vgl.
HOR. ars. 73–82). Diesen zitierend gliederte auch Tacitus, der alle Gattun-
gen der ›eloquentia‹ hochhielt, die Dichtung nicht nach den Gegenständen,
sondern vorrangig nach den für den Gegenstand geeigneten Versmaßen:
»ego vero omnem eloquentiam omnesque eius partes sacras et venerabiles
puto, nec solum cothurnum vestrum aut heroici carminis sonum, sed lyri-
corum quoque iucunditatem et elegorum lascivias et iamborum amaritudi-
nem [etc.]« (TAC. dial. 10, 4).
In keinem anderen als Lukrez sah Cicero den idealen Lehrdichter ver-
wirklicht, vereinigte dieser doch in sich ›furor, ingenium et ars‹.10 So gilt
auch sein Werk als der wichtigste Prätext naturphilosophischer lateinischer
Dichtung. Hinsichtlich De rerum natura wurde das Lehrgedicht als Aus-
drucksmittel des persönlichen Anliegens gesehen, in diesem Fall der Ver-
nichtung der Religio durch die Vermittlung des Epikureismus. Ebenso be-
anspruchte der Dichter für sich, die Schwierigkeit von ›egestas linguae‹ und
›novitas rerum‹ adäquat gelöst zu haben.11 Ohne weiteres lassen sich hier
dem Epikureer die übrigen großen Vorbilder mit ihren Spezifika anfügen:12

 8 Aratos lebte Ende des 4. Jhds bis Mitte des 3. Jhds, studierte in Athen und hielt sich
dann am Makedonischen Hof auf, er schrieb verschiedene Gelegenheitsdichtungen,
sowie kleine Lehrdichtungen. Sein Hauptwerk aber sind die ›Phainomena‹; vgl. M.
Fantuzzi (1996); B. Effe (1977), S. 23–25; Th. Haye (1997), S. 243–245; R. Schuler
u. J. Fitch (1983), S. 11 f.
 9 E. Pöhlmann (1973), S. 835–878 erkennt den Hauptunterschied zwischen griechischer
und lateinischer Lehrdichtung in den auftretenden Figuren; bei den Griechen: Lehrer,
Schüler und Musen; bei den Römern: Dichter, Mäzen und Princeps.
10 Vgl. R. Schuler u. J. Fitch (1983), S. 1–19; E. Pöhlmann (1973), S. 814–825.
11 Vgl. B. Effe (1977), S. 66–79; E. Pöhlmann (1973), S. 849–854.
12 Vgl. auch R. Schuler u. J. Fitch (1983), S. 16–20. Daneben stellt B. Effe (1977), S. 30–
32 eine Typologie auf: 1) Der Gegenstand ist für den Dichter bedeutend, er will (!)
lehren, 2) Der Gegenstand ist dem Dichter gleichgültig, da er artistisch glänzen
möchte, 3) Der Autor lehrt nicht den Stoff, sondern durch (!) den Stoff; diese Kate-
gorisierung variiert unter ausdrücklicher Bezugnahme A. Dalzell (1996), S. 32 f.

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1. Das epische Lehrgedicht als Genus rinascimentaler Poesie – ein Grundriß 5

– Vergils Georgica, welcher in hellenistischer Tradition (nach VERG.


georg. 1, 177 u. 2, 475 ff.) auf die ›Kleinheit‹ des Stoffes hinweist, zu-
gleich mit mythischen Epyllien zu Einzelbereichen arbeitet.13 Vor allem
das Wort des Macrobius »Maro omnium disciplinarum peritus« (MACR.
sat. 1, 16, 12) blieb für das Selbstbild der Lehrdichter nicht ohne Folgen.
Mit Lukrez teilte Vergil zudem das (ebenso später zum Gemeingut ge-
wordene) Inspirationsmodell der Dichterweihe.14
– Manilius’ Astronomica. Zu Beginn läßt der Dichter Hexameter-Dichtun-
gen der Vergangenheit Revue passieren, denen er sich zwar als Spätling
zugesellt, doch selbstbewußt die Neuheit seines Gegenstands, die Be-
schreibung der Weltgesetze, herausstreicht.15

Nachwirkung zeitigten fürder das anonyme Aetna-Gedicht wie auch die Ars
poetica des Horaz, Ovids Ars amatoria;16 nicht minder wirkten spätantike
christliche Lehrdichtungen fort, darunter besonders die Werke des Pruden-
tius.17

1.2. Mittelalter18
Die mittelalterliche Lehrdichtung war für Furichius fast belanglos, sah er
sich doch in der Tradition der italienischen Renaissanceautoren. Dennoch
soll sie an dieser Stelle nicht gänzlich ausgeklammert werden, zumal die
didaktische Epik von Antike und Mittelalter, mit Ausnahme des Lukrez und
Manilius, keine ›Epochenschwelle‹ trennte, gehörten doch die Gattungsvor-
lagen häufig zur Schullektüre. Ovid und Vergil galten dabei – auch wissen-
schaftlich – als größte Autoritäten. Da Dichtung als eine Mischung aus
Rhetorik, Theologie, Allegorie und der Ausbreitung enzyklopädischen Wis-
sens begriffen wurde, war es erneut ein und derselbe Verfasser, welcher sein
Wissen als Fachprosa und Verstext ausarbeitete, wobei der ästhetische An-
spruch mit dem Wunsch nach Memorierbarkeit, der Nähe zum Merkvers,
korrelierte. Besonders deutlich tritt dies bei dem in der Tradition des Ma-
crobius stehenden Martianus Capella vor Augen (spätes 4. oder frühes
5. Jd.): Das Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und das Quadrivium
der mathematischen Künste bündelte er in seiner prosimetrischen, allego-
risch überformten Enzyklopädie De Nuptiis Philologiae cum Mercurio.19

13 Vgl. B. Effe (1977), S. 80–97.


14 Vgl. E. Pöhlmann (1973), S. 854 f.
15 Vgl. B. Effe (1977), S. 106–126; E. Pöhlmann (1973), S. 866; vgl. zur Nachwirkung
des Manilius von Joseph Justus Scaliger bis Aby Warburg W. Hübner (1980).
16 Vgl. B. Effe (1977), S. 204–219; zu anderen, wie Ovids ›Ars amatoria‹ und Serenus,
W. Ludwig (1982), S. 153–155.
17 Vgl. Th. Haye (1997), S. 359 f.
18 Vgl. auch die Beiträge zu ›Lehrhafter Literatur‹ in LMA 5 (1991), Sp. 1827–1844.
19 Vgl. R. Schuler u. J. Fitch (1983), S. 21–23.

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6 A. Einleitung

Letzthin gilt jedoch beinahe die gesamte mittelalterliche Dichtung als ›lehr-
haft‹.20
Zugleich gewann die Paratextualität an Bedeutung, bedurfte doch das
Lehrgedicht fast immer der erläuternden Prosa, der Glosse und des Kom-
mentars. Es galt, den »nicht selten kryptischen Text des Lehrgedichts unter
philologischen wie sachlichen Fragestellungen [zu] erläutern«.21 Man
kannte zwar Diomedes, doch eine gewisse Verbindlichkeit genoß einzig
die Hierarchie der ›Rota Vergilii‹ des Kommentators Aelius Donatus (geb.
um 310), welche steigerte: Eklogen – Georgica – Aeneis. Dem Lehrgedicht
wurde somit im literarischen Kanon der mittlere Rang zugesprochen.22

1.3. Renaissance
Im deutschen Humanismus wurde das Lehrgedicht im 16. Jahrhundert »in
ernsthafter Absicht als Medium der institutionalisierten Wissensvermittlung
verwandt«.23 Die Verfasser waren in der Regel sowohl Experten des Fachs
(gerade Ärzte) wie auch Dichter. Die italienische Renaissance dagegen
blieb von äußeren Einflüssen kaum berührt und griff in Ablehnung des
Überkommenen direkt auf die antiken Autoren und deren Selbstbild zu-
rück;24 vor allem Manilius, Vergil und Lukrez, wenn es darum ging, die
Frage nach dem Ursprung der Dinge zu erörtern.25 In der Folgezeit nahm
man sich immer entlegenerer, immer herausfordernder Sachgebieten an,
wobei den Dichter der nämlich Ehrgeiz wie Manilius trieb, intrikates Fach-
wissen in kunstvolle Verse zu fassen. Girolamo Fracastoros (1479–1553)
Epos über Krankheitsbild und Verlauf der Syphilis (Verona 1530)26 oder
Lodovico Lazzarellis (1450–1500) Opusculum de bombyce über die Sei-
denraupenzucht (gedruckt 1493) legen davon beredtes Zeugnis ab. Zu-
gleich befanden sich die lateinischen Renaissancedichter im Wettstreit mit
der klassizistischen Epik des Volgare: Kein geringeres Ziel gab es, als den
Orlando furioso des Lodovico Ariosto (1474–1533) irgend zu überbieten,
so daß ein Gregorio Ducchi (2. Hälfte des 16. Jd.) kühn bekundete, er wolle
der ›Ariost‹ des Lehrgedichts werden – nicht minder jedoch Vidas (1485–
1566) ›Schachgedicht‹27 mit der eigenen Scacheide in Oktaven (erschien
zuerst Vicenza 1586) in die Schranken weisen.28

20 Vgl. Th. Haye (1997), S. 257–268; und vor allem B. Sowinski (1971).
21 Th. Haye (1997), S. 369.
22 Vgl. J. Schuler u. R. Fitch (1983), S. 23–28.
23 Th. Haye (1997), S. 391.
24 Einen Kurzüberblick zur italienischen Renaissance bietet G. Roellenbleck (1973); aus-
führlich ders. (1975).
25 Zu Lukrez im Neulateinischen vgl. etwa Y. Haskell (2007).
26 Als zweisprachige Ausgabe herausgegeben von Georg Wöhrle; vgl. Literaturverzeichnis.
27 In moderner Ausgabe mit Übersetzung herausgegeben von Walter Ludwig; vgl. Lite-
raturverzeichnis.

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1. Das epische Lehrgedicht als Genus rinascimentaler Poesie – ein Grundriß 7

Als erster Erneuerer der Lehrdichtung wird Basinio da Parma (1425–


1457) mit seinen Astronomicon libri II. (abgeschlossen 1455) angesehen.
Ihm folgt, ebenso astronomisch, Lorenzo Bonincontri (1410-um 1491) mit
De rebus coelestibus libri III (gedruckt Neapel 1526), in welchen die Stern-
kunde mit der christlichen Heilslehre verbunden wird. Im Falle Bonincon-
tris erwies sich des Verfassers eigener Kommentar zugleich als Prätext
weiterer Lehrgedichte. In der Nachfolge des Manilius stand auch das erste
gedruckte – meines Dafürhaltens schönste – neulateinische Lehrgedicht: die
Urania des Giovanni Pontano (1426–1503).29 Sie erschien 1505, wurde
jedoch bereits 1513 von Aldus in einer sonst den antiken Klassikern vor-
behaltenen Reihe nachgedruckt. Pontano war es auch, der sich, sobald er
Bilder gebrauchte, weitestgehend vom Traktat löste und eine Fülle, auch ad
hoc von ihm, manchmal zum reinen artistischen Selbstzweck, erfundener
Mythen einwob. Neben diesem Hauptwerk steht sein Lehrepos De hortis
Hesperidum libri II (gedruckt 1505) als Zusammenführung Ovidianischer
Metamorphosen mit didaktischen Mustern der Georgica Vergils. Die dort
von Pontano gepflegte Ausgestaltung von Aitiologien zu Binnenepylien
wurde stilbildend, wie es beispielsweise an der panegyrischen Borsias des
Tito Strozzi (1425–1505) vor Augen tritt.30 Somit gelten die Jahre zwischen
1490 und 1530 als ›Blütezeit‹ des rinascimentalen Lehrgedichts in Italien,
gilt Pontanos Werk als »Punkt der größten Entfaltung des Mythos in der
didaktischen Literatur«31 – eine Ansicht, welcher man ohne Kenntnis der
mytho-alchemischen Lehrdichtung auch beipflichten könnte. Denn umstrit-
tenen Lehren die Weihen der epischen Form zu verleihen und zugleich
einen schwierigen Gegenstand virtuos zu meistern, ist Ziel des großen Vor-
bildes der Chryseis, der von Mythologemen strotzenden Chrysopoeia des
Giovanni Aurelio Augurelli (1441–1524), auf welche weiter unten ausführ-
lich eingegangen wird.
Hohes Ansehen genoß nördlich der Alpen zudem der die zwölf Tierkreis-
zeichen und alle Bereiche des menschlichen Daseins umspannende Zodia-
cus Vitae des Marcellus Palingenius Stellatus (um 1502–1543). Achtung
zollte man nicht nur seiner ästhetischen Leistung, sondern – gerade in her-
metoparacelsistischen Kreisen – auch dem wissenschaftlichen Gehalt des
Epos.32 Zugleich sprengte Palingenius maßgeblich den strengen Rahmen

28 Vgl. G. Roellenbleck (1975), S. 42–75; u. 216–219.


29 Einen Überblick der astronomischen Lehrdichtung der Renaissance gibt Y. Haskell
(1998). Die Werke Pontanos liegen vor in der zweibändigen Ausgabe von 1902; vgl.
Literaturverzeichnis; vgl. zu Pontano zudem W. Ludwig (2004), Bd. 2, S. 134–150.
30 Das Werk ist greifbar in einer Ausgabe von W. Ludwig, vgl. Strozzi im Literaturver-
zeichnis; zu Strozzi am Estehof vgl. W. Ludwig (2004), Bd. 1, S. 486–507.
31 G. Roellenbleck (1975), S. 93; vgl. auch W. Ludwig (1982), S. 151–162; W. Hübner
(1980), S. 44 f.; zu Pontano des weiteren Ch. Goddard (1991).
32 Zum Verhältnis von Astrologie und Alchemie der Zeit vgl. J. Telle (1992a); zur Rezep-
tion des ›Zodiacus‹ durch Michael Maier vgl. E. Leibenguth (2002), S. 77 f.

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8 A. Einleitung

der Lehrdichtung hin zur Ich-Erzählung in Versen, indem er ab dem


3. Buch sich selbst als Figur einführt und schildert, wie er einen Alten trifft,
der ihn in das allegorische Reich der ›Regina voluptas‹ einführt. All der
zahlreichen Orthodoxiebekenntnisse zum trotz ist das Werk der neuplatoni-
schen Dämonologie verpflichtet. Das Okkulte findet seinen – bitterbösen –
Höhepunkt im 9. Buch, da Palingenius auf dem Rückweg von einem Ein-
siedler auf dem Monte Serrato in die Gesellschaft von Dämonen gerät,
welche auf dem Weg nach Rom sind und von ihrer Warte der dortigen
Zustände höhnen.33
Das Kernproblem für jene Lehrdichter war weniger dasjenige der Mime-
sis als das Verhältnis von sachlicher zu dichterischer Ordnung, sprich die
Strukturierung der einzelnen Teilgegenstände, die Dispositio. Hierzu merkt
Georg Roellenbleck an: »Es fällt auf, daß die Form der Danteschen Reise
[…] das Problem vollkommen löst.«34 Das Itinerarium bot sich vor allem
bei geographischen Werken, wie Francesco Berlinghieris (1440–1501)
Geographia, an, doch vermochte es nicht minder jedweden anderen Stoff
zu gliedern.35 Eine gewisse gattungstheoretische Verbindlichkeit – auf je-
den Fall für Furichius, welcher ihn seit Gymnasialtagen gleichsam vergöt-
terte – dürften die Ausführungen des Julius Caesar Scaliger (1484–1558) in
dessen Poetices Libri VII zum Lehrgedicht besessen haben. Scaliger gelang
es (neben Fracastoro, welcher dem Poeten eine dem Traktatschreiber über-
legene Erkenntnis- wie Vermittlungsfähigkeit beimaß),36 den Konflikt zwi-
schen ›amimetischer‹ und ›mimetischer‹ Dichtung zu umgehen, indem er
von Diomedes ausgehend Horaz über Aristoteles stellte. Somit ist jede
Dichtung der Mimesis zuzuordnen, zumal die dichterische Lehre ob ihrer
ästhetischen Qualitäten der Prosa überlegen ist.37 Ohne die Gattung in Fra-
ge zu stellen, gibt Scaliger dann auch ein ›Iudicium de poetis recentioribus‹
(vgl. Scaliger Poetices, S. 295–316), wobei er auf die bisher genannten
allesamt eingeht, und selbst den exzentrischen Palingenius literarisch wür-
digt: »Palingenii poema totum Satyra est: sed sobria, non insana, non foeda.
eius dictio pura. versus ac stilus in imo genere dicendi.« (Ebd., S. 306). Die
umfassende Kritik, welche Scaliger dann doch am Zodiacus anbringt, ist
auch keine rhetorische; moniert werden – im Stile der in den Scholien des

33 Vgl. G. Roellenbleck (1975), S. 190–204; in moderner Ausgabe mit Übersetzung als


Palingène (1996) im Literaturverzeichnis.
34 Vgl. G. Roellenbleck (1975), S. 24, Anm. 38.
35 Vgl. zu Berlinghieri G. Roellenbleck (1975), S. 65–75; sowie generell W. Harms
(1970).
36 Vgl. B. Fabian (1968), S. 82 f.
37 Vgl. hierzu besonders B. Czapla (1999), S. 23–29; dort wird zugleich in Anlehnung an
D. Schaller (1989) ein Koordinatensystem für eine genaue Ortsbestimmung des Lehr-
gedichts im Kosmos der literarischen Gattungen entwickelt; desweiteren erneut B.
Fabian (1968), der zudem Roger Bacon ins Spiel bringt.

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2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt 9

Straßburgers häufig zitierten Exercitationes de Subtilitate – einzig astrono-


mische Details.38
Von Relevanz war für den Muttersprachler Furichius ebenso die französi-
sche Lehrdichtung. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte das synkretistische Den-
ken eines Marsilio Ficino (1433–1499) und Pico della Mirandola (1463–
1494), genährt von Pietro Pomponazzis (1462–1525) umstrittener Schrift
De immortalitate animae (1516),39 begonnen, seine Spuren in der Literatur
der Romania zu hinterlassen. Infolgedessen wurden gerade in den Gedichten
der Pléïade um Pierre de Ronsard (1524–1585) die ›harmonia mundi‹ zu
einem zentralen Thema. Etliche Hymnen, Oden und Sonetten des Dichter-
kreises wurden zur »célébration et l’explication des grandes forces de la
nature, le développement d’idées philosophiques qui fournissent la matière
de la meilleure partie du recueil.«40 Diese Dichter standen in selbstbewußter
Nachfolge des Vergil und Lukrez wie sie sich auch kunstvoll des antiken
Mythos zu bedienen wußten.41 Daher verwundert es kaum, wenn Furichius
eine Passage seiner Chryseis (CHRYS. S. 4, 27-S. 5, 14) ausdrücklich als Ad-
aption von Ronsards Hymne de l’Or begriffen haben will.
Letztlich vereinnahmte die Lehrdichtung für sich immer neue – auch mit
dem wissenschaftlichen Fortschritt neue – Gegenstände, wie es etwa an der
Navis aëria des Bernardo Zamagna (1735–1820) über die Luftschiffahrt
vor Augen tritt.42 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden in Anlehnung
an Vergil Huldigungen an den Wein, gar Epen zum chinesischen Tee und
zur Kaffeebohne verfaßt.43 Vor allem die Jesuiten taten sich in der Gattung
hervor und brachten mit der dreibändigen 1749 in Paris erschienen Antho-
logie Poemata didascalia die reiche Ernte ein. Doch war die Lehrdichtung
im Rückgang begriffen und kam mit dem Ende des 19. Jahrhunderts fast
gänzlich zum Erliegen.44

2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt

Zur Entstehungszeit der Chryseis stand die Alchemie noch im – freilich


nicht unumstrittenen – Ansehen einer ›Leitwissenschaft‹. Befeuert durch

38 Eine Zusammenschau der Kritik moderner Autoren bietet W. Ludwig (1979).


39 Vgl. den Kommentar zu CHRYS., S. 6, 13.
40 H. Weber (1956), S. 463; als Großform zudem das wirkungsmächtige Schöpfungsepos
›La sepmaine‹ (1578) des Guillaume de Salluste Du Bartas (1544–1590), zu welchem
etwa die Arbeit von K. Reichenberger (1962) vorliegt; sowie A. Neuschäfer (2004).
41 Vgl. H. Weber (1956), S. 463–522.
42 Hierzu die Arbeit von D. Bitzel (1997).
43 Vgl. W. Ludwig (1982), S. 171–173.
44 Weitere Literatur in Auswahl, so zum englischen Sprachraum U. Broich (1963); zur
Aufklärung Ch. Siegrist (1974); zu Lukrez und den ›Atheisten‹ des 17. Jahrhunderts in
Frankreich G. Hocke (1935).

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10 A. Einleitung

die Wirkung des Florentiner Neuplatonismus, dessen Anhänger einem hu-


manistisch-philosophischen Synkretismus frönten, und angeheizt durch ei-
nen Paracelsismus, dessen Jünger das ganze Spektrum zwischen experi-
menteller Heilmedizin und religiös-sozialer Reformutopie ausfüllten, ver-
fügte sie über »eine eigene, quasi innerdisziplinäre Geschichte der kosmo-
logischen und substanzphilosophisch abgeleiteten Naturdoktrin […], die
Heidnisches und Christliches provokant egalisierte und den christlichen
Aeon überwölbte.«45 In dieser, für viele ihrer damaligen Protagonisten bis
in vorsintflutliche Zeit hinabreichende Historie hatten sich zwei, häufig ver-
mischte, Hauptströmungen herausgebildet: eine spirituelle und eine experi-
mentelle. Letztere sah ihre »Hauptaufgabe darin, Materie zu verändern und
in diesem Zusammenhang die von Gott in der Natur verborgenen Geheim-
nisse zu lüften.«46 Damit sollte zweierlei bezweckt werden, zum einem die
medizinisch-pharmazeutische Suche nach der Panazee als Allheilmittel und
Elixir ewigen Lebens, zum anderen die – volkstümlich mit der Alchemie
assoziierten – metallurgischen Bestrebungen zum Zwecke der Verwandlung
unedler Metalle in edle.47 In ihrer spirituellen Spielart wird der Alchemiker
zum Mystagogen. Dessen meist in Abhängigkeit von göttlicher Gnade und
sittlicher Reinheit stehenden seelischen Läuterungsprozesse lassen sich mit
dem Wort Mino Gabrieles als »il viaggio dell’anima è il viaggio della
materia«48 zusammenfassen. Derart wird Alchemie zur »Arte di non mori-
re, giacché insegna ad unire il principio con la fine, l’alto con il basso e
viceversa, investigando la processione degli esseri nell’unità del tutto.«49
Die Alchemie vermochte es, im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung
die meisten christlichen, aristotelischen wie platonischen Denkfiguren für
sich zu vereinnahmen. Dementsprechend zahlreich sind ihre Darbietungs-
formen: Neben technischen Schriften wie Rezepten und Apparatbeschrei-
bungen, trat sie in Form des Traktats, des Kommentars, des (Lehr-)Briefs
oder in liturgischen Formen, wie als Gebet oder als Messe auf. Sie wurde
behandelt in Ich-Erzählungen, in Dialogen, in Parabeln, Visionstexten und
Quaestiones. Selbst als Synodenprotokoll oder als Gesangbuch ist sie über-
liefert, wie sie natürlich ebenso in zahlreichen Mischformen vorliegt –
Alchemiegeschichte ist Literaturgeschichte.
Besonders stark wahrgenommen wird ob der regen Forschung die Em-
blematik50 wie auch die alchemische Buchillustration, welche beispiels-
weise in der Tradition des Sol und Luna-Bildgedichts oder der prächtigen

45 W. Kühlmann (2004), S. 635.


46 J. Telle (1978), S. 200.
47 Vgl. W. Kühlmann (2004), S. 633 f.
48 M. Gabriele (1997), S. 38.
49 Vgl. M. Gabriele (1986), S. 33.
50 Vgl. etwa den Sammelband von A. Adams u. St. Linden (1998); zur Sonderform des
alchemischen Buchsignets vgl. J. Telle (2004a).

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2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt 11

Handschriften des Splendor Solis vorliegt.51 Neben den alchemischen Alle-


gorien, die sich oftmals zu ganzen Bilderzyklen auswuchsen, stehen die
nüchterneren Abbildungen von Apparaten und die alchemische Geometrie
wie auch eine eigene, oft mit der Renaissancehieroglyphik gepaarte Sym-
bolik.52 Die Funktion all dieser Bilder oszilliert zwischen Verhüllung,
künstlerischer Originalität, Mnemotechnik und Didaxe.53

2.1. Etymologie
Die Herkunft des Wortes ›Alchemie‹ verliert sich im Dunkeln. Vieles
spricht für ägyptisch-mesopotamische Wurzeln, die sich in der byzantini-
schen sowie griechisch-arabischen Tradition fortpflanzten, bevor sie ins
Lateinische gelangten. Ein daneben vertretener altchinesischer Ursprung
ist unwahrscheinlich, jedoch läßt sich an einer solchen Hypothese und ihren
Vertretern deutlich ablesen, daß mit jeder Deutung und Herleitung die Zu-
weisung an einen bestimmten historischen Kulturbereich und damit Seman-
tisierung einhergehen. Es geht um die Ausweisung eines historischen Kul-
turraums als Wiege von Weisheit und Wissenschaft. Gut datierbar dagegen
ist die Ankunft des Wortes im lateinischen Mittelalter: ›al-kīmijaˉ ‹ wurde im
Jahre 1144 von Robert von Chester durch seinen Liber de Compositione
Alchemiae eingeführt. Üblicherweise geht man von der Zusammensetzung
aus dem arabischen Artikel ›al‹ und der aus dem Griechischen entlehnten
χυμεία für ›Vermischung‹ oder der im Suidas verzeichneten χημεία für die
künstliche Edelmetallherstellung aus. Gerade nach der Zerstörung Konstan-
tinopels im 15. Jahrhundert und dem Exodus byzantinischer Gelehrter, die
ihre Handschriften im Gepäck hatten, gewann diese griechische Herkunft
an Befürwortern. Nach heutiger etymologischer Deutung rührt die χυμεία
vom altägyptischen ›kmt‹ (›Kam-it‹ oder ›Kem-it‹) als Bezeichnung für die
fruchtbare Erde des Nilbeckens her – und damit metonymisch für das Land
Ägypten.54

51 Vgl. zum ›Splendor Solis‹ J. Völlnagel (2004), und – als jüngster seiner zahlreichen
Beiträge, darunter J. Telle (1991a) – J. Telle (2006b); zu ›Sol und Luna‹ ders. (1980).
52 Weitere Definitionen alchemischer Bildlichkeit in H. Sheppard (1984), S. 16 f.
53 Übersicht über die Gegenstands- und Forschungsproblematik bietet in luzider Kürze:
W. Kühlmann (2004). Zur Zahlensymbolik sei auf die Kommentare zu CHRYS.,
S. 9, 27–30; S. 9, 24 – S. 10, 13; S. 34, 17; S. 50, 30; S. 51, 8–12 verwiesen; des weiteren
auf J.-P. Brach (1987). Die beste Einführung in die Ikonographie der Alchemie ist M.
Gabriele (1997), neuaufgelegt 2008; vgl. auch J. Völlnagel (2004), S. 92–95; eine
bündige Einführung in das Feld von Mnemotechnik und Symbolik gibt M. Gabriele
(2006), S. 7–60.
54 Zusammengefaßt aus M. Gabriele (1997), S. 11–17; desweiteren B. D. Haage (1996),
S. 50–53; S. Hartmann (1987); J. Telle (1987), S. 199 f.

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12 A. Einleitung

2.2. Die spätantiken Gründungstexte und ihre Vermittlung


Die tatsächliche Herkunft der Alchemie ist schließlich auch im alten Ägyp-
ten zu suchen. So hüteten die der Priesterkaste zugehörigen Tempelhand-
werker seit dem 3. Jahrtausend vor Christus ihr Wissen um die Nachah-
mung von Edelmetallen und Juwelen vor profanen Kollegen, wenn auch
schriftliche Zeugnisse erst seit dem 3. Jahrhundert vor Christus existieren.
Bei all dem blieb die Interferenz mit kosmologischen und mythischen Vor-
stellungen nicht aus. Gerade die Handlung des Isis-Osiris-Mythos, als Er-
klärung der Nilperioden, nach welchem Osiris von seiner Schwesterfrau
getötet und wieder zum Leben erweckt wird, prägte maßgeblich alchemi-
sches Denken, wie auch das in Ägypten bis um 2300 vor Christus zurück-
reichende Bild des Ouroboros damals in die Bildtradition einging.
Jenes bereits mit kosmologischen Vorstellungen angereicherte metallur-
gische Geheimwissen traf in der geistigen Hochkultur des spätantiken Ale-
xandria mit Hellenismus, christlicher und jüdischer Gnostik, wie den My-
sterienkulten der jeweiligen Sektierer, dem sich zur selben Zeit in Alexan-
dria formierenden Neuplatonismus, lokalem ägyptischem Mystizismus und
babylonischer Astronomie, welche die Planeten den Metallen zuwies, zu-
sammen. Der daraus resultierende Synkretismus schlug sich bereits im
Werk des ersten geschichtlich gesicherten Alchemikers Zosimos von Pan-
opolis (um 300) nieder, welcher die Bilder jener philosophisch-mystischen
Traditionen als alchemische Allegorien aufgriff. Auch setzte er in seinen
Schriften, die dennoch reich an Apparatbeschreibungen gewesen sein sol-
len, bereits den Gedanken an die ›Erlösung der Materie‹ demjenigen der
›Erlösung des Menschen‹ gleich. Ihm war also schon die besagte Zweitei-
lung der Kunst geläufig, wie er auch von den Adepten Geheimhaltung
forderte und die Traumvision als literarische Form wählte: Dem über dem
Werk Sinnenden erscheint ein Weiser, welcher ihm eine große Allegorie vor
Augen führt, in dieser erfährt das Metall eine dreifache, an Opfer und Auf-
erstehung der Mysteriengötter gemahnende Wandlung zur Reinheit.55
Auf solchem Boden blühte nicht minder die Pseudoepigraphie, wenn
nicht sogar Pseudographie,56 unter den Namen christlich-jüdischer Gestal-
ten, wie der Moses-Schwester Maria, und ägyptischer Halbgötter und Ma-
gier, wobei die größte Bedeutung Hermes Trismegistos zukommt. Das ihm
zugeschriebene und bis in die Moderne gerne ins Antidiluviale vordatierte

55 Zu den Anfängen der Alchemie vgl. etwa B. D. Haage (1996), S. 63–95, Alchemie
Lexikon, S. 22–25 und zu Zosimos ebd., S. 380 f.; zur alexandrinischen alchemischen
Literatur als Kommentar vgl. C. Viano (2000).
56 Eine Erklärung dieses Phänomens bieten R. Schuler u. J. Fitch (1983), S. 38, Anm. 65
– unter Bezug auf W. Stahl (1962), S. 254 – mit der ›aura of uncanniness‹ solcher
Schriften, die geradezu nach der Zuweisung ›to remote personages like Asclepius,
Homer, or Pythagoras‹ verlangt, wie heute Unheimliches der Wissenschaft in die Sci-
ence-Fiction transponiert wird.

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2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt 13

Corpus Hermeticum, als Sammlung kosmologisch mystischer – doch nicht


genuin alchemischer – Texte, fand gerade in der lateinischen Übertragung
durch Marsilio Ficino breite Resonanz. Auch Furichius nimmt auf die beiden
dort enthaltenen kosmogonischen Dialoge Pimander und Asclepius, wie de-
ren Übersetzer, ausdrücklich Bezug. Ebenso gestaltete er die Figur des Senex
in der Chryseis nach dem fabelhaften Priesterkönig. Die Tatsache, daß dem
Dreimalgrößten Hermes zudem etliche weitere, medizinische wie astrologi-
sche Texte zugeschrieben wurden, ließ ihn noch mehr durch die Phantasie der
Gelehrten und Ungelehrten geistern. Den Alchemikern schließlich galt er als
Verfasser der Tabula Smaragdina, eines ursprünglich wohl griechischen Tex-
tes, der vor allem in der arabischen Welt tradiert wurde, zusammen mit der
Auffindungslegende der Smaragdtafel im ägyptischen Ruinengewölbe, wo
sie der uralte Weise thronend in Händen hielt. Die Tabula stellt – im Rang
den Tafeln vom Berge Sinai vergleichbar – eine Kurzfassung der Alexandri-
nischen Alchemie dar, aus welcher sich alle späteren Vorstellungen (Entspre-
chung von Makro- und Mikrokosmos, der Stein als Kind von Sol und Luna,
die Auflösung der Gegensätze etc.) ableiten ließen.57
Ihren Weg ins christliche Mittelalter fand die spätantike alchemische
Literatur vornehmlich über die arabische wie oströmische Vermittlung. So
kannte Konstantinopel bereits annähernd alle literarischen Gattungen, wel-
che später die Alchemie der Frühen Neuzeit prägen sollten. Allgemein wird
für die byzantinische Alchemieliteratur ein mit der Zeit beständig zuneh-
mendes Maß an Allegorisierung konstatiert; eine Entwicklung, für die jene
von Furichius in seinen Scholien zitierten alchemischen Jamben des Helio-
doros und Theophrastos aus dem 8. Jahrhundert beispielhaft sind.58 In der
arabischen Welt herrschte seit dem 8. Jahrhundert eine rege Übersetzung-
stätigkeit aus dem Griechischen, darunter neben vielen anderen Zosimos
und hermetische Texte. Unter den großen Vertretern des 9. Jahrhunderts,
die jedoch zum Bildungsgut der Zeit gehörten, nimmt Furichius auf Rhazes
(865–925), der vor allem auf Geber (1. Hälfte 12. Jd.) wirkte, und Avicenna
(um 980–1037) Bezug.59 Wichtigstes Erzeugnis des arabischen Hermeti-
schen Schrifttums ist die, gegen Ende des 9. Jahrhunderts entstandene, im
12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzte alchemische Philosophensynode
Turba philosophorum, der wiederum eine verlorene griechische Vorlage
zugrunde lag. Auch zu ihr sind in der Chryseis Bezüge erkennbar.60

57 Vgl. zur Tabula vor allem J. Ruska (1962) sowie J. Telle (1995c); zu Hermes und
Hermetismus stellvertretend W. Kühlmann (2000b), F. Ebeling (2005); sowie M. Mul-
sow (2002); auch meinen Kommentar zu CHRYS., S. 16, 18 – S. 17, 10.
58 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 20, 27; u. S. 51, 22.
59 Vgl. Alchemie Lexikon, S. 67. Zum lateinischen Geber vgl. J. Telle (1980c) u. ders.
(1986a).
60 Vgl. B. D. Haage (1996), S. 110–142 sowie J. Telle (1995e) u. ders. (1997b); die
zugrundeliegende Ausgabe J. Ruska (1931).

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14 A. Einleitung

2.3. Mittelalter61
Zwar ist bereits für das Frühmittelalter alchemisches Schrifttum überliefert,
es handelt sich hierbei in erster Linie um Gebrauchstexte zur Herstellung
von Emaille oder Legierungen und Abhandlungen zum Bergbau. Die ei-
gentliche geistige Auseinandersetzung mit der Transmutationskunst setzte
jedoch erst im 12. Jahrhundert ein. Ausschlaggebend war die unter grie-
chisch-arabischem Einfluß stehende, rationalistisch geprägte Schule von
Chartres, welche sich zugleich mit Macrobius, Platos Timaios und Texten
des Corpus Hermeticum auseinandersetzte. Daneben zeichneten sich die
Universitäten von Salerno wie auch Toledo durch ihre Übertragungen ins
Lateinische aus. Im Umkreis jener Übersetzerschule führte 1144 auch der
vorgedachte Robert von Chester ›Alchemie‹ – als Begriff und ›ars nova‹ –
in die Kultur des Abendlandes ein. In der Folgezeit zeichnete sich ein vor-
übergehender Stillstand der theoretischen Entwicklung ab, welchen jedoch
die voranschreitende Spiritualisierung der Texte ausglich. Wie schon in der
Spätantike blühte auch damals die Pseudoepigraphie, so daß neben den
arabischen Gelehrten Rhazes und Avicenna oder Aristoteles nicht minder
Thomas von Aquin (1224/5–1274), Raimundus Lullus (1232/33–1316)
oder Arnaldus von Villanova (gest. 1311) zahllose Werke untergeschoben
wurden. Daneben standen eigenständige Autoren, wie Johannes von Rupes-
cissa (Mitte 14. Jd.) mit De consideratione quintae essentiae,62 der geheim-
nisumwobene Bernardus Trevisanus (14. Jd.), der erdichtete Nicolas Flamel
(1330–1418)63 sowie Petrus Bonus (14. Jd.), an dessen Pretiosa margherita
aus dem 1. Viertel des 14. Jahrhunderts sich die Modelle der alchemischen
Mythenallegorese der Zeit und nicht minder der Stand der Alchemie in der
damaligen Gelehrtenwelt ablesen lassen.64 So diente der Traktat keinem
geringeren Zweck, als die spagyrische Kunst gegen ihre, durchgehend als
›ignorantes et idiotae‹ gebrandmarkten, Kritiker in Schutz zu nehmen und
sie letztlich in die ›Septem Artes‹ zu integrieren. Ohne sich in Einzelheiten
zu verlieren, kann man die Alchemie der Zeit als durchaus nicht unange-
fochten, doch innerhalb der Gesellschaft höchst präsent bezeichnen. Es
häuften sich Berichte über gelungene Transmutationen, nicht zuletzt von
in Fürstendienst stehenden Alchemikern, wie auch Verteidigungen, War-

61 Zusammengefaßt aus: Alchemie Lexikon, S. 26–29; sowie J. Telle (1978), S. 202f; Ch.
Crisciani (1976); u. diess. (1996); G. Jüttner (1980); B. Obrist (1986); B. D. Haage
(1996), S. 59–62; u. S. 143–177.
62 Vgl. zu Arnald von Villanova W. Pagel (1958), S. 248–258; CP 1, S. 132 f.; Alchemie
Lexikon, S. 62 f.; zu Johannes von Rupescissa ebd., S. 185–187 und W. Pagel (1958),
S. 263–266; D. Kahn (2007), S. 40–42.
63 Vgl. zu Trevisanus Alchemie Lexikon, S. 78 u. J. Telle (2008b); zu Flamel ebd.,
S. 136–138; besonders jedoch R. Halleux.
64 Vgl. zu Bonus Alchemie Lexikon, S. 270 f. sowie C. Crisciani (1976) u. J. Telle
(1983a).

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2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt 15

nungen, Verbote und Satiren – kurz: die Flut an Schriften der Befürworter
wie der Gegner schwoll stetig an. Neben dem lateinischen Schrifttum trat
nicht minder vulgärsprachliche Literatur auf, so sind etwa seit dem
14. Jahrhundert deutschsprachige alchemische Texte überliefert. Das an-
onyme Bildgedicht Sol und Luna kann hierfür, gewiß auch wegen seiner
erotischen Bildlichkeit als bestes Beispiel angesehen werden.65

2.4. Renaissance und Barock:


Hermetismus – Paracelsismus – Rosenkreutzertum66
Die rinascimentale Alchemie war zum einem bestimmt durch den Florenti-
ner Neuplatonismus, dessen Begründer, Marsilio Ficino, das Interesse an
hermetischem Schrifttum im Zuge einer Neuerschließung der ›prisca sa-
pientia‹ und damit einhergehender Übersetzungen und Reflexionen ent-
fachte. Die Schülergeneration verwob sein Oeuvre mit anderen Kosmolo-
gien, mit der Kabbala und Naturspekulationen. Zum anderen prägten die
Spagyrik maßgeblich – oft auch mit den Florentinern in Verbindung ge-
bracht67 – Paracelsus (1493/94–1541) und die Paracelsisten.68 Der Hohen-
heimer leitete zwar insofern eine neue Epoche der Naturerkenntnis ein, als
er die Alchemie als Chemiatrie in seine ›medicina reformata‹ integrierte,
wie auch die Trias Sal-Sulphur-Mercurius der Principia des Festen, Brenn-
bar-Öligen und Flüchtig-Flüssigen etablierte und vor allem der praktischen
Erfahrung das Primat vor der philologischen Behandlung medizinischer
Schriften zusprach.69 Der sich auf ihn berufende Paracelsismus aber war
alles andere als eine einheitliche Schule, nicht zuletzt weil es am hierfür
nötigen autorisierten oder systematisierten Schrifttum aus der Feder des
Wundarztes gebrach. Er war vielmehr das Kind der jeweiligen Paracelsus-
deutung und Fortschreibung durch drei ›Väter‹: des Arztes Adam von Bo-
65 Ediert, eingeleitet und kommentiert von J. Telle (1980d).
66 Vgl. CP 1, S. 1–37; sowie A.-Ch. Trepp (2001) und die Einzelbeiträge des so einge-
leiteten Sammelbandes, dort besonders zu ›Paracelsismus und Hermetismus‹ W. Kühl-
mann (2001).
67 Die von F. Ebeling (2005), S. 109 postulierte – und von J. Assmann im Vorwort ab-
gesegnete – hermetische Trennung zwischen Neuplatonikern im Süden und Paracelsi-
sten im Norden gilt bezeichnend nur für den volkssprachlichen Bereich; vgl. für die
Italiener etwa Leonardo Fioravanti, Fabrizio Bartoletti oder den Synkretisten Antonio
Ricciardi im Kommentar zu CHRYS., S. 24, 1–25; u. S. 32, 30–31; sowie S. 51,
SCHOL. 29; zu den Franzosen liegt inzwischen die umfassende Monographie von
D. Kahn (2007) vor.
68 Die Literatur zu Theophrastus Bombastus von Hohenheim ist kaum überschaubar. Als
biographischer Abriß: K. Goldammer (1991). Einen von der Renaissance bis in die
Jetztzeit schweifenden Überblick über die Widersprüchlichkeiten und Weglosigkeiten
in Paracelsusbild und -rezeption, (Miß-)Stand der Edition und zahllosen Aufgaben der
Forschung bietet die Druckfassung des Vortrags von J. Telle (2006a); eine erste biblio-
graphische Zusammenschau ders. (1994b).
69 Vgl. B. D. Haage (1996), S. 30–33

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16 A. Einleitung

denstein (1528–1577), des Humanisten und Mediziners Michael Schütz,


genannt Toxites (1514–1581),70 und des Gerhard Dorn (um 1530-nach
1584), einer mit »verstreuten Schwenkfeldianern engstens liierte Schlüssel-
gestalt in der auf Jakob Böhme und die Rosenkreutzer zulaufenden theo-
sophischen Spiritualisierung und ausdrücklichen Hermetisierung des ur-
sprünglich medizinisch-therapeutisch ausgerichteten Theophrastischen
Denkens.«71 Es wurde also einerseits über eine Hinkehr zur Praxis in der
Heilmedizin wie auch generell zum Experiment der Weg der modernen
Chemie mitbereitet.72 Andererseits fanden gerade weltverbessernde Prote-
stanten, heterodoxe Geister und Mystiker mit der alsbald ebenso verklärten
wie verdammten Paracelsusgestalt Stoff für ihre Phantasmagorien, welche
sie mit neuplatonisch-hermetischen Schrifttum und auch der Kabbala zu
harmonisieren suchten. Auffällig sind hierbei gerade der theosophische Al-
chemiker Heinrich Khunrath (1560-um 1605) mit seinem Amphitheatrum
Sapientiae Aeternae73 und Oswald Crollius (um 1560–1608) mit seiner
Basilica chymica (erschienen ab 1609).74
Als folgenreich erwies sich in einem solchem Umfeld das Frühwerk des
umstrittenen protestantischen Theologen und Schriftstellers Johann Valen-
tin Andreae (1586–1654). Nachdem er – auch ob des Kontaktes zu herme-
tisch-spiritualistischen Kreisen – der Universität Tübingen verwiesen wor-
den war, führte er, weiterhin Theologie studierend, ein Wanderleben. Auf
seinen Reisen kam er mit allen geistigen Strömungen seiner Zeit, vom
Calvinismus und Humanismus bis zum Mystizismus, in Berührung. In sei-
nen drei sogenannten ›Rosenkreutzermanifesten‹, der Fama Fraternitatis
von 1614, der Confessio Fraternitatis im Folgejahr und gerade der allego-
rischen Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459 (gedruckt
1616), entwickelt er an der idealisierten wie fiktiven Gestalt des Christian
Rosenkreutz das Modell einer der ›praxis pietatis‹ gewidmeten ›Rosen-
70 Vgl. zu Bodenstein dessen im wissenschaftshistorischen Kontext erschlossene Korre-
spondenz CP1, S. 104–544; dort einleitend ein biographischer Abriß S. 104–110; wie
auch etliche über das Personenregister auffindbare Einträge in CP 2; sowie J. Telle
(2008c) – vgl. zu Toxites besonders, konzeptionell wie zum Vorgenannten, CP 2,
S. 41–528; neben weiteren zahlreichen Notizen in CP 1; sowie auch J. Telle (1991d).
71 W. Kühlmann (2005a), S. 89; wie auch zum ›häretischen Potential des Paracelsismus‹
ders. (2006); vgl. auch W. Kühlmann (2008c); sowie Alchemie Lexikon, S. 112–114.
72 Etwa in Gestalt von Andreas Libavius; vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 2v.
73 Zu Khunrath J. Telle (1986d) u. ders. (1990b) wie auch dessen Eintrag im Alchemie
Lexikon, S. 194–196; neben R. Evans (1997), S. 213–215 et passim; u. C. Gilly
(2002a); sowie zur Wirkungsgeschichte des ›Amphiteatrum‹ in Frankreich D. Kahn
(2007), S. 569–593; vgl. zu dessen Synkretismen auch den Kommenar zu CHRYS.,
S. 24, 1–25.
74 Vgl. zu Crollius das Alchemie Lexikon, S. 102 f., W. Kühlmann (1992a); die Artikel J.
Telle (1989a) und ders. (2008d); sowie R. Evans (1997), S. 142 f. et passim; die wich-
tigsten Schriften von Crollius werden derzeit herausgegeben von W. Kühlmann u. J.
Telle (1996–1998); weitere Synkretisten bei W. Kühlmann (1995), S. 509 f.; zur Rho-
dostaurischen Publizistik der Zeit vgl. auch den Katalog C. Gilly (1995).

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2. Die Alchemie: Geschichte und Textwelt 17

kreutzerbruderschaft‹. Diese sollte in sich endlich praktisches Christentum


und Naturerkenntnis verwirklichen. Obschon Andreae sich später als Su-
perintendent in Calw mit satirischen Schriften von diesen ›jugendlichen
Irrungen‹ distanzierte, konnte er nicht verhindern, daß sich davon ausge-
hend »eine der wirkmächtigsten, von unzufriedenen Intellektuellen getrage-
ne Protest- und Reformbewegung des fürstenstaatlichen Protestantismus
[formierte]. Postulate einer nachhaltigen Rechristianisierung des öffentli-
chen und privaten Lebens, Widerstand gegen die innerkonfessionelle
Streittheologie, apokalyptische Hoffnungen auf die Überwindung der
Papstkirche und eine tiefgreifende Revision der akademischen Wissen-
schaftspraxis verbanden sich hier zum Projekt einer ›Generalreformation
der ganzen Welt‹.«75 Dieser epochale Umbruch wurde vorbereitet durch
Visionsschriften, welche die Wiederherstellung Adamitischen Wissens an
die endzeitliche Wiederkunft des Elias knüpften, durch hermetisch-neupla-
tonische, gegen den offiziellen Aristotelismus gerichtete Naturspekulatio-
nen, durch Sozietätsentwürfe und Zirkelbildungen. Höhepunkt des Schrift-
und Rosenkreutzertums an sich waren die Jahre 1610–1630. Die bedeu-
tendsten Vertreter der Fraternität waren der Engländer Robert Fludd
(1574–1637), bekanntermaßen Michael Maier (1568/69–1622),76 Melchior
Breler (1589–1644) und Christoph Hirsch (gest. nach 1649), der Gießener
Professor Henricus Nollius (um 1590–1626) – und nicht zuletzt der Wid-
mungsträger der Chryseis Joachim Morsius.77
Einer der wichtigsten Druckorte okkulten und wissenschaftlich unortho-
doxen Schrifttums war im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts Straßburg,
welches sich zuvor bereits durch seine Bibelproduktion und Verlage refor-
matorischer Werke einen Namen gemacht hatte. Dort brachte die eindrucks-
volle Verlegergestalt des Lazarus Zetzner (1551–1616)78 zahlreiche Para-
celsica, darunter 1605 das Opus chirurgicum, heraus. Daneben veröffent-
lichte er die Werke verschiedener Alchemiker, zum Beispiel des Toxites
oder des Theosophen Khunrath, welcher die ganze Schöpfung alchemisch
erklärte, indem er Kabbala, Neuplatonismus und Aristotelismus zu verbin-
den wußte. Schließlich druckte Zetzner zwischen 1602 und 1622 ›die‹ gro-

75 W. Kühlmann (1998), S. 407; zudem die Studie zu Rosenkreutzern am Hof des Moritz
von Hessen Kassel (1572–1632), zu welchem zeitweise auch Maier gehörte, B. T.
Moran (1991), bes. S. 87–114.
76 Vgl. zu Fludd Alchemie Lexikon, S. 139 f. Zu Maier sei auf die Monographie von H.
Tilton (2003) verwiesen, sowie die Biblio-Biographie von E. Leibenguth (2002),
S. 21–64; davor U. Neumann (1993); sowie J. Craven (1968); neben den Abschnitten
in R. Evans (1997), S. 200 f. et passim.
77 Zu Andreae bes. R. Van Dülmen (1978) u. W. Kühlmann (1988); desweiteren B. D.
Haage (1996), S. 176–196; S. Rusterholz (2007); J. Telle (1978), S. 203–206; Alche-
mie Lexikon, S. 46–48.
78 Zu Zetzner als Verleger von Hermetica sei verwiesen auf C. Gilly (2002c); u. J. Telle
(2004a), S. 13–25; sowie D. Kahn (2007), S. 112–121.

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18 A. Einleitung

ße Anthologie hermetischen Schrifttums, das Theatrum Chemicum, welche


die Erben 1659 und 1661 nochmals erweiterten. Auch die als ›Gründungs-
schrift‹ der Rosenkreutzer begriffene Chymische Hochzeit Andreaes erlebte
ihre Erstausgabe nirgendwo anders als 1616 in seiner Werkstatt. Insgesamt
zeichnete sich die Freie Reichsstadt, obschon sich ab der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts das konservative Luthertum durchzusetzen vermochte,
durch ihr offenes, stets von historisch markanten Strömungen mitbestimm-
tes geistiges wie geistliches Klima aus. Vorübergehend wurden hier sogar
öffentlich Täufer und Schwenckfeldianern geduldet, und es galt Straßburg
zahlreichen Hugenotten als erste und willkommenste Zuflucht. Zugleich
war es geistiges Zentrum eines sich nicht nur auf das Oberrheinische be-
schränkenden Kulturraums, der als Heimstatt der Paracelsismen und Wir-
kungsort der vorgenannten Adam von Bodenstein, Toxites, Dorn, im stän-
digen personellen und publizistischen Austausch mit den intellektuellen
Zentren der Reformation und den sich abspaltenden Heterodoxien stand,
wie Speyer, Basel, Tübingen und Heidelberg. Und ebenso wie das Elsaß
schon damals seine Mittlerfunktion zu Frankreich, sprich Akademie und
Universität von Paris, innehatte, so unterhielt man selbstredend Kontakte
bis an den Prager Hof und zu den Zirkeln der Schlesischen Mystik.79 In
einem solchen geistigen Umfeld verwundert es nicht, daß man sich an der
Straßburger Akademie im Jahre 1620 genötigt fühlte, gegen ketzerische
Lehrmeinungen und deren Verbreitung vorzugehen.80 Es war dies die
Zeit, in welcher Furichius das Gymnasium abschloß und seine ersten Ge-
dichte, auch zu naturkundlichen Themen, verfaßte.

3. Alchemie und Lehrgedicht

Von Manilius, welcher sich der glücklichen Versifizierung astronomischer


Zahlenverhältnisse rühmte, bis zur enzyklopädisch-kosmologischen Lehr-
dichtung der frühen Neuzeit, wie der Première Semaine ou Création du
Monde des Guillaume de Salluste Du Bartas (1544–1590) von 1578, stand
der ›Kunstanspruch der Lehrepik in direktem Verhältnis zur Schwierigkeit
des Themas.‹81 In der proteischen Vielgestaltigkeit ihrer literarischen Mani-
festationen war die Alchemie stets auch als Lehrgedicht gegenwärtig; seien
es die erwähnten Jamben der Byzantiner Heliodoros und Theophrastos des
8. Jahrhunderts oder die im deutschen Kulturraum verfaßten muttersprach-

79 Ein intelektuelles Profil der Stadt während der Reformation zeichnet M. Usher Chris-
man (1967); während des Humanismus dies. (1982); kurz B. Vogler (2001), S. 233–
237; zu Oberrhein und Paracelsismus die beiden Vorworte CP 1, S. 15–37 et passim;
und CP 2, S. 6–13 et passim.
80 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 106–110.
81 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 123 f.

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3. Alchemie und Lehrgedicht 19

lichen Dichtungen, wie das seit dem frühen 16. Jahrhundert vielfach über-
lieferte Spruchgedicht Von der Bescheidenheit des Alchemikers82 oder die
bis ins 18. Jahrhundert weitverbreitete Dichtung vom Sermo Philosophicus
(zuerst gedruckt 1605).83 Daß für das Verfassen wie Erforschen gerade
volkssprachlicher alchemischer Dichtung kein tieferer Einblick in die Ma-
terie nötig war und ist, beweist eindrucksvoll der Nürnberger Wundarzt
Hans Folz (1435/40–1513), der – wie er mit seinem Fastnachtspiel Der
Juden Messias deren Ausweisung beförderte – auch diesen Teil des Peg-
nesischen Stadtgesprächs mit seinem Stein der Weisen für sein Publikum
literarisch aufbereitete.84 Daneben ist ebenso das längere kompilatorisch-
autobiographisch allegorische Viatorium spagyricum des (historisch unge-
sicherten) Herbrandt Jamsthaler vom Ende des 16. Jahrhunderts zu nennen,
welches noch bis ins 18. Jahrhundert gelesen wurde.85 Im angelsächsischen
Sprachraum erlangte das, ebenso von Furichius erwähnte, Lehrgedicht der
Twelve Gates des George Ripley (um 1415–1490) hohe Berühmtheit, nicht
minder jedoch seine lateinische Prosafassung.86 Lateinisch (ab 1600) wie
auch ursprünglich volkssprachlich (ab 1500) wurde auch der Vers-Bild-
Traktat Vom Stein der Weisen des (nicht zu identifizierenden) Lamspring
verbreitet, doch scheint von den alchemischen Autoren fast ausschließlich
die internationale Fassung wahrgenommen worden zu sein.87
Im Lateinischen jedoch herrschten im Gegensatz zu den Volkssprachen die
Kleinformen vor, wie es die Dichtungen des Johannes von Teschen (14. Jd.),
mit seinem stark rezipierten Lumen secretorum,88 des Alexander von Suchten
(1520–1575)89 oder etwa eines Laurentius Span von Spanau (1530–1575)90
zeigen. Der oberrheinische Paracelsist Michael Schütz, genannt Toxites
(1514–1581), der von 1542–1545 auch Lehrer an der Straßburger Akademie
gewesen war, verfaßte neben vielen eleganten lateinischen Schriften unter

82 Vgl. J. Telle (2003a).


83 Vgl. J. Telle (2003b)
84 Vgl. J. Telle (1992d); sowie ders. (1994c).
85 Vgl. J. Telle (1977); u. ders (1990a); und mit dem vielsagenden Titel: Jamsthaler,
Herbrandt: Viatorium Spagyricum. Das ist: Ein Gebenedeyter Spagyrischer Wegwei-
ser/ in den edlen Sonnengarten der Hesperidum zu kommen/ vnnd daselbst den Gül-
denen Tinctur Zweig deß vniversals (sonsten Lapis Philosophorum genandt.) zu er-
langen. Alles in einem Historico-Poetischen Discurs sampt Erzehlung deß Authoris
ganzem Leben. Frankfurt/Main 1625.
86 Näheres in den Kommentaren zu CHRYS., S. 12, 25; S. 35, 10; S. 42, 3; S. 47, 21 – S. 48, 2.
87 Vgl. J. Telle (1985) u. ders. (1995a); der Abdruck im ›Museum Hermeticum‹ von 1678
unter Lambsprick im Literaturverzeichnis.
88 Vgl. J. Telle (1983b).
89 Vgl. zu Suchten Alchemie Lexikon, S. 352 f.; J. Telle (1991c) u. ders. (2006c) sowie
O. Humberg (2007) – ein repräsentativer und kommentierter Ausschnitt aus Suchtens
Korrespondenz in: CP 1, S. 545–584; mit Kurzporträt S. 545–549.
90 Eine kommentierte Teiledition seiner Briefe mit Übersetzung und Kurzbiographie in
CP 2, S. 562–583; Auszüge aus dessen Lehrgedicht ›Spagirologica‹ mit Adnoten der
Herausgeber ebd., S. 572–583.

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20 A. Einleitung

anderem ein alchemisches Gedicht über das Antimon; dies als Beitrag zum
Disput um dessen medizinische Verwendung. Es erschien 1567 unter dem
Titel Spongia Stibii adversus Lucae Stenglini Medicinae Doctoris, Et Physici
Augustani Aspergensis als Einzeldruck, in welchem das beschuldigte Anti-
mon sich selbst verteidigt und Paracelsus huldigt.91
Doch selbst ein Michael Maier kam mit seinen Cantilenae intellectuales
und anderen Gedichten kaum über epyllisches Format hinaus;92 ebensowe-
nig wie der Arztdichter Stoltz von Stolzenberg (1600 – nach 1644). Dessen
1624 zum ersten Mal erschienenes und als Chymisches Lustgärtlein kurz
darauf verteutschtes Viridarium chymicum 1624 stellt letztlich nur eine,
wenn auch lange, Sequenz alchemischer Emblemta mit Subscriptiones
dar.93 Kurzum: Augurellis Chrysopoeia und Furichius’ Aurea Catena wie
seine Chryseis, als veritable alchemodidaktische Epen, werden zu recht als
›formgeschichtliche Ausnahmen‹ betrachtet.94

4. Alchemie und Vision

Wie die Alchemie sich nach und nach schier aller literarischen Formen
bemächtigte, war sie allein schon ob ihrer Verwurzelung im Mystisch-Spe-
kulativen seit Zosimos durch Visions- und Traumschilderungen bestimmt.
Hinzu kommt, daß »Visionen als inkorporierte oder autonome Texte fester
Bestandteil der abendländischen Literatur sind, da sie im Alten und Neuen
Testament häufig begegnen (Danieltraum, Apokalypse des Johannes).«95
Für kosmologische Träume des lateinischen Mittelalters und der Renais-
sance war zudem der Rekurs auf das Somnium Scipionis (CIC. rep. 6, 9–
29) und dessen umfangreiche Deutung durch Macrobius, zumal dieser eine
Kategorisierung der Erscheinungen vorausschickt, geradezu unumgänglich;
auch für den wohl wichtigsten und wirksamsten Traumtext der Zeit, die
Hypnerotomachia Poliphili des Francesco Colonna von 1499.96 Und wie
sich die Visionsliteratur seit der Spätantike bewußt hermeneutisch gesicher-
ter Bilder bediente – aus Traumbüchern, wie demjenigen des Artemidoros
von Daldis, über die Patristik bis zur mittelalterlichen Mystik97 – bedienten
91 Vgl. W. Kühlmann (1995); dort abgedruckt S. 520–526; sowie D. Kahn (2007),
S. 136 f.; 215–217 et passim.
92 Vgl. die Monographie von E. Leibenguth (2002).
93 Vgl. J. Telle (1991b) sowie W. Kühlmann (1992b).
94 Vgl. W. Kühlmann (1995), S. 511; und zu Maier in der Tradition der (alchemischen)
Lehrdichtung E. Leibenguth (2002), S. 75–80.
95 P. G. Schmidt (2003), S. 785.
96 Zur Nachwirkung von MACR. somn. vgl. A. Hüttig (1990); vgl. auch Kommentar zu
CHRYS., S. 26, 1–9; grundlegend zu philosophisch-naturkundlichen Träumen M.
Ariani (1999) u. M. Gabriele (1999).
97 Zur Interdependenz von Traumbüchern und literarischen Traumvisionen grundlegend
P. Habermehl (1992), S. 65–177.

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4. Alchemie und Vision / 5. Mythologie und Alchemie 21

sich gleichermaßen alchemische Visionen einschlägiger alchemischer Alle-


gorien oder spannen diese fort.98 In der alchemischen Literatur, in welcher
sich allenthalben Träume und deren Deutungen finden, ist die Visio Arislei
als Mustertext zu nennen. Diese offenbarte sich nach Ende des Kongresses
dem ›Protokollanten‹ der Turba Philosophorum namens Arisleus. Meist
zusammen mit dem Kongreßbericht ist sie ab dem 12. Jahrhundert über-
liefert, ab dem 15. Jahrhundert ist zudem eine versifizierte Fassung belegt.
In seinem Traum bringt Arisleus, als Gesandter des Pythagoras, einem un-
fruchtbaren Königreich am Meer, das nur gleichgeschlechtliche Partner-
schaften kennt, durch die Vereinigung des Männlichen und Weiblichen,
nach gescheitertem erstem Versuch, langer Haft und endlichem Gelingen,
die Fruchtbarkeit zurück.99
Auch Kombinationen von Wach- und Traumvisionen waren häufig, wo-
bei die Wachvision die Deutung des Somnium darstellte.100 Nicht minder
traten oft Traumführer auf, um das Geschaute zu deuten, oder ›Geisterge-
stalten‹ großer Meister.101 Furichius band in sein Werk ebenso zwei Visio-
nen ein: den sprechenden Rabe im zweiten, den Traum von der Ermordung
des Phoebus im Bade im dritten Buch. Zwei seiner Vorbilder nennt der
Arztdichter explizit in den Paratexten: Es sind dies der satirische Dialogus
Mercurii, Alchemistae et Naturae, der auch die alchemische Visionsliteratur
persifliert,102 und die ernster gemeinte Parabola im Novum lumen des Mi-
chael Sendivogius, welche ebenso mit den genannten Versatzstücken ihr
Spiel treiben.103

5. Mythologie und Alchemie104

Der alchemische Hermetismus begriff sich »als Restauration eines in histo-


risch-humaner Verschuldung verschütteten Wissens«.105 Ein Ort, an wel-
chem jenes überdauerte, war neben den ägyptischen Hieroglyphen der My-

98 Zur Vision allgemein vgl. P. G. Schmidt (2003); M. Frenschkowski (2003), S, 117–


120; P. Adnès (1996); zur christlichen Vision P. Dinzelbacher (1981) u. ders. (1989),
sowie – für Außerchristliches unbrauchbar – E. Benz (1969).
99 Abdruck einer lateinischen Versfassung, Entstehungs-, Wirkungsgeschichte und Kom-
mentar in S. Limbeck (1999); vgl. pro forma J. Telle (2004b) u. M. Jammermann
(2008), S. 6 f.
100 Vgl. M. Jammermann (2008), S. 17.
101 Zur Allegorese vgl. M. Jammermann (2008), S. 40 f.
102 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 32, 7.
103 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 14, 0–4; S. 28, 31 – S. 29, 1; S. 40, 10; zum Werk und
Sendivogius CHRYS., S. 46, 30.
104 Einen Überblick über die Mythenrezeption der Renaissance im Allgemeinen bietet B.
Guthmüller (1997) wie auch weitere Beiträge des enthaltenden Sammelbandes.
105 W. Kühlmann (2004), S. 635 f.

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22 A. Einleitung

thos.106 Schon bei Zosimos war das Bestreben erkennbar, Mythen, welche
er dem Hesiod entnahm, antike Orakelsprüche wie auch die Orphik für
seine Zwecke zu verwenden.107 Als schließlich um die Jahrtausendwende
die byzantinische Enzyklopädie Suidas entstand, stand unter dem Lemma
›Goldenes Vlies‹ wie selbstverständlich nur dessen alchemische Deu-
tung.108 Im Mittelalter alchemisierte Albertus Magnus (um 1200–1280) in
De mineralibus die Geschichte von Pyrrhus und Deucalion, Petrus Bonus
bediente sich reichlich aus Vergils Mytheneinschüben und nicht minder aus
den ganzen Metamorphosen Ovids.109 Dahinter stand die Annahme eines
›sensus naturalis der mythologischen Fiktion‹, welcher über Tertia compa-
rationis, wie Farbanalogien, Bezüge zum Gold, dem großen Wagnis und
jeglicher Art der Verwandlung, vor allem Gorgo, Proteus, den Goldenen
Zweig, Proserpina, Phaeton, das Kretische Labyrinth, Medea mitsamt Vlies
und Argonautenfahrt sowie Pyramus und Thisbe sowohl ›in verbis‹ als
auch ›in factis‹ hermetoalchemisch deutete.110
Wie dieser ›sensus chimicus‹ als hermeneutische Kategorie der Vier-sen-
sus-Lehre der Bibelexegese entstammte, wurde im Gegenzug auch die Hei-
lige Schrift hermetisch gedeutet: zum einem als Interpretation goldbehan-
delnder Bibelstellen, wie »dabit pro terra silicem et pro silice torrentes
aureos« (Iob. 22, 24), zum anderen als Gleichsetzung Jesu Christi, des wie-
derauferstanden Erlösers, mit dem Stein der Weisen, und bildimmanent der
Heiligen Jungfrau mit der Retorte – agierten doch bereits die babylonischen
Metallgötter als Mysteriengötter, betrafen Tod und Auferstehung schon Isis
und Osiris.111 Diese Lesart brachte unter anderem die alchemische Meß-
liturgie eines Nicolaus Melchior von Hermannstadt hervor, des 1531 hinge-
richteten böhmisch-ungarischen Hofkaplans.112 Daß der Klerus – trotz der
›Alchemistenbulle‹ Spondent quas non exhibent (um 1317) des Avignoner
Papstes Johannes XXII. (1244–1334, ab 1314 Pontifex) – im Mittelalter
Träger alchemischer Bildung war, scheint Derartiges nur begünstigt zu ha-
ben. Anfang des 14. Jahrhunderts bot schließlich der pseudo-Arnaldische
Tractatus parabolicus einen alchemischen Bibelkommentar, welcher Chri-
stus durchgängig in Analogie zum Mercurius setzte.113 Da also die herme-
neutischen Methoden vorlagen, stand ihrer Anwendung selbst auf neuere
Werke nichts mehr im Wege. Einer besonderen Beliebtheit erfreute sich

106 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 17, 28–32.


107 Vgl. S. Matton (1991).
108 Furichius zitiert den Eintrag CHRYS, S. A2v; vgl. auch meinen entsprechenden Kom-
mentar.
109 Vgl. F. Secret (1981).
110 Vgl. W. Kühlmann (2002b), S. 163–169.
111 Vgl. K. Hoheisel (1984).
112 Vgl. J. Telle (1993).
113 Vgl. A. Calvet (2000), S. 467–470.

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5. Mythologie und Alchemie 23

dabei die Divina Commedia Dantes,114 gefolgt von Artusromanen und der
Hypnerotomachia.115
Wiederum war es der Florentiner Neuplatonismus, welcher die Mythoal-
chemie maßgeblich anregte. Geistesgeschichtlich handelte es sich bei dieser
Auffassung des Mythos um eine Variante des Euhemerismus, jener nach
Euhemeros aus Messene benannten Lesart. Dieser leitete die Entzauberung
mit seinem um 300 vor Christus verfaßten utopischen Reisebericht über die
Insel Panchaia ein. Seinem Ich-Erzähler wird im dortigen Tempel offenbart,
daß die Olympischen Götter nur deifizierte Könige der Vorzeit gewesen
seien. Dem frühen Christentum waren solche Erklärungsmuster in seiner
antipaganen Polemik äußerst willkommen, so daß vor allem Augustinus
den Euhemeros in Ehren hielt.116
Den Mythologen der Hochrenaissance waren dann auch die alchemi-
schen Deutungen vertraut. Dem großen Natale Conti (um 1520–1582)117
war ihre Verbreitung schlechterdings ein Dorn im Auge. In seinen Mytho-
logiae libri X wettert er immer wieder – zugunsten seines eigenen histo-
risch-christlich-moralischen Euhemerismus, im Sinne der ›sedes scelerata‹
als Purgatorium, etc.118 – gegen die ›metallorum tortores‹ und deren sowohl
gottlosen als auch unsinnigen Deutungen.119 Literarisch bot ihm eine Ge-
neration später der Mythoalchemiker schlechthin Paroli: Michael Maier
wird in seinem, nicht minder umfangreichen, alchemischen Götter- und
Heroenhandbuch Arcana Arcanissima nicht müde, den Italiener – welchen

114 In der Italianistik hat sich inzwischen für esoterische Exegeten kanonischer Texte der
feste Terminus ›velamisti‹ eingebürgert; vgl. U. Eco (1990), S. 86–95. Ursprünglich
kannte nur die Danteforschung den Begriff als ironische Bezeichnung für diejenigen,
welche – auf die Verse »O voi ch’avete li’ intelletti sani, / mirate la dottrina che
s’asconde/ sotto ’l velame de li versi strani.« (Dante Inf. 9, 60–62) gestützt – Dante
als Rosenkreutzer, Templer, Freimaurer oder gar Protokommunisten sehen wollten und
wollen; vgl. P. M. Pozzato (1989); H. Lozano Miralles (1989), S. 47 f.; zur Ausbildung
einer veritablen Sensus-Lehre beim Dante-Exegeten René Guénon (1886–1951) vgl.
C. Miranda (1989); einen Überblick gibt zudem A. Asor Rosa (1989); zum Thema vgl.
auch J. Telle (1978), S. 212.
115 Vgl. D. Kahn (2000), S. 476–480. S. Matton (2000), S. 449–452. Bis in die Gegenwart
ist etwa der italienische Kunstgeschichtler Maurizio Calvesi bemüht, seine alchemi-
schen Deutungen der ›Hypnerotomachia‹ in symbolisches Kapital auszumünzen; der
köstliche Verriß bei M. Gabriele (1997), S. 156–160.
116 Zum Euhemerismus: M. Fusillo (1998) u. K. v. See (1989).
117 Vgl. R. Ricciardi (1983).
118 Aufschlußreich ist diesbezüglich in seiner ›Mythologia‹ das 10. Buch ›Quod omnia
philosophorum dogmata sub fabulis contineatur‹ – dort werden die wichtigsten My-
then ausdrücklich ›ethice‹ gedeutet; und somit auch die antike Unterwelt christiani-
siert: »His igitur rebus antiqui nos hortabantur ad probitatem, quoniam si quis dum
viuit, poenas suorum scelerum deuitauerit, at certè post mortem supplicium deuitare
non poterit.« (Conti, S. 536).
119 So etwa gegen alchemische Deutungen des Saturnus: »Conantur enim metallorum
tortores et has, et alias his similes artes excogitare, quibus possint metalla in alias
formas transferre terterrima paupertatis forma perterriti;« (Conti, S. 64).

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24 A. Einleitung

er in Anspielung auf dessen Jagdbuch als ›Braceschus Italicus‹ (›Italien-


erbracke‹) tituliert120 – anzugreifen: »Non mirum igitur si hoc illi faciant
suo modo (legitimo) quos tu metallorum tortores vocas; Quorum nonnullos
(de veris loquor) plus veritatis ex metallis, quam tu forte ex fabulis extorsi-
sti, ne quid de vtilitate dicam, elicuisse constat« (Maier Arc., S. 104). Zwar
war er, uneingestanden, hochgradig von Conti als Hauptquelle abhängig,121
doch las er ihn nach seiner eigenen, im ersten Buch der Arcana entwik-
kelten und auf den alchemischen Leser zugeschnittenen Hermeneutik.122
Der Ruhm der ersten systematischen Zusammenstellung mythoalchemi-
scher Deutungen gebührt indes dem, allerdings nur als Handschrift über-
lieferten, Auriloquio. Nel quale si tratta dello ascoso secreto dell’Alchimia
des spanischen Regenten Siziliens Vincenzo Percolla (gest. 1572). Dieser
ist nichts anderes als eine im Volgare verfaßte alchemische Mythologie.123
Im Gegensatz zum orthodoxen Conti las der Verfasser des anderen gro-
ßen mythologischen Kompendiums, Lilio Gregorio Giraldi (1479-um
1552),124 die Argonautica ohne Gewissensbisse unter alchemischen Ge-
sichtspunkten. Der Brescianer Antonio Ricciardi (um 1520–1610) schließ-
lich, welchem das Abendland sein umfangreichstes Symbollexikon, die
Commentaria Symbolica, verdankt, führte bei allen Lemmata – und vor
allem bei Mythologemen – oft unter Verweis auf Hermetoparacelsisten,
sofern sie sich nur belegen ließ, die alchemische Deutungstradition an.125
Die heute bekanntesten alchemischen Mythologien stammen aus der Fe-
der des Antoine-Joseph Dom Pernety (1716–1796). Nachdem der ehema-
lige Benediktiner Frankreich verlassen hatte, wurde er Bibliothekar Fried-
richs II. (1712–1786) und schloß sich den Illuminaten an. Nach dem Tod
seines preußischen Gönners saß er bis zu seinem Ableben einem okkultisti-
schen Orakel-Kult in Avignon vor. Neben einem Malereilexikon gründet
sein Ruf auf den monumentalen Fables égyptiennes et grecques devoilées
und seinem Dictionnaire mytho-hérmétique.126 Wie an einer jüngst erschie-
nenen, sich auf Pernety berufender französischen Übersetzung der Arcana
arcanissima zutage tritt, so ist die mythoalchemische Lesart in gewissen,
nicht ungebildeten Kreisen bis in die Gegenwart virulent.127
120 Vgl. Maier Arc., S. 103; dort mit fast ganzseitigem Zitat aus Conti.
121 Die ›Arcana arcanissima‹ können eigentlich als alchemischer Kommentar der ›Mytho-
logiae‹ angesehen werden.
122 Vgl. Maier Arc., S. 1–55. Der den Maierschen Kriterien inhärenten Logik (letztlich ist
jeder Mythos alchemisch) wie auch der – teils recht amüsanten – Polemik gegen Conti
wäre eine eigene Ursuchung zu widmen; vgl. T. Reiser (2007c) als Rezension von St.
Feye (2005).
123 Vgl. C. A. Anzuini (1996).
124 Vgl. S. Foà (2001).
125 Zu Ricciardi und seinen ›Commentaria‹ vgl. M. Gabriele (2005); desweiteren F. Secret
(1973), S. 209–211; u. ders. (1981).
126 Kurzporträt bei M. Meillassoux-Le Cerf (1989).
127 Vgl. St. Feye (2005).

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6. Kommentar und Alchemie 25

6. Kommentar und Alchemie

Der Vorwurf, welchen die moderne Forschung gegen die Chrysopoeia des
Augurelli erhebt, daß sie als Text »whose classical form dictates candour
and transparency«128 keinerlei Lehre vermittle, kann ebenso gut gegen die
Chryseis erhoben werden. Beide alchemischen Lehrgedichte zeichnen sich
dadurch aus, daß sie Lehrgedichte sind, welche den Leser die Alchemie
nicht lehren – nicht einmal im bescheidenen Maße von Vergils Georgica,
nach welchen man (mag dies auch umstritten sein) zumindest ansatzweise
eine kleine Landwirtschaft betreiben kann. So wird der Leser des Trevisa-
ners oder des Straßburgers selbst durch intensive Lektüre nicht in den Stand
gesetzt, die Transmutation zu vollbringen oder das Allheilmittel zu extra-
hieren. Dasselbe ›Defizit‹ freilich findet sich in aller129 alchemischer Lite-
ratur, welche das ›Opus magnum‹ thematisiert: Strenggenommen bieten
spagyrischen Schriften keinerlei Aufklärung, und dies selbst dann, wenn
sie ausdrücklich als die erklärende Gattung schlechterdings, nämlich als
Kommentare, ausgewiesen werden. Da die alchemische Literatur sich je-
doch in ihrer Gesamtheit durch die Erklärung ihrer ›dunklen‹ Prätexte
rechtfertigt, so kann sie auch insgesamt als Sonderfall des Genres ›Kom-
mentar‹ betrachtet werden:130 »Un des leitmotive de la quasi totalité de ces
auteurs est en effet de prétendre vouloir avant tout expliquer et justifier le
propos des auteurs antérieurs, comme le fait dès le IIIe siècle Zosime de
Panopolis«.131 Dementsprechend war die arabische und mittelalterliche la-
teinische Tradition weitestgehend Kommentierung der Tabula smaragdina
und der jeweils vorausgehenden, an sich schon kommentierenden alchemi-
schen Literatur, während bei nicht mehr eindeutig kenntlichen Prätexten
Kommentar und Paraphrase ununterscheidbar wurden. Zwar gab es stets
die üblichen paratextuellen Kommentarformen, wie glossierte Handschrif-
ten der Pretiosa margharita oder Scholienbände zum Rosarium des Arnal-
dus von Villanova, doch traten gerade ab der Renaissance vermehrt weitere
literarische Formen an deren Stelle, wie etwa die Emblemata der Atalanta
fugiens oder auch die alchemischen Lehrgedichte. Ebenso mischte sich in
die alchemische Kommentierung die Rezeption und Ausdeutung der (pseu-
do-)paracelsischen Schriften.132 Die damalige Auffassung der Alchemie als
Königsweg zur Natur- und damit Gotteserkenntnis, als Physik und Ethik in
128 Y. Haskell (1997), S. 589.
129 Die Existenz geheimer, unverhüllt die Transmutation beschreibender Schriften wurde
mir einmal von einem geheimnistuerischen nordamerikanischen ›Rosenkreutzer‹ unter
dem Siegel der Verschwiegenheit angedeutet.
130 Vgl. R. Häfner (2000), S. 299 f.
131 S. Matton (2000), S. 437.
132 Vgl. S. Matton (2000), S. 438–449; die alchemische Kommentierung neigt dahin, daß:
»le commentaire se voit fréquentement assimilé à l’oeuvre commentée en s’insinuant
en elle sous forme de gloses incorporées, ou bien, absorbant l’oeuvre commentée

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26 A. Einleitung

sich vereinende Wissenschaft, führte bei alledem zu einer bis dahin unge-
sehenen Steigerung des intertextuellen Aufwands.133
Der alchemische Kommentar jedoch ist – wie angedeutet – per se dem
philosophischen oder philologischen entgegengesetzt: Er ist in seiner Er-
scheinung paradox, indem er zwar verheißt, alles zu erhellen, doch dies
dann wortreich unterläßt – »tout l’art du commentaire va consister à dire
qu’on ne va rien expliciter, ou plus exactement qu’on va tout révéler, mais
d’une façon qui ne sera compréhensible qu’à ceux qui connaissent déjà le
secret lui-même.«134 Dem zeitgenössischen wie auch modernen Leser wird
die Lösung versprochen, doch letztlich wieder und wieder vorenthalten,
was, gerade wenn der alchemische Kommentar als ›carmen didascalicon‹
auftritt, eine gewisse kognitive Dissonanz hervorrufen mag.135 Letztlich
aber bedeutet alchemische ›Kommentierung‹ nichts anderes, als daß die
poetische Phantasie eine Metapher durch eine andere ersetzt, was Mytholo-
geme einschließt sowie konsequent Allegorien umfaßt. Daneben bedienen
diese Kommentatoren sich mit Vorliebe des Oxymorons (›lac virginis‹ etc.)
oder der vermeintlich ›näheren‹ Bestimmung bekannter Substanzen wie
›Sulphur‹ als ›Sulphur noster‹, ›Sulphur philosophorum‹ in Abgrenzung
gegen ›communis‹ oder ›vulgaris‹.136
So faßt auch Umberto Eco – mit Blick auf Antoine Pernety – die Grund-
züge der alchemischen Semiotik, wie folgt, zusammen: 1) Das Geheimnis
ist stets woanders, 2) die Substanzbezeichnungen bezeichnen nicht die Sub-
stanzen, die Substanzen haben andere Bezeichnungen, 3) trotzdem geht es
immer um dasselbe Geheimnis.137 Und sobald dieses Geheimnis einem
Mythologem, einer ägyptischen Hieroglyphe, einer Bibelstelle oder einem
philosophischen Theorem eingeschrieben scheint, werden jene Teil des al-
chemischen »discorso di sinonimia totale«138 – welchem man nur mit neu-
en Synonymen beizukommen glaubt. Hierbei ist allen alchemischen Texten
gemein, daß sie sich letztlich auf das Geheimnis der Transmutation als
(unbekannten) Urtext beziehen, den wiederherzustellen sie ankündigen,

jusqu’à la rendre indiscernable, il apparaît lui-même comme une oeuvre indépen-


dante.« (ebd. S. 452).
133 Vgl. »l’alchimie est une ›philosophie naturelle‹, puisqu’elle a pour objet l’étude des
corps naturels – principialement (mais pas exclusivement) métalliques –; en outre, elle
repose sur une ›éthique‹, dans la mésure où la pureté de l’âme de l’adepte est souvent
présentée comme une condition nécessaire à la réussite des opérations laboratoires.«
(J.-M. Mandioso (2000), S. 482).
134 J.-M. Mandioso (2000), S. 483.
135 Vgl. hierzu auch die Ausführungen Ecos zur Maierschen Emblematik: »il lettore ha
continuamente l’impressione di vedersi offrire delle chiavi (come un tempo), ma ora il
significato finale, la soluzione ultima, tende sempre ad allontanarsi, e la nuova enig-
mistica – a differenza di quella medievale, che premiava il solutore corretto – diventa
una tecnica dell’elusione.« (U. Eco (1985), S. 239).
136 Vgl. J.-M. Mandioso (2000), S. 485 f.
137 Vgl. U. Eco (1990), S. 75–76.

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7. Ein Prosakommentar des Tractatus aureus als wichtige Quelle der Chryseis 27

ihn dann jedoch hinter weiteren Metaphern verdunkeln. Doch nicht nur
Literaturwissenschaftler machen sich darüber ihre Gedanken, bereits Petrus
Bonus stellte, während er das integumentale Sprechen der Autoritäten ab-
handelte, die Überlegung an, daß das Geheimnis aperte wohl in sechs bis
zwölf Zeilen mitgeteilt werden könnte: »Et verè dico, sicut opinor, quod si
totam hanc artem, cum omnibus necessariis, practicè tradere vellent, reli-
quendo omnes figuras, quod in 6. vel 12. lineis scribere ipsam possent,
quod quare non fecerint, supra dilucidè satis enituit.« (Bonus, S. 37 f.).139

7. Ein Prosakommentar des Tractatus aureus


als wichtige Quelle der Chryseis

Die soeben beschriebene Zugehörigkeit alchemischer Literatur zum Kom-


mentar ist in einigen Passagen von Furichius’ Chryseis überdeutlich zu er-
kennen, sind doch die entsprechenden (in der unten folgenden Struktur-
übersicht hervorgehobenen) hochallegorischen und Ekphrasen alchemi-
scher Geometrie verwertenden Stellen offensichtliche Versifizierungen
von 1610 zum ersten Male erschienen Scholien zum Tractatus aureus;
also im weitesten Sinne nichts als in die Struktur des Epos eingefügte
Kommentare zu angeblichen Sentenzen des legendären Hermes Trisme-
gistos. Diese waren damals unter dem Titel Tractatus vere aureus, De Lapi-
dis Philosophici Secreto in capitula 7 divisus: nunc verò a quodam Anony-
mo, scholijs tam exquisitè et acute illustratus, ut qui ex hoc libro non
sapiat, ex alio vix sapere poterit, similis enim huic vix hodie reperitur mit
dem wohl pseudonymen belgischen Herausgeber Dominicus Gnosius bei
›Valentinus am Ende‹ in Leipzig herausgekommen.140
Die hier exponierte Sammlung angeblicher Winke des Priesterkönigs an
einen Schüler ist seit dem 13. Jahrhundert in zwei lateinischen Fassungen
belegt und erfreute sich, auch in den Vulgärsprachen, großer Beliebtheit.
Begnügte der Text in der Princeps von 1566 (Septem tractatus seu capi-
tula Hermes Trismegisti aurei durch Samuel Emmel in der Straßburger
Anthologie Ars Chemica) sich in großen Lettern noch mit dreizehn Blät-

138 U. Eco (1990), S. 78.


139 Als Kuriosum ist hinzuzufügen, daß sich später einige Aufklärer und Enzyklopädisten
bemüßigt fühlten, ebenso Kommentare zu alchemischen Texten zu verfassen, welche
durch ihre positivistische Lesart ›ad litteram‹ – seit Bonus die Rezeptionshaltung der
›ignorantes‹ und ›idiotae‹ – deren Unsinn zu entlarven gedachten; vgl. D. Kahn
(2000), S. 488 f.
140 Ein ›Gnosius‹ findet sich übrigens in der ›Hypnerotomachia‹ gleichfalls in Verbindung
mit uneindeutiger Autorschaft: Das hinsichtlich der Verfasserfrage im Geleitepigramm
des Brescianers Andrea Marone (1475/75–1528) stehende ›Nolumus Agnosci‹ entlarvt
den angrammatisierten ›Columna Gnosius‹ als den Adepten Fra Colonna; vgl. Poli-
philo, Bd. 1, S. 8 u. Bd. 2, S. 495 f.

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28 A. Einleitung

tern,141 so kommt der von Furichius verwandte Leipziger Kommentar auf


stattliche 280 Octavseiten: Aus den ursprünglich symbolischen sieben Ab-
schnitten wurden derart sieben symbolvolle Bücher, welchen zwei Dedika-
tionsepisteln voranstehen, und welche eine ›Conclusio totius operis‹ ab-
rundet. In jedem Hauptkapitel finden sich jeweils mehrere Hermes-Aus-
sprüche im Wechsel mit deren Scholien vereinigt. Einigen Erläuterungen
sind graphische Schemata beigestellt. Im Vergleich zu Furichius sticht ins
Auge, daß die Scholien des Tractatus Aureus durchgehend Bezüge zur
Heiligen Schrift herstellen und diese mit zahlreichen Stellen belegen, wo-
gegen der Straßburger in seinen Adaption – wie in der gesamten Chryseis
– fast gänzlich auf Schriftbezüge verzichtet.
Der Adressat des ersten Widmungsbriefes des Tractatus vere aureus ist
Baron Ladislaus Welen von Zierotin (1579–1638) aus der mährischen Linie
des 1708 in den Grafenstand erhobenen alten böhmisch-mährischen Ge-
schlechts. Nach Studienreisen an den Oberrhein, die Schweiz und Nordita-
lien war der welterfahrene, protestantische Adlige zur Druckzeit des Trac-
tatus-Kommentars Hauptmann von Olmütz. Im Dreißigjährigen Krieg ver-
schlug es ihn schließlich auf die schwedische Seite.142 Der andere Empfän-
ger ist der als mäzenatischer Pfalzgraf und Leibarzt des Französischen Kö-
nigs angesprochene Jakob Alstein. Dieser war seit 1602 als Anhänger der
Kunst ruchbar, wirkte höchstwahrscheinlich an der ersten Edition des No-
vum lumen des Michael Sendivogius mit, in den Jahren 1608/1609 oblag
ihm das leiblich Wohl von Heinrich IV. (1553–1610). Ingleichen pflog er
mit Joachim Morsius Umgang, in dessen Album er ebenso anzutreffen
ist.143 Als Verfasser des Kommentators wird üblicherweise der aus Orleans
stammende Mediziner und streitbare Spagyriker Israël Harvet144 angenom-
men; doch auch Gerhard Dorn immer wieder ins Gespräch gebracht.145 Wie

141 Vgl. Ars Chemica, S. 7–31.


142 Vgl. die Monographie F. Hrubý (1930); desweiteren J. Červenka (1970); R. Evans
(1997), S. 143–145; sowie zur besagten Widmung S. 288f; vgl. auch Zedler 62
(1749), Sp. 1554–1556.
143 Ein Kurzporträt, des bisher schwer greifbaren Alstein, in J. Paulus (1994), S. 384,
Anm. 353; vgl. auch D. Kahn (2007), S. 399.
144 Vgl. zu Harvet C. Gilly (1977), S. 74 f.; mit weiteren Hinweisen D. Kahn (2007),
S. 381–383 et passim; wenig bei Kestner, S. 377 u. Ferguson 2 (1954), S. 366 – sowohl
zu Alstein als auch zu Harvet verweist D. Kahn auf seine, während der Niederschrift
dieser Zeilen noch nicht vorliegende, neue Studie: Cercles alchimiques et mécénat
princier en France au temps des guerres de religion.
145 Eine größere Arbeit zu jenem einflußreichen Werk steht noch aus. Ansatzpunkte mit
Hinweisen auf die verstreute Behandlung in der Forschung bieten: CP 2, S. 696 f.; zur
Urheberschaft Dorns vgl. W. Pagel (1979), S. 206 u. ders. (1984), S. 21 u. 189; D.
Kahn (1994), S. 60, Anm. 5; zur Text- und Überlieferungsgeschichte des ›Goldenen
Traktats‹ vor allem J. Telle (1995d); sowie im Katalog S. Gentile u. C. Gilly (1999),
S. 210–212; wenig dagegen bei Ferguson 1 (1954), S. 390. Textidentisch ist der hier
zugrundegelegte und leichter zugängliche Abdruck im ›Theatrum chemicum‹ vgl. TC
4 (1659), S. 587–717.

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8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg 29

dem auch sei: Der bisher nicht eindeutig zu klärende Kommentator ließ
zumindest durchblicken, daß seine Muttersprache das Französische war,
da er bei Gelegenheit die eigene Übertragung einiger alchemischer Verse
›in Gallicam nostram‹ einfügte: »Ouurier sur tout aye cure,/ Que l’art imite
nature./ L’externe feu de charbon/ Rendla matiere alteree:/ Mais l’interne et
l’aetheree/ Faira ton ouurage bon.« (Tract. aur., S. 622). Auch waren just
diese Erklärungen, von der sonstigen Wirkung der Hermetischen Apo-
phthegmata abgesehen – so inspirierten sie nicht minder Allegorien der
Chymischen Hochzeit – eine der Hauptquellen von Michael Maiers Em-
blembuch Atalanta fugiens; wobei etwa bezüglich der alchemischen Geo-
metrie und des alchemischen Rabens dieselben Scholien zugrundeliegen.146

8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg147

Im Jahr 1602 kam Johannes Nicolaus Furichius in Straßburg als Sohn des
französischen Schreibzeugmachers Johannes Nicolaus Furichius und des-
sen Frau Elisabeth, geborene Huaschin, zur Welt. Es liegt nahe, anzuneh-
men, daß Mutter und Vater als Religionsflüchtlinge ins Elsaß gekommen
waren. Im Elternhaus sprach man französisch, deutsch lernte Furichius erst
richtig, als er bereits Schüler der Straßburger Akademie war.148 Seit diesen
Tagen verband ihn eine innige Studien- wie auch Dichterfreundschaft mit
dem ein Jahr älteren Johann Michael Moscherosch (1601–1669),149 die
auch lyrisch ihren Niederschlag fand. So drückte, als der ältere Freund
1620 sein Baccalaureat erwarb, Furichius in der Gratulationsschrift epi-
grammatisch für die Mitbenutzung von dessen Büchersammlung seinen
Dank aus.150 Am 28. November 1622 erhielt Furichius als einer der ersten
– genau genommen als vierter – zusammen mit der Magisterwürde dieje-
nige eines Poeta laureatus.151 Im gleichen Jahr erschienen seine Libelli
Carminum Tres.152 An diesem Jugendwerk ist hervorzuheben, daß es »in
thematischer und formaler Vielfalt eine größere Bandbreite als Moscher-
oschs Epigramme«153 aufweist. Neben den üblichen Gelegenheitsdichtun-
146 Vgl. H. De Jong (1969), S. 170–172; u. S. 271 f.
147 Der biographische Teil ist eng abgeglichen mit W. Kühlmann (1984), S. 111–135 – Haupt-
quelle ist auch hier das weiter unten in Übersetzung wiedergegebene ›Programma
funebre‹.
148 Eine Monographie zur Akademie der Zeit bietet A. Schindling (1977); eine Kurzfas-
sung ders. (2000); eine Einführung ins Schulwesen im deutschen Humanismus W.
Kühlmann (2007).
149 Zur Schulzeit Moscheroschs an der Straßburger Akademie, bis die Wege sich trennten,
und dem damaligen geistigen Umfeld vgl. W. Kühlmann (1981); sowie ders. u. W.
Schäfer (1983), S. 14–35.
150 Abgedruckt in W. Kühlmann u. E. Schäfer (1983), S. 21.
151 Vgl. G. Knod (1897), S. 519, u. 586.
152 W. Kühlmann stellte mir hierfür freundlicherweise seine Aufzeichnungen zur Verfügung.
153 W. Kühlmann (1984), S. 111.

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30 A. Einleitung

gen, vom Epithalamion über den Geburtstagsgruß zum Reisegedicht, stehen


Reflexionen über das Dichten wie auch Moralisches und Konfessions-Theo-
logisches. Der Band enthält versifizierten Lehrstoff wie auch Porträts antiker
Gestalten, des Moses und des Elias. Fabeln reihen sich an Schwankhaftes,
welches sich bis zur Ständesatire steigert und über die Miles-Gloriosus-To-
pik zum Zeitgeschichtlichen führt. So schildert Furichius sowohl die Kriegs-
greuel (Actiones sceleratorum Militum quorundam) als auch den Eindruck
neuer Geschütztechnik in einem Artilleriegedicht De Bombarba ex fulminei
teli irruptione inventâ.154 Bei all dem beeindruckt ein derb antikatholischer,
vor allem ›in Lojoliticos‹ und wider die Franziskaner gerichteter Tonfall, so
etwa In Medardum Erasmicum Franciscanum Calumniatorem:155
Non mihi Medardus, sed eris Merd-ardea posthâc:
Merdâ cum pugnes Ardea sicut iners. (LIBELLI, S. B8r)

Oder gleich Ad funigeros Monachos:


Funis, quem vestris gestatis in Ilibus, esse
Aptior in collo, nexus in Ilicibus. (LIBELLI, S. A8r)

Wie auch, ebenso mehrfach, gegen den Stellvertreter Christi:


Unde corona triplex? antu trismegistus es Hermes?
Es magis Hermoglyphus: tot simulacra facis.
Te nego Geryonem; tu simplex, ille tricorpor:
Quanquam scis gerras ore blatire satis.
Treis habuit formas Hecate, sed foemina: Verum, [5]
Nî sis Evnuchus, te reor esse virum.
Vnum restat adhuc: unum caput una corona
Ornet, tres tria; sis Cerberus ergo triceps: (LIBELLI, S. A6rf.)

Diese Trismegistos-Reminiszenz hat allerdings noch nichts mit Hermetoal-


chemischem zu tun. Einige naturkundliche Themen lassen jedoch bereits
auf ein sich ausprägendes Interesse an naturphilosophischen Fragestellun-
gen schließen, wie das Gedicht De Universo:
Iure locum Iudex quaesivit in aethere summum:
Vt nutu quaevis inferiora regat.
Ille suis quondam summo pro numine leges
Sanxit imaginibus, quas cupit esse ratas.
At sunt heu! plures, qui nolunt hasce subire, [5]
Quas tamen et tonitru fulminibusque dedit.
Hinc Quaesitores statuit sibi IOVA planetas:
Fecit Carnifices hinc Elementa suos.
Ergo si peccent homines, irascitur Vltor,
Et Quaesitores convocat ille suos. [10]

154 Beide im 1. Anhang.


155 Die, hier kursivierten, dort fetten, Hervorhebungen entsprechen der Ausgabe von
1622.

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8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg 31

Mandat ut infundant Elementis coelitus iram,


Et jubeant homines discruciare malos.
At cum momentis delinquant quique quibusvis,
Nil, nisi quod noceat, pene Planeta parit. (Ebd., S. B4rf.)

Oder die im Druck folgende Comparatio Mundi cum Homine zum Kom-
plex von Mikro- und Makrokosmos:
Fatur Aristoteles hominem Microcosmion esse:
Iccirco Mundo hic aequiparandus erit.
Sit Cerebrum firmamentum: duo Lumina stellae:
Inferior Cerebro pars velut aer erit.
Sint Meteora, petens sursum Fumatio Ventris: [5]
Humentes pluviae sunto Catarrhus item:
Terra Caro: Sanguis, terram qui permeet, Humor:
Corpus enim totum perfluit unda velut.
Corque, Iecurque, Lien, Splen, sint Animalia, Heparque [10]
Vitales motus congerit his cerebrum.
Si dicis, nondum me declarasse quis Ignis?
Hic Radicalis Corporis esto calor.
Vt toti Mundo tandem Deus imperat unus:
Sic rectrix etiam Corporis est Anima. (Ebd., S. B4vf.)

Wie auch das Distichon Quatuor Elementa:


Ferte famen in terris: in Aqua nece: in Aere pestem:
Igni flagrabit, quicquid in orbe manet. (Ebd., S. C7v)

Auch das Lob des in den Paratexten der Chryseis mehrfach angeführten
wie gepriesenen Julius Caesar Scaliger wird bereits in den Libelli gesun-
gen.156 Doch wie die Physica in Furichius’ Erstlingswerk noch ein Gegen-
stand unter vielen sind, so hat auch De Somniis Naturalibus noch nichts mit
Visionsliteratur zu tun:
Somnia nascuntur tantum ex affectibus ejus,
Qui vigilat, nulla haec postera significant.
Namque repraesentant ea, quae sunt visa diebus;
Ergo superstitio nulla feratur iis. (Libelli, S. F1r)

Den größten Teil machen Freundschaftsdichtung und Freundschaftskultur


aus, neben der Kasualdichtung finden sich Schulkameraden und Lehrer in
zahlreichen anagrammatischen Spielen wieder, so etwa der ›musenvereh-
rende‹ Freund Moscherosch: »Johannes Michael Moscherosch Wilstadien-
sis./ Αναγρ./ – – – saltans/ Inde in hias hîc ê Musicolûm esse chore.« und
»Epigr./ Usque adeò blandè redolet tibi Laurus odora:/ Inde inhias hic ê
Musicolûm esse choro.« (LIBELLI, S. D6r). Vom Straßburger Lehrkörper
verwandelt Furichius namentlich an erster Stelle den Dekan der Jahre 1620/
1621, Laurentius Thomas Walliser (1569–1631), in ›Nite Laurus‹ (vgl.
156 Der Text in meinem Kommentar zu CHRYS., S. A2v, Scaliger quidem pater, ad Car-
danum scribens.

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32 A. Einleitung

LIBELLI, S. D7v); dieser seines Herkommens Ethikprofessor und als sol-


cher Spezialist für Nikomachische Ethik des Aristoteles.157 An zweiter Stel-
le wird der Rhetorikprofessor von 1604 bis 1626, Marcus Florus, zu ›Os,
ars, fulcrum‹ (vgl. ebd.) verklärt. Höchstwahrscheinlich hielt dieser sich an
den ›Idealplan‹ seines großen Vorgängers Johann Sturm (1538–1581): Re-
den von Demosthenes und Cicero als Vorbilder, Behandlung der theoreti-
schen Schriften Platos sowie von Aristoteles, Cicero, Hermogenes und
Quintilian – mit einem Wort: »Die Formierung des vollkommenen Redners,
der in der Lage sein sollte, über alle Stillagen der lateinischen Sprache zu
verfügen«.158 Nach der Ehrerbietung an die beiden Honoratioren, Florus
war ebenso Dekan und Rektor gewesen, folgt an dritter, und in Anbetracht
dessen, daß er in der Geschichte der Akademie kaum Spuren hinterließ,
bezeichnender Stelle Dr. Nikolaus Ager, welchem zwischen 1618 und
1634 die Physikvorlesungen oblagen. In diesen wurden fast ausschließlich
die naturkundlichen Werke des Stagiriten kommentiert.159 Ihm schließt
sich, als ›fautor adamatus‹ angesprochen, der Wilhelmspfarrer Paul Crusius
(1588–1629) an, ein lateinischer Dramatiker, von dem bekannt ist, daß er
ebenso naturkundliche Epigramme verfaßte.160 Von den Anagrammatisier-
ten ist in diesem Kontext noch der 1615 amtierende Professor für Poetik
Kaspar Brülow (1585–162) zu nennen. Dieser Poeta laureatus erwarb sich
mit seinen neulateinischen Dramen, darunter ein Mosesstück anläßlich der
Erhebung der Akademie zur Volluniversität, große Verdienste um das
Schultheater und das kulturelle Leben der Stadt.161
Nach seiner Gymnasialzeit galt, gerade auch in Anbetracht der im Erst-
lingswerk Bedachten, für Furichius, was schon zwei Jahre zuvor – erst
1623 wurde der Lehrplan drastisch reformiert – für Moscherosch gegolten
hatte: Er war mit den Schriftstellern und Gattungen der antiken Literatur
vertraut, im Trivium geschult, kannte die Evangelien der Lesungen, die
Katechismen Luthers und des David Chytraeus (1531–1600).162 Auch hatte
er die Privatbibliothek seines Freundes mitbenutzen dürfen.163 Wahrschein-
lich zu Beginn des Jahres 1623 wechselte Furichius, seiner naturkundlichen

157 Vgl. A. Schindling (1977), S. 127, 148, 244–247.


158 W. Kühlmann u. E. Schäfer (1983), S. 31; vgl auch A. Schindling (1977), S. 211, et
passim.
159 Vgl. A. Schindling (1977), S. 248–251.
160 Vgl. A. Schindling (1977), S. 237 f. Anm. 10 u. W. Kühlmann (2008b); ein humoriges
Gratulationsgedicht aus dessen Feder zum Baccalaureat von Morsius im Jahre 1620 in
W. Kühlmann u. E. Schäfer (1983), S. 20; sowie S. 23 f.
161 Vgl. A. Schindling (1977), S. 270; sowie W. Kühlmann (2008a).
162 Der in Rostock wirkende Lutherschüler Chyträus gilt als ›letzter Vater‹ der protestanti-
schen Kirche und ›Leitfigur der Spätreformation‹; vgl. P. Barton (1981).
163 Kenntnisse des Hebräischen sind für Furichius, im Gegensatz zu Moscherosch, da sich
in seinen Schriften nur kabbalistische Termini in lateinischer Umschrift finden, nicht
anzunehmen – er hätte gewiß Gebrauch davon gemacht.

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8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg 33

Neigung folgend, als Student der Medizin auf die Artistenfakultät, an wel-
cher er bis 1625 blieb.
Obgleich sie zu den größten Hochschulen im deutschen Sprachraum
gehörte, hatte die Straßburger Akademie erst 1621 durch Kaiser Ferdi-
nand II. (1578–1637) die Privilegien einer Volluniversität mit dem Recht
der Doktorpromotion erhalten, sie umfaßte die vier Fakultäten Theologie,
Recht, Medizin und Philosophie.164 Bestimmend für die Medizinische Fa-
kultät war damals, als Sohn seines Vorgängers im Amte, der Dekan Mel-
chior Sebitz junior (1578–1674). Mit 34 Jahren war er 1612 nachgerückt
und hatte das Amt bis 1668 inne. Zwar orientierte er sich – vor allem was
die Disputationen seiner Studenten betraf – am Galenismus, doch war er
bestrebt, diesen nicht philologisch zu behandeln, sondern mit der alltägli-
chen Erfahrung des Arztes abzustimmen. Er legte eine Sammlung kurioser
Todesfälle an, lehrte vorzugsweise und einflußreich über Diätetik und Ba-
dekuren und ließ um 1620 einen eigenen botanischen Garten anlegen.
Ebenso sezierte er mit seinen Studenten und setzte die Einrichtung eines
anatomischen Theaters durch, weshalb damals die Straßburger Medizin zu
den fortschrittlicheren in Europa gehörte. Bei aller Freude an der Empirie
stand er jedoch dem Paracelsismus grundsätzlich ablehnend gegenüber.165
In jener Zeit bestritt Furichius einen Teil seines Unterhalts als Präzeptor
zweier Schweizer Studenten, Johann Wernher Bygel und Bartholomäus
Peyer, welche vom Schaffhausener Prediger Melchior Hurter (1584–1655)
betreut wurden. Ein Teil des Briefwechsels zwischen dem Geistlichen und
Furichius ist erhalten, in welchen Furichius auch die dortige Familie
Oschwald herzlich grüßen läßt. Der Sohn Johann Jakob Oschwald war
einer der drei Widmungsträger der Libelli Carminum Tres, dessen Abschied
im Gedichtband besungen wird.166 In einem Brief vom 19. 3. 1624 an Hur-
ter ist der Tutor, nachdem er wegen eines Epigramms gerügt worden war,
bemüht, dem strenggläubigen Calvinisten zu verdeutlichen, daß er keinen
verderblichen Einfluß auf seine Schützlinge ausübe. Aus dem Schreiben ist
ersichtlich, daß er sich literarisch mit Paracelsus und, wenn er diesen auch
als Ketzer verdammt, Valentin Weigel (1533–1588)167 auseinandergesetzt
hatte.168
1624 erschien schließlich die zweite Gedichtsammlung, Poemata Mis-
cellanea. Lyrica, Epigrammata, Satyrae, Eclogae, Alia, ebenso in Straß-
burg, welche nun Kommilitionen, darunter ausdrücklich Moscherosch, de-
diziert ist. Dieser steuerte auch zwei Geleitepigramme bei, und Furchius
würdigte den wissenschaftlichen Fortschritt seines Freundes in drei Dich-

164 Vgl. A. Schindling (1977), S. 67–77.


165 Vgl. A. Schindling (1977), S. 335–341.
166 Die Korrespondenz ist ausgewertet in W. Kühlmann (1984), S. 112–117.
167 Erste Anhaltspunkte zu Weigel bieten S. Wollgast (1992) u. H. Pfefferl (2003).
168 Herausgegeben und übersetzt in W. Kühlmann (1984), S. 115 f.

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34 A. Einleitung

tungen des Bandes.169 Auch hier finden sich zahlreiche Freundschafts- und
Gelegenheitswerke, so treten neben den Freunden, darunter erneut besagter
Oschwald, die Professoren der Universität in Erscheinung, sei es in Epita-
phien auf den Scholarch – einer der drei Schulherren, welche Finanzen und
Berufungen der Hochschule bestimmten als auch Disziplinarfragen ent-
schieden – Adam Zorn von Plobsheim (im Amt 1618–1623), sei es als
Widmung an dessen Amtskollegen Peter Stork (1614–1627)170 oder den
Juraprofessor und Spezialisten für Feudalrecht Kaspar Bitsch (1579–
1637).171 Neben Brülow findet sich auch Daniel Rixinger, welcher von
1600 bis 1633 als Professor für Philosophie im Amt war und hauptsächlich
über das Organon und die Metaphysik las.172
Vom September 1624 bis zum April 1625 hielt Furichius sich in Genf
auf, wobei sich womöglich hier nochmals die Wege der beiden Freunde
Furichius und Moscherosch, welcher dann nach Frankreich weiterzog,
kreuzten. In der Überzeugung, dort seine Ausbildung zum Arzt nicht weiter
vertiefen zu können, beschloß Furichius, nach Italien weiterzureisen – dies,
obschon sich ein fester Austausch der medizinischen Fakultät Straßburgs
mit Basel und Tübingen etabliert hatte.173 Von den Kämpfen um das Veltlin
gehindert, bezog er zunächst Quartier in Brixen und arbeitete als Hauslehrer
bei einer Offiziersfamilie. Auf die damaligen Umstände spielte er in einem
Geleitgedicht zu Moscheroschs Centuria Prima Epigrammatum an:
Cum me Brixia militem fovebat,
Ad Musas monitis tuis redivi.
Tu, cum Celtica rura permeâras,
Ut vitam excoleres probe futuram,
Ductu, nescio quo, propè incidisti [5]
In Martis laqueos, quod improbabas,
Ni Musa monitu ipsius redisses,
Et pro Marte tibi ipse Martialis,
Et sit reddita Penna pro Bipenni. (Moscherosch Centuria, S. 9)

Als Ziel der Reise stand für ihn Padua – von 1406 bis 1814 der Republik
Venedig zugehörig – fest, welches er in einem Brief als das ›neue Athen‹
pries, und dessen für die damalige Zeit fortschrittlichste medizinische Fa-
kultät ihn lockte.174
Die Universität Padua bestand spätestens seit dem Jahr 1222, bereits
1261 war der erste deutsche Student eingetragen. In der Folgezeit sollte
gerade das Heilige Römische Reich unter den Immatrikulierten aus dem
Norden, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, den größten Teil stellen.
169 Auch hierzu übergab mir W. Kühlmann seine Notizen.
170 Vgl. A. Schindling (1977), S. 80–84 et passim.
171 Vgl. A. Schindling (1977), S. 320 f. et passim.
172 Vgl. A. Schindling (1977), S. 239–241.
173 Vgl. A. Schindling (1977), S. 340.
174 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 116 f.

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8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg 35

Waren bis 1553 die Studenten der Deutschen Nation (darunter etwa auch
Ungarn, Schweizer und Dänen) aller vier Fakultäten zusammen organisiert,
spaltete sich nun, zu neuem Selbstbewußtsein gelangt, die ›natio Germanica
artistarum‹ von den Juristen ab. Sie gab sich eigene Statuten und Siegel und
legte eine eigene Bibliothek an. Die Kirche Santa Sofia wurde zur Stätte
ihrer festlichen Zusammenkünfte bestimmt, und man begann mit einem
eigenen Matrikel. Unabhängig von der allgemeinen Immatrikulation, hatte
sich dort jeder Student binnen zwei Wochen persönlich einzutragen,175 so
auch Furichius am 15. Oktober 1626: »Iohannes Nicolaus Furichius Argen-
tinensis, poeta caesareus, huic sese inscripsit libro, solutis solvendis, 15
octobris anno 1626«.176 Womöglich war es für ihn in Anbetracht seiner
antikatholischen Epigramme und seiner sich in dieser Zeit verstärkenden
Neigung zum Hermetismus nicht unvorteilhaft, daß er als Student der Deut-
schen Nation zugleich die von Venedig (um den Handel nördlich der Alpen
nicht zu gefährden) durchgesetzte Immunität gegenüber der Römischen In-
quisition genoß.
Da leider Näheres über den Studienaufenthalt des Furichius nicht be-
kannt ist,177 soll hier zumindest die medizinische Fakultät seiner italieni-
schen Alma mater näher beschrieben werden. Zu Beginn des 16. Jahrhun-
derts hatte der gebürtige Brüssler Andreas Vesalius (1514–1564) Padua
zum Zentrum der modernen Anatomie gemacht. Sein anhand von Leichen-
sektionen gewonnenes Wissen erschien 1543 als De humani corporis fa-
brica. Er ließ anatomische Tafelwerke drucken, und seine Studenten erwar-
ben ihr Wissen ebenso am Seziertisch. Unter seinen Nachfolgern machte
sich vor allem Girolamo Fabrici d’Acquapendente (1533–1619) um die
vergleichende Anatomie verdient, auch gilt er ob seiner Schriften De for-
matu foetu von 1600 und De formatione ovi et pulli (1621) als Begründer
der Embryologie, wie er zuvor schon das wegweisende De venarum ostiolis
(1603) zum Blutsystem verfaßt hatte. Seit 1533 gab es einen Lehrstuhl für
Pharmakologie, an welchem hauptsächlich Dioskurides und Galen gelehrt
wurden. Doch da man bald erkannt hatte, daß eine eher philologische Lek-
türe der Medizinbücher wenig nutzte, kam es, daß schon 1546 ein eigener
botanischer Garten eingeweiht wurde. Über die hervorragenden Handels-
beziehungen der Serenissima war man in der Lage, exotische Pflanzen zu
importieren und zu kultivieren. Auch hatte in Padua der im Abschnitt zu
den Lehrgedichten erwähnte Veroneser Girolamo Fracastoro, dort ein
Freund und Kommilitone des Kopernikus, studiert und es zum Spezialisten
für Infektionskrankheiten gebracht, wie auch sein Lehrgedicht Syphilis sive

175 Vgl. L. Rossetti (1986), S. IX–XII.


176 Abgedruck in: L. Rossetti (1986), S. 213, Nr. 1738.
177 Nach der Niederschrift dieses Buches gemachte Archivfunde um eine Bücherspende
Furichius’ an die ›Natio‹ in Padua werden gesondert in der Zeitschrift ›Aus dem Anti-
quariat‹ erscheinen.

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36 A. Einleitung

morbus gallicus beweist. Der von Furichius mehrmals in den Scholien der
Chryseis erwähnte Ägyptenreisende Prospero Alpino (1553–1616) hatte
dort von 1594 an einen Lehrstuhl innegehabt und war ab 1603 dem botani-
schen Garten vorgestanden, dessen Ausbau der hervorragende Pharmazeut
weiter vorantrieb.178 Im 17. Jahrhundert wandte man sich unter dem Ein-
fluß der von Galileo Galilei (1564–1642), dort von 1592 bis 1610 Mathe-
matikprofessor, eingeführten wissenschaftlichen Methode des Messens der
experimentellen Anatomie zu. Der theoretische Mediziner Santorio Santo-
rio (1561–1636) bestimmte als erster die Frequenz des Pulses mit einem
Pendelapparat. Der (Wieder-)Entdecker des Blutkreislaufes William Harvey
(1578–1657) hatte ebenso 1602 in Padua seinen Doktortitel erworben.179
Ein Jahr vor der Ankunft Furichius’ war der seit 1619 lehrende Anatom
Adriaan van den Spieghel (1578–1625) verstorben, nachdem er zu Lebzei-
ten den Ruf der Universität als Hauptsitz von Anatomie und Pharmazie
weiter gefestigt hatte. Auch der bedeutende Arzt, Naturforscher und Weg-
bereiter der modernen Wissenschaft Joachim Jungius (1587–1657), hatte
sich dort 1618 promoviert,180 und der genannte Initiator der Rosenkreutzer-
bewegung, Valentin Andreae, hatte dort als Student Station gemacht.181
Es ist anzunehmen, daß die in den Paratexten der Chryseis stattfindende
Diskussion wissenschaftlicher Probleme zwischen einem Aristotelismus,
wie er in Padua gelehrt wurde, und hermeto-paracelsischen Gedanken aus
dieser Zeit herrührt; nicht minder, daß Furichius in Norditalien mit der
Chrysopoeia des Giovanni Aurelio Augurelli in Berührung gekommen
sein muß, welche dem ehrgeizigen angehenden Arzt und erprobten Dichter
eindrucksvoll die Möglichkeit der Ausformung kosmologisch-alchemi-
schen Wissens in versepischer Form vor Augen führte, sowie mit dem
Werk des großen Ariost. So entstand in diesen Jahren Furichius’ – weiter
unter ausführlicher der Chryseis verglichenes – erstes alchemisches Lehr-
gedicht Aurea Catena siue Hermes poeticus de Lapide Philosophorum,
welches 1627 in Padua gedruckt wurde und den ›Häuptern‹ der beiden
deutschen Nationes zugeeignet ist.182
Zu Beginn Jahres 1628 war Furichius schließlich zurück in Straßburg.
Dort schrieb er seine Dissertation unter dem Titel Disceptatio de Phrene-
tide, welche im selben Jahre erschien, und als Tag der Promotion den
1. März nennt. Laut Programma funebre erfolgten die dazugehörigen Feier-
lichkeiten erst im Juni. Noch im selben Jahr heiratete er Marie Barbette,
Tochter des angesehenen Goldschmiedes Josias Barbette. Dieser Schwie-

178 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 3, 28; S. 32, 30–31; S. 48, 9-S, 49, 2.
179 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 11, 22–28.
180 Vgl. Ch. Meinel (1990).
181 Vgl. W. Kühlann (1984), S. 117 f. Einen Überblick über die medizinische Fakultät der
Zeit bieten etwa K. Bergdolt (1994) oder G. Ongaro (2001), S. 164–186.
182 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 118 f.

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9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹ und Rosenkreutzer 37

gervater stammte aus Pfalzweiler bei Lützelstein im Elsaß und erwarb 1603
das Straßburger Bürgerrecht; in der Stempeltafel der Goldschmiedezunft
von 1612 wird er als 1605 aufgenommener Meister geführt. Soweit be-
kannt, sind von ihm nur einige Entwürfe und die Geschäftskorrespondenz
(in deutscher Sprache) seiner Tätigkeit für Erzherzog Leopold V. von Tirol
(1586–1632) aus den Jahren 1628 bis 1632 überliefert. Für diesen fertigte
beziehungsweise verzierte Barbette äußerst kunstvoll Blank- und Feuerwaf-
fen, Jagdausrüstung, Prunkuhren und Hutschmuck.183
Aus der fruchtbaren Ehe gingen bis Herbst 1633 insgesamt fünf Kinder
hervor, drei Mädchen und ein männliches Zwillingspaar, zwei der Töchter
ereilte der Kindstod. Furichius hatte sich damals in Straßburg als Arzt nie-
dergelassen und arbeitete daneben an seinem ambitionierten Hauptwerk,
den Chryseidos Libri IIII, welche 1631 erschienen. Moscherosch, mit
dem er weiterhin sehr gut befreundet war, trug hierfür zwei Glückwunsch-
gedichte bei.184 Angeregt wurde das Werk jedoch von seinem Widmungs-
träger. Dieser war der, von Furichius in der Vorrede als ›teuerster Freund‹
(vgl. CHRYS., S. A2r) bezeichnete, neun Jahre ältere Joachim Morsius,
welchen seine Biographen gerne als das ›Idealbild eines Rosenkreutzers‹
schildern.185

9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹ und Rosenkreutzer

Joachim Morsius kam als jüngster von drei Brüdern am 3. Januar 1593 als
Sohn des Goldschmieds Jakob Mores (auch: Mors, Moers, Mortzen etc.)
und der ebenfalls aus einer Goldschmiedsfamilie stammenden Engel, ge-
borene Kopstedt, in Hamburg zur Welt. Wohlstand und Ansehen dieses
Elternhauses gestatteten ihm eine sorgfältige Schulbildung. 1610 immatri-
kulierte er sich als Student der Theologie in Rostock, widmete sich dann
aber mehr und mehr humanistisch-philologischen sowie alchemischen Stu-
dien. 1611 wechselte er nach Leyden und kehrte über mehrere Zwischen-
aufenthalte 1613 nach Rostock zurück, wo er, der er bereits damals begann,
eine eigene große Büchersammlung aufzubauen, von 1615 bis 1618 als
Bibliothekar der neugegründeten Universitätsbibliothek geführt wird. In-
wieweit diese Funktion allerdings über das Beratende hinausging, ist frag-
lich, fiel doch in jene Zeit eine erste längere Studienreise nach Kopenhagen
und Stettin. In jener Zeit begann Morsius sich für die aufkommende Rosen-

183 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 119; zu Josias Barbet vgl. H. Haug (1978), unpaginiert
›Table II. 1612‹; sowie H. Meyer (1881), S. 219. Eine kurze kunstgeschichtliche Wür-
digung des Goldschmiedes bietet E. Egg (1966).
184 Mit Übersetzung abgedruckt bei W. Kühlmann (1984), 120; vgl. auch meinen Kom-
mentar zu CHRYS., S. A3v morosos istos Catones, aut Solones, letzter Abschnitt.
185 Vgl. H. Schneider (1929), S. 7.

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38 A. Einleitung

kreutzerbewegung zu erwärmen: In einem offenen Brief bat er die Sozietät,


ihm ihre Unterweisung zu gewähren. Daß er nie Antwort erhielt, schmälerte
seine Begeisterung keineswegs. 1617 trennte er sich, nach dem frühen Tod
seines Sohnes, und infolge eines heftigen Zerwürfnisses von seiner Frau.
Eine für das Jahr 1618 geplante Italienreise führte Morsius erneut nach
Leyden. Er blieb bis 1619 in den Niederlanden und setzte im Oktober des
Jahres nach England über. Dort lernte er bedeutende Dichter, wie den ›Bri-
tischen Martial‹ John Owen (1564–1622) und Ben Jonson (1572–1637)
kennen, aber auch den herausragenden Alchemiker und Verfechter des Ro-
senkreutzertums Robert Fludd. Er erwarb einen Master in Cambridge und
kehrte 1620 nach Hamburg zurück. Von da an widmete er sich vornehmlich
alchemischen und theosophischen Studien. Er publizierte zwei Abhandlun-
gen des Alchemikers und frühen Uboot-Konstrukteurs Cornelius Drebbel
aus Alkmar (1572–1633) und widmet diese seinem Freund Heinrich Nolli-
us, dem späteren Giessener Medizinprofessor und frühen Chemiker, von
welchem er ebenfalls Schriften veröffentlichte. In dieser Lebensphase
nahm die Zahl derer zu, welche sich in seinem Album (siehe unten) als
Alchemiker eintrugen; neben bekannteren wie dem Landgrafen Moritz
von Hessen (1572–1632) ebenso sein Bekannter, der Arzt und Mathemati-
ker Joachim Jungius. Doch nicht nur Vertreter der spagyrischen Kunst ge-
hörten zu seinen Freunden und Korrespondenten, sondern auch theosophi-
sche Erneuerer, wie Michael Dilherr (1604–1669), Johann Heinrich Alsted
(1588–1638), Johannes Arndt (1555–1621)186 und natürlich Johann Valen-
tin Andreae. Als die Gründung reformatorischer Zirkel ruchbar wurde, ge-
rieten 1624 Morsius und sein Umfeld in Konflikt mit den Lübecker Behör-
den, weswegen er sich hilfesuchend an den ihm wahlverwandten schlesi-
schen Mystiker Abraham von Franckenberg (1593–1652)187 und dessen
Lehrer Jakob Böhme (1575–1624) wandte. Obschon er in jenem Jahr ei-
gentlich bis nach Afrika zu reisen gedacht hatte, verschlug es ihn erneut
nach Norden, und er verbrachte den Sommer in Schweden. 1629 lernte er
den von ihm verehrten Andreae auf einer Reise nach Süddeutschland, deren
erste Station der Herzog von Braunschweig war, schließlich persönlich in
Calw kennen. Um die Jahreswende von 1630/31 machte er Station in Straß-
burg, wo er die Ärzte Valerius Charstadt und auch Furichius kennenlernte.
Furichius, dessen Aurea Catena Morsius schon früher gelesen hatte, regte
er in gemeinsamen Gesprächen zur Abfassung der Chryseis an. Über
Frankfurt am Main begab er sich über Hamburg zurück nach Lübeck.
Dort wurde er 1633 aufs neue mit schwärmerischen Umtrieben in der Stadt
in Verbindung gebracht und angeklagt. Einige mystische Bücher aus sei-
186 Vgl. zu Dilherr R. Jürgensen (2008) u. R. Evans (1997), S. 233–235; 283–285; zu
Arndt J. Wallmann (2000), zu Alstedt F. G. Sieveke (2008).
187 Vgl. zu Abraham von Franckenberg J. Telle (1989c) u. ders. (2008 f.); die Korrespon-
denz hg. von demselben unter A. Franckenberg (1995) im Literaturverzeichnis.

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9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹ und Rosenkreutzer 39

nem Besitz wurden beschlagnahmt. Während die Untersuchungen und Ver-


handlungen noch andauerten, bemühte sich der ihm verbliebene Bruder
Jakob 1635 um seine Entmündigung, auf daß der weiteren Verschwendung
des väterlichen Erbes durch Morsius’ teure Studien und Reisen, und nicht
zuletzt durch kostspielige Bücherkäufe, ein Riegel vorgeschoben würde. In
der Tat genügte Morsius die Rente aus dem väterlichen Erbe kaum, zudem
nahm er auf den guten Namen seiner Familie überall Kredit auf, oft ohne
seine Schulden jemals zu begleichen. Eine von Morsius gegen seine Ent-
mündigung veröffentlichte Protestschrift verfehlte die Wirkung: 1636 wur-
de er in Hamburg verhaftet und im Pesthof, der Verwahrungsstätte für Gei-
steskranke, festgesetzt. Erst 1640 kam er frei, nachdem Christian IV. von
Dänemark (1577–1648) sich für ihn verwandt hatte. Eine Obhut fand der
Unstete schließlich bei Herzog Friedrich III. (1597–1659) in Gottorp, wo er
vereinsamt und verbittert im Jahre 1643 starb.188 Seine umfangreiche Bi-
bliothek – 1626 gab Morsius einen Katalog heraus189 – kaufte 1648 die
Stadt Lübeck. Von den einst reichen Beständen ließen sich jedoch in den
20er Jahren des letzten Jahrhunderts nur noch fünf als aus dem Besitz von
Morsius identifizieren.190 Das bedeutendste Stück aus dem Nachlaß von
Morsius ist seine erwähnte ›Autographensammlung‹ der bedeutendsten Ge-
lehrten der Zeit: das vierbändige Album Morsianum mit über 800 Einträgen
und mehreren Kupferstichen herausragender Zeitgenossen, welche er auf
seinen vielen Reisen von 1610 an gesammelt hatte. Unter dem 17. Septem-
ber 1631 ist dort auch ein Brief von Furichius inseriert:191
[S. 745]
Lange schon hätte ich Dir, Hochberühmter Morsius, eine Nachricht abgepreßt mit eben-
diesem meinem recht verwegenen Brief, wenn nicht das ganz und gar verlogene Gerücht
durch die Verkündigung Deines jüngsten Geschicks uns Stillschweigen geboten hätte. Da
ich aber vor wenigen Tagen ein Gespräch hatte mit jenem großen Diktator unserer Ge-

188 Vgl. u. a. R. Van Dülmen (1978), S. 154 f.; R. Kayser (1897); W. Kühlmann (1984),
S. 129–131; W.-E. Peuckert (1973), S. 207–216, u. S. 249–253; H. Schneider (1929),
S. 7–72; ebenso Einträge in biographischen Sammelwerken, wie Moller 1 (1744),
S. 440–446; aus jüngerer Zeit R. Hoche (1885) und demnächst J. Telle (2010).
189 Der unter dem Pseudonym ›Anastasius Philaretus Cosmopolita‹ herausgegebene ›Nun-
cius Olympicus‹ findet sich als reprographischer Nachdruck in C. Gilly (1994a),
S. 239–289. Der Katalog verzeichnet 228 Manuskripte, wovon die meisten aus der
Feder des streitbaren Vielschreibers unter den Paracelsisten und Rosenkreutzern, An-
ton Haslmayr, stammen; geboren 1560 in Bozen, wurde er 1612 in Innsbruck wegen
Ketzerei verhaftet und zur Galeere verurteilt, vgl. C. Gilly (1994a), S. 32–67; zum
›Nuncius Olympicus‹ vgl. ebenso H. Schneider (1929), S. 74. Verzeichnisse der übri-
gen von Morsius verfaßten und herausgegebenen Werke finden sich etwa in: Moller 1
(1744), S. 445 f.; H. Schneider (1929), S. 73–78.
190 Vgl. H. Schneider (1929), S. 118 f., Anm. 60.
191 Vgl. R. Kayser (1897), S. 310. Das eindrucksvolle Personenregister des Albums findet
sich in H. Schneider (1929), S. 79–110 – die Transkription des lateinischen Orignal-
textes im 2. Anhang. Die dort griechischen Begriffe sind hier kursiv gesetzt, für deren
Auflösung bin ich Peter Habermehl, Berlin, zu großem Dank verpflichtet.

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40 A. Einleitung

lehrtenrepublik [5] Matthias Bernegger,192 erfuhr ich, worüber ich froh bin, daß Du wohl-
behalten bist, in dem Grade, daß Du mir in meinem Sinn auferweckt von den Toten
scheinst, in der Art eines gewissen neuen Eros Armenios,193 wenn wir dem Plato glauben,
oder Enarchus,194 wenn dem Plutarch, oder schließlich Aristeas Prokonesios,195 wenn
dem Herodot. Wo in aller Welt Du aber steckst, darüber habe ich noch keine Gewißheit.
Nicht hieltest Du Dich an die Versprechungen, wie ich gehofft hatte, bezüglich Deines
Briefes [10] angekündigtem Eintreffen. An Dir liegt es, unser Gemüt von den Hirnge-
spinsten zu befreien, warum es nicht unternommen wurde. Nicht, daß ich nicht wüßte, daß
es im Übermaß gibt, was Dich von überallher in Anspruch nimmt. Weil Du dennoch so
viel an Liebe zu Dir in uns erweckt hast, solltest Du wenigstens dem nach Dir Glühenden
das wütende Verlangen durch ein Wort mildern. Du erinnerst Dich ohne Zweifel, daß, als
Du damals noch mit uns Dich eines Himmels erfreutest, von Dir aus Erwähnung fand [15]
ein gewisses Gedicht von mir, zu Padua niedergeschrieben, über jenen berüchtigten Stein
der Weisen, welches Du zur damaligen Zeit ein Flickwerk statt Neuem nanntest. Gedruckt
ist es in Italien, wie es unter der Feder zustande kam, wobei die Lektüre manniger Au-
toren Hebammendienste leistete. Auf Dein Betreiben hin nahm ich dennoch dieses Wer-
klein erneut in die Hände, erneut ging ich es durch, erneut schuf ich es,
Oft den Griffel wendend, dann, was erneut zu lesen wert,
zu schreiben.196
[20] Dann endlich wird es als so, wie Du es sehen wirst, ans Licht kommen. Ich sollte
freilich zuvor, wie der Dichter anmahnt:
Mit den Tafeln zugleich des redlichen Zensors Herz erfassen197
Ja überhaupt, weil,
Da verschlossen noch das Konzept, ich vernichten dürfte,
was ich nicht veröffentlichen sollte.198
[25] Allein, wenn ich mir vorstellte, daß es einst in dürftigerem Gewand gewagt wurde, in
der Zensoren Augen zu bestehen, darf man sich nun ob zu wenig Ausschmückung nicht
davonstehlen; auf Dein Geheiß vor allem hin, für den der ganze Mythos vollendet wurde.
Nimm daher an, was Dein ist, offensichtlich, denn Du machtest es durch dieses Geheiß
zum Deinigen. Und, sofern irgend etwas in den Worten oder Gegenständen selbst verfehlt
[30] ist, woran ich in der Tat keineswegs zweifle, wende freimütig die Zensorenrute an,
welche ich in einem solchen Labyrinth anstelle eines Ariadnefadens gelten lassen will.
Wie es hoffentlich, wie in diesem, so bei meinen anderen Studien und Überlegungen
192 Zu Matthias Bernegger vgl. A. Schindling (1977), S. 279–289, 378–382 et passim;
sowie W. Kühlmann (1982), S. 118–135.
193 Nach Plat. R. 10, 8; 614b-615c wird Eros, Sohn des Armenios, als man nach zehn
Tagen die Gefallenen vom Schlachtfeld räumt, noch unverwest aufgefunden. Am
zwölften Tage erhebt er sich vom Scheiterhaufen, um von seinen Erfahrungen im Jen-
seits zu berichten.
194 Furichius bezieht sich bezüglich dieses Widergängers nicht direkt auf Plutarch, bei
welchem ein ›Enarchos‹ nicht aufzufinden ist, sondern auf Ficinos Schrift zur ›Un-
sterblichkeit der Seelen‹ – dort im 13. Buch: »Enarchus, inquit [Plutarchus], nuper
aegrotans tamquam iam mortuus a medicis fuit relictus, et brevi tempore in seipsum
[sic] postea reductus dicebat se mortuum fuisse et in corpus iterum restitutum [etc.]«
(Ficino Theologia, S. 219).
195 Bei Herodot (vgl. Hdt. 4, 13 f.) ist Aristeas aus Prokonnesos ein Dichter, der in einem
Werk behauptet, er sei von Apoll inspiriert bei einem Volk namens Arimaspi jenseits
der Hyperboreer gewesen. Tatsächlich war er vor der Abfassung, nachdem er scheintot
in einer Walkstube zusammengebrochen war, sieben Jahre lang spurlos verschwunden.
Und auch nach der Veröffentlichung des Poems wurde er nicht mehr gesehen.
196 Nach HOR. sat. 1, 10, 72 f.
197 Nach HOR. epist. 2, 2, 110.
198 Frei nach HOR. ars. 389 f. Die Übersetzung folgt derjenigen E. Schäfers in Horatius
(2008).

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9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹ und Rosenkreutzer 41

gestattet sein möge. Gewiß lerne ich erst zu leben und, um es so zu sagen, mit umge-
wandter Ferse den neuen Weg zu beschreiten, dennoch unsicheren Fußes, wie es jene zu
tun pflegen, die aus dem Schlaf aufgeweckt sich zur Reise gürten; [35] noch in tiefer
Dämmerung. Ich beginne, sage ich, mich vor jenen Kleingeistern zu ekeln, deren Worte
und Werke, nicht Menschen gehören sondern Ameisen:
Ich platze! Fast meint man, es brüllten Arkadiens Herden.199
In dem Maße bellen sich die Besseren an, und selbst unruhig stören sie alle Ruhe mit
ihrem Gekläff. Dasjenige, welches wir Gott schulden, maßen sie sich an. Was [40] soll ich
mit den Faslern? Doch, was lege ich mich mit jenen Metrikern an? Esel werde ich rascher
zum Fliegen bringen oder einen Äthiopier weißwaschen, als ich diese da ändern werde.
Aus dem Grunde, so lange es möglich ist, laß uns emportauchen aus diesem Menschen-
dreck, laß uns in um so helleres Licht unsere Geister stellen. Laß uns leben erhaben in
königlicher Würde, auf dem Thron der hohen heiligen Wahrheit ruhend. Bereitet ist uns
der Weg; dargelegt von vielen, geheim dennoch

[S. 746]
gehalten, und einzig den glühend Strebenden aufgezeigt. Wenn er, wie man sagt, bekannt
ist, dann einer gewissen sogenannten Rosenkreutzerbruderschaft. Deren Ruf und Herr-
lichkeit, wenn Worte und Werke nicht entsprechen, könnte bei Dir, bei anderen den An-
fang nehmen. Auf staunenswert Weise fürwahr gefiel Dein Urteil über die heiligen Dinge,
um so mehr, desto [5] näher es den Sterblichen zu Gott herausführt, und, nachdem die
schmutzige Häute des Leibes verlassen sind, den Geist zu Höheren antreibt, indem es von
unten dränget, oder vielmehr die Liebe Gottes beschwört. Die Alten bereiteten uns einen
Weg. Denn sie lehrten glücklich jenes zu verachten, welches nicht zum Menschen gehö-
ret, damit wir um so sorgfältiger jenem zu Glanz verhelfen, was in der Tat ausmacht ein
Mensch zu sein. Oft erblickte ich staunend das Licht Epiktets in solcher [10] Finsternis,
und pries ich bei mir denjenigen glücklich, welcher jene überdacht hatte, sich selbst
glücklicher gemacht hatte; wir gleichermaßen glücklich, wenn wir nacheifern, fürwahr
glücklicher, weil wir den ewigen Sohn unseres unaussprechlichen Gott haben, der über
dies hinaus seligeres Naschwerk des Geistes darreicht: Gottes Wort selbst bringt das
großes Landgut der gewaltigen göttlichen Weisheit. Die Liebe selbst verkündigte die
Liebe, erwirkte sie, brachte sie hervor. Fürwahr durch seinen Geist [15] des völlig Glück-
lichen gab er unseren Geistern zu trinken seine nektarsüße Wonne in einzelnen Augen-
blicken. Dies ist unsere Philosophie: oder jede andere, die darauf Bezug nimmt. So wird
berichtet, daß Marsilio Ficino, nachdem er beinahe aller Wissenschaften Feinheiten er-
schöpft hatte, einzig bei der Lektüre der Heiligen Schrift seine Ruhe gefunden hat. Wenn
wir dennoch darüber hinaus irgend etwas verfolgen, wollen wir Alles tun, um unseres
Gottes Ruhm [20] zu verbreiten, die Güte unters Volk zu bringen, die Macht zu preisen.
Ach, wieviel dieser Zeit ist übel vertan von vielen in der Literatur glänzenden Männern.
Denn so viel an menschlicher Weisheit verliehen ist, so viel ist fortgenommen an gött-
licher. Die meisten von uns streben nach Lob aus anderer Gebeugtheit, oder aus den
Trümmern eines anderen Namens oder Schelte errichten wir den Unsrigen. Doch, um
zu uns zurückzukehren, damit wir nicht ebenso [25] den Eindruck erwecken, allzu be-
triebsam beim eifrigen Vortragen der Schlechtigkeiten anderer scheinen. Ich möchte,
wenn ich es irgend verdiente, Deiner Güter teilhaftig werden. Ob Du dem Vulcanus Opfer
darbringst? Ob Du etwas herausgefunden hast beim Entlocken jener Seele des Goldes?
Wenn Du ebenso die Art, [es] in seine Principia aufzulösen, in Erfahrung gebracht hast,
daß Du sie wenigstens mitteiltest. Ich habe soweit nichts versucht, wie sehr ich auch
überzeugt bin, etwas zustande zu bringen, wenn ich mich daran mache. Unterdessen lok-
ke ich Heilmittel von überall her heraus, ja [30] mit dem Aesopischen Hahn wühle ich
sogar aus dem Misthaufen Juwelen, und, was sonst geglaubt wurde, daß es durch Feuer
nicht hervorgebracht würde, mache ich der dessen Macht gefügig. Alle (man muß es

199 Übersetzung von PERS. 3, 9 durch W. Kißel, in: Persius (1990).

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42 A. Einleitung

nämlich zugegeben) sind zu gewerbsmäßiger Heilkunst geeignet; und dies aus Notwen-
digkeit. Es wächst die Familie, und noch nicht kam irgendwoher eine Erbschaft, es drückt
der Unterhalt, auch ist etwas für die Schutzmacht zu entrichten. Der hiesigen Ärzte Söhne
Schar hat dahingehend zugenommen, daß es beinahe [35] so viele Kranke wie Ärzte gibt.
Doch was von allem am meisten schändlich ist: Nach Quacksalberbrauch machen sie aus
der Medizin eine Hure: Mist verkaufen sie gegen Gold, mit Worten bezwingen sie die
Krankheiten, nicht mit Kräutern. Dann erst wehen die geschwollenen Windbeutel Lügen
aus. Kurz: Alles geht so drunter und drüber, so daß ich fürwahr mit dem Dichter ausrufen
wollte:
[40] Ach der Menschen Bemüh’n, ach viel auf der Welt ist eitel!200
Dies ist dennoch zu ertragen, sofern, wie der Komödiendichter sagt, die unsterbliche
Götter wollten, daß wir diese Plackerei ausführen. Es schickt sich, es ruhigen Gemüts
zu erdulden, wenn wir es so halten werden, wird die Mühe leichter sein. Es ist zwar,
wie er sonst lehrt, Gleichmut der Plackerei bestes Gewürz. Doch diese Lehre war schick-
licher aus den Prophezeiungen unseres Heilands

[S. 747]
zu entnehmen. Zu all dem kommt das allgemeine Unglück hinzu, die Unbill des Krieges,
welche bisher so an Gewalt zunahm, daß wir einzig durch die Kunde niedergeschlagen
nur zur Aufgabe nicht bereit sein werden. Für glücklich halte ich oft meinerseits die
Magdeburger, und mit Mühe halte ich mich zurück, daß ich nicht mit Aeneas bei Vergil
ausrufe:
[5] O dreifach ihr und vierfach Beglückte,
denen vergönnt war, einst vor Trojas ragenden Mauern
vor den Augen der Väter zu sterben.201
Wenn ich den Zustand unseres Gemeinwesens betrachte, ahne ich unausweichliche Ge-
fahr: wenn [auch nicht] die Bürger den Krieg im Inneren [führen], wenn er auch nicht mit
Waffen entschieden wird, haftet in den Seelen dennoch [10] unheilbare Feindschaft. Wenn
ich Gründe nennen werde, wirst Du sie wiedererkennen. Ich höre, daß die Eurigen im
nämlichen Kot steckengeblieben sind. Mögen die Götter gute Gesinnung herbeiführen.
Doch was geht uns das alles an. Es gibt, außer in der Einbildung, keine Übel. Man
muß sich mühen mit jener Tugend der Stoiker, welche sie Unempfindlichkeit nennen,
der Geist ist zu sich selbst zurückzurufen. Du machst das alles besser. Mir nur war dies
von mir einzutrichtern. Dich vor allem halte ich gerade für einen, der Du viel ergänzen
könntest; [15] so wie es, in meinem Vertrauen, gewiß geschehen wird, im nächsten Brief,
wenn Du nicht allzusehr durch Geschäfte abgelenkt sein wirst. Lebe wohl, aber dies doch
so, daß es mir bald wohl ergeht! Niedergeschrieben zu Straßburg, den 17. September, im
Jahre des Heils 1631.
Deiner Erhabenheit
größter Verehrer
Johannes Nicolaus Furichius
Doktor der Medizin und Kaiserlicher Dichter

Wie das Schreiben Zeugnis vom unsteten und anrüchigen Wanderleben des
Morsius ablegt, so erhellt es nicht minder die Entstehungsumstände der
Chryseis als die durch den Hamburger angeregte Überbearbeitung der Au-
rea catena, welche Morsius mit Winken zum Alchemischen mündlich und
später schriftlich begleitete. Zugleich geht aus dem Brief hervor, daß Furi-
chius zwar über Morsius der Rosenkreutzerbewegung, vor allem in ihrem
theosophischen Impetus, nahestand, ja sich Großes von ihr erhoffte, selbst
200 Übersetzung von PERS. 1, 1; nach W. Kißel, in: Persius (1990).
201 VERG. Aen. 1, 94–96; Übersetzung nach J. Götte (1988).

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9. Exkurs: Joachim Morsius – ›teuerster Freund‹ und Rosenkreutzer 43

aber nicht in jene Zirkel eingebunden war. Auch läßt sein Konflikt mit der
als störrisch empfundenen protestantischen Orthodoxie – welche sich an-
maße ›vorzuschreiben, was wir Gott schulden‹ – nicht erkennen, ob er der
sich auf Paracelsus berufenden, ›Theophrastica Sancta‹ genannten Gruppe
religiöser Sektierer zuzurechnen ist.202 Doch nicht nur mit seinem Gewis-
sen sondern auch mit dem Vorhaben, den Hermetoparacelsimus im ehrwür-
digen Hexameter ein Denkmal zu setzten, scheint er – ›Was lege ich mich
mit jenen Metrikern an?‹ – in gewissen Straßburger Gelehrtenkreisen auf
Ablehnung gestoßen zu sein. Wie aus den diesbezüglichen Bitten um die
Mitteilung von Arkanwissen und Winken zur Transmutation hervorgeht,
war er jedoch selbst (sofern es sich nicht um affektierte Bescheidenheit
handelte) während der Abfassung seiner beiden alchemischen Lehrgedichte
nicht mit spagyrischen Experimenten beschäftigt. Seine Labortätigkeit be-
schränkte sich damals – und bis zu seinem frühen Tode dürfte sich sowohl
in Anbetracht der Säumigkeit des Adressaten als auch seiner prekären Fi-
nanzlage wenig geändert haben – höchstwahrscheinlich auf die Herstellung
iatrochemischer Präparate. Durch deren Verkauf und seine Tätigkeit als
Arzt hatte er sich, seine Frau und die Kinder durchzubringen: eine Aufgabe,
die in Anbetracht der von Furichius beklagten Mißstände, der widrigen
Konkurrenz der Kurpfuscher und der, auch im Programma funebre erwähn-
ten, Überversorgung der Universitätsstadt mit Medizinern sicherlich nicht
leicht fiel. Zu diesen Alltagssorgen kamen die steigende innere Unruhe der
Stadt und die allgemeine Kriegslage. Hierbei schlägt gerade dem Refor-
mierten die Einnahme des protestantischen Magdeburg, das vergeblich
auf die Entsetzung durch Gustav Adolf (1594–1632) gehofft hatte, durch
den Feldherrn der Katholischen Liga Tilly (1559–1632) am 20. Mai dessel-
ben Jahres auf das Gemüt: Im Zuge von Beschießung, Erstürmung und
Plünderung waren schätzungsweise 20.000 Zivilisten, mehr als die Hälfte
der Einwohner, umgekommen; die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht.
Solch traurige Geschehnisse waren vor allem in Flugblattpropaganda der
Reformierten barbarisch ausgemalt worden.203

Dies also waren die Entstehungsumstände der Chryseidos libri IIII. Doch
selbst des Ruhmes dieser Dichtung konnte Furichius sich nicht lange er-
freuen. Als 1633 einmal mehr die Pest in seiner Vaterstadt ausbrach, for-
derte die Seuche von der besonders gefährdeten Ärzteschaft einen hohen
Zoll. Furichius infizierte sich und starb am Abend des 14. Oktober 1633 in
seiner Wohnung in der Münstergasse. Das Leichenbegängnis fand 17. Ok-
tober statt. Das zu diesem Anlaß gehaltene Programma funebre des nunma-
ligen Akademierektors und konservativen – mit keiner Silbe erwähnt er des
202 Vgl. hierzu C. Gilly (1994b).
203 Eine Übersicht gibt M. Puhle (1998), S. 236–265; auch sei auf die anderen Beiträge
des Bandes verwiesen.

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44 A. Einleitung

Toten hermetoalchemische Neigungen – Theologen Johann Schmidt


(1594–1658) ist im Druck überliefert:204
DER REKTOR
DER STRASSBURGER AKADEMIE
JOHANN SCHMIDT205
DOKTOR DER HOCHHEILIGEN THEOLOGIE,
ÖFFENTLICHER PROFESSOR UND DES CONVENTVS
ECCLESIASTICUS VORSITZENDER,
Entbietet den Mitgliedern der Akademie seinen erbietigsten Gruß.
Wir schienen bisher mit dem Überfluß an Ärzten unsere Not zu haben, ob des Ausblei-
bens der Kranken. Es schienen manche Ärzte Armut zu leiden, da es wenige waren, die
Beistand verlangten oder erwünschten. Nun ist es soweit gekommen, daß, indem die
Seuche einer gewissen todbringenden Krankheit unsere Bürgerschaft entvölkert, wir bei-
nahe mit dem Mangel an Ärzten unsere Not haben. Denn aus jener Gemeinschaft sind
nicht der eine oder der andere, sondern innerhalb weniger Monate mehrere dem Schicksal
erlegen. Nachdem gleichsam das Haupt und erste Wurzel, ihr Vorstand, Herr RIXIN-
GER206 treuen Andenkens, abgetrennt war, drang das gegenwärtige Übel auch in die
restliche Körperschaft ein. Es verschlang den Herrn Doktor STEINIGER, wenig später löste
es den äußerst berühmten Arzt und Mathematiker Herrn Doktor HABRECHT aus dem
Gefüge der Körperschaft. Nun drang es mit schleichendem Gift ebenso zum äußerst be-
wanderten und äußerst berühmten Herrn Doktor JOHANNES NICOLAUS FURICHIUS,
Doktor der Philosophie und der Medizin wie auch Praktischer Arzt in dieser Stadt nicht
ohne Erfolg, der, als er zum Verlassen dieses Lebens gerufen wurde, am 14. Oktober zwi-
schen der 4. und 5. Abendstunde, jene Anrede207 des Dichters ebenso auf sich bezog:
Zurückzulassen ist die Erde, das Haus, das gütige
Weib. Und von jenen, die Du pflegst, Bäumen,
Wird Dir, außer den verhaßten Zypressen,208
Kein einziger, als dem kurzlebigen Herren, folgen. [HOR. carm. 2, 14, 21–24]
Zwar kamen ihm Heilmittel im Überfluß zu, aber diesen gab die Gewalt des Schmerzes
nicht nach, und sie widerstand, und, nachdem sie sich der Quelle des Lebens bemächtigt
hatte, raffte sie den Mann, der mitten in der Blüte seiner Jahre stand (er hatte nämlich
eben erst das dreißigste Jahr vollendet), hinweg. Damit ich sein ganzes Leben in Kürze,
wie es sich für eine Rede gehört, auf diese Weise zusammenfasse: In Straßburg wurde
jener geboren, von französischen Eltern, JOHANNES NICOLAUS FURICHIUS, ehemals
Bürger und Schreibzeugmacher,209 und die Mutter ELISABETH HUASCHIN; und daher
sog er die französische Sprache als seine Muttersprache mit der Milch in sich auf, unsere
deutsche lernte er vollkommen in den Straßen, auf dem Markt und in der Schule. Denn
von unserem GYMNASIUM in jeder Hinsicht war er Zögling, an den Tag legte er unge-
wöhnliche Zeichen einer herausragenden Begabung. Hinzu kam der Fleiß, weshalb er bei
der Klassenversetzung oft die Schar anführte, niemals zuletzt kam. Als er daher zu öffent-
lichen Vorlesungen zugelassen worden war, widmete er sich ihnen mit Klugheit und
Leidenschaft, und aus jenen Beschäftigungen erwuchs ihm dreifach der Lorbeer, zuerst
204 Der lateinische Text im 3. Anhang.
205 Bedeutender evangelischer Theologe (1594–1658); als Rektor maßgeblich für die Hin-
wendung der Straßburger Hochschule zum orthodoxen Luthertum verantwortlich; W.
Kühlmann u. W. Schäfer (1983), S. 130–160; ein umfangreiches Schriftenverzeichnis
bietet Zedler 35 (1743), Sp. 378–381.
206 Welchem Furichius ein Epigramm widmete, siehe oben.
207 Griechisch.
208 Für den Scheiterhaufen.
209 Zur Berufsbezeichnung des Vaters ›atramentariorum opifex‹ vgl. W. Kühlmann
(1984), S. 111; sowie Forcellini 1 (1860), S. 458.

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8. Furichius: Arzt und Dichter in Straßburg 45

der Philosophische, dann der zweite zusammen mit der Dichtkunst, nicht ohne das größte
Lob. An Milch nämlich und Honig war er überreich, wie jener sagt. Ihm wurde das Wesen
der Wortgewandtheit im Überfluß zuteil, welchem er den Eifer und die arbeitsame An-
strengung hinzufügte, Diese zwei nämlich * so machen sie auch den Dichter aus; aus dem
Grunde Horaz:210
Ob durch Naturtalent eine Dichtung Beifall erring oder durch Kunstverstand,
Hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne fündige Ader
Oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe
Des anderen und verschwört sich mit ihm in Freundschaft.211
Obgleich er aber in dieser Studiengattung, als der Muße Ergötzlichkeit, vortrefflich war,
wollte er dennoch weder an jenem einen gemessen werden, noch darin Bug und Heck der
Studien verankern; sondern fürder richtete er den Sinn auf das äußerst nützliche Studium
der Medizin, auf welche er nicht nur hier, sondern auch in Genf und Padua fürtrefflich
seinen Fleiß verwandte. Von der Reise zurückgekehrt, wurde er an dieser seiner heimi-
schen Akademie mit der Doktorenwürde ausgezeichnet, im Jahre 1628, im Monat Juni.
Welchem er die Würde des Ehestandes hinzugesellte, welchen er einging im nämlichen
Jahre mit der äußerst Sittsamen Jungfer MARIA BARBETIN, des vortrefflichen Herrn
JOSIAS BARBETTES, Goldschmiedes, Tochter. Aus welchem Ehebund er fünf Kinder
empfing, Zwillingsknaben, die bisher überlebten, drei Töchter, von welchen eine noch am
Leben ist. Dies ist des recht kurzen Lebens des Furichius kurzer Abriß. Der Gemeinschaft
unserer Studenten schulden wir die letzte Ehre, wir schulden das Leichenbegräbnis all
jenen, die einmal Mitglieder unserer Akademie gewesen sind. Vor allem jedoch, was
wir bereits häufiger in eben diesen Wochen anmahnten, gehört es sich aus dieser Verdich-
tung der Todesfälle, welche wir täglich vor Augen haben, für alle Stände Ansporn, das
Leben zu bessern, zu schöpfen. Es verdienten Sünden das Schwert, durch das soviel
tausende bereits zugrunde gingen, sie verdienten den Hunger, der, wie er viele andernorts
nach langer Marter verzehrte, so auch bereits an unsere Tore pocht. Sie verdienten eben
diese Geißel der Pest, vor welcher wir verdientermaßen schaudernd zurückschrecken, da
wir mitanschauen, wie Greise, Jünglinge, Gelehrte, Ungelehrte, Gemeine, Adlige, in gro-
ßer Zahl daselbst vernichtet werden. Die Sünden in aufrichtigen Tränen der Reue zu
beklagen, auf daß sie durch die Göttliche Gnade getilgt werden, damit nicht, wenn wir
säumig sind und träge bei der Umkehr, aller Sicherheit Verkehrung nachfolgt. Ich füge an,
welche ich lange im Blick habe, die Worte des Ambrosius aus der 85. Predigt, Band 3,
Seite 311, am Ende: »Einer Stadt wird nur aufgrund der Sünden der Bürger der Untergang
auferlegt, laß’ daher ab zu sündigen, und die Stadt wird nicht untergehen.«212 Laßt uns
hinzufügen glühende Gebete, welche die Macht haben zu binden den Unbezwingbaren
und zu bezwingen den Allmächtigen. Möge unter uns zahlreich jenes allerdemütigste
[Lied] vernommen werden:
Laß ab, Herr, von Deinem furchtbaren Zorn
Und halte ein mit der blutigen Geißel und eile nicht,
Mit gerechtem Richterstab zu strafen unseren Frevel.
Wenn gerechte Strafen empfangen unsere Übeltaten,
Wer kann aushalten die schrecklichen Schläge,
Da er doch nicht ertrüge
Die mit solcher Gewalt strafende Zuchtrute.
Laß doch ab von unserer Schuld,

210 An der mit Asterisk markierten Stelle weist das ›Programma‹ einen etwa fünf Silben
langen Riß auf.
211 Nach HOR. ars 408–411. Die Übersetzung folgt derjenigen E. Schäfers in Horatius
(2008).
212 In einer anderen zeitgenössischen Ausgabe die 85. Predigt ›De Barbaris non timendis‹;
vgl. Ambrosius, S. 900–902.

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46 A. Einleitung

Dich erbarmend und gnädig Recht


Vereinigend mit gleicher Güte.
Du dem es eigen ist, die böse Welt zu schonen.213
Es wird denn der Leichnam des verstorbenen Herrn Doktors heute die 9. Stunde des
Vormittags aus dem Hause getragen, welches er zu Lebzeiten bewohnte, in der Gasse,
welche nach dem höchsten Gotteshaus benannt ist (in der Münstergassen), gelegen,
Gegenwärtig den Gegenwärtigen, den 17. Oktober des Jahres 1633.
ZU STRASSBURG führte es aus Wilhelm Christian Glaser, Drucker der Akademie.

In der jüngeren Forschung fand Furichius kaum Nachhall. Bevor Wilhelm


Kühlmann ihn in den 1980er Jahren gleichsam wiederentdeckte, wurde er –
wie es scheint – nur kurz in der Jubiläumsschrift des protestantischen Straß-
burger Gymnasiums von 1888 gewürdigt. Ansonsten finden sich in den
großen wie kleineren Sammelwerken nur verstreute Notizen.214 So ver-
zeichnet auch Karl Christoph Schmieders Geschichte der Alchemie von
1832 ihn nur am Rande des Eintrags zu Michael Maier mit teils falschen
Angaben: »Johann Nikolaus Furich schrieb: De Lapide philosophico, seu
Chryseidos Lib. IV. Ohne Druckort, 1622, 8. Eine zweite Ausgabe: Argen-
torati, 1631, 4.«215

10. Die Chryseis: Struktur

Die Chryseis besteht unerachtet der Gliederung der Bücher grundsätzlich


aus zwei Darstellungskomplexen: einem kosmologisch-alchemischen Lehr-
gedicht, welches das erste Buch darstellt, und einem, die anderen drei Bü-
cher umfassenden, episch-narrativen Teil, dessen spärliche Handlung den
Rahmen zweier Visionen und der jene erklärende Protagonistenrede bietet.
Der narrative Teil integriert in sich weitere Passagen alchemischer Kom-
mentare des in den Visionen allegorisch geoffenbarten Großen Werkes,
welche wiederum für sich über ein Geflecht mannigfacher Bildbezüge,
Rückgriffe und Praeparationes mit dem übrigen Werk dicht verwoben sind.
In der folgenden Strukturanalyse wird daher, soweit sie geeignet er-
scheint, die von Furichius durch Absätze und Paratexte, vor allem die
vier Argumenta und die Glossen, vorgenommene Einteilung mit entspre-
chenden, hier kursivgestellten, Bezeichnungen übernommen. Da aber ge-
rade ab dem dritten Buch ein- und derselbe Gegenstand mehrfach mit unter-
schiedlichen Allegorien über längere Abschnitte gedeutet wird, werden jene

213 Ursprünglich die ›Ode Sapphica irae divinae deprecatrix‹ des Matthias Bergius (1536–
1592), abgedruckt in G. Scipione (1613), letztes Blatt. Sie wurde später berühmt in der
Vertonung durch Heinrich Schütz, SWV 337; vgl. H. Schütz (1963), S. 93–114; und
Hinweise S. 115–117; ebenso Zedler 3 (1733), Sp. 1271.
214 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 119, Anm. 49.
215 K. Ch. Schmieder (1932), S. 354 – in der Neuauflage des ›Killy Literaturlexikon‹
findet sich nun ein Artikel; vgl. Reiser (2009b).

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10. Die Chryseis: Struktur 47

Passagen unter Nennung der vorherrschenden Bildbereiche zusammenge-


faßt. Auch wird, sofern ein Passus eindeutig Adaption einer Quelle ist –
sprich: Versbearbeitung der Scholien des Tractatus aureus oder besagter
Hymne Ronsards – dies in eckigen Klammern angegeben:
S. A1v Epigramm: Ad Lectorem de Aufidio.
S. A2r–A3v Praefatio, Widmungsbrief an Joachim Morsius.

S. 1–13 Liber I:
Alchemo-Kosmologisches Lehrgedicht, darin der Ich-Erzähler in
der Rolle des Lehrers die direkt angesprochenen Leser unterweist;
von den Gestirnen stufenweise und unter zunehmender Verdeutli-
chung der spagyrischen Bedeutung des Beschriebenen ins Erdinnere
hinabsteigend.

S. 1 – 2, 1 Exordium: Anrufung Apolls, als Musenführer und Metallgottheit, Er-


klärung des dichterischen Ansinnens: Anleitung zur Wiedererlangung
der verlorenen Kunst Chymia, welche den Einblick in die Geheim-
nisse der Großen Mutter Cybele gewährt.
S. 2, 2 – 3, 6 Die Gestirne und ihr Lauf:
Historischer Abriß der Astronomie und deren Pervertierung zur Stern-
deuterei als Parabel vom dreifach unternommenen Himmelsturm einer
ambitiosa cohors: Giganten des Mythos, griechische und arabische
Weise; abschließende Verdammung der Astrologie als vana supersti-
tio.
S. 3, 7 – 4, 1 Meteora und Erdoberfläche: Pflanzen, Anatomie des Menschen, Ent-
stehung und Wachstum; unter beständiger Vergleichung von Makro-
und Mikrokosmos, etwa des Blutkreislaufes mit dem Okeanos.
S. 4, 2 – 5, 29 Erdinneres: Nachdem die rastlose ambitiosa cohors die Meere durch-
schifft hat, dringt sie ins Reich der Cybele ein, findet dort die sieben
Metalle und den alchemischen Schwefel.
S. 4, 22 – 5, 14 Allegorie des Strebens aller Metalle zur Vollkommenheit des Goldes.
[= Adaption von Ronsards Hymne d’Or]
S. 5, 15 – 29 Die alchemische Gewinnung des Samens des Goldes als Entspre-
chung dieses Strebens bei den Sterblichen.
S. 5, 30 – 7, 4 Mehrmalige Ermahnung zur Frömmigkeit, ohne die das Werk nicht
gelingt: die nova gens gottesfürchtiger Weiser in Antithese zu atheis-
tischen Frevlern; illustriert mit abschreckenden Bildern des Scheiterns
im Mythos, wie Palinurus und Prometheus am Kaukasus.
S. 7, 5 – 20 Darlegung der Mixtionis doctrina: Die nova gens erforschte Verhält-
nis und Gesetz der vier Elemente und der Principia, indem sie ›das
Gewebe der Natur aufwirkte‹.
S. 7, 21 – 10 Excusatio Chymicorum de nominum diversitate: Entschuldigung der
Decknamen, technischen Termini wie auch der geometrischen Sym-
bole.
S. 8, 11–9, 14 Versifizierte Ekphrasis und Deutung geometrischer Symbole [dem
Tractatus aureus entnommen], unter Verwendung der Bildlichkeit
des alchemischen Ackerbaus: Kreis im Kreis, Dreieck, Viereck, die
jene drei vereinende Figur als Sinnbild des ganzen Opus.

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48 A. Einleitung

S. 9, 15 – 23 Mercurius als das alchemische Wasser, welches sich aus drei (Princi-
pia) und vier Teilen (Elementa) zusammensetzt; Bilder von Nymphen
und Naß.
S. 9, 24 – 10, 13 Septenarii numeri laus: Lob der Siebenzahl anhand von Beispielen
ihres Vorkommens in Kosmologie und Medizin.
S. 10, 14 – 28 Erklärung der Analogie zwischen Alchemie und Ackerbau; mit my-
thoalchemischem Ornat, wie dem Goldenem Vlies und dem Hesperi-
denbaum.
S. 10, 29 – 11, 16 All dies bezeichnet Mercurius und das Opus; weitere Bilder: Phoenix,
Sol und Luna.
S. 11, 17 – 12, 3 Ankündigung des Autors, all dies dem Leser vor Augen zu führen;
Vergleich des Wachstums der Metalle mit demjenigen der Korallen.
S. 12, 4 – 22 Synkretismus mehrerer Naturphilosopheme: Radius Mundi, Calor,
Amor, Venus, Anima Mundi, welche allesamt den Mercurius bedeu-
ten.
S. 12, 23 – 13, 2 Dessen weitere Beschreibung; Verwerfen vulgärer Vorstellungen; wei-
tere Decknamen, wie Kreide und Drachblut.
S. 13, 3 – 16 Schau in das Innere der Erde: dramatische Schilderung des Waltens
des Weltgeistes bei der Erzeugung der Metalle; Vergleich seiner Ge-
walt mit dem Scheitern auf See.
S. 13, 17 – 19 Abschließende Ermahnung der Leser, das Wachsen und Werden der
alchemischen Pflanze zu studieren.

S. 13–56 Libri II–IV


Episch-narrativer Teil: Der Ich-Erzähler, Chrysanthus, berichtet von
seinen vergangenen Erlebnissen in der Lybischen Wüste, wodurch der
Rahmen für seine Visionen und deren Deutungen (alchemische Kom-
mentarreihe) durch den Greis, als Einführung in die Mysterien der
Chryseis, vorgegeben wird.

S. 13–24 Liber II: Vision des Raben, Begegnung mit dem Greis, Gespräch bis
Sonnenuntergang.
S. 14, 0 – 5 Bericht des Ich-Erzählers, wie er einst in der Lybischen Wüste an den
Berg gelangte, auf dessen Spitze ein sprechender Rabe saß (Phasma).
S. 14, 6 – 16, 6 Rede des Vogels:
S. 14, 6 – 14 über sich selbst: Dreifarbig versinnbildlicht er das Opus,
welches Mercurius als alchemisches Wasser hervorbringt.
S. 14, 15 – 16, 6 Anleitung, den Drachen, welcher die Schätze auf der
Spitze des Berges bewacht, mit bereiteten Giften (Menstrua) zu quä-
len und dann in Heilschlaf zu versetzen, um Zugang zu erlangen.
[= Versbearbeitung einer Scholie des Tractatus aureus]
S. 16, 7 – 19 Farb- und klangliche Metamorphose des Raben, Auftritt des Senex.
S. 16, 20 – 17, 10 Begrüßung und Vorstellungsrede des Greises: sein heiligenmäßiger
Wandel, und wie er von Gott geleitet an jenen Berg in der Wüste kam.
S. 17, 11 – 28 Beginn der Einführung in die Mysterien: Ermahnung zur Frömmig-
keit, erneut Bilder der Navigation (Gott als Leitstern) für den Alche-
miker, welcher sonst scheitert; Welterkenntnis als Gotteserkenntnis.
S. 17, 29 – 18, 28 Geheimwissen einst in Hieroglyphen und Mythen (miris figuris, lo-
cutio aenigmatica) verborgen, die sich nur durch Göttliche Gnade er-

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10. Die Chryseis: Struktur 49

schließen, Verdammung der Hoffart, Ermahnung zur Verschwiegen-


heit; Lektüre der Autoren.
S. 18, 29 – 19, 23 Expositio phasmatis: fabula de Chryseide – der alchemisierte Chrys-
eis-Proserpina-Mythos: Die geraubte Tochter der Ceres kehrt alljähr-
lich auf den Berg zurück, wo ihre Burg stand. Als Vegetations-Metall-
göttin unterweist sie dann die Ackerbauern-Alchemiker. Für die Zwi-
schenzeit hinterließ sie ihre Geheimnisse im nahen Heiligtum.
S. 19, 24 – 20, 7 Schilderung der Chryseis und ihrer Dienerinnen bei der Erzeugung
des Chrysolith (lapis Philosophorum) im Erdinnern, und dessen
Macht.
S. 20, 8 – 26 Erklärung des Raben und dessen Verwandlungen.
S. 20, 27 – 21, 2 Erklärung des Drachens und dessen Betäubung.
S. 21, 3 – 17 Raritas virorum chemicorum: Erneute Ermahnung mit Bildern des
Scheiterns auf See, Ankündigung der unermeßlichen Mühen, War-
nung vor der obscuritas authorum; Medea-Vergleich.
S. 21, 18 – 22, 9 Gefordert ist das geistige Durchdringen (naturae contemplatio) der
Welt, der Principia, der Weltseele Ursprung und Wirken.
S. 22, 10 – 24, 25 Davon die nähere Aus- wie synkretistische Zusammenführung mit
Hermetischem: Mercurius als Weltseele, als Cupido, etc.
S. 22, 10 – 23, 4 Platonische Lehre der Weltseele und der Ideen, Mixtio der vier Quali-
täten, Veneris nodus, etc.
S. 23, 5 – 12 Diesbezügliche Lehren des Paracelsus.
S. 23, 13–31 Weitere Analogien aus alchemischen Prozessen; Sal, Oleum, Sulphur.
S. 24, 1–25 Weitere mythische Allegorien; sowie Orphik und Kabbala.
S. 24, 26 – 30 Abruptio der Ausführungen, da die Sonne sich neigt; Verabredung der
beiden auf den nächsten Morgen.

S. 25–37 Liber III: Traumvision von der Ermordung des Phoebus im Bade
durch Saturnus und der Wiederbelebung; Deutung(en) derselben am
nächsten Morgen durch den Greis.
S. 26, 1 – 22 Unruhiger Schlaf und Traumgesichter des Chrysanthus. Bei Morgen-
grauen sucht er den Greis auf, welchen er beim Gebet antrifft; Bitte,
den Traum erzählen zu dürfen.
S. 26, 23 – 29, 1 Somnium authoris:
[= Adaption einer Scholie des Tractatus aureus]
S. 26, 23 – 27, 12 Erste Götterversammlung: Venus stellt sich als Me-
tallgottheit und Gebärerin des Lapis vor.
S. 27, 13 – 19 Phoebus stellt sich als Bruder vor und klagt über die
Nachstellungen des Saturnus.
S. 27, 20 – 24 Phoebus verliert im Bad das Bewußtsein und erstarrt.
S. 27, 24 – 28, 16 Zweite Götterversammlung: Hermes bittet Saturnus
um Rat, dieser stellt sich vor und bekennt seine Tat, welche jedoch
zum Wohle aller geschah.
S. 28, 17 – 30 Iupiter, Diana, Venus und Mars beleben Phoebus mit
ihren Balsamen wieder, voll Dank verleiht er den Geschwistern seinen
Glanz.
S. 28, 31 – 29, 1 Dieweil erwacht Chrysanthus, hält das Geschaute je-
doch für bedeutungslos.

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50 A. Einleitung

S. 29, 2 – 20 Der Greis preist Chrysanthus ob des Geschauten, das er als von der
Chryseis gesandt erkennt, glücklich und beginnt dessen mytho-alche-
mische Kommentierung.
S. 29, 21 – 33 Erneute Mahnung, die alchemischen Schriften nicht simplice sensu
aufzufassen; Notwendigkeit der Menstrua, um den Samen des Goldes
aus dem Golde zu gewinnen.
S. 30, 1 – 16 Ablehnung anderer Ursprünge und mythoalchemische Ausführungen.
S. 30, 17 – 31, 29 Auri encomia – Lob des alchemischen Goldes:
Mit Bildern des Grün-Vegetativen und unter Bezug auf die Calor-
Diskussion der zeitgenössischen Medizin erhobene Forderung, der
Chrysolith solle frisch sein; Vergleich mit dem, leider verlorenen,
Goldenen Zeitalter.
S. 31, 30 – 32, 13 Satyrica elusione in secus sentientes: Verspottung der Wahnsinnigen
(Nieswurz-Topik), welche den Samen des Chrysolith nicht im Golde
suchen; Schmähung als gottlose Schöpfungszerstörer.
S. 32, 14 – 25 De sulfuribus Solis et Lunae – Unterscheidung der Schwefel von Sol
und Luna.
S. 32, 26 – 33, 5 Ignis modus – Ausführungen zum alchemischen Feuer.
S. 33, 6 – 25 Fortführung der Ackerbaubilder des Vortages; die Erde, in welche der
Same gesetzt wird, dessen Entwicklung zum Keimling.
S. 33, 26 – 34, 1 Beschreibung des Mercurius in der Sublimatio und Circulatio.
S. 34, 2 – 35, 19 Weiteres zur Extractio des Mercurius: Vergleiche mit Geflügelten und
großer Hitze in Mythos und Naturgeschichte; Adler und Sonne.
S. 35, 20 – 36, 15 Nochmalige Beschreibung des Principium des Steins anhand des Pro-
serpina-Mythos wie auch der Orphik; unter Einbeziehung des alche-
mischen Raben.
S. 36, 16 – 37, 1 Weitere Beschreibung: Ouroboros, Pelikan und Auster.
S. 37, 2 – 15 Zusammenfassung des Gesagten, um an der Transmutation Zweifeln-
de zu widerlegen.

S. 38–56 Liber IV: Weitere Erklärungen in Form immer neuer Allegorien.


Dankrede des Ich-Erzählers. Der Greis bricht seine Ausführungen ab,
da zuvor ein Schwur zu leisten ist.
S. 39, 1 – 7 Invocatio Numinis divini.
S. 39, 8 – 15 Rekurs auf die Worte des Raben.
S. 39, 16 – 40, 15 Zu den Menstrua:
S. 39, 16 – 40, 15 qualitates: Vergleich mit goldführenden Flüssen aus
Geographie und Mythos; die Säuren der Quacksalber werden verwor-
fen.
S. 40, 16 – 33 vis et origo: Nur den Eingeweihten der Göttin sind die
wahren Quellen der benötigten tinctura auri pura bekannt.
S. 41, 1 – 17 Ikonographie des alchemischen Königs als Entsprechung des derart
geläuterten Phoebus, sowie dessen Wirkung.
S. 41, 18 – 42, 14 Meditation über diesen Mercurius Philosophorum als
Sal und als Aqua; Vergleiche mit Unterweltsflüssen, dem Ei des Ba-
silisken, dem Menstruationsblut.
S. 42, 14 – 43, 22 Meditation über die Fermenta und deren, auch farb-
liche, Wirkung; Bilder der Gärung und des Tagesanbruchs; unter Ein-
beziehung des Mythos.

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11. Die Chryseis im Vergleich mit der Chrysopoeia des Augurelli 51

S. 43, 23 – 46, 2 die besagten Bilder weiterspinnende Phantasmagorie


über die Conjunctio der beiden Principia in den Zirkulationsgefäßen.
S. 46, 3 – 23 Einzig die wahre Kunst kennt zwei Lapides; Bilder von Sol und Luna,
des Weinbaus im Mythos.
S. 46, 24 – 48, 2 Phantasmagorie über deren gegenseitige Abhängigkeit; Bilder der al-
chemischen Hochzeit; Luna dabei dem Grünem Löwen verglichen,
welchen die Unkundigen im Weingeist suchen; Anspielungen auf
den Bacchusmythos.
S, 48, 3 – 8 Mit dem Salamandervergleich leitet der Greis über zur:
S. 48, 9 – 49, 2 Parabel von Phoebus und der Schlange Cerastes, als Erklärung der
Badeszene.
[= Adaption einer Scholie des Tractatus aureus]
S. 49, 3 – 24 Meditation über die vielen Erscheinungsformen des Hermaphroditi-
schen Steines.
S. 49, 25 – 50, 7 Wachholderbeerallegorie.
[= Adaption einer Scholie des Tractatus aureus]
S. 50, 8 – 52, 23 Meditation über die Zeitdauer und Reihenfolge von Opus und Aug-
mentatio; unter erneutem Bezug auf die Siebenzahl.
S. 52, 24 – 53, 18 Der Greis erkennt Chrysanthus als zum Chryseis-Priester bestimmt;
Verdammung jeglicher Dämonenbeschwörung.
S. 53, 19 – 54, 6 Einschaltung des Ich-Erzählers, fällt auf die Knie, gelobt Treue und
ewigen Dank.
S. 54, 7 – 56, 7 Abschließende Worte des Greises: Lobpreis des Chrysolith und wei-
tere Ausführungen. Diese bricht er jedoch aus Furcht (Abruptio) ab,
Geheimnisse zu verraten, da Chrysanthus erst im nahen Tempel den
Eid der Chryseis zu schwören habe.

11. Die Chryseis im Vergleich mit der Chrysopoeia des Augurelli

Die Chryseis entstand – im Unausgesprochenen überdeutlich – »im ästhe-


tischen Wettbewerb mit Giovanni Aurelio Augurelli«.216 Dessen drei Bü-
cher der Chrysopoeia stellen das bis heute bekannteste alchemische Lehr-
gedicht in lateinischer Sprache dar. Augurelli wurde 1456 in Rimini gebo-
ren, er studierte seit 1473 in Rom sowie in Florenz, wo er Marsilio Ficino
zum Freund gewann, wie auch Angelo Poliziano (1454–1494). Ab 1475
nahm sich seiner ebenso der venetische Gesandte und Rhetor Bernardo
Bembo (1433–1519) an, welcher ihm riet, sich durch die Zueignung latei-
nischer Elegien und Petrarkistischer Liebeslyrik im Volgare Mediceischer
Protektion versichern. Nachdem Bembo ein Jahr später die Arnostadt ver-
lassen hatte, begab Augurelli sich nach Padua und studierte dort bis 1485
die Rechte. Mit Hingabe widmete er sich, beständig an der eigenen Latini-
tät feilend, der antiken Literatur, wie er auch in den wichtigen Humanisten-
zirkeln verkehrte. 1485 schließlich ging er als Sekretär seines Freundes
Nicolò Franco (1425–1499), der dorthin als Päpstlicher Nuntius entsandt

216 W. Kühlmann (2002b), S. 167.

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52 A. Einleitung

wurde, nach Treviso. War bereits 1491 eine erste Sammlung ausgewählter
Gedichte in Verona erschienen, arbeitete er nun mit anderen an einer Catull-
Ausgabe. Nachdem Franco 1499 verstorben war, ging Augurelli 1500 als
Kanzler nach Feltre. Damals beteiligte er sich auch an der Volgare-Diskus-
sion. 1503 kehrte er als Lehrer für klassische Sprachen nach Treviso zu-
rück. 1505 publizierte er schließlich eine zweite Gedichtsammlung bei Al-
dus, in welcher sich bereits ein kurzes alchemisches Gedicht mit dem Titel
Vellus aureum findet.217 1509 zwang ihn der Krieg der Liga von Cambrai,
sich vorübergehend nach Venedig zurückzuziehen, wo er Dichtungen Be-
mbos revidierte und sein eigenes alchemisches Lehrgedicht, die Chryso-
poeiae libri III, zum Abschluß brachte. Diese, erst Julius II. (1443–1513,
ab 1503 Pontifex), dann Leo X. (1475–1521, ab 1513 Patriarch des Abend-
landes) zugeeignet, erschienen 1515 in Venedig – zusammen mit der christ-
lich-spirituellen Dichtung Geronticon liber primus.218 Augurelli erhielt da-
für übrigens vom Heiligen Vater nicht – wie es altkluge Antiquare zum
besten geben – eine ebenso schöne wie leere Börse, da er sich diese ja
selbst füllen könne, sondern eine Bestallung als Kanoniker in Treviso.219
Dort ist er zudem 1518 als Bibliothekar verzeichnet. 1524 ereilte ihn über
einem gelehrten Disput in einer Buchhandlung der Gelehrtentod.220
Mit der Abfassung der Chrysopoeia begann Augurelli bereits um 1500,
in jenem intellektuellen Umfeld, in welchem sich fast jeder Gelehrte, wie
schon sein Jugendfreund Ficino, in irgendeiner Form mit Alchemie und
Hermetismus auseinandersetzte; sei es, daß er praktisch iatrochemisch
oder spagyrisch experimentierte, sich kosmologischen Spekulationen hin-
gab, oder sei es, daß er gegen das Vorgenannte polemisierte.221 Augurelli
betonte zu recht der erste zu sein, welcher im klassischen Hexameter und
unter Herbeizitierung der Muse des Mantuaners die Kunst behandelte. Un-
berührt vom vernichtenden Urteil Julius Scaligers in dessen Poetik222 war
die Rezeption der Chrysopoeia gewaltig: Augurellis Lehrgedicht brachte es

217 Nochmals abgedruckt und besprochen in F. Secret (1976a).


218 Zur Werkgeschichte im nächsten Absatz.
219 Vgl. Z. v. Martels (1993), S. 124; ders. (1994), S. 979.
220 Vgl. die immer noch führende Monographie G. Pavanello (1905), S. 1–40; sowie den
Artikel R. Weiss (1962) neben J. Telle (1980a); zu Augurelli im Kontext der italieni-
schen Lehrdichtung G. Roellenbleck (1975), S. 123–125.
221 Vgl. G. Pavanello (1905), S. 60–64; Z. v. Martels (1993), S. 122.
222 Vgl. »Augurelli multa vidimus, Lyrica, Sermones, Chrysopoeiam, Iambica. Sanè prae
se fert egregiam animi aequabilitatem. parum potest, parum praestat, parum conatur. In
Lyricis vix ferendus. […] Elaborantior ipsius Chrysopoeia. caeterùm vix adeò spirat:
ita languida omnia, ac penè emortua. trepidationis potius quàm limae agnoscas vesti-
gia.« (Scaliger Poetices, S. 303) – hierzu auch I. Reineke (1988), S. 535–537; der
bisher zugänglichste Abdruck der ›Chrysopoeia‹ in TC 3 (1659), S. 197–244, dort
sind jedoch die Verse nicht gezählt. Dieser Arbeit liegt daher das, mir freundlicher-
weise zur Verfügung gestellte, Typoskript der Neuedition von Zweder von Martels
zugrunde, welche auf der Ausgabe Venedig 1515 basiert.

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11. Die Chryseis im Vergleich mit der Chrysopoeia des Augurelli 53

allein im 16. Jahrhundert auf fünf weitere Auflagen, bis ins 19. Jahrhundert
folgten 21 Editionen. Schon um 1560 erschienen zwei französische Über-
setzungen,223 1614 mit dem Chrysopoeiae compendium paraphrasticum in
Frankfurt am Main eine Prosazusammenfassung. Zu den ersten Lesern der
Chrysopoeia zählten auch Agrippa von Nettesheim (1486–1535) und des-
sen Sohn Johannes (1525 – nach 1560).224 Der Vater verwandte das Lehr-
gedicht als Quelle seiner Alchemistenschelte des 90. Kapitels von De in-
certitudine et vanitate scientiarum (gedruckt ab 1530), der Sohn verfaßte in
den 1560er Jahren in Nachahmung Augurellis, mit Anleihen bei Vergil und
Ovid, ein Pius IV. (1499–1565, ab Pontifex) gewidmetes eigenes Lehrge-
dicht unter dem Titel Vellus Aureum, welches allerdings nur als Original-
manuskript mit Scholien von eigener Hand im Vatikan überliefert ist.225
Als anderer Aemulator ist der Florentiner Dichter Antonio Allegretti (um
1512-nach 1572) zu nennen, ein Freund Benvenuto Cellinis (1500–1571)
und Benedetto Varchis (1503–1565). Allegretti arbeitete von der Mitte der
1550er Jahre bis an sein Lebensende fortwährend am Manuskript seiner
Cosimo I. de’ Medici (1519–1574) gewidmeten vier Bücher, gut 1500
Verse, De la Transmutatione de metalli. Sie sind zum Großteil eine in der
Tradition Petracas stehende ›versione in volgare‹ der Chrysopoeia, wobei
der Autor jedoch auch eigene umfassende Kenntnisse der hermetischen
Tradition und des spagyrischen Schrifttums – vor allem zur spirituellen
Alchemie – einfließen läßt.226 Aus dem Jahre 1716 schließlich ist eine
Valentin Weigel zugeschriebene Verteutschung überliefert.227
Diese Rezeptionsgeschichte ist nun um Furichius zu erweitern; jedoch
nicht als schlichter Nachahmer, sondern als von Augurellis Werk zu eige-
nem Schaffen inspirierter Nachfolger in der Gattung der alchemischen la-
teinischen Lehrdichtung, als deren einzige bekannte Autoren beide, nach
dem Stand der Dinge, gelten können.228 Vor einer Gegenüberstellung zu-
nächst der Aufbau der Chrysopoeia – wobei man Yasmin Haskells Stoß-
seufzer »the poem as a whole cannot be said to evince a clear logical
structure«229 in gewisser Weise beipflichten muß: Das 1. Buch behandelt
die Existenz des Steines und die Wahrheit der Kunst. Daß die Transmuta-

223 Vgl. auch F. Secret (1976b).


224 Unsinnig die Zuordnung der ›Chrysopoeia‹ als Handbuch für praktizierende Alchemi-
ker, wie der sonst gute Th. Haye (1997), S. 373 sie vertritt.
225 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Z. v. Martels (2000), S. 181–194; zum französischen
Sprachraum D. Kahn (2007), S. 77 f. u. 87–89.
226 Eine moderne Edition nach dem Autograph der Biblioteca Nazionale Centrale di Fi-
renze liegt vor als A. Allegretti (1981). Zu Biographie und Werkkontext vgl. die Ein-
leitung des Herausgebers M. Gabriele (1981). Dort wird zudem exemplarisch der
lateinische Text Augurellis der italienischen Bearbeitung gegenübergestellt.
227 Vgl. W. Kühlmann (1984), S. 122.
228 Ein erster Vergleich in W. Kühlmann (1984), S. 122–124.
229 Y. Haskell (1997), S. 584.

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54 A. Einleitung

tion möglich ist, läßt sich durch ›ratio‹ und ›experientia‹ erkennen, auch
wird die profane Goldgier der Sterblichen verworfen.230 Im 2. Buch ver-
teidigt der Trevisaner die Ars gegen ihre Verächter und weist hochallego-
risch den Weg zu einem die Transmutation ermöglichendem Pulver. Dieses
wird nach beschwerlichem Aufstieg in einer auf einem Berge gelegenen
Nymphengrotte gefunden. Das 3. und abschließende Buch behandelt die
Gerätschaften und Prozesse, erhebt das Schweigegebot und verheißt gewal-
tige Reichtümer, wie auch die lange gesuchte Panazee.231
Die Unterschiede der beiden Lehrepen beginnen im Formalen: Umfaßt
die Chrysopoeia drei Bücher von jeweils sechs- bis siebenhundert Versen,
hat die Chryseis dagegen vier mit insgesamt 1600 Hexametern. Sprachlich
ahmt Augurelli mit Emphase den Vergil der Georgica nach, wenngleich
sein Opus nur drei Bücher umfaßt, seine Diktion ist klassisch und ele-
gant.232 Das Latein von Furichius dagegen ist nicht streng den Augusteern
verpflichtet: Klassisches und Nachklassisches findet sich, neben dem un-
vermeidlichen Fachvokabular, durchwoben mit Archaismen, mittel- wie
kirchenlateinischen Spuren, neulateinischem Wortschatz und Neologis-
men.233 Auch wirken viele Verse, als seien sie mit ›-que‹ aufgefüllt. Dies
soll ihn in keiner Weise zugunsten des Italieners abwerten, denn Furichius
geht – wie aus obigem Schema ersichtlich – in drei von vier Büchern weit
über seinen Vorgänger hinaus. Der Straßburger gestaltet seinen Gegenstand
episch narrativ, wogegen Augurelli über sein ganzes Werk, das zwar einige
Epyllien und Exkurse aufweist, als Unterweisender zum Leser spricht, als
solcher ist er durchgehend mit dem in der Republik Venedig lebenden
Humanisten Augurelli der Entstehungszeit identifizierbar. Zur Exemplifi-
zierung der Behandlung des, letztlich doch gleichen, Stoffes durch beide
Dichter mag die Darstellung der Metallerzeugung im Erdinnern dienen: Wo
Augurelli im 1. Buch der Chrysopoeia das Epyllion des Lyncaeus einfügt,
dessen Sehvermögen bis an ferne Gestade, ja bis ins Erdinnere hinabreicht,
wo er der Metalle Entstehung schaut – vgl. »Lynceus, ut fama est, uisu
praelatus acuto/ omnibus [….]« (Augurelli, 1, 203 f.) – läßt Furichius selbst
den Senex (vgl. CHRYS., S. 19, 24-S. 20, 7) vom Wirken der Chryseis-Pro-
serpina und ihrer Dienerinnen bei der Metallerzeugung berichten, welche
auch die Alchemiker lehrte – hier die doppelte Einbindung in die narrative

230 Vgl. »Hactenus auriferam secretae Palladis artem/ inuentam humana quondam uirtute
coegit/ credere nunc ratio, nunc experientia suasit.« (Augurelli, 2, 1–3).
231 Vgl. Z. v. Martels (1994), S. 985–987; Y. Haskell (1997), S. 584–588; den Aufbau des
Werkes am ausführlichsten in G. Pavanello (1905), S. 65–77.
232 Vgl. auch Y. Haskell (1993), S. 124; Z. v. Martels (2000), S. 179–181.
233 Als Beispiele: altlateinisch ›artubus‹ für ›artibus‹ (CHRYS., S. 3, 18); ›intumulare‹
(S. 33, 9) oder ›discursamen‹ (S. 36, 15); ›luctifluus‹ (S. 11, 12); baccescere (S. 50, 1)
– jeweils mit Anmerkungen in meinem Kommentar; wie auch S. 33, 29–30 ›flamen
clarificum‹ nicht klassisch zur Bezeichnung einer Luftbewegung sondern für ›Flamme‹
– wie erst im Mittelalter üblich; vgl. A. Blaise (1975), S. 388.

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11. Die Chryseis im Vergleich mit der Chrysopoeia des Augurelli 55

Struktur, als Personenrede und Tätigkeit der titelgebenden und das Telos
des Werkes darstellenden Mysteriengöttin, dort brillanter Einschub.
Weiterhin kontrastieren die jeweiligen Widmungen und Anrufungen von
Gottheiten. Augurelli eignet sein Werk dem Medici-Papst zu, wobei der
Renaissancekatholik im Gegensatz zum Straßburger Reformierten mit we-
niger Eifer seine Orthodoxie bekunden muß als sich vielmehr ›pro forma‹
für die folgenden Mythologeme entschuldigt. Dann ruft er die Götter für
das Große Werk und gesondert am Ende des 1. Buches den alchemischen
Hermes an.234 Zu Beginn des 2. Buches versichert er sich zudem des Bei-
stands der Muse Vergils. Furichius nennt seinen Widmungsträger Morsius
im voranstehenden Brief, von den Göttern wird einzig Phoebus als Musen-
führer und Stein der Weisen herbeizitiert (vgl. Kommentar zu CHRYS.,
S. 1, 2–3).
Am deutlichsten springt jedoch ins Auge, daß Augurelli Persönliches
und Zeitgeschichtliches in sein Werk einflicht: Ist der Handlungsort der
Chryseis der hochfiktive ›Berg in der Lybischen Wüste‹ als Burg- und
Tempelberg der Chryseis-Proserpina mit Bezügen zum Corpus Hermeticum
und Eremitenlegenden (vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 14, 0–4), ist die
Nymphengrotte Augurellis ein »Taruisiis […] in montibus antrum« (Augu-
relli, 2, 279 f.). Der Ort der Offenbarung findet sich also im Veneto bei
Treviso, und Augurelli gedenkt so der Landhäuser seiner Freunde und Gön-
ner.235 Auch seine Liebe zur darstellenden Kunst klingt an, wenn er auf das
Auripigment der Maler verweist: »Est lapis effossus Syriae pictoribus, auri/
pigmentum uero quod et ipsi nomine dicunt. [etc.]« (Augurelli, 1, 428–
441). Im 3. Buch hebt er als nützlichen Aspekt des alchemischen Experi-
mentierens sogar hervor, daß ihm immerhin die Herstellung von Farben für
einen Malerfreund gelungen sei, vor allem ein besonderes, als ›caeruleus‹
ausgewiesenes Blau (vgl. Augurelli 3, 291–322).236 Er geht soweit, die Al-
chemie als beste Lieferantin von Farben zu preisen, neben ihren Vorteilen
für die Glasfärberei und Metallurgie (vgl. Augurelli 3, 284–304). Der hier-
bei mit ›meus Iulius‹ bezeichnete Nutznießer von Augurellis Alchemisten-
küche ist kein anderer als der ebenso mit dem Hermetismus in Verbindung
gebrachte Giulio Campagnola (geb. 1480); welcher damals in der Lagunen-
stadt in den gleichen Kreisen verkehrte, und im Testament des Aldus aus
dem Jahre 1514 verzeichnet ist.237 Die anschließenden Verse enthalten dann
auch die Descriptio eines von Campagnolas Gemälden (vgl. Augurelli,
3, 305–22), wie auch die Schilderung des Ortes des Steins als Hain der

234 Vgl. Z. v. Martels (1994), S. 984 f.


235 Vgl. Orbis latinus 3 (1972), S. 457; diskutiert von Y. Haskell (1997), S. 592, Anm. 16.
236 Vgl. zum Farbadjektiv ›caeruleus‹ im spagyrischen Kontext allerdings meinen Kom-
mentar zu CHRYS., S. 43, 12–13.
237 Vgl. hierzu den zweigeteilten Beitrag von G. Dal Canton (1977 u. 1978); sowie E.
Safarik (1974).

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56 A. Einleitung

Nymphe Glaura in den bukolischen Landstücken des Freundes ihr Vorbild


zu haben scheint.238
Eine solche Aufzählung der Errungenschaften der ›chymischen Kunst‹
klammert jedoch die Schattenseiten nicht aus: »qui genus id nuper tormenti
ex aere peractum/ horrendum miseris edit mortalibus, altos/ quo murorum
apices longe quatit; et graue pondus/ machina terribili iaculatur in aera
bombo,/ quo tellus tremit assultans, atque oppida circum/ icta procul diro
strepitu, ceu fulminis, horrent.« (Augurelli, 3, 331–336) – den militärischen
Einsatz neuer Pyrotechnik hatte Augurelli mit eigenen Ohren bei der Bela-
gerung Paduas im Frühherbst des Jahres 1509 erlebt: »Quales attonita stu-
pidi percepimus aure/ litore nunc Veneto, Pataui dum magnus ad urbem/
rex sedet, et latos diuerso milite campos/ occupat; at contra Venetus se
exercitus intra/ continet, et uariis arcet terroribus hostem.« (Augurelli
3, 337–341). Daneben vergegenwärtigen mehrmalige Wünsche nach Otium
(vor allem im Horazisch anmutenden Beginn des 3. Buches) und Frieden
die kriegerische Entstehungszeit des Werkes. Furichius, der noch zu Schul-
zeiten über Soldatengreuel und Schlachtenruhm gedichtet hatte, aus dessen
Eintrag im Album Morsianum ersichtlich wird, wie sehr ihm die Wirren
seiner Zeit zu Herzen gingen, verweigerte es dagegen dem Dreißigjährigen
Krieg, in sein Werk Einzug zu halten.

12. Furichius’ Chryseis im Vergleich mit seinem Frühwerk


Aurea Catena239

Innerhalb des Furichianischen Oeuvres stellt die Aurea Catena inhaltlich,


stilistisch und formal eine Art Vorstufe der Chryseis dar. Das Carmen aus
dem Paduaner Studienjahr 1627 ist noch nicht in Bücher unterteilt, es ist
kürzer. Den über 1600 Hexametern der Chryseis gehen hier gut 1100 vor-
an.240 Im Ganzen ist es der Kommunikationssituation des antiken Lehrge-
dichtes verpflichtete und weist noch keinen episch-erzählenden Rahmen
auf. Zwar wird der titelgebende Hermes Poeticus in den ersten Versen als
Trismegist eingeführt, entpuppt sich aber sogleich prosopoeisch als den

238 Vgl. Y. Haskell (1997), S. 600 f.; A. Balduino (1987), S. 67–69.


239 Zu beiden Werken vgl. auch W. Kühlmann (1984), S. 124–135; sowie ders. (2005a),
S. 106–108.
240 Die Paginierung der Ausgabe ist – wie ich vor Ort dank der zuvorkommenden Unter-
stützung durch den Vizedirektor der Universitätbibliothek zu Padua, Pietro Gnan,
nochmals überprüfen durfte – fehlerhaft, von S. 31 erfolgt ein Sprung auf S. 48.
Auch der Text an sich und der Vergleich mit der ›Chryseis‹ schließen aus, daß etwas
verlorenging; vgl. »Veluti quum mens primum omnia fecit,/ Se/ [S. 48] Se supra haec
terrena simul glomerarit in vnum:/ Et genuit motum, et spatiantia lumina coelo.« – in
der Entsprechung: »Hinc factum est, ut Mens, cum prudens omnia fecit,/ Ignis terrena
haec supra glomerârit in unum:« (CHRYS., S. 35, 13 f.).

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12. Furichius’ Chryseis im Vergleich mit seinem Frühwerk Aurea Catena 57

Leser unterweisender Sprecher der Aurea Catena. In der Chryseis ist er


weiterentwickelt und mit anderen literarischen Typen in der Figur des Se-
nex verschmolzen,241 wodurch die Aurea Catena, als Ausführungen des
Hermes, gleichsam in der, über die Hälfte der Chryseis ausmachenden
Rede des Greises aufgegangen ist. Zudem kam Furichius in seiner Aurea
Catena noch gänzlich ohne Glossen oder gar Scholien aus.
Wie die Chryseis ist bereits der Hermes Poeticus den Scholien des
Tractatus Aureus verpflichtet, dies ist allein aus der Gegenüberstellung
einiger Abschnitte ersichtlich – vor allem durch die Verwendung des in
den anderen Quellen nicht belegten Decknamens ›Seyr‹ (vgl. Kommentar
zu CHRYS, S. 10, 21–23). Bezüglich der versifizierten Descriptiones al-
chemischer Geometrie befindet sich die Aurea Catena noch näher an der
Vorlage. In ihr wird der in den graphischen Symbolen wirkende ›Mercu-
rius‹ explizit als solcher bezeichnet und ist somit als Stein der Weisen
erkennbar. In der Chryseis dagegen ist er durch auf den ersten Blick irre-
führende Synonyma wie ›Feuer‹ oder ›Erde‹ ersetzt (vgl. Kommentare zu
CHRYS, S. 8, 32-S. 9, 1 u. S. 9, 2–3). Dergleichen wurden ganze Verse wie
auch Versteile übernommen. Fürderhin ist aus metrischen Gründen das
ohne Glosse verwirrende ›vulturnus‹ (vgl. Kommentar zu CHRYS.,
S. 14, 4) in beiden Texten anzutreffen. Daneben ist zu beobachten, daß in
der Chryseis durch die Variation von Metaphern gegenüber dem Catena-
Text dort bereits dunkle Ausdrücke hier noch kryptischer geworden sind,
so daß die korrelierenden Passagen des ersten Epos oft das Verständnis der
entsprechenden Passi der Chryseis befördern. Nicht minder ist in der Au-
rea Catena skizzenhaft einiges umrissen, welches sich amplifiziert im
Hauptwerk wiederfindet, so die Zusammenführung des alchemischen grü-
nen Löwen mit den Zugraubkatzen des Bacchus (vgl. Kommentar zu
CHRYS., S. 47, 21–48, 2) oder die Allegorie des Wachholdbeerbaumes
(vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 49, 25-S. 50, 7). Der in der Chryseis vor
allem durch die Paratexte erhobenen Anspruch auf umfassende Gelehr-
samkeit tritt etwa bezüglich der Phoebus-Schlangen-Episode (vgl. Kom-
mentare zu CHRYS., S. 48, 9-S, 49, 2) im ersten Lehrgedicht noch zurück:
Wo sich in der Chryseis (mit den zugehörigen, die Giftigkeit und weitere
pharmakologische Verwertbarkeit des Reptils diskutierenden, Autorkom-
mentaren) die nordafrikanische giftspeiende Hornschlange Cerastes und
der als Ovidianischer Python-Bezwinger gezeichnete Jagdgott gegenseitig
zur Strecke bringen, sind in der Aurea Catena schlicht »rex et serpens,
ambo una morte sepulti« (AVR. CAT., S. 26, 17). Signifikant ist auch der
jeweilige Umgang mit dem Proserpina-Mythos: In der Chryseis ist die
Fabula in ihrer alchemisierten Variante titelgebend und handlungsbestim-

241 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 16, 18 – S. 17, 10.

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58 A. Einleitung

mend,242 in der Aurea Catena dagegen ist die kosmische Verwirrung bei
Plutos Raubfahrt nur ein Vergleich der unförmigen Prima Materia unter
vielen und wird in zwei Zeilen abgehandelt: »Non secus ac facies nascen-
tis marcida Mundi/ Primùm erat: aut quondam propter Plutonis amorem,/
Cum rapuit Cereri natam, tenebresceret aër./ Threicea haec nox est, a qua
dependet origo [etc.]« (AUR. CAT., S. 48, 30 – S. 49, 2).

13. Die Chryseis als publizistisches Ensemble


zwischen Inter- und Paratextualität

In seinen Limiti dell’interpretazione sieht Eco den alchemischen Text an


sich in einem ›discorso al quadrato‹: Wortreich läßt dieser sich über etwas
außerhalb seines ›Diskurses‹ Liegendes (das Geheimnis der Transmutation)
aus und ist zugleich – und gerade im kunstvollen Verzögern und Ver-
schweigen – der übrigen spagyrischen Texttradition verbunden, ja Resultat
und Bestandteil derselben.243 In der Chryseis, die Furichius als ›publizisti-
sches Ensemble‹ aus Hexameterteil, Glossen und umfangreichen Scholien
konzipierte, gewinnen die intertextuellen Bezüge kaum noch abzusehende
Ausmaße.244
Das Grundwerkzeug einer theoretischen Betrachtung von Textbeziehun-
gen stellt die Schrift Gerard Genettes dar, welcher hier die Studie Jörg
Helbigs zur ›Markiertheit von Intertextualität‹ an die Seite gestellt
wird.245 Jedoch bleiben die, beiden Arbeiten zugrundeliegenden, literari-
schen Werke weit hinter der Komplexität eines humanistischen Lehrge-

242 Zur, kaum belegten, alchemischen Deutung des Proserpina-Mythos vgl. W. Kühlmann
(2002b), S. 167 und ders. (1984), S. 134, Anm. 78; mit dem Verweis auf Johann Ru-
dolph Glaubers (1604–1670): ›Kurtze Erklärung über die Höllische Göttin Proserpi-
nam, Plutonis Haußfrawen‹ Amsterdam 1667 – H. Antons (1967) Motivgeschichte
bietet, ohne alchemische Texte zu streifen, die Rezeption des Mythos in der Neuzeit,
doch liegt sein Schwerpunkt auf der galanten Literatur im Umfeld des Pariser Hofes.
243 Vgl. »Il discorso alchemico è un ›discorso al quadrato‹: esso è il discorso dell’alchimia
sui discorsi alchimistici. […] Può darsi che l’autore non conosca ciò di cui parla e ne
parli in termini poetici proprio per poterlo rendere in qualche modo evidente (e persino
per suggerire che di quel Qualcosa di oscuro non si può parlare altrimenti), ma egli
vuole pur sempre parlare di Qualcosa che non è il suo discorso. Invece il discorso
alchemico è il discorso di quei testi – o di quelle pagine che appaiono sempre in un
testo alchemistico – in cui l’autore parla di ciò che hanno detto gli altri alchimisti, per
omologarlo al suo discorso. Il discorso alchemico è il discorso che l’alchimista fa sulla
continuità discorsiva della tradizione alchemica.« (U. Eco (1990), S. 74).
244 Zur Intertextualitätsproblematik in der Frühen Neuzeit am Beispiel Moscherosch und
Rollenhagens; vgl. W. Kühlmann (1994).
245 J. Helbig (1996), S. 17–82 diskutiert die einschlägige Forschung, darunter Genette,
dessen Modell er für überfrachtet hält, ausführlich und verwirft sie – nachvollziehbar
– zugunsten der einfachen ›alludierender/alludierter Text‹, deren ›Schnittmenge‹ er als
›intertextuelle Spur bezeichnet‹.

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13. Die Chryseis als publizistisches Ensemble zwischen Inter- und Paratextualität 59

dichts zurück, geschweige denn eines alchemischen Lehrepos samt Para-


texten. Es sollen daher dem Text der Chryseis und meinem Kommentar –
welcher (oft auf der Ebene des Metakommentares) Bezüge im Detail nach-
zeichnet und deren Markiertheit reflektiert – einige theoretische Überlegun-
gen vorangestellt werden, um den Leser gleichsam auf das Kommende ein-
zustimmen und zu sensibilisieren. Die für alle Intertextualität wichtige ›Al-
lusionserkennungskompetenz‹ seitens des Rezipienten – seiner Erwartungs-
haltung eng verbunden – kann man in Anbetracht des Publikums, für wel-
ches Furichius schrieb (Gelehrte vom Schlage eines Morsius oder Moscher-
osch) als ideal betrachten. Bei ihnen dürfte ob der fehlenden Mitteilung von
Arkanwissen auch kognitive Dissonanz ausgeschlossen gewesen sein.246
Vielmehr ist anzunehmen, daß sie bei der Ankündigung eines alchemischen
Lehrgedichts aus der Feder des Poeta laureatus neuen und virtuosen Varia-
tionen über das Thema ›Opus Magnum‹ entgegensahen.
Grundsätzlich gehörte – nach der Genetteschen Klassifizierung ›trans-
textueller Beziehungen‹ – alle alchemische Literatur insofern, als sie kom-
mentierender Art ist, in die Kategorie ›Metatextualität‹. Die Chryseis hätte
hieran Anteil. Die ›Hypertextualität‹, als Ableitung von einem Vorgänger-
text durch direkte oder indirekte Anverwandlung, ist hinsichtlich der Chrys-
eis als Ganzes mannigfach. Eindeutig läßt sich lediglich sagen, daß inner-
halb des Furichianischen Oeuvres die Chryseis als Amplificatio der Aurea
Catena angesehen werden kann. Als (schlichte) ›formale Transposition‹
können, sofern man will, die Textstellen betrachtetet werden, welche Ver-
sifikationen des Tractatus vere aureus sind. Ansonsten wechseln die Hyper-
texte – sprich: die relevanten oder von Furichius für relevant erachteten
Prätexte – ständig, oft sogar in ein und demselben Vers. Ob der Scholien
wachsen sie gelegentlich zu ganzen, die zeitgenössische Fachdiskussion
ausmachenden Textcorpora an. Wenn man konsequent die Chryseis zudem
›à la fois à la classe du genre officiel et celle des hypertextes‹ zuordnete,
hieße dies nur unnütz das Dilemma der Gattungszuordnung zu erneuern –
wenngleich die ›offizielle Gattung‹ der Chryseis diejenige des Carmen di-
dascalicon ist.247
Als »höchst ökonomisches Referenzobjekt«248 – wenn nicht das wirt-
schaftlichste an sich – sieht Helbig den Titel an. ›Chryseidos Libri IIII‹
evoziert sowohl mit der ersten Silbe den Gegenstand des Epos, das Gold,
und reiht das Werk somit an andere alchemische Titel und Autorpseudo-
nyme.249 Nicht minder wird selbstbewußt Bezug auf die hier aemulierte
Chrysopoeia des Augurelli genommen. Allein, ›Chreyseidos‹ als Genitiv-

246 Vgl. J. Helbig (1996), S. 14–16; zum Phänomen ›cognitiver Dissonanz‹ am hagiogra-
phischen Beispiel vgl. T. Reiser (2007a), S. 87 f.
247 Vgl. G. Genette (1982), S. 10–17.
248 J. Helbig (1996), S. 108.
249 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 16, 20; u. S. 19, 5–6.

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60 A. Einleitung

form des Namens ›Chryseis‹ betont ausdrücklich das Episch-Narrative, wie


man es von der Achilleis des Valerius Flaccus über die Aeneis des Vergil,
die mittelalterliche Alexandreis des Walther von Châtillon bis zur rinasci-
mentalen Panegyrik auf die Borgia in Gestalt der Borsias kennt. Handlung
wird also angekündigt. Nicht zuletzt ruft auch die Zahl der Bücher den für
die Gattung maßgeblichen Prototypen ins Bewußtsein: die Georgicon Li-
bri IIII.
Der ›Signalwert‹ intertextueller Spuren in der Chryseis und die Deutlich-
keit ihrer Markierung250 in Verbindung mit der jeweiligen Funktion, sollen
an einigen Beispielen nachgezeichnet werden: Der Tractatus aureus-Kom-
mentar wird ebensowenig erwähnt wie die Chrysopoeia oder Augurelli. Die
großen antiken Vorbilder Claudian, Ovid und Manilius sind als Textspuren
dagegen so präsent, wie es die entsprechenden Markierungen nahelegen.
Frappierend ist die Glosse zu Beginn des zweiten Buches, welche das Auf-
treten des Greises mit ›Ita quoque Ariostus senes vatidicos introducit‹ kom-
mentiert und den Leser, der bis dahin nur alchemisch-naturkundliche, my-
thologische oder gliedernde rhetorischen Termini am Textrand wahrnahm,
innehalten läßt.251 Mit dieser ›dominanten Markierungsart der Autornen-
nung‹252 nimmt Furichius einerseits für sich in Anspruch, antonomastisch
›der Ariost‹ der alchemischen Lehrdichtung sein zu wollen. Andererseits
sind die inhaltlichen Gemeinsamkeiten von Chryseis und Orlando furioso,
wenn man von ubiquitären Bezügen zu Mythos und Epik, absieht, vernach-
lässigbar und wirken weit hergeholt: Die »donne, i cavallier, l’arme, gli
amori,/ le cortesie, l’audaci imprese« (Orlando 1, 1 f.), welche Ariost be-
singt, sucht man in der Chryseis vergebens. Pierre de Ronsards Hymne de
l’Or, auf welche eine Scholie verweist, ist dagegen zwar unvermuteter,
doch deutlich erkennbarer Prätext der entsprechenden Chryseis-Stelle.253
Eine Sonderrolle kommt in den Glossen der graphischen Markierung im
Druck zu:254 Auffällig, wenn auch nicht zeituntypisch, sind in Randnotizen:
Griechisches, mathematische Schemata und geometrische Zeichen. Furichi-
us verzichtet fast ganz auf die sonst in der alchemischen Literatur häufig
vorkommenden Metall-/Planeten, Stoff- und Massenzeichen. Jedoch ent-
puppen sich die dem Text (CHRYS. S. 7, 21 – S. 9, 23) beigegebenen Drei-
ecke, Kreise und Quadrate, welche auf den ersten Blick die bekannten Ele-
mentsymbole zu sein scheinen, in Kenntnis des Prätextes Tractatus aureus
als jene dort viel größer und komplexer abgebildeten alchemischen Figuren.
In der Chryseis sind sie schlicht auf ihre geometrischen Grundformen re-
duziert und ihrer Inscriptiones beraubt. Die dazugehörigen Verse enthalten

250 Vgl. J. Helbig (1996), S. 81 f.


251 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 16, 18 – S. 17, 10, vorletzter Abschnitt.
252 Vgl. J. Helbig (1996), S. 128–130.
253 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 4, 27 – S. 5, 14.
254 Vgl. J. Helbig (1996), S. 121–126.

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13. Die Chryseis als publizistisches Ensemble zwischen Inter- und Paratextualität 61

die Ekphrasen der ursprünglichen Abbildungen. Das Komplement hierzu


bildet die in einer Scholie beigegebene Descriptio eines ominösen Floren-
tiner Kunstwerks als Inspirationsquelle der von Furichius im Verstext ent-
worfenen Ikonographie des Alchemischen Königs.255
Die von Helbig unter ›onomastischer Markierung‹ subsumierten Wieder-
verwendungen bekannter Namen und Bezeichnungen256 betreibt die Chrys-
eis allein schon als mythoalchemischer Text exzessiv: Jedes Mythologem,
jeder alchemische Deckname, jeder philosophische Terminus, jede als Au-
torität herbeizitierte Person rufen seit Zosimos, seit Homer gefüllte Biblio-
theken ins Gedächtnis. Relative Klarheit besteht hinsichtlich der Funktion
des Scholienapparats, welchem die Rolle ›pro domo‹ zukommt: »Dabei
wird ein unmittelbarer Dialog zwischen Autor und Rezipient suggeriert,
bei dem der manifeste Text nur als scheinbar zufälliges Medium der rele-
vanten Botschaft fungiert. Die Argumentation verfolgt hierbei vor allem
zwei Zielsetzungen: (Selbst-)Verteidigung und Selbstdarstellung.«,257
sprich präventiver Angriff durch das Vorwegnehmen von Gegenargumen-
ten und die Beistandsbeschwörung von Autoritäten, wie auch die Selbst-
verortung des Autors im wissenschaftlichen und poetischen Umfeld.258 Zur
Selbstverteidigung sind generell alle – letztlich auch im epischen Teil und
stets durch Glossen gekennzeichneten – Orthodoxiebekenntnisse zu rech-
nen, wie etwa die mehrmalige ausdrückliche Verdammung der Sterndeute-
rei, des Atheismus, der Teufelbeschwörung und des Umgangs mit Dämo-
nen sowie sonstiger Formen des Okkultismus, welche in der vorletzten
Scholie im Verdikt gegen die (angedichteten) astromantischen Praktiken
Roger Bacons gipfeln.259 Literarischer Beistand zur Abschwächung mögli-
cher Einwände und Gegenargumente wird immer wieder durch das katalog-
artige Aneinanderreihen von Autoritäten erwirkt. Dies geht einher mit der
Zurschaustellung der eigenen Gelehrtheit: im ersten Buch vor allem Mani-
lius und dessen Kommentator Julius Justus Scaliger, immer wieder Aristo-
teles, der Galen-Kommentar des Hippokrates, Proklos und Plato, das Cor-
pus Hermeticum, Florentiner Neuplatoniker, allen voran Marsilio Ficino,
weitere humanistische Kommentatoren, wobei dem älteren Scaliger eine
Sonderrolle zukommt. Hinzu kommen Alchemiker, wobei sich eine Vorlie-
be für George Ripley und Michael Sendivogius erkennen läßt, Paracelsisten
und ihre Widersacher, wie Thomas Erastus oder Daniel Sennert. Heterodo-
xe Lehrmeinungen und die Einwände der Orthodoxie referiert Furichius
meist, ohne offen zu werten, nebeneinander. Die Fülle der Autoren reicht
schließlich bis zum pharmakologischen Fachschrifttum eines Prospero Al-

255 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 41, 7–13.


256 Vgl. J. Helbig (1996), S. 113–117.
257 J. Helbig (1996), S. 181.
258 Vgl. J. Helbig (1996), S. 181 f.
259 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 54, 26.

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62 A. Einleitung

pino, welcher in Padua eine Generation zuvor einen Lehrstuhl innegehabt


hatte. Einzig bezüglich der Lebendigkeit der Metalle widerspricht der
Straßburger einmal ausdrücklich den Antiparacelsisten (vgl SCHOL.,
[S. 69] S. 51, 29), wie er sich auch zwei Mal genötigt fühlt, vom Verdikt
seines ›Helden‹ Julius Caesar Scaliger, geschraubt und demütigst, abzuwei-
chen.260 Zugleich sind die Scholien – sprich SCHOL., [S. 62 f.] S. 22, 15 –
auch willkommener Veröffentlichungsort eines eigenen Gedichtes, in wel-
chem als Dreingabe lyrisch die Prinzipium-Lehre der Vorsokratiker abge-
handelt wird. Neben der Zurschaustellung der eigenen Fachkompetenz füh-
ren, sei es gewollt oder ungewollt, letztlich alle Verweise zur ›Sinnkomple-
xion‹ des mythoalchemischen Haupttextes, und werden gerade auch nicht-
alchemische Schriften in den ›discorso al quadrato‹ der Chryseis eingebun-
den. Letzthin gehen alle Gegenstände aller Gebiete – man denke an die
Septimana philosophica als alchemische Interpretation der Sieben Schöp-
fungstage durch Michael Maier – auf in jenem »mirabile sincretismo che
nasce tra l’alchimia e i linguaggi culturali coevi alla sua introduzione e
propagazione, dei quali si nutre attraversandoli e utilizzandoli per inventare
e conservare il proprio [linguaggio].«261

260 Vgl. Kommentar zu CHRYS., S. 4, 11; u. S. 29, 19


261 M. Gabriele (1997), S. 96.

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B. Edition und Übersetzung

Vorbemerkung zu Edition und Übersetzung der ›Chryseis‹ beziehungsweise


der Wiedergabe lateinischer wie auch volkssprachlicher Quellen:

Angestrebt ist eine möglichst zeichengetreue Wiedergabe der Vorlage sowie


lateinischer und volkssprachlicher Quellen der Renaissance und des Barock
unter Beibehaltung der jeweiligen Orthographie, Interpunktion und Akzent-
setzung. Dies gilt auch für Zitate aus antiken Texten innerhalb dieser Quel-
len. Sonst aber richten sich Zitate aus antiken lateinischen Texten nach den
im Literaturverzeichnis angeführten modernen Ausgaben.
Im Text der Chryseis und anderen Texten der Renaissance und des Ba-
rock wurden, sofern sie nach Ausgaben der Zeit (oder deren reprographi-
schem Nachdruck) zitiert werden, stillschweigend folgende Änderungen im
Zeichenbestand vorgenommen:
1. Kürzel und Ligaturen, auch Nasalstriche und e-caudata, wurden still-
schweigend aufgelöst. Für das Zeichen ›&‹ (oder ähnliches) wurde ›et‹
gesetzt.
2. Abkürzungen werden in eckigen Klammern ergänzt, dabei entfällt der
Abkürzungspunkt. In eckigen Klammern erscheinen auch Zusätze und
Erläuterungen durch mich, wie die Angabe von Vers- und Seitenzahlen.
3. Adscribierte Umlaute wurden normalisiert, e-caudata erscheint somit als
Umlaut.
Normalisiert wurde auch die Schreibung der s-Laute: langes ›s‹ wurde
gerundet, ›ß‹ wurde zu ›ss‹.
4. Bei Bogen- und Blattzählung wird zur Bezeichnung der Seite die Abkür-
zung ›r‹ (recto) und ›v‹ (verso) gebraucht.
5. Offenkundige Fehler, wie vertauschte oder verdrehte Buchstaben, wur-
den stillschweigend korrigiert.
6. Die Schreibung von i/j : I/J bzw. u/v : U/V bleibt erhalten; auch die
Schreibung ›ij‹ (etwa in ›ijs‹ oder ›conscij‹).

In der deutschen Übersetzung sind Passagen und Wörter, welche im Origi-


nal in griechischer Sprache stehen, kursiviert.
Im lateinischen Text der (aus drucktechnischen Gründen unter den Vers-
text gesetzten) Glossen wurden wie auch in den Scholien die von Furichius

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64 B. Edition und Übersetzung

verwandten Abkürzungen antiker Schriften beibehalten. In der deutschen


Übersetzung der Glossen stehen dagegen die heute gebräuchlichen, welche
auch sonst in dieser Arbeit Verwendung finden. Aus technischen Gründen
stehen die Glossen mit der Zahl des entsprechenden Verses, auf welchen sie
sich beziehen, oder neben welchem sie (sofern sie sich auf den Inhalt eines
ganzen Abschnitts beziehen) stehen, nicht neben, sondern unter dem Text.

Vorbemerkung zur Edition der Scholien der ›Chryseis‹:


Der lateinische Text der Scholien wurde (bis auf offensichtliche Druckfeh-
ler) eins zu eins übernommen, dabei wurden auch die von Furichius ver-
wandten Abkürzungen für antike Autoren und Schriften beibehalten – im
Stellenkommentar sind sie erläutert. Griechische Zitate in den Scholien
wurden, da sie in der Vorlage oft aufgrund schlechten Drucks kaum lesbar
sind, soweit ermittelbar, mit dem Text einer modernen Ausgabe abgegli-
chen. Dies ist jeweils in einer Fußnote verzeichnet. Die Verszahlen wie
auch Verszitate als Lemmata wurden, sofern sie vom epischen Teil der
Chryseis abweichen, stillschweigend berichtigt.

Anmerkungen zur Zitierweise:


Auf den Text der Chryseis wird, da im Original die Verse je Seite und nicht
nach Büchern durchnumeriert sind, bezug genommen nach dem Schema:
CHRYS., Seite des Originals, Vers (z. B. CHRYS., S. 23, 2)

Auf die Glossen und Scholien der Chryseis:


GL., Seite des Originals, Vers, zu welchem die Glosse gehört
(z. B. GL., S. 11, 7)
Im Stellenkommentar steht, wenn die Glosse desselben Verses gemeint
ist, einfach nur GL. Wenn der Stellenkommentar einen Abschnitt von
Versen behandelt, steht ebenso nur GL. mit der zugehörigen Verszahl.
SCHOL., [Originalseite in den ›Scholia‹] Seite, Vers, darauf bezug ge-
nommen
(z. B. SCHOL., [S. 57] S. 2, 22)
Auch hinsichtlich der Scholien steht im Stellenkommentar, wenn die zi-
tierte Scholie sich auf denselben Vers bezieht, einfach nur SCHOL.

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B. Edition und Übersetzung 65

Änderungen im Text:
Die folgenden Änderungen wurden gegenüber dem Originaltext der Chrys-
eis, deren Ausgabe keine ›Errata‹ enthält, vorgenommen:

S. 2, 8 mirtantem: mirantem
S. 4, 8 gontem: fontem
u. 26 oelsum: celsum
S. 12, 30 qua: quae
S. 18, 28 misêre: miserêre
S. 31, 30 ingne: igne
S. 35, 11 furosius: furiosius
S. 36, GL. 16 ἀνακεφαλέωϲιϲ ἀνακεφαλαίωϲιϲ
S. 52, 8 termitis: terminis
S. 53, 6 rota: vota

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66 B. Edition und Übersetzung

Furichius, Chryseis, Praefatio

[S. A1v] Ad Lectorem de Aufidio.

Descripsi versu veterum, pie Lector, Elixir:


Legit hoc Aufidius non sine nare sua.
Ergo non, inquit, medicam colet amplius artem,
Si vera inventa est Aurificina sibi.
[5] Somniat Aufidius: non illico possidet artem,
Describens, quis sit verus in arte modus.
Vt nequé, qui tabulis totum decircinat orbem,
Propterea dominus dicitur esse soli.

[S. A2r] IOHANNIS NICOLAI FURICHII.


Medicinae Doctoris et Poëtae Caesarei.
PRAEFATIO.
AD
Clarissimum IOACHIMUM MORSIUM,
Patricium Hamburgensem.

MI rabar, Claris[sime] Ioachime Morsi, cum praeterita hyeme ad me ve-


niens, amicitiae mecum contrahendae ansam cepisse profitebaris ex poë-
mate, inculto mehercule, et nullam limam experto, quod mihi etiam recu-
santi olim excidit, cum in Italia Musarum gratiâ versabar. Non equidem
unquam sperare audebam, fore quenquam, qui tali legendo operam aliquam
impendere vellet, tantum abest, ut te, de quo fama hactenus summa quae-
que mihi est pollicitata, ejusdem gustum aliquem capturum expectassem,
praesertim quum rei materia ita sit constituta, ut maxima pars etiam erudi-
torum fabulosam existimet esse, meréque nugatoriam. Ego verò, quamvis
aliorum opiniones censere [S. A2v] semper veritus sim, eorum tamen me
malle judicio stare fateor, qui rem pensiculatius excutientes, aliquam eidem
inesse veritatem invenerunt: quorum sanè longam enumerarem seriem, nisi
cornicum, quod ajunt, oculos configere velle viderer. Unus Libavius suffi-

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Praefatio 67

Furichius, Chryseis, Praefatio

[S. A1v] An den Leser über Aufidius.

Im Versmaß der Alten beschrieb ich, geneigter Leser, das Elixir:


Es liest dies Aufidius nicht ohne seinen Spott.
Also wird er sich nicht, sagt er, weiter mit der Heilkunst beschäftigen,
Sofern die wahre Goldschmiede für ihn gefunden ist.
[5] Es träumt Aufidius: Nicht auf der Stelle wird über die Kunst er verfügen,
Wenn er abschreibt, was das wahre Maß in der Kunst ist.
Wie auch nicht, wer auf Landkarten den ganzen Erdkreis abzirkelte,
Deswegen Herrscher der Erde genannt wird.

[S. A2r] DES JOHANNES NICOLAUS FURICHIUS,


Doktor der Medizin und Kaiserlicher Dichter,
VORWORT
AN
Den vortrefflichsten JOACHIM MORSIUS ,
Hamburger Patrizier.262

Ich wunderte mich, teuerster Joachim Morsius, als Du, da Du vergange-


nen Winter zu mir kamest, kundtatst, daß Du den Anlaß mit mir Freund-
schaft zu schließen, aus einem Gedicht genommen hättest, einem – beim
Herkules – unfertigen, an welchem ich auch gar nicht gefeilt hatte, welches
mir, auch noch widerwillig, einstmals auskam, während ich mich aus Liebe
zu den Musen in Italien aufhielt. Freilich wagte ich niemals zu hoffen, daß
es einen geben könnte, der irgendwelche Mühe darauf verwenden wollte,
derartiges zu lesen. Es liegt so fern, daß ich erwartet hätte, Du, vom dem
der Leumund mir bisher alles Erhabene versprochen hat, würdest einen
anderen Eindruck von diesem gewinnen. Vor allem, da der Stoff des Ge-
genstandes so beschaffen ist, daß selbst der größte Teil der Gebildeten
meint, er sei erlogen; geradezu albern. Ich aber, obschon ich mich, die
Meinungen anderer zu verurteilen immer [S. A2v] gescheut habe, bekenne
doch, daß ich mich lieber dem Urteil derer anschließen möchte, welche, da
sie den Gegenstand genauer abwägend durchforschten, befanden, daß darin
eine gewisse Wahrheit liegt: Von diesen könnte ich wahrlich eine lange
Reihe aufzählen, wenn es nicht schiene, ich wolle den Krähen – wie man

262 Diese Übersetzung der Vorrede ist bezüglich der dort zitierten Passagen abgeglichen
mit W. Kühlmann (1984), S. 130 f.

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68 B. Edition und Übersetzung

ciat demonstrando artis veritatem, cujus innumeros producit testes. Huic


adde testimonia Roberti Vallensis, quae tradit recentiorum infinita. Divinus
Scaliger quidem pater, ad Cardanum scribens, vix inducere potuit animum,
ut Alchimiae aliquam crederet certitudinem. Filius tamen in Manilium com-
mentans, quamvis Ciniflonibus, ut vocat, et flaturarijs stigma aliquod in-
ussisse videatur: non tamen negare potest, quin artis antiquitas etiam supra
Romanorum tempora repetenda sit; quam â Bessis didicisse, Cassiodoro, et
Claudiano poëtâ, testibus, affirmat. Praeter enim Firmicum Suidas de vel-
lere aureo Colchorum haec ait: Τοῦτο δὲ οὐχ ὡϲ ποιητικῶϲ φέρεται. ἀλλὰ
βιβλίον ἦν ἐν δέρμαϲι γεγραμμένον, περιέχον ὅπωϲ δεῖ γίνεϲθαι διὰ χημείαϲ
χρυϲόν. εἰκότωϲ οὖν οἱ τότε χρυϲοῦν ὠνόμαζον αὐτὸ δέραϲ, διὰ τὴν ἐνέρ-
γειαν τὴν ἐξ αὐτοῦ. Alibi. χημεία, ἡ τοῦ ἀργύρου καὶ χρυϲοῦ καταϲκευή,
ἧϲ τὰ βιβλία διερευνηϲάμενοϲ ὁ διοκλητιανὸϲ ἔκαυϲε, διὰ τὰ νεὼτεριϲ-
θέντα αἰγυπτίοιϲ διοκλητιανῷ. τούτοιϲ ἀνημέρωϲ καὶ φονικῶϲ ἐχρήϲατο,
ὅτε δὴ καὶ τὰ περὶ χημείαϲ χρυϲοῦ καὶ ἀργύρου τοῖϲ παλαιοῖϲ αὐτῶν
γεγραμμένα βιβλία διερευνηϲάμενοϲ ἔκαυϲε πρὸϲ τὸ μηκέτι πλοῦτον
αἱγυπτίοιϲ, ἐκ τῆϲ τοιαύτηϲ προϲγίνεϲθαι τέχνηϲ, μηδὲ χρημάτων αὐτοὺϲ
θαρ[S A3r]ροῦνταϲ περιουϲία τοῦ λοιποῦ ῥωμαίοιϲ ἀνταίρειν.263 Eorum
Virorum authoritate olim impulsus coepi attentius indagare in scripta alio-
rum, qui eâ de re prolixius tractaverant: Veniebant ad manus multi, quos
non nisi extremis oculis libare licebat. Nôstì enim hominum hac parte,
superstitionem dicamne, an invidiam? maximam. Ego verò, quae potui, in
ephemerides meos transtuli versiculis expressa, scabris quidem ijs, opera-
que tumultuariâ effusis, donec quidam mearum ineptiarum conscij, easdem
importunius efflagitare satagentes, obtinuerint, ut typis mandarem. Produxi
in scenam carnem, non quod, ut ille ait,
Multa dies, et multa litura coêrcuit.
(Neque enim occasio tulit:) sed quod aliquam saltem ordinis speciem prae
se ferret. Tuo tamen suasu, et persuasu, factum est, ut foetum expositum,
postquam in patriam redijssem, recognoscerem, praesertim cum multa de-
prehenderem, partim inscitè, partim etiam minus solidè dicta, quae manu

263 Der griechische Text ist bezüglich der Akzentsetzung abgeglichen mit den hier von
Furichius, indirekt über Joseph Scaligers Maniliuskommentar, zitierten Einträgen
›Δέραϲ‹ und ›Χημεία‹ in Suidas 2 (1931), S. 24 u. Ebd. 4 (1935), S. 804.

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Praefatio 69

sagt – die Augen aushacken. Ein Libavius würde genügen, um die Wahrheit
der Kunst zu beweisen, wofür er zahllose Gewährsleute aufführt. Zu diesem
kommen die Zeugnisse von Robertus Vallensis, welche er von den Neueren
ohne Ende überliefert. Der göttliche Scaliger zwar – der Vater – vermochte,
wie er an Cardanus schreibt, sich kaum dazu zu entschließen, daß er für die
Alchemie irgendeine Gewißheit gelten ließe. Der Sohn jedoch, beim Kom-
mentieren des Manilius, obschon er den ›Aschenbrödeln‹ – wie er sie nennt
– und den ›Münzgießern‹ ein Brandmal aufgedrückt zu haben scheint, ver-
mag dennoch nicht abzustreiten, daß von einem Ursprung der Kunst weit
vor den Zeiten der Römer ausgegangen werden muß; welche sie von den
Bessi gelernt hätten, [was er durch] Cassiodor und den Dichter Claudian als
Gewährsmänner bekräftigt. Neben Firmicus sagt ja Suidas über das goldene
Vlies der Colchier dieses: Dieses ist aber nicht wie es dichterisch gesagt
wird, sondern es ist ein auf Vlies geschriebenes Buch, das enthält, auf
welche Weise man mit der Chemie Gold hervorbringen muß. Bildlich also
nannten sie es damals das goldene Vlies, wegen der Wirkung aus ihm. An
anderer Stelle. Chemie: Von Silber und Gold die Zubereitung, deren Bü-
cher, da er sie durchforschte, Diokletian verbrannte. Deshalb, weil sie von
den Ägyptern wegen Diokletian erneuert wurden. Mit diesen verfuhr er
unerbittlich wie auch mordlüstern, als er sowohl die über die Chemie des
Goldes als auch des Silbers von deren Ahnen geschriebenen Bücher, da er
sie durchmusterte, verbrannte, damit nicht mehr den Ägyptern Reichtum
aus solcher Kunst entstünde, auch nicht, damit sie sich im Vertrauen [S.
A3r] auf einen Überfluß an Geldmitteln in Zukunft gegen die Römer zu
erhöben. Von dieser Männer Exempel angeregt begann ich recht aufmerk-
sam in den Schriften der anderen nachzuforschen, welche diesen Gegen-
stand recht weitschweifig verhandelt hatten: Viele kamen zu Händen, wel-
che man nur aus größter Entfernung leicht mit den Augen streifen durfte.
Du kennst nämlich in diesem Bereich den größten Aberglauben der Men-
schen – oder sollte ich Neid sagen? Ich aber, soweit ich es vermochte,
übertrug es, in Verslein gebracht, in mein Journal; eine allerdings in größter
Hast verrichtete Arbeit, mit diesen Rauheiten überstreut, so lange bis einige
Mitwisser meiner Ungereimtheiten, welche recht ungestüm nach ebenjenen
beharrlich und dringend zu verlangten, daß ich es in Druck gäbe. Auf die
Bühne brachte ich eine Dichtung, nicht weil, wie jener sagt,
mancher Tag und so manches Polieren gekürzt,264
(Es bestand nämlich auch keine Gelegenheit) sondern, weil sie wenigstens
einen gewissen Anschein von Regelhaftigkeit zur Schau tragen würde.
Gleichwohl ist es auf Dein Anraten hin, und durch Deine Überzeugung
geschehen, daß ich die ausgestoßene Leibesfrucht, als ich in die Heimat
zurückkehrte, sorgfältig durchmusterte. Vor allem, da ich vieles fand, das

264 Übersetzung von HOR. ars. 292 f. nach E. Schäfer, in Horatius (2008).

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70 B. Edition und Übersetzung

scriptorum tuorum adminiculo emendare conatus sum, cui meo voto, si non
omnia, ut sperabam, respondent, tuae saltem petitioni satis fecisse suffece-
rit. Ec quis verò in tanta rei novitate omnia ad normam exactissimam di-
rigere possit?
[S. A3v] Nemo enim hactenus inter Romanae elegantiae proceres materiam
hancce attingere dignatus est. Invenies totam Lapidis Philosophici tractatio-
nem severiorem barbari seculi limitibus circumscriptam. Tuos verò Graecu-
los, quos manuscriptos hac de materia ostendisti, pace tua dicam, admodum
novitios judico, atque etiam semibarbaros, quod ex duorum, quos adhuc
domi meae servo, lectione arguere possum. Fortasse verò, si quis tui similis
tentaverit, naevos longo situ contractos acrioris judicij lixivio diluere possit.
Lusus igitur hosce meos, tibi transmitto, qui eosdem quasi de trivio
redemptos tibi ipse destinâsti proprios. Illud verò tantò facio audentior,
quantò aequanimitatis tuae sum confidentior. Neque enim te inter morosos
istos Catones, aut Solones existimo recensendum,
Obstipo capite, et figentes lumine terram,
Murmura cum secum et rabiosa silentia rodunt,
Atqué exporrecto truntinantur verba labello.
Ut acriorem censuram tuam extimescere necesse habeam. Ut namqué decet
inter bonos benè agier: ita optima quaeque de te spero. Vale amicissime
Morsi. Dabam Argentorati Mense Martio, Anno M. DC. XXXI.

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Praefatio 71

teils ungeschickt, teils zuwenig gediegen ausgedrückt war, welches ich, mit
Deinen Schriften als Stütze, von Hand versucht habe auszubessern. Wenn
dem nach meinem Wunsch auch nicht alle, wie ich hoffte, entsprechen,
möge es wenigstens dafür ausreichen, Deinem Anbegehren genüge getan
zu haben. Könnte tatsächlich irgend jemand bei einem solch ungewöhnli-
chen Gegenstand alles an einer exakten Norm ausrichten?
[S. A3v] Niemand freilich von den Meistern der Römischen ›Elegantia‹ hat es
bisher für wert gehalten, ebendiesen Stoff anzurühren. Du wirst feststellen,
daß die ganze ernsthaftere Behandlung des Steins der Weisen rings von den
Grenzen einer barbarischen Zeit umgeben ist. Deine Griechlein aber, wel-
che Du als Handschriften über diesen Stoff vorgewiesen hast – mit Deinem
Einverständnis mag ich es sagen – sind nach meinem Urteil jüngeren Da-
tums, wie auch halbe Barbaren, was ich aufgrund der Lektüre der beiden,
welche ich noch bei mir zuhause aufbewahre, schließen kann. Wenn aber
jemand, der Dir ähnlich ist, es versuchte, könnte er die durch langes Lie-
genlassen zugezogenen Makel mit der Lauge einer schärferen Urteilskraft
abwaschen.
Diese meine Spielereien also übersende ich Dir, der Du diese gleich-
sam von der Gasse für Dich selbst aufgelesen als Eigentum ausersehen hast.
Das mache ich aber desto dreister, je fester ich auf Deine Gleichmut ver-
traue. Auch meine ich nämlich nicht, daß Du zu jenen mürrischen Männern
wie Cato oder Solon hinzuzurechnen bist,
welche, den Kopf verdreht und den Grund mit dem Blick durchboh-
rend, im Stillen für sich ihr Murmeln und wütiges Schweigen zerkauen und
auf geschürzter Lippe ein Wort ums andere wägen,265
so daß ich es nötig hätte, Deine gestrenge Abrechnung mit Furcht zu er-
warten. Wie es sich nämlich unter Tüchtigen gehört, gut behandelt zu wer-
den: Daher wünsche ich Dir alles Gute. Lebe wohl mein bester Freund
Morsius. Ich schrieb es nieder zu Straßburg, im Monat März, im Jahre
1631.

265 Übersetzung nach W. Kißel, in: Persius (1990), S. 39.

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72 B. Edition und Übersetzung

[S. 1] IOHANNIS NICOLAI FURICHII,


Med[icinae] D[octoris] et P[oetae] Caes[arei].

CHRYSEIDOS
LIBER I.
Argumentum,

AU thor exorditur â vicissitudine scientiarum et artium, earundemque accre-


tione, et explicat, qua tandem ratione ad Alchemiam sit perventum: deinde
auri praecellentiam pertexit, monstratque modum, et viam generalem ejus
efficiendi, ut et materiam operis non sine assidua infinitae Bonitatis invo-
catione praemissa: tum mixtionis doctrinam subjungit: Principiorum Chy-
micorum nomina varia excusat: certum eorundem numerum tradit: Tandem
Mercurij Philosophici praeparandi modum, et spatium annectit.

MAgnum opus adgredior: festino ad culmina rerum:


Teque meos lustrante animos novo, Apollo, vigore,
Incipio immensis reparare laboribus artem,
Quae docuit totos * magnae penetrare recessus
[5] Matris, et † ignotis animam defendere ab umbris,
——————
[›Argumentum‹] Exordium.
[v. 4] * Cybelles, quae dea terrarum fingitur.
[v. 5] † Chymiae, quae minus nota fuit apud veteres.

[S. 2] Quae tenuere homines elapsi turpiter aevi.


(a) Ambitiosa cohors, cui mens turgebat inani
Prodigio rerum, totum exhausisse putabat
Naturae fontem: stabat captivus Olympus
[5] Insidiis hominum, (b) superataqué sidera prolem
Admisêre novam quam dudum fulmine jacto
Credebant cecidisse solo, quum Iuppiter Ossam
Prostravit, crescente astris cervice mirantem.
Res non ficta fuit. Victoria nota Tonantis
[10] Enceladi quondam flammis crepitantibus Aethnae
Membra dedit, sociosqué olim Titanes averno

——————
[v. 2] a Graeci et Arabum nonnulli.
[v. 5] b Γιγαντομαχία: Rectè atheorum subnotatur impietas, eorundemqué poena. Vide et
Virigil. lib. Georgic.

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Chryseis, Liber I. 73

[S. 1] DES JOHANNES NICOLAUS FURICHIUS,


Doktor der Medizin und Kaiserlicher Dichter,

DER CHRYSEIS
I. BUCH
Inhalt,

Der Verfasser beginnt bei der gegenseitigen Bedingtheit der Wissenschaften


und Künste sowie deren Entwicklung und erklärt, auf welche Weise man
endlich bei der Alchemie angelangt ist. Danach führt er des Goldes große
Vortrefflichkeit aus und zeigt die Methode und den allgemeinen Weg, die-
ses herzustellen, wie auch den Stoff des Werkes, nicht ohne die beständige
Anrufung der unendlichen Güte vorausgesandt zu haben. Dann fügt er die
Lehre von der Mischung hinzu. Die mannigfaltigen Bezeichnungen der
chemischen Grundstoffe rechtfertigt er. Deren genaue Anzahl teilt er mit.
Zuletzt fügt er noch die Methode wie auch den Zeitraum, den philosophi-
schen Mercurius zu bereiten, an.

Ein großes Werk nehm’ ich in Angriff. Ich eile zu den Gipfeln der Dinge.
Und, da Du Apoll, mein Herz mit neuer Lebenskraft weihend besprengst,
beginne ich mit unermeßlichen Mühen die Kunst zu erneuern, welche lehrte
wie man eindringt in alle der * großen Mutter Verstecke [5] und wie man †
die Seele vor der Dunkelheit der Unkenntnis bewahrt,
——————
[›Inhalt‹] Beginn.
[v. 4] * Cybele, die als Göttin der Erde dargestellt wird.
[v. 5] † Der Chemie, die bei den Alten weniger bekannt war.

[S. 2] welche die Menschen vergangener Zeit schmählich in ihrer Gewalt hielt. (a)
Die ehrgeizige Schar, der das Gedächtnis aufgeschwollen war von der Din-
ge nichtiger Monstrosität, glaubte daß die Quelle der Natur zur Gänze er-
schöpft sei. Der Olymp stand da, eingenommen [5] durch die Schliche der
Menschen. (b) Die überwundnen Gestirne ließen ein neues Geschlecht zu,
welches sie schon lange durch den geschleuderten Blitz zu Boden geworfen
glaubten, als Jupiter den staunenden Ossa, dessen Nacken sich zu den Ster-
nen erhob, niederschmetterte. Die Sache war nicht erdacht. Des Donnerers
berühmter Sieg [10] übergab einst den Leichnam des Enceladus an die
knisternden Flammen des Ätna und sandte damals die verbündeten Titanen
——————
[v. 2] a Die Griechen und von den Arabern einige.
[v. 5] b Gigantomachie: Üblicherweise wird die Gottlosigkeit der Atheisten darunter ver-
standen, wie auch deren Bestrafung. Siehe auch VERG. georg.

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74 B. Edition und Übersetzung

Immisit: cecidit Bryareus, suntque arma Mimantis


Rupta Iovi, centumgeminiqué Aegeonis enses.
(c) At nata est nova gens olim, quae damna revolvens
[15] Insanae turbae, coepit contexere fraudem,
Quâ precibus, non vi conscendat ad aethera summum:
Cumqué pererravit stellantia culmina caeli
Ingenio, voluit dominam se reddere sedis
Aetheriae. Rapidi jam prodita semita solis,
[20] Atque fuit notum, qua cedat origine Phoebus:
Frenaque vertat ubi radiata auriga quadrigae:
Cur lucem extendant * Chelae? Cur Bruma remittat?
Quid pariat nivea cursus per signa Diana?
Cur jubar abscondat? Cur manca fronte coruscet?
[25] Quid vehat Orion nimboso vertice terris?
Vergiliae quid agant? Quid * proxima signa Bootae?
Et quas portendat combusta Canicula messes?
At tandem exorta est Arabum gens conscia coeli,
Quae docuit majora illinc deducere facta.
[30] Illa Planetarum varios certo ordine motus
Distinxit, longasque vias, viresque notavit.
Qua se quisque aliis fronte implicet, atque figuret?
Signifer obliquo quid tramite denotet arcus?
Non est in coelis regio: non angulus ullus,
[35] Cui leges non sint praescripta, et jura severa,
——————
[v. 14] c Astrologi.
[v. 21] Duo solstitia.
[v. 22] * Tropicus Cancri et Capricorni.
[v. 26] * Arcturus.

[S. 3] Ipsae etiam Parcae, mutatis sedibus, Orco


Defunctae, in coelum quondam migrâsse feruntur:
Hinc vitae produci hominum, rursumque revelli.
Vana superstitio, cultusque ignara deorum!
[5] Creditur imperium Mundi tribuisse creatis
Rex coeli, Satrapasqué polo statuisse tremendos.
Postea vicino lustravit in aere nubes,
Et supra nubes metuendo crine Cometas:
Totaque ignes huc ex illa regione cadentes.

——————
[v. 2] Astrologiae vel potius ᾽Αϲρομαντέιαϲ vanitas.
[v. 7] Meteora.
[v. 9] Metallica.

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Chryseis, Liber I. 75

in die Unterwelt: Bryareus fiel, die Waffen des Mimas wurden durch Jupiter
zertrümmert, wie die Schwerter des hundertarmigen Aegeon. (c) Allein, ein
neues Geschlecht trat ehedem auf, [15] welches, die Verheerungen der
wahnsinnigen Schar erneuernd, begann eine Intrige zu spinnen, durch wel-
che es mit Bitten, nicht durch Gewalt, hinaufsteigt zum höchsten Himmel.
Indem es mit dem Geist die gestirnten Gipfel des Himmels durchirrte,
wollte es sich zum Herrn des Himmelsthrones erheben. Bereits war die
Bahn der schnellen Sonne zum Vorschein gekommen, [20] ebenso war
bekannt, von welchem Ausgangspunkt Phoebus seinen Weg nimmt; wo
der Wagenlenker die gleißenden Zügel des Viergespanns wendet; warum
* die Scheren den Tag verlängern; warum die Wintersonnenwende ihn ver-
kürzt; welchen Weg sich die schneeweiße Diana durch die Sternbilder
bahnt; warum sie den Glanz verbirgt; warum sie mit unvollständigem Ant-
litz scheint; [25] auf welche Weise Orion mit Wolkenscheitel über die Län-
der reitet; wie es um die Plejaden steht; wie um das * benachbarte Sternbild
des Bootes; und welche Ernten der kleine Hund ankündigt. Allein, endlich
entsprang ein Geschlecht der Araber, kundig des Himmels, das lehrte wie
man von dort bedeutsamere Geschehnisse erschließt. [30] Jenes unterschied
die verschiedenen Bewegungen der Planeten nach fester Ordnung, zeich-
nete die langen Bahnen auf, wie auch die Kräfte; mit welcher Seite ein
jeder sich den anderen verbindet und sich darstellt; was der auf schiefem
Weg mit Gestirnen versehene Kreisbogen bezeichnet. Nicht gibt es einen
Bereich am Himmel, nicht irgendeinen Winkel, [35] dem nicht Gesetze
vorschrieben sind und eine strenge Rechtsordnung.
——————
[v. 14] c Die Astrologen.
[v. 21] Die zwei Solstitia.
[v. 22] * Der Wendekreis des Krebses wie auch des Steinbocks.
[v. 26] * Arcturus.

[S. 3] Die Parzen selbst überdies, so behaupten sie, welche, nachdem sie beim
Wechsel der Wohnstatt dem Orcus verloren gegangen, seien einst an den
Himmel gewandert. Von dort aus würden die Leben der Menschen gespon-
nen und wiederum abgerissen.
Eitler Aberglaube und Kult, ohne Ahnung von den Göttern! [5] Es wird
geglaubt, der König des Himmels habe die Herrschaft über die Welt den
Geschöpfen überantwortet und über den Himmel schreckliche Statthalter
eingesetzt.
Hernach schmückte er den nahen Luftraum mit Wolken und oberhalb der
Wolken mit Kometen mit furchtbarem Schweif und mit den Feuern, welche
aus jenem ganzen Bereich herabfallen. [10] Zuletzt stieg es [das neue
——————
[v. 2] Der Astrologie oder vielmehr der Sterndeuterei Nichtigkeit.
[v. 7] Luftzeichen.
[v. 9] Aus Metall.

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76 B. Edition und Übersetzung

[10] Tandem etiam in terras descendit, et intima terrae


Viscera rimata est, et supra tergora plantas,
Quae tot habent species, Lybiae quot littus arenas.
Imprimis hominem inspexit, partesque minutas
Vsque adeò discerpsit homo, dum cunta notâvit.
[15] Vt primùm Deus ossa hominis, ceu rudera, terrâ
Formâvit madidâ, quam non secus igne potenti
Miscuit, ac Siculis Steropes fornacibus arma?
Vtque recocta suis distinxerit artubus ossa?
Vt lubricos dederit motus mediante * liquore?
[20] Vt nervis stabilita, velut per frena, trahantur,
Quo velit aut nolit dominans Regina voluntas.
Inde pari vidit sensu, quo semine molles
Prodierint carnes? Quo quaevis rore madescant?
Vt cedant duris? Roseis ut flumina venis
[25] Per totum excurrant corpus, locaque abdita cuncta.
Vt pater Oceanus magni per climata Mundi
Vndarum effundit seriem, modò flumina mittens
Niliacis alveîs, mox, lubrica frena retractans,
Fundit in Euxinum furiosis cornibus Istrum:
[30] Post ortum petit, et jactat se nomine Gangen:
Atqué iterum, Hesperias cum jam pervenit ad oras,
Dicitur Eridanus. Sic repperit omnia, postquam
Ruspari coepit ventres hominum atqué ferarum,
——————
[v. 11] Plantae.
[v. 12] Anatomia.
[v. 13] Hominis generatio.
[v. 18] Vide Hipp. de artic. et Gal. comment.
[v. 19] * Paracelsus barbarâ voce Synoviam vocat.
[v. 27] Nutritio.

[S. 4] Quaerereque agrorum latitantia semina cultris.


Nec sat erat. Coepit transire audace carina
Oceanum, montesque ipsos perrupit hianteis.
Diva soli, Cybele violento territa motu
[5] Restitit, et fulvis inhibebat frena leaenis.
Non emittebant ululatus Moenades ullos:
Tibia conticuit: responsabant cymbala nusquam.
Obstupuit furiosa cohors, mirataque fontem
Insanire novam, rabiem detersit inanem.

——————
[v. 1] Μεταλλών.

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Chryseis, Liber I. 77

Geschlecht, die Araber] noch in die Erde hinab. Durchstöbert wurden die
innersten Eingeweide der Erde und oberhalb des Erdrückens die Pflanzen,
von denen es so viele Arten gibt, wie Sandkörner in den Gefilden Lybiens.
Vor allem den Menschen sah es sich an, und so lange zerpflückte der
Mensch die winzigen Teile, bis er alles kannte: [15] wie am Anfang Gott
die Knochen des Menschen, gleichsam wie Gestein, aus feuchter Erde
formte, welche er nicht anders mit mächtigem Feuer durchsetzte als Stero-
pes es in den Sizilischen Öfen mit den Waffen tat; wie auch von seinen
Gliedern die neu aufgekochten Knochen trennte; wie er ihnen die leichte
Bewegungen gab mit Hilfe * einer Flüssigkeit; [20] wie sie an den Sehnen
befestigt, so wie über Zügel, gezogen werden, wohin der regierende König
Wille möchte oder nicht möchte; hierauf hin sieht es [d. h. besagtes Ge-
schlecht] im gleichen Bewußtsein, aus welchem Samen das weiche Fleisch
hervorkam; durch welchen Tau was auch immer träuft, damit es harten
Gegenständen nachgibt; wie die Ströme in den rosenfarbigen Adern sich
[25] durch den ganzen Körper verbreiten und alle verborgenen Orte; wie
der Vater Oceanus durch die Zonen der weiten Welt die Reihe der Wellen
ausgießt, indem er bald die Fluten durch die Becken des Nils schickt, bald
die schlüpfrigen Zügel anzieht, gießt aus tosenden Hörnern in das Gastliche
Meer die Donau. [30] Hernach strebt er nach Sonnenaufgang und sonnt
sich im Glanze des Ganges. Und wiederum, wenn er nun anlangte an den
abendlichen Küsten, nennt man ihn Eridanus. So entdeckt es alles, nach-
dem es sich anschickte, die Bäuche der Menschen und Tiere zu ergründen

——————
[v. 11] Pflanzen.
[v. 12] Anatomie.
[v. 13] Die Erzeugung des Menschen.
[v. 18] Siehe Hp. Art. wie auch Galens Kommentar.
[v. 19] * Paracelsus nennt ihn mit einem fremden Wort Synovia.
[v. 27] Ernährung.

[S. 4] und mit den Pflugmessern nach den sich verborgendenhaltenden Samen der
Äcker zu forschen.
Doch es war nicht genug. Es schickte sich an, auf verwegenem Kiel den
Ozean zu durchfahren, wie es auch seinen Weg bahnte selbst durch gespal-
tene Berge. Die Göttin der Erde, Cybele entsetzt durch das gewaltsame
Beben [5] hielt inne, zog an die Zügel der rotblonden Löwinnen. Gar
kein Geheul gaben die Mänaden von sich. Die Flöte verstummte. Nirgends
gaben Widerhall die Cymbeln. Vor Furcht verstummte die tobende Schar,
und vor Verwunderung, daß eine neue Quelle rase, streifte sie ab das un-

——————
[v. 1] Der Metalle.

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78 B. Edition und Übersetzung

[10] Divitiae interea rutilarunt undique magnae:


Hinc aurum fulsit generoso sulphure turgens:
Illinc argentum, cui pallens aemula Luna:
Stannum hinc promicuit sublustri ductile filo:
Triste illinc plumbum, cui Martis dira supellex
[15] Accubuit, cuprumque rubens, sacra Cypridos aera.
Haec inter mixtim vivax ebullijt unda,
Ante immota tamen, sed quum jam mobilis ignem
Experta est, errare utrò citròque solebat.
Non secus ac Majâ genitus, quum nuncius alas
[20] Librat, et his terris affert mandata deorum.
Nec dum finis erat: longè his majora patrârunt
Mortales. Vidêre auri sic vincere amorem,
Atque ejus radios totum perstringere Mundum.
Viderunt reges auri exsultare fodinis:
[25] Viderunt isto digitos ornare metallo,
Et celsum aurifera caput investire coronâ.
Ipse Iovis currus rutilo locupletior auro
Spledebat, crinesque Dei hac fulsere nitellâ.
Mundum Iuno suum contexuit inde superbum:
[30] Hoc collo gessit, gessit que hoc auribus unum,
Et voluit bigae temonem hôc aere sonare,
Alitis et binae rostra ima hôc tingere fuco.
Illicô Mars Siculum petijt Rhodopeius antrum,
——————
[v. 10] Septem metalla.
[v. 22] Auri praecellentia.

[S. 5] Mucronesque auro gladiorum obducere jussit,


Et simili factu decorare manubria summa.
Aurea cassis erat, clypeusque intectus eadem
Promicuit massâ, thorax quoque splenduit auro.
[5] Accessit Citherea, atque inde monilia fecit
Et cestum, et crepidas hôc censuit, atque cothurnos.
Natus inaurâsset fermè sua tela Cupido,
Ni cuperet letale anìmis infligere vulnus.
Abstulit auricomas tamen ipsa pharetra colores,
[10] Atque strias arcus, pinnae geminaeque nitellas.
Sic reliqui caetus imitando egêre deorum.
Quivis prout decuit. Sed, quod super omnia mirum est,
Iustitia ipsa etiam lances illo aere gemellas
Curavit fieri, et summum mucronis acumen.

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Chryseis, Liber I. 79

nütze Wüten. [10] Dieweil glissen von überall große Reichtümer. Von hier
strahlte das Gold schwellend von edlem Schwefel, von dort das Silber,
welchem es Luna erblassend gleichtut. Das Zinn blitzte hervor von hier
sanft schimmernd als gezogener Strang. Dort das trübsinnige Blei, welchem
des Mars grausiges Rüstzeug [15] beilag, und das rötliche Kupfer, die der
Zyprierin heiligen Erze. Zwischen diesen vermischt brodelte auf die mun-
tere Woge, vorher gleichwohl erstarrt, doch da sie bereits flüssig das Feuer
verspürte, pflog sie nach hier und nach dort zu fließen. Nicht anders Majas
Sohn, da er als Bote die Flügel [20] schwingt und dieser Welt die Weisun-
gen der Götter überbringt. Noch nicht war es zu Ende: Weitaus größere
Dinge als diese vollbrachten die Sterblichen. Man sah, wie die Liebe zum
Gold ohne weiteres obsiegte, und wie dessen Strahlen die ganze Welt
durchziehen. Man sah, wie Könige jubelten über Minen von Gold. [25]
Man sah, wie sie mit diesem Metall die Finger zierten und dem hohen
Haupt die goldene Krone aufsetzten. Selbst des Jupiters Wagen glänzte
prächtiger von Gold und das Haar des Gottes strahlte von diesem Glanz.
Ihre Prachtgewänder wob Juno sich aus diesem, [30] dieses trug sie am
Hals, dieses eine auch trug sie an den Ohren, ebenso wollte sie, daß des
Zweigespanns Deichsel von diesem Erz tönt; auch die nach unten gehalte-
nen Schnäbel des geflügelten Paares mit diesem Farbstoff zu bestreichen.
Alsbald verlangte der Rhodopeische Mars nach der Sizilischen Grotte,

——————
[v. 10] Die sieben Metalle.
[v. 22] Die Vortrefflichkeit des Goldes.

[S. 5] und die Spitzen der Schwerter befahl er mit Gold zu überziehen und auf
ähnliche Machart die Enden der Hefte zu verzieren. Golden war der Helm,
und der Schild erstrahlte überzogen mit demselben Material, der Brustpan-
zer strahlte ebenso von Gold. [5] Es trat Citherea hinzu, und machte daraus
Halsbänder und Gürtel, auch für Sandalen hielt sie dieses für angemessen,
wie auch für die Kothurne. Der Sohn Cupido würde beinahe immer seine
Geschosse vergolden, wenn er nicht begehrte den Seelen die tödliche Wun-
de zuzufügen. Davon trug dennoch der Köcher selbst die goldglänzenden
Verzierungen, [10] wie auch der Bogen die Kanneluren, ebenso die Dop-
pelfedern den Glanz. So war es der Schar der übrigen Götter ein Bedürfnis,
dem gleich zu tun. Ein jeder wie es sich schickte. Doch, was über alles
hinaus erstaunlich ist, Iustitia selbst trug ebenso Sorge, daß die doppelten
Waagschalen aus diesem Erz gemacht wurden wie auch des Dolches ober-
ste Spitze.

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80 B. Edition und Übersetzung

[15] Haec ita mortales animis expendere caetus


Dum satagunt, naturae ipsas sibi sumere vires
Caeperunt, aurique altos perquirere fontes.
Cum namque incultas aurum producere cryptas
Cernebant, glebáque informi haerere metallum,
[20] Dictavit ratio, siqua ars accederet agris,
Ingeniumque sagax, longè fore fertiliores.
Addidit hinc animis stimulos audacia fretis:
Fornaces arsêre cavae, fumosque dedêre.
Vasa intus tenuêre rudem * sine semine terram,
[25] Vitâi plenam tamen, et virtute tumentem
Vivificâ, quae terrenis jam libera vinclis
Prolicit ex auro nudum cum foenore semen,
Quod proprij exsugens cognata alimenta novalis,
Crescit in immensas immenso robore vires.
[30] Interea gens gnara artis se credidit ausis:
Imprimis orarare Deum sine fine potentem
Cura fuit, numenque sibi impressisse supremum.
Mota Dei natura sinum haut invita reduxit,
——————
[v. 15] Alchymia.
[v. 24] * Semen enim ex auro trahitur.
[v. 30] Propositio.

[S. 6] Quae roseos imitans Solis, diffusa, capillos


Omnibus allucet, repletque omne, atque per omnia vadit.
Hanc qui non poscit, misera sub nocte jacebit:
Haerebit medijs alter Palinurus arenis.
[5] Hac sine, cum medicus, genuit quem Pergamus olim,
Tentavit morbos aegris evellere membris,
Tradidit infirmam, mutilamque nepotibus artem:
Sed quoqué virus habet penitis immane medullis,
Quod qui delibant, rabiem stimulantur in atram,
[10] Atque * Deum truce dente petunt, brutisque cavillis.
Dispereant Graij, quorum deliria mentes
Sic turbant hominum, nulla ut primordia Mundi
Esse putent, animasqué rapi letalibus umbris.
Permisit nobis summi clementia regis
[15] Liberius sentire animis, sed facta tuendi
Impia, nulla dedit venerandus semina rector.
Icarus in medijs quondam submergitur undis,
——————
[v. 10] * Christum.

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Chryseis, Liber I. 81

[15] Solange daher die sterblichen Scharen sich abmühten, dies in Gedanken
abzuwägen, wurden sie fähig, sich die Kräfte der Natur anzueignen und
nach den tiefen Quellen des Goldes zu schürfen. Da sie nämlich gewahr
wurden, daß die unberührten Gewölbe Gold hervorbringen, und an der
unförmigen Scholle das Metall hängt, [20] gab die Vernunft ein, daß,
wenn Kunst sich der Äcker annähme und ein scharfsinniger Verstand, sie
bei weitem ergiebiger wären. Den hierauf vertrauenden Gemütern verlieh
die Kühnheit Ansporn. Hohle Öfen glühten und gaben Qualm von sich. Die
Gefäße bargen im Inneren rohe Erde * ohne Samen, [25] dennoch voll
Leben, wie auch von lebensspendender Kraft strotzend, welche nun befreit
von den irdischen Banden aus dem Gold mit Gewinn den bloßen Samen
herauslockt, welcher, indem er die verwandten Nährstoffe des eigenen
Brachfeldes aussaugt, anwächst mit unermeßlicher Stärke zu unermeßli-
chen Kräften. [30] Dieweil verließ sich die der Kunst kundige Heidenschaft
auf das Gewagte. Vor allem war man darauf bedacht, ohne Unterlaß Gott
den Mächtigen anzubeten, wie auch die höchste Gottheit für sich einge-
nommen zu haben. Bewegt, nicht widerwillig, zog Gottes Natur den Busen
zurück,

——————
[v. 15] Alchemie.
[v. 24] * Der Same nämlich wird aus dem Gold gezogen.
[v. 30] Propositio.

[S. 6] welche, indem sie, ausgebreitet, es der Sonne rosenfarbigen Haaren gleich-
tut, alles anscheint und jedes erfüllt, wie auch durch alles dringt. Wer diese
nicht erheischt, wird begraben sein unter trostloser Nacht. Als zweiter Pa-
linurus wird er mitten auf dem Strand festsitzen. [5] Ohne diese, da der
Arzt, den einst Pergamus hervorbrachte, versuchte aus den leidenden Glie-
dern die Krankheiten zu entfernen, vertraute er die schwächliche und ver-
stümmelte Kunst den Nachkommen an. Allein, tief im Mark trägt sie ein
entsetzliches Gift. Die davon kosten, werden in schwarzen Wahnsinn ge-
trieben, [10] und * Gott fallen sie an mit grimmigem Zahn, und unbehol-
fenen Spöttereien. Zugrundegehen sollen die Griechen, deren Irrsinn so die
Gemüter der Menschen verwirrt, daß sie glauben, es gab keinen Ursprung
der Welt, und die Seelen würden von todbringenden Schatten geraubt. Es
gestattete uns die Milde des höchsten Königs, [15] recht frei zu urteilen.
Doch schändliche Taten zu schützen, dafür gab keinen Anlaß der vereh-
rungswürdige Lenker. Icarus ertrank einst mitten in den Wogen, während

——————
[v. 10] * Christus.

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82 B. Edition und Übersetzung

Dum rapidis audet Solem contingere pinnis:


At rediit salvus ceratis Daedalus alis,
[20] Dum prudens citimo decrevit in aëre ferri.
Nos verò ad coelos audacibus ire carinis
Non formidamus, summi nec Apollinis auram
Adspirare pudet depressa lumine mentis.
Heu quotus in tanta gaudens errare Charybdi
[25] Naufragium patitur? Quoties mens luce superba
Dum voluit lustrare Deum, de vertice summi
Deturbata poli, tenebras remeavit ad imas?
At nova gens coelo quondam demissa supremo
Nos vocat ad melius, serisque nepotibus offert
[30] Sanctius exemplum, qualique authore triumphet,
Demonstrat factis. Genialem namqué medelam
Terrigenis prodit, quam per tot secula cuncti
Optarunt populi, hanc reddit cum foenore largo,
——————
[v. 22] Deus ἀγραῖοϲ.

[S. 7] Ne gravis, ut dignum est, forsan vindicta maneret


Iudicis aetherij, et raperent Plutonia regna
Invidiosam animam, mordax ubi pectora vultur,
Sorte Promethea, rostro fodicabit adunco.
[5] Primum igitur gressus placato numine sanctos
Direxit minimis Naturae in stamine telis,
Primaque scitata est, coêant quo corpora nexu:
Qua formâ humentem tellus absorbeat undam?
Vnda auram, flammamque aër? Vt singula quodvis
[10] Pervadant corpus? Nam multùm strenua lex est
Principijs, quorum qui noverit undiqué vires,
Dicendus demum sapiens erit, atque peritus.
Illis namque modus datus est occultus agendi:
Nec prius exporgunt vires, et * molis honorem,
[15] Quàm si jam firmis fatalis copula nodis
Facta sit, atque color se summo ê corpore tollat.
Nec satis est. Ars Naturae vestigia legit,
Atqué retexendo stamen telamque vetustam,
Invenit majora illis, quae lumina plebis
[20] Tangunt, et tectum docuit sub cortice coelum.
——————
[v. 5] Mixtionis doctrina.
[v. 14] * Formam totius.
[v. 18] Chymia.

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Chryseis, Liber I. 83

er wagte, mit schnellen Schwingen an die Sonne zu rühren. Jedoch Daeda-


lus kehrte unversehrt mit aus Wachs gefügten Flügeln zurück, [20] während
er umsichtig beschloß im nächsten Luftraum zu schweben. Wir aber schrek-
ken nicht davor zurück, auf verwegenen Kielen zu den Himmeln zu fahren.
Auch schämt man sich nicht, das innerer Auge [vor Ehrfurcht] gesenkt, sich
dem Glanz des höchsten Apoll anzunähern. Wehe, wie viele, die sich noch
freuten in die Irre zu gehen, erlitten an solch einer Charybdis Schiffbruch?
Wie viele Male kehrte der Geist, da er im höchsten Licht Gott schauen
wollte, hinabgerissen vom höchsten Gipfel des Himmels, zur tiefsten Fin-
sternis zurück? Jedoch ein neues Geschlecht, einstmals vom obersten Him-
mel entsandt, ruft uns zu Besserem und bietet der spätgebornen Nachkom-
menschaft [30] ein ehrwürdigeres Beispiel. Auf wessen Veranlassung hin es
den Sieg davon trägt, zeigt es durch Taten. Fürwahr hinterließ es den Erd-
gebornen ein edles Heilmittel, welches durch so viele Jahrhunderte alle
Völker ersehnten, dies gewährt es mit üppigem Gewinn,

——————
[v. 22] Der die Jagd beschützende Gott.

[S. 7] damit nicht, wie es sich ziemt, womöglich bevorstünde die strenge Rache
des himmlischen Richters, und das Plutonische