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Eine Hölle von Leben

Von Gerhard Spörl, 31.08.2004, 18.18 Uhr

Toronto Patterson wuchs in den Ghettos von Dallas


auf. "Aufwachsen" ist ein lächerlich bürgerlicher Be-
griff für das, was seine Kindheit war. Sein Vater ver-
schwand sofort und umstandslos. Seine Mutter war 16
bei seiner Geburt, Alkoholikerin und cracksüchtig, völ-
lig unfähig und uninteressiert an dem kleinen Wurm,
der sich ihrem Leben in den Weg stellte, das sich ums Saufen und Reinziehen drehte und dann
auch noch um die zahllosen Lover, die sie mit Sex an sich fesseln wollte, was ihr ebenso wenig
gelang wie alles andere.
Als Toronto sieben war, bekam er eine Schwester, die von Beginn an noch schlechter dran war
als er: Sie war so krank und behindert, dass ihr der Arzt bloß ein paar Jahre gab. Die Mutter setz-
te, als wäre nichts geschehen, ihr Leben fort. Sie überließ das kranke Kind ihrem Sohn. Toronto
kümmerte sich rührend um seine kleine Schwester, er war Vater, Mutter und Bruder in einer Per-
son. Sie starb, als sie zwei war. Wahrscheinlich fühlte Toronto sich verantwortlich für ihren Tod,
denn seine Mutter hatte ja ihre Verantwortung an ihn abgetreten.
In Torontos Fall wollte es der Zufall, dass sich ein Cousin um den 14-Jährigen sorgte. Anders als
Juans Bruder wollte der Cousin nicht Polizist werden, weil Polizisten jämmerlich wenig verdienen.
Er aber verdiente gut, denn er war Drogenhändler, und weil er sich um Toronto sorgte, wurde aus
dem Jungen schnell ein Drogen-Zwischenhändler. Sie verkauften Crack, den wilden gefährlichen
Glücksbringer für Kunden, die sich Kokain oder Heroin nicht leisten können. Toronto nahm bald
Woche für Woche 500 bis 600 Dollar ein. Ach ja, die Schule ließ er natürlich sein.
Als das passierte, was Toronto später, als ich ihn besuchte, "das Ding" nannte, war er 17 Jahre
alt. Drei Menschen kamen im Juni 1995 ums Leben: seine Cousine Kim, deren sechsjährige
Tochter Jennifer und die drei Jahre alte Ollie, die eine Kugel aus einem knappen Meter Entfer-
nung traf, obwohl sie sich doch so gut in ihrem Etagenbett verkrochen hatte, weil sie ahnte, was
ihr bevorstand. Ein furchtbarer Mord, der nach Aufklärung schrie.
Die Aufklärung fand rasch statt, und Toronto Patterson, der seine kleine Schwester gehegt und
gepflegt und der für die kleine Jennifer und die noch kleinere Ollie gesorgt hatte, wenn Mutter
Kim mal wieder mit einem neuen Lover durchgebrannt war, stand als dreifacher Mörder da. Es
war, wie es oft so ist: Die Polizisten nahmen ihn, so der Brauch, in die Mangel. Patterson war ein
Crackdealer, wer sollte ihm schon glauben. Sein Anwalt gehörte sicherlich nicht zu den Ge-
schicktesten im Land. Wie auch? Pflichtverteidiger sind, erstens, schlecht bezahlt und bekom-
men, zweitens, die aussichtslosen Fälle.
Die Geschworenen des Verfahrens gegen Toronto sahen die kleinen Mädchen vor sich, die ein
enthemmter Mörder erschossen hatte. Die Berufungsgerichte sahen keine gravierenden Fehler
im Prozess, der zum Todesurteil geführt hatte, und schmetterten Einspruch auf Einspruch ab.
Dass der verurteilte Mörder zur Tatzeit erst 17 war, rief keine rechtsstaatlichen Bedenken hervor.
Der Supreme Court hatte ja das Mindestalter für Hinrichtungen auf 17 festgesetzt. Alles in Ord-
nung, alles rechtens, Alltag in Amerika, schwarzer Alltag, wenn auch nicht nur schwarzer Alltag.
Zwei Wochen vor der Hinrichtung habe ich Toronto Patterson im Staatsgefängnis von Livingston
besucht. Wir sprachen über Telefon miteinander, getrennt durch eine gepanzerte Scheibe. Als
ich ihn auf seine Schwester und die Heldengeschichte in seinem Leben, in dem es sonst nur
Schwärze und Trostlosigkeit gab, vorsichtig ansprach, fing der große Junge an zu weinen und
erzählte von dem Morgen, als er in die Schule ging und seine kleine Schwester immer noch so
furchtbar weinte, wie die ganze Nacht zuvor. Und dann erzählte er, wie er Stunden später nach
Hause kam und sie tot war, und die Tränen flossen, als sei es gestern gewesen. Selten kamen
mir in meinem nicht ganz kurzen Journalistenleben die Dinge so nahe wie im Staatsgefängnis
von Livingston.
https://www.spiegel.de/sport/sonst/boyz-in-the-hood-eine-hoelle-von-leben-a-315935.html, abge-
rufen am 22.04.2021

Aufgabe:
Schreiben Sie einen Leserbrief, indem Sie zu dem geschilderten Fall Stellung beziehen.
Leserbrief:
Wenn Sie einen Leserbrief an eine Zeitung oder Zeitschrift schreiben möchten, ist es sinn-
voll, folgende Hinweise und Tipps zu berücksichtigen:

1. Klarer Bezug:
Machen Sie deutlich, zu welchem Vorfall
Thema
Artikel der Zeitung Sie etwas sagen wollen.

2. Klares Ziel:
Machen Sie deutlich, ob Sie etwas kritisieren
etwas unterstützen
Ihre eigene Meinung kundtun
neue Aspekte ergänzen wollen.

3. Klarer Standpunkt:
Geben Sie frühzeitig Ihre eigene Position zu dem anstehenden Problem an.

4. Gute Argumente und Stützen:


Benutzen Sie sachkundige
wirkungsvolle
zugespitzte Begründungen und Beispiele für Ihren Standpunkt
Widerlegen Sie gegebenenfalls den Standpunkt anderer.

5. Übersichtlicher, nicht zu langer Text:


Schreiben Sie einen knappen
gut in Abschnitte gegliederten Text
in druckreifer Sprache

Sammeln Sie zuerst deine Gedanken in einer Stichwortliste.


Entwerfen Sie danach eine sinnvolle Gliederung.
Überlegen Sie sich gegebenenfalls eine interessante Einleitung.

6. Briefform:
Benutzen Sie in der Anrede („Sehr geehrte Frau Schneider, ...“)
im Bezug („kann ich Ihrer Meinung nicht zustimmen“)
im Gruß („Mit freundlichen Grüßen“) die Form eines Briefes

Vermeiden Sie beleidigende oder verleumderische Äußerungen, z. B. falsche Anschuldi-


gungen („...als Sie Ihren Artikel verfassten, hatten Sie wohl ihr Gehirn nicht eingeschal-
tet“).

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