David G. Myers
Psychologie
2., erweiterte und aktualisierte Auflage
Übersetzung
Matthias Reiss
Deutsche Bearbeitung
Svenja Wahl, Matthias Reiss
123
David G. Myers
Deutsche Bearbeitung
Dr. Svenja Wahl, Dr. Matthias Reiss (2. Auflage)
Dr. Christiane Grosser, Dr. Svenja Wahl (1. Auflage)
Übersetzung
Dr. Matthias Reiss, Angertorstr. 4, 80469 München, www.dr-reiss.com (2. Auflage)
ÜTT - Übersetzerteam Tübingen, Sabine Mehl, Katrin Beckmann, Birgit Pfizer (1. Auflage)
Beiträge von
Prof. Dr. Siegfried Hoppe-Graff
Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Karl-Heine-Straße 22b , 04229 Leipzig
First published in the United States by WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke.
Copyright 2007 by Worth Publishers. All rights reserved.
Erstmals veröffentlicht in den USA von WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke.
Copyright 2007 by Worth Publishers. Alle Rechte vorbehalten.
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SPIN: 11968856
rischer Forschung einander widersprechende Ideen bewerten oder 8. Respekt vor den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Menschen
wie man Behauptungen mit hoher Publikumswirkung entkräften vermitteln. Vor allem im neu überarbeiteten 7 Kap. 3 (»Anlage,
kann. Ich denke dabei z. B. an Dinge, von denen man viel in der Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) und darüber hinaus im
Regenbogenpresse liest: Das reicht von der subliminalen Beeinflus- gesamten Buch wird der Leser auf Stellen im Text stoßen, die von
sung, über außersensorische Wahrnehmungen und alternative der Menschheit als Familie sprechen: Es geht um das uns allen ge-
Therapien bis hin zur Astrologie, zur hypnotischen Rückführung meinsame biologische Erbe, die Mechanismen des Sehens und des
in ein früheres Leben sowie zu verdrängten und wieder aufgedeck- Lernens, die Motivation des Hungers, die Art, wie Menschen emp-
ten Erinnerungen. finden, und nicht zuletzt die Gefühle von Liebe und Hass. Dadurch
3. Fakten in Konzepte einordnen. Es ist nicht meine Absicht, die intel- entsteht auch ein besseres Verständnis für die Dimension unserer
lektuellen Schubladen der Studierenden mit Fakten anzufüllen; Verschiedenheit, auch für unsere individuellen Unterschiede in
stattdessen möchte ich die großen Konzepte der Psychologie auf- Entwicklung und Fähigkeiten, Temperament und Persönlichkeit,
zeigen und die Studierenden lehren, psychologisch zu denken. Gesundheit und Krankheit; es geht außerdem um unsere kulturspe-
Gleichzeitig möchte ich Ihnen die Vorstellungen der Psychologie zifischen Unterschiede, die sich in Einstellungen und Ausdrucks-
nahebringen, bei denen sich das Nachdenken lohnt. Dabei bemühe weise, bei der Kindererziehung und der Fürsorge für die ältere Ge-
ich mich immer, dem Satz Albert Einsteins zu folgen, der sagte: neration zeigen, vor allem aber auch in den Prioritäten, die wir in
»Alles sollte so einfach wie möglich gehalten werden, aber nicht unserem Leben setzen.
einfacher.«
4. So aktuell wie möglich sein. Kaum etwas dämpft das Interesse von
Studierenden so sehr wie das Gefühl, überholtes Wissen serviert zu Was ist neu?
bekommen. Deshalb stelle ich neben den traditionellen Studien
und Konzepten auch die wichtigsten neuen Entwicklungen des Trotz der großen Kontinuität gibt es Veränderungen auf jeder einzel-
Fachs dar. Nahezu 500 Literaturangaben in dieser Auflage stammen nen Seite. Zusätzlich zu den Aktualisierungen überall im Buch und bei
aus den Jahren 2004 bis 2008. den 900 neuen Literaturangaben – das ist nahezu ein Viertel des Lite-
5. Prinzip und Anwendung gemeinsam darstellen. Mit Hilfe von Anek- raturverzeichnisses – habe ich bei der 8. Auflage der »Psychologie« die
doten, Fallgeschichten und der Darstellung hypothetischer Situati- folgenden wesentlichen Veränderungen eingeführt:
onen stelle ich im gesamten Buch immer wieder die Verbindung
her zwischen der Grundlagenforschung, ihrer Anwendung und
den Schlussfolgerungen daraus. In den Bereichen, in denen die Psy- Mehr zur kulturellen Vielfalt und zur Vielfalt
chologie ein Licht auf drängende Menschheitsfragen werfen kann der Geschlechterrollen
– seien es Rassismus und Sexismus, Gesundheit und Glück oder
Krieg und Gewalt –, habe ich nicht gezögert, den Glanz der Psycho- Diese Auflage stellt eine sogar noch grundlegendere interkulturelle
logie strahlen zu lassen. Sicht der Psychologie dar: Dies zeigt sich in den Befunden aus der For-
6. Verständnis durch wiederholtes Aufgreifen übergeordneter Themen schung, aber auch in den Text- und Fotobeispielen. Die Behandlung der
fördern. Viele Kapitel behandeln eine spezielle Fragestellung oder Psychologie von Frauen und Männern ist gründlich eingearbeitet. Au-
einen Gedanken, der sich durch das ganze Kapitel zieht und es zu- ßerdem habe ich vor, für unsere studentischen Leser weltweit eine von
sammenhält. Das Kapitel »Lernen« vermittelt den Gedanken, dass einzelnen Ländern unabhängige Psychologie anzubieten. Daher suche
kühne Denker zu intellektuellen Vordenkern werden können. »Den- ich ständig auf der ganzen Welt nach Forschungsbefunden sowie Text-
ken und Sprache« behandelt die menschliche Rationalität und Irra- und Fotobeispielen; dies geschieht in dem Bewusstsein, dass meine
tionalität. In »Klinische Psychologie: Psychische Störungen« sollen potenziellen Leser vielleicht in Melbourne, Sheffield, Vancouver oder
Empathie und Verständnis für die Lebensläufe der Betroffenen ver- in Nairobi leben. Beispiele aus Amerika und Europa finde ich leicht, da
mittelt werden. Weil das Buch von nur einem Autor geschrieben ich in den Vereinigten Staaten lebe, Kontakt zu Freunden und Kollegen
wurde, ziehen sich bestimmte Themen wie Verhaltensgenetik und in Kanada habe, mehrere europäische Zeitschriften abonniert habe und
kulturelle Unterschiede zusätzlich wie ein roter Faden durch das zu bestimmten Zeiten in Großbritannien lebe. Diese Auflage beispiels-
gesamte Buch. weise enthält 145 Beispiele, die sich klar auf Kanada und Großbritan-
7. Lernschritte fördern. Beispiele aus dem Alltag und rhetorische Fra- nien beziehen; Australien und Neuseeland werden 82 Mal erwähnt.
gen sollen den Studierenden helfen, das Lernmaterial aktiv zu ver- Aufgrund einer steigenden Zahl von Einwanderern und einer wach-
arbeiten. Bereits eingeführte Konzepte werden häufig in späteren senden Globalisierung der Wirtschaft sind wir alle Bürger einer
Kapiteln angewandt, wodurch der Vorgang des Erlernens und Be- schrumpfenden Welt. Daher profitieren auch amerikanische Studie-
haltens gefestigt wird. In 7 Kap. 5 lernen die Studierenden beispiels- rende von Informationen und Beispielen, die ein stärker international
weise, dass ein Großteil unserer Informationsverarbeitung außer- orientiertes Weltbewusstsein vermitteln. Und wenn die Psychologie
halb des Bewusstseins abläuft, ein Konzept, das in den darauf fol- versucht, menschliches Verhalten (nicht nur amerikanisches, kana-
genden Kapiteln weiter ausgeführt wird. [Die didaktischen disches oder australisches) zu erklären, dann ist unser Bild von den
Elemente, die in diesem Buch eingesetzt wurden, um Ihnen das Menschen auf dieser Erde umso umfassender, je breiter die Vielfalt der
Lernen zu erleichtern, werden im 7 Abschnitt »Erfolgreich lernen«, dargestellten Studien ist. Mein Ziel besteht darin, alle Studierenden mit
S. XIII, ausführlich erläutert.] der Welt jenseits ihrer eigenen Kultur zu konfrontieren. Daher sind
IX
Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage
weiterhin Vorschläge und Empfehlungen in dieser Richtung von allen Mehr Sensibilität für die klinische Sichtweise
Lesern herzlich willkommen. Unser überarbeitetes 7 Kap. 3 (»Anlage,
Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) soll Studierende darin unter- Mit hilfreicher Unterstützung durch Kollegen aus der klinischen Psy-
stützen, kulturelle und Geschlechtsunterschiede und -gemeinsam- chologie habe ich in dieser Auflage bei verschiedenen Begriffen inner-
keiten zu schätzen und das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu halb der Psychologie stärker auf die klinische Sichtweise geachtet; davon
berücksichtigen. haben v. a. die Kapitel über »Persönlichkeit«, »psychische Störungen«
Die Eingangsseite zu jedem Kapitel enthält neben dem Kapitelin- und »Therapie« profitiert. Beispielsweise behandle ich im Kapitel »Stress
haltsverzeichnis jetzt einen kurzen literarischen Text aus unterschied- und Gesundheit« nun die problemfokussierte und die emotionsfokus-
lichen kulturellen Perspektiven. Diese Auszüge aus Büchern von Maya sierte Bewältigungsstrategie. Und das Kapitel »Intelligenz« enthält jetzt
Angelou, Judith Ortiz Cofer, Jhumpa Lahiri, Faiz Ahmed Faiz, Gwen- mehrere Bezüge darauf, wie Intelligenztests in klinischen Settings ein-
dolyn Brooks und anderen bieten bezogen auf das Thema des Kapitels gesetzt werden.
eine andere Perspektive aus einer anderen Kultur. Außerdem zeigen
viele neue Fotos die Vielfalt der Kulturen innerhalb Nordamerikas, aber
auch auf der ganzen Welt. Zusätzlich zu den bedeutsamen interkultu- Psychologie als Beruf
rellen Beispielen und Forschungsbefunden, die in den Texten darge-
stellt werden, verschönern diese neuen Fotos mit ihren informativen Im Anhang finden Sie einen von Jennifer Lento geschriebenen Anhang
Abbildungsbeschriftungen jedes einzelne Kapitel und verbreitern den »Psychologie als Beruf«, der als Ratgeber für Studierende dienen kann,
Horizont der Studierenden, wenn sie die Psychologie als Wissenschaft die sich innerhalb des Psychologiestudium oder im Rahmen der beruf-
auf ihre eigene Welt und die Welten auf der ganzen Erde anwenden lichen Fort- und Weiterbildung spezialisieren wollen. Zu den in diesem
wollen. Anhang behandelten Themen gehören die Vorteile eines Psychologie-
studiums und eines Abschlusses in Psychologie, die einem Psychologen
zur Verfügung stehenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und
Ein überarbeitetes und gründlich durchdachtes der Arbeitsmarkt für Studienabsolventen sowie für promovierte Psy-
didaktisches Konzept chologen, Karrieremöglichkeiten innerhalb der Fachgebiete der Psycho-
logie (z. B. klinische Psychologie, Psychologie in Beratung, Verwaltung
Zusätzlich zu den neuen literarischen Texten auf der ersten Seite jedes und Schule, forensische Psychologie und Sportpsychologie) und Tipps
Kapitels enthält diese Auflage die folgenden neuen Lesehilfen: zur rechtzeitigen Vorbereitung für diejenigen, die promovieren wollen.
4 Neu nummerierte Lernziele leiten die einzelnen Abschnitte des
Texts ein und können dem Studierenden als Orientierungshilfe
beim Lesen dienen. Verbesserte Rubrik »Kritisch nachgefragt«
4 In der neuen Zusammenfassung der Lernziele, die sich jeweils am
Ende eines Abschnitts findet, werden die Lernziele wiederholt und Ich habe mir zum Ziel gesetzt, im gesamten Buch Studierende auf ganz
in einer gut lesbaren Kurzzusammenfassung dargestellt. natürliche Weise zum kritischen Denken anzuregen; das gilt sogar noch
4 Die Zusammenfassung der Lernziele enthält auch mindestens eine mehr bei den Geschichten, die dazu ermuntern sollen, die Schlüsselbe-
Frage in der Rubrik »Denken Sie weiter«, durch die die Studieren- griffe der Psychologie aktiv zu lernen. Zusätzlich zu den neuen Lernzie-
den lernen sollen, die gelernten Konzepte auf eigene Erfahrungen len und der Zusammenfassung der Lernziele, die zum kritischen Lesen
anzuwenden. ermuntern soll, um ein Verständnis für wichtige Begriffe zu entwickeln,
4 Am Kapitelende stehen jeweils auch 3 bis 5 Fragen in der Rubrik enthält die 8. Auflage die folgenden Möglichkeiten für Studierende, ihre
»Prüfen Sie Ihr Wissen« (die Antworten darauf befinden sich unter Fähigkeit zum kritischen Denken zu entwickeln und einzuüben.
www.lehrbuch-psychologie.de), durch die erfasst wird, wie gut der 4 7 Kap. 1 verfolgt bei der Einführung der Studierenden in die For-
Studierende etwas beherrscht, und die ihn dazu ermutigen, in gro- schungsmethoden der Psychologie einen einzigartigen Ansatz zum
ßen Zusammenhängen zu denken. kritischen Denken. Dabei werden die Fehlschlüsse unserer Alltags-
intuition und des gesunden Menschenverstands hervorgehoben
und damit die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft be-
Ansatz der Analyseniveaus tont. Kritisches Denken wird als Schlüsselbegriff für dieses Kapitel
eingeführt (7 Abschn. 1.1.2). Die Erörterungen zum statistischen
Diese Auflage enthält jetzt eine systematische Behandlung der biolo- Schlussfolgern sollen Studierende dazu ermutigen, lieber noch ein-
gischen, psychologischen und soziokulturellen Einflüsse auf unser Ver- mal nachzudenken und einfache statistische Grundsätze auf der-
halten. Ein wichtiger neuer Abschnitt im Prolog führt in den Ansatz der artige Argumentationen anzuwenden (7 Abschn. 1.5).
Analyseniveaus ein; dies schafft die Voraussetzungen für spätere Kapi- 4 Die Kästen »Kritisch nachgefragt« finden sich überall im Buch und
tel, und neue Abbildungen mit den Analyseniveaus helfen den Studie- sollen Studierenden ein kritisches Vorgehen bei einigen Schlüssel-
renden in den meisten Kapiteln, die Begriffe im biopsychosozialen fragen der Psychologie modellhaft vorführen. Sehen Sie sich bei-
Kontext zu verstehen. spielsweise den neuen Kasten »Kritisch nachgefragt: ADHS – die
Pathologisierung von Wildheit oder eine echte Störung?« an
(7 Anfang von Kap. 6).
X Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage
4 Geschichten im Stil von Kriminalromanen sollen die Studierenden genauer geworden, als es ein einzelner Autor hätte verfassen können
verstreut über den gesamten Text dazu verleiten, kritisch über (ich zumindest). Meine Lektoren und ich behalten immer Folgendes
Schlüsselfragen der psychologischen Forschung nachzudenken. im Hinterkopf: Wir alle zusammen sind klüger als jeder Einzelne von
4 Aufforderungen im Stil von »Wenden Sie das an« und »Denken Sie uns.
darüber nach« sollen die Studierenden in jedem Kapitel aktiv bei Ich bin weiterhin jedem der Dozenten zu Dank verpflichtet, deren
der Sache bleiben lassen. Einfluss ich in den vorigen 7 Auflagen anerkannt habe, und auch den
4 Kritisch prüfende Kommentare zur Psychologie in der Regenbogen- zahlreichen Forschern, die mir so bereitwillig ihre Zeit und ihre Fähig-
presse sollen das Interesse anregen und liefern wichtige didaktische keiten zur Verfügung gestellt haben, um mir dabei zu helfen, dass ich
Beiträge, um kritisch über Alltagsthemen nachzudenken. ihre Forschung genau darstelle. Diese neue Auflage hat auch vom kre-
ativen Input und der Hilfe von Jennifer Peluso (Florida Atlantic Uni-
versity) bei der Überarbeitung der Kap. 9 (»Gedächtnis«) und 10
Danksagung (»Denken und Sprache«) profitiert.
Meine Dankbarkeit erstreckt sich auch auf die vielen Kolleginnen
Wenn es stimmt, dass alle, die mit den Weisen gehen, selbst weise wer- und Kollegen für ihre kritischen Anregungen, Korrekturen und krea-
den, kann ich wegen all der Weisheit und der Ratschläge, die ich von tiven Ideen zum Inhalt, der Didaktik und dem Format dieser neuen
meinen Fachkollegen erhalten habe, kaum noch gehen. Aufgrund der Auflage [detaillierte 7 Danksagung im Anhang].
Unterstützung, die in den letzten beiden Jahrzehnten von Tausenden
Beratern und Gutachtern bekommen habe, ist dieses Buch besser und David G. Myers
XI
Erfolgreich lernen
Die Psychologie lehrt uns, die richtigen Fragen zu stellen und kritisch zu Lernen mit System: Didaktische Elemente
denken, wenn wir einander widersprechende Vorstellungen oder popu- Die im Folgenden aufgeführten didaktischen Elemente sollen Ihnen
lärwissenschaftliche Behauptungen überprüfen. Die Psychologie vertieft das Arbeiten mit dem Lehrbuch erleichtern und dazu führen, dass das
unser Verständnis dafür, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, Lernen Spaß macht.
fühlen und handeln. Die Psychologie vermittelt Ihnen also weitaus mehr
als effiziente Lernmethoden. Trotzdem, der Myers wäre kein gutes Psy- Lernziele. Im gesamten Text werden Sie Lernziele finden, die Ihnen
chologielehrbuch, wenn wir Ihnen nicht auch ein paar Tipps für den helfen sollen, sich beim Lesen auf das Wesentliche zu konzentrieren.
optimalen Umgang mit dem Text und zu effektiven Arbeitstechniken Und am Ende jedes großen Abschnitts wird der Kasten »Lernziele«
geben würden. Sie darin unterstützen, noch einmal zu wiederholen, was Sie gelesen
haben.
Wie lerne ich mit dem Myers? Definitionen. Durch das ganze Buch hindurch finden Sie die Definitio-
nen wichtiger Konzepte in der Randspalte. Im Fließtext ist der Begriff
Lernen mit Methode: SQ3R immer blau hervorgehoben. Zusätzlich zum deutschen Fachbegriff ist
Eine einfache Arbeitstechnik für das Studium umfasst die folgenden auch jeweils die englische Übersetzung aufgeführt.
Prinzipien: Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal
durchsehen, darüber nachdenken (auf Englisch: survey, question, read, Glossar. Am Ende des Buches (blauer Teil) sind alle Definitionen noch
review und reflect oder SQ3R). einmal in einem Glossar zusammengefasst. Dort haben wir auch die
Zuerst verschaffen Sie sich einen Überblick (survey) darüber, was Übersetzungen der Fachbegriffe aufgenommen, so dass Sie ein kleines
Sie gleich lesen werden, z. B. anhand der Einführung ins Kapitel und deutsch-englisches Psychologielexikon zum schnellen Nachschlagen
Abschnittsüberschriften. Merken Sie sich das Hauptthema eines Ab- zur Verfügung haben.
schnitts, wie es im Lernziel zu Beginn angegeben ist. Dadurch konzent-
rieren Sie sich beim Lesen und Lernen auf etwas. Zitate. Der Randspalte können Sie neben den Definitionen noch zahl-
Behalten Sie das Lernziel als eine Frage (question) im Hinterkopf, reiche andere Informationen entnehmen, u. a. Beispiele, provokante
die Sie beim Lesen (read) des Abschnitts zu beantworten versuchen. In Fragen und Zitate.
der Regel wird ein einzelner Abschnitt eines Kapitels gerade die Text-
menge sein, die Sie aufnehmen können, ohne zu ermüden. Behandeln Zentrale Aussagen und Merksätze. Sie sind mit einem Ausrufezeichen
Sie jeden Abschnitt so, als handele es sich um das gesamte Kapitel. Le- am Rand versehen und in roter Schrift hervorgehoben.
sen Sie aktiv und kritisch. Stellen Sie Fragen. Machen Sie sich Notizen.
Denken Sie über Schlussfolgerungen daraus nach: Wie stützt das, was Kritisch nachgefragt. Diese Kästen bieten Ihnen ein Modell für eine
Sie gelesen haben, Ihre Vorannahmen bzw. stellt sie infrage. Wie über- kritische Herangehensweise an einige wichtige Themen der Psycholo-
zeugend sind die Befunde? In welcher Beziehung steht dies zu Ihrem gie. Es handelt sich häufig um kontrovers diskutierte Themen.
eigenen Leben?
Am Ende noch einmal durchsehen (review) und darüber nach- Unter der Lupe. In diesen Kästen werden Ihnen ausgewählte Konzepte
denken (reflect). Um die Gliederung eines Abschnitts stärker in Ihrem der Psychologie näher vorgestellt.
Gedächtnis zu verankern, gehen Sie erneut den Text und die Definiti-
onen der Schlüsselbegriffe in der Randspalte durch. Lesen Sie den Text Denken Sie weiter. Eine solche anwendungsbezogene Fragestellung am
unter der Überschrift »Lernziele« am Ende eines jeden Abschnitts. Stel- Ende jeder Lernzielbox soll Ihnen helfen, über die wesentlichen The-
len Sie sich selbst Fragen anhand des Materials, das Sie unter der Über- men noch einmal nachzudenken und sie in eine Beziehung zu Ihrem
schrift »Prüfen Sie Ihr Wissen« am Ende jedes Kapitels finden; und eigenen Leben zu setzen. Wenn Sie einen persönlichen Bezug zu den
nehmen Sie sich vielleicht die Fragen vor, die als Internet-Bonusmate- Themen entwickeln, werden Sie sich das Gelernte besser merken kön-
rial unter www.lehrbuch-psychologie.de zu den einzelnen Kapiteln nen. Hat der Lernstoff eine persönliche Bedeutung, dann erinnert man
stehen. Werfen Sie einen Blick in Ihre Notizen, und sehen Sie sich das sich leichter daran.
an, was Sie im Text durch Anstreichen hervorgehoben haben. Dann
halten Sie inne und lassen es wirken. Besser noch: Fassen Sie die Infor- Prüfen Sie Ihr Wissen. Diese Fragen, die Sie immer am Ende des Kapi-
mationen für einen Freund zusammen, oder halten Sie vor einem fik- tels finden, sind als Selbsttest gedacht, mit dessen Hilfe Sie feststellen
tiven Publikum eine Vorlesung darüber. können, ob Sie das Gelesene verstanden haben. Die Antworten zu die-
Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal durchse- sen Fragen finden auf www.lehrbuch-psychologie.de.
hen, darüber nachdenken. Wir haben die Kapitel so gegliedert, dass es
Ihnen leichter fallen sollte, die SQ3R-Arbeitstechnik zu verwenden. Zeitleiste: Eine Zeitleiste mit den zentralen Themen der Psychologie
Die Kapitel sind in 3 bis 5 Abschnitte von lesbarer Länge eingeteilt, die und ihrer Geschichte findet sich auf den Innenseiten des Einbandes.
in einer Sitzung bearbeitet werden können.
Myers: Psychologie, 2. Auflage
1 Ihr Wegweiser zu diesem Lehrbuch
2
4
Trailer: Mit dieser
Einführung startet das
5 Kapitel
9 Zitate, Übungen,
Zusatzinfo finden Sie
in der Randspalte
10
11 Wichtig: hervor-
gehobene Merksätze
12
13
Anschaulich – Abbil-
15
16 Griffregister: zur
schnellen Orientie-
rung
17
18
19
n Buchinhalte sowohl für
20 Grundstudium/Bachelor-Studiengänge als auch
für Hauptstudium/Master-Studiengänge relevant
A
Gehen Sie aktiv an den Lernstoff heran: Navigation:
Berücksichtigen Sie die Lernziele zu Be- mit Seitenzahl und
ginn jedes Abschnitts. Eine Beispiellösung Kapitelnummer
finden Sie am Abschnittsende!
Kritisch nachgefragt:
Kontroverse Themen
anschaulich dargestellt
Lernen im Netz: Weiterführende Materialien studieren. Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, müssen Sie Informationen
Im Internet stellen wir Ihnen auf einer interaktiven Lernwebsite Zu- aktiv verarbeiten, wenn Sie sie behalten wollen. Ihr Denken ist nicht so
satzmaterialien zur Verfügung. Loggen Sie sich einfach mit E-Mail- wie Ihr Magen, der nur passiv befüllt werden möchte; es ist eher wie ein
Adresse und Passwort unter www.lehrbuch-psychologie.de ein und Muskel, der durch ein Training kräftiger wird. Zahllose Experimente
nutzen Sie die folgenden Tools: zeigen, dass Menschen Inhalte besser lernen und erinnern, wenn sie sie
4 »Prüfen Sie Ihr Wissen«: Hier sehen Sie die Beispielantworten auf in eigene Worte fassen, sie wiederholen und sie sich dann noch einmal
die Prüfungsfragen, die am Ende jedes Buchkapitels aufgelistet durchsehen und erneut wiederholen. Hier sind 5 Tipps, damit Sie diese
sind. Lagen Sie richtig mit Ihrer Beantwortung? Erkenntnisse für ein effektives Arbeiten nutzen können.
4 Zusammenfassungen: Verschaffen Sie sich einen schnellen Über-
blick über die Kapitelinhalte. Kurze Zusammenfassungen stellen 5 Studientechniken
die wesentlichen Themen der einzelnen Kapitel verständlich dar. Lernen Sie in Häppchen. Einer der ältesten Befunde der Psychologie
Wiederholen Sie so die Inhalte jeder Lerneinheit. besteht darin, dass über die Zeit verteiltes Üben zu besserem Behalten
4 Memocards: Karteikarten sind mühsam zu erstellen, aber extrem führt als geballtes Üben. Sie werden Inhalte besser erinnern, wenn Sie
hilfreich beim Lernen und zur Wissensprüfung. Auf unseren elekt- Ihre Lektüre auf mehrere Zeitabschnitte aufteilen – vielleicht 1 Stunde
ronischen Memocards finden Sie das komplette Glossar des Buchs, pro Tag an 6 Tagen die Woche –, statt alles in einem langen Lektürema-
auf der einen Seite die Fachbegriffe, auf der anderen deren Defini- rathon abzuarbeiten. Wenn Sie Ihre Lernsitzungen auf mehrere Zeitab-
tion. Lernen Sie und testen Sie auch gleich selbst, ob Sie die Begriffe schnitte aufteilen, so erfordert das eine disziplinierte Vorgehensweise
parat haben. beim Zeitmanagement. Statt beispielsweise den Versuch zu unterneh-
4 Deutsch-englische Memocards: Auch Vokabelpauken ist möglich. men, in einer Lernsitzung ein ganzes Kapitel zu lesen, sollten Sie einfach
Es wird auch im Psychologiestudium immer wichtiger, englische nur einen Abschnitt lesen und sich dann etwas anderem zuwenden.
Texte lesen zu können – prüfen Sie mit diesen Memocards, ob Sie
die Fachbegriffe auch auf Englisch beherrschen. Hören Sie in Lehrveranstaltungen aktiv zu. Der Psychologe William
4 Quizfragen: Und noch ein Instrument, das Ihnen hilft, Ihr Wissen James forderte schon vor mehr als 100 Jahren: »Keine Rezeption ohne
zu überprüfen. In Zeiten von »Wer wird Millionär« und anderen Reaktion, kein Eindruck ohne ... Ausdruck.« Hören Sie sich in Vorle-
Fernsehquizsendungen wird Ihnen dieses sehr bekannt vorkom- sungen die Hauptgedanken an. Schreiben Sie sie auf. Stellen Sie wäh-
men. Zu jedem Kapitel liegen jeweils 2 Multiple-Choice-Quiz vor. rend und nach der Veranstaltung Fragen. Verarbeiten Sie die Informa-
Testen Sie sich selbst: Wenn Sie den Myers aufmerksam gelesen tionen in einer Lehrveranstaltung, aber auch wenn Sie für sich alleine
haben, sollten Sie die Quizfragen auf jeden Fall beantworten kön- lernen, aktiv; dann werden Sie sie besser verstehen und behalten.
nen. Und anhand der vielen Beispiele lernen Sie ganz nebenbei
noch die Anwendung der Konzepte. Etwas noch einmal lernen. Die Psychologie sagt uns, dass man etwas
4 Links zu speziellen Themen: Haben Sie Geschmack an den Inhal- besser behält, wenn man es noch einmal lernt. Je häufiger Studierende
ten der Psychologie gefunden? Ob Sie mehr zu Psychologie als Wis- ein Kapitel lesen und je weniger Veranstaltungen sie verpassen, desto
senschaft und Beruf, zu Emotionen, Persönlichkeit oder Arbeits- besser sind ihre Prüfungsnoten (Woehr u. Cavell 1993). Studierende
und Organisationspsychologie wissen wollen – wir haben für Sie schrecken häufig davor zurück, etwas noch einmal zu lernen, und über-
eine ganze Reihe von Links zusammengestellt und kommentiert. schätzen, wie viel sie wissen. Echtes Lernen erfordert mehr, als etwas
Starten Sie bei uns Ihre Suche im Netz. momentan zu verstehen. Sie verstehen ein Kapitel vielleicht in dem
Augenblick, in dem Sie es lesen, aber wenn Sie zusätzliche Zeit für die
nochmalige Lektüre, für die Überprüfung Ihres Wissen und für die
Effiziente Arbeitstechniken im Studium Überprüfung dessen, was Sie zu wissen glauben, einplanen, werden Sie
die Inhalte tatsächlich lernen und Ihr neues Wissen länger behalten.
Die Zeit und Mühe, die Sie für das Psychologiestudium aufwenden,
sollte Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern. Obwohl viele Konzentrieren Sie sich auf die Hauptgedanken. Es ist hilfreich, in re-
der bedeutenden Fragen im Leben über die Psychologie hinausgehen, gelmäßigen Abständen innezuhalten und sich die Hauptgedanken
werden einige recht wichtige sogar schon in einem Seminar zur Einfüh- klarzumachen, damit man weiß, wie sich all die Fakten und Forschungs-
rung in die Psychologie behandelt. Durch sorgfältige Forschung haben befunde zu einem großen Bild zusammenfügen. Um die Lektionen, die
Psychologen Einsichten zu Gehirn und Denken, zu Depression und uns die Psychologie aufgibt, zu verstehen und zu schätzen, ist es z. B.
Freude, zu Träumen und Erinnerungen gewonnen. Selbst die unbeant- wichtig, etwas über die Forschung zu lesen, die die Informationsgrund-
worteten Fragen können unser Leben bereichern, indem sie uns erneut lage darstellt. Aber es ist auch wichtig, nach den großen Konzepten und
das Gefühl vermitteln, wie geheimnisvoll »Dinge sind, die für uns zu Themen Ausschau zu halten, die die Psychologen aus diesen kleinen
wunderbar sind«, als dass wir sie verstehen könnten. Zudem kann Ihr Befunden aufbauen. Zu den großen Themen dieses Buchs gehören z. B.
Psychologiestudium dazu beitragen, dass Sie lernen, wie man wichtige die folgenden:
Fragen stellt und beantwortet – wie man kritisch nachfragt, wenn man 4 Kritisches Denken und wissenschaftliches Überprüfen tragen dazu
konkurrierende Gedanken und Behauptungen gegeneinander abwägt. bei, dass wir über viele Dinge besser nachdenken.
Wenn Sie Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern (und 4 Wir erlangen ein tieferes Verständnis, wenn wir ein Phänomen von
ordentliche Noten bekommen) wollen, müssen Sie auf effektive Weise einem biologischen, einem psychologischen und einem soziokul-
XVII
Erfolgreich lernen
turellen Niveau aus sehen. Alles Psychologische ist gleichzeitig Manchmal lassen die objektiver auswertbaren MC-Fragen tiefer liegen-
biologisch. Doch unser Verhalten steht oft unter dem Einfluss unser de Gedanken hochkommen.) Lesen Sie sich dann noch einmal die of-
Umwelt und unserer Kultur. fenen Fragen durch, denken Sie erneut über Ihre Antwort nach, und
4 Anlage (unsere Gene und unsere biologische Ausstattung) und beginnen Sie mit dem Schreiben. Wenn Sie fertig sind, lesen Sie Ihre
Umwelt (die Kultur und die Welt um uns herum) wirken zusam- Arbeit Korrektur, um Rechtschreib- und Grammatikfehler zu beseiti-
men und formen dabei unsere Merkmale und Verhaltensweisen. gen, die Sie weniger kompetent erscheinen lassen, als Sie es in Wirk-
4 Wir sind Geschöpfe unserer Kultur und unseres Geschlechts; doch lichkeit sind.
wir ähneln uns viel mehr, als wir uns unterscheiden.
4 Ein Großteil unserer menschlichen Informationsverarbeitung er- ****
folgt unwissentlich, jenseits des Radarschirms unseres Bewusst-
seins. Wenn Sie etwas über Psychologie lesen, werden Sie viel mehr lernen als
nur effektive Arbeitstechniken. Die Psychologie zeigt uns, wie wir zu
Seien Sie ein geschickter Klausurenschreiber. Wenn in einer Klausur wichtigen Fragen kommen können – wie wir kritisch nachfragen kön-
Multiple-Choice-Fragen (MC-Fragen) vorgegeben werden, verwirren nen, während wir konkurrierende Gedanken und populäre Behaup-
Sie sich nicht selbst dadurch, dass Sie sich vorzustellen versuchen, in tungen gegeneinander abwägen. Wir werden die Art und Weise zu
welcher Weise jede Antwortmöglichkeit die richtige sein könnte. Ver- schätzen lernen, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen
suchen Sie stattdessen, die Frage so zu beantworten, als handele es sich und handeln. Dabei erweitert sich unser Verständnis für das Leben und
um einen Lückentext. Decken Sie zunächst die Antworten zu, rufen Sie verbessert sich unser Einfühlungsvermögen. Mit Hilfe dieses Buchs
sich in Erinnerung, was Sie wissen, und vervollständigen Sie den Satz hoffen wir, unseren Beitrag zu leisten, dass Sie auf dieses Ziel zusteuern.
in Gedanken. Dann lesen Sie sich die in der Klausur vorgegebenen Der Hochschullehrer Charles Eliot sagte vor einem Jahrhundert: »Bü-
Antworten durch, und finden Sie die Antwortmöglichkeit heraus, die cher sind die ruhigsten und beständigsten Freunde und die geduldigs-
am besten zu Ihrer Antwort passt. ten Lehrer.«
Wenn eine Klausur sowohl Multiple-Choice-Fragen als auch freie Wir würden uns freuen, wenn dies auch für dieses Lehrbuch gilt
Antwortmöglichkeiten enthält, wenden Sie sich zunächst Letzteren zu. und der Myers Ihnen ein wertvoller Begleiter auf Ihrer Reise durch die
Lesen Sie die Frage sorgfältig durch, und arbeiten Sie genau heraus, was Psychologie wird.
der Dozent wissen möchte. Notieren Sie auf der Rückseite des Blatts Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß und Erfolg.
eine Liste von Punkten, über die Sie schreiben wollen, und gliedern Sie
sie. Bevor Sie dann zum Schreiben übergehen, überspringen Sie diese Christiane Grosser
Aufgabe, und gehen Sie die MC-Fragen durch. (Während Sie das tun, Matthias Reiss
können Sie weiterhin über die Fragen zum freien Text nachgrübeln. Svenja Wahl
Sagen Sie uns
die Meinung!
Inhaltsverzeichnis
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie . . . . . . 1 3.1.2 Zwillingsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Wurzeln der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 3.1.3 Adoptionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Vorwissenschaftliche Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3.1.4 Studien zum Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie . . . . . . 5 3.1.5 Erblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie . . . . . . . 7 3.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Moderne Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.1.7 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung . . . . . . . . . 112
Große Themen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3.2 Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen
Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie . . . . . . . . . 11 versteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Arbeitsfelder der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.2.1 Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen
1 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie . . 17 Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
1.1 Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? . . . . . . . 18 3.2.3 Kritik am evolutionspsychologischen Ansatz . . . . . . . . . . 120
1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden 3.3 Eltern und Gleichaltrige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Menschenverstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
1.1.2 Wissenschaftliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.3.2 Einfluss der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
1.1.3 Wissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.4 Kulturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
1.2 Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4.1 Kulturübergreifende Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
1.2.1 Einzelfallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4.2 Zeitübergreifende Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
1.2.2 Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.4.3 Kultur und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) . 29 3.4.4 Kultur und Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1.3 Korrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . 136
1.3.1 Korrelation und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede . . . 136
1.3.2 Illusorische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . 139
1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen . . . 35 3.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . 141
1.4 Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . 145
1.4.1 Ursache und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
1.4.2 Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4 Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
1.4.3 Unabhängige und abhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . 38 4.1 Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen . . . . . . . . 150
1.5 Grundlagen statistischer Argumentation . . . . . . . . . . . . . 40 4.1.1 Zeugung und Empfängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
1.5.1 Datenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4.1.2 Pränatale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
1.5.2 Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1.3 Fähigkeiten des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
1.6 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie . . . . . . . . . . . . . 45 4.2 Kleinkindzeit und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.2.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
2 Neurowissenschaft und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.2.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
2.1 Neuronale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.2.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
2.1.1 Neuron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.3 Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 4.3.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
2.1.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen . . . . . . . . . . . . . . 60 4.3.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
2.2 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.3.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
2.2.1 Peripheres Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4.3.4 Übergang ins Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
2.2.2 Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4.4 Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
2.3 Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.4.1 Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
2.4 Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.4.2 Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
2.4.1 Forschungswerkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.4.3 Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
2.4.2 Ältere Hirnstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.5 Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie . . . . . 209
2.4.3 Zerebraler Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.5.1 Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung . . . . . . . . . 210
2.4.4 Zur Zweiteilung des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.5.2 Stabilität und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
3 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen . . . . . . 101 5 Wahrnehmung: Sinnesorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
3.1 Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller 5.1 Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung . . . . . . . . . . 215
Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 5.1.1 Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
3.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 5.1.2 Sensorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
XXII Inhaltsverzeichnis
17.1.3 Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . 749 19.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? . . . . . . . . . . . 852
17.1.4 Probleme und Gefahren der Etikettierung . . . . . . . . . . . . 753 19.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung . . . . . . . . . . . von
17.2 Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 moralischen Regeln und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
17.2.1 Generalisierte Angststörung und Panikstörung . . . . . . . . . 757 19.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung
17.2.2 Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 auf die Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860
17.2.3 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 19.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen
17.2.4 Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . 759 der Theorie Hoffmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863
17.2.5 Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 19.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 866
17.3 Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 19.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern
17.3.1 Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
17.3.2 Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 19.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen . . . . . . . . . . . . . 869
17.3.3 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 19.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt . 870
17.4 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 19.4.3 Das Early-Starter-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872
17.4.1 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 19.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen
17.4.2 Subtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 auf die Genese von Problemverhalten . . . . . . . . . . . . . . . 874
17.4.3 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 19.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen
17.5 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 der Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
17.6 Prävalenz psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 19.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung . . . 878
19.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden . . . 880
18 Klinische Psychologie: Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 795
18.1 Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 20 Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . 885
18.1.1 Psychoanalytische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 20.1.1 Arbeitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
18.1.2 Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 20.1.2 Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
18.1.3 Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 20.2 Arbeit und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
18.1.4 Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 20.2.1 Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
18.1.5 Gruppen- und Familientherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 20.2.2 Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
18.2 Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 20.2.3 Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
18.2.1 Wie wirksam ist die Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . . 813 20.3 Veränderte Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904
18.2.2 Welche Therapie für welche Störung? . . . . . . . . . . . . . . . 818 20.3.1 Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? . . 905
18.2.3 Was bringen alternative Therapien? . . . . . . . . . . . . . . . . 819 20.3.2 Arbeitszeit und Arbeitsplatz: Mehr Flexibilität . . . . . . . . . . 907
18.2.4 Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen . . . . . . . 822 20.3.3 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
18.2.5 Kultur und Wertvorstellungen in der Psychotherapie . . . . . 824 20.4 Psychologie in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916
18.3 Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 20.4.1 Organisationsform und Organisationsstruktur . . . . . . . . . 916
18.3.1 Medikamentöse Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 20.4.2 Teams, Gruppen und Qualitätszirkel . . . . . . . . . . . . . . . . 918
18.3.2 Stimulation des Gehirns: Elektrokrampftherapie . . . . . . . . und 20.4.3 Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
transkranielle Magnetstimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 20.5 Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen . . . 925
18.3.3 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 20.5.1 Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925
18.4 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 837 20.5.2 Wer kommt wann voran? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
20.5.3 Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . 935
19 Pädagogische Psychologie:
Übersicht und ausgewählte Themen . . . . . . . . . . . . . 841 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939
19.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie . . . . . . . . . 842 Psychologie als Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940
19.1.1 Gegenstand und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
19.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973
19.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974
der Schulpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024
19.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . 849 Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028
19.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? . . . . . . . . . . . . 849 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Moderne Psychologie –9
Große Themen der Psychologie – 10
Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie – 11
Arbeitsfelder der Psychologie – 13
Langston Hughes, aus »Ich träum mir eine Welt«, Zürich: Althea, 2002 (Original 1945)
2 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Prolog:
Eine kurze Geschichte der Psychologie
> »Wie ist das eigentlich, wenn man mit einem Psychologen verheiratet ist?«, wird meine Frau
manchmal gefragt. »Betrachtet er Sie als psychologisches Forschungsobjekt?«
Und meine Kinder werden von Freunden häufig gefragt: »Analysiert dich dein Papa oder
so was?«
»Was denken Sie über mich?«, fragte mich einmal ein Friseur in der Hoffnung auf eine
Blitzanalyse seiner Persönlichkeit, als er erfuhr, dass ich Psychologe bin.
Wie die meisten Menschen beziehen die, die solche Fragen stellen, ihr Wissen über Psycho-
logie aus Zeitschriften, Fernsehsendungen und Populärliteratur. Ein Psychologe analysiert
demnach die Persönlichkeit, bietet Paarberatung an und gibt Ratschläge zur Kinder-
erziehung.
»Ich habe mich unablässig bemüht, das Handeln Sind das die Arbeitsfelder der Psychologie? Ja, durchaus, und noch viele weitere. Vielleicht
der Menschen weder zu verspotten noch zu be- haben auch Sie sich schon einmal Gedanken gemacht zu einigen der folgenden Fragen der
klagen oder zu verachten, sondern zu verstehen.«
Psychologie:
Benedikt Spinoza (»Theologisch-politisches
Traktat«, 1677) 4 Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie auf eine Situation genauso reagieren wie Ihre bio-
logischen Eltern reagiert hätten, vielleicht sogar so, wie Sie es nie von sich gedacht hätten?
Und haben Sie sich dann gefragt, wie viel von Ihrer Persönlichkeit Sie durch Vererbung
mitbekommen haben? Wie stark sind die Persönlichkeitsunterschiede zwischen einer
Person und einer anderen von den Genen vorherbestimmt? Und wie stark sind sie durch
Umwelt, Elternhaus und Nachbarschaft beeinflusst?
4 Haben Sie je mit einem 5 Monate alten Kind »Guckguck« gespielt und sich gefragt, warum
das Baby dieses Spiel so hinreißend findet? Der Säugling verhält sich so, als ob Sie tatsächlich
verschwinden, wenn Sie für einen Moment hinter die Tür gehen und dann wie aus heiterem
Himmel gleich wieder auftauchen. Was kann ein Baby wahrnehmen? Was denkt es?
4 Sind Sie je aus einem Alptraum hochgeschreckt und haben sich dann erleichtert gefragt,
warum Sie so etwas Verrücktes geträumt haben? Warum träumen wir? Und wie oft träumen
wir?
4 Haben Sie sich je gefragt, worauf Erfolg in der Schule und im Arbeitsleben beruht? Sind
manche Menschen einfach von Geburt an klüger? Wenn manche Menschen reicher wer-
den, kreativer denken oder in Beziehungen einfühlsamer sind als andere: Lässt sich das
nur durch Intelligenz erklären?
4 Waren Sie je in depressiver oder ängstlicher Stimmung und haben sich gefragt, ob Sie sich
jemals wieder »normal« fühlen können? Wodurch wird eine schlechte – oder gute – Stim-
mung ausgelöst?
4 Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich in Gegenwart von Menschen
verhalten sollen, die einem anderen Kulturkreis, einer anderen ethnischen Gruppe oder
dem anderen Geschlecht angehören? Wo liegen die Ähnlichkeiten innerhalb der Men-
schenfamilie? Worin unterscheiden wir uns voneinander?
Hier handelt es sich um die Fragen, um die es in der Psychologie geht; denn die Psychologie ist
eine Wissenschaft, die nach Antworten auf alle möglichen Fragen sucht, die uns Menschen
betreffen: wie wir denken, fühlen und handeln.
In längst vergangenen Zeiten geschah es, dass auf unserem Planeten der Mensch entstand. Bald
darauf begannen diese Geschöpfe, sich sehr intensiv für sich selbst und füreinander zu interessie-
ren. Sie fragten: »Wer sind wir? Woher kommen unsere Gedanken? Unsere Gefühle? Unsere
3
Wurzeln der Psychologie
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Handlungen? Und wie können wir die anderen Geschöpfe, die auch hier leben, verstehen, beherr-
schen oder kontrollieren?« Die Antworten der Psychologie auf diese Fragen haben ihren Ursprung
in vielen Ländern und in vielen Disziplinen: Aus der Philosophie und der Biologie entstand eine
Wissenschaft, die beschreibt und erklärt, wie wir denken, fühlen und handeln. Wir definieren die
Psychologie heute als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhalten und den mentalen Psychologie (psychology): Wissenschaft vom
Prozessen, häufig sagt man auch: vom Verhalten und Erleben. Wir wollen diese Definition etwas Verhalten und von den mentalen Prozessen.
ausarbeiten. Verhalten ist alles, was ein Organismus macht – jede Handlung, die wir beobachten
und registrieren können. Mentale Prozesse sind innere subjektive Erfahrungen, die wir aus dem
Verhalten erschließen: Empfindungen, Wahrnehmungen, Träume, Überzeugungen und Ge-
fühle.
Das Schlüsselwort in der Definition von Psychologie ist wissenschaftlich. Bei der Psychologie
handelt es sich, wie ich in 7 Kap. 1 und im ganzen Buch betonen werde, weniger um eine Aneinan-
derreihung einzelner Befunde, sondern um eine Methode, Fragen zu stellen und sie zu beant-
worten. Als Wissenschaft stellt die Psychologie miteinander konkurrierende Vorstellungen mit
Hilfe sorgfältiger Beobachtung und exakter Auswertung auf den Prüfstand. Bei ihrem Versuch,
den Kern dessen zu beschreiben und zu erklären, was den Menschen ausmacht, bedient sich die
Psychologie als Wissenschaft gerne intuitiver Vorstellungen und plausibel klingender Theorien.
Und sie überprüft sie. Wenn die Theorie zutrifft – wenn also die Befunde die Vorhersagen bestä-
tigen –, umso besser für die Theorie. Wenn die Vorhersagen nicht zutreffen, wird man die Theorie
überarbeiten oder verwerfen.
Mein Ziel in diesem Text besteht dann darin, nicht nur Ergebnisse zu berichten, sondern auch
zu zeigen, nach welchen Spielregeln sich die Psychologen richten. Sie werden sehen, wie Forscher
einander widersprechende Meinungen und Vorstellungen bewerten. Und Sie werden erfahren, wie
wir alle, seien wir nun Wissenschaftler oder nur neugierige Menschen, tiefgründiger denken kön-
nen, wenn wir die Ereignisse in unserem Leben beschreiben und erklären.
Aber lassen Sie uns zunächst auf die Wurzeln der heutigen Psychologie eingehen; dies wird uns
dabei helfen, die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologen zu würdigen.
Vorwissenschaftliche Psychologie
Ziel 2: Analysieren Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie, vom frühen Verständnis der
Seele und des Körpers bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft.
Wir können viele der aktuellen Fragen der Psychologie in der Geschichte des Menschen zurück-
verfolgen. In diesen frühen Ansätzen fragte man sich: Wie funktioniert unsere Seele? In welcher
Beziehung stehen unser Körper und unsere Seele zueinander? Wie viel von dem, was wir wissen,
ist angeboren? Wie viel wird durch Erfahrung erworben? In Indien meditierte Buddha darüber,
wie sich aus Empfindungen und Wahrnehmungen Vorstellungen bilden. In China betonte Kon-
4 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
fuzius die Kraft der Vorstellungen und die Macht eines beherrschten und gezügelten Geistes. Die
alten hebräischen Schriften verbanden Emotionen und Geist mit dem Körper und nahmen damit
ein Stück moderner Psychologie vorweg. Sie nahmen jedoch noch an, der Mensch denke mit dem
Herzen und fühle mit dem Bauch.
Im antiken Griechenland kamen der griechische Philosoph und Lehrer Sokrates (469–399 v.
Chr.) und sein Schüler Platon (428–348 v. Chr.) zu dem Schluss, dass der Leib nicht von der Seele
zu trennen sei und er weiter bestehe, nachdem der Körper abgestorben ist, und dass Wissen ange-
boren ist. Als Sokrates im Sterben lag, entwickelte in einem anderen Teil Griechenlands Platons
künftiger Student, ein Jugendlicher namens Aristoteles (384–322 v. Chr.), einen scharfen Ver-
stand.
Bettmann/Corbis
Sokrates und Platon hatten mit Hilfe der Logik auf Prinzipien geschlossen. Aristoteles jedoch
hatte eine Vorliebe für Fakten. Er formulierte Prinzipien aufgrund aufmerksamer Beobachtungen
und wurde so zum Begründer der modernen Wissenschaft. Aus Beobachtungen schloss er, dass
»die Seele nicht vom Leib zu trennen ist, was auch für einzelne Teile der Seele gilt« (»Über die
Seele«). Des Weiteren lehrte Aristoteles – im Gegensatz zu Sokrates und Platon –, dass Wissen
nicht angeboren ist, sondern aus der Erfahrung erwächst, die wir in unserem Gedächtnis spei-
So stellte man sich die Nervenleitung im chern.
17. Jahrhundert vor Die folgenden 2000 Jahre brachten nur wenige wirklich neue Einsichten in die menschliche
In seiner Schrift »Traité de l’Homme« bot Descartes
Natur. Doch das änderte sich im 17. Jahrhundert, als die Blütezeit der modernen Wissenschaft
das Prinzip der Hydraulik als Erklärung für die
Reflexe an begann. Ein kränklicher, aber brillanter Franzose namens René Descartes (1595–1650) vertrat wie
Sokrates und Platon die Idee von der Existenz angeborener Vorstellungen. Für ihn war »die Seele
eine eigene Einheit und vom Körper völlig getrennt« und würde nach dessen Tod weiterleben.
Dieses Konzept des »Leib-Seele-Dualismus« führte Descartes – und die Menschen nach seiner
Zeit – zwangsläufig zu Vermutungen darüber, in welcher Beziehung die nichtmaterielle Seele und
der materielle Körper zueinander stehen. Descartes war Philosoph und zugleich Naturwissen-
schaftler. Er sezierte Tiere und kam zu dem Schluss, dass die Flüssigkeit in den Hohlräumen des
Gehirns »animalische« Energie, d. h. Lebensenergie, enthielte. Diese Lebensenergie, so vermutete
er, fließe vom Gehirn durch das, was wir Nerven nennen (die er sich als hohl vorstellte), zu den
Muskeln und rufe dort eine Bewegung hervor. Erinnerungen in Form von Erfahrungen öffneten
Poren im Gehirn, in die diese Flüssigkeit gleichfalls hineinfließe.
Descartes hatte insofern Recht, als die Nervenleitungen bedeutsam sind und durch sie Reflexe
erst möglich werden. Er war zwar ein genialer Denker und zog seine Erkenntnisse aus dem Wis-
sen, das die Menschen im Laufe ihrer Geschichte angehäuft hatten. Obwohl jedoch vom heutigen
Standpunkt aus bereits 99% der Menschheitsgeschichte hinter ihm lagen, waren zu seiner Zeit
viele Fakten, die heute zum Allgemeinwissen zählen, nicht bekannt. Tatsächlich ist die Geschich-
te der wissenschaftlichen Erforschung unseres Selbst (dem Thema dieses Buches) noch sehr
jung; sie wurde gleichsam im gerade vergangenen Augenblick der Menschheitsgeschichte ge-
schrieben.
Jenseits des Ärmelkanals nahm die Wissenschaft in England mittlerweile handfestere Formen
an; man experimentierte und forschte, sammelte Erfahrungen und urteilte mit gesundem Men-
schenverstand. Francis Bacon (1561–1626) wurde zu einem der Begründer der modernen Wis-
senschaft, und sein Einfluss reicht bis hinein in die Experimente der heutigen wissenschaftlichen
Psychologie. Auch Bacon war fasziniert vom menschlichen Geist und dessen Fehlleistungen. Er
beschrieb damals bereits das, was wir heute als Bedürfnis unseres Geistes kennen, nämlich auch
in zufälligen Ereignissen Muster zu erkennen: »Es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen
Verständnisses, dass es leichthin einen höheren Grad an Ordnung und Gleichheit in den Dingen
anzunehmen geneigt ist, als es tatsächlich vorfindet« (»Novum Organum«). Er nahm auch Inhalte
der späteren Forschung zum Wahrnehmen und Erinnern von Ereignissen, die unsere Vorannah-
men bestätigen, vorweg. »Alle Formen von Aberglauben sind einander mehr oder weniger ähn-
lich, sei es Astrologie, Träume, Omen ...: In all dem sieht der verblendete Gläubige die Erfüllung
seiner Vorstellungen; erfüllen sich seine Erwartungen jedoch nicht, dann nimmt er dies nicht zur
Kenntnis oder übersieht es, obwohl dieser Fall viel häufiger eintritt.«
Etwa 50 Jahre nach Bacons Tod schrieb der englische Philosoph und Politiker John Locke
(1632–1704) für eine Diskussion mit Freunden einen kurzen Text über »Unsere Fähigkeiten«.
Zwanzig Jahre und etliche hundert Seiten später schloss Locke eine Veröffentlichung ab (»Essay
5
Wurzeln der Psychologie
Concerning Human Understanding«, dtsch. »Über das menschliche Verstehen«), die zu den groß-
artigsten und letzten Spätwerken der Geschichte gehört. Darin vertrat er die These, dass der
Empirismus (empiricism): philosophische
menschliche Geist bei der Geburt eine Tabula rasa sei, ein »unbeschriebenes Blatt«, das von der
Lehre, dass Wissen (nur) auf Sinneserfah-
Erfahrung beschrieben wird. Zusammen mit Bacons Vermächtnis entstand aus diesem Gedanken rungen zurückgeht und wissenschaftlicher
der moderne Empirismus, d.h. die Ansicht, dass Wissen auf Erfahrung zurückgeht und dass Wis- Fortschritt durch Beobachtung und Experi-
senschaft deshalb auf Beobachtung und Experiment beruhen sollte. ment erreicht wird.
Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funktionen des Geistes zu
verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führenden Psychologen, die auf diesem Gebiet
arbeiteten.
Bis zur Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, dachten die Philosophen weiter-
hin über das Denken nach.
Es war im Jahr 1879 an einem Dezembertag in einem kleinen Raum im dritten Stock eines
unansehnlichen Gebäudes, das zur Universität Leipzig gehörte. Zwei junge Männer halfen einem
ernst dreinblickenden Professor mittleren Alters bei der Entwicklung eines Versuchsgeräts: Dieser
Mann war Wilhelm Wundt. Eine Versuchsperson sollte die Taste eines Telegrafengeräts drücken,
sobald sie den Aufprall eines Balles auf einer Rampe hörte; und das Gerät sollte den zeitlichen
Abstand zwischen Hören und Tastendruck messen (Hunt 1993). Später verglichen die Forscher
dieses Zeitintervall mit der Reaktionszeit, die für etwas komplexere Aufgaben benötigt wurde. Zu
ihrem Erstaunen fanden sie, dass die Versuchsteilnehmer in ungefähr einem Zehntel einer Sekun-
de reagierten, wenn sie die Taste drücken sollten, sobald das Geräusch auftrat, dass sie aber zwei
Zehntel einer Sekunde brauchten, wenn sie die Anweisung erhielten, die Taste erst in dem Augen-
blick zu drücken, in dem ihnen bewusst wurde, dass sie das Geräusch hörten (sich seiner Bewusst-
Universitätsarchiv Leipzig
heit bewusst zu sein, dauert etwas länger). Wundt versuchte, »die Elemente des Seelenlebens« zu
erfassen, nämlich die einfachsten und am schnellsten ablaufenden seelischen Prozesse. Damit
begann das, was von vielen als das erste psychologische Experiment angesehen wird. Unter Wundts
Leitung und unter Mitarbeit seiner Studenten war das erste psychologische Labor entstanden.
Es dauerte nicht lange, bis sich verschiedene Subdisziplinen und Denkschulen dieser neuen
Wissenschaft Psychologie entwickelten – begründet durch Vordenker und Pioniere. Zwei einfluss- Wilhelm Wundt
reiche philosophische Schulen, der Strukturalismus und der Funktionalismus, werden im Fol- Begründer des ersten psychologischen Labors an
genden beschrieben; auf die Gestaltpsychologie, den Behaviorismus und die Psychoanalyse kom- der Universität Leipzig; hier als »Versuchsperson«
(rechts) neben seinen Mitarbeitern Dittrich und
men wir in späteren Kapiteln zurück. Wirth
»Sie kennen Ihren eigenen Geist nicht.« zu helfen oder zu verletzen (Myers 2002). Oft genug wissen wir einfach nicht, warum wir fühlen,
Jonathan Swift (»Polite Conversation«, 1738) was wir fühlen, und warum wir tun, was wir tun.
Durch seine zahlreichen, allgemein anerkannten Artikel breitete sich der Einfluss von William
James immer weiter aus. Das bewog den Verleger Henry Holt, ihm einen Vertrag für ein Lehrbuch
über diese neue Wissenschaft, die Psychologie, anzubieten. James nahm den Auftrag an; aber bald
zeigte sich, dass sich die Arbeit an dem Buch unerwartet schwierig gestaltete: Er brauchte 12 Jahre,
um es fertigzustellen (eigentlich gar nicht überraschend). Noch heute, mehr als hundert Jahre nach
ihrem Erscheinen werden die »Principles of Psychology« immer noch gelesen, und die Leser haben
ihre Freude an der brillanten, eleganten Art, mit der William James das gebildete Publikum in die
Psychologie einführte. Die erste deutsche Auflage erschien übrigens unter dem Titel »Psychologie«
1909 in Leipzig.
Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts
bis heute.
Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft, die sich aus der Philosophie und der Biologie heraus
entwickelt hat. Der Deutsche Wilhelm Wundt war Philosoph und Physiologe, der US-Amerikaner
William James war Philosoph, der Russe Iwan Pawlow, ein Pionier der Lernpsychologie, war Phy-
siologe. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud, der eine einflussreiche Persönlichkeitstheorie ent-
wickelte, war Arzt in Österreich, und der Schweizer Jean Piaget mit seinen bahnbrechenden Be-
obachtungen an Kindern war Biologe. Die Liste der frühen Psychologen – »Magellane des Geistes«,
wie Morton Hunt (1993) sie nannte – macht deutlich, dass die Psychologie ihren Ursprung in
vielen Disziplinen und Ländern hat.
Die restliche Geschichte der Psychologie – das Thema dieses Buchs – verläuft in vielen Bahnen.
Psychologie lässt sich nicht leicht definieren. Denn die Betätigungsfelder reichen von der Psycho-
therapie bis zur Untersuchung der Aktivität von Nervenzellen. Wundt und Titchener konzent-
rierten sich auf die inneren Empfindungen, Bilder und Gefühle. Auch James legte seinen Schwer-
punkt auf die Introspektion und wollte den Bewusstseinsstrom und die Emotionen untersuchen.
Freud beschäftigte sich vor allem mit der Art und Weise, wie emotionale Reaktionen auf Kind-
heitserfahrungen und unbewusste Denkprozesse unser Verhalten beeinflussen. Somit wurde die
Cinetext Bildarchiv/HBA
Psychologie bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein als »die Wissenschaft vom Seelen-
leben« definiert.
Von den 20er bis in die 60er Jahre prägten vor allem zwei Männer die amerikanische Psycho-
logie: der provokative und etwas überspannte John B. Watson und der ebenfalls nicht mit Pro-
vokationen geizende Burrhus F. Skinner. Die Introspektion wurde für überflüssig erklärt, die
Sigmund Freud
Psychologie wurde neu definiert, und zwar als »die wissenschaftliche Untersuchung des beobacht-
Berühmter Persönlichkeitstheoretiker und Thera-
baren Verhaltens«. Letztendlich, sagten diese »Behavioristen«, wurzelt die Wissenschaft doch in peut, dessen kontrovers diskutierte Vorstellungen
der Beobachtung. Eine Empfindung, ein Gefühl oder einen Gedanken kann man nicht beobach- das Verständnis des Menschen vom Selbst beein-
ten; das Verhalten von Menschen und ihre Reaktion auf verschiedene Situationen hingegen ist flussten
beobachtbar und beschreibbar.
Die humanistische Psychologie war in den 60er Jahren eine weichere Antwort auf die Humanistische Psychologie (humanistic psy-
Freud’sche Psychologie und auf den Behaviorismus; für ihre Pioniere Carl Rogers und Abraham chology): historisch bedeutsame Auffassung,
bei der das Wachstumspotenzial gesunder Men-
Maslow waren diese beiden Schulen zu mechanistisch. Statt Kindheitserinnerungen hervorzulo-
schen betont wird; in der Hoffnung, das Wachs-
cken und sich auf erlerntes Verhalten zu konzentrieren, betonten sowohl Rogers als auch Maslow tum der Persönlichkeit zu fördern, wurden hier
die Bedeutung der momentanen Umwelteinflüsse für unser Wachstumspotenzial und die Bedeu- Methoden, die auf die individuelle Person zuge-
tung der Tatsache, dass unsere Bedürfnisse nach Liebe und Akzeptanz erfüllt werden. schnitten waren, zur Untersuchung der Persön-
In den 60er Jahren fand die Psychologie allmählich zu ihrem ursprünglichen Interesse an lichkeit genutzt.
mentalen Prozessen zurück, und zwar durch Untersuchungen zur Informationsverarbeitung. Wie
verarbeitet unser Gehirn Informationen, und wie speichert es sie? Durch diese kognitive Wende
wurden Vorstellungen gestützt, die von frühen Psychologen entwickelt worden waren, wie etwa
die Bedeutung innerer Denkprozesse; aber sie ging über diese Vorstellungen hinaus, indem sie die
Art und Weise wissenschaftlich untersuchte, wie wir Informationen wahrnehmen, verarbeiten und
erinnern. Wie wir in 7 Kap. 16 sehen werden, haben sich die kognitive Psychologie und in neue-
rer Zeit die kognitive Neurowissenschaft (die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Denk-
8 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
prozessen und Hirnfunktionen) als besonders vorteilhaft erwiesen, um besser neue Methoden
entwickeln zu können, mit deren Hilfe man Störungen, etwa die Depression, erklären und behan-
deln kann.
Um die Vorstellungen der Behavioristen über beobachtbare Verhaltensweisen mit den Vorstel-
lungen über innere Gedanken und Gefühle unter einen Hut bringen zu können, brauchte die
Psychologie eine neue Definition:
! Heute verstehen wir unter Psychologie die Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen
Prozessen.
Lernziele
Wurzeln der Psychologie
Ziel 1: Definieren Sie Psychologie. Vor mehr als 2000 Jahren dachten Buddha und Konfuzius über die
Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten (alles, was ein Organis- Macht des Geistes und die Entstehung von Ideen nach. Die Hebräer im
mus macht) und von den mentalen Prozessen (subjektive Erfahrungen, Vorderen Orient, Sokrates, sein Schüler Platon und dessen Schüler Aris-
die wir aus dem Verhalten erschließen). Das Schlüsselwort in dieser De- toteles in Griechenland gingen der Frage nach, ob Leib und Seele
finition ist Wissenschaft. eigenständige Einheiten darstellen oder ob sie miteinander verbunden
sind. Sie fragten sich, ob menschliches Wissen angeboren oder durch
Ziel 2: Verfolgen Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie zu- Erfahrung erworben ist. Im 18. Jahrhundert nahmen René Descartes
rück, vom frühen Verständnis der Seele und des Körpers bis zu den Anfängen und John Locke einige dieser alten Fragen wieder auf, und Locke schuf
der modernen Wissenschaft. den berühmt gewordenen Begriff vom Geist als einem »unbeschrie-
Die Wurzeln der Psychologie reichen weit zurück in die geschriebene benen Blatt«. Die Vorstellungen von Francis Bacon und von John Locke
Geschichte. Sie können zurückverfolgt werden nach Indien, China, in den trugen wesentlich zur Entwicklung des modernen Empirismus bei,
Mittleren Osten und nach Europa, wo einige gelehrte Menschen ihr Le- zur Auffassung also, dass Wissen auf Sinneserfahrung zurückgeht und
ben lang danach strebten, ihre Mitmenschen zu verstehen. Ein besonde- dass die Wissenschaft auf Beobachtungen und Experimenten beruhen
res Anliegen war für sie die Frage, wie unser Geist arbeitet und wie seine sollte.
Funktionen mit den Funktionen unseres Körpers zusammenhängen. 6
9
Moderne Psychologie
Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funk- erforscht wurde. Die amerikanischen Behavioristen, angeführt von John
tionen der Seele zu verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führen- B. Watson und später von B.F. Skinner, änderten den Fokus der Psycho-
den Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiteten. logie und beschränkten sich auf die Untersuchung beobachtbaren Ver-
Die Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, schlug haltens. In den 60er Jahren richteten die humanistischen Psychologen
Ende des 19. Jahrhunderts in einem deutschen Laboratorium, in dem ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen, des per-
Wilhelm Wundt das erste echte psychologische Experiment im ersten sönlichen Wachstums und des Bedürfnisses, geliebt und angenommen
psychologischen Labor durchführte. Schon bald bildeten sich Schulen: zu werden. Auch in den 60er Jahren begann die kognitive Wende erneut
Edward Bradford Titchener und andere Strukturalisten suchten nach den Fokus der Psychologie auf das Interesse an mentalen Prozessen zu
den grundlegenden Elementen der Seele, indem sie Menschen bei- legen; besondere Aufmerksamkeit widmete man der Wahrnehmung,
brachten, nach innen zu schauen und die kleinsten Einheiten ihres Erle- der Informationsverarbeitung und dem Gedächtnis. Die kognitiven
bens zu beschreiben. In dem Versuch, zu verstehen, wie seelische Pro- Neurowissenschaftler erweitern unser Verständnis dieser und weiterer
zesse und Verhaltensprozesse dazu beitragen, dass wir uns anpassen, Prozesse in der heutigen Psychologie, die sich selbst als »Wissenschaft
überleben und gedeihen, versuchten William James und anderen Funk- vom Verhalten und von den mentalen Prozessen« bzw. »vom Verhalten
tionalisten, zu erklären, warum wir tun, was wir tun. James schrieb auch und Erleben« sieht.
das erste Lehrbuch für diese neue Disziplin.
> Denken Sie weiter: Wird sich die Psychologie verändern, wenn
Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren Menschen aus nichtwestlichen Gesellschaften ihre Ideen ein-
des letzten Jahrhunderts bis heute. bringen?
Bis in die 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hinein war die Psycholo-
gie eine »Wissenschaft vom Seelenleben«, die mit Hilfe der Introspektion
Moderne Psychologie
Die heutigen Psychologen sind wie ihre Pioniere Bürger vieler Staaten. Der International Union
of Psychological Science gehören 69 Staaten an, von Albanien bis Zimbabwe. Die nationalen psy-
chologischen Gesellschaften entwickeln sich rapide – die American Psychological Association
hatte im Jahr 1945 4183 ordentliche und assoziierte Mitglieder, heute sind es mehr als 160.000;
Ähnliches geschah in Großbritannien (von 1100 auf 34.000). Der Berufsverband Deutscher Psy-
chologen hatte 1946 bei seiner Gründung 22 Mitglieder, heute sind es mehr als 13.000 Mitglieder
im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Die Deutsche Gesellschaft für
Psychologie (Vereinigung der wissenschaftlich tätigen Psychologen) wurde 2004 100 Jahre alt; am
1. Januar 1953 gehörten ihr 118 Mitglieder sowie 13 Ehrenmitglieder an und heute etwa 2000
Mitglieder. In China gab es 1985 an fünf Universitäten psychologische Institute; am Ende des vo-
rigen Jahrhunderts waren es 50 (Jing 1999). 1960 gab es in Deutschland 2000 erwerbstätige Psy-
chologen (2000 Studierende), heute sind es bereits über 45.000. In Bezug auf die Studierenden
lauten die Zahlen 2000 im Jahre 1960 und 32.500 im Jahre 2000 (Schneider 2005). Weltweit wurden
mehr als 500.000 Menschen als Psychologen ausgebildet, und 130.000 von ihnen gehören euro-
päischen Psychologenorganisationen an (Tikkanen 2001). Dank internationaler Publikationen,
gemeinsamer Treffen und dem Internet überschreitet die Zusammenarbeit und die Kommunika-
tion zudem häufiger als je zuvor die Ländergrenzen: »Wir bewegen uns rasch auf eine einzige Welt
der Psychologie als Wissenschaft zu«, berichtete Robert Bjork (2000). Die Psychologie wächst und
zwar in globalem Maßstab.
Heute dreht sich die Debatte der Psychologen um Themen von zeitloser Aktualität. Verhalten
wird von verschiedenen Blickwinkeln aus beobachtet. Psychologen lehren, arbeiten und forschen
in vielen z. T. sehr unterschiedlichen Bereichen und Unterbereichen der Psychologie.
10 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz zusammen, und beschreiben Sie
das Prinzip der natürlichen Selektion.
Von Anfang an hat sich die Psychologie intensiv mit bestimmten zeitüberdauernden Themen be-
fasst, auf die Sie auch in diesem Buch immer wieder treffen werden. Das wichtigste Thema, das uns
immer wieder beschäftigt (und mit dem wir uns in 7 Kap. 3 intensiv befassen werden), betrifft die
Frage, ob unsere Handlungen stärker von unserer biologischen Ausstattung bestimmt werden oder
von unserer Erfahrung. Wir haben bereits gesehen, dass die Anlage-Umwelt-Debatte schon seit
der Antike geführt wird. Entwickeln sich die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen durch Ler-
nen und Erfahrung, oder bringen wir sie bereits mit auf die Welt? Diese Debatte wurde schon von
den alten Griechen geführt, wobei Platon den Standpunkt vertrat, dass Charakter und Intelligenz
photos.com
weitgehend ererbt und dass sogar manche Ideen angeboren sind. Dagegen ging Aristoteles von der
Annahme aus, dass es im menschlichen Geist nichts gibt, was nicht schon zuvor über die Sinne aus
der Außenwelt aufgenommen wurde. Die Philosophen des 17. Jahrhunderts nahmen die Debatte
Charles Darwin
Behauptete, dass Körperformen und Verhaltenswei- wieder auf. Locke lehnte die Vorstellung von angeborenen Ideen ab und trug seine Auffassungen
sen durch natürliche Selektion ausgebildet werden vom Geist als »unbeschriebenes Blatt« vor, das von der Erfahrung beschrieben wird. Descartes war
anderer Meinung: Er glaubte, dass bestimmte Gedanken und Ideen angeboren seien.
Anlage-Umwelt-Debatte (auch: Erbe-Umwelt- Zwei Jahrhunderte später wurde Descartes’ Auffassung durch einen neugierigen Naturforscher
Debatte, nature-nurture issue): alte Kontroverse bestätigt. Ein Student, den das Studium langweilte, der jedoch ein leidenschaftlicher Sammler von
darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung
Käfern, Weichtieren und Muscheln war, brach 1831 zu einer Seereise auf, die sich als historisch
und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbil-
dung psychischer Merkmale und die Entwick-
erweisen sollte. Der Reisende war der 22-jährige Charles Darwin, der nach seiner Reise darüber
lung von Verhaltensweisen ist. grübelte, wie es zu der unglaublichen Vielfalt von Arten gekommen ist, auf die er unterwegs ge-
stoßen war. Wie kam es, dass die Schildkröten auf der einen Insel sich von denen auf einer anderen
Insel in derselben Region unterschieden? 1859 erschien Darwins Buch »Origins of Species« (dtsch.
»Die Entstehung der Arten«), in dem er darlegte, dass die Mannigfaltigkeit der Lebensformen
durch einen evolutionären Prozess zustande gekommen ist. Er glaubte, dass die Natur aus zufällig
entstandenen Veränderungen bei einem Lebewesen die Variation auswählt, die zum Überleben
und zur Fortpflanzung eines Lebewesens in einer bestimmten Umwelt beiträgt. Darwins Prinzip
Natürliche Selektion (natural selection): der natürlichen Selektion – »Die beste Idee, die jemals jemand hatte«, so der Philosoph Daniel
Prinzip, dass aus der Menge der ererbten Merk- Dennett (1996) – ist auch heute noch, 150 Jahre später, ein Ordnungsprinzip der Biologie. Auch
malsvarianten diejenigen an die nachfolgenden
für die Psychologie des 21. Jahrhunderts ist das Evolutionsprinzip ein wichtiges Prinzip. Das hätte
Generationen weitergegeben werden, die am
meisten zur Fortpflanzung und zum Überleben
Darwin sicher gefreut; denn er glaubte, seine Theorie erkläre nicht nur Strukturen bei Lebewesen
der Lebewesen beitragen. (z. B. die Frage, warum Eisbären ein weißes Fell haben), sondern auch das Verhalten von Lebewe-
sen (beispielsweise den Ausdruck von Emotionen in Verbindung mit Lust oder Wut).
Die Anlage-Umwelt-Debatte zieht sich wie ein roter Faden aus der fernen Vergangenheit bis in
unsere Tage. Die Psychologen unserer Zeit führen die Diskussion weiter und stellen folgende Fragen:
4 Auf welche Weise haben die Erbanlagen bzw. die Umwelt einen Einfluss auf individuelle Un-
terschiede bezüglich Intelligenz, Persönlichkeit und psychischer Störungen?
4 Kommen Kinder i. Allg. mit einer »angeborenen Grammatik« zur Welt, oder wird die Gram-
matik durch Lernen und Erfahrung erworben?
4 Wird sexuelles Verhalten stärker durch die biologische Veranlagung angetrieben oder mehr
durch äußere Anreize hervorgerufen?
4 Sollten wir Depressionen als Krankheit des Gehirns oder als Denkstörung – oder als beides
– behandeln?
4 Worin sind wir Menschen uns gleich (dank unserer gemeinsamen Biologie und Evolutionsge-
schichte), und worin unterscheiden wir uns (dank unserer unterschiedlichen Umwelten)?
4 Beruhen Geschlechtsunterschiede auf einer biologischen Prädisposition, oder werden sie
durch die Gesellschaft hervorgebracht?
Die Diskussion geht ständig weiter. Doch immer wieder werden wir herausfinden, dass sich in der
modernen Wissenschaft der Gegensatz zwischen Anlage und Umwelt allmählich auflöst:
! Die Umwelt arbeitet mit dem, was durch die Anlage vorgegeben ist.
11
Moderne Psychologie
Biologisch ist unsere Spezies mit einer enormen Lern- und Anpassungsfähigkeit ausgestattet.
Außerdem ist alles, was sich psychisch abspielt (jeder Gedanke, jedes Gefühl), gleichzeitig auch
ein physiologisches Ereignis. Deshalb kann Depression sowohl eine Denkstörung als auch eine
Krankheit des Gehirns sein.
Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozialen Ansatz an, und erklären Sie,
warum sich die diversen Sichtweisen der Psychologie gegenseitig ergänzen.
Jeder von uns ist ein komplexes System, ist aber auch Teil eines größeren sozialen Systems. Doch
wir alle bestehen auch aus kleineren Systemen (wie etwa unserem Nervensystem oder den Or-
ganen des Körpers), die wiederum aus noch kleineren Systemen bestehen: Zellen, Molekülen und
Atomen.
Soziokulturelle Einflüsse
5 Anwesenheit anderer
5 Erwartungen der Kultur, der Gesellschaft
und der Familie
5 Einflüsse vonseiten der Gleichaltrigen und
einer anderen Gruppe
5 Rollenmodelle, denen man nicht widerste-
hen kann (wie etwa in den Medien)
12 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Analyseniveaus (levels of analysis): die unter- Diese unterschiedlichen Systeme legen nahe, auf unterschiedlichen Analyseniveaus zu arbei-
schiedlichen sich gegenseitig ergänzenden Auf- ten, die einander ergänzende Sichtweisen liefern. Es ist ein bisschen so, als wolle man erklären,
fassungen zur Analyse irgendeines vorgege-
warum Grizzlybären Winterschlaf halten. Tun sie es, weil der Winterschlaf das Überleben und die
benen Phänomens, die von der biologischen
über die psychologische bis zur soziokulturellen Fortpflanzung ihrer Vorfahren begünstigte? Oder weil ihre innere biologische Veranlagung sie
Auffassung reichen. dazu treibt? Oder weil die Futtersuche wegen der Kälte im Winter schwierig ist? All diese Sicht-
weisen ergänzen sich gegenseitig, denn »alles hängt mit allem zusammen« (Brewer 1996). Zusam-
Biopsychosozialer Ansatz (biopsychosocial men bilden die unterschiedlichen Analyseniveaus einen integrierten biopsychosozialen Ansatz,
approach): eine integrierende Sichtweise, die bei dem die Einflüsse biologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren berücksichtigt
biologische, psychologische und soziokulturelle
werden (. Abb. 1). Jedes Niveau liefert einen wertvollen Ansatzpunkt zur Beobachtung des Ver-
Analyseniveaus berücksichtigt.
haltens; dennoch ist jeder für sich genommen unvollständig.
Denken Sie beispielsweise einmal darüber nach, wie sich die unterschiedlichen Sichtweisen
der Psychologie, die in . Tabelle 1 beschrieben werden, gegenseitig ergänzen können und wie sie
Wut in einem anderen Licht erscheinen lassen.
4 Ein Psychologe mit einem evolutionstheoretischen Ansatz würde analysieren, wie Wut bei un-
seren Urahnen das Überleben der Gene förderte.
4 Ein Psychologe mit einem verhaltensgenetischen Ansatz würde untersuchen, auf welche
Weise Anlage und Erfahrung die jeweils individuellen Temperamentsunterschiede beein-
flussen.
4 Ein Psychologe mit einem neurowissenschaftlichen Ansatz würde die Hirnströme untersuchen,
die den körperlichen Zustand der Wut hervorbringen: »gerötetes Gesicht« oder »der Kragen
wird zu eng«.
4 Ein Psychologe mit einem psychodynamischen Ansatz würde einen Wutausbruch als Ventil für
eine unbewusste Feindseligkeit betrachten.
4 Ein Psychologe mit einem verhaltenstheoretischen Ansatz würde den Gesichtsausdruck und die
Körperhaltung untersuchen, die mit Wut einhergehen, oder er würde herauszufinden versu-
chen, welche äußeren Reize zu wütenden Reaktionen oder aggressiven Handlungen führen.
4 Ein Psychologe mit einem kognitiven Ansatz würde untersuchen, wie unsere Interpretation
einer Situation unsere Wut beeinflusst und wie die Wut auf unser Denken wirkt.
Neurowissenschaftlicher Ansatz Auf welche Weise werden durch den Körper und das Wie werden Informationen im Körper weitergeleitet?
Gehirn Emotionen, Erinnerungen und sensorische Er- Welche Verbindung gibt es zwischen der chemischen Zusammensetzung
fahrungen überhaupt erst möglich? des Bluts und Stimmung bzw. Antrieb?
Evolutionärer Ansatz Wie fördert die natürliche Selektion von Merkmalen die Auf welche Weise beeinflusst die Evolution bestimmte Verhaltens-
Weitergabe der eigenen Gene? tendenzen?
Verhaltensgenetischer Ansatz Wie stark beeinflussen unsere Gene und unsere Umwelt Wie stark sind psychologische Merkmale wie Intelligenz, Persönlichkeit,
unsere individuellen Unterschiede? sexuelle Orientierung oder Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt?
Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt?
Psychodynamischer Ansatz Wie entwickelt sich Verhalten aus unbewussten Trieben Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale oder die Störung eines
und Konflikten? Menschen in Begriffen wie Sexual- oder
Aggressionstrieb oder als maskierten Ausdruck
unerfüllter Wünsche und Kindheitstraumata erklären?
Lerntheoretischer Ansatz Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen? Wie lernen wir, vor bestimmten Objekten oder Situationen Angst zu
haben? Welche wirksamen Methoden gibt es, unser Verhalten zu ändern,
etwa abzunehmen oder nicht mehr zu rauchen?
Kognitiver Ansatz Wie kodieren, verarbeiten und speichern wir Informa- Wie benutzen wir Informationen, wenn wir uns erinnern, argumentieren
tionen, und wie rufen wir sie wieder ab? oder ein Problem lösen?
Soziokultureller Ansatz Wie variiert Verhalten und Denken je nach Kultur und Wir sind Afrikaner, Asiaten, Australier, Europäer oder Amerikaner. Worin
Situation? gleichen wir uns als Mitglieder der einen menschlichen Familie? Worin
unterscheiden wir uns voneinander als Angehörige verschiedener Um-
welten?
13
Moderne Psychologie
M. Barton
dimensionalen Gegenstands. Jede der beiden zweidimensionalen Per-
spektiven ist hilfreich, zeigt jedoch nie das ganze Bild.
Vergessen Sie deshalb nicht, dass die Psychologie ihre Grenzen hat. Erwarten Sie nicht, dass Wut
die Psychologie so grundsätzliche Fragen beantwortet wie die, die der russische Schriftsteller Leo Wie würden die Vertreter der verschiedenen Ansät-
ze in der Psychologie erklären, was hier vorgeht?
Tolstoi (1904) gestellt hat: »Warum sollte ich leben? Warum sollte ich irgendetwas tun? Gibt es
irgendeinen Lebenszweck, den der unausweichliche Tod, der uns alle erwartet, nicht ungeschehen
macht und zerstört?« Stellen Sie sich stattdessen lieber darauf ein, dass die Psychologie Ihnen hilft,
zu verstehen, warum Menschen so denken, fühlen und handeln, wie sie es tun. So gesehen werden
Sie das Studium der Psychologie faszinierend und hilfreich finden.
Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklären Sie den Unterschied
zwischen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie.
Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe können Sie Grundlagenfor-
schung oder angewandte Forschung betreiben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie
arbeiten. Wenn Sie sich einen Chemiker vorstellen, dann haben Sie vor Ihrem inneren Auge wahr-
scheinlich das Bild eines Wissenschaftlers im weißen Kittel, umgeben von Glasgefäßen und High-
techgeräten. Stellen Sie sich einen Psychologen vor, und Sie liegen richtig, wenn Sie folgende Bilder
vor Augen haben:
4 einen Wissenschaftler im weißen Kittel, der ein Rattenhirn untersucht;
4 einen Intelligenzforscher, der misst, wie schnell ein Säugling auf ein Bild, das er kennt, mit
Langeweile reagiert (indem er wegschaut);
4 einen leitenden Angestellten, der ein neues Programm zum Thema »Lebensstil und Gesund-
heit« für Angestellte begutachtet;
4 eine Person, die am Computer sitzt und Daten auswertet, um herauszufinden, ob das Tempe-
rament von adoptierten Teenagern mehr Ähnlichkeit mit dem Temperament der Adoptiv-
eltern aufweist oder eher dem der biologischen Eltern gleicht;
4 einen Therapeuten, der aufmerksam den depressiven Gedankengängen eines Patienten folgt;
4 einen Reisenden auf dem Weg zu einer anderen Kultur, um dort Daten über die unterschied-
lichen Ausprägungen menschlicher Grundwerte und Verhaltensweisen zu sammeln;
4 einen Dozenten oder Autor, der anderen seine Freude an der Psychologie vermittelt.
Die verschiedenen Arbeitsfelder, die unter den Begriff »Psychologie« fallen, sind weniger einheit-
lich, als es in anderen Wissenschaften der Fall ist. Doch das hat seine positiven Seiten: In der
Psychologie begegnen sich verschiedene Disziplinen; deshalb ist sie das ideale Feld für Menschen
mit weit gespannten Interessen. Im Rahmen der diversen Tätigkeitsfelder der Psychologie, die von
biologischen Experimenten bis hin zu kulturvergleichenden Studien reichen, gibt es jedoch eine
gemeinsame Fragestellung: die Beschreibung und Erklärung von Verhalten und der mentalen
Prozesse, die ihm zugrunde liegen.
14 Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie
Grundlagenforschung (basic research): reine Psychologen betreiben Grundlagenforschung und vergrößern damit die Wissensbasis der
Wissenschaft zur Vermehrung des Wissens und Psychologie. Auf den folgenden Seiten werden wir einige Forschungsgebiete der Grundlagenfor-
der Kenntnisse.
schung kennen lernen:
4 Psychophysiologen erforschen die Verbindungen zwischen Gehirn und dem Mentalen.
4 Entwicklungspsychologen erforschen, wie sich unsere Fähigkeiten im Lauf unseres Lebens ver-
ändern.
4 Kognitionspsychologen machen Experimente, um festzustellen, wie wir wahrnehmen, denken
und Probleme lösen.
4 Differentielle Psychologen untersuchen unsere überdauernden Persönlichkeitsmerkmale.
4 Sozialpsychologen erforschen, wie wir einander wahrnehmen und beeinflussen.
Angewandte Forschung (applied research): Diese Psychologen können auch angewandte Forschung betreiben, die sich praktischen Proble-
wissenschaftliche Untersuchungen zur Lösung men zuwendet. Das gilt beispielsweise für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, die
konkreter Probleme.
das Verhalten am Arbeitsplatz untersuchen und Verbesserungen vorschlagen. Sie nutzen psycho-
logische Konzepte und Methoden, um Organisationen und Firmen bei der Einstellung von Mit-
arbeitern zu helfen, und machen Vorschläge für eine wirkungsvollere Ausbildung der dort Be-
schäftigten. Sie fördern die Arbeitsmoral und die Produktivität, sie entwickeln ein Produktdesign
oder führen ein neues Bewertungssystem ein.
Die meisten Psychologielehrbücher konzentrieren sich auf die Psychologie als Wissenschaft,
doch gehört sie auch zu den helfenden Berufen und berührt damit so konkrete Fragen, wie man
Jürgen Hoyer
Beobachtungsraum mit Einwegscheibe, hinter der ein Psychologe das Verhalten
eines Kindes beobachtet, einen anderen Psychologen, der eine Versuchsperson testet,
und eine Psychologin, die ein Therapiegespräch führt
Jürgen Hoyer
M. Barton
15
Moderne Psychologie
eine glückliche Ehe führt oder wie man Ängste oder Depressionen überwindet. Psychologen, die Psychologische Beratung (counseling psychol-
in der Beratung tätig sind, helfen den Menschen dabei, Herausforderungen in ihrem Leben ogy): ein Zweig der Psychologie, der Menschen
bei Problemen hilft, die sie im Leben (oft in
(Probleme beim Studium, im Beruf und in der Ehe) zu bewältigen, indem sie ihre Stärken und
Bezug auf Schule, Arbeit oder Ehe) und beim
Ressourcen erkennen. Diese Fragen betreffen auch das Arbeitsfeld der klinischen Psychologen, Erreichen eines besseren Allgemeinzustands
die mentale, emotionale und Verhaltensprobleme diagnostizieren und behandeln (APA 2003). haben.
Sowohl psychologische Psychotherapeuten als auch klinische Psychologen testen Patienten, wer-
ten die Tests aus und kümmern sich um Beratung und Therapie; sie arbeiten aber manchmal auch
in der Grundlagen- oder in der angewandten Forschung. Ein Psychiater dagegen, der auch Psy- Klinische Psychologie (clinical psychology):
chotherapie anbieten kann, ist Arzt und darf Medikamente verordnen und die physischen Ursa- Teildisziplin der Psychologie; klinische Psycho-
logen untersuchen, testen und behandeln
chen psychischer Störungen auch auf andere Weise behandeln. (Seitens der klinischen Psycho-
Patienten mit psychischen Störungen.
logen gibt es Bestrebungen, bei psychischen Störungen ebenfalls Psychopharmaka verordnen zu
dürfen. In den USA hat New Mexico 2002 dieses Recht Psychologen mit Spezialausbildung ein-
geräumt.)
Die Psychologie hat einen Bezug zu vielen anderen Disziplinen. Dies umfasst Bereiche von Psychiatrie (psychiatry): Teildisziplin der Medi-
der Biologie bis zur Soziologie; die Palette der Arbeitsplätze für Psychologen reicht vom Labor zin, wird von Ärzten mit Facharztausbildung
(Psychiater) ausgeübt. Psychiater dürfen psychi-
bis zur Klinik. Immer häufiger kooperiert die Psychologie mit anderen Disziplinen: von der
sche Störungen mit Psychotherapie, aber auch
Mathematik über die Biologie bis hin zur Soziologie und Philosophie. Und immer öfter werden mit Psychopharmaka behandeln.
die Methoden und Resultate der Psychologie auch von anderen Fachrichtungen genutzt. Psycho-
logen lehren an medizinischen und juristischen Fakultäten und sogar bei den Theologen; sie
arbeiten in Krankenhäusern, Fabriken und den Büros der großen Konzerne. Sie arbeiten in in-
terdisziplinären Studien mit (wie z. B. bei der psychologischen Analyse historischer Persönlich-
keiten in der Geschichtswissenschaft oder in der Psycholinguistik, wo es um Sprache und Denken
geht).
Die Psychologie nimmt auch Einfluss auf die moderne Kultur. Wissen verändert die Men- »Hat sich der Geist erst einmal der Dimension
schen. Neue Erkenntnisse über das Sonnensystem oder die Theorie der Krankheitserreger ver- einer größeren Idee geöffnet, kehrt er nie zu
seiner früheren Größe zurück.«
ändern die Art, wie Menschen denken und handeln. Auch die Erkenntnisse der Psychologie
Oliver Wendell Holmes (1809–1894)
bewirken Veränderungen bei den Menschen. Psychische Störungen werden nicht mehr so ohne
weiteres als moralisches Fehlverhalten abqualifiziert, auf das man mit Bestrafung oder Ausgren-
zung reagiert. Auch werden Frauen nicht mehr so oft als Menschen angesehen, die dem Mann
unterlegen sind. Und in der Erziehung hält man Kinder nicht mehr unbedingt für willige, aber
unwissende Tiere, die gezähmt werden müssen. »In all diesen Beispielen«, vermerkt Hunt (1990,
S. 206), »hat Wissen zu einer veränderten Einstellung und damit zu einer Verhaltensänderung
beigetragen.« Die Psychologie hat wohl fundierte und gründlich überprüfte Ideen zu bieten:
in welcher Beziehung Körper und Geist zueinander stehen, wie sich das Denken eines
Kindes allmählich ent-
Ich seh’ dich!
wickelt, wie wir unsere
Ein Psychophysiologe könnte in der entzückten
Wahrnehmungen kons- Reaktion des Kindes ein Zeichen von Hirnreifung
truieren, wie wir uns an sehen. Ein kognitiver Psychologe sieht darin ein
unsere Erfahrungen erin- Anzeichen für das wachsende Verständnis des Kin-
nern (und wie wir uns des für seine Umwelt. Der Psychologe aus der kul-
turübergreifenden Forschung interessiert sich für
falsch erinnern), wie sich
die Rolle der Großeltern in verschiedenen Kulturen.
die Menschen dieser Welt Sie werden in diesem Buch immer wieder auf ver-
voneinander unterschei-
© 2004 Laura Dwight Photography
Lernziele
Moderne Psychologie
Die Psychologie breitet sich aus und wird global. In 69 Ländern auf der aus (dazu gehören die Sichtweise der Neurowissenschaft, der Evolu-
Erde arbeiten, lehren und forschen Psychologen in vielen Bereichen. tionstheorie, der Verhaltensgenetik, der Psychodynamik, der Lerntheo-
rie, der Kognitionstheorie und der soziokulturellen Theorie). Wenn man
Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz die Informationen, die in diesen vielen Forschungssträngen gesammelt
zusammen, und beschreiben Sie das Prinzip der natürlichen Selektion. werden, zusammenführt, so ergibt sich ein umfassenderes Verständnis
Bei der wichtigsten der immer wieder diskutierten Fragen geht es um des Verhaltens und der mentalen Prozesse, als dies möglich wäre, wenn
das Gleichgewicht zwischen dem Einfluss von Anlage (der Gene) und man sich auf eine einzelne Sichtweise beschränkte.
Umwelt (alle anderen Einflüsse, denen wir von der Zeugung bis zum Tod
ausgesetzt sind). Philosophen haben lange darüber diskutiert, ob die Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklä-
Anlage (wie es Plato und Descartes meinten) oder die Umwelt (wie ren Sie den Unterschied zwischen der Klinischen Psychologie und der
es Aristoteles und Locke meinten) wichtiger ist. Charles Darwin schlug Psychiatrie.
einen Mechanismus vor – das Prinzip der natürlichen Selektion –, nach Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe
dem die Natur zufällige Variationen selegiert, die die Lebewesen in die können Sie Grundlagenforschung oder angewandte Forschung betrei-
Lage versetzen, in bestimmten Umwelten zu überleben und sich fort- ben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie arbeiten. Zu
zupflanzen. Psychologen sind heute der Auffassung, dass in den meisten den Arbeitsfeldern der Psychologie gehören also Grundlagenforschung
Fällen jedes psychische Ereignis gleichzeitig ein biologisch-körperliches (meist ausgeübt von Psychophysiologen, Entwicklungs- und Kogni-
Ereignis ist. Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen (dazu gehö- tions-, Differentiellen und Sozialpsychologen), angewandte Forschung
ren auch Studien über eineiige und zweieiige Zwillinge) lässt die relative (u. a. praktiziert von Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen)
Bedeutung der drei Gruppen von Einflüssen auf solche Merkmale wie sowie die klinische Anwendung (die Arbeit von psychologischen Bera-
Persönlichkeit und Intelligenz in einem neuen Licht sehen. tern und von klinischen Psychologen). Klinische Psychologen untersu-
chen, testen und behandeln Menschen mit psychischen Störungen (mit
Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozi- Hilfe der Psychotherapie); Psychiater untersuchen, testen und behan-
alen Ansatz an, und erklären Sie, warum sich die diversen Sichtweisen deln ebenfalls Menschen mit Störungen, aber sie sind Mediziner, die
der Psychologie gegenseitig ergänzen. sowohl Medikamente verschreiben als auch Psychotherapie anbieten
Im biopsychosozialen Ansatz werden Informationen aus dem biolo- können.
gischen, dem psychologischen und dem soziokulturellen Analyseniveau
miteinander vereint. Psychologen untersuchen das Verhalten des Men- > Denken Sie weiter: Als Sie sich für diesen Studiengang einschrie-
schen und seine mentalen Prozesse von unterschiedlichen Blickwinkeln ben, was glaubten Sie da, worum es in der Psychologie geht?
Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhr-
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1
Kritisch denken
mit wissenschaftlicher Psychologie
1.1 Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? –18
1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes – 18
1.1.2 Wissenschaftliches Denken – 22
1.1.3 Wissenschaftliche Methode – 24
Kritisch denken
mit wissenschaftlicher Psychologie
1
»Was für ein Glück für die Regierenden, dass die > Viele Menschen finden »Psychologie« hochinteressant, weil sie neugierig auf andere Menschen
Menschen nicht denken.« sind und weil sie hoffen, mit psychologischem Wissen ihre eigenen kleinen Leiden heilen zu
Adolf Hitler, 1889–1945
können. Sie hören sich Radiosendungen zu psychologischen Themen an, lesen Artikel über die
Kräfte der Seele, nehmen an Hypnoseseminaren zur Raucherentwöhnung teil und verschlin-
gen Selbsthilfebücher über die Bedeutung der Träume, den Pfad zur ekstatischen Liebe und
darüber, wie man persönliches Glück erlangt.
Andere wiederum fragen sich angesichts mancher psychologischer Wahrheiten: Stimmt
es, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt ent-
steht? Können wir den Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch trauen, die ein Erwach-
sener in seinem Gedächtnis »freilegt«, und sollen wir daraufhin den angeblichen Täter gericht-
lich verfolgen? Sind erstgeborene Kinder stärker leistungsorientiert? Sagt die Handschrift
eines Menschen etwas über seine Persönlichkeit aus? Kann Psychotherapie heilen?
Wie können wir bei solchen Fragen simple Meinungen, die nicht auf Informationen be-
ruhen, von stichhaltigen Schlussfolgerungen unterscheiden? Wie können wir die Psychologie
so sinnvoll einsetzen, dass wir verstehen, warum die Menschen so und nicht anders denken,
fühlen und handeln?
In dem Maße, wie wir uns die wissenschaftliche Herangehensweise der Psychologie zu Eigen ma-
chen und die zugrunde liegenden psychologischen Prinzipien in unser Alltagsdenken integrieren,
werden wir scharfsinniger und ideenreicher, einfach cleverer denken. Zwei Phänomene – der Ver-
zerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) und die Überschätzung unserer Ur-
teilsfähigkeit – machen deutlich, warum wir uns nicht nur auf Intuition und gesunden Menschen-
verstand verlassen können. Kritisches Hinterfragen aus einer quasi wissenschaftlichen Haltung
heraus, gepaart mit Neugier, Skepsis und Bescheidenheit, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unter-
scheiden.
Manche Menschen sagen, Psychologie sei letztlich nichts anderes als in einen Fachjargon gepresstes
Allgemeinwissen. »Gibt es etwas Neues unter der Sonne? Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr
mit ausgefallenen Methoden das beweist, was meine Großmutter schon immer wusste.« Andere
Menschen glauben an die intuitiven Fähigkeiten des Menschen und blicken voll Verachtung auf eine
an der Wissenschaft orientierte Denkwei-
Die Grenzen der Intuition se. Sie machen sich zum Anwalt des »in-
Personalchefs neigen dazu, ihren »Bauchgefühlen« tuitiven Managements« und fordern uns
bei der Beurteilung von Stellenbewerbern zu sehr
auf, auf die Vorhersagen der Statistik zu
zu vertrauen, zum einen, weil sie sich an die Fälle
erinnern, in denen sich ihr guter Eindruck als richtig verzichten und uns bei Einstellungen, Ent-
erwies, zum anderen, weil sie nicht wissen, dass ein lassungen und Investitionen lieber auf un-
von ihnen abgelehnter Bewerber in einer anderen ser Gefühl zu verlassen. Sollten wir nicht
Firma erfolgreich war lieber wie Luke Skywalker in »Star Wars«
unserer inneren Kraft vertrauen?
Tatsächlich aber schreibt die Schrift-
stellerin Madeleine L’Engle (1972): »Der
bloße Intellekt ist ein ausgesprochen un-
M. Barton
? Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier
100-mal. Wie dick würde es dann etwa sein? (7 Antwort 1.1 am Ende des Kapitels)
? Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben,
damit es überall 1 m über der Erdoberfläche schwebte? (7 Antwort 1.2 am Ende des Kapitels)
Mit dem gesunden Menschenverstand verhält es sich ebenso. Wir alle sind hinterher immer klüger:
Weil wir jetzt wissen, was geschehen ist, gehen wir davon aus, wir hätten vorhersehen können, was
geschehen würde.
Es ist leicht, schlau zu sein und das Schwarze erst dann um den Pfeil zu malen, wenn er schon »Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen
getroffen hat. Nach jedem Abwärtstrend der Börse sagen die Investmentgurus, die Börse sei doch es rückwärts.«
Der Philosoph Søren Kierkegaard, 1813–1855
ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. Nachdem am 11. September 2001 der
erste Turm des World Trade Centers in New York getroffen worden war, hätten die Menschen im
zweiten Turm sofort evakuiert werden müssen – sagten die Kommentatoren hinterher (dabei war
zunächst gar nicht klar, dass es sich um einen Terrorangriff und nicht um einen Unfall handelte).
Und wenn ein Arzt Informationen über einen Krankheitsfall plus einen Autopsiebericht in der
Hand hat, ist seiner Meinung nach die Todesursache absolut eindeutig, und er schließt daraus, er
hätte sie anhand der Symptome leicht vorhersagen können. Doch bevor der Pfeil die Scheibe trifft,
Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche
die Börse einbricht, der Terrorangriff stattfindet oder der Tod eintritt, sind diese Folgen absolut
Einsicht): Tendenz, nach dem Eintreten eines Er-
nicht vorhersehbar. Für einen Arzt ist zum Beispiel eine Todesursache nicht so leicht zu erkennen, eignisses zu glauben, man hätte es vorhersehen
wenn er nur die Symptombeschreibung kennt, aber keinen Autopsiebericht zur Hand hat (Daw- können (auch bekannt als »Rückschaufehler«).
son et al. 1988). Diese nachträgliche Art, die Dinge zu sehen, nennen die Psychologen Paul Slovic
und Baruch Fischhoff (1977) den Hindsightbias, auch bekannt als »Rückschaufehler«.
Dieses Phänomen ist leicht zu demonstrieren: Geben Sie einer Gruppe einen angeblich wis- »Geschichte wird mit dem Blick durch den Rück-
senschaftlichen Befund, während Sie einer anderen Gruppe das genaue Gegenteil als wissenschaft- spiegel geschrieben, aber sie entfaltet sich durch
eine trübe Windschutzscheibe.«
lichen Befund präsentieren. Zu der ersten Gruppe sagen Sie: »Psychologen haben herausgefunden,
Samuel Berger. Sicherheitsberater von Präsident Clin-
dass Trennung die romantische Anziehung abschwächt. Das Sprichwort sagt es ja auch: ›Aus den ton vor einer Kommission zum 11. September (Bericht
Augen, aus dem Sinn‹«. Dann bitten Sie die Teilnehmer, darüber nachzudenken, warum das so ist. der Kommission, 2004)]
Die meisten Menschen können und werden an diesem wahren Befund nichts Erstaunliches finden.
Der zweiten Gruppe erzählen Sie das genaue Gegenteil, nämlich: »Psychologen haben heraus-
gefunden, dass romantische Anziehung durch Trennung stärker wird. Wie das Sprichwort sagt:
›Trennung lässt die Liebe wachsen‹«. Die Teilnehmer werden auch dieses nicht richtige Resultat
mühelos erklären, und die überwiegende Mehrheit wird darin den gesunden Menschenverstand »Alles scheint ein Gemeinplatz zu sein, wenn es
sehen und nicht überrascht sein. Wenn demnach sowohl das eine Ergebnis als auch sein Gegenteil erst einmal erklärt ist.«
mit dem »gesunden Menschenverstand« erklärt werden kann, dann haben wir hier ganz offen- Dr. Watson zu Sherlock Holmes
sichtlich ein Problem.
Derartige Irrtümer bei
unserem Erinnerungsver-
mögen und unseren Er-
klärungsversuchen machen
deutlich, weshalb wir eine
Verzerrung durch nachträgliche Einsicht
psychologische Forschung
(Hindsight-Bias)
brauchen. Die Antwort auf Nach dem Schrecken des 11. September war klar,
die Frage, was ein Mensch dass der amerikanische Geheimdienst Warnungen
gefühlt und warum er so und im Vorfeld der Anschläge hätte ernster nehmen
nicht anders gehandelt hat, sollen, dass der Sicherheitsdienst auf den Flughäfen
Tim Boyle/Getty Images
sondern weil die Antwort nach dem Ereignis gegeben wird. So sagte der Physiker Niels
Bohr angeblich: »Vorhersagen sind recht schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft
geht.«
1 ! Der gesunde Menschenverstand erklärt eher, was vorgegangen ist, als dass er
vorhersagen könnte, was vorgehen wird.
Bei dem Hindsightbias handelt sich um ein weit verbreitetes Phänomen. Es wurde in mehr
als 100 Studien sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen in vielen unterschiedlichen
Ländern beobachtet (Bernstein et al. 2004; Guilbault et al. 2004). Dennoch hat der gesun-
de Menschenverstand häufig Recht. Yogi Berra sagte einmal: »Du kannst vieles beobach-
ten, wenn du genau hinschaust.« Wir alle sind gute Beobachter und beobachten das Ver-
halten um uns herum. Deshalb wäre es schon erstaunlich, wenn nicht zumindest ein paar
C. Styrsky
Ergebnisse der psychologischen Forschung schon vorher bekannt gewesen wären. Viele
Menschen glauben, dass Liebe Glück hervorbringt – und sie haben Recht (wir alle haben
ein »Bedürfnis, zu jemandem zu gehören«, wie wir in 7 Kap. 12 erfahren werden).
Daniel Gilbert, Brett Pelham und Douglas Krull (2003) merken sogar an: »Gute Ideen aus dem
Bereich der Psychologie kommen uns oft seltsam vertraut vor. Und in dem Augenblick, in dem wir
auf sie stoßen, meinen wir, sicher zu sein, dass wir schon einmal nahe daran waren, das Gleiche zu
denken, und es einfach nur nicht geschafft haben, den Gedanken niederzuschreiben.«
Doch manchmal liegt der gesunde Menschenverstand und seine Intuition völlig daneben.
Vielleicht sagt uns unsere Intuition, dass Aufdringlichkeit zu Geringschätzung führt, dass Träume
die Zukunft vorhersagen oder dass emotionale Reaktionen mit der jeweiligen Menstruationsphase
zusammenhängen. Dabei stützen wir uns auf die Informationen, die wir aus unzähligen beiläu-
figen Beobachtungen gewonnen haben. Wie wir in den späteren Kapiteln sehen werden, zeigen
die Forschungsergebnisse, dass unsere Annahmen grundfalsch sind. Wissen Sie, welche populären
Vorstellungen in . Tab. 1.1 durch die psychologische Forschung bestätigt und welche widerlegt
wurden? Wir werden in diesem Buch immer wieder erfahren, wie die Forschung unsere lieb ge-
wonnenen Vorstellungen vom Altern, von Schlaf und Träumen oder von dem, was wir unter
Persönlichkeit verstehen, manchmal über den Haufen wirft und manchmal bestätigt. Wir werden
auch sehen, welche Überraschungen uns die Forschung mit ihrer Entdeckung der chemischen
Botenstoffe des Gehirns bereitet, die unsere Stimmungen und unsere Erinnerungen steuern, oder
mit den Forschungsergebnissen dazu, über welche Fähigkeiten Tiere verfügen und wie sich Stress
auf unsere Fähigkeit zur Krankheitsabwehr auswirkt.
1. Wenn Sie jemandem eine Gewohnheit beibringen wollen, die er dauerhaft beibehält, sollten Sie das erwünschte Verhalten jedes Mal und nicht nur intermittierend
belohnen (7 Kap. 8).
2. Patienten, deren Gehirn chirurgisch in der Mitte durchtrennt wurde, überleben die Operation und sind weitgehend so funktionstüchtig wie vor der Operation
(7 Kap. 2).
3. Traumatische Erfahrungen wie etwa sexueller Missbrauch oder das Überleben des Holocausts werden typischerweise aus dem Gedächtnis verdrängt (7 Kap. 9 und 15).
4. Die meisten missbrauchten Kinder werden keine missbrauchenden Erwachsenen (7 Kap. 4).
5. Die meisten Säuglinge erkennen gegen Ende des ersten Lebensjahrs ihr eigenes Bild im Spiegel (7 Kap. 4).
6. Adoptierte Geschwister neigen nicht dazu, ähnliche Persönlichkeiten zu entwickeln, obwohl sie von denselben Eltern großgezogen werden (7 Kap. 3).
7. Die Furcht vor harmlosen Objekten wie Blumen ist genauso schnell erlernbar wie die Furcht vor potenziell gefährlichen Objekten wie Schlangen (7 Kap. 13).
Anmerkung: Die Antworten auf die Fragen finden Sie am Ende des Kapitels (1.3).
1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
21 1
Übertriebene Selbstsicherheit
Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser Urteil trübt.
Unser Alltagsdenken stößt nicht nur mit dem nachträglichen gesunden Menschenverstand an @ Witzige Anagramme von
seine Grenzen, sondern auch mit der allgemeinen menschlichen Tendenz, zu viel Vertrauen in die http: //www.anagramme.de:
Universitaet = Niveaustreit
eigene Urteilsfähigkeit zu haben. 7 Kap. 10 erklärt, wie wir dazu neigen, zu glauben, wir wüssten
Albert Einstein = etablierte Sinn
mehr, als wir tatsächlich wissen. Auf die Frage, wie sicher wir sind, die richtige Antwort auf eine Altes Testament = Tatenmesslatte
Sachfrage zu wissen (z. B. Liegt Boston weiter nördlich oder weiter südlich als Paris?) antworten Uli Hoeness = Sushi Leone
wir eher mit Selbstvertrauen als mit korrektem Wissen (Boston liegt weiter südlich als Paris). Wolfgang Amadeus Mozart =
Schauen Sie sich einmal die drei folgenden Anagramme an: A famous German waltzgod
Serwas o Wasser
Tessmy o System
Hartox o Thorax
Denken Sie einen Moment nach: Was glauben Sie, wie viele Sekunden Sie gebraucht hätten, um
die Anagramme aufzulösen? Sobald man die Lösung kennt, sorgt die nachträgliche Einsicht dafür,
dass sie uns absolut selbstverständlich erscheint. Das führt zu übertriebenem Selbstvertrauen. Wir
glauben, wir hätten die Lösung in höchstens 10 Sekunden gefunden, während tatsächlich der
Durchschnitt bei 3 Minuten liegt. Und diese 3 Minuten hätten Sie auch gebraucht, wenn Sie die
Lösung nicht gekannt hätten.
? Probieren Sie es mit einem weiteren Anagramm aus: ACHENFI (7 Antwort 1.4 am Ende des
Kapitels).
Sind wir besser, wenn es darum geht, unser soziales Verhalten vorherzusagen? Valone et al. (1990) »Ihr Sound gefällt uns nicht. Gitarrengruppen sind
ließen Studenten zu Beginn des Semesters vorhersagen, ob sie ein Seminar aus ihrem Plan streichen, nicht mehr gefragt.«
Erklärung von Decca Records, warum sie mit den
sich an einer bevorstehenden Wahl beteiligen, ihre Eltern mehr als zweimal im Monat anrufen
Beatles 1962 keinen Plattenvertrag schließen wollten
würden und dergleichen mehr. Im Durchschnitt fühlten sich die Studenten bei ihren Vorhersagen
zu 84% sicher. Spätere Fragen zum tatsächlichen Verhalten ergaben, dass nur 71% ihrer Vorher-
sagen korrekt waren. Selbst wenn sie angaben, hundertprozentig sicher zu wissen, wie sie sich
verhalten würden, lag ihre Irrtumsquote bei 15%.
Nicht nur College-Studenten irren sich bei ihren Vorhersagen. Philip Tetlock von der Ohio »Die Computer der Zukunft werden wahrschein-
State University sammelte 12 Jahre lang die Vorhersagen von Experten zur politischen, ökono- lich nicht einmal eineinhalb Tonnen wiegen.«
Die Zeitschrift »Popular Mechanics« (1949)
mischen und militärischen Situation. So forderte er zum Beispiel in den 80er Jahren renommierte
Professoren, Analytiker aus Denkfabriken, Regierungsexperten und Journalisten auf, eine Prog-
nose zu stellen, wie die Regierung der UdSSR oder die Situation in Südafrika in 5 Jahren aussehen
würde. Dabei sollten sie auch bewerten, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Als die 5 Jahre ver- »Für unsere amerikanischen Vettern mag das Tele-
gangen waren (und der Kommunismus in der Sowjetunion zusammengebrochen war und Südafri- fon ja eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für
uns. Wir haben genügend Botenjungen.«
ka sich in eine multiethnische Demokratie verwandelt hatte), bat Tetlock die Experten, sich an
Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfin-
ihre Vorhersagen, die – wie in den Laborversuchen – weitaus mehr von Selbstsicherheit zeugten dung des Telefons
als von korrektem Wissen, zu erinnern und sie zu überdenken. Experten, die angegeben hatten,
ihrer Sache zu über 80% sicher zu sein, hatten in weniger als 40% der Fälle Recht behalten.
Trotz ihrer schlechten Trefferquoten tendierten die Experten mit den falschen Prognosen fast so
sehr wie die mit den richtigen Prognosen dazu, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre anfäng-
liche Analyse im Grunde genommen immer noch richtig war. Viele hatten das Gefühl, »beinahe
Recht« gehabt zu haben. »Die Hardliner in der sowjetischen Regierung hätten mit ihrem Putschver-
such gegen Gorbatschow ›beinahe‹ Erfolg gehabt.« – »Wären nicht gerade De Klerk und Mandela
aufeinandergetroffen, wäre der Übergang zur schwarzen Mehrheitsregierung niemals so unblutig
verlaufen.« Deshalb ist das übertriebene Selbstvertrauen von politischen Experten (und Börsenana-
lysten und Sportkommentatoren) schwer zu erschüttern, ganz gleich, wie das Ergebnis lautet.
! Hindsightbias und übertriebene Selbstsicherheit bringen uns dazu, unsere Intuition zu über-
schätzen. Aber die wissenschaftliche Forschung kann uns in Verbindung mit Skepsis und Be-
scheidenheit dazu verhelfen, Realität und Täuschung voneinander zu unterschieden.
22 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Ziel 3: Erklären Sie, wie die wissenschaftliche Haltung kritisches Denken fördert.
1 Was aller Wissenschaft in erster Linie zugrunde liegt, sind hartnäckige Neugier und die Leiden-
schaft, Dinge zu erforschen und zu verstehen. Dabei will man weder Irrtümer in die Welt setzen
noch ihnen erliegen. Manche Fragen gehen über die Wissenschaft hinaus (Gibt es ein Leben nach
dem Tod?). Die Antwort auf solche Fragen erfordert auch ein Stück Glauben. Wie bei vielen
anderen Ideen (Gibt es Menschen mit übersinnlicher Wahrnehmung? Und lässt sich dies nach-
weisen?) ist auch hier die Frage des Beweises ausschlaggebend. Ganz gleich, wie sinnvoll oder
wie verrückt eine Idee auch sein mag: Die hartnäckige Frage lautet: Klappt es? Lässt sich das, was
vorhergesagt wird, durch Überprüfung bestätigen?
Das wissenschaftliche Denken hat eine lange Geschichte. Schon Moses machte davon Ge-
»Der Wissenschaftler muss die Freiheit haben, brauch. Wie bewertet man einen selbst ernannten Propheten? Seine Antwort lautete: Unterzieht
jede Frage zu stellen, jede Behauptung anzuzwei-
ihn einer Prüfung. Tritt das vorhergesagte Ereignis nicht ein oder kann es nicht bewiesen werden,
feln, immer um einen Beleg zu fragen, jeden Feh-
ler zu korrigieren.« dann ist das Pech für den Propheten (5. Moses 18, 22). Der Zauberer James Randi bedient sich
Der Physiker J. Robert Oppenheimer, »Life« am derselben Methode, wenn er die auf den Prüfstand stellt, die behaupten, die Aura des Menschen
10. Oktober 1949 sehen zu können.
Nach Randis Aussage war noch nie ein Aura-Seher bereit, sich dieser Prüfung zu unterzie-
hen Manchmal finden verrückt klingende Ideen Unterstützung, wenn sie einer so genauen Prü-
fung unterzogen werden. Galileo Galilei, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts öffentlich für das
heliozentrische Weltbild des Kopernikus eintrat, musste 1633 »seinem Irrtum« abschwören,
obwohl er nach der Legende bis zuletzt der Inquisition mit den Worten »Und sie [die Erde] be-
wegt sich doch« trotzte. Manchmal widerlegt dann die weitere wissenschaftliche Untersuchung
die Skeptiker – und 1992 wurde Galileo Galilei schließlich auch von der römisch-katholischen
Kirche rehabilitiert.Doch meistens werden verrückt klingende Ideen auf den Müllhaufen der
vergessenen Behauptungen geworfen, wo sich bereits das Perpetuum mobile, das Wunderheil-
mittel gegen Krebs und die körperlosen Reisen in längst vergangene Jahrhunderte befinden!
Wenn wir Phantasie von Wirklichkeit und Sinn von Unsinn unterscheiden wollen, brauchen wir
die Einstellung eines Wissenschaftlers: Skepsis ohne Zynismus und Offenheit ohne Leicht-
gläubigkeit.
Die wissenschaftlich tätigen Psychologen betrachten Verhalten mit neugieriger Skepsis. Sie
stellen ständig zwei Fragen: »Was meinen Sie damit?« und »Woher wissen Sie das?«. Im Ge-
schäftsleben lautet das Motto: »Zeig mir das Geld«, in der Wissenschaft lautet es: »Lass mich den
Beweis sehen«.
»Ein Skeptiker ist ein Mensch, der bereit ist, Wahr- Übt das Verhalten der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung
heitsbehauptungen in Frage zu stellen. Er fordert ihrer Kinder aus? Sagt der Lügendetektor die Wahrheit? Kann ein Astrologe aufgrund der Pla-
eindeutige Definitionen, lückenlose Logik und
netenposition im Augenblick Ihrer Geburt Ihren Charakter analysieren und Ihre Zukunft vorher-
überzeugende Beweise.«
Der Philosoph Paul Kurtz (»The Sceptical Inquirer«, sagen? In den folgenden Kapiteln werden Sie erfahren, dass eine genaue Überprüfung dieser
1994) Behauptungen die meisten Psychologen dazu gebracht hat, sie anzuzweifeln. In der Arena der
miteinander konkurrierenden Ideen kann ein skeptischer Test aufzeigen, welche Idee am besten
zu den Fakten passt. Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer Gewissheit im Glauben will, muss mit
Zweifeln anfangen.«
Die praktische Umsetzung dieser wissenschaftlichen Haltung erfordert nicht nur Skepsis,
sondern auch Bescheidenheit, denn wir müssen vielleicht auch unsere eigenen Ideen verwerfen.
Nicht meine oder Ihre Meinung zählt bei der abschließenden Analyse, sondern die Wahrheiten,
1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
23 1
die die Natur auf unser Forschen hin preisgibt. Wenn sich die Leute nicht so verhalten, wie unsere
Vorstellungen das vorhersagen, dann ist das Pech für unsere Vorstellungen. Das ist die beschei-
dene Einstellung, die in einem frühen Motto der Psychologie zum Ausdruck kommt: »Die Ratte
hat immer Recht.«
Wissenschaftshistoriker sagen, dass die moderne Wissenschaft überhaupt erst durch diese
neugierige, skeptische und gleichzeitig bescheidene Haltung möglich wurde. Viele der »Gründer-
väter« der modernen Wissenschaft – und dazu gehörten Kopernikus und Newton – waren Men-
schen, deren religiöse Überzeugungen sie demütig vor der Natur und skeptisch gegenüber mensch-
licher Autorität machten (Hooykaas 1972; Merton 1998). Tief religiöse Menschen von heute sehen
die Wissenschaft, vor allem die wissenschaftliche Psychologie, als Bedrohung. Und doch merkt
der Soziologe Rodney Stark (2003a, b) an, die wissenschaftliche Revolution sei meist von tief reli-
giösen Menschen angeführt worden, die nach der religiösen Vorstellung handelten, dass man, »um
Gott zu lieben und zu achten, die Wunder seiner Schöpfung auch ganz würdigen muss«. Natürlich
haben Wissenschaftler, wie alle Menschen, ein großes Ego und hängen manchmal sehr an ihren
vorgefassten Meinungen. Dennoch überprüft die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wie-
der die Befunde und Schlussfolgerungen der Kollegen.
! Das Ideal, das die Psychologen mit allen Wissenschaftlern teilen, ist die neugierige, skeptische
und bescheidene Haltung bei der Prüfung der Gedanken und Vorstellungen, die miteinander
konkurrieren.
Mit dieser wissenschaftlichen Haltung bereiten wir uns darauf vor, klüger zu denken. Kluges oder Kritisches Denken (critical thinking): Art zu
kritisches Denken bedeutet, Argumente und Schlussfolgerungen nicht blindlings zu akzeptieren. denken, die Argumente und Schlussfolgerungen
nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen
Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem
werden Vorannahmen einer Prüfung unterzo-
unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende gen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschie-
Schlussfolgerungen erfasst. Ob beim Lesen eines Berichts oder beim Anhören eines Gesprächs: den, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin
Ein kritischer Denker stellt Fragen. Er verhält sich wie ein Wissenschaftler: Woher weiß man das, überprüft und daraus resultierende Schlussfol-
was man da berichtet? Aus welcher Quelle stammt die Information? Beruht die Schlussfolgerung gerungen erfasst.
auf persönlichen Gefühlen und anekdotischen Berichten, oder gibt es einen Beweis? Erlaubt dieser
Beweis eine Schlussfolgerung auf Ursache und Wirkung? Welche alternativen Erklärungen wären
möglich? Wird die gesunde Skepsis jedoch ins Extrem getrieben, dann ist das Ergebnis ein nega-
tiver Zynismus, der jeden nicht bewiesenen Gedanken herabsetzt. Besser ist eine kritische Haltung,
die zu Bescheidenheit führt, nämlich dazu, dass wir uns unserer eigenen Fehlerhaftigkeit bewusst
sind; daraus resultiert eine Haltung der Offenheit gegenüber unerwarteten Ergebnissen und neuen
Perspektiven.
Kann man sagen, dass die kritischen Fragen und Untersuchungen der Psychologie unerwartete »Der eigentliche Zweck der wissenschaftlichen
Ergebnisse erbracht haben? Die Antwort ist ein klares Ja, wie auch die folgenden Kapitel zeigen Methode ist es, sich zu vergewissern, ob die Natur
einen nicht zu der falschen Annahme verleitet
werden. Hier ein paar Beispiele:
hat, man wüsste etwas, was man in Wirklichkeit
4 Ein größerer Verlust von Hirngewebe zu einem frühen Zeitpunkt des Lebens hat evtl. nur nicht weiß.«
minimale Langzeiteffekte (7 Kap. 2). Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu
4 Neugeborene können den Geruch und die Stimme ihrer Mutter innerhalb weniger Tage nach warten, 1978, S. 109
der Geburt erkennen (7 Kap. 4).
4 Nach einer Hirnverletzung kann ein Mensch neue Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht
bewusst sein, dass er sie erlernt hat (7 Kap. 9).
4 Unterschiedliche soziale Gruppen – Männer und Frauen, Alte und Junge, Wohlhabende und
Arbeiter, Behinderte und Nichtbehinderte – berichten über ein ungefähr vergleichbares Ni-
veau persönlichen Glücks (7 Kap. 13).
4 Elektrokrampf-(»Elektroschock«-)Therapie (die Verabreichung elektrischer Stromstöße an
das Gehirn) ist eine häufig sehr effiziente Therapiemethode bei schweren Depressionen
(7 Kap. 17).
Und haben die kritischen Fragen der Psychologie verbreitete Annahmen erschüttert? Auch hier
lautet die Antwort »ja«, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Es lässt sich nachweisen,
dass …
4 Schlafwandler nicht ihre Träume in Handlungen umsetzen und Sprechen im Schlaf keinen
Zusammenhang mit dem Trauminhalt hat (7 Kap. 7).
24 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
4 nicht alle Erfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens gemacht haben, als Worte im Gehirn
gespeichert sind. Man kann durch Hirnstimulation oder Hypnose nicht einfach »das Tonband
zurückspulen« und tief vergrabene oder verdrängte Erinnerungen wieder zum Leben er-
wecken (7 Kap. 9).
1 4 die meisten Menschen nicht unter einem unrealistisch geringen Selbstwertgefühl leiden und
ein hohes Selbstwertgefühl nicht immer positiv ist (7 Kap. 15).
4 Gegensätze sich i. Allg. nicht anziehen (7 Kap. 18).
Bei jedem dieser Beispiele und bei weiteren ist das, was man weithin glaubt, durchaus nicht das,
was sich als wahr herausgestellt hat.
Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psychologischen Theorien leiten
lässt.
Das Rüstzeug der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen sind ihre Kenntnisse der wissen-
schaftlichen Methoden und deren systematische Anwendung. Sie beobachten und formulieren
Theorien, die dann im Licht weiterer Beobachtungen verfeinert werden. In unserer Alltagssprache
verwenden wir den Begriff Theorie meist im Sinn von Vorstellung oder Gedanke, doch in der
Wissenschaft geht es immer um den Zusammenhang von Beobachtung und Theorie. Eine wissen-
Theorie (theory): auf Prinzipien gestütztes Er- schaftliche Theorie ist ein Erklärungsmodell, das auf bestimmten Prinzipien basiert. Mit Hilfe
klärungsmodell, das Beobachtungen in einen einer Theorie können Verhaltensweisen oder Ereignisse in ein System gebracht und Vorhersagen
Zusammenhang stellt und Vorhersagen erlaubt.
gemacht werden. Eine Theorie stellt Einzelbeobachtungen in einen Zusammenhang und verein-
facht damit die Arbeit. Es ist schwierig, die vielen Faktoren, die wir bei Verhaltensbeobachtungen
berücksichtigen müssen, im Gedächtnis zu halten. Eine Theorie schafft einen Zusammenhang,
verbindet Einzelfaktoren zu Prinzipien und ist eine hilfreiche Zusammenfassung. Sobald wir die
einzelnen Punkte unserer Beobachtung miteinander verbinden, können wir ein kohärentes Bild
erkennen.
Eine gute Theorie der Depression fasst beispielsweise die unzähligen Beobachtungen in einer
Liste zusammen. Stellen Sie sich vor, wir beobachten immer wieder, dass depressive Menschen sich
selbst und ihr Leben in schwarzen Farben schildern. Wir könnten also daraus die Theorie ableiten,
dass ein geringes Selbstwertgefühl zur Depression beiträgt. So weit, so gut: Ein geringes Selbst-
wertgefühl ist also durch eine lange Liste von Merkmalen gekennzeichnet, die auf depressive
Menschen zutreffen.
Doch eine Theorie kann noch so vernünftig klingen – und geringes Selbstwertgefühl scheint
eine akzeptable Erklärung für Depression zu sein –, sie muss getestet werden. Eine gute Theorie
darf nicht nur überzeugend klingen, sie muss auch zu überprüfbaren Vorhersagen führen, die wir
Hypothese (hypothesis): meist aus einer Theo- Hypothesen nennen. Die Hypothesen ermöglichen es, die Theorie zu testen und dann entweder
rie abgeleitete überprüfbare Vorhersage. zu revidieren oder zu verwerfen und geben dadurch der Forschung die Richtung vor. Die Hypo-
thesen geben an, welche Resultate die Theorie stützen und welche damit nicht vereinbar sind.
Wenn wir unsere Theorie eines Zusammenhangs zwischen Depression und Selbstwertgefühl tes-
ten wollen, könnten wir das Selbstwertgefühl der betreffenden Menschen erfassen, indem wir
fragen, ob sie mit Aussagen wie »Ich habe gute Einfälle« und »Ich bin jemand, mit dem die Leute
gerne zusammen sind« übereinstimmen. Dann könnten wir sehen, ob unsere Vorhersage richtig
ist, dass nämlich Menschen mit einem eingeschränkten Selbstbild höhere Werte auf einer Depres-
sionsskala erreichen (. Abb. 1.1).
Beim Testen unserer Theorie müssen wir darauf gefasst sein, dass die subjektive Beobachtung
zu einer Verzerrung der Ergebnisse (Bias, Urteilsfehler) führen kann. Da unsere Theorie lautet,
dass die Ursache der Depression ein geringes Selbstwertgefühl ist, lässt es sich nicht aus-
schließen, dass wir sehen, was wir erwarten zu sehen: Möglicherweise nehmen wir die neu-
tralen Aussagen eines Depressiven als negativ wahr. Der Drang zu sehen, was wir erwarten zu
sehen, ist für jeden von uns eine überall lauernde Versuchung. So verleiteten gemäß dem Bericht
des parteienübergreifenden U.S. Senate Select Committee on Intelligence (2004) vorgefasste Er-
1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?
25 1
wartungen, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besäße, Auswerter der Geheimdienste dazu,
mehrdeutige Beobachtungen fälschlich so deuten, dass sie diese Theorie bestätigten;
und diese theoriegeleitete Schlussfolgerung führte dann zur präventiven Invasion der USA
im Irak.
Um diesen Bias zu kontrollieren, veröffentlichen Psychologen ihre Forschungsergebnisse so Operationale Definition (operational defini-
genau – mit eindeutigen operationalen Definitionen ihrer Konzepte –, dass andere Forscher ihre tion): Festlegung der Vorgehensweise (Opera-
tion) bei der Definition der Untersuchungs-
Beobachtungen replizieren (wiederholen) können. Führt ein anderer Wissenschaftler eine neue
variablen. So kann Intelligenz beispielsweise
Untersuchung mit anderen Teilnehmern und anderem Testmaterial durch und kommt zu ähn- operational definiert werden als das, was ein
lichen Ergebnissen, dann wächst das Vertrauen in die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Ergebnisse. Intelligenztest misst.
Die erste Untersuchung zum Hindsightbias weckte die Neugier der Psychologen. Heute, nach
vielen erfolgreichen Replikationen mit jeweils anderen Menschen und anderen Fragen, können Replikation (replication): Wiederholung der
wir die Bedeutung dieses Phänomens genau abschätzen. wesentlichen Parameter eines Experiments, in
der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in
Unsere Theorie wird letztlich nur dann nützlich sein, wenn man mit ihrer Hilfe zum einen
anderen Situationen. Mit Hilfe der Replikation
eine Reihe von persönlichen Berichten und Einzelbeobachtungen in eine effiziente Ordnung kann festgestellt werden, ob sich die Grundan-
bringen kann und wenn man zum anderen anhand der Theorie klare Vorhersagen machen kann, nahmen eines Experiments auf andere Ver-
die jeder überprüfen oder in der Praxis einsetzen kann. (Wenn wir das Selbstwertgefühl eines suchsteilnehmer und andere Situationen über-
Menschen stärken, wird dann die Depression verschwinden?) Vielleicht führt uns die Forschung tragen lassen.
zu einer revidierten Theorie (7 Abschn. 18.1.4 über kognitive Therapien), die das, was wir über
Depressionen wissen, in einen besseren Zusammenhang bringt und genauere Vorhersagen ge-
stattet.
! Eine Theorie ist gut, wenn sie
4 beobachtete Fakten miteinander verbindet und ordnet und
4 Hypothesen impliziert, die überprüfbare Vorhersagen und manchmal praktische Anwen-
dungen ermöglichen.
Wie wir als Nächstes erfahren werden, können wir mit Hilfe deskriptiver Methoden, Korrelations-
berechnungen und Experimenten unsere Hypothesen überprüfen und unsere Theorien revidie-
ren. Wenn wir verbreitete Behauptungen mit kritischem Verstand überprüfen wollen, müssen wir
mit diesen Methoden vertraut sein und wissen, welche Schlussfolgerungen wir mit ihrer Hilfe
ziehen können.
26 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Ziel 1: Beschreiben Sie den Hindsightbias und erklären Sie, wie er die Ziel 3: Erklären Sie, warum es das kritische Denken fördert, wenn man die
1 Menschen zu der Auffassung bringen kann, dass Forschungsbefunde allem Haltung eines Wissenschaftlers einnimmt.
Anschein nach nur etwas sind, was man sich mit dem gesunden Menschen- Obwohl ein wissenschaftlicher Ansatz auf überprüfbare Fragen be-
verstand schon ausmalen konnte. schränkt bleibt, die man mit seiner Hilfe beantworten kann, trägt er dazu
Der Hindsightbias, der Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht bei, zwischen Realität und Täuschung zu unterscheiden. Wissenschaft-
(»Rückschaufehler«), ist die Tendenz, nachdem wir ein Ergebnis zur liches Fragen beginnt mit einer bestimmten Haltung, nämlich einer neu-
Kenntnis genommen haben, zu glauben, dass wir es vorhergesehen gierigen Bereitschaft zur skeptischen Prüfung miteinander konkurrie-
hätten. Wenn man also von einem Ergebnis erfährt, kann dies den An- render Ideen; hinzu kommt eine Offenheit auch gegenüber empirischen
schein erwecken, als hätte man schon mit dem gesunden Menschen- Ergebnissen, die den eigenen Vorstellungen widersprechen. Diese Ein-
verstand darauf kommen können. Die wissenschaftliche Untersuchung stellung bringt kritisches Denken auch in unseren Alltag; es überprüft
und kritisches Denken können dazu beitragen, dieser Tendenz zur Über- Annahmen, erkennt versteckte Werte, bewertet Befunde und ordnet Er-
schätzung unserer bloßen Intuition entgegenzuwirken. gebnisse kritisch ein. Ideen, selbst wenn sie völlig verrückt klingen, auf
den Prüfstand zu stellen, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unterscheiden.
Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser
Urteil trübt. Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psy-
Wir sind gewöhnlich viel zu sehr von unseren eigenen Urteilen über- chologischen Theorien leiten lässt.
zeugt. Dies geht zum Teil auf unseren Bias zurück, nach Informationen Psychologische Theorien bringen Ordnung und System in Beobachtungen
zu suchen, mit deren Hilfe sich unsere Urteile als richtig erweisen. Die und führen zu Hypothesen, die eine Vorhersage erlauben. Nachdem die
Wissenschaft mit ihren Methoden zum Sammeln und Sichten von Be- Wissenschaftler präzise operationale Definitionen ihrerVorgehensweisen
funden, schränkt die Irrtumsmöglichkeiten ein, indem sie uns die Gren- entwickelt haben, überprüfen sie ihre Hypothesen (Vorhersagen), validie-
zen der Intuition und des gesunden Menschenverstands überschreiten ren und optimieren die Theorie und schlagen manchmal praktische An-
lässt. wendungen vor.
> Denken Sie weiter: Wie könnte die wissenschaftliche Haltung uns
helfen, die Wurzeln des Terrorismus zu verstehen?
1.2 Beschreibung
Der Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist die Beschreibung. In unserem Alltag beobachten wir
unsere Mitmenschen und beschreiben sie; daraus leiten wir ab, warum sie sich so verhalten und
nicht anders. Im Wesentlichen tun professionelle Psychologen auch nichts anderes, nur gehen sie
dabei systematisch vor und bemühen sich um Objektivität.
1.2.1 Einzelfallstudie
Ziel 5: Geben Sie an, welche Vor- und Nachteile es hat, Fallstudien zur Verhaltensbeschreibung ein-
zusetzen.
Einzelfallstudie (case study): Beobachtungs- Die Einzelfallstudie gehört zu den ältesten Forschungsmethoden überhaupt. In der Fallstudie wird
technik, bei der ein Individuum gründlich und ein Individuum gründlich studiert, in der Hoffnung, dabei Dinge zu entdecken, die für alle Indivi-
intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf
duen gelten. Viel von unserem Wissen über das Gehirn und seine Funktionen stammt aus Fallstudien
diese Weise universelle Prinzipien entdecken zu
können.
mit Menschen, die nach der Schädigung einer bestimmten Hirnregion in bestimmten Bereichen
beeinträchtigt waren. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beobachtete aufmerksam ein paar
Kinder und befragte sie ausführlich; das Ergebnis waren bahnbrechende Informationen über die Art,
»›Nun ja, mein Lieber‹, sagte Miss Marple, ›das wie Kinder denken. Untersuchungen, die mit nur wenigen Schimpansen durchgeführt wurden, er-
Wesen des Menschen ist eigentlich an allen Orten
brachten den Beweis, dass die Tiere über die Fähigkeit zum Verstehen von Sprache verfügen.
gleich, aber natürlich hat man in einem Dorf bes-
sere Möglichkeiten, es sich genauer anzusehen.‹« Aus Fallstudien kann man Hypothesen für weitere Untersuchungen ableiten. Sie zeigen uns
Agatha Christie, Der Dienstagabend-Club, 1999, zudem, was geschehen kann. Im Alltag können uns individuelle Fälle aber auch manchmal in die
Original 1937 Irre führen. Vielleicht ist das untersuchte Individuum untypisch. Eine nicht repräsentative Infor-
1.2 · Beschreibung
27 1
1.2.2 Befragung
Ziel 6: Arbeiten Sie heraus, welche Vor- und Nachteile es hat, Befragungen einzusetzen, um Verhalten
und mentale Prozesse zu untersuchen, und erklären Sie, warum Formulierungen und Zufallsstichproben
wichtig sind.
Bei der Methode der Befragung werden viele Fälle einbezogen, die Fragen bleiben aber eher an Befragung (survey): Technik, bei der die von
der Oberfläche. Bei einer Umfrage werden die Menschen gebeten, Auskunft über ihr Verhalten ihnen selbst berichteten Einstellungen oder Ver-
haltensweisen der Menschen ermittelt werden;
oder ihre Ansichten zu geben. Thema der Befragung kann alles sein, von sexuellen Praktiken bis
i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstich-
hin zu politischen Meinungen. Es gibt wohl keine bedeutsame Frage, die von den Wissenschaftlern probe befragt.
noch nicht in einer Umfrage gestellt wurde. So haben beispielsweise Umfragen des Instituts für
Demoskopie Allensbach in den Jahren 1998–2002 gezeigt, dass 57% der Deutschen mit ihrem
Leben i. Allg. zufrieden sind, 61% glauben, Glück und Geld habe nichts miteinander zu tun, doch
77% sind der Ansicht, Geld mache frei. 72% der Deutschen halten sich für humorvoll und 59%
glauben an die große Liebe. Für 79% sind Rechtextremisten die unliebsamsten Nachbarn, 61% der
Deutschen glauben an Gott, und 95% der Amerikaner möchten etwas an ihrem äußeren Erschei-
nungsbild ändern. In Großbritannien sind sieben von zehn der 18- bis 29-Jährigen für die gleich-
geschlechtliche Ehe; in der Altersgruppe der Über-50-Jährigen ist in etwa derselbe Prozentsatz
dagegen (ein Generationenunterschied, wie man ihn in vielen westlichen Ländern findet). Aber
die Fragen richtig zu stellen, ist eine heikle Sache; und die Antworten können auch von Formulie-
rungen und von der Auswahl der Befragten abhängen.
Formulierungen
Schon ganz leichte Abänderungen in der Wortstellung der Frage können eine große Wirkung
haben. Sollte Zigarettenwerbung oder Pornographie im Fernsehen erlaubt sein? Die Leute werden
viel eher »sollte nicht erlaubt sein« antworten, nicht aber »sollte man verbieten« oder »sollte zen-
siert werden«. In einer einzelnen landesweiten Befragung sprachen sich nur 27% der Amerikaner
für eine »staatliche Zensur« von Sex- und Gewaltdarstellungen in den Medien aus, obwohl 66%
für »mehr Restriktionen bei dem, was im Fernsehen gezeigt wird« stimmten (Lacayo 1995). Eben-
so sprechen sich Befragte eher für »Hilfe für Bedürftige« aus als für »Sozialhilfe«; sie stimmen weit
eher für »Förderung« als für »bevorzugte Behandlung« und befürworten eher eine »Ausweitung
der Staatseinnahmen« als »Steuererhöhungen«. Vom Wortlaut der Frage hängt sehr viel ab, des-
28 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
halb hinterfragen kritische Denker immer, auf welche Weise die Fragestellung die Meinung der
Befragten beeinflusst haben könnte.
Zufallsstichprobe
1 In unserer alltäglichen Erfahrung haben wir es meist mit einer verzerrten Stichprobe zu tun, meis-
tens mit Menschen, die unsere Einstellungen teilen und ähnliche Gewohnheiten haben wie wir
selbst. Wenn wir uns also fragen, wie viele Menschen einer speziellen Glaubensrichtung anhängen,
dann fallen uns zuerst die ein, die so denken wie wir. Diese Tendenz, die Übereinstimmung mit
anderen Menschen in wichtigen Fragen zu überschätzen, heißt Verzerrung durch falschen Kon-
Falscher Konsens oder Konsensüberschät- sens bzw. Konsensüberschätzung (»false consensus effect«; Ross et al. 1977). So sind Vegetarier
zung (false consensus effect): Neigung, zu über- häufiger als Fleischesser geneigt, zu glauben, dass es sehr viele Vegetarier gibt, und Konservative
schätzen, wie sehr andere unsere Vorstellungen
sehen mehr Anhänger konservativer Ideen, als es die Liberalen tun.
teilen und das gleiche Verhalten zeigen.
Für die Beschreibung menschlicher Erfahrungen können Sie Ihre Einschätzung anderer Men-
schen verwenden, die vielleicht durch dramatische Ereignisse und Ihre persönlichen Erfahrungen
ergänzt werden. Wenn Sie sich aber ein genaues Bild von den Erfahrungen und
Einstellungen einer ganzen Population machen wollen, dann ist die einzige
Methode die repräsentative Stichprobe.
Das lässt sich auch auf unser Alltagsdenken übertragen; denn wir genera-
lisieren ständig aufgrund der Stichproben, mit denen wir zu tun haben, vor
allem, wenn es um Fälle geht, die lebhaft vorgetragen werden. Nehmen wir
folgendes Szenario: Dem Verwaltungsdirektor liegt die statistische Zusam-
menfassung der Bewertung eines Professors durch seine Studenten vor, und
gleichzeitig hört er die heftigen Proteste zweier aufgebrachter Studenten, die
sich von diesem Professor ungerecht beurteilt fühlen. Da kann der Eindruck
des Verwaltungsdirektors ebenso von den beiden Pechvögeln beeinflusst wer-
den wie von den vielen positiven Bewertungen dieses Professors, die in der
This modern world by Tom Tomorrow, © 1991
Statistik aufgeführt sind. Oder Sie stehen im Supermarkt an der Kasse, und die
Frau vor Ihnen bezahlt mit einem Warengutschein der Sozialhilfe. Und dann
sehen Sie mit Bestürzung, wie dieselbe Frau auf dem Parkplatz in ein tolles
Auto steigt. In beiden Fällen kann man der Versuchung, von ein paar inten-
siven, aber nicht repräsentativen Eindrücken zu verallgemeinern, kaum wider-
stehen.
! Die beste Basis für eine Generalisierung ist eine repräsentative Stich-
probe.
Wenn Sie unter den Studierenden Ihrer Hochschule eine Umfrage machen wollen, wie könnten
Population (population): sämtliche Fälle in Sie dann eine Stichprobe befragen, die repräsentativ ist für die gesamte studentische Population
einer Gruppe, aus der eine Stichprobe für eine – die gesamte Gruppe, die Sie untersuchen und beschreiben wollen? Typischerweise würden Sie
Studie gezogen wird.
eine Zufallsstichprobe ziehen, eine Stichprobe, bei der jede einzelne Person in der Gesamtgruppe
die gleichen Chancen hat teilzunehmen.
Zufallsstichprobe (random sample): Stichpro- Um eine Zufallsstichprobe zu befragen, würden Sie nicht jedem Einzelnen einen Fragebogen
be, bei der eine Zufallsauswahl aus einer be- zusenden. (Die gewissenhaften Menschen, die ihn zurückschicken, wären keine Zufallsstichpro-
stimmten Population gezogen wird und die
be.) Stattdessen würden Sie eine repräsentative Stichprobe anstreben, indem Sie etwa eine Tabelle
diese Population dann weitgehend repräsen-
tiert. mit Zufallszahlen dazu verwenden, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Auflistung der
Studierenden auszuwählen und dann sicherzustellen, dass so viele wie möglich mitmachen. Große
repräsentative Stichproben sind besser als kleine; aber eine kleine repräsentative Stichprobe ist
besser als eine nicht repräsentative Stichprobe von 500 Personen.
! Bevor man den Ergebnissen einer Umfrage Glauben schenkt, sollte man sie kritisch hinterfra-
gen: Betrachten Sie die Stichprobe. Man kann die Nachteile einer nicht repräsentativen Stich-
probe nicht dadurch wettmachen, dass man einfach weitere Personen hinzunimmt.
Das Prinzip der Zufallsstichprobe gilt auch für landesweite Umfragen. Stellen Sie sich vor, Sie
hätten ein Fass voll Bohnen, und zwar 60 Mio. weiße Bohnen vermischt mit 40 Mio. roten Bohnen.
Wenn Sie mit einer Schaufel eine Zufallsstichprobe von 1500 Bohnen herausholen und auszählen,
dann besteht diese aus ca. 60% weißen und 40% roten Bohnen (±2 oder 3%). Eine Stichprobe für
1.2 · Beschreibung
29 1
eine landesweite Wählerbefragung ergibt ein ähnliches Bild: 1500 zufällig ausgewählte Leute aus Schätzungen mit sehr großen Stichproben sind
allen Teilen des Landes liefern ein bemerkenswert genaues Bild von den im Land herrschenden recht zuverlässig (reliabel). Der Buchstabe E
hat schätzungsweise einen Anteil von 12,7% an
Meinungen. Ohne Zufallsstichprobe führen große Stichproben – und dazu gehören auch Telefon-
allen Buchstaben in englischsprachigen schrift-
befragungen und Website-Abstimmungen – zu irreführenden Ergebnissen. lichen Texten. In Melvilles »Moby Dick« stellt E
tatsächlich 12,3% der 925.144 Buchstaben des
Textes, 12,4% der 586.747 Buchstaben in
1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Charles Dickens’ »A Tale of Two Cities« und
12,1% der 3.901.023 Buchstaben, aus denen
Mark Twains Gesamtwerk besteht (»Chance
Ziel 7: Geben Sie einen Vor- und einen Nachteil dafür an, dass man die Beobachtung in einer natürlichen News« 1997).
Umgebung dazu nutzt, Verhalten zu untersuchen.
Die dritte beschreibende Forschungsmethode der Psychologie umfasst die Beobachtung und Beobachtung in natürlicher Umgebung oder
Beschreibung des Verhaltens von Organismen in ihrer natürlichen Umwelt. Beobachtungen in na- Feldbeobachtung (naturalistic observation):
Beobachten und Erfassen von Verhalten in
türlicher Umgebung oder Feldbeobachtungen reichen von der Beobachtung von Schimpansenge-
natürlichen Situationen unter Verzicht auf
sellschaften im Dschungel bis zu nichtreaktiven Videoaufnahmen (und der späteren systematischen Manipulation oder Kontrolle der Situation.
Auswertung) von Eltern-Kind-Interaktionen in verschiedenen Kulturen oder der Beschreibung der
Platzwahl in der Cafeteria einer Schule, die von Schülern verschiedener Kulturen besucht wird.
Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten, erklärt es aber nicht,
ebenso wenig wie die Einzelfallstudie oder die Befragung. Trotzdem können die Beschreibungen
ein Licht auf bestimmte Dinge werfen. Beispielsweise dachte man lange Zeit, dass nur Menschen
Werkzeuge benutzen. Die Beobachtung von Schimpansen in ihrem natürlichen Umfeld hat in-
dessen gezeigt, dass die Tiere manchmal ein Stöckchen in einen Termitenhaufen stecken und
dann ablecken. Solche nichtreaktiven Beobachtungen der Tiere in ihrer natürlichen Umgebung,
sagt die Schimpansenforscherin Jane Goodall (1998), bereiteten den Weg für spätere systema-
tische Untersuchungen zum Denken und Fühlen der Schimpansen sowie ihrer Möglichkeiten
zum Verständnis von Sprache. »Beobachtungen im natürlichen Habitat zeigten, dass Zusammen-
leben und Verhalten von Tieren weitaus komplexer sind, als wir bislang angenommen haben.«
Wir müssen deshalb unser Bemühen um Verständnis auch auf unsere Mitgeschöpfe, die Tiere,
ausdehnen. Es zeigte sich auch, dass Schimpansen und Paviane Täuschungsmanöver einset-
zen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Psychologen Andrew Whiten und Richard Byrne (1988)
beobachteten wiederholt, wie ein junger Pavian so tat, als sei er von einem anderen Pavian ange-
griffen worden, eine Taktik, mit der er seine Mutter dazu brachte, den anderen vom Futter weg-
rhythmus in Japan und Westeuropa am schnellsten ist und langsamer in wirtschaftlich weniger
hoch entwickelten Ländern. In einem kühlen Klima leben die Menschen tendenziell in schnel-
lerem Rhythmus (und mehr Menschen sterben an Herzkrankheiten). Die Beobachtung in
einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten eher, als dass sie es erklärt. Aber diese Stu-
1 die zeigt uns, wie die Feldbeobachtung auch in der korrelativen Forschung, unserem nächsten
Thema, angewandt wird.
1.3 Korrelation
Ziel 8: Beschreiben Sie positive und negative Korrelationen und erklären Sie, wie Korrelationsmaße
etwas zum Vorhersageprozess beitragen können.
Korrelationskoeffizient (correlation coefficient): Die Verhaltensbeschreibung ist der erste Schritt zur Verhaltensvorhersage. Zeigt sich bei Befragun-
statistische Maßzahl, die das Ausmaß und die gen und Beobachtungen, dass ein bestimmtes Merkmal oder ein Verhalten immer mit einem ande-
Richtung des Zusammenhangs zwischen zwei
ren zusammen auftritt, dann sprechen wir von einer Korrelation. Der Korrelationskoeffizient ist ein
oder mehr Merkmalsvariablen angibt. Der Korre-
lationskoeffizient sagt aus, wie gut eine Variable statistisches Maß für einen Zusammenhang (. Abb. 1.2); er zeigt, wie eng zwei Faktoren miteinander
die Veränderung der anderen Variablen angibt. verknüpft sind und sich gemeinsam verändern bzw. wie gut der eine Faktor das Auftreten des ande-
ren vorhersagt. Wenn wir wissen, wie stark ein hoher Punktwert (Score) in einem Eignungstest mit
Schulerfolg korreliert, dann wissen wir auch, wie gut diese Punktzahl Schulerfolg vorhersagt.
In diesem Buch werden wir immer wieder die Frage stellen, wie stark der Zusammenhang
Streudiagramm oder Punktdiagramm zwischen zwei Variablen ist. Wie eng hängen beispielsweise die Persönlichkeitsscores eineiiger
(Scatterplot): Jeder Punkt in einem Streudia- Zwillinge zusammen? Wie genau kann man anhand der Punktzahl in einem Intelligenztest die
gramm gibt die Werte von zwei Merkmals-
Leistung vorhersagen? Wie eng hängt Stress mit Krankheit zusammen?
variablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie
zwischen den Punkten zeigt die Richtung des . Abbildung 1.3 illustriert perfekte positive und negative Korrelationen, die allerdings in
Zusammenhangs zwischen den beiden Variab- der realen Welt kaum vorkommen. Wir nennen diese Diagramme Scatterplots bzw. Punkt-
len an. Die Konzentration der Punkte verweist oder Streudiagramme, denn jeder Punkt gibt den Wert von zwei Variablen an. Eine positive
auf einen starken Zusammenhang (eng bei- Korrelation bedeutet, dass zwei Wertereihen wie etwa Körpergröße und Gewicht jeweils ge-
einanderliegende Punkte bedeuten hohe Korre-
meinsam größer bzw. kleiner werden. Eine negative Korrelation sagt nichts darüber aus, ob
lation).
der Zusammenhang zwischen zwei Variablen stark oder schwach ist; zwei negativ korrelierende
1.3 · Korrelation
31 1
. Abb. 1.2. So wird ein Korrelationskoeffizient gelesen . Abb. 1.3. Streudiagramme (Scatterplots),
die verschiedene Korrelationsmuster zeigen
Korrelationskoeffizienten variieren zwischen +1,00
Variablen bedeuten, dass hier ein umgekehrter Zusammenhang vorliegt (die Punktzahl der einen (die Werte einer Variablen wachsen direkt propor-
Variable steigt, während die Punktzahl der anderen sinkt). Steigt die Punktzahl auf der Variable tional mit den Werten der anderen Variablen)
»Zähneputzen«, dann sinkt die Punktzahl auf der Variable »Karies«; Zähneputzen und Karies und –1,00 (die Werte einer Variablen sinken direkt
proportional mit dem Ansteigen der anderen
korrelieren (negativ) miteinander. Eine schwache Korrelation mit einem Koeffizienten nahe null Variablen)
zeigt an, dass kein oder fast kein Zusammenhang vorliegt.
Im Folgenden finden Sie einige neuere Ergebnisse der korrelativen Forschung. Können Sie
sagen, welche Studien über positive Korrelationen berichten und welche über negative:
4 Je mehr Fernsehgeräte sich in einem Haushalt befinden, desto weniger Zeit verbringen Kinder
mit Lesen (Kaiser 2003).
4 Je mehr sexuell geprägte Inhalte sich Jugendliche im Fernsehen ansehen, desto wahrschein-
licher ist es, dass sie sexuell aktiv werden (Collins et al. 2004).
4 Je länger Kinder gestillt werden, desto besser ist ihre schulische Leistung (Horwood & Fergus-
son 1998).
4 Je stärker das Einkommen bei einer Stichprobe armer Familien anwuchs, desto weniger psy-
chiatrische Symptome hatten ihre Kinder (Costello et al. 2003).
(Hier handelt es sich jeweils um eine negative, eine positive, eine positive und um eine negative
Korrelation.)
Mit Hilfe der Statistik können wir Dinge erkennen, die wir sonst nicht sehen würden. Probie-
ren Sie es doch einmal mit einem eigenen Projekt aus. Sie könnten sich fragen, ob hochgewachsene
Männer gelassener oder nervöser sind als kleine. Zu diesem Zweck sammeln Sie zwei Datensätze:
die Körpergröße der Männer und ihr Temperament. Sie messen die Körpergröße von 20 Männern
und bitten einen unbeteiligten Kollegen, das Temperament dieser Männer zu bewerten (dabei
bedeutet 0 »sehr ruhig« und 100 »extrem nervös«).
Können Sie mit diesen Daten (. Tab. 1.2) vor Augen schon sagen, ob es eine positive oder eine
negative Korrelation zwischen Körpergröße und Gelassenheit gibt? Oder ist die Korrelation
schwach oder gar nicht vorhanden?
Vergleicht man die beiden Zahlenreihen in . Tab. 1.2, dann kann man meistens kaum einen
Zusammenhang zwischen Körpergröße und Temperament erkennen. Tatsächlich ist die Korre-
lation in diesem fiktiven Beispiel leicht positiv, nämlich +0,63. Das erkennen wir, wenn wir die
Daten in einem Punktdiagramm anordnen. Verbindet man die Punkte wie in . Abb. 1.4 und ver-
folgt die gestrichelte nach oben führende Linie von links nach rechts, dann zeigt sich, dass die
beiden Variablen (Körpergröße und Temperament) unseres fiktiven Untersuchungsbeispiels einen
tendenziell parallelen Verlauf nehmen.
Wenn wir schon bei der systematischen Darbietung der Daten in . Tab. 1.2 keinen Zu-
sammenhang erkennen können, dann verstehen wir, dass wir mögliche Zusammenhänge, die
32 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
1 200 75
2 158 66
3 165 60
4 195 90
5 185 60
6 173 42
7 155 42
8 183 60
9 188 81
10 151 39 . Abb. 1.4. Streudiagramm zum Zusammenhang von Körpergröße und Temperament
Die dargestellten Daten von 20 fiktiven Personen (jede Person wird durch einen Punkt dargestellt) zeigen einen nach
11 163 48 oben führenden Verlauf und weisen damit auf eine positive Korrelation hin. Die Punkte sind über das ganze Dia-
gramm verstreut; das zeigt, dass die Korrelation deutlich unter +1, 0 liegt
12 189 69
13 178 72
uns im Alltag begegnen, leicht übersehen. Manchmal brauchen wir die Klarheit und Deutlich-
14 165 57 keit der Statistik, um zu erkennen, was direkt vor unseren Augen liegt. Mit Hilfe von statistisch
15 182 63 aufbereiteten Informationen über das Anforderungsniveau der beruflichen Tätigkeit, Füh-
rungspositionen, Leistung, Geschlecht und Einkommen können wir ohne Schwierigkeiten
16 175 75
erkennen, wo Geschlechtsdiskriminierung vorliegt. Doch wir nehmen die Diskriminierung
17 159 30 häufig nicht wahr, wenn die gleiche Information in Form von Einzelfällen präsentiert wird (Twiss
et al. 1989).
18 180 57
Die Korrelationsberechnungen der Psychologie sind informativ, trotzdem lassen sich viele
19 171 84 Variablen des Zusammenlebens von Menschen nicht vorhersagen. So gibt es, wie wir später sehen
werden, eine Korrelation zwischen elterlichem Missbrauch und Kindern, die als Erwachsene
20 175 39
gleichfalls ihre Kinder missbrauchen. Doch das bedeutet nicht, dass die meisten Menschen, die als
Kinder missbraucht wurden, nun selbst auch ihre Kinder missbrauchen. Die Korrelation zeigt
lediglich einen statistischen Zusammenhang. Die meisten Erwachsenen mit Missbrauchserfah-
rungen in ihrer Kindheit, missbrauchen ihre Kinder nicht. Bei Erwachsenen, die keine eigenen
Missbrauchserfahrungen haben, ist die Wahrscheinlichkeit eines Kindesmissbrauchs allerdings
noch geringer.
! Der Korrelationskoeffizient kann uns helfen, die Welt dadurch deutlicher wahrzunehmen, dass
wir die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren erkennen können.
Ziel 9: Erklären Sie, warum es durch korrelative Forschung nicht gelingen kann, Belege für Ursache-
Wirkungs-Beziehungen zu liefern.
Korrelationen sind hilfreich bei der Vorhersage und setzen den illusorischen Vorstellungen unserer
fehlbaren Intuition Grenzen. Das Anschauen von Gewaltszenen korreliert mit Aggression (und
sagt sie demnach vorher). Bedeutet das aber, dass sie die Ursache für Aggression ist? Wird Depres-
sion durch geringes Selbstwertgefühl verursacht? Sollten Sie – aufgrund der evidenten Korrelation
– der Meinung sein, dass das der Fall ist, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Einer der
fast unvermeidbaren Denkfehler ist die Annahme, dass eine Korrelation der Nachweis für einen
1.3 · Korrelation
33 1
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Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit
Kausalität
Die Dauer einer Ehe korreliert mit dem Verlust von
Haaren bei Männern. Bedeutet das, dass die Ehe
den Haarverlust verursacht (oder dass kahl werden-
de Männer die besseren Ehemänner sind)? In die-
. Abb. 1.5. Drei mögliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung sem Fall – und in vielen anderen – ist offensichtlich
Menschen mit geringem Selbstwert werden eher von Depressionen berichten als Menschen mit hohem Selbstwert. ein dritter Faktor für die Korrelation verantwortlich:
Eine mögliche Erklärung für diese negative Korrelation könnte lauten: Ein schlechtes Selbstbild verursacht depres- Goldene Hochzeiten und Kahlheit treten beide im
sive Gefühle. Doch zeigt das Diagramm, dass auch andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge denkbar sind höheren Lebensalter auf
Kausalzusammenhang ist. Doch ganz gleich, wie stark der Zusammenhang auch sein mag: Korre-
lation ist kein Beweis für Kausalität.
Was ist beispielsweise von der negativen Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und
Depression zu halten? Vielleicht verursacht geringer Selbstwert tatsächlich Depression. Doch wie
aus . Abb. 1.5 ersichtlich ist, bekommen wir dieselbe Korrelation zwischen Selbstwert und Depres-
sion, wenn wir davon ausgehen, dass die Depression die Ursache dafür ist, dass die betroffenen
Menschen nicht viel von sich halten. Eine weitere denkbare Erklärung für die Korrelation wäre ein
dritter Faktor: Eine ererbte Veranlagung oder eine Störung der chemischen Botenstoffe im Gehirn
könnte sowohl das geringe Selbstwertgefühl als auch die Depression erklären. Bei Männern kor-
reliert die Dauer ihrer Ehe positiv mit Haarausfall: Beides hängt mit dem Alter als einem dritten
Faktor zusammen. Und Menschen mit Hüten bekommen mit größerer Wahrscheinlichkeit Haut-
krebs, weil beide Faktoren mit der hellen Haut dieser Menschen zusammenhängen; sie sind auf-
grund ihrer Hellhäutigkeit anfälliger für Hautkrebs und tragen deshalb einen Hut als Licht-
schutz.
Dieser Punkt ist so wichtig und zeigt so grundlegend, wie durch die Anwendung psycholo-
gischen Wissens eine genauere Beurteilung möglich ist, dass ich noch das Beispiel einer Befragung
von über 12.000 Jugendlichen anführen möchte. Je mehr sich Teenager von ihren Eltern geliebt
fühlen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie schädliche Gewohnheiten annehmen:
frühe sexuelle Beziehungen, Rauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder gewalttätiges Ver-
halten (Resnick et al. 1997). »Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten ihrer Kinder während
der gesamten Highschool-Zeit«, schwärmte daraufhin eine Meldung der »Associated Press« über
diese Studie. Doch die Korrelation beinhaltet nicht automatisch einen Ursache-Wirkungs-Zusam-
menhang. Anders ausgedrückt: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. Man hätte mit ebenso
viel Berechtigung titeln können: »Jugendliche, die sich vernünftig verhalten, fühlen sich von ihren Ein Journalist berichtete in der »New York Times«
von einer groß angelegten Umfrage, die folgen-
Eltern geliebt und anerkannt, während Jugendliche, die zu Grenzüberschreitungen neigen, ihre
des Ergebnis erbrachte: »Bei Jugendlichen,
Eltern für verständnislose Trottel halten.« deren Eltern rauchen, ist die Wahrscheinlichkeit
für frühe sexuelle Aktivitäten um 50% höher als
! Eine Korrelation weist auf die Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs hin, doch bei Jugendlichen, deren Eltern nicht rauchen.«
sie ist kein Nachweis für einen Kausalzusammenhang. Wenn wir wissen, dass zwei Ereignisse Daraus schloss er (würden Sie dem zustimmen?),
dass die Studie einen kausalen Zusammenhang
miteinander korrelieren, dann sagt uns das nichts über den Kausalzusammenhang. Behalten
aufzeigte, und zwar insofern, als »Eltern aufhö-
Sie dieses Prinzip im Gedächtnis, und Sie werden, wenn Sie Berichte über wissenschaftliche ren müssten zu rauchen, um die Wahrscheinlich-
Untersuchungen in den Medien und auch hier in diesem Buch lesen bzw. hören, diese besser keit für frühe sexuelle Aktivitäten ihrer Kinder
beurteilen können. zu reduzieren« (O’Neil, 2002).
34 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Ziel 10: Beschreiben Sie, wie Menschen auf illusorische Korrelationen kommen.
1 Illusorische Korrelation (illusory correlation): Korrelationen verdeutlichen Zusammenhänge, die wir andernfalls übersehen würden. Sie bewah-
Wahrnehmung eines nicht existierenden Zu- ren uns auch davor, nicht vorhandene Zusammenhänge zu »sehen«. Eine solche nicht existierende
sammenhangs.
Korrelation, die aber als solche wahrgenommen wird, nennt man illusorische Korrelation. Sobald
wir glauben, dass ein Zusammenhang zwischen zwei Faktoren besteht, bemerken wir Anzeichen
und erinnern wir uns an Vorfälle, die uns in unserer Vermutung bestätigen (Troller u. Hamilton
1986).
So mancher Aberglaube und so manche Fehlannahme lassen sich mit illusorischen Korre-
lationen erklären, zum Beispiel die Vermutung, dass bei Vollmond mehr Kinder zur Welt kom-
men oder dass bei ungewollt kinderlosen Paaren, die ein Kind adoptieren, die Wahrscheinlich-
keit einer Empfängnis steigt (Gilovitch 1991). Die Paare, bei denen das so ist, erregen unsere
Aufmerksamkeit. Die, die ein Kind adoptieren und trotzdem unfruchtbar bleiben, entgehen
unserer Aufmerksamkeit. Anders gesagt: Bei einer illusorischen Korrelation verlassen wir uns zu
sehr auf die Zelle links oben in . Abb. 1.6 und übersehen die gleichfalls sehr relevanten Informa-
tionen in den anderen Zellen.
Auf illusorischen Korrelationen basieren zahlreiche Annahmen, an die die
Menschen jahrelang geglaubt haben (und manche glauben noch heute daran),
beispielsweise die Überzeugung, dass Kinder durch Zucker hyperaktiv werden,
dass man sich eine Erkältung holt, wenn man nass und kalt wird und dass ein
Wetterwechsel arthritische Beschwerden auslöst. Der Arzt Donald Redelmeier
und der Psychologe Amos Tversky (1996) haben 18 arthritische Patienten 15
Monate lang begleitet. Die beiden Wissenschaftler erfassten sowohl die Berichte
der Patienten über Schmerzen als auch das tägliche Wetter: Temperatur, Luft-
feuchtigkeit und Luftdruck. Trotz der Überzeugungen der Patienten fand sich
keine Korrelation zwischen dem Wetter und ihrem Leiden, weder am selben Tag
noch an den beiden vorangegangenen oder folgenden Tagen. Aber auch College-
Studenten sahen eine Korrelation, als man ihnen zufällig zusammengestellte
Zahlenkolonnen mit der Überschrift »Arthritische Schmerzen« und »Luftdruck«
vorlegte, obwohl es keinerlei Korrelation gab. Wir neigen anscheinend dazu, Mus-
ter wahrzunehmen, gleichgültig, ob sie nun vorhanden sind oder nicht.
. Abb. 1.6. Illusorische Korrelation im Alltag
Viele Menschen glauben, dass es bei unfruchtbaren Wir sind empfänglich für dramatische oder ungewöhnliche Vorfälle, deshalb nehmen wir mit
Paaren mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer großer Wahrscheinlichkeit das Auftreten von zwei solchen Ereignissen hintereinander besonders
Empfängnis kommt, wenn sie ein Baby adoptieren. aufmerksam zur Kenntnis und speichern sie im Gedächtnis.
Diese Überzeugung entsteht, weil solche Fälle die Genauso verhält es sich mit den Krebsheilungen bei positiv denkenden Menschen. Solche
Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Weniger aufmerk-
Fälle hinterlassen einen starken Eindruck bei Menschen, die glauben, dass eine positive Einstel-
sam werden die Fälle registriert, bei denen es trotz
Adoption nicht zu einer Empfängnis kommt, oder lung Krankheiten entgegenwirkt. Doch um zu erfassen, ob positives Denken tatsächlich eine
die Fälle, bei denen es eine Empfängnis ohne Adop- Wirkung auf Krebs hat, brauchen wir drei weitere Arten von Informationen. Wir brauchen einen
tion gibt. Um entscheiden zu können, ob es tatsäch- Schätzwert darüber, wie viele positiv denkende Menschen nicht geheilt wurden. Dann müssen wir
lich eine Korrelation zwischen Adoption und Emp- wissen, wie viele Krebspatienten, die sich nicht auf positives Denken stützen, geheilt bzw. nicht
fängnis gibt, brauchen wir die Informationen aus
geheilt wurden. Ohne diese Vergleichszahlen sagen die Heilungen in einigen wenigen Fällen nichts
allen vier Zellen der Abbildung (Aus Gilovich 1991)
über die tatsächliche Korrelation zwischen Krankheit und Einstellung aus. (7 Kap. 14 behandelt
die Einflüsse von Emotionen auf Gesundheit und Krankheit.)
! Beim zufälligen Zusammentreffen von zwei unabhängigen Ereignissen neigen wir dazu, zu
übersehen, dass es sich um einen Zufall handeln kann, und wir nehmen schnell einen Zusam-
menhang zwischen diesen Ereignissen an. Wir täuschen uns leicht, indem wir einen Zusam-
menhang sehen, der gar nicht da ist.
1.3 · Korrelation
35 1
1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen
Ziel 11: Erklären Sie, warum Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen Ordnung wahrzu-
nehmen.
Beim Anschauen dieser Ergebnisse springen einem Muster in die Augen: Die Würfe 10 bis 22
haben ein fast perfektes Muster von Paaren aus Kopf und Zahl. Von 30 bis 38 hatte ich eine »Pech-
strähne« und warf bei acht Würfen nur einmal Kopf. Aber dann war mir Fortuna gnädig, und ich
warf bei den nächsten zehn Würfen siebenmal Kopf. Ähnliche Pechsträhnen kommen in etwa so
häufig, wie man es bei zufälligen Folgen erwarten würde, beim Basketball, beim Fußball und
beim Zusammenstellen eines Portfolios von Kapitalanlagen vor (Gilovich et al. 1985; Malkiel
1989, 1995; Myers 2002). Ob es nun um den Münzwurf, um Basketball oder darum geht, die
Leistung eines Anlageberaters zu überprüfen, Zufallsfolgen sehen oft nicht zufällig aus und
M. Barton
werden deshalb oft überinterpretiert (»Er hat eine Glückssträhne, lassen wir ihn den Elfmeter
ausführen.«).
Was beweist nun dieses Muster von Pechsträhnen? Habe ich meine Münze auf irgendeine pa- Bizarre Sequenz computergenerierter Zufalls-
ranormale Art gesteuert? Bin ich aus meiner Glückssträhne mit Zahlwürfen in eine mit Kopftreffern zahlen
gerutscht? Aber eine Erklärung ist gar nicht erforderlich, denn das sind genau die Zahlen, die man Sieht zwar merkwürdig aus, ist aber tatsächlich
nicht unwahrscheinlicher als jede andere Zahlen-
bei solchen vom Zufall gesteuerten Daten antrifft. Vergleicht man jeden Wurf mit dem nächsten,
folge
dann ergibt sich, dass 24 der 50 Würfe jeweils ein anderes Ergebnis erbrachten: Das ist genau das
beinahe 50:50-Ergebnis, das beim Münzwurf zu erwarten ist. Trotz des scheinbaren Musters gibt
das Ergebnis eines Wurfes keinerlei Hinweis auf das Ergebnis des folgenden Wurfes.
Manche Dinge sind jedoch so ungewöhnlich, dass wir nicht ohne weiteres eine zufallsbezogene
Erklärung akzeptieren können (wie es beim Münzenwerfen doch der Fall war). Statistiker finden
das allerdings weniger geheimnisvoll. Als Evelyn Marie Adams zweimal die New-Jersey-Lotterie
gewann, meldeten die Zeitungen, dass die Quote, dieses Kunststück zu vollbringen, bei 1 zu
17 Billionen liegt. Seltsam? Nun, die Chance von 1 zu 17 Billionen ist tatsächlich genau die Chance,
36 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
mit der eine bestimmte Person, die zwei Lose der New-Jersey-Lotterie kauft, zweimal gewinnt. Die
Statistiker Stephen Samuels und George McCabe (1989) berechneten, dass bei den Millionen
Menschen, die ein Los der staatlichen Lotterie kaufen, ziemlich sicher irgendeiner irgendwann
zweimal den Jackpot knacken wird. Tatsächlich können die unglaublichsten Dinge geschehen,
1 sagen die Statistiker Persi Diaconis und Frederick Mosteller (1989), »wenn die Stichprobe nur groß
genug ist«. »Ein wirklich außergewöhnlicher Tag wäre ein Tag ohne außergewöhnliche Ereig-
nisse«, fügt Diaconis hinzu. Ein Ereignis, das täglich nur einen Menschen aus einer Milliarde be-
trifft, kommt immerhin sechsmal täglich vor, das heißt, 2000-mal pro Jahr.
1.4 Experiment
»Glücklich ist, wer die Ursachen der Dinge erkennen kann«, sagte der römische Dichter Vergil.
Wir führen endlose Debatten über die Frage, warum wir tun, was wir tun. Warum rauchen Men-
schen? Warum bekommt ein Mädchen ein Kind, während es selbst noch ein Kind ist? Warum
machen wir Dummheiten, wenn wir betrunken sind? Warum gibt es Jugendliche, die so gestört
sind, dass sie auf ihre Klassenkameraden schießen? Zwar kann die Psychologie keine direkte Ant-
wort auf solche Fragen geben, doch kann sie helfen zu verstehen, wie es zum Drogenmissbrauch
oder zu bestimmten sexuellen Verhaltensweisen kommt, was wir denken, wenn wir uns betrinken,
oder wie Aggression entsteht.
Ziel 12: Erklären Sie, wie Experimente Forschern helfen, Ursache und Wirkung auseinander zu
halten.
Viele Faktoren beeinflussen unser Verhalten im Alltag. Um Ursache und Wirkung auseinan-
der zu halten – etwa bei der Suche nach den Ursachen der Depression –, kontrollieren Psy-
chologen andere Faktoren statistisch. Ein Beispiel: Viele Untersuchungen ergaben, dass ge-
1.4 · Experiment
37 1
stillte Kinder in Intelligenztests etwas besser abschneiden als Flaschenkinder, die mit Kuh-
milch ernährt wurden (Angelsen et al. 2001; Mortensen et al. 2002; Quinn et al. 2001).
Muttermilch korreliert leicht positiv mit späterer Intelligenz. Bedeutet das, dass klügere Mütter
(die häufiger stillen) klügere Kinder haben? Oder liegt es daran, wie manche Wissenschaft-
ler glauben, dass die Nährstoffe in der Muttermilch die Gehirnentwicklung fördern? Um
diese Frage zu beantworten, haben Forscher folgende Faktoren »kontrolliert«, d. h. die fol-
genden Unterschiede statistisch ausgeschaltet: Alter, Bildungsgrad und Intelligenz der Mutter.
Und auch da zeigte sich, dass gestillte Kinder im Kleinkindalter eine etwas höhere Intelligenz
aufwiesen.
Will man Ursache und Wirkung voneinander trennen, dann ist der beste und sauberste Weg Experiment (experiment): Forschungsmethode,
immer noch das Experiment. Mit Hilfe eines Experiments kann sich der Forscher auf die mög- bei der der Forscher einen oder mehrere Fak-
toren (unabhängige Variablen) manipuliert, um
lichen Wirkungen eines oder mehrerer Faktoren konzentrieren, indem er
die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder
4 den interessierenden Faktor manipuliert und einen mentalen Prozess (abhängige Variable) zu
4 andere Faktoren konstant hält (»kontrolliert«). beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teil-
nehmer zu verschiedenen Gruppen (randomi-
Es ist klar, dass bei Korrelationen zwischen der Ernährung des Kleinkindes und späterer Intelli- sierte Gruppen) können andere wichtige Fak-
toren kontrolliert werden.
genz nicht alle anderen möglichen Faktoren konstant gehalten (kontrolliert) werden können,
deshalb entschloss sich ein britisches Forscherteam unter Alan Lucas zu einem Experiment mit
424 Säuglingen, die als Frühgeburten im Krankenhaus bleiben mussten. Mit Erlaubnis der Eltern
wiesen die Wissenschaftler einen Teil der Säuglinge einer Gruppe zu, die mit Fertigmilch ernährt
wurde, während die Kinder der anderen Gruppe gespendete Muttermilch erhielten. Im Alter von
8 Jahren wurden die Kinder einem Intelligenztest unterzogen. Dabei erzielten die Muttermilch-
kinder signifikant höhere Werte als die Kinder, die Fertigmilch erhalten hatten. Natürlich erlaubt
ein einzelnes Experiment keine endgültige Schlussfolgerung, doch in diesem Fall konnten die
Wissenschaftler durch die Randomisierung der Gruppen alle Faktoren mit Ausnahme der Ernäh-
rung konstant halten. Auf diese Weise konnte man andere Erklärungen ausschalten und gleich-
zeitig die Schlussfolgerung stützen, dass tatsächlich, soweit es um die Entwicklung der Intelligenz
bei Frühgeburten geht, Stillen die bessere Art der Ernährung darstellt. (Anmerkung: Den anderen
Kindern bei diesem Experiment wurde kein Schaden zugefügt; denn sie erhielten die normale
Fertigmilch.)
Verändert sich ein Verhalten (beispielsweise die Testleistung), wenn wir den Experimentalfak-
tor variieren (so wie bei der Ernährung dieser Kinder), dann wissen wir, dass dieser Faktor einen
Effekt hat.
! Im Gegensatz zu Korrelationsstudien, die natürlich auftretende Zusammenhänge aufdecken,
wird bei einem Experiment ein Faktor manipuliert, um seinen Effekt zu bestimmen. Wenn man
sich kritisch mit der Psychologie als Wissenschaft auseinander setzen will, besteht ein zentraler
Punkt darin, dass man versteht, was ein Experiment ist (7 die folgenden Experimente).
1.4.2 Therapieevaluation
Ziel 13: Erklären Sie, warum unser Vertrauen in experimentelle Befunde auf dem Doppelblindverfahren
und der zufälligen Zuweisung von Personen zu Versuchsbedingungen beruht.
Unsere Neigung, nach neuen Heilmitteln zu suchen, wenn wir krank oder niedergeschlagen sind,
kann irreführende Belege hervorbringen. Wenn wir am dritten Tag einer Erkältung Vitamin C
nehmen und feststellen, dass sich die Symptome bessern, dann führen wir das auf die Tabletten
zurück und nicht darauf, dass die Erkältung automatisch nach ein paar Tagen abklingt. Wenn wir
bei der ersten Prüfung beinahe durchfallen, daraufhin subliminal dargebotene »Superlearning-
Kassetten« anhören und in der nächsten Prüfung besser abschneiden, dann werden wir das wahr-
scheinlich eher der Wirkung der Kassette zuschreiben als der Tatsache, dass wir unser normales
Leistungsniveau wiedergefunden haben. Im 18. Jahrhundert schien Aderlass ein wirksames Heil-
mittel zu sein. Manchmal ging es dem Kranken nach der Behandlung besser; war das nicht
der Fall, dann schloss der Arzt daraus, dass die Krankheit schon zu weit fortgeschritten war (wir
wissen heute natürlich, dass der Aderlass eine schlechte Form der Behandlung ist). Ganz gleich,
38 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Doppelblindversuch (double-blind procedure): ob ein Heilmittel tatsächlich heilt oder nicht, es wird immer begeisterte Anhänger finden. Um
experimentelles Vorgehen, bei dem sowohl die festzustellen, ob es tatsächlich heilt, müssen wir ein Experiment durchführen.
Teilnehmer an dem Versuch als auch die Mitarbei-
In genau dieser Weise werden neue Medikamente und neue psychologische Therapiemetho-
ter des Versuchsleiters nicht wissen (blind sind),
den evaluiert (7 Kap. 17). Viele dieser Untersuchungen verwenden das Doppelblind-Versuchs-
1 ob die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Pla-
cebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der design, bei dem die Teilnehmer nicht wissen, welche Behandlung sie erhalten oder ob sie über-
Evaluation von Studien zur Wirkung von Medika- haupt behandelt werden. Eine Gruppe erhält das Heilmittel, die andere erhält eine Pseudobehand-
menten angewandt. lung, ein wirkungsloses Placebopräparat (z. B. eine Tablette ohne Wirkstoff). Oft wissen weder die
Teilnehmer noch die Assistenten des Versuchsleiters, welche Gruppe das Medikament erhält. Mit
Placeboeffekt (placebo effect): Ergebnis eines Hilfe eines solchen Doppelblindversuchs können die Wissenschaftler die tatsächliche Wirkung
Experiments, bei dem die Wirkung ausschließ- einer Behandlung prüfen, unabhängig von der Begeisterung der Teilnehmer (oder des Versuchs-
lich durch die Erwartung einer Wirkung zustan- leiters) für das Medikament oder die Behandlung und unabhängig von der heilenden Kraft des
de kommt. Jede Auswirkung auf das Verhalten,
Glaubens. Der Placeboeffekt ist bei Schmerzen, Depression und Angststörungen gut dokumen-
die durch die Verabreichung einer unwirksamen
Substanz hervorgerufen wird, von der der Ver- tiert (Kirsch u. Saphirstein 1998). Schon der bloße Gedanke, dass man behandelt wird, kann die
suchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie Lebensgeister wieder wecken, den Körper entspannen und zu einer Verringerung der Symptome
wirkt, ist auf den Placeboeffekt zurückzuführen. führen.
Der Doppelblindversuch ist eine Möglichkeit, eine Versuchsbedingung zu schaffen, bei der
die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Medikament bekommen, und eine Kontrollbedingung,
Versuchsbedingung (experimental condition): bei der dies nicht der Fall ist. Da die Zuweisung zu der jeweiligen Gruppe nach dem Prinzip der
Bedingung eines Versuchs, bei dem die Teilneh- Randomisierung erfolgt, können die Forscher einigermaßen sicher sein, dass die Gruppen in
mer einer Behandlung unterzogen werden,
Bezug auf andere Faktoren – Alter, Einstellung und weitere Merkmale – ansonsten so ähnlich wie
die in diesem Fall die unabhängige Variable dar-
stellt. möglich sind. Dank einer Randomisierung, wie sie bei dem Versuch mit den Muttermilchbabys
vorgenommen wurde, können wir auch gewährleisten, dass eventuelle spätere Unterschiede zwi-
schen den Teilnehmern an der Experimentalgruppe und denen der Kontrollgruppe gewöhnlich
Kontrollbedingung (control condition): Bedin- das Ergebnis der Behandlung bzw. des Medikaments sind.
gung eines Versuchs, die im Gegensatz zur Ver- Ein weiteres Beispiel: Auf den Rat ihres Arztes hin unterzogen sich Millionen von Frauen nach
suchsbedingung steht und bei der Evaluation der
der Menopause einer Hormonersatztherapie. In Korrelationsstudien hatte man gefunden, dass
Wirkung als Vergleich herangezogen wird.
Frauen, die Hormone nahmen, weniger häufig an Herzkrankheiten litten, einen Schlaganfall
hatten oder Darmkrebs bekamen. Aber vielleicht waren diese Frauen auch gesundheitsbewusster,
Randomisierung oder Zufallszuweisung gingen öfter zum Arzt, trieben Sport und aßen vernünftig. Die Frage war demnach, ob die Hor-
(random assignment): Die Teilnehmer an der mone die Frauen gesünder machten oder ob sich gesunde Frauen eher dieser Therapie unterzie-
Versuchs- und an der Kontrollbedingung wer-
hen. Die staatliche Gesundheitsbehörde der USA veröffentlichte 2002 das überraschende Ergebnis
den zufällig ausgewählt. Dadurch wird es höchst
unwahrscheinlich, dass die beiden Gruppen sich eines groß angelegten Versuchs, bei dem 16.608 gesunde Frauen per Zufallszuweisung entweder
vorher bereits unterscheiden und somit der eine Hormontherapie oder ein Placebo erhielten. Das schreckliche Ergebnis war: Beim Vergleich
Effekt nicht eindeutig auf die Versuchsbedin- mit den Frauen der Kontrollgruppe zeigte sich, dass die Frauen, die Hormone nahmen, mehr ge-
gungen zurückgeführt werden kann. sundheitliche Probleme hatten (Love 2002).
Ziel 14: Erklären Sie den Unterschied zwischen unabhängiger und abhängiger Variable.
Die Viagrastudie ist ein noch überzeugenderes Beispiel. Viagra erhielt die Zulassung, nachdem das
Präparat in 21 klinischen Versuchen getestet worden war. Zu diesen Versuchen gehörte auch ein
Experiment, bei dem die Wissenschaftler 329 Männer, die an Impotenz litten, entweder einer
Experimentalgruppe (die Viagra erhielt) oder einer Kontrollgruppe (die ein Placebo erhielt) zu-
wiesen. Das Experiment war als Doppelblindversuch angelegt, d. h. weder die Teilnehmer noch
die Assistenten, die das Präparat austeilten, wussten, wer Viagra und wer das Placebo erhielt. Das
Ergebnis: Mit der Höchstdosis Viagra war der Geschlechtsverkehr in 69% der Fälle erfolgreich; bei
den Männern, die das Placebo erhalten hatten, waren es nur 22% (Goldstein et al. 1998). Viagra
hatte demnach einen Effekt.
Unabhängige Variable (independent variable): Dieses einfache Experiment manipulierte nur das Präparat, also nur einen Faktor. Diesen
Faktor im Experiment, der manipuliert wird und Experimentalfaktor nennen wir die unabhängige Variable. Unabhängig deshalb, weil wir sie bei
dessen Wirkung untersucht wird.
randomisierten Gruppen ohne Berücksichtigung anderer Faktoren variieren können wie etwa das
Alter der Männer, ihr Körpergewicht oder ihre Persönlichkeit (dies sollte mit Hilfe der Zufalls-
zuweisung kontrollierbar sein). Ein Experiment untersucht die Wirkung von einer oder mehreren
1.4 · Experiment
39 1
unabhängigen Variablen auf ein messbares Verhalten. Das, was untersucht und gemessen wird Abhängige Variable (dependent variable):
(etwa eine bestimmte Verhaltensweise) wird abhängige Variable genannt, weil es sich unter dem Faktor im Experiment, der gemessen wird (in der
Psychologie handelt es sich dabei i. Allg. um ein
Einfluss des Experiments verändern kann. Beide Variablen werden genauestens operationalisiert.
Verhalten oder einen mentalen Prozess). Diese
Die operationale Definition der Variablen spezifiziert den Prozess, der die unabhängige Variable Variable kann sich als Reaktion auf die Mani-
manipuliert (bei dem Viagraexperiment war das die Gabe von Viagra oder einem Placebo bzw. die pulationen der unabhängigen Variablen verän-
Viagradosis) und die abhängige Variable misst (im Viagra-Experiment die Fragen, mit denen die dern.
Reaktionen der Männer erfasst wurden). Diese operationalen Definitionen der Variablen sind die
Antwort auf die Frage an den Forscher »Was haben Sie gemacht?«. Sie werden so genau definiert,
damit andere die Untersuchung wiederholen (replizieren) können (zu einem weiteren Versuchs-
design . Abb. 1.18).
Experimente können auch hilfreich dabei sein, sozialpolitische Programm zu evaluieren.
Lassen sich durch Bildungsprogramme für kleine Kinder die Chancen benachteiligter Menschen
erfolgreich verbessern? Worin bestehen die Wirkungen unterschiedlicher Kampagnen gegen das
Rauchen? Lässt sich durch Sexualerziehung in der Schule die Anzahl der Schwangerschaften unter
Mädchen verringern? Um diese Fragen zu beantworten, können wir Experimente entwerfen:
Wenn ein Programm allgemein gutgeheißen wird, aber die Ressourcen knapp sind, können wir
ein Losverfahren dazu nutzen, einige Personen (oder Regionen) nach zufälligen Kriterien einem
neuen Programm zuzuweisen und andere einer Kontrollbedingung. Sollten sich die beiden Grup-
pen später unterscheiden, wurde der Effekt der Intervention bestätigt (Passell 1993).
! Merken Sie sich die Unterscheidung zwischen Zufallsstichprobe bei Befragungen und Zufalls-
zuweisung bei Experimenten. Mit Hilfe der Zufallsstichprobe können wir die Ergebnisse der
Befragung einer größeren Population generalisieren. Mit der Zufallszuweisung können wir
äußere Einflüsse gering halten und den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deut-
licher herausarbeiten.
Lassen Sie uns rekapitulieren: Eine Variable ist ein Faktor, den man variieren (verändern) kann:
Säuglingsnahrung, Intelligenz, Fernsehkonsum – alles, was innerhalb der Grenzen des Möglichen
und des ethisch Vertretbaren bleibt. Ein Experiment dient dazu, eine unabhängige Variable zu
manipulieren, eine abhängige Variable zu messen und alle anderen Variablen zu kontrollieren. Ein
Beschreibung Verhalten beobachten Fallstudien, Befragungen oder Nichts Nicht repräsentative Stichprobe; Urteils-
und beschreiben naturalistische Beobachtung fehler bei der Beobachtung
Korrelationsstudie Aufdeckung naturgegebener Statistische Berechnung der Zusam- Nichts Macht keine Aussage über Ursache
Zusammenhänge menhänge, dient manchmal zur und Wirkung
Auswertung der Ergebnisse einer
Befragung
Experiment Erkundung von Ursache- Ein oder mehrere Faktoren werden Die unabhängige(n) Manchmal nicht durchführbar; Ergebnisse
Wirkungs-Zusammenhängen manipuliert; Zufallszuweisung Variable(n) nicht immer generalisierbar
40 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Experiment besteht aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen: einer Versuchs- oder Experi-
mentalgruppe und einer Vergleichs- oder Kontrollgruppe. Die Zufallszuweisung hat zur Folge,
dass die Ausgangsbedingungen in beiden Gruppen so ähnlich wie möglich gehalten werden. Da-
durch kann das Experiment Aufschluss über die Wirkung von mindestens einer unabhängigen
1 Variable (dem, was wir manipulieren) auf mindestens eine abhängige Variable (dem Ergebnis, das
wir erfassen) geben. In . Tab. 1.3 werden die wichtigsten Merkmale der psychologischen For-
schungsmethoden miteinander verglichen.
Ziel 15: Erklären Sie, warum die Prinzipien der Statistik wichtig sind, und nennen Sie ein Beispiel dafür,
wie sie im Alltag genutzt werden.
Nachdem wir die Daten gewonnen haben, müssen sie geordnet und zusammengefasst werden,
damit man mit Hilfe statistischer Methoden Schlussfolgerungen ziehen kann. Die statistischen
Methoden unserer Zeit sind Werkzeuge, mit deren Hilfe man Ergebnisse sehen und interpretieren
kann, die ohne statistische Aufbereitung nicht erkennbar wären.
Oft wird die Wirklichkeit durch spontane Schätzungen verfälscht, was wiederum dazu führt,
dass die Öffentlichkeit falsche Informationen erhält. Jemand wirft eine große runde Zahl in die
Diskussion. Andere nehmen sie auf, und in kürzester Zeit wird aus der großen runden Zahl eine
Fehlinformation. Hier ein paar Beispiele:
4 10% der Bevölkerung sind homosexuell (Männer und Frauen). Oder sind es nur 2–3%, wie
das Ergebnis verschiedener Befragungen lautet?
4 10% der Deutschen (8 Mio.) haben keine Wohnung. Oder sind es doch nur etwa 345.000, wie
die Schätzung der BAG Wohnungslosenhilfe für das Jahr 2004 besagt?
4 Wir nutzen normalerweise nur 10% unseres Gehirns. Oder doch fast 100%? (7 Kap. 2; welche
90% – oder auch nur 10% – würden Sie denn opfern?)
4 Wir erinnern uns an 10% dessen, was wir lesen, an 20% dessen, was wir hören, an 30% dessen,
was wir sehen, und an 80% dessen, was wir sagen. Dies berichtet zumindest die British Audio
Visual Society (Genovese 2004). Oder sind es, wie es in einem Buch über Lernen heißt, 20%
dessen, was wir lesen, 30% dessen, was wir hören, 40% dessen, was wir sehen, und 50% dessen,
was wir sagen?
1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation
41 1
! Große runde Zahlen, die nicht belegt sind, sollten Sie immer mit Vorsicht betrachten. Statt
solche Angaben einfach zu schlucken, sollten Sie lieber noch einmal nachdenken und einfache
statistische Grundsätze auf derartige Argumentationen anwenden.
1.5.1 Datenbeschreibung
Ziel 16: Erklären Sie, warum Daten durch Säulendiagramme eventuell irreführend dargestellt werden.
Sind die Rohdaten gesammelt, besteht die erste Aufgabe der Wissenschaftler darin, sie zu ordnen.
Eine Möglichkeit dafür ist die Verwendung eines einfachen Säulendiagramms (. Abb. 1.9), das
z. B. die Verteilung von Lastwagen verschiedener Marken zeigt, die nach 10 Jahren noch in Betrieb
sind. Bei derartigen Diagrammen ist allerdings Vorsicht geboten. Je nachdem, was betont werden
soll, kann das Diagramm so gezeichnet werden, dass Unterschiede gering oder groß ausfallen. Das
kann man in der Abbildung leicht sehen.
! Lassen Sie sich also nichts vormachen. Wenn Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Abbil-
dungen präsentiert werden, lesen Sie die Bezeichnung der Achsen und achten Sie auf den
dargestellten Bereich (Variationsbreite, »range«).
Der nächste Schritt bei der Bearbeitung der Rohdaten ist die Zusammenfassung mit Hilfe der Modalwert (mode): der in einer Verteilung am
Maße zur »zentralen Tendenz«, eines einziges Wertes, mit dessen Hilfe die Gesamtmenge der häufigsten auftretende Wert.
Werte dargestellt wird. Die einfachste Maßzahl ist der Modalwert, das ist der Wert, der am häu-
Mittelwert oder arithmetisches Mittel (mean):
figsten auftritt (bzw. die Werte, die am häufigsten auftreten). Die bekannteste Maßzahl ist der wird berechnet durch die Addition sämtlicher
Mittelwert, das arithmetische Mittel. Dabei werden sämtliche Werte addiert und durch die Anzahl Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl
der Werte dividiert. Der Median teilt die Menge der Daten genau in der Mitte, d. h., wenn Sie die der Werte dividiert.
Werte graphisch anordnen, liegt die eine Hälfte unter dem Median, die andere Hälfte darüber.
Median (median): teilt die Werte einer Vertei-
Die Maße der zentralen Tendenz bringen die Daten in eine gewisse Ordnung. Doch achten lung genau in der Mitte. Eine Hälfte der Werte
Sie darauf, was mit dem Mittelwert geschieht, wenn die Verteilung nach einer Seite hängt, also liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des
schief ist. Wenn wir Daten betrachten, die das Einkommen beschreiben, dann berichten Median, Medianwertes.
a b
42 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
. Abb. 1.10. Schiefe Verteilung Modal- und Mittelwert jeweils sehr unterschiedliche Geschichten (. Abb. 1.10). Das liegt daran,
Diese graphische Darstellung der Einkommens- dass der Mittelwert durch ein paar Extremwerte verfälscht wird. Wenn sich Bill Gates, der
verteilung illustriert die drei Maße der zentralen
Gründer von Microsoft, in ein kleines Café setzt, steigt mit einem Mal das mittlere Einkommen
Tendenz: Modalwert, Median und Mittelwert. Be-
achten Sie, wie einige wenige hohe Einkommen (Mittelwert) der dort Versammelten enorm an: Der Durchschnittsgast wird zum Milliardär.
den Mittelwert – den Dreh- und Angelpunkt, der Wenn Sie das verstanden haben, können Sie nachvollziehen, weshalb eine englische Tageszeitung
die Einkünfte oberhalb und unterhalb austariert – mit folgender Schlagzeile erscheinen konnte: »Das Einkommen von 62% der Bevölkerung liegt
nach oben verschieben unter dem Durchschnitt« (Waterhouse 1993). Weil die untere Hälfte der englischen Arbeitneh-
mer nur ein Viertel des gesamten Volkseinkommens erhält, liegt das Einkommen der meisten
Engländer unter dem Mittelwert. Das gilt aber nicht nur für die Engländer, sondern ist in allen
Ländern der Erde so. Auch die Einkommen von Profisportlern bilden eine schiefe Verteilung. So
verdienten in der Spielsaison 1998/99 deutsche Fußballer im Durchschnitt 830.000 DM (420.000
EUR), wobei die Gehälter von 50% der Spieler unter 550.000 DM (280.000 EUR) und damit
deutlich unter dem Mittelwert lagen (Swieter 2002). Die schiefe Verteilung ergab sich dabei aus
den Spitzengehältern einiger Superstars, die damals bis zu 6,5 Mio. DM (3,3 Mio. EUR) ver-
dienten. (Im Jahr 2003 soll laut dem französischen Fußballmagazin »France Football« das Gehalt
von Oliver Kahn bereits bei 7,65 Mio. EUR gelegen haben, was sicher nicht zu einer gleichmä-
ßigeren Verteilung geführt haben dürfte.)
Der Durchschnittserwachsene hat einen Eier- In den Vereinigten Staaten beschrieben die Befürworter und die Gegner die Steuerbefreiungen
stock und einen Hoden. im Jahr 2003 mit Hilfe unterschiedlicher Statistiken, die aber beide stimmten. Das Weiße Haus
erklärte, dass »92 Millionen Amerikaner eine durchschnittliche Steuerbefreiung von 1083 Dollar
bekommen werden«. Die Gegner stimmten zu, merkten jedoch an, dass 50 Millionen Steuerzahler
keine Steuerbefreiung bekämen und dass die Hälfte der 92 Millionen, die einen Nutzen von der
Steuerreform hätten, weniger als 100 Dollar erhielten (Krugman 2003). Mittelwert und Median
besagen beide etwas Wahres, aber eben auch etwas Unterschiedliches.
! Achten Sie immer darauf, welches Maß der zentralen Tendenz einem Bericht zugrunde liegt.
Handelt es sich dabei um den Mittelwert, dann schauen Sie nach, ob nicht ein paar untypische
Werte den Mittelwert verzerren.
Die Maße der zentralen Tendenz können uns bereits eine gewisse Menge an Informationen
vermitteln. Es ist allerdings auch hilfreich, über die Variabilität (Streuung) innerhalb der Daten-
menge Bescheid zu wissen, beispielsweise, ob die Werte dicht beieinander liegen oder sehr unter-
schiedlich ausfallen. Der Mittelwert einer Stichprobe mit geringer Variabilität sagt mehr aus als
C. Styrsky
der Mittelwert von Daten mit hoher Variabilität. Nehmen wir einmal die Handballer als Beispiel:
Von einer Spielerin, die in den ersten zehn Spielen der Saison jeweils zwischen vier und sechs
»Schatz, die Weltbevölkerung hat sich in den letzten
Treffer erzielte, erwarten wir, dass sie in ihrem nächsten Spiel etwa fünfmal trifft. Hätte ihre Tref-
100 Jahren verdreifacht, während unsere natürlichen ferquote zwischen zwei und zehn geschwankt, dann könnten wir unserer Prognose nicht allzu sehr
Ressourcen kontinuierlich abnehmen…« vertrauen.
1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation
43 1
. Tabelle 1.4. Die Standardabweichung ist viel informativer als nur der Mittelwert
Anmerkung: Beachten Sie bitte, dass die Testwerte in Klasse A und Klasse B denselben Mittelwert (80) aufweisen, aber ganz unterschiedliche Standardabweichungen.
Beides zusammen sagt mehr darüber aus, welche Leistungen die Schülerinnen und Schüler in jeder der beiden Klassen wirklich zeigten.
74 –6 36 60 –20 400
77 –3 9 70 –10 100
79 –1 1 70 –10 100
82 +2 4 90 +10 100
84 +4 16 90 +10 100
Summe = 640 Summe der (Abweichungen)2 = 204 Summe = 640 Summe der (Abweichungen)2 = 2000
Standardabweichung = Standardabweichung =
Die Variationsbreite der Daten, d. h. der Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Variationsbreite (range): Differenz zwischen
Wert, liefert nur eine grobe Schätzung der Variation, denn schon ein paar »Ausreißer« können eine dem höchsten und dem niedrigsten Wert einer
Verteilung.
sonst durchaus einheitliche Gruppe sprengen. Wir haben in . Abb. 1.10 gesehen, wie zwei Einkom-
men von 475.000 EUR und 710.000 EUR für eine fälschlich viel zu große Variationsbreite sorgen.
Ein besserer Standard, um zu erfassen, wie stark die Werte voneinander abweichen, ist die
Standardabweichung, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt. Damit lässt sich Standardabweichung (standard deviation): be-
besser erkennen, ob die Daten eng beieinander liegen oder über die gesamte Variationsbreite rechnete Maßzahl, die die Streuung der Daten
um den Mittelwert angibt.
verstreut sind. In die Berechnung der Standardabweichung fließen Informationen über jeden
einzelnen Messwert ein (. Tab. 1.4). Ein Beispiel: Wenn eine Universität nur Studenten mit einem
bestimmten Intelligenz- und Bildungsniveau aufnimmt, dann wird die Standardabweichung der
Ergebnisse eines Intelligenztests mit dieser Population deutlich geringer sein als die Standardab-
weichung bei einem Intelligenztest, der mit einer beliebigen Population außerhalb der Universität
durchgeführt wird.
1.5.2 Inferenzstatistik
Daten sind mehrdeutig. Wenn sich das Durchschnittsergebnis einer Gruppe (z. B. die Intelligenz-
testwerte der Muttermilchbabys) deutlich von dem der anderen Gruppe (der Fertigmilchbabys)
unterscheidet: Wie können wir sicher sein, dass der Unterschied tatsächlich besteht und nicht
durch zufällige Fluktuationen in der Stichprobe hervorgerufen wurde? Wie viel Vertrauen können
wir in unsere Schlussfolgerung setzen, dass die beobachtete Differenz auch der tatsächlichen Dif-
ferenz entspricht?
Wenn wir entscheiden müssen, ob unser Ergebnis zuverlässig genug ist, um eine Generalisierung
zu erlauben, müssen wir drei Grundsätze beachten.
44 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Statistische Tests helfen uns dabei, zu bestimmen, ob Unterschiede bedeutsam sind. Die Logik, die
hinter diesem Vorgehen liegt, ist die folgende: Wenn die Durchschnittswerte (Mittelwerte) von zwei
Stichproben reliable (zuverlässige) Maßzahlen für die jeweilige Population sind (wenn also jeder
Mittelwert auf vielen Beobachtungen beruht und nur wenig Variabilität aufweist), dann sind die
Unterschiede zwischen den Gruppen (auch wenn sie nur geringfügig sind) wahrscheinlich gleich-
falls reliabel. (Je geringer die Variabilität bei den jeweiligen Scores zu Aggression bei Männern und
Frauen ausfällt, desto sicherer können wir sein, dass der beobachtete Gender- oder Geschlechts-
unterschied reliabel ist.) Ist jedoch die Differenz zwischen den Mittelwerten der Stichproben groß,
dann können wir noch sicherer sein, dass diese Differenz eine echte Differenz in den jeweiligen
Populationen spiegelt.
Also: Wenn die Mittelwerte der Stichproben reliabel und die Unterschiede zwischen den Mittel-
werten relativ groß sind, dann sagen wir: Der Unterschied ist statistisch signifikant. Das bedeutet
nichts anderes, als dass der Unterschied, den wir beobachtet haben, wahrscheinlich nicht auf eine
zufällige Variation zwischen den Stichproben zurückzuführen ist. Psychologen sind konservativ,
Statistische Signifikanz (statistical signifi- wenn es darum geht, statistische Signifikanz zu bewerten. Sie sind wie ein Geschworenengericht,
cance): statistische Aussage über die Wahr- das so lange von der Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, bis die Schuld bewiesen ist. Für
scheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Unter-
die meisten Psychologen fängt der Beweis über einen vernünftigen Zweifel hinaus erst dann an,
suchung dem Zufall zuzuschreiben ist.
wenn die Chance, dass das Ergebnis vom Zufall beeinflusst wurde, unter 5% liegt (ein willkürliches
Kriterium).
Wenn Sie Forschungsberichte lesen, sollten Sie daran denken, dass bei ausreichend großen
oder homogenen Stichproben die Differenz zwischen den Stichproben zwar »statistisch signifi-
kant« sein, aber nur wenig praktische Signifikanz haben kann. So ergab zum Beispiel der Ver-
gleich der Werte bei einem Intelligenztest von Hunderttausenden erstgeborenen Kindern
und ihren nachgeborenen Geschwistern eine hoch signifikante Tendenz, dass die Erstgebo-
renen höhere Werte erzielten als ihre jüngeren Geschwister (Zajonc u. Marcus 1975). Da die
Scores aber nur um ein bis zwei Punkte differieren, hat dieser Unterschied wenig praktische
Bedeutung. Derartige Befunde haben manche Psychologen dazu gebracht, Alternativen zum
Signifikanztesten zu befürworten (Hunter 1997). Es wäre sinnvoll, sagen sie, nach Maßen zu
1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
45 1
suchen, die die Effektstärke – das Ausmaß und die Reliabilität eines Befundes – besser zum
Ausdruck bringen.
! Statistische Signifikanz drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein Ergebnis auf Zufall
zurückzuführen ist. Sie sagt nichts über die Bedeutung des Ergebnisses aus.
Mit Hilfe der in diesem Kapitel angesprochenen Prinzipien fällt es uns leichter, kritische Fragen zu
stellen, d. h. genauer hinzuschauen und auch das zu sehen, was wir andernfalls übersehen oder falsch
interpretiert hätten. Dann können wir unsere Beobachtungen präziser generalisieren. Unser Denken
wird tatsächlich kritischer und unser Blick schärfer, wenn wir die Prinzipien der wissenschaftlichen
Forschung und der Statistik auf unseren Alltag anwenden (Fong et al. 1986; Lehman et al. 1988; Van-
derStoep u. Shaugnessy 1997). Das erfordert Training und praktische Anwendung; aber die Entwick-
lung des klaren und kritischen Denkens gehört zur Ausbildung eines gebildeten Menschen.
Wir haben bereits gesehen, wie Verhalten mit Hilfe von Fallstudien, Befragungen und Beobach-
tungen in einer natürlichen Umgebung beschrieben werden kann. Wir haben auch bemerkt, dass
Korrelationsstudien den Zusammenhang zwischen zwei Faktoren erfassen und damit anzeigen,
wie gut man einen Faktor aufgrund eines anderen vorhersagen kann. Dann sind wir auf die Logik
des Versuchsdesigns mit Kontrollbedingung und Zufallszuweisung der Versuchsteilnehmer ein-
gegangen, bei dem die Wirkung einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable isoliert
46 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
betrachtet werden kann. Wir haben darüber nachgedacht, wie die Statistik mögliche Urteilsfehler
oder Verzerrungen (Biases) im wissenschaftlichen Denken gering halten kann.
Dieses Wissen ist die Voraussetzung dafür, die Dinge zu verstehen und kritisch zu betrachten,
die Ihnen im Lauf Ihres Psychologiestudiums begegnen werden. Aber auch auf dem Hintergrund
1 dieses Wissens werden Sie vielleicht mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht an die Psycho-
logie herangehen. Wir wollen uns deshalb, bevor wir richtig anfangen, näher mit einigen typischen
Fragen beschäftigen.
Wenn Sie einen Artikel über psychologische Forschung lesen oder etwas darüber hören, fragen Sie
sich vielleicht, ob das Verhalten von Menschen im Labor wohl als Vorhersage für ihr Verhalten im
realen Leben dienen kann. Kann bei einem Versuch, bei dem das Blinken eines schwachen roten
Lichts in einem dunklen Raum wahrgenommen werden soll, irgendetwas Hilfreiches für Nacht-
flüge herauskommen? Wenn wir uns am besten an das erste und letzte Wort auf einer Liste mit
unzusammenhängenden Wörtern erinnern: Sagt diese Tendenz etwas darüber aus, weshalb wir
uns an die Namen bestimmter Menschen erinnern, die wir auf einer Party getroffen haben? Oder
folgender Versuch: Einem Mann wird ein Film mit sexuellen Gewaltszenen gezeigt, der Mann ist
erregt, und seine Bereitschaft steigt, auf einen Knopf zu drücken, mit dem er, wie er glaubt, einer
Frau einen Elektroschock verpasst. Sagt so ein Versuch tatsächlich etwas darüber aus, ob Gewalt-
pornographie bei Männern die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine Frau zu vergewaltigen?
Doch lassen Sie uns, ehe Sie antworten, über ein paar Dinge nachdenken. Die Absicht des Ver-
suchsleiters ist es, im Labor eine vereinfachte Realität herzustellen, eine Realität, in der wichtige
Merkmale des Alltags simuliert und kontrolliert werden. Ein Ingenieur benutzt einen Windkanal,
um atmosphärische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Genauso kann ein
Psychologe beim Laborversuch psychische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen untersuchen.
Ob im Labor oder draußen: Die Menschen bleiben sich gleich. So hat Cecilia Cheng (2001) in
Hongkong beobachtet, dass Erwachsene, die unter Laborbedingungen flexibel mit Stress umgingen,
auch auf Stress in ihrer Ehe flexibel reagierten. Was Aggressionsstudien betrifft: Einen Knopf zu
drücken, der einen Elektroschock auslöst, ist vielleicht nicht dasselbe, wie jemanden zu vergewalti-
gen; doch das Prinzip ist das gleiche. Douglas Mook (1983) sagt es so: Es ist nicht Zweck eines Ex-
periments, alltägliche Verhaltensweisen genau zu reproduzieren, sondern die theoretischen Prin-
zipien zu testen. Es ist das zugrunde liegende Prinzip – nicht der spezifische Befund –, mit dessen
Hilfe Alltagsverhalten erklärt werden kann.
Wenn Psychologen beispielsweise die Ergebnisse der Aggressionsforschung im Labor auf tat-
sächliches Gewaltverhalten anwenden, dann verwenden sie ihre Kenntnisse über die theoretischen
Grundlagen, auf denen aggressives Verhalten beruht, und damit Prinzipien, die sie in zahlreichen
Versuchen getestet und spezifiziert haben. So verhält es sich auch mit den Erkenntnissen zu
Grundlagen des visuellen Systems, die mit Hilfe von Experimenten in einer künstlichen Umge-
bung entwickelt wurden (wie beispielsweise auf rote Lichter in einem dunklen Raum schauen) und
dann auf komplexeres Verhalten (Nachtflug) angewandt werden. Zahlreiche Untersuchungen zu
diesem Thema haben gezeigt, dass sich die im Labor herausgearbeiteten Prinzipien tatsächlich auf
Alltagsbedingungen anwenden lassen (Anderson et al. 1999).
! Als Psychologen interessieren uns weniger bestimmte Verhaltensweisen, uns interessieren die
allgemeinen Prinzipien, mit deren Hilfe viele Verhaltensweisen erklärt werden können.
Wenn Verhalten kulturabhängig ist, was können dann psychologische Studien, die mit einer Be-
völkerungsgruppe – häufig mit weißen Nordamerikanern oder Europäern – über die Menschen
1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
47 1
photos.com
ehelichem Sex und unsere wech-
selnden Vorstellungen von der
Idealfigur, unsere Tendenz zur
Förmlichkeit oder zur Formlosigkeit, unser Blickkontakt, unsere Distanz beim Gespräch und Kultur (culture): Gesamtheit von Verhaltens-
vieles andere mehr. Sobald wir uns dieser Unterschiede bewusst sind, können wir uns von der weisen, Vorstellungen, Einstellungen und Tradi-
tionen einer großen Bevölkerungsgruppe, die
Annahme trennen, dass alle anderen Menschen genauso denken und handeln wie wir. Angesichts
von einer Generation zur nächsten überliefert
der ständig steigenden Durchdringung und Vermischung der Kulturen ist eine bewusste Haltung werden.
gegenüber diesen Unterschieden dringend erforderlich.
Unser gemeinsames biologisches Erbe macht uns indessen zu einer großen Familie von Men-
schen. Die biologischen Prozesse sind universell:
4 Bei Menschen, die an Dyslexie (einer Lesestörung) leiden, ist überall auf der Welt dieselbe
Hirnfunktion gestört (Paulesu et al. 2001).
4 Unterschiedliche Sprachen – ob gesprochen oder als Gebärdensprache – mögen die Kommu-
nikation über die kulturellen Grenzen hinweg behindern. Doch alle Sprachen gehorchen den
Prinzipien der Grammatik, und Menschen aus verschiedenen Erdteilen können sich mit einem
Lächeln oder einem Stirnrunzeln verständigen.
4 Menschen verschiedener Kulturen leiden nicht auf die gleiche Art und Weise unter Einsam-
keit. Doch über die kulturellen Grenzen hinweg verstärken Schüchternheit, geringes Selbst-
wertgefühl und Unverheiratetsein die Einsamkeit (Jones et al. 1985; Rokach et al. 2002).
4 Die meisten Japaner essen ihren Fisch am liebsten roh, die meisten Europäer mögen ihn lieber
gekocht. Doch wenn wir uns zu Tisch setzen, unterliegen wir alle demselben Prinzip von
Hunger und Appetit.
In mancher Hinsicht sind wir wie alle anderen, in mancher Hinsicht sind wir wie manche anderen »Alle Menschen sind gleich, nur ihre
und in mancher Hinsicht sind wir wie sonst niemand auf der Welt. Die Beschäftigung mit anderen Gewohnheiten unterscheiden sich.«
Konfuzius (551–479 v. Chr. )
Völkern und Kulturen hilft uns, Ähnlichkeiten und Unterschiede, Gemeinsamkeit und Anders-
artigkeit zu erkennen.
! Auch wenn Einstellungen und Verhaltensweisen über die kulturellen Grenzen hinweg variie-
ren, wie es häufig der Fall ist, so sind doch die ihnen zugrunde liegenden Prozesse im Wesent-
lichen die gleichen.
Wenn uns dieser Unterschied bewusst ist, können wir Konflikte und Missverständnisse in unseren
Beziehungen leichter vermeiden.
Psychologisch und biologisch sind Frauen und Männer allerdings einander sehr ähnlich. Männ-
liche und weibliche Kinder lernen ungefähr zur gleichen Zeit gehen. Ob Mann oder Frau, wir haben
1 die gleiche Licht- und Klangempfindung. Auch das Gefühl von Hunger, Begehren und Angst ist für
beide Geschlechter gleich. Intelligenz und Wohlbefinden sind ähnlich. Und beide Geschlechter
zeigen genau das Verhalten, das in ihrem kulturellen Kontext von ihnen erwartet wird.
Die Geschlechtszugehörigkeit spielt demnach eine Rolle. Die Biologie legt unser Geschlecht
fest, und die Kultur entwickelt die Geschlechtsrolle. Doch in vielerlei Hinsicht sind sich Frauen
und Männer als Menschen ähnlich.
Viele Psychologen arbeiten mit Tieren, weil sie sie faszinierend finden. Sie wollen verstehen, auf
welche Weise die verschiedenen Arten lernen, denken und sich verhalten. Experimente mit Tieren
dienen aber auch dazu, mehr über Menschen zu erfahren, denn mit Tieren kann man Versuche
machen, die mit Menschen aus ethischen Gründen nicht möglich sind. Die Physiologie des
Menschen ist der von vielen Tieren sehr ähnlich. Wir Menschen sind nicht wie Tiere, aber wir sind
»Ratten und Menschen sind sich ziemlich ähnlich,
nur sind die Ratten nicht so dumm, Lotterielose zu Lebewesen. Tierversuche haben schon häufig zur Entwicklung von Medikamenten gegen mensch-
kaufen.« liche Krankheiten geführt: Insulin für Diabetiker oder Impfstoffe gegen Polio und Tollwut. Auch
Dave Barry (2. Juli 2002) Organtransplantationen wurden zunächst an Tieren durchgeführt.
Die gleichen Prozesse, die beim Menschen das Sehen, den Ausdruck von Emotionen oder das
Dickwerden bedingen, finden wir auch bei Ratten und Affen. Sogar Meeresschnecken werden
eingesetzt, um mehr über die Grundlagen des menschlichen Lernens zu erfahren. Wenn Sie wissen
wollen, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, sollten Sie lieber den Motor eines Rasenmähers
auseinander nehmen als einen Mercedes-Motor. Mercedes-Motoren sind komplexe Gebilde. Men-
schen auch. Und gerade der einfache Aufbau des Nervensystems der Meeresschnecke macht sie zu
einem guten Modell für die neuronalen Abläufe beim Lernen.
Impfstoff entwickelt werden konnte, der Millionen von Menschen und Hunden einen qualvollen
Tod ersparte? Und möchten wir wirklich auf die Tierversuche verzichten, mit deren Hilfe Trai-
ningsmethoden für geistig behinderte Kinder entwickelt wurden, wir besser verstanden haben,
wie man die Probleme des Alterns meistert oder wie Ängste und Depressionen leichter zu ertragen
sind und wie man Adipositas, Alkoholismus und durch Stress hervorgerufene Schmerzen und
Krankheiten in den Griff bekommt? Die Antworten auf derartige Fragen sind von Kultur zu Kul-
tur unterschiedlich. Nach einer Umfrage von Gallup in Kanada und den Vereinigten Staaten halten
sechs von zehn Erwachsenen medizinische Tests an Tieren für „moralisch akzeptabel«. In Groß-
britannien ist dies nur für 37% der Befragten der Fall (Mason 2003).
In dieser hitzigen Debatte zeichnen sich zwei Themen ab. Die grundsätzliche Frage lautet, ob
wir berechtigt sind, menschliches Wohlbefinden über das der Tiere zu stellen. Haben wir das
Recht, Experimente zu Stress und Krebs zu machen und Mäuse Tumore bekommen zu lassen in
der Hoffnung, dass wir Menschen keine bekommen? Dürfen wir ein paar Affen einem HIV-ähn-
lichen Virus aussetzen, wenn wir nach einem Impfstoff gegen Aids suchen? Wenn wir Tiere für
unsere Zwecke opfern, verhalten wir uns da so natürlich wie fleischfressende Falken, Katzen oder
Wale? Die, die Tierexperimente verteidigen, argumentieren, dass jeder, der einen Hamburger isst,
Lederschuhe trägt, Fischen und Jagen toleriert oder für die Ausrottung von Schadinsekten stimmt,
die Ernten vernichten oder Krankheitserreger verbreiten, sich längst damit einverstanden erklärt
hat, dass es erlaubt sein muss, Tiere zum Wohl der Menschen zu opfern.
Scott Plous (1993) merkt jedoch an, dass unser Mitgefühl sich keineswegs auf alle Tiere er- »Vergessen Sie bitte nicht jene von uns, die an
streckt, ebenso wenig wie wir allen Menschen gegenüber Mitgefühl empfinden. Unser Mitgefühl unheilbaren Krankheiten oder an Behinderungen
leiden und die auf Heilung hoffen; hier hilft eine
beruht auf dem, was wir als Ähnlichkeit wahrnehmen. Wie 7 Kap. 15 ausführt, empfinden wir
Forschung, bei der Tiere eingesetzt werden.«
mehr Zuneigung, bieten mehr Hilfe an und handeln weniger aggressiv gegenüber denen, die Der Psychologe Dennis Feeney, 1987
Ähnlichkeit mit uns haben. Genauso steigen Tiere in unserer Wertschätzung, wenn wir wahrneh-
men, dass sie mit uns verwandt sind. Deshalb haben Primaten und Schoßtiere höchste Priorität.
(Die Menschen im Westen züchten Nerze oder fangen Füchse für ihre Pelzmäntel, aber Hunde-
oder Katzenfelle verwenden sie nicht.) Die anderen Säugetiere sitzen auf der zweiten Sprosse der
Privilegienleiter, dann folgen Vögel und Fische, während die Reptilien die dritte Sprosse besetzen
und die Insekten ganz unten angesiedelt sind. Bei der Entscheidung, welchen Tieren wir Rechte
zugestehen, zieht jeder seine eigene Grenzlinie quer durch das Tierreich.
Wenn wir dem menschlichen Leben oberste Priorität zugestehen, dann ist das zweite Thema »Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs.«
das Wohlergehen der Tiere, mit denen wir Forschung betreiben. Mit welchen Maßnahmen können Sprüche 12, Vers 10
wir sie schützen? Die meisten Wissenschaftler fühlen sich heute moralisch verpflichtet, für das
Wohlergehen von Tieren in Gefangenschaft zu sorgen und ihnen unnötige Qualen zu ersparen.
Eine Befragung von Forschern, die mit Tieren arbeiten, besagt, dass fast 100% von ihnen die von
der Regierung erlassenen Vorschriften zum Schutz von Primaten, Hunden und Katzen unterstüt-
zen; 74% treten dafür ein, den humanen Umgang mit Ratten und Mäusen durch entsprechende
Vorschriften zu gewährleisten (Plous u. Herzog 2000). Viele Berufsverbände und Institutionen der
Forschungsförderung haben Richtlinien für den humanen Umgang mit Tieren. Auch die Deutsche
Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psy-
chologen (BDP) haben gemeinsame ethische Richtlinien zum Einsatz von Tieren in Forschung
und Lehre formuliert. Sie stellen eine grundsätzliche Verpflichtung der Psychologen zur Achtung
des Lebens fest und fordern, Schmerzen, Leiden und Schäden für Versuchstiere soweit möglich zu
verhindern. Die Richtlinien der American Psychological Association fordern, dass das »Wohl, die
Gesundheit und die humane Behandlung« von Tieren gewährleistet sein muss und dass »Infekti-
onen, Krankheit und Schmerzen bei den Versuchstieren« auf ein Minimum reduziert werden.
Humaner Umgang erbringt zudem auch bessere Forschungsergebnisse, denn Schmerz und Stress
könnten das Verhalten des Tieres bei einem Experiment verfälschen.
Die Tiere selbst sind auch Nutznießer der Tierexperimente. Ein Forscherteam in Ohio maß
die Ausschüttung von Stresshormonen bei einer Stichprobe von Millionen von Hunden, die jedes
Jahr in ein Tierheim gebracht werden. Die Psychologen entwickelten Methoden, wie man die Tiere
behandeln und streicheln müsste, um den Stress zu mildern und ihnen den Übergang in eine neue
Familie zu erleichtern (Tuber et al. 1999). Der Verhaltensforschung mit Tieren ist es auch zu ver-
danken, dass die Zootiere in der Bronx nicht mehr gelangweilt herumsitzen, sondern sich ihre
Nahrung selbst beschaffen müssen, so wie ihre frei lebenden Artgenossen (Stewart 2002). Andere
50 Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie
Studien trugen dazu bei, die Betreuung und die Behandlung von Tieren in ihrer natürlichen
Umgebung zu verbessern. In Versuchen wurde auch die bemerkenswerte Intelligenz von Schim-
pansen, Gorillas und anderen Tiere nachgewiesen; ebenso wurde die Ähnlichkeit des Verhaltens
bei Mensch und Tier deutlich, was wiederum bei den Menschen zu verstärkter Empathie mit ihren
1 Mitgeschöpfen sowie zu deren Schutz führte. Abschließend können wir sagen, dass eine Psycho-
logie, die Interesse am Menschen und Einfühlungsvermögen für Tiere hat, beiden zugute
kommt.
»Die Größe einer Nation kann man an ihrem Ist es ethisch vertretbar, Versuche mit Menschen zu machen?
Umgang mit Tieren ablesen.« Wenn das Bild von Tieren oder Menschen, die Elektroschocks verabreicht bekommen, Sie er-
Mahatma Gandhi (1869–1948)
schreckt, dann werden Sie erleichtert sein, wenn ich Ihnen sage, dass die meisten psychologischen
Untersuchungen ohne derartigen Stress durchgeführt werden. In der Regel geht es bei Versuchen
mit Menschen um blinkende Lichter, flackernde Wörter und angenehme soziale Interaktionen.
Gelegentlich allerdings müssen die Wissenschaftler die Menschen hinters Licht führen oder
sie einem kurzen Stress aussetzen, doch nur, wenn es ihnen zur Klärung einer bestimmten Frage
unabdingbar erscheint. Ich denke dabei an Versuche zum Verständnis gewalttätigen Verhaltens
oder Untersuchungen zu Stimmungsschwankungen. Solche Experimente erbrächten kein Ergeb-
nis, wenn die Teilnehmer vorher wüssten, was auf sie zukommt. Dann wäre entweder die ganze
Prozedur ineffizient, oder die Teilnehmer würden versuchen, die Erwartungen des Versuchsleiters
zu erfüllen; dadurch würde das Ergebnis verzerrt und nutzlos.
Die von der American Psychological Association wie auch die von der Deutschen Gesellschaft
für Psychologie und dem Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen erarbeiteten
ethischen Grundsätze fordern von den Versuchsleitern, dass sie
1. die potenziellen Teilnehmer informieren und ihre Zustimmung einholen, also die Freiwillig-
keit der Teilnahme;
2. die Teilnehmer vor physischen und psychischen schädlichen Einflüssen und Gefährdungen
schützen;
3. die Würde und Integrität der teilnehmenden Personen achten und Informationen über einzel-
ne Teilnehmer vertraulich behandeln und
4. hinterher den wissenschaftlichen Zweck der Untersuchung erläutern und die Versuchsper-
sonen aufklären.
Außerdem haben viele Universitäten heute einen Ethikrat eingesetzt, um das Wohlergehen eines
jeden Teilnehmers sicherzustellen.
Forschung findet allerdings zu einem großen Teil außerhalb der Universitätslabors und ohne
Kontrolle durch einen Ethikrat statt. Der Einzelhandel fotografiert beispielsweise routinemäßig
das Kaufverhalten der Kunden, spürt ihre Kaufmuster auf und testet die Wirksamkeit der Wer-
bung. Erstaunlicherweise erregt diese Art von Forschung weniger Aufmerksamkeit als die wissen-
schaftlichen Versuche, die zum Zweck der Erweiterung des menschlichen Wissens vorgenommen
werden.
»Es ist völlig unmöglich, an irgendein mensch- Die Psychologie ist eindeutig nicht wertfrei. Unser Wertesystem bestimmt, was wir untersuchen,
liches Problem mit unverstelltem Blick heranzu- wie wir es untersuchen und wie wir die Ergebnisse interpretieren. Ein Wissenschaftler kann die
gehen.«
Produktivität der Arbeiter oder ihre Arbeitsmoral untersuchen, Geschlechtsdiskriminierung oder
Simone de Beauvoir (»Das andere Geschlecht«, 1953)
Geschlechtsrollenunterschiede, sozial angepasstes oder unabhängiges Verhalten: Die Wahl seines
Forschungsgegenstands wird von seinem Wertesystem beeinflusst. Die »nackten Tatsachen« sind
auch von unseren Überzeugungen beeinflusst. Wie zuvor erwähnt, können unsere Vorannahmen
unsere Beobachtungen und Interpretationen verzerren; manchmal sehen wir genau das, was wir
zu sehen erwarten (. Abb. 1.11). Sogar in den Worten, mit denen wir ein Phänomen beschreiben,
spiegeln sich unsere Wertvorstellungen. Sexuelle Praktiken, die uns nicht vertraut sind, bezeichnen
1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
51 1
wir als »Perversionen« oder als »Varianten«, Begriffe, die eine Bewertung enthalten. Bewertende
Bezeichnungen verwenden wir auch in unserer Alltagssprache: Was wir »rigide« nennen, nennen
andere »unbeugsam«; was dem einen als »fester Glaube« gilt, ist für den anderen »Fanatismus«.
»Standhaft« oder »stur«, »vorsichtig« oder »mäkelig«, »verschwiegen« oder »heimlichtuerisch«:
Unsere Wortwahl sagt viel über unsere Gefühle aus. Mit Bezeichnungen beschreiben wir nicht
nur, sondern bewerten gleichzeitig, und das gilt gleichermaßen für Psychologen und Nichtpsy-
© Roger Shepard
chologen.
Auch in der praktischen Anwendung enthält die Psychologie verborgene Wertvorstellungen.
Wenn Sie zu bestimmten Fragen »professionellen« Rat suchen, etwa, wie Sie Ihr Leben gestalten,
Ihre Kinder erziehen, persönliche Erfüllung finden, mit sexuellen Gefühlen umgehen oder mit
Ihrer Arbeit vorankommen sollen – in den Antworten auf Ihre Fragen verbergen sich Wertvor- . Abb. 1.11. Was sehen Sie hier?
stellungen. Doppeldeutige Informationen werden entsprechend
den Vorannahmen des Betrachters interpretiert.
Haben Sie hier eine Ente oder ein Kaninchen ge-
! Die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und von mentalen Prozessen kann uns sehen? Wenn Sie dieses Bild Ihren Freunden zeigen,
helfen, unsere Ziele zu erreichen, doch sie kann nicht entscheiden, welche Ziele wir erreichen fragen Sie vorher die einen, ob sie eine Ente sehen,
sollten. die auf dem Rücken liegt, und die anderen, ob sie ein
Kaninchen im Gras sehen (Nach Shepard 1990)
Ist die Psychologie potenziell gefährlich?
Manche Menschen halten Psychologie für nichts weiter als gesunden Menschenverstand, doch
andere betrachten sie mit Sorge: Sie befürchten, die Psychologie könnte eine gefährliche Macht
erlangen. Ist es Zufall, dass die Astronomie die älteste Wissenschaft ist, die Psychologie dagegen
die jüngste? Die Erforschung des äußeren Universums ist eine Sache, doch unser eigenes inneres
Universum zu erforschen, ist anscheinend eine viel gefährlichere und bedrohliche Angelegenheit.
Könnte die Psychologie dazu benutzt werden, Menschen zu manipulieren?
Wie jede Macht kann die Macht des Wissens für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt werden.
Atomkraft wird genutzt, um Städte zu beleuchten – und auch, um sie zu zerstören. Überzeugungs-
kraft dient dazu, Menschen zu erziehen – und dazu, sie zu täuschen. Bewusstseinserweiternde
Drogen wurden dazu verwendet, die Gesundheit von Menschen wiederherzustellen – aber auch,
um sie zu zerstören.
Obwohl die Psychologie die Macht hat zu täuschen, liegt ihr Zweck doch darin aufzuklären.
Tag für Tag suchen Psychologen nach neuen Wegen, um Lernen, Kreativität und Menschlichkeit
zu fördern. Die Psychologie spricht die großen Probleme unserer Welt an: Krieg, Überbevölke-
rung, Vorurteile, zerfallende Familien und Verbrechen; denn alle diese Probleme haben mit Ein-
stellungen und Verhaltensweisen zu tun. Und die Psychologie spricht unser tiefes inneres Verlan-
gen an, unser Bedürfnis nach Nahrung, Liebe und Glück. Freilich kann die Psychologie nicht alle
großen Lebensfragen ansprechen, wohl aber einige, die uns auf den Nägeln brennen.
psychologischen Prozesse bei Tieren zum besseren Verständnis der ähn- Ziel 24: Beschreiben Sie, wie persönliche Werte einen Einfluss auf die psy-
lich ablaufenden Prozesse beim Menschen beiträgt. chologische Forschung und ihre Anwendung haben kann, und erörtern Sie
Gemäß den berufsethischen und gesetzlichen Richtlinien darf das Potenzial der Psychologie zur Manipulation von Menschen.
1 Tieren bei psychologischen Versuchen nur in seltenen Fällen Schmerz Psychologie wird nicht wertfrei ausgeübt. Die Wertvorstellungen der Psy-
zugefügt werden. Tierschutzgruppen weisen indessen auf eine wich- chologen beeinflussen ihre Wahl des Forschungsthemas, ihre Theorien,
tige Grundsatzfrage hin: Darf man einem Tier zeitweilig Leid zufügen, Beobachtungen, Verhaltensbezeichnungen und die Ratschläge, die sie
auch wenn dies letztlich geschieht, um menschliches Leiden zu ver- als professionelleTherapeuten erteilen.Wie in anderen Bereichen auch ist
ringern? Wissen eine Macht, die für gute oder schlechte Zwecke benutzt werden
Um etwas Wichtiges in Erfahrung zu bringen, werden bei manchen kann. Psychologie hat die Macht zu täuschen, bisher jedoch wurde die
Experimenten die Teilnehmer einem kurzen Stress ausgesetzt oder über Psychologie in der Mehrzahl der Fälle für gute Ziele verwendet. Die Psy-
den Zweck des Versuchs gar nicht oder falsch informiert. Die berufsethi- chologie kann dazu beitragen, dass wir unsere Ziele erreichen, aber sie
schen Standards für Versuche ergeben Richtlinien für den Umgang mit kann nicht darüber entscheiden, um welche Ziele es sich handeln sollte.
Versuchsteilnehmern, und die Ethikausschüsse der Universitäten kont-
rollieren, dass korrekt mit den Versuchsteilnehmern umgegangen > Denken Sie weiter: Haben Sie im Abschnitt »Häufig gestellte Fragen«
wird. Antworten auf Ihre eigenen Fragen und Bedenken gefunden?Welche
Fragen haben Sie darüber hinaus an die Psychologie?
Kritisch nachgefragt
Rassentrennung und die Todesstrafe in den USA – wenn Über- richts, an dem Sozialpsychologen aktiv beteiligt wurden. Sie taten dies als
zeugungen im Widerspruch zur wissenschaftlichen Psychologie Experten im Zeugenstand und unter der Leitung von Kenneth Clark
stehen (1952) als Autoren eines sozialwissenschaftlichen Gutachtens, das Be-
Eine einflussreiche moderne Auffassung, die ironischerweise als Post- standteil des Falls war, um den es ging. Das Gericht hielt vor allem Fol-
moderne bezeichnet wird, stellt die wissenschaftliche Objektivität in- gendes für bemerkenswert: Als Kenneth Clark und Mamie Phipps Clark
frage. Die Vertreter dieser Auffassung behaupten, dass wissenschaft- (1947) afroamerikanischen Kindern die Wahl zwischen schwarzen und
liche Begriffe nicht die reale Welt widerspiegeln, sondern dass es sich weißen Puppen ließen, entschieden sich die meisten von ihnen für die
hier um sozial konstruierte Fiktionen handelt. Wie alles Wissen seien sie weißen. Dies war ein Hinweis darauf, dass schwarze Kinder unter der Ras-
Ausdruck der Kultur, in der sie gebildet wurden. »Intelligenz« z. B. ist ein sentrennung Vorurteile gegenüber Schwarzen internalisierten.
Begriff, den Psychologen geschaffen und definiert haben. Weil Theorie Dieser Erfolg der Sozialwissenschaft regte zu Hunderten weiterer
und Forschung von persönlichen Werten geleitet sind, ist die »Wahr- Studien an, von denen die Forscher hofften, dass sie künftige Gerichts-
heit«, so sagen die Vertreter der Postmoderne, etwas Persönliches und entscheidungen beeinflussen würden. In neuerer Zeit jedoch hat sich
Subjektives. (Welche Verhaltensweisen sollen wir als »intelligent« be- das Gericht auf die Seite der Postmodernisten gestellt, indem es die
zeichnen?) Bei unserer Suche nach der Wahrheit kommen wir nicht um- verhaltenswissenschaftliche Forschung unberücksichtigt ließ. Es hatte
hin, uns nach unseren Ahnungen, Verzerrungen und kulturellen Nei- zu entscheiden, ob die Todesstrafe unter das verfassungsmäßige Verbot
gungen zu richten. einer »grausamen und ungewöhnlichen Bestrafung« fällt. Das Gericht
Psychologen als Wissenschaftler konzedieren, dass viele bedeut- rang mit den folgenden Fragen: Definiert die Gesellschaft eine Hinrich-
same Fragen von der Wissenschaft nicht beantwortet werden können. tung als grausam und ungewöhnlich? Verhängen die Gerichte die Strafe
Und sie gestehen auch zu, dass unsere Wahrnehmungen häufig von willkürlich? Fällen sie Urteile mit einer von der Ethnie geprägten Ver-
persönlichen Überzeugungen geformt werden. Aber sie sind auch der zerrung? Und schreckt eine Hinrichtung eher von Verbrechen ab als alle
Überzeugung, dass es draußen eine reale Welt gibt und dass wir der andere Bestrafungen, die zur Verfügung stehen? Die Psychologen Craig
Wahrheit näher kommen, wenn wir unsere Ahnungen an der Realität Haney und Deana Logan (1994) sowie Mark Costanzo (1997) merken
überprüfen. Marie Curie konstruierte nicht nur den Begriff des Radiums, dazu an, dass die Verhaltenswissenschaft jede Einzelne dieser Fragen
sie entdeckte das Radium. Es existiert wirklich. In den Verhaltenswissen- kaum klarer hätte beantworten können. Und dennoch ließ das Gericht
schaften mag reine Objektivität (wie ja auch reine Liebe) nicht erreichbar bei zweien dieser Problemfelder – Gerechtigkeit der Todesstrafe und
sein. Doch die meisten würden argumentieren, dass es besser ist, sich ihre Effektivität – die sozialwissenschaftliche Forschung unberück-
bescheiden mit reliablen Befunden zufrieden zu geben, als sich an un- sichtigt.
überprüfte Vermutungen zu klammern. Wird die Todesstrafe in der Praxis gerecht umgesetzt? Untersuchungen
Sich bescheiden mit Beweisen zufrieden zu geben, das war es, was zeigen, dass diejenigen, die als Geschworene bei Kapitalverbrechen aus-
das oberste Gericht der USA, der Supreme Court, machte, als es 1954 gewählt werden – nämlich jene, die die Todesstrafe akzeptieren – nicht
seine historische Entscheidung fällte, dass nach Rassen getrennte Schulen repräsentativ sind für die allgemeine Bevölkerung. Verglichen mit Men-
verfassungswidrig sind. Hier handelte es sich um den ersten Fall des Ge- schen, die wegen ihrer Vorbehalte gegenüber der Todesstrafe ausge-
6
1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie
53 1
schlossen werden, sind jene, die als Geschworene ausgewählt werden, Überzeugung, dass »die Todesstrafe unzweifelhaft ein bedeutsames Ab-
mit geringerer Wahrscheinlichkeit Angehörige von Minderheiten und schreckungsmittel« ist.
Frauen. Sie neigen auch stärker dazu, den Argumenten der Anklage Wahrnehmungen lassen sich von Überzeugungen leiten. Und genau
Glauben zu schenken und Angeklagte schuldig zu sprechen. das ist der Grund (sagen die wissenschaftlich tätigen Psychologen als Ant-
Ist die Todesstrafe effektiv – schreckt sie von Verbrechen ab? Die Be- wort auf die Vertreter der Postmoderne), warum wir beim Denken klüger
funde dazu sind in sich konsistent: In Staaten mit Todesstrafe gibt es sein müssen – unsere Vermutungen, unsere verzerrten Wahrnehmungen
nicht weniger Tötungsdelikte. Nachdem die Todesstrafe eingeführt und unsere kulturell bestimmten Neigungen außen vor zu lassen, indem
wurde, ging deren Anzahl nicht zurück. Und Tötungsdelikte haben in wir sie an den verfügbaren Befunden überprüfen. Warum überprüfen wir
Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, nicht zugenommen. Ei- unsere überprüfbaren Überzeugungen nicht? Wenn sie gestützt werden,
ne Person, die ein Verbrechen aus Leidenschaft begeht, hält nicht inne, umso besser für sie. Wenn sie im Widerspruch stehen zu einer ganzen
um die Folgen abzuwägen (und wenn das der Fall wäre, würde er oder Reihe von Beobachtungen, umso schlechter für sie. Diese Ideale der skep-
sie ein Leben in einer Gefängniszelle wahrscheinlich als ausreichenden tischen Überprüfung und der Demut gegenüber der Realität sind die An-
Abschreckungsgrund ansehen). Dennoch bleibt das Gericht bei seiner triebskraft hinter allen wissenschaftlichen Bestrebungen.
Antworten
1.1 Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier 100-mal. Wie dick würde
es dann etwa sein?
Antwort: Faltet man ein Blatt mit 0,1 mm Stärke 100-mal, dann beträgt die Stärke des gefalteten Blattes 800 Billionen
Mal die Entfernung zwischen der Sonne und der Erde (Gilovich 1991).
1.2 Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben, damit es überall
1 m über der Erdoberfläche schwebte?
Antwort: Etwa 6 m Seil. 2. Der Kreisumfang oder der Umfang der Erde ist 2S. Der Umfang eines Seils, das um 1 m
angehoben wird, beträgt 2S (r + 1). Somit ist die zusätzliche Länge 2S (r + 1) – 2Sr = 2p oder etwa 6 m.
1.3 Antworten zu . Tab. 1.1: Die Aussagen mit den ungeraden Nummern sind falsch, die mit den geraden Nummern wahr.
Das Sekretariat der University of Michigan hat festgestellt, dass durchschnittlich 100 Studierende der Geisteswis-
senschaften am Ende ihres ersten Semesters an der Universität hervorragende Noten haben. Doch nur 10–15
Studenten schließen ihr Studium mit hervorragenden Noten ab. Welches ist Ihrer Meinung nach die wahrschein-
lichste Erklärung für die Tatsache, dass es am Ende des ersten Semesters mehr hervorragende Noten gibt als beim
1 Studienabschluss?
6. Wodurch werden Versuchsteilnehmer (Mensch oder Tier) geschützt?
Bortz, J. (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (6. Aufl.). Heidelberg: Springer.
Bortz, J., Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Aufl.).
Heidelberg: Springer.
DGPs, BDP (2003). Ethische Richtlinien der DGPs und des BDP. http://www.bdp-verband.de/bdp/verband/ethik.shtml.
Gesehen 19 Apr 2007.
Gadenne, V. (2004). Philosophie der Psychologie. Göttingen: Hogrefe
Grewe, W., Wentura, D. (1997). Wissenschaftliche Beobachtung. Eine Einführung (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Herrmann, T., Tack, W. H. (Hrsg). (1994). Methodologische Grundlagen der Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie:
Bd. 1. Forschungsmethoden der Psychologie. Göttingen: Hogrefe.
Moosbrugger, H., Kelava, A. (2007). Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Heidelberg: Springer.
Patry, P. (2002). Experimente mit Menschen: Einführung in die Ethik der psychologischen Forschung. Bern: Huber.
Pawlik, K. (2006). Handbuch Psychologie. Wissenschaft, Anwendung, Berufsfelder. Heidelberg: Springer.
Westermann, R. (2000). Wissenschaftstheorie und Experimentalmethodik. Ein Lehrbuch zur psychologischen Metho-
denlehre. Göttingen: Hogrefe.
2
2.2 Nervensystem – 65
2.2.1 Peripheres Nervensystem – 66
2.2.2 Zentrales Nervensystem – 66
2.4 Gehirn – 71
2.4.1 Forschungswerkzeuge – 72
2.4.2 Ältere Hirnstrukturen – 75
2.4.3 Zerebraler Kortex – 80
2.4.4 Zur Zweiteilung des Gehirns – 90
Aus Dickinson, Emily, Dichtungen. Ausgew., übertr. und mit einem Nachw. vers. von
Werner von Koppenfels. Mainz: Dieterich, 1995.
56 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Ziel 1: Beschreiben Sie die Theorie der Phrenologie, die sich als falsch erwies.
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich viel verändert. Damals entwickelte der deutsche Physiker
Franz Gall die Phrenologie, eine damals beliebte Lehre, die sich aber in der Zwischenzeit als falsch
erwiesen hat. Nach dieser Auffassung konnte man aus den Unebenheiten und Einkerbungen im
Schädel eines Menschen auf seine Fähigkeiten und Charaktereigenschaften schließen (. Abb. 2.1).
Auf dem Höhepunkt der Bewegung gab es in Großbritannien 29 phrenologische Gesellschaften,
und Phrenologen reisten nach Nordamerika, um Vorträge über Schädel zu halten (Hunt 1993).
Der satirische Schriftsteller Mark Twain nahm einen Phrenologen aufs Korn, als er zur Schädel-
schau dorthin ging und sich dabei unter einem anderen Namen anmeldete. »Er fand eine Vertie-
fung und überraschte mich, als er sagte, diese Vertiefung spräche dafür, dass ich überhaupt keinen
Sinn für Humor hätte!« Drei Monate später kam Twain zu einer zweiten Sitzung und gab sich
diesmal zu erkennen. Jetzt »war die Vertiefung verschwunden, und an seine Stelle trat der am
stärksten emporragende Humorhöcker, den er je in seinem Leben gesehen hatte« (Lopez 2000).
In einem Punkt jedoch hatten die Phrenologen recht: nämlich darin, dass die einzelnen Gehirn-
regionen verschiedene festgelegte Funktionen haben.
Bettmann/Corbis
Etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass der Körper aus Zellen zusammen-
gesetzt ist, darunter Nervenzellen, die kleinen elektrischen Leitungen ähneln und miteinander
»sprechen«, indem sie chemische Botschaften über die winzigen Zellzwischenräume hinweg sen-
. Abb. 2.1. Eine unglückselige Theorie den. Man entdeckte, dass bestimmte Gehirnsysteme bestimmte Funktionen haben (jedoch nicht
Obwohl die Annahmen von Gall zunächst weite die, die Gall vorschlug) und dass wir durch die Informationen, die in diesen Systemen verarbeitet
Verbreitung fanden, ist heute klar, dass Dellen und werden, unsere Erfahrungswelt aufbauen: die Bilder, die wir sehen, die Geräusche, die wir hören,
Unebenheiten des Schädels nichts über die Funk-
Bedeutungen, die wir erkennen, Erinnerungen, Schmerzen und Leidenschaften. Sie und ich leben
tionen des darunter liegenden Gehirns aussagen.
Eine Annahme der Phrenologie hat sich jedoch in einer besonderen Zeit, in der die Entdeckungen zum Zusammenspiel zwischen Biologie einer-
bestätigt: Verschiedene Teile des Gehirns steuern seits und den Verhaltens- und Denkprozessen andererseits in atemberaubendem Tempo aufeinan-
verschiedene Verhaltensaspekte der folgen.
2.1 · Neuronale Kommunikation
57 2
In diesem Buch werden Sie immer wieder Beispiele für dieses Zusammenspiel finden. Durch »Wäre ich heute Student, könnte ich, glaube ich,
die Beobachtung biologischer Aktivität und psychischen Geschehens werden in der biologischen nicht widerstehen, Neurowissenschaften zu
studieren.«
Psychologie Erkenntnisse über Schlaf und Träume, über Depressionen und Schizophrenie, über
Der Schriftsteller Tom Wolfe, 2004
Hunger, Sexualität, Stress und Erkrankungen gewonnen. Deshalb beginnen wir das Thema Psy-
chologie mit einem Blick auf ihre biologischen Wurzeln.
Biologische Psychologie (biological psycho-
logy): Teilbereich der Psychologie, der sich mit
2.1 Neuronale Kommunikation dem Zusammenspiel von Biologie und Verhal-
ten beschäftigt; auch als physiologische Psycho-
logie bezeichnet.
Ziel 2: Erklären Sie, warum wir das Verhalten des Menschen besser verstehen können, wenn wir jede
Person als biopsychosoziales System auffassen, und erörtern Sie, warum Wissenschaftler andere Lebe-
wesen erforschen, um Anhaltspunkte für neuronale Prozesse beim Menschen zu finden.
Das Informationssystem unseres Körpers ist aus Milliarden von miteinander verbundenen Zellen,
den Neuronen, aufgebaut. Um unsere Gedanken und Handlungen, Erinnerungen und Stimmun-
gen zu ergründen, müssen wir zunächst verstehen, wie Neuronen funktionieren und untereinan-
der kommunizieren.
Jeder von uns ist ein System, das aus Subsystemen besteht, die wiederum aus anderen, noch
kleineren Subsystemen bestehen. Kleine Zellen organisieren sich zu Organen wie dem Magen,
dem Herz und dem Gehirn. Diese Organe wiederum bilden ein System, das Verdauung, Durch-
blutung und Informationsverarbeitung erst möglich macht. Und auch diese Prozesse sind Teil
eines noch größeren Systems – das Individuum, das seinerseits Teil einer Familie, einer Kultur und
einer Gemeinschaft ist. Jeder von uns ist ein biopsychosoziales System. Um das menschliche Ver-
halten verstehen zu können, müssen wir also untersuchen, wie diese biologischen, psycholo-
gischen und soziokulturellen Systeme funktionieren und interagieren.
In diesem Buch beginnen wir mit der kleinsten Einheit des Systems und arbeiten uns dann
weiter in komplexere Bereiche vor, in diesem Kapitel von den Nervenzellen zum Gehirn, dann in
den nächsten Kapiteln zu Umwelt- und kulturellen Einflüssen und ihren Interaktionen mit den
biologischen Prozessen. Wir werden aber auch sehen, wie unsere Gedanken und Gefühle die
Nervenzellen, ihr Zusammenwirken und ihre Funktionsfähigkeit beeinflussen. In allen Berei-
chen untersuchen Psychologen, wie Informationen verarbeitet werden, wie sie aufgenommen,
organisiert, interpretiert und gespeichert werden und welchen Gebrauch wir letztlich davon
machen.
Für Wissenschaftler ist es ein glücklicher Umstand der Natur, dass die Informationssysteme
von Menschen und Tieren in ihrer Funktionsweise einander ähnlich sind. Dies geht so weit, dass
es bei einer kleinen Probe von Hirngewebe nicht möglich ist, zu bestimmen, ob sie vom Menschen
oder vom Affen stammt. Diese Ähnlichkeit erlaubt es Wissenschaftlern, anhand einfacherer Le-
bewesen (Tintenfischen oder Wasserschnecken) herauszufinden, wie unsere neuronalen Systeme
funktionieren. Sie ermöglicht es ihnen, anhand von Gehirnen anderer Säugetiere zu erkennen, wie
unser Gehirn aufgebaut ist. Jedes Auto ist anders, aber alle Autos haben einen Motor, ein Gaspedal,
ein Steuerrad und Bremsen. Ein Marsmensch könnte jedes Einzelne von ihnen untersuchen und
die Funktionsprinzipien verstehen. Entsprechend unterscheiden sich die Lebewesen, doch ihre
Nervensysteme funktionieren ganz ähnlich. Obwohl das Gehirn des Menschen komplexer ist als
das einer Ratte, unterliegen beide den gleichen Funktionsprinzipien.
2.1.1 Neuron
Ziel 3: Beschreiben Sie die Bestandteile einer Nervenzelle, und erklären Sie, wie ihre Impulse erzeugt
werden. Neuron (neuron): Nervenzelle, der Grundbau-
stein des Nervensystems.
Das neuronale Informationssystem unseres Körpers ist ein komplexes System, das aus einfachen
Dendriten (dendrites): vielfach verzweigte Er-
Bausteinen zusammengesetzt ist. Die Grundbausteine sind Neuronen, also Nervenzellen. Es gibt weiterungen einer Nervenzelle, mit denen Bot-
unterschiedliche Arten von Nervenzellen, aber alle sind Variationen desselben Bauplans (. Abb. schaften empfangen und Impulse an den Zell-
2.2). Jede besteht aus einem Zellkörper und aus davon abzweigenden Fasern. Der Dendritenbaum körper weitergegeben werden.
58 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Axon (axon): Erweiterung eines Neurons, das in empfängt die Informationen und leitet sie zum Zellkörper weiter. Von dort aus übermitteln die
sich verzweigenden Nervenendigungen (Den- Axonbündel die Botschaft an andere Neuronen, Muskeln oder Drüsen. Die Axonen sprechen. Die
driten) endet. Über sie werden Botschaften an
Dendriten hören zu.
andere Neuronen bzw. an Muskeln oder Drüsen
weitergeleitet. Anders als die kurzen Dendriten sind die Axone manchmal sehr lang und erstrecken sich über
weite Bereiche innerhalb des Körpers. Die Giganten des neuronalen Systems sind die Motoneu-
rone, die die Muskeln steuern. Ein Neuron, das einen Befehl an einen Muskel im Bein weiterleitet,
ist wie ein Basketball, der an einem 6 km langen Seil hängt. Eine Schicht aus Fettgewebe, die
Myelinschicht (auch Markscheide; myelin Myelinschicht, umspannt die Axone einiger Neuronen und beschleunigt so die Weiterleitung der
sheath): Schicht von fettreichem Gewebe, das Impulse. Dass diese Myelinschicht sehr wichtig ist, zeigt sich bei der multiplen Sklerose, einer
die Axone vieler Neuronen abschnittsweise um-
Krankheit, bei der diese Schicht degeneriert. Folge ist eine Verlangsamung der Steuerung der
spannt. Durch die Myelinisierung wird die Ge-
schwindigkeit der Informationsvermittlung Muskeln bis hin zum vollständigen Verlust der Kontrolle über die Muskeln.
erhöht, weil die Impulse von einem Knoten Abhängig von der Art des Gewebes, wandert der Nervenimpuls mit Geschwindigkeiten von
(Ranvier-Schnürring) zum nächsten springen. gemütlichen 3 km/h bis zu halsbrecherischen 350 km/h. Trotzdem ist sogar diese Höchstgeschwin-
digkeit noch 3 Mio. Mal langsamer als die Geschwindigkeit, mit der sich Elektrizität durch ein
Stromnetz bewegt. Gehirnaktivität wird in Millisekunden gemessen (tausendstel Sekunden),
Computeraktivität dagegen in Nanosekunden (milliardstel Sekunden). Das erklärt zum Teil, wa-
rum menschliche Reaktionen auf ein plötzliches Ereignis, wie z. B. ein vor Ihrem Auto auftauchen-
des Kind, eine Viertelsekunde oder länger dauern.
! Ihr Gehirn ist einem Computer zwar in der Komplexität der Verarbeitung um ein Vielfaches
überlegen, nicht aber, wenn es darum geht, wie schnell einfache Reaktionen ausgeführt
werden.
Aktionspotenzial (action potential): Nervenim- Eine Nervenzelle löst einen Impuls aus, wenn sie von Sinnesrezeptoren durch Druck, Hitze oder
puls, also eine kurzfristige elektrische Ladung, Licht oder von anderen Neuronen durch chemische Botenstoffe stimuliert wurde. Dieser Impuls,
die am Axon entlang wandert. Diese Ladung
Aktionspotenzial genannt, ist eine kurze elektrische Ladung, die das Axon entlangwandert.
entsteht dadurch, dass sich positiv aufgeladene
Atome durch die Kanäle der Membran eines Neuronen erzeugen durch chemische Prozesse Elektrizität, so wie Batterien es tun. Der Prozess
Axons herein- und wieder herausbewegen. der Umwandlung von Chemie in Elektrizität erfolgt durch den Austausch von elektrisch geladenen
Atomen, sog. Ionen. Im Ruhezustand befindet sich im flüssigen Innenraum der Neuronen ein
Überschuss an negativ geladenen Ionen, während in der Flüssigkeit außerhalb des Neurons vor
Ruhepotenzial (resting potential): das Membran- allem positiv geladene Ionen enthalten sind. Dieser Zustand eines positiv geladenen Umfelds und
potenzial, das vorliegt, wenn kein Nervenimpuls eines negativ geladenen Inneren am Axon wird als Ruhepotenzial bezeichnet. Ähnlich wie beim
weitergeleitet wird; im Inneren des Axons befin-
Zugang zu einem gut bewachten Gebäude ist die Oberfläche des Axons sehr wählerisch darin, wen
den sich negativ geladene, im Umfeld positiv ge-
ladene Ionen. oder was sie durchlässt. Man sagt, die Oberfläche ist semipermeabel. So wird z. B. verhindert, dass
positive Natriumionen in ein ruhendes Axon eindringen können.
»Ich besinge die Elektrizität des Körpers.« Wenn jedoch die Weiterleitung eines Impulses beginnt – wir reden davon, dass »das Neuron
Walt Whitman, Children of Aden, 1855 feuert« –, verändert sich die Durchlässigkeit. Diesen Vorgang nennt man Depolarisation. Am
2.1 · Neuronale Kommunikation
59 2
Beginn des Axons öffnen sich Tore in der Zellmembran, ähnlich wie Kanaldeckel, die von unten . Abb. 2.3. Aktionspotenzial
aufgedrückt werden, und die positiv geladenen Natriumionen strömen durch die Membran ins
Neuron hinein (. Abb. 2.3). So wird die Spannung an diesem Teil des Axons verringert, es wird
depolarisiert, und dies bewirkt wiederum, dass sich die Tore in der Membran ein Stück weiter
hinten öffnen. Danach öffnen sich die Tore noch ein Stück weiter hinten, und immer so weiter,
ähnlich wie bei einer Reihe umfallender Dominosteine. Während einer Ruhepause (der Refraktär-
phase, ähnlich wie beim Blitz einer Kamera, der nach dem Einsatz eine gewisse Zeit benötigt, um
sich wieder aufzuladen) pumpt das Neuron die positiv geladenen Natriumionen aus seinem Inne-
ren wieder heraus. Erst dann kann es erneut depolarisiert werden. In myelinisierten Neuronen
wird die Weiterleitung dadurch beschleunigt, dass das Aktionspotenzial von einem sog. Ranvier-
Schnürring (einer ringförmigen Einschnürung an markhaltigen Nervenfasern, jeweils an der
Grenze zweier Zellgebiete) zum nächsten springt (. Abb. 2.2). Es ist kaum zu fassen, dass sich
diese chemischen Prozesse 100- bis 1000-mal pro Sekunde wiederholen. Doch solch unglaub-
lichen Vorgängen werden wir noch öfter begegnen.
! Die Nervenzelle ist ein winziger Computer, der Entscheidungen trifft und dafür sehr kompli- »Das Neuron erzählt einem anderen nur, wie er-
zierte Berechnungen anstellen muss. An ihrem Zellkörper und an den Dendriten empfängt sie regt es ist.«
Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, 1997
Signale von Hunderten, wenn nicht Tausenden anderen Neuronen.
Die meisten dieser Signale sind exzitatorisch (erregend), sie wirken wie das Gaspedal der Nerven-
zelle, andere sind inhibitorisch (hemmend) und drücken auf die Bremse. Erregende und hem-
mende Impulse werden gegeneinander aufgerechnet. Übersteigt die bleibende Menge an Erregung
eine Mindestintensität, den sog. Schwellenwert, wird ein Aktionspotenzial ausgelöst. (Stellen Sie Schwellenwert (threshold): Grad an Stimula-
sich das so vor: Wenn auf einer Party die Anzahl der gut gelaunten Stimmungskanonen größer ist tion, der benötigt wird, um einen neuronalen
Impuls auszulösen.
als die Zahl derjenigen, die gelangweilt in der Küche herumsitzen, kann die Party losgehen.) Das
Aktionspotenzial bewegt sich am Axon entlang fort, das sich verzweigt und Verbindungen mit
Hunderten oder Tausenden anderer Neuronen sowie mit den Muskeln und Drüsen des Körpers
herstellt.
60 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Es ist allerdings nicht möglich, durch die Verstärkung des stimulierenden Impulses auch die
Stärke des Aktionspotenzials zu vergrößern, das an der Zelle entsteht. Die Reaktion des Neurons
ist eine Alles-oder-nichts-Reaktion: Wie eine Pistole feuert es oder feuert nicht.
Wie aber spüren wir die Intensität eines Reizes? Wie unterscheiden wir eine leichte Berührung
von einer heftigen Umarmung? Ein starker Reiz – eher ein Schlag als eine zarte Berührung – kann
insgesamt mehr Neuronen dazu bringen, zu feuern und häufiger zu feuern.
2
2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren
Neuronen sind so dicht miteinander verwoben, dass selbst mit einem Mikroskop schwer zu erken-
nen ist, wo ein Neuron endet und wo das nächste beginnt. Früher glaubten die Wissenschaftler,
dass die Axone der Zellen direkt mit den Dendriten der anderen Zellen verbunden sind. Dann
aber beschrieb der spanische Anatom Santiago Ramon y Cajal (1852–1934) die kleinen Zwischen-
räume zwischen den einzelnen Nervenzellen und schloss daraus, dass die einzelnen Zellen im
Nervensystem unabhängig voneinander funktionieren. Gleichzeitig entdeckte der britische Phy-
»Bei jeder Informationsverarbeitung im Gehirn
sprechen die Neuronen an den Synapsen mit- siologe Sir Charles Sherrington (1857–1952), dass neuronale Impulse unerwartet lange brauchen,
einander.« um sich fortzubewegen. Daraus folgerte Sherrington, dass es bei der Übertragung kurze Unterbre-
Solomon H. Snyder, Neurowissenschaftler (1984) chungen geben musste.
Heute wissen wir, dass die axonale Endigung eines Neurons in Wirklichkeit nicht direkt mit
der postsynaptischen Zelle verbunden ist, sondern dass sich zwischen beiden Zellen ein Spalt
Synapse (synapse): Verbindungsstelle zwischen befindet, der nur wenige Nanometer groß ist. Sherrington nannte die Verbindungsstelle Synapse
der axonalen Endigung des präsynaptischen und den Spalt dazwischen den synaptischen Spalt. Für Cajal waren diese Verbindungen der Neu-
Neurons, das Impulse weitergibt, und einem
ronen, die er als »protoplasmische Küsse« bezeichnete, ein Wunder der Natur. »Vergleichbar mit
Dendriten oder dem Zellkörper des postsynapti-
schen Neurons, das die Impulse empfängt. Der eleganten Damen, die ihr Make-up nicht ruinieren wollen und nur so tun, als würden sie jemanden
winzige Zwischenraum zwischen den beiden küssen, berühren sich die Dendriten und Axone nicht richtig«, merkt Diane Ackerman (2004) an.
Zellen wird als synaptischer Spalt bezeichnet. Wie aber bewerkstelligen die Neuronen diesen protoplasmischen Kuss? Wie gelangen die Infor-
mationen über den synaptischen Spalt? Die Antwort auf diese Frage ist eine der wichtigsten wis-
senschaftlichen Erkenntnisse unseres Zeitalters.
Neurotransmitter (neurotransmitter): chemi- Wenn das Aktionspotenzial die Endigung des Axons erreicht, bewirkt es die Ausschüttung von
sche Botenstoffe, die den synaptischen Spalt chemischen Botenstoffen; sie werden Neurotransmitter genannt (. Abb. 2.4). Im 10.000sten Teil
zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe
einer Sekunde überqueren die Neurotransmittermoleküle den synaptischen Spalt und docken an
werden vom präsynaptischen Neuron ausge-
schüttet und wandern über den Spalt zum post- einem Rezeptor am postsynaptischen Neuron an, so präzise, wie ein Schlüssel ins richtige Schloss
synaptischen Neuron, wo sie an Rezeptoren- passt. Für einen Moment öffnen die Rezeptormoleküle dann kleine Kanäle am postsynaptischen
moleküle gebunden werden. Damit haben die Neuron. Dadurch können Ionen in das Neuron strömen und damit die Wahrscheinlichkeit für das
Neurotransmitter einen Einfluss darauf, ob in Auslösen eines Aktionspotenzials erhöhen oder verringern. Die Neurotransmitter, die sich noch
der postsynaptischen Zelle ein neuronaler Im-
im Spalt befinden, werden vom präsynaptischen Neuron wieder aufgenommen. Dieser Vorgang
puls entsteht.
wird auch als Reuptake (Wiederaufnahme) bezeichnet.
Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und stellen Sie kurz die Auswir-
kungen des Acetylcholins und der Endorphine dar.
»Beim Gehirn gilt Folgendes: Wollen Sie es in Als Wissenschaftler Dutzende verschiedener Neurotransmitter entdeckten, ergaben sich auch
Aktion sehen, dann folgen Sie den Neurotrans- neue Fragen: Sind spezielle Transmitter nur in bestimmten Bereichen des Gehirns zu finden? Wie
mittern.«
wirken sie bei uns auf Stimmungen, Erinnerungen und geistige Fähigkeiten? Kann man ihre Wir-
Floyd Broom, Neurowissenschaftler (1993)
kung dadurch verstärken oder abschwächen, dass man spezielle Medikamente zu sich nimmt oder
sich auf eine bestimmte Weise ernährt?
In späteren Kapiteln werden wir näher darauf eingehen, welchen Einfluss Neurotransmitter
bei der Entstehung von Depressionen und Euphorie, von Hunger, von Gedanken und Sucht haben
und welche Rolle sie in der Therapie spielen. Hier wollen wir jedoch schon einmal einen Blick
2.1 · Neuronale Kommunikation
61 2
darauf werfen, wie Neurotransmitter unsere Motorik und unsere Emotionen beeinflussen. Heute . Abb. 2.4. Wie Neurone kommunizieren
wissen wir, dass in bestimmten Gehirnbahnen jeweils nur ein oder zwei Neurotransmitter vor-
kommen (. Abb. 2.5) und dass bestimmte Neurotransmitter bestimmte Effekte auf unser Verhal-
ten und unsere Emotionen haben. . Tabelle 2.1 zeigt Beispiele dafür.
Acetylcholin (ACh) ist einer der am besten untersuchten Neurotransmitter. Neben der Rolle Acetylcholin (ACh; acetylcholine): Neurotrans-
des Acetylcholins bei Prozessen wie Lernen und Gedächtnis ist ACh auch ein Botenstoff, der in mitter, der Lernen möglich macht und Muskel-
kontraktionen auslöst.
jeder Verbindungsstelle zwischen einem Motoneuron und einem Skelettmuskel vorkommt. Wenn
die Bläschen das ACh zu den Muskelzellen hin ausschütten, wird der Muskel kontrahiert. Wird
die Übertragung des ACh blockiert, können die Muskeln nicht kontrahiert werden.
Eine neue aufregende Entdeckung im Bereich der Neurotransmitter machten Pert u. Snyder
(1973), als sie Morphium radioaktiv markierten. Dies lieferte ihnen einen Hinweis darauf, wo
dieser Stoff im Gehirn eines Tieres aufgenommen wird. Ihre Entdeckung: Morphium ist eine
Droge, ein sog. Opiat mit schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Wirkung. Pert u. Snyder
fanden heraus, dass diese Droge genau in jenen Gehirnbereichen an Rezeptoren bindet, die mit
Stimmung und Schmerzempfindung in Zusammenhang gebracht wurden.
Es ist schwer vorstellbar, dass das Gehirn solche »Opiatrezeptoren« bereitstellt, wenn ihm nicht
selbst irgendwelche natürlich vorkommenden Opiate, die an diese Rezeptoren andocken, zur
Verfügung stünden. Warum sollte das Gehirn ein chemisches Schloss haben, aber keinen dazu
passenden Schlüssel besitzen? Die Wissenschaftler bestätigten bald darauf, dass es im Gehirn
Endorphine (»innere Morphine« ; endorphins):
tatsächlich einige Arten von Neurotransmittern gibt, die Morphinen ähneln. Sie wurden Endor- natürliche, den Opiaten ähnelnde Neurotrans-
phine genannt [kurz für endogene (im Körper produzierte) Morphine]. Diese natürlichen Opiate mitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in
werden ausgeschüttet, wenn der Mensch Schmerzen empfindet oder hart trainiert. Das mag auch Zusammenhang gebracht werden.
62 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Aus Rita Carter, Mapping the Mind © 1998, University of California Press
dopaminerge (a) und serotonerge (b) Bahnen
Die verschiedenen chemischen Botenstoffe sind
jeweils in eigenen Transmittersystemen organisiert;
dies sind jene Projektionsbahnen im Gehirn, wo die
Stoffe vor allem gefunden wurden. Als Beispiel
werden hier die Transmittersysteme von Dopamin
und Serotonin dargestellt. (Carter 1998)
2
Der Physiker Lewis Thomas über Endorphine:
»Da ist er, ein biologisch universeller Gnadenakt.
Ich kann ihn nicht erklären, außer vielleicht mit
den folgenden Worten: Ich hätte ihn einbauen
lassen, wenn ich ganz am Anfang Mitglied des
Planungsausschusses gewesen wäre.«
The Youngest Science, 1983 a b
Acetylcholin (ACh) Ermöglicht Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis Bei der Alzheimer-Krankheit sterben die Neuronen ab, die ACh produzieren
Dopamin Beeinflusst Bewegung, Lernen, Aufmerksamkeit und Eine übermäßige Aktivität von Dopaminrezeptoren wird mit Schizophrenie
Gefühle in Verbindung gebracht. Wenn zu wenig Dopamin vorhanden ist, kommt es
zum Zittern und zur eingeschränkten Beweglichkeit bei der Parkinson-
Krankheit
Serotonin Hat einen Einfluss auf Stimmung, Hunger, Schlaf und Eine Unterversorgung ist bei Depressionen zu finden, Antidepressiva wie
Erregung Fluctin und andere erhöhen den Serotoninspiegel
Noradrenalin Trägt zur Steuerung von Wachheit und Erregung bei Eine Unterversorgung kann zu gedrückter Stimmung führen
GABA (J-Aminobuttersäure) Einer der wichtigsten hemmenden Neurotransmitter Die Unterversorgung korreliert mit Anfällen, Zittern und Schlaflosigkeit
Glutamat Einer der wichtigsten anregenden Neurotransmitter; Eine Überversorgung kann zu einer Überstimulation des Gehirns führen
am Gedächtnisprozess beteiligt und Migräne oder Anfälle auslösen (darum vermeiden manche Menschen
Natriumglutamat im Essen)
Moleküle und Muskeln die guten Gefühle erklären, die z. B. beim Joggen aufkommen, ebenso die schmerzlindernde Wir-
Wenn sich Ihr Körper bewegt, geschieht das durch kung von Akupunktur, oder warum manche schwerverletzten Menschen keine Schmerzen mehr
eine Fülle von cholinergen Molekülen, die die Mus-
spüren, wie David Livingston 1875 in »Missionary Travels« beschrieb:
kelaktivität auslösen
Ich hörte einen Schrei. Als ich aufstand und mich umdrehte, sah ich den Löwen, wie er auf mich zu-
sprang. Ich war auf geringer Höhe, und er bekam meine Schulter zu packen, als er sprang, und wir fielen
beide gemeinsam zu Boden. Fürchterlich in mein Ohr knurrend, schüttelte er mich, wie ein Terrier eine
Ratte schüttelt. Der Schock machte mich benommen, so wie sich wohl eine Maus fühlt, wenn sie zum
ersten Mal von einer Katze durchgeschüttelt wird. Ich fühlte mich wie in einem Traumzustand, in dem
es keinen Schmerz und keine Angst gab, obwohl ich mir der Geschehnisse durchaus bewusst war …
Diesen merkwürdigen Zustand empfinden wohl alle Tiere, die von Fleischfressern getötet werden; falls
ja, ist er eine gnädige Vorkehrung unseres barmherzigen Schöpfers, um den Schmerz des Todes zu er-
leichtern.
photos.com
2.1 · Neuronale Kommunikation
63 2
Wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung verändern
Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung beeinflussen,
und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wirkungen von Agonisten und Antagonisten.
Wenn die Endorphine tatsächlich Schmerzen lindern und die Stimmung heben, warum über-
schwemmen wir unser Gehirn nicht einfach mit künstlichen Opiaten und verstärken damit die
dem Gehirn eigene »Gutfühlchemie«? Ein Problem dabei ist, dass das Gehirn, wenn es mit Opia-
ten wie Heroin oder Morphium überschwemmt wird, aufhören könnte, die eigenen, natürlichen
Opiate zu produzieren. Bei Drogenentzug wären dann im Gehirn plötzlich gar keine Opiate mehr
vorhanden. Drogenabhängige erleben diesen Zustand als Qualen, die so lange andauern, bis das
Gehirn die Produktion der natürlichen Opiate wieder aufnimmt oder bis mehr künstliche Opiate
eingenommen werden. Wie in späteren Kapiteln ausgeführt wird, haben Drogen, die die Stim-
mung beeinflussen, von Alkohol über Nikotin zu Heroin, alle einen ähnlichen Effekt: Sie führen
alle – manche auch erst nach längerfristiger, regelmäßiger Anwendung – zu anhaltenden und oft
nicht mehr umkehrbaren negativen Konsequenzen für die Gesundheit des Betroffenen. Wer die
Produktion von Neurotransmittern im eigenen Körper unterdrückt, muss also einen hohen Preis
dafür zahlen.
Viele Drogen beeinflussen die Vorgänge an den Synapsen, oft durch Erregung oder Hemmung
der Reizweiterleitung. Agonisten wirken erregend. Ein Molekül eines Agonisten kann einem
Neurotransmitter so sehr ähneln, dass es die gleichen Effekte hat (. Abb. 2.6b) oder die Wieder-
aufnahme des Neurotransmitters verhindert. Manche Opiate beispielsweise machen »high«, in-
dem sie das normale Gefühl von Erregung oder Lust verstärken. Nicht so angenehm sind die . Abb. 2.6. Agonisten und Antagonisten
64 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Auswirkungen des Spinnengifts der Schwarzen Witwe, das die Synapsen mit ACh überschwemmt.
Und was hat das zur Folge? Heftige Muskelkontraktionen, Krämpfe und möglicherweise den Tod.
Antagonisten dagegen wirken hemmend. Ein Antagonist kann ein Molekül einer chemischen
Substanz sein, das die Ausschüttung von Neurotransmittern verhindert. Botulin, ein Gift, das sich
in unsachgemäß hergestellten Fertiggerichten in Dosen bilden kann, führt dadurch, dass es die
Ausschüttung des ACh beim postsynaptischen Neuron blockiert, zu einer Lähmung (so glätten
Botulin- oder Botox-Spritzen Falten dadurch, dass sie die darunter liegenden Gesichtsmuskeln
2 lähmen). Oder ein Antagonist ähnelt dem natürlichen Neurotransmitter so sehr, dass er an die
spezifischen Rezeptoren andocken und seine Wirkung blockieren kann (. Abb. 2.6c), jedoch nicht
genug, dass er auch den Rezeptor stimulieren könnte (ähnlich ausländischen Münzen, die in einen
Zigarettenautomaten zwar hineinpassen, mit denen man aber keine Zigaretten ziehen kann).
Curare, ein Gift, das bestimmte Indianer in Südamerika zum Jagen auf die Pfeilspitzen schmieren,
besetzt und blockiert die ACh-Rezeptoren, wodurch die Neurotransmitter nicht mehr in der Lage
sind, ihren Einfluss auf die Muskeln auszuüben. Wenn ein Tier von einem dieser Pfeile getroffen
wird, wird es sofort gelähmt sein.
Die Neurotransmitterforschung führt zur Entwicklung von neuen Medikamenten zur Linde-
rung von Depressionen, Schizophrenie und anderen Störungen. Aber das richtige Medikament zu
entwickeln ist schwieriger, als man es sich vorstellt. Die Blut-Hirn-Schranke erlaubt es dem Gehirn,
ungewollte chemische Stoffe auszuschließen, die im Blut zirkulieren. Wissenschaftler wissen z. B.,
dass das Zittern, das für die Parkinson-Krankheit typisch ist, aus dem Absterben von Nervenzellen
resultiert, die Dopamin produzieren. Jedoch hilft es den Patienten nicht, wenn man ihnen Dopa-
min verabreicht, da dies die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann. Aber einige chemische
Substanzen können die Schranke überwinden. Eines davon, L-Dopa, ein Stoff, den das Gehirn in
Dopamin umwandeln kann, ermöglicht es vielen Patienten, wieder eine bessere Kontrolle über
ihre Muskeln zu erlangen.
aptischen Neurons. Das präsynaptische Neuron absorbiert dann norma- Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale
lerweise bei einem Vorgang, der als Wiederaufnahme bezeichnet wird, Übertragung beeinflussen, und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wir-
den Überschuss an Neurotransmittermolekülen im synaptischen Spalt. kungen von Agonisten und Antagonisten.
Das postsynaptische Neuron erzeugt, wenn die Signale von diesem Drogen und andere chemische Stoffe haben einen Einfluss auf die Kom-
Neuron und von anderen stark genug sind, sein eigenes Aktionspoten- munikation an der Synapse. Agonisten wirken erregend, indem sie die
zial und gibt die Botschaft an andere Zellen weiter. Rolle von bestimmten Neurotransmittern übernehmen oder ihre Wie-
deraufnahme verhindern. Antagonisten wie Curare hemmen die Freiset-
Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und zung eines bestimmten Neurotransmitters oder blockieren seine Aus-
stellen Sie kurz die Auswirkungen des Acetylcholins und der Endorphine wirkungen.
dar.
Jeder einzelne Neurotransmitter bewegt sich auf festgelegten Bahnen > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in
im Gehirn und hat einen bestimmten Effekt auf Verhalten und Emo- der Sie die Ausschüttung von Endorphinen in Ihrem Gehirn vor star-
tionen. Acetylcholin, einer der Neurotransmitter, über die wir am meis- kem Schmerz bewahrt hat?
ten wissen, hat einen Einfluss auf Muskelbewegungen, Lernen und Ge-
dächtnis. Endorphine sind natürliche Opiate, die in Reaktion auf Schmerz
und körperliche Betätigung freigesetzt werden.
Leben bedeutet, Informationen von der Umwelt und aus dem Körpergewebe aufzunehmen, Ent- Zentrales Nervensystem (ZNS; central nervous
scheidungen zu treffen und schließlich die Informationen und Befehle zurück an das Körperge- system): Gehirn und Rückenmark.
webe zu senden. Neuronen sind die Grundbausteine unseres Nervensystems, des elektroche-
mischen Hochgeschwindigkeitsinformationsnetzes in unserem Körper (. Abb. 2.7). Das Gehirn Peripheres Nervensystem (PNS; peripheral
und das Rückenmark bilden das zentrale Nervensystem (ZNS). Das periphere Nervensystem nervous system): sensorische Neuronen und
Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem
(PNS) verbindet das zentrale Nervensystem mit den Sinnesrezeptoren, den Muskeln und den
(ZNS) mit dem Rest des Körpers verbinden, so-
Drüsen. Die Axone, die diese Informationen des PNS übertragen, sind zu elektrischen Kabeln wie die Neuronen des autonomen Nervensys-
gebündelt, die uns als Nerven bekannt sind. Der Sehnerv z. B. ist ein Bündel aus einer Mio. einzel- tems, also der Sympathikus und der Parasympa-
ner Axone; sie übertragen die Informationen, die jedes der beiden Augen zum Gehirn sendet thikus.
(Mason u. Kandel 1991).
Nerven (nerves): neuronale »Kabel«, die aus
vielen Axonen bestehen. Diese gebündelten
Axone, die Teil des peripheren Nervensystems
sind, verbinden das zentrale Nervensystem
mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen.
Sensorische Neuronen (sensory neurons): In unserem Nervensystem werden die Informationen mit Hilfe dreier Arten von Neuronen
Nervenzellen, die von den Sinnesrezeptoren weitergeleitet. Die sensorischen Neuronen schicken Informationen von der Körperoberfläche
eingehende Informationen zum Zentralnerven-
und den Sinnesorganen in den Körper hinein zum Gehirn und zum Rückenmark, die die einge-
system übermitteln.
henden Informationen verarbeiten. Das ZNS sendet dann Befehle über Motoneurone zum Kör-
Motoneurone (motor neurons): Neuronen, die pergewebe. Zwischen sensorischem Input und motorischem Output werden Informationen durch
den Muskeln und Drüsen die Informationen die interne Kommunikation des Zentralnervensystems mit Hilfe der Interneuronen verarbeitet.
vom Zentralnervensystem übermitteln. Dass dieser Prozess so komplex ist, liegt vor allem am System der Interneurone. Unser Nervensys-
2 tem hat einige Millionen sensorischer Neuronen, einige Millionen Motoneuronen sowie Milliar-
Interneurone (interneurons): Neuronen des
Zentralnervensystems, deren Aufgabe es ist, die
den und Abermilliarden von Interneuronen.
interne Kommunikation zu gewährleisten sowie
zwischen sensorischem Input und motorischem
Output zu vermitteln. 2.2.1 Peripheres Nervensystem
Autonomes (vegetatives) Nervensystem Das periphere Nervensystem hat zwei Komponenten: eine somatische und eine vegetative. Das
(autonomic nervous system): Teil des peripheren somatische Nervensystem ermöglicht es, die Bewegungen unserer Skelettmuskulatur unter Kon-
Nervensystems, der die Drüsen und Muskeln
trolle zu halten. Wenn Sie am Ende dieser Seite angelangt sind, wird das somatische Nervensystem
der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert.
Der sympathische Teil sorgt für Erregung, der Ihrem Gehirn Informationen über den momentanen Zustand Ihrer Skelettmuskeln übermitteln
parasympathische für Beruhigung. und daraufhin Instruktionen über die Bewegungen zurücksenden, die erforderlich sind, um die
Seite umzublättern.
Sympathikus (sympathetic nervous system): Das vegetative oder autonome Nervensystem übt die Kontrolle über die Drüsen und die
Teil des vegetativen Nervensystems, der für kör- Muskeln unserer inneren Organe aus. Wie ein Autopilot wird es gelegentlich bewusst außer Kraft
perliche Erregung und damit für die optimale
gesetzt, meistens jedoch arbeitet es eigenständig (autonom), um unsere Körperfunktionen zu
Nutzung der Energie in Stresssituationen sorgt.
steuern, z. B. unseren Herzschlag, die Verdauung und die Drüsenaktivität.
Parasympathikus (parasympathetic nervous Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Untersystemen (. Abb. 2.8). Der Sympathikus
system): Teil des vegetativen Nervensystems, versetzt uns in Erregung. Das heißt, er bereitet uns in Gefahr- bzw. Stresssituationen oder bei
der für Beruhigung sorgt und es damit dem
Herausforderungen (wie etwa bei einem heiß ersehnten Vorstellungsgespräch) auf eine angemes-
Körper ermöglicht, neue Energie zu speichern.
sene Reaktion vor. Dies geschieht dadurch, dass er die Herzfrequenz zunehmen lässt, den Blut-
druck erhöht, die Verdauung verlangsamt, den Blutzuckerspiegel steigen lässt und uns durch
Schwitzen abkühlt (Lügendetektoren erfassen solche Stressreaktionen, die manchmal Begleit-
erscheinungen von Lügen sind). Lässt der Stress nach, ruft der Parasympathikus die umgekehrten
Effekte hervor. Neue Energie wird gespeichert, indem der Parasympathikus u.a. durch Verlang-
samung des Herzschlags und Senkung des Blutzuckers beruhigend wirkt. In jeder alltäglichen
Situation arbeiten Sympathikus und Parasympathikus zusammen, um unseren inneren Zustand
stabil zu halten.
Ziel 9: Stellen Sie die Einfachheit der Reflexbahnen und die Komplexität der neuronalen Netze einander
gegenüber.
Aus der einfachen Kommunikation der einzelnen Neuronen untereinander entwickelt sich die
Komplexität unseres zentralen Nervensystems, die uns erst zu Menschen macht: unsere Gefühle,
unsere Gedanken und unser Handeln. Zigmilliarden von Neuronen, jedes davon mit Tausenden
anderen verbunden, bieten ein sich ständig veränderndes Schaltbild, das auch einen leistungsstar-
ken Computer in den Schatten stellt. Eines der größten und bislang ungelösten wissenschaftlichen
Rätsel ist die Frage, wie sich diese neuronale Maschine in komplexe Schaltkreise organisiert, die
Lernen, Fühlen und Denken möglich machen.
mung von Erektionen zuständig ist, erigiert er oft, wenn sein Geschlechtsteil stimuliert wird, da
die Erektion ein einfacher Reflex ist (Goldstein 2000). Frauen mit einer ähnlichen Lähmung kön-
nen auf Stimulation mit vaginaler Lubrikation reagieren. Aber es hängt vom Ort und vom Ausmaß
der Verletzung des Rückenmarks ab, ob solcherart gelähmte Patienten überhaupt noch auf ero-
tische Bilder reagieren und ob sie noch Gefühle im Genitalbereich haben (Kennedy u. Over 1990;
Sipski u. Alexander 1999). Um körperlichen Schmerz oder körperliche Lust zu verspüren, müssen
die sensorischen Informationen bis zum Gehirn vordringen.
Netzes mit vielen Zellen aus der nächsten Schicht verbunden. In dem Maße, in dem durch Rück-
kopplung die Verbindungen, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen, verstärkt werden, kommt
es zu Lernprozessen. So entstehen beim Üben eines Instrumentes, beispielsweise beim Klavier-
spielen, immer wieder neue neuronale Verbindungen. Gleich und gleich gesellt sich gern; so ist
dies auch bei feuernden Neuronen, die sozusagen verdrahtet werden.
Mit Hilfe neuer Computermodelle wird versucht, neuronale Netze zu simulieren, komplett mit
erregenden und hemmenden Verbindungen, die durch Erfahrung verstärkt werden: Man imitiert
auf diese Weise die Lernfähigkeit des Gehirns. Natürlich sind unsere eigenen neuronalen Netze
komplizierter als das in . Abb. 2.10 dargestellte Netz. In unserem Gehirn ist ein neuronales Netz
immer mit anderen Netzen verbunden, die für etwas anderes zuständig sind. Wenn man ein Ge-
hirn öffnet, sieht man keine Pfeile, die einem zeigen, wo ein Netz endet und ein anderes beginnt;
wir können sie nur durch ihre spezifische Funktion unterscheiden. Jedes ist ein Subnetz, das seinen
kleinen Teil von Informationen zu dem großen Informationsverarbeitungssystem beiträgt, das wir
als Gehirn bezeichnen.
Ziel 8: Benennen Sie die Bestandteile des peripheren Nervensystems, und > Denken Sie weiter: Finden Sie es überraschend, wie Ihr Nervensys-
beschreiben Sie ihre Funktionen. tem aufgebaut ist – mit dem synaptischen Spalt, der von chemischen
Das periphere Nervensystem ist zweigeteilt. Das somatische Nervensys- Botenstoffen in Sekundenschnelle überquert wird? Hätten Sie einen
tem ermöglicht die willkürliche Steuerung der Skelettmuskulatur. Das anderen Bauplan für sich entworfen?
autonome (vegetative) Nervensystem kontrolliert durch seine Aufteilung
in Sympathikus und Parasympathikus die Muskeln unserer Organe und
die Drüsen.
70 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Ziel 10: Beschreiben Sie die Eigenart und die Funktionen des endokrinen Systems sowie seine Wechsel-
wirkung mit dem Nervensystem.
Endokrines System (endocrine system): »lang- Bisher haben wir uns mit dem schnellen elektrochemischen Informationssystem des Körpers
sames« chemisches Kommunikationssystem des beschäftigt. Es gibt jedoch noch ein anderes Kommunikationssystem, das endokrine System
2 Körpers; es besteht aus einer Reihe von Drüsen,
(. Abb. 2.11). Die Drüsen des endokrinen Systems schütten eine andere Art von chemischen Bo-
die Hormone ins Blut ausschütten.
tenstoffen aus, die Hormone. Hormone werden in einem Gewebe gebildet, dann durch die Blut-
Hormone (hormones): meist von den endo- bahn weitergeleitet und beeinflussen andere Gewebe, auch das Gehirn. Wenn sie auf das Gehirn
krinen Drüsen in einem Gewebe hergestellte wirken, beeinflussen sie unser Interesse an Nahrung, Sexualität und Aggression.
chemische Botenstoffe, die andere Gewebe
Manche Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern (den chemischen Boten-
beeinflussen.
stoffe, die in eine Synapse ausgeschüttet werden und die postsynaptische Nervenzelle erregen oder
hemmen). Das endokrine System und das Nervensystem sind somit eng miteinander verwandte
Systeme: Beide schütten Moleküle aus, um Rezeptoren an einer anderen Stelle im Körper zu akti-
vieren. Aber im Unterschied zum schnellen Nervensystem, das Botschaften in Bruchteilen einer
Sekunde vom Auge zum Gehirn schwirren lässt, werden endokrine Botschaften deutlich lang-
samer übermittelt. Wenn das Nervensystem Informationen wie per E-Mail übermittelt, ist das
endokrine System die Snailmail, die Briefpost. Einige Sekunden oder mehr vergehen, bis ein Hor-
mon über die Blutbahn von einer endokrinen Drüse bis ins Zielgewebe gespült wird. Aber es lohnt
sich oft, auf diese endokrinen Botschaften zu warten, da ihre Effekte meist länger anhalten als die
einer neuronalen Botschaft. Und dadurch können wir erklären, warum wir manchmal das Gefühl
haben, dass da etwas nicht stimmt, wenn unser Bewusstsein von irgendeiner Neuigkeit abgelenkt
wird, die einen leichten Stress auslöst. Unter dem Einfluss von Hormonen und nichtverbaler Hirn-
areale hält das Gefühl länger an als der Gedanke – bis uns die Sache wieder bewusst wird und wir
vielleicht ein Gefühl der Erleichterung empfinden, wenn wir uns an den Grund für unser Unwohl-
sein erinnern.
Die Hormone des endokrinen Systems beeinflussen viele Aspekte unseres Lebens – Wachs-
tum, Fortpflanzung, Stoffwechsel und Stimmung – und wirken daran mit, dass unsere Körper-
funktionen im Gleichgewicht bleiben, während wir Stress, Anstrengungen und unseren eigenen Nebennieren (adrenal glands): Paar endokriner
Gedanken ausgesetzt sind. So gibt das autonome Nervensystem z. B. in einer gefährlichen Situa- Drüsen direkt oberhalb der Niere. Sie schütten
die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin) und
tion der Nebenniere den Befehl, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Diese Hormone
Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den
beschleunigen den Herzschlag, erhöhen den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel und stellen uns Körper bei Stresssituationen in Erregung verset-
damit einen zusätzlichen Energieschub zur Verfügung. Ist der Notfall dann vorbei, dauert es eine zen.
Weile, bis die Hormone wieder abgebaut sind; deshalb bleibt auch das Gefühl der Erregung noch
eine Weile bestehen.
Die endokrine Drüse mit dem größten Einfluss ist die Hypophyse, eine erbsengroße Struktur Hypophyse (pituitary gland): wichtigste Drüse
im mittleren Teil des Gehirns; dort wird sie von einer angrenzenden Struktur, dem Hypothalamus, des endokrinen Systems. Unter dem Einfluss
des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum
gesteuert. Die Hypophyse schüttet Hormone aus, die einen Einfluss auf das Wachstum haben, und
und kontrolliert die Aktivität anderer endokriner
kann zusätzlich auch noch die Hormonausschüttung in anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. Drüsen.
Die Hypophyse ist also so etwas wie die Königsdrüse (deren Kaiser der Hypothalamus ist). Zum
Beispiel bringt die Hypophyse unter dem Einfluss des Gehirns die Sexualdrüsen dazu, Sexualhor-
mone auszuschütten. Diese beeinflussen wiederum das Gehirn und das Verhalten.
Dieses Rückkopplungssystem (Gehirn oHypophyse oandere Drüsen oHormone oGe-
hirn) ist ein Hinweis auf die direkte Verbindung zwischen Nervensystem und endokrinem System:
Das Nervensystem bewirkt die Ausschüttung von Hormonen, die dann wiederum das Nerven-
system beeinflussen. Tatsächlich sind die beiden Systeme so eng miteinander verwoben, dass sich
die Unterschiede verwischen. Forscher haben herausgefunden, dass auch Neurotransmitter über
die Gehirnflüssigkeit in weit entfernte Regionen gelangen können und einen allgemeinen Alarm-
zustand hervorrufen oder die Stimmung beeinflussen können (Agnati et al. 1992; Pert 1986). In
solchen Fällen lassen sich die Neurotransmitter kaum mehr von ihren chemischen Zwillingen
unterscheiden, die als Hormone bezeichnet werden, wenn sie von Drüsen ausgeschüttet werden.
Und dieses ganze elektrochemische Orchester wird vom großen Maestro, den wir Gehirn nennen,
dirigiert und koordiniert.
2.4 Gehirn
In einem Glas auf einem Regal im Psychologischen Institut der Cornell University wird das gut
erhaltene Gehirn von Edward Bradford Titchener aufbewahrt, einem bedeutenden Experimental-
psychologen der Jahrhundertwende und Vertreter der Bewusstseinsforschung. Stellen Sie sich
doch einmal vor, vor dieser zerfurchten Masse aus grauem Gewebe zu stehen und sich dabei zu
fragen, ob noch etwas von Titcheners Geist darin verblieben ist.
Ihre erste Reaktion wäre wahrscheinlich, dass ohne das lebendige Zirpen der elektrochemischen
Aktivität nichts mehr von Titchener in seinem konservierten Gehirn zu finden ist. Stellen Sie sich
dann ein Experiment vor, von dem der neugierige Titchener selbst geträumt haben mag: Malen Sie
sich aus, wie jemand Titcheners Gehirn unmittelbar vor seinem Tod aus dem Körper entfernt und
in einen Behälter mit Hirnflüssigkeit gelegt hätte und es durch die Zufuhr von Blut und Sauerstoff
am Leben erhalten hätte. Gäbe es Titchener dann noch? Stellen Sie sich vor, jemand hätte das noch
C. Styrsky
lebende Gehirn damals in den Körper eines Menschen mit einem schweren Gehirnschaden trans-
plantiert! In welches Zuhause hätte der Patient nach seiner Erholung zurückkehren sollen?
72 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Dass wir uns diese Fragen stellen können, belegt, wie überzeugt wir davon sind, dass wir in
unseren Köpfen »wohnen«. Und dies mit gutem Grund: Schließlich macht das Gehirn Bewusstsein
erst möglich – sehen, hören, schmecken, fühlen, erinnern, denken, sprechen und träumen. Das
Gehirn ist das, was die Schriftstellerin Diane Ackerman (2004, S. 3) wie folgt bezeichnet hat:
»dieses glänzende Hügelwesen, …… diese Traumfabrik, … dieses Wirrwarr von Neuronen, die
all diese Spiele einfordern, … dieser launische Vergnügungspark«.
»Ich bin ein Gehirn, Watson. Der Rest von mir ist
Zudem analysiert das Gehirn selbstreflexiv das Gehirn. Wenn wir über unser Gehirn nach-
2 nur ein Anhängsel.«
denken, denken wir mit dem Gehirn – indem unsere Synapsen kaum abzählbar millionenmal
Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles
»The Adventure of the Mazarin Stone« feuern und Milliarden von Transmittermolekülen ausschütten.
! Tatsächlich ist es so: Das Denken ist, was das Gehirn tut. Das meinen zumindest die Neurowis-
senschaftler.
Aber wo genau und wie sind die Funktionen des Denkens mit dem Gehirn verknüpft? Wir wollen
uns zunächst damit beschäftigen, wie Wissenschaftler solchen Fragen nachgehen.
2.4.1 Forschungswerkzeuge
Ziel 11: Beschreiben Sie einige Verfahren zur Untersuchung des Gehirns.
Über Jahrhunderte hinweg hatte man keine Werkzeuge, die leistungsstark, aber behutsam genug
waren, um ein noch lebendes menschliches Gehirn zu erkunden. Dies hat sich jetzt innerhalb einer
Generation geändert. Im Interesse der Medizin oder der Wissenschaft können wir kleine Zellan-
sammlungen aus gesunden oder krankhaft veränderten Gehirnen entnehmen, am Gehirn also
Läsion (lesion): Zerstörung von Gewebe. Eine gezielt Läsionen setzen (etwas zerstören), ohne das umliegende Gewebe zu schädigen. Wir können
Hirnläsion ist eine auf natürliche Weise oder mit kleinen elektrischen Impulsen verschiedene Gehirnteile reizen und die Resultate beobachten.
durch ein Experiment entstandene Zerstörung
Wir können uns für die Nervenimpulse einzelner Neuronen interessieren oder die Kommunika-
von Hirngewebe.
tion von Milliarden Neuronen abhören. Wir können Bilder anschauen, auf denen die energe-
tischen Prozesse im Gehirn in Farbe zu sehen sind. Diese Techniken, um in das denkende und
fühlende Gehirn hineinzuschauen, sind für die Psychologie in etwa das, was das Mikroskop für
die Biologie und das Fernrohr für die Astronomie war.
Klinische Beobachtungen
Die älteste Methode, um die Verbindung zwischen Gehirn und Geist zu untersu-
chen, ist es, zu beobachten, welche Folgen bestimmte Krankheiten und Verletzungen
des Gehirns haben. Solche Beobachtungen wurden erstmals vor 5000 Jahren ge-
macht. Doch erst in den letzten zwei Jahrhunderten begannen Mediziner systema-
Tom Landers, Boston Globe/Landov/InterTOPICS
Manipulationen am Gehirn
Die Wissenschaftler müssen heutzutage nicht auf Gehirnverletzungen warten. Sie sind in der
Lage, bestimmte Teile des Gehirns elektrisch, chemisch oder magnetisch zu stimulieren und zu
2.4 · Gehirn
73 2
beobachten, welche Effekte dadurch hervorgerufen werden. Bei Tieren wird auch Gewebe in be-
stimmten Gehirnbereichen chirurgisch zerstört. Zum Beispiel führt eine Läsion eines Bereichs
des Hypothalamus der Ratte dazu, dass sie weniger isst und verhungert, wenn man sie nicht
zwangsernährt. Eine Läsion in einem anderen Bereich führt zu verstärkter Nahrungsaufnahme.
Bildgebende Verfahren
Mit neueren Methoden können wir wie Superman mit seinem Röntgenblick ins lebende Gehirn Positronenemissionstomographie (PET; posi-
blicken. Eines dieser Verfahren ist die Positronenemissionstomographie (PET) (. Abb. 2.13), die tron-emission tomography): Form der Visualisie-
rung von Gehirnaktivität. Dem Patienten wird
das Gehirn in Aktion zeigt, indem sie den Glukoseverbrauch jedes Teils des Gehirns sichtbar macht
radioaktiv markierte Glukose injiziert, deren
(Glukose ist der »chemische Brennstoff« des Gehirns) (. Abb. 2.33 auf S. 88). Aktive Neuronen Verteilung im Gehirn beobachtet werden kann,
verbrauchen große Mengen an Glukose. Injiziert man einer Person schwach radioaktiv angereicherte während er eine vorgegebene Aufgabe aus-
Glukose, so kann man mit Hilfe der PET, die Radioaktivität misst und lokalisiert, beobachten, wie führt.
sich das »Nervenfutter« im Gehirn verteilt. PET-Schichtaufnahmen zeigen, dass die Areale des
Gehirns, die aufflackern, wenn Menschen still für sich die Bezeichnung für ein Tier sagen, andere
sind als jene, die aufflackern, wenn sie die Bezeichnung für ein Werkzeug sagen (Martin et al. 1996). Magnetresonanztomographie (MRT, auch
In etwa so wie ein Wetterradar, das Regenfälle anzeigt, zeigen PET-Schichtaufnahmen anhand so Kernspintomographie; magnetic resonance
genannter Hot Spots an, welche Areale des Gehirns am stärksten aktiviert sind, wenn der Mensch imaging oder MRI): ein Verfahren, das mit Hilfe
von Magnetfeldern und elektromagnetischen
im Tomographen Rechenaufgaben löst, Musik hört oder Tagträumen nachhängt.
Wellen computergestützt Bilder vom Körper er-
Eine weitere neue Möglichkeit, in den Kopf zu schauen, macht sich die Tatsache zunutze, stellt, auf denen man zwischen verschiedenen
dass sich Atomkerne wie Kreisel drehen, auch im Gehirn. Bei der Kernspintomographie oder Gewebearten unterscheiden und so die Struktu-
Magnetresonanztomographie (MRT) wird der Kopf der Testperson in ein starkes Magnetfeld ren innerhalb des Gehirns erkennen kann.
AJ Photo/Photo Researchers, Inc.
a b
gelegt, das die drehenden Kerne zum Feld hin ausrichtet. Dann wird die Ausrichtung der Kerne
kurz durch eine elektromagnetische Welle gestört. Kehren sie daraufhin in ihren ursprünglichen
Zustand zurück, senden sie Signale aus, aus denen man ein Bild erstellen kann, wo und in welcher
Dichte sie sich konzentrieren. Daraus ergibt sich ein detailliertes Bild vom weichen Gewebe im
Gehirn (und im Körper). MRT-Schichtaufnahmen lassen bei Musikern mit dem absoluten Gehör
ein größeres neuronales Areal in der linken Hirnhälfte erkennen als bei der Durchschnittsbevöl-
kerung (Schlaug et al. 1995). MRT-Schichtaufnahmen können bei manchen Patienten mit Schizo-
phrenie zeigen, dass die Teile des Gehirns, die mit Hirnflüssigkeit gefüllt sind, erweitert sind
(. Abb. 2.14).
Mit einer speziellen Anwendung der MRT, der fMRT (der funktionellen MRT), kann man die
fMRT (funktionelle MRT; functional MRI): ein Funktionsweise, aber auch die Struktur des Gehirns erkennbar machen. Das Blut fließt an die
Verfahren zum Aufweis von Blutfluss und damit Stellen, wo das Gehirn besonders aktiv ist. Durch den Vergleich von MRT-Schichtaufnahmen, die
Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander
im Abstand von weniger als einer Sekunde gemacht werden, können die Forscher sehen, wie be-
folgende MRT-Schichtaufnahmen miteinander
vergleicht. Mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen stimmte Stellen im Gehirn aufflackern (da mehr sauerstoffreiches Blut fließt), wenn die betreffen-
kann man die Anatomie des Gehirns erkennen, de Person verschiedene Denkaufgaben löst. Schaut die Person ein Gesicht an, dann weist ein
mit Hilfe von fMRT-Schichtaufnahmen die Hirn- funktionelles MRT Blutfluss in den hinteren Teil des Gehirns auf, in denen visuelle Informationen
funktionen. verarbeitet werden (. Abb. 2.28 auf S. 85). Solche Schnappschüsse der sich verändernden Gehirn-
aktivität geben Aufschluss darüber, wie das Gehirn seine Aktivität aufteilt.
In einer spannenden Untersuchung entdeckten der Neurowissenschaftler Daniel Langleben
und seine Kollegen (2002), dass sich mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen eine erhöhte Hirn-
aktivität im Zusammenhang mit Lügen lokalisieren lässt. Wenn Versuchsteilnehmer auf die
Frage, welche Spielkarten sie hätten, logen, zeigte das fMRT eine erhöhte Aktivität in zwei Hirn-
regionen an. Bei der einen handelte es sich um die zinguläre Region im vorderen Kortex, ein
Gebiet, das typischerweise aktiv ist, wenn wir miteinander in Konflikt stehende Bedürfnisse
erleben. Einige Forscher stellten die Vermutung an, dass man eines Tages mit Hilfe leichter,
tragbarer Geräte zum Messen der Hirnaktivität Lügen in alltäglichen Situationen aufdecken
könne.
Heute Neurowissenschaften zu studieren, ist vielleicht vergleichbar damit, in der Zeit, als
Magellan die Weltmeere erforschte, Geograph gewesen zu sein. Die Anzahl der Forscher wächst:
. Abb. 2.15. Im Gehirn lesen Lucy Reading-Ikkanda for Scientific American Magazine
Die Mitgliederzahl in der interdisziplinären Society for Neuroscience, die 1969 gegründet wurde,
ist im Jahre 2004 auf mehr als 36.000 gewachsen. Jedes Jahr werden neue Entdeckungen gemacht,
die es auch ermöglichen, ältere Entdeckungen neu zu interpretieren.
Wissenschaftler versuchen, die ganze Vielfalt neuer Informationen in Datenbanken zu ver-
einen. Mit dieser Kartographierung des Gehirns haben alle Wissenschaftler über elektronische
Netze direkten Zugriff auf PET- oder MRT-Studien zur Aktivität einzelner Gehirnareale im
Zusammenhang mit verschiedenen Aufgaben (z. B. Rechenaufgaben). Eins ist klar: Dies ist das
goldene Zeitalter der Neurowissenschaften.
Ziel 12: Beschreiben Sie die Bestandteile des Hirnstamms, und skizzieren Sie die Funktionen von
Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn.
Wenn Sie den Schädel öffnen und hineinsehen könnten, fiele Ihnen als Erstes die Größe des Ge-
hirns auf. Bei Dinosauriern macht das Gehirn nur den 100.000sten Teil des gesamten Körperge-
wichts aus, bei Walen den 10.000sten Teil, bei Elefanten den 600sten und bei Menschen den 45sten.
Es sieht aus, als läge dem ein Prinzip zugrunde. Aber lassen Sie uns weitersehen: Bei Mäusen macht
das Gehirn den 40sten Teil des Körpergewichts aus, und bei Krallenaffen den 25sten Teil. Es gibt
also Ausnahmen von der Regel, dass das Verhältnis des Gehirngewichts zum Körpergewicht einen
Schlüssel für die Intelligenz des Tieres darstellt.
Bessere Indikatoren für die Fähigkeiten eines Tieres sind dessen Hirnstrukturen. Bei einfachen
Vertebraten (Wirbeltieren) wie z. B. dem Hai, reguliert das Gehirn vor allem die grundlegenden
lebenserhaltenden Funktionen: Atmung, Schlaf und Nahrungsaufnahme. Einfachere Säugetiere
(wie z. B. Nager) haben ein komplexeres Gehirn, das Gefühle und ein besseres Gedächtnis ermög-
licht. Bei weiter entwickelten Säugetieren wie Menschen verarbeitet das Gehirn mehr Informa-
tionen, und wir sind deshalb imstande, vorausschauend zu handeln.
Um diese zunehmende Komplexität möglich werden zu lassen, haben sich bei den einzelnen
biologischen Arten neue Gehirnsysteme über den alten gebildet, ähnlich wie auf der Erde neue
Landschaften die älteren bedecken. Wenn man etwas tiefer gräbt, entdeckt man die fossilen Über-
reste aus der Vergangenheit – Komponenten des Hirnstamms, die noch immer fast genau die glei-
chen Funktionen haben wie schon bei unseren entfernten Vorfahren. Um das Gehirn zu erkunden,
fangen wir mit dem Hirnstamm an und gehen dann weiter nach oben zu den neueren Systemen.
Hirnstamm
Das Untergeschoss des Gehirns – sein ältester und innerster Teil – ist der Hirnstamm. Er fängt dort Hirnstamm (brain stem): ältester Teil und Kern
an, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und etwas dicker wird. Dieser Abschnitt wird des Gehirns, der dort beginnt, wo das Rücken-
mark in den Schädel eintritt. Der Hirnstamm ist
Medulla oblongata genannt. Von hier aus werden Herzschlag und Atmung kontrolliert. Wird bei
für die automatische Aufrechterhaltung der
einer Katze das obere Ende des Hirnstamms vom Rest des Gehirns abgetrennt, überlebt das Tier; Lebensfunktionen zuständig.
es atmet, rennt, klettert und putzt sogar sein Fell (Klemm 1990). Doch da dieser Teil von den hö-
heren Gehirnbereichen abgeschnitten ist, wird das Tier nicht mehr absichtlich rennen oder klet- Medulla oblongata (medulla oblongata):
tern, um an Futter zu gelangen. Direkt über der Medulla befindet sich die Brücke (Pons), die dazu unterer Teil des Hirnstamms, der Herzschlag
und Atmung kontrolliert.
beiträgt, die Bewegungen miteinander zu koordinieren.
Außerdem ist der Hirnstamm der Kreuzungspunkt, durch den hindurch viele Nerven die eine
Hemisphäre des Gehirns mit der anderen Seite des Körpers verbinden. Diese sonderbare Über-
kreuzverbindung ist nur eine der Überraschungen, die das Gehirn zu bieten hat.
Im Inneren des Hirnstamms, zwischen Ihren Ohren, liegt die Formatio reticularis (»vernetztes Formatio reticularis (reticular formation):
Gebilde«), ein neuronales Netz, das wie ein Finger geformt ist und vom Rückenmark bis zum neuronales Netz im Hirnstamm, das eine wich-
tige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt.
Thalamus reicht (. Abb. 2.16). Wenn die sensorischen Informationen vom Rückenmark zum
Thalamus weitergeleitet werden, wird ein Teil davon durch die Formatio reticularis geschleust, wo
die eingehenden Informationen gefiltert und wichtige Informationen an andere Gehirnbereiche
weitergeleitet werden.
1949 stellten Moruzzi u. Magoun fest, dass die elektrische Stimulation der Formatio reticularis
einer schlafenden Katze sofort dazu führt, dass sie aufwacht und sehr erregt ist. Als Magoun auch
76 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
die Verbindung der Formatio reticularis zu den höheren Regionen des Gehirns abtrennte, ohne
dabei die umliegenden sensorischen Verbindungen zu zerstören, waren die Auswirkungen ähnlich
aufsehenerregend. Das Ergebnis: Die Katze fiel in ein Koma, aus dem sie nie wieder erwachte.
Magoun konnte direkt neben dem Ohr der Katze in die Hände klatschen, sie sogar kneifen: Es gab
keinerlei Reaktion. Was lässt sich daraus schließen? Die Formatio reticularis ist der Hirnbereich,
der für Erregung bzw. Wachzustände zuständig ist. Spätere Untersuchungen ergaben, dass es in
anderen Teilen des Gehirns Nervenzellen gibt, deren Aktivität die Voraussetzung für Schlaf ist.
(Wie Sie in 7 Kap. 7 sehen werden, ist das Gehirn nicht im Ruhezustand, wenn wir schlafen.)
Thalamus
Thalamus (thalamus): Umschaltzentrale für Über dem Hirnstamm sitzt die Umschaltzentrale für sensorische Signale, ein eng beieinander
sensorische Signale im Gehirn, die am oberen liegendes Paar eiförmiger Strukturen, das Thalamus genannt wird (. Abb. 2.16). Der Thalamus
Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thala-
empfängt Informationen von allen Sinnen mit Ausnahme des Geruchssinns und leitet sie zu den
mus übermittelt Informationen zu sensorischen
Arealen im Kortex und leitet die Reaktionen höheren kortikalen Arealen weiter, die für Sehen, Hören, Schmecken und die Empfindung von
zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata Berührung und Schmerz zuständig sind. Stellen Sie sich den Thalamus als Knotenpunkt für sen-
weiter. sorische Signale vor, so wie London Knotenpunkt für das englische Bahnsystem ist: Alle Züge
fahren hindurch und werden zu den verschiedenen Zielen weitergeleitet. Der Thalamus empfängt
aber auch die Antworten der höheren Gehirnregionen, die er dann wiederum an die Medulla
oblongata und an das Kleinhirn weiterleitet.
Kleinhirn
Kleinhirn (Zerebellum; cerebellum): »kleines Am hinteren Teil des Hirnstamms liegt das Kleinhirn (Zerebellum), das etwa so groß ist wie eine
Gehirn« am hinteren Teil des Hirnstamms, das Orange, zwei gefurchte Hälften hat und damit wirklich aussieht wie ein kleines Gehirn (. Abb.
für die Verarbeitung der sensorischen Signale
2.17). Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, ist das Kleinhirn an einer Form von nonverbalem Lernen
sowie für die Koordination zwischen moto-
rischen Signalen und dem Gleichgewichtssinn und Gedächtnis beteiligt. Neuere Untersuchungen zeigten, dass es auch dazu beiträgt, Zeit abzu-
zuständig ist. schätzen, unsere Emotionen zu regulieren sowie Töne und Muster zu unterscheiden (Bower u.
Parsons 2003). Zusätzlich zur Informationsverarbeitung koordiniert das Kleinhirn die Willkürbe-
wegung. Wenn die Tennisspielerin Venus Williams mit einem perfekten Schwung ihres Schlägers
ein As schlägt, hat auch ihr Kleinhirn etwas Beifall verdient. Wenn Ihr Kleinhirn verletzt würde,
hätten Sie Schwierigkeiten beim Gehen und mit dem Gleichgewicht, oder Ihre Hände würden
zittern. Ihre Bewegungen wären ruckartig und überschießend.
! All diese älteren Hirnfunktionen laufen ohne jede bewusste Anstrengung ab. Damit wird eines
der immer wiederkehrenden Themen dieses Buches illustriert: Unser Gehirn verarbeitet einen
Großteil aller Informationen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
2.4 · Gehirn
77 2
a
b
Wir sind uns zwar bewusst, zu welchen Ergebnissen die Arbeit unseres Gehirns führt (als Beispiel:
wir merken ja, dass wir sehen), aber nicht wie wir die visuellen Bilder konstruieren. Genauso übt
der Hirnstamm seine lebenserhaltenden Funktionen aus, ganz gleich, ob wir wach sind oder
schlafen, so dass die neueren Gehirnregionen den Freiraum bekommen, zu träumen, nachzuden-
ken, zu reden oder einer Erinnerung nachzuhängen.
Limbisches System (limbic system): ringförmi-
Limbisches System ges neuronales System zwischen dem Hirn-
stamm und den zerebralen Strukturen. Die Akti-
Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems, und erklären Sie, wie vität des Systems wird in Zusammenhang ge-
eine dieser Strukturen die Hypophyse kontrolliert. bracht mit Gefühlen wie Angst und Aggression
sowie dem Nahrungs- und Sexualtrieb. Zum
An der Grenze (lat. »limbus« = Rand, Begrenzung) zwischen den älteren Bereichen des Gehirns limbischen System gehören der Hippocampus,
die Amygdala und der Hypothalamus.
und den beiden Hirnhälften liegt das ringförmige limbische System (. Abb. 2.18). In 7 Kap. 9
werden wir sehen, dass ein Teil des limbischen Systems, der Hippocampus, für die Speicherfunk-
Amygdala (auch Mandelkern; amygdala): zwei
tion des Gedächtnisses zuständig ist. (Wenn Tiere oder Menschen ihren Hippocampus durch mandelförmige Neuronenverbände, die Teil des
einen Unfall oder einen chirurgischen Eingriff verlieren, verlieren sie auch die Fähigkeit, neue limbischen Systems und an der Entstehung von
Fakten und Erlebnisse zu verarbeiten.) An dieser Stelle wollen wir nun einen Blick auf die Ver- Emotionen beteiligt sind.
bindung des limbischen Systems
zu Gefühlen wie Angst und Wut
werfen, außerdem zu den grund-
legenden Trieben wie Hunger und
Sexualtrieb.
Amygdala
Die beiden bohnengroßen Neu-
ronenverbände, die als Amygdala
(Mandelkern) bezeichnet werden
und innerhalb des limbischen Sys-
tems liegen, beeinflussen Aggression . Abb. 2.18. Limbisches System
und Angst (. Abb. 2.19). 1939 ent- Die limbischen Strukturen formen ein ringförmiges
fernten der Psychologe Heinrich neuronales System zwischen den älteren Teilen des
Gehirns und den beiden zerebralen Hemisphären.
Klüver und der Neurochirurg Paul
Obwohl die Hypophyse nicht zum Gehirn, sondern
Bucy bei einem Rhesusaffen einen zum Hormonsystem gehört, wird sie durch den
Teil des Gehirns, der die Amygdala Hypothalamus gesteuert, der direkt über ihr liegt
mit einschloss. Als Folge dieses Ein- und Teil des limbischen Systems ist
78 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
griffs wurde das vorher eher gereizte Tier die sanfteste aller Kreaturen. Man konnte den Affen
stechen, kneifen oder ihm irgendetwas antun, was früher zu einer wütenden Reaktion geführt
hätte; jetzt blieb er vollkommen ruhig. Spätere Untersuchungen an anderen Tieren (darunter
Luchse, Wölfe und wilde Ratten) führten zum gleichen Ergebnis. Was könnte aber geschehen,
wenn wir die Amygdala bei normalen, friedlichen Tieren wie einer Katze elektrisch stimulieren?
Machen Sie das Experiment, und Sie werden erleben, wie sich die Katze zum Angriff bereit macht,
den Rücken zum Buckel hochdrückt, sich die Pupillen weiten und sich das Fell sträubt. Bewegen
2
chen verwandeln. Kann dies dann vielleicht auch bei gewalttätigen Menschen funktionieren? Das
könnte man sich jedenfalls vorstellen. Aber diese Art von »Psychochirurgie« hat unterschiedliche
Ergebnisse erzielt (Mark u. Ervin 1970; Valenstein 1986). In den wenigen Fällen, in denen entspre-
chende Eingriffe an Patienten mit Hirnanomalien vorgenommen wurden, hatten diese danach
tatsächlich weniger Wutausbrüche, allerdings kam es oft zu starken Nebenwirkungen im alltäg-
lichen Leben der Patienten. Aus ethischen Gründen und wegen der starken Unsicherheiten bei
Aggression als Gehirnzustand derartigen Operationen werden solche massiven psychochirurgischen Eingriffe nur selten durch-
Buckel und gesträubtes Fell: Die zornige Katze ist geführt. Vielleicht werden wir jedoch eines Tages mit einem größeren Wissen über die Verbindung
zum Angriff bereit. Die elektrische Stimulation der zwischen Gehirn und Verhalten in der Lage sein, krankhafte Veränderungen des Gehirns beheben
Amygdala der Katze provoziert Reaktionen wie die
zu können, ohne neue zu schaffen.
hier gezeigte und zeigt damit die Rolle der Amygda-
la bei Gefühlen wie Wut. Welcher Teil des auto-
nomen Nervensystems wird durch solch eine Sti-
Hypothalamus
mulation aktiviert? Ein weiterer faszinierender Teil des limbischen Systems liegt direkt unterhalb (»hypo«) des Tha-
( 7 Antwort 2.1 am Ende des Kapitels) lamus und wird deshalb Hypothalamus genannt (. Abb. 2.20). Dadurch, dass Neurowissenschaft-
ler bestimmte Areale verletzten oder stimulierten, fanden sie heraus, dass neuronale Netze inner-
halb des Hypothalamus spezielle lebenserhaltende Aufgaben im Körper erfüllen. Einige Neu-
Hypothalamus (hypothalamus): neuronale ronencluster beeinflussen das Hungergefühl, andere den Durst, die Körpertemperatur und das
Struktur, die unterhalb (»hypo«) des Thalamus Sexualverhalten.
liegt. Von hier aus werden die lebenserhalten-
Einerseits überwacht der Hypothalamus die chemische Zusammensetzung des Blutes, ande-
den Aktivitäten (wie Essen, Trinken und die Kör-
pertemperatur) gesteuert. Außerdem beein- rerseits erhält er Anweisungen von anderen Teilen des Gehirns. Wenn Sie z. B. an Sex denken (im
flusst der Hypothalamus über die Hypophyse zerebralen Kortex), können Sie damit Ihren Hypothalamus zur Ausschüttung von Hormonen
das endokrine System und wird mit Emotionen veranlassen. Über diese Hormone steuert der Hypothalamus wiederum die wichtigste aller Drü-
in Zusammenhang gebracht. sen, die Hypophyse (. Abb. 2.18), die ihrerseits die Hormonausschüttung anderer Drüsen beein-
flusst. Bemerkenswert ist dabei das Zusammenspiel von Nerven- und Hormonsystem: Das Gehirn
beeinflusst das Hormonsystem; dies wiederum wirkt auf das Gehirn zurück.
Die Geschichte einer bemerkenswerten Entdeckung bei Versuchen mit dem Hypothalamus
zeigt, auf welche Weise es zu Fortschritten in der wissenschaftlichen Forschung kommt: näm-
lich wenn neugierige, vorurteilslose Wissenschaftler unerwartete Beobachtungen machen. Zwei
junge Neuropsychologen der McGill University, James Olds und Peter Milner, versuchten 1954,
Elektroden in der Formatio reticularis von weißen Ratten zu implantieren, machten dabei
jedoch einen großen Fehler. Bei einer Ratte implantierten sie die Elektrode versehentlich in einen
Bereich, der, wie sich später herausstellte, zum Hypothalamus gehörte (Olds 1975). Interessan-
terweise lief die Ratte immer wieder zu dem Ort im Käfig zurück, an dem sie durch die falsch
eingesetzte Elektrode zum ersten Mal der Stimulation ausgesetzt war, als ob sie immer mehr
Stimulation haben wollte. Als Olds und Milner ihren Fehler bemerkten, erkannten sie, dass sie
2.4 · Gehirn
79 2
auf einen Teil des Gehirns gestoßen waren, der das angenehme Gefühl vermittelt,
belohnt zu werden.
In einer sorgfältig geplanten Experimentalreihe versuchte Olds (1958), noch wei-
tere »Lustzentren« im Gehirn auszumachen, wie er sie genannt hatte. (Was die Ratten
tatsächlich erleben, wissen nur sie; aber sie erzählen es uns nicht. Deshalb bezeichnen
die heutigen Forscher diese Zentren lieber als »Belohnungszentren« oder »Verstärker-
zentren«; denn sie wollen den Ratten ja keine menschliche Gefühle andichten.) Als sich
die Ratten selbst stimulieren konnten, indem sie einen kleinen Hebel drückten, taten
sie dies fieberhaft, bis zu 7000-mal pro Stunde, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Dar-
. Abb. 2.21. Ratte mit implantierter Elektrode . Abb. 2.22. Roboratte auf Erkundungstour
Mit einer im Belohnungszentrum des Gehirns implantierten Elektrode überquert eine Wenn diese Ratte mit einer Fernsteuerung stimuliert wird, kann sie dazu
Ratte bereitwillig ein elektrisches Gitter und nimmt dabei die schmerzvollen Schocks in gebracht werden, über ein Feld zu rennen und sogar auf einen Baum zu
Kauf, nur um danach einen Hebel zu drücken, der dann einen elektrischen Impuls ins klettern
»Lustzentrum« sendet
80 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
ben, dass Suchterkrankungen wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder Essstörungen mit un-
kontrollierten Essattacken (Bulimie) von einem Belohnungsdefizitsyndrom stammen könnten,
also von einem angeborenen Defizit im Aufbau des Gehirnsystems für Glück und Wohlbefinden.
Menschen mit dieser Störung greifen laut dieser Theorie nach allem, was ihnen ein wenig Befrie-
digung verspricht oder wenigstens die negativen Gefühle vermindert (Blum et al. 1996).
Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum er für das Gehirn des
Menschen so wichtig ist.
Zerebraler Kortex (cerebral cortex): die kom- Die älteren Netze im Gehirn unterstützen die grundlegenden Lebensfunktionen und machen
plizierte Struktur miteinander verbundener Ner- Gedächtnis, Emotionen und elementare Triebe erst möglich. Die neueren neuronalen Netze in den
venzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das
Hirnhälften bilden spezialisierte Arbeitsgruppen, die es uns ermöglichen, wahrzunehmen, zu
oberste Steuerungs- und Informationsverarbei-
tungszentrum des Körpers.
denken und zu sprechen. Der zerebrale Kortex ist eine komplizierte Struktur, die aus miteinander
verbundenen Neuronen besteht und wie die Rinde eines Baumes als dünne Oberflächenschicht
die zerebralen Hemisphären bedeckt. Er ist das oberste Steuerungs- und Informationsverarbei-
tungszentrum des Körpers. (In . Abb. 2.23 ist dargestellt, wo sich der zerebrale Kortex, aber auch
andere Hirnareale befinden, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.)
Mit der Entwicklung des zerebralen Kortex wird der starke Einfluss der Gene abgeschwächt,
. Abb. 2.23. Gehirnstrukturen und ihre
und die Anpassungsfähigkeit des Organismus wächst. Frösche und andere Amphibien haben
Funktionen
2.4 · Gehirn
81 2
einen kleinen Kortex und handeln starr nach genetischen Vorgaben. Der größere Kortex der Säu- Die Menschen, die als Erste das Gehirn präpa-
getiere schafft die Voraussetzung für bessere Lern- und Denkfähigkeiten und ermöglicht es ihnen, rierten und benannten, benutzten die Sprachen
der Gelehrten, Latein und Griechisch. Die Namen
anpassungsfähiger zu werden. Was uns zum Menschen macht, ist vor allem auf die Komplexität
sind ein Versuch, das Benannte anschaulich zu
des zerebralen Kortex, der denkenden Krone unseres Gehirns, zurückzuführen. beschreiben: Zum Beispiel bedeutet Kortex »Rin-
de«, Zerebellum bedeutet »kleines Gehirn« und
Struktur des Kortex Thalamus »inneres Zimmer«.
Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex.
Wenn Sie einen menschlichen Schädel öffnen würden und einen Blick auf das darunter liegende
Gehirn werfen könnten, würden Sie ein gefurchtes Organ sehen, das ungefähr wie ein riesiger
Walnusskern aussieht. Die beiden ballonförmigen Hirnhälften, die vor allem aus axonalen Verbin-
dungen zwischen der Oberfläche und anderen Bereichen des Gehirns bestehen, machen 80% des
Gehirngewichts aus. Der zerebrale Kortex – die dünne Oberflächenschicht der Hirnhälften enthält
20–23 Mrd. Nervenzellen (eine Schätzung, die auf der Untersuchung einer Auswahl von quadrat-
millimetergroßen Säulen aus kortikalem Gewebe beruht [de Courten-Myers 2002]).
Diese Milliarden Nervenzellen werden von 9-mal so vielen spinnenförmigen Gliazellen ge- Gliazellen (glial cells): Zellen innerhalb des
stützt. Gliazellen sind »Klebezellen«, die neuronale Verbindungen stützen, Mark (oder Myelin) für Nervensystems, die die Neuronen stützen, er-
nähren und schützen.
die Ernährung und Isolierung der Nervenzellen zur Verfügung stellen und Ionen und Neurotrans-
mitter aufnehmen. Neuronen sind wie Bienenköniginnen; auf sich allein gestellt, können sie sich
nicht ernähren und ummanteln. Gliazellen sind die »Kindermädchen« der Neuronen. Neue Be-
funde deuten darauf hin, dass sie auch eine wichtige Rolle beim Lernen und Denken spielen. Sie
kommunizieren mit den Neuronen und sind dadurch möglicherweise an der Informationsweiter-
leitung und am Gedächtnis beteiligt (Travis 1994). Wenn wir die Entwicklung der Lebewesen auf
eine höhere Stufe verfolgen, so nimmt der Anteil der Glia gegenüber den Neuronen zu. Bei einer Frontallappen (frontal lobes): Teil des zere-
kürzlich an Einsteins Gehirn durchgeführten Untersuchung fand man nicht mehr oder größere bralen Kortex, der direkt hinter der Stirn liegt.
Neuronen als gewöhnlich, sondern es zeigte sich eine viel stärkere Konzentration der Glia, als man Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und
sie üblicherweise im Kopf eines Menschen findet (Fields 2004). an der Planung und Urteilsfindung.
Beim Betrachten des menschlichen Gehirns fiele Ihnen wohl zunächst die gefurchte Oberflä-
Parietallappen (parietal lobes): Teil des zere-
che des zerebralen Kortex auf. Die Furchen verbergen zwei Drittel der Oberfläche und vergrößern bralen Kortex, der oben und hinten am Kopf
dadurch die Gesamtfläche des Gehirns. Zöge man den Kortex auseinander, wäre die Oberfläche liegt. Erhält sensorische Signale für Berüh-
etwa so groß wie eine große Pizza. (Um eine dünne Pizza in einem Schädel unterzubringen, müss- rungen und Körperposition.
ten wir sie auch etwas verkrumpeln!) Bei Ratten und anderen niederen Säugetieren ist der Kortex
Okzipitallappen (occipital lobes): Teil des zere-
dünner und enthält weniger neuronales Gewebe (. Abb. 2.24).
bralen Kortex, der am Hinterkopf liegt. Umfasst
Jede Hirnhemisphäre ist in vier Lappen geteilt, sozusagen geographische Unterteilungen, die den visuellen Kortex, in dem visuelle Informa-
durch herausragende Furchen (Fissuren) oder Falten getrennt werden (. Abb. 2.25). Wenn man tionen aus dem gegenüberliegenden Blickfeld
an der Vorderseite des Gehirns beginnt und dann über den Scheitel weitergeht, trifft man zunächst ankommen.
auf die Frontallappen (Stirnlappen; hinter der Stirn), dann auf die Parietallappen (Scheitellappen;
Temporallappen (temporal lobes): Teile des
oben und hinten), die Okzipitallappen (Hinterhauptslappen; am Hinterkopf) und die Temporal-
zerebralen Kortex, die etwas oberhalb der
lappen (Schläfenlappen; an der Seite Ihres Kopfes, genau über den Ohren). Jeder Lappen hat Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen
zahlreiche Funktionen, und viele Funktionen machen es erforderlich, dass mehrere Hirnlappen Areale, die hauptsächlich Informationen vom
zusammenwirken. jeweils gegenüberliegenden Ohr empfangen.]
Schon vor mehr als einem Jahrhundert zeigten Autopsien von Menschen, die partiell gelähmt oder
stumm waren, dass Teile ihres Kortex geschädigt waren. Trotz dieser etwas unscharfen Befunde
glaubten die Wissenschaftler nicht daran, dass bestimmte Teile des Kortex festgelegte Funktionen
haben. Es wurde angenommen, dass Sprache und Bewegung auf dem gesamten Kortex repräsentiert
sind. Demnach müsste eine Schädigung in fast jedem Teil der Oberfläche zum selben Effekt führen.
Wenn man das Stromkabel durchtrennt, wird der Fernsehbildschirm schwarz; aber wir würden uns
lächerlich machen, wenn wir deswegen annähmen, die Bilder befänden sich im Kabel.
Angesichts dieser Analogie fällt uns auf, wie schnell wir uns irren können, wenn wir meinen,
Gehirnfunktionen lokalisieren zu können. An komplexen Aktivitäten wie Sprechen, Malen oder
82 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Billardspielen sind viele Gehirnareale beteiligt. Wenn wir z. B. Chormusik hören, sind die Sprach-
und die Musikzentren unseres Gehirns aktiviert. Besson et al. (1998) konnten dies aufgrund der
Untersuchung der Gehirnaktivität bei französischen Musikern, die Opernsoli ohne Instrumental-
begleitung lauschten, nachweisen. Die Gehirne der Musiker verarbeiteten Text und Melodie des
Stücks in verschiedenen Gehirnarealen, während sie die Musik als »erlesene Einheit der Vokalmu-
sik« erlebten. Zudem scheinen die prickelnden Nervenkitzel, die Musikliebhabern so viel Freude
bereiten, die gleichen Belohnungssysteme im Gehirn zu aktivieren, die durch Sexualität und gutes
Essen stimuliert werden (Weinberger 2004). Wie bei anderen komplexen Aktivitäten und Erfah-
rungen sind bei der Musik mehrere Gehirnareale einbezogen.
2.4 · Gehirn
83 2
Motorische Funktionen
Einfachere Gehirnfunktionen konnten jedoch von Wissenschaftlern lokalisiert werden. Die deut-
schen Ärzte Gustav Fritsch und Eduard Hitzig machten z. B. eine wichtige Entdeckung, als sie 1870
die Kortizes von Hunden leicht elektrisch stimulierten: Sie konnten verschiedene Körperteile
dazu veranlassen, sich zu bewegen. Die Effekte traten nur dann auf, wenn eine bestimmte bogen-
förmige Region am hinteren Teil des Frontallappens stimuliert wurde, die von Ohr zu Ohr über
die Spitze des Kopfs reicht, der motorische Kortex (. Abb. 2.26). Darüber hinaus zeigte sich, dass Motorischer Kortex (motor cortex): hinterer Teil
die Stimulation eines Teils dieser Region auf der linken oder rechten Hemisphäre zur Bewegung des Frontallappens, der die Willkürbewegung
steuert.
der Extremität auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers führte.
S. 114). Wissenschaftler bewerkstelligten es auch, die Armbewegung eines Affen eine Zehntel-
sekunde im Voraus vorherzusagen: Sie hatten wiederholt die Aktivität im motorischen Kortex
unmittelbar vor spezifischen Bewegungen gemessen (Gibbs 1996).
Neuronale Prothetik
Wenn wir ein Gehirn belauschen könnten, könnten wir es dann vielleicht einem gelähmten Men-
schen ermöglichen, die Gliedmaßen eines Roboters zu bewegen oder einen Cursor zu steuern, um
2 eine E-Mail zu schreiben oder im Internet zu surfen? Um das herauszufinden, implantierten die
Forscher an der Brown University bei drei Affen 100 kleine Elektroden in die motorischen Kor-
tizes (Nicolelis u. Chapin 2002; Serruya et al. 2002). Die Affen benutzten einen Joystick, um ein
rotes Zielobjekt zu verfolgen (um Belohnungen zu erhalten); gleichzeitig brachten die Wissen-
schaftler die Signale aus dem Gehirn mit den Pfotenbewegungen in einen Zusammenhang. Dann
speisten sie das gefundene Muster in ein Computerprogramm ein und ließen den Computer den
Joystick steuern. Wenn ein Affe nur an eine Bewegung dachte, bewegte der Gedanken lesende
Computer den Cursor mit fast derselben Genauigkeit wie der Affe.
. Abb. 2.27. Sieg des Geistes über die Materie
In der neueren Forschung wurden nicht die Botschaften der Motoneuronen aufgezeichnet, die
Kann man allein durch Denken dafür sorgen, dass
etwas geschieht? Ein Forscherteam am California
die Pfote des Affen unmittelbar steuern, sondern die aus einem Gehirnareal, das an Planung und
Institute of Technology, das von Sam Musallam Absicht beteiligt ist (Musallam et al. 2004). Während die Affen auf einen Hinweisreiz warteten, der
geleitet wurde, implantierte Elektroden in einer sie aufforderte, auf einen Punkt zu zeigen (um Saft als Belohnung zu bekommen), der an einer von
Region des Parietallappens und zeichnete die neu- bis zu acht möglichen Stellen auf dem Bildschirm aufgeblitzt war, zeichnete ein Computerpro-
ronale Aktivität auf, als ein Affe plante, nach etwas
gramm ihre neuronale Aktivität auf. Dadurch, dass die Gedanken lesenden Forscher die Gehirn-
zu greifen. Nach Speicherung des Programms in
einem Computer machte es diese Aktivität dann
aktivität mit der anschließenden Zeigebewegung des Affen in Zusammenhang brachten, konnten
möglich, dass der Affe nur, indem er daran dachte, sie nun einen Cursor so programmieren, dass er sich in Reaktion auf die Gedanken des Affen
einen Cursor auf dem Bildschirm bewegte bewegte (. Abb. 2.27). Der Affe denkt, der Computer handelt.
2004 erteilte die U.S. Food and Drug Administration die Genehmigung für den ersten kli-
nischen Versuch mit neuronaler Prothetik bei gelähmten Menschen (Pollack 2004). Der erste
Patient, ein 25 Jahre alter gelähmter Mann, ist jetzt imstande, mental ein Fernsehgerät zu steuern,
auf einem Computerbildschirm Formen zu zeichnen und Videospiele zu spielen – das alles dank
eines Chips, der so groß ist wie eine Aspirintablette und auf dem sich 100 Mikroelektroden befin-
den, die die Aktivität in seinem motorischen Kortex registrieren (Patoine 2005).
Sensorische Funktionen
Der motorische Kortex sendet Informationen zu den Körperteilen. Aber wo im Kortex kommen
die eingehenden Nachrichten an? Penfield (1969, 1975) machte einen kortikalen Bereich aus, der
darauf spezialisiert ist, Informationen von den Sinnesrezeptoren der Haut und über die Bewegung
von Körperteilen zu empfangen. Dieses Gebiet, das sich neben dem motorischen Kortex und
Sensorischer Kortex (sensory cortex): vorderer direkt dahinter im Parietallappen befindet, wird heute als sensorischer Kortex bezeichnet
Teil des Parietallappens, in dem die Empfindun- (. Abb. 2.26). Stimuliert man einen Punkt dieses Teils des Kortex mit Elektroden, berichtet die
gen für Körperberührungen und Bewegungen
Versuchsperson vielleicht, dass sie an der Schulter berührt worden sei, bei der Stimulierung eines
registriert und verarbeitet werden.
anderen Punkts fühlt sie möglicherweise eine Berührung im Gesicht.
Je sensibler ein Bereich des Körpers ist, desto größer ist der Abschnitt des sensorischen
Kortex, der diese Region repräsentiert; so sind Ihre über die Maßen sensiblen Lippen z. B. mit
einem größeren Gebiet verbunden als Ihre Zehen (. Abb. 2.26; das ist auch einer der Gründe,
warum wir mit den Lippen küssen, statt uns mit den Zehen zu berühren). Ähnlich ist es bei
Ratten, bei denen sich ein großer Teil des Gehirns den Berührungsempfindungen der Schnurr-
haare widmet, bei Eulen, bei denen es vor allem um die Hörempfindung mit Hilfe der Ohren geht
und so weiter.
In der Forschung wurden weitere Kortexareale entdeckt, die Signale von den anderen Sinnen
als dem Berührungssinn bekommen. In diesem Augenblick erreichen visuelle Informationen
Ihren Okzipitallappen im hinteren Teil Ihres Gehirns (. Abb. 2.28). Durch einen Schlag auf diese
Stelle könnten Sie, wenn er stark genug ist, blind werden. Würden Sie aber dort stimuliert, sähen
Sie Lichtblitze und Farben. (Also ist es doch wahr, wir haben Augen hinten im Kopf!) Von Ihrem
Okzipitallappen aus werden die visuellen Informationen nun in andere Gehirnareale weitergelei-
tet, die darauf spezialisiert sind, Wörter zu buchstabieren, den Gesichtsausdruck zu interpretieren
oder ein Gesicht wiederzuerkennen.
2.4 · Gehirn
85 2
Assoziationsfelder
Bis jetzt haben wir uns mit den kortikalen Arealen befasst, die entweder sensorische Signale emp- Assoziationsfelder (association areas): Bereiche
fangen oder Signale an die Muskeln aussenden. Beim Menschen bleiben noch drei Viertel des des zerebralen Kortex, die nicht an den primären
und sekundären motorischen und sensorischen
gefurchten Materials im zerebralen Kortex übrig, die nicht direkt an sensorischer oder Muskel-
Funktionen beteiligt sind, sondern an höheren
aktivität beteiligt sind. Was geschieht dann in diesem großen Bereich des Gehirns? Die Nerven- geistigen Fähigkeiten wie Lernen, Erinnern, Den-
zellen in diesen Assoziationsfeldern (die hellrosa hervorgehobenen Gebiete in . Abb. 2.30) führen ken und Sprechen.
Informationen zusammen. Sie bringen sensorische Signale in einen Zusammenhang mit dem
gespeicherten Wissen – ein entscheidender Bestandteil des Denkprozesses.
Werden die Assoziationsfelder elektrisch stimuliert, zeigt sich keine beobachtbare Reaktion.
Deshalb können wir – im Gegensatz zu den sensorischen und motorischen Arealen – die Funk-
tionen dieser Gebiete nicht so eindeutig angeben. Ihre scheinbare Ruhe führte wohl zu der be- . Abb. 2.30. Kortexareale von vier Säugetieren
rühmten Aussage der Populärpsychologie, die ebenso weit verbreitet wie falsch ist: nämlich dass Intelligentere Tiere haben im Kortex erweiterte »un-
verbundene« Bereiche oder Assoziationsfelder. Diese
wir normalerweise nur 10% unseres Gehirns benutzen (als wäre die Chance 90%, dass eine Kugel
ausgedehnten Areale des Gehirns haben die Auf-
Ihr Gehirn in einem Areal trifft, das Sie nicht nutzen). Dieses Märchen, »eines der hartnäckigsten gabe, die Informationen, die von den sensorischen
Unkräuter im Garten der Psychologie«, wie es McBurney (1996, S. 44) formulierte, unterstellt, dass Kortizes aufgeschlüsselt und verarbeitet wurden,
wir, wenn wir es nur schafften, auch die restlichen 90% unseres Kortex zu aktivieren, viel klüger zu integrieren und in Handlung umzusetzen
86 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
sein könnten als jene, die mit nur 10% ihrer Leistungsfähigkeit des Gehirns dahinvegetieren. Aber
anhand von chirurgisch läsionierten Tieren und von Menschen mit Hirnschäden wurde nachge-
wiesen, dass die Assoziationsfelder beileibe nicht schlafen. (Das Gehirn hat keinen »Blinddarm«,
es enthält also kein offensichtlich verzichtbares Gewebe.) Wenn man zudem annimmt, dass das
Sprache
Aphasie (aphasia): Sprachstörung, die norma- Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass Sie diesen Satz vorlesen.
lerweise durch eine Schädigung der linken He-
misphäre, entweder im Broca-Zentrum (gestörte Nehmen wir einmal diesen seltsamen Befund: Eine Schädigung vieler verschiedener Gehirnareale
Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Sprachzent- kann zur Aphasie führen, bei der Teilfunktionen der gesprochenen Sprache verloren gehen. Noch
rum (gestörtes Sprachverständnis) entsteht. viel interessanter ist, dass einige Menschen mit Aphasie zwar flüssig reden, aber nicht lesen können
2.4 · Gehirn
87 2
(obwohl sie auch gut sehen können!), während andere zwar lesen, aber nicht sprechen können.
Wieder andere können schreiben, aber nicht lesen, Zahlen erkennen, aber keine Buchstaben, oder
singen, aber nicht sprechen. Das ist verwirrend, denn eigentlich glauben wir ja, dass all diese
Fähigkeiten, also sprechen und lesen, schreiben und lesen oder singen und sprechen insgesamt
Aspekte einer einzigen Fähigkeit sind. Doch auf welche Weise entschlüsselten Wissenschafter das
Rätsel, wie wir Sprache verwenden? Hier einige Anhaltspunkte, die so gut zusammenpassen wie
die Legobausteine in einem Spielzeughaus:
4 1865 beschrieb der französische Arzt Paul Broca, dass nach der Schädigung eines bestimmten Broca-Zentrum (Broca’s area): steuert den
Teils des linken Frontallappens (später als Broca-Zentrum bezeichnet) der betroffene Patient sprachlichen Ausdruck; Teil des Frontalkortex,
meist in der linken Hemisphäre; steuert die
beim Sprechen um jedes Wort ringen muss, während er weiterhin fähig ist, bekannte Lieder
Muskelbewegungen, die an der Lautbildung
zu singen und zu verstehen, was gesprochen wird. beteiligt sind.
4 1874 entdeckte der deutsche Wissenschaftler Carl Wernicke, dass die Schädigung eines be-
stimmten Teils des linken Temporallappens (des Wernicke-Sprachzentrums) dazu führte, Wernicke-Sprachzentrum (Wernicke’s area):
dass die Patienten nur sinnlose Sätze von sich gaben. Bat man sie, ein Bild zu beschreiben, das steuert die Aufnahme von Sprache; Bereich des
Gehirns, der am Sprachverstehen und am
zeigte, wie zwei Jungen einer Frau hinter dem Rücken Kekse klauten, sagten sie nur: »Die
sprachlichen Ausdruck beteiligt ist und sich
Mutter ist weg von der Arbeit bei ihrer Arbeit, damit es ihr besser geht; aber wenn sie die meist im linken Temporallappen befindet.
beiden Jungen ansieht, schauen die in die andere Richtung. Dann arbeitet sie wieder mal«
(Geschwind 1979).
4 Später stellte sich heraus, dass, wenn wir etwas vorlesen, ein dritter Teil des Gehirns beteiligt
ist. Der Gyrus angularis erhält visuelle Informationen vom visuellen Kortex und wandelt sie in
auditorische Informationen um, die das Wernicke-Sprachzentrum benötigt, um die Bedeu-
tung entschlüsseln zu können.
4 Nervenfasern verbinden diese Gehirnareale miteinander.
Norman Geschwind integrierte all diese Befunde in eine Theorie, die erklärt, wie wir Sprache
verwenden. Wenn Sie etwas vorlesen, werden (1.) die Wörter zunächst im visuellen Kortex wahr-
genommen (. Abb. 2.32 und 2.33), dann (2.) zu einem zweiten Gehirnareal weitergeleitet, zum
Gyrus angularis, der sie in einen auditorischen Code umwandelt. Dieser wird (3.) vom Wernicke-
Sprachzentrum empfangen und entschlüsselt und schließlich (4.) zum Broca-Zentrum weiterge-
leitet, das (5.) den motorischen Kortex stimuliert, wenn er die Aussprache des Wortes hervor-
bringt. Je nachdem, welches Glied in dieser Kette ausfällt, entsteht eine andere Form der Aphasie.
Eine Verletzung des Gyrus angularis beeinträchtigt nur die Lesefähigkeit, nicht aber die Sprach-
fähigkeit und das Sprachverstehen, während eine Schädigung des Wernicke-Sprachzentrums zur
Störung des Sprachverstehens führt.
Plastizität (plasticity): Fähigkeit des Gehirns Das Gehirn bildet sich nicht nur durch unsere Gene, sondern auch durch unsere Erfahrungen.
sich anzupassen, wie sie z. B. in der neuronalen In 7 Kap. 3 werden wir uns stärker darauf konzentrieren, wie die Erfahrung das Gehirn formt.
Reorganisation nach einer Verletzung (vor allem
Doch lassen Sie uns jetzt zu Befunden aus Studien kommen, die sich mit der Plastizität des Ge-
bei Kindern) oder in Experimenten zur Auswir-
kung der Erfahrung auf die Gehirnentwicklung hirns befassen, seiner Fähigkeit also, sich nach einer bestimmten Art von Schädigung selbst zu
deutlich wird. verändern.
Die meisten beschädigten Neuronen werden sich nicht wieder neu bilden (wäre z. B. Ihr Rük-
kenmark durchtrennt worden, würden Sie für immer gelähmt bleiben). Und einige Hirnfunktio-
nen scheinen von vorne herein bestimmten Arealen zugewiesen zu werden. Ein Neugeborenes,
das eine Hirnschädigung in Arealen erlitt, die in beiden Temporallappen für die Gesichtserken-
nung zuständig sind, erlangte nie wieder die normale Fähigkeit, Gesichter zu erkennen (Farah et
al. 2000). Doch einige Neuronen können sich nach einer Verletzung reorganisieren. Dies geschieht
bei uns allen, wenn sich das Gehirn in Reaktion auf eine Schädigung selbst repariert. Nach einer
2.4 · Gehirn
89 2
Könnten wir so vielleicht eines Tages geschädigte Gehirne wieder aufbauen, so wie wir einen zer-
störten Rasen durch neue Samen auffrischen? Könnten neue Medikamente zur Produktion neuer
Nervenzellen anregen? Und wollen wir das? – In Deutschland wird die Stammzellenforschung Aus Stroh mach Gras
äußerst kontrovers diskutiert. Die Firmen in Bereich der Biotechnologie arbeiten jedenfalls mit Gratulation, Herr Kollege – Ihre Therapie scheint
vollem Einsatz an diesen Möglichkeiten (Gage 2003). Erfolg zu haben!
90 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und erklären Sie, wie sie zu
einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und linken Hirnhälfte beiträgt.
Seit mehr als einem Jahrhundert gibt es Hinweise darauf, dass unsere beiden Gehirnhälften unter-
schiedliche Funktionen haben. Unfall, Schlaganfall oder Tumor in der linken Hemisphäre bewir-
2 ken i. Allg. Funktionsstörungen im Zusammenhang mit dem Lesen, Schreiben, Sprechen, Argu-
»Mit der rechten Hemisphäre würden Sie nicht so mentieren bei Rechenaufgaben und im Zusammenhang mit dem Verstehen von Zusammenhän-
gern ausgehen.« gen. Ähnliche Läsionen in der rechten Hemisphäre haben nur selten solche dramatischen
Michael Gazzaniga (2000) Auswirkungen.
Um 1960 wurde die linke Gehirnhälfte als die »dominante« oder »überlegene« Hälfte beschrie-
ben, während ihr stiller Begleiter, die rechte Hemisphäre, als »unterlegen« oder »weniger wichtig«
galt. Dann fanden die Forscher heraus, dass die »weniger wichtige« rechte Hemisphäre in ihrer
Funktion doch nicht so eingeschränkt ist, wie immer angenommen wurde. Die Geschichte dieser
Entdeckung ist ein weiteres spannendes Kapitel der Geschichte der Psychologie.
Hemisphärentrennung
1961 stellten zwei Neurochirurgen aus Los Angeles, Philip Vogel und Joseph Bogen, die Hypo-
these auf, dass viele epileptische Anfälle auf eine Veränderung der Gehirnaktivität zurückgehen,
bei der es zu einem regen Austausch zwischen den beiden Hemisphären kommt. Sie fragten sich,
ob sie die Anzahl der epileptischen Anfälle bei Patienten mit unkontrollierbarer Epilepsie ver-
ringern könnten, wenn sie die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften kappten. Dazu
Corpus callosum (auch Balken; corpus callo- mussten Vogel und Bogen das Corpus callosum durchtrennen, das breite Band aus Axonfasern,
sum): breites Band aus Nervenfasern, das die durch das die beiden Hemisphären miteinander verbunden sind (. Abb. 2.35).
beiden Gehirnhälften miteinander verbindet
Die Chirurgen hatten Hinweise darauf, dass eine solche Operation für den Patienten keinen
und über das Informationen weitergeleitet
werden. Funktionsverlust mit sich bringen würde. Die Psychologen Roger Sperry, Ronald Myers und
Michael Gazzaniga hatte Katzen- und Affengehirne durchtrennt, ohne dass sich Anzeichen für
Behinderungen zeigten. Also operierten die Chirurgen Vogel und Bogen Menschen. Und was war
Split-Brain-Patienten (split-brain patients): das Ergebnis? Die Anfälle traten viel seltener auf, und die sog. Split-Brain-Patienten waren über-
Personen, bei denen die beiden Gehirnhälften raschend normal; ihre Persönlichkeit und ihr Intellekt schienen kaum betroffen zu sein. Ein Pa-
voneinander getrennt sind (»gespaltenes Ge-
tient konnte sogar nach dem Aufwachen aus der Narkose das Späßchen machen, dass er »geteilte
hirn«), nachdem die sie verbindenden Fasern,
vor allem die des Corpus callosum, durchge- Kopfschmerzen« habe (Gazzaniga 1967).
schnitten wurden. Nur zehn Jahre vorher hatte der Neuropsychologe Karl Lashley den Witz gemacht, dass der
Balken nur dazu da sei, »die beiden Hemisphären vor Durchhängern zu bewahren«. Die genialen
Experimente von Sperry und Gazzaniga bewiesen jedoch, dass dieses breite Band, das mehr als
200 Mio. Nervenfasern enthält und fähig ist, mehr als eine Mrd. Informationseinheiten pro Sekun-
a
2.4 · Gehirn
91 2
de zwischen den Hemisphären hin und her zu leiten, . Abb. 2.36. Informationsbahnen vom Auge
eine viel wichtigere Funktion hat. Studien mit Split- zum Gehirn
Die Informationen aus der linken Hälfte Ihres
Brain-Patienten, den »interessantesten Menschen der
Blickfeldes werden in der rechten Gehirnhälfte
Welt«, gaben uns einen Schlüssel zum Verständnis repräsentiert und die aus der rechten Hälfte des
der komplementären Funktionen der beiden Hemi- Blickfelds in der linken Gehirnhälfte, wo norma-
sphären. lerweise auch die Sprache repräsentiert ist.
Wie . Abb. 2.36 zeigt, konnten die Forscher dank (Trotzdem ist es so, dass jedes Auge Informatio-
nen aus dem rechten und linken Blickfeld er-
der seltsamen Verkabelung unseres visuellen Systems
hält.) Die Daten, die in einer Hemisphäre an-
in die linke oder in die rechte Hemisphäre des Pa- kommen, werden dann sehr schnell über das
tienten gezielt Informationen einspeisen. Dazu muss- Corpus callosum zur anderen Hemisphäre über-
te der Patient auf einen Punkt schauen, dann wurde mittelt. Dies geschieht allerdings nicht mehr,
links oder rechts davon ein kurzer Stimulus ein- wenn das Corpus callosum bei einem Menschen
beschädigt ist
geblendet. Man könnte das auch mit Ihnen machen,
aber in Ihrem intakten Gehirn würde die Hemisphä-
re, die die Information empfängt, der Nachbarin auf
der anderen Seite des Tals die Neuigkeit sofort weiter-
erzählen. Doch die Split-Brain-Operation hatte das
Telefonkabel zur anderen Talseite gekappt: das Cor-
pus callosum. Dadurch wurde es den Wissenschaft-
lern möglich, jede Hemisphäre einzeln zu befragen.
In einem frühen Experiment bat Gazzaniga die
Split-Brain-Patienten, einen Punkt auf einem Bild-
schirm zu betrachten, und blendete HE•ART ein
(. Abb. 2.37). HE erschien im linken Blickfeld (das
mit der rechten Hemisphäre verbunden ist) und ART
im rechten (verbunden mit der linken Gehirnhälfte).
Als die Patienten dann gefragt wurden, was sie gese-
hen hatten, sagten sie, dass sie das Wort ART gesehen
hatten. Wenn sie jedoch gebeten wurden, auf das
Wort zu zeigen, waren sie selbst erstaunt darüber, dass
ihre linke Hand (von der rechten Hemisphäre ge-
steuert) auf das Wort HE zeigte. Gibt man jeder He-
misphäre einzeln die Möglichkeit sich auszudrücken,
teilt sie nur das mit, was sie wahrgenommen hat. Die rechte Hirnhälfte, die die linke Hand steuert,
wusste genau, was »ihre« Hemisphäre gesehen hatte, auch wenn sie es nicht verbal ausdrücken
konnte.
Als man der rechten Gehirnhälfte der Patienten das Bild eines Löffels »zeigte«, konnten die
Patienten nicht sagen, was sie gesehen hatten. Doch konnten sie den Löffel, der in einem Haufen
verschiedener Gegenstände versteckt war, mit der linken Hand ertasten und herausziehen. Wenn
der Versuchsleiter den Patienten dann lobte, hätte die Antwort lauten können: »Was? Richtig? Wie
ist es möglich, dass ich den richtigen Gegenstand aufnehme, wenn ich nicht einmal weiß, was ich
gesehen habe?« Hier spricht natürlich die linke Hemisphäre, die sich darüber wundert, was die
nonverbale rechte Hemisphäre weiß.
2 Einige Menschen, die sich einer Split-Brain-Operation unterzogen hatten, waren für einige
Zeit von der ungewöhnlichen Unabhängigkeit ihrer linken Hand beunruhigt. Es konnte ihnen
passieren, dass die linke Hand ein Hemd aufknöpfte, das die rechte Hand gerade zugeknöpft hat-
te, oder im Supermarkt Sachen wieder ins Regal stellte, die von der rechten Hand gerade in den
Wagen gelegt worden waren. Es erschien, als ob jede Hemisphäre unabhängig für sich dachte: »Ich
meine zur Hälfte, dass ich heute mein blaues (oder eben zur anderen Hälfte: mein grünes) Hemd
tragen sollte.« Es ist laut Sperry (1964) tatsächlich so, dass die Split-Brain-Chirurgie Menschen mit
BBC
»zwei einzelnen Gehirnen« erschafft. Mit voneinander abgetrennten Hirnhälften können beide
. Abb. 2.38. Versuchen Sie das mal! Hemisphären eine Anweisung verstehen und ihr folgen, dass sie – gleichzeitig – unterschiedliche
Joe, ein Split-Brain-Patient, kann gleichzeitig zwei
Figuren mit der linken und mit der rechten Hand nachzeichnen sollen (Franz et al. 2000; . Abb.
verschiedene Formen malen
2.38). (Als ich diese Berichte las, stellte ich mir vor, wie ein Split-Brain-Patient mit sich allein das
Spiel »Schere – Stein – Papier« spielt, und zwar linke gegen rechte Hand.)
»… lass deine linke Hand nicht wissen, was deine ? Dazu folgende Frage: Wenn wir der rechten Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten ein rotes
rechte tut.« Licht zeigen und der linken ein grünes Licht, würde dann jede Hemisphäre ihre eigene Farbe
Matthäus 6, Vers 3
wahrnehmen? Wüsste der Betreffende, dass sich die Farben unterscheiden? Was würde diese
Person antworten, wenn sie gefragt würde, was sie gesehen hat? (7 Antwort 2.2 am Ende des
Kapitels)
Wenn die »beiden Gehirne« voneinander getrennt sind, versucht die linke Gehirnhälfte verzwei-
felt, die Geschehnisse zu erklären, die das Gehirn nicht verstehen kann. Wenn der Patient also
einer Anweisung folgt, die der rechten Hemisphäre gegeben wurde (»Geh!«), wird sich die linke
Hemisphäre eine Erklärung ausdenken (»Ich möchte ins Haus gehen, um mir eine Cola zu holen«).
Daraus schloss Gazzaniga (1988), dass das Bewusstsein in der linken Hemisphäre als »Interpret«
immer wieder Theorien aufstellt, die unser Verhalten erklären sollen. Im Gegensatz zum unbe-
wussten Teil unseres Denkens, der unser Leben steuert, wie ein Autopilot, der einen Jumbojet
fliegt, handelt das Bewusstsein wie der Pilot, der nur ab und an das Steuer ergreift. Es handelt aber
auch eher wie die Pressestelle des Denkens (und manchmal auch als Geschichtenerzähler) – also
Wer sieht glücklicher aus? die Stelle, die nach außen Entscheidungen erklärt, die hinter verschlossenen Türen getroffen wur-
Schauen Sie zuerst auf den Mittelpunkt eines der
den (Wegner 2002; Wilson 2002). Diese Berichte veranschaulichen ein Kernkonzept, auf das wir
beiden Gesichter, dann auf den des anderen. Sieht
eines glücklicher als das andere aus? Die meisten im ganzen Buch immer wieder zurückkommen werden. Das unbewusste Gehirn kann unser
Menschen sagen, das rechte sähe glücklicher aus. Verhalten steuern – ohne unser bewusstes Zutun und unseren bewussten Willen.
Manche Forscher erklären das damit, dass die rech- Diese Experimente zeigen, dass die linke Hemisphäre aktiver ist, wenn eine Person über Ent-
te Hemisphäre, mit der Gefühle wahrgenommen scheidungen nachdenkt (Rogers 2003). Die rechte Hemisphäre versteht einfache Anweisungen
werden, die Informationen über das linke Auge und
und nimmt Gegenstände problemlos wahr; sie ist stärker beteiligt, wenn es um schnelle, intuitive
damit in erster Linie zum vom Betrachter aus linken
Teil des zu betrachtenden Gesichts erhält, wenn der Reaktionen geht. Die rechte Seite des Gehirns übertrifft die linke auch beim Nachzeichnen von
Mittelpunkt des Gesichtes fokussiert wird Bildern, und auch beim Erkennen von Gesichtern, bei der Wahrnehmung von Unterschieden und
Gefühlen sowie auch darin, Gefühle auszudrücken (mit der linken Gesichtshälfte). Wenn die
rechte Hirnhälfte geschädigt ist, ist die Verarbeitung von Emotionen und das Sozialverhalten in
starkem Maße beeinträchtigt (Tranel et al. 2002).
Die meisten Organe, die im Körper doppelt existieren, also Nieren, Lungen, Brüste, haben
dieselbe Funktion, sodass es immer Ersatz gibt, wenn eine Seite ausfallen sollte. Bei den bei-
den Gehirnhälften ist das nicht so. Bei ihnen kann jede Hälfte unterschiedliche Funktionen
erfüllen, ohne dass die Anstrengung wirklich verdoppelt werden muss. Das Ergebnis ist ein
biologisch seltsames, aber schmuckes Paar, bei dem jede Hälfte anscheinend ihren eigenen
Willen hat.
2.4 · Gehirn
93 2
Unterschiede der beiden Hemisphären im intakten Gehirn
Aber was ist mit den mehr als 99,99% der Menschen, die ein ungeteiltes Gehirn haben? Sind auch
unsere Gehirnhälften ähnlich spezialisiert wie die der Split-Brain-Patienten? Die Antwort lautet
ja. Dabei ist jedoch die Warnung angebracht, dass diese Befunde nicht überschätzt werden sollten
(7 Kritisch nachgefragt: Über das linke und das rechte Gehirn).
Wenn eine Versuchsperson z. B. eine Aufgabe ausführt, die etwas mit Wahrnehmung zu tun
hat, zeigen die Gehirnwellen, der Blutfluss und der Glukoseverbrauch eine verstärkte Aktivität
der rechten Gehirnhälfte; wenn sie aber spricht oder rechnet, ist vor allem die linke Hemisphäre
aktiviert.
Wenn man magnetische Stimulierung einsetzt, um die Aktivität der linken oder der rechten
Hirnhälfte zeitweilig zu unterbrechen (Knecht et al. 2002), oder eine ganze Hemisphäre kurzzei-
tig sediert, kann man die hemisphärische Spezialisierung (die man als Lateralisierung bezeichnet)
noch klarer veranschaulichen. Um vor einer Operation festzustellen, wo im Gehirn eines Pa-
tienten die Sprache repräsentiert ist, kann ein Arzt Sedativa in die Nackenarterie des Patienten
injizieren, die die Hemisphäre auf ihrer Seite mit Blut versorgt. Bevor das Medikament gegeben
wird, legt sich der Patient hin und streckt die Arme in die Luft, dabei unterhält er sich mit den
Anwesenden. Sie können wahrscheinlich vorhersagen, was passiert, wenn das Medikament zu
wirken beginnt und es in die linke Gehirnhälfte strömt. Schon nach wenigen Sekunden fällt der
rechte Arm des Patienten herab. Falls die Sprache in seiner linken Hemisphäre repräsentiert ist,
verstummt er, bis die Wirkung des Medikaments abnimmt. Wird das Medikament aber in die
Arterie injiziert, die die rechte Hemisphäre versorgt, fällt der linke Arm herunter, aber der Patient
kann immer noch sprechen. »Schläft« die rechte Hemisphäre, ist es für die meisten Patienten
schwerer, sich selbst auf einem verzerrten Foto zu erkennen, als mit einer betäubten linken He-
misphäre (Keenan 2001).
Noch weitere Experimente bestätigen die Spezialisierung der Hemisphären. Zum Beispiel er-
kennen die meisten Menschen ein Bild schneller und sicherer, wenn es direkt (über das linke
Gesichtsfeld) in ihre rechte Hemisphäre geleitet wird. Wörter dagegen werden besser mit der lin-
ken Hemisphäre erkannt. Wird das Wort aber in ihre rechte Gehirnhälfte geleitet, braucht die
Wahrnehmung einige Bruchteile von Sekunden länger, genau die Zeit, die benötigt wird, um eine
Information über das Corpus callosum in die auf Sprache spezialisierte linke Gehirnhälfte weiter-
zuleiten.
Welche Hemisphäre ist Ihrer Meinung nach für die Gebärdensprache zuständig, die gehörlose
Menschen verwenden? Die rechte, weil sie der linken im bildlich-räumlichen Denken überlegen
ist? Oder die linke, weil sie für die Verarbeitung von Sprache zuständig ist? Studien zeigen, dass
ebenso wie Hörende gewöhnlich ihre linke Hemisphäre für das Sprachverstehen nutzen, Gehör-
lose ihre linke Gehirnhälfte für das Verstehen von Zeichen nutzen (Corina et al. 1992; Hickok et
al. 2001). Ein Schlaganfall in der linken Hemisphäre würde die Zeichensprache eines gehörlosen
Menschen genauso beeinträchtigen wie die Sprechfähigkeit eines hörenden Menschen. Das Broca-
Zentrum ist am Hervorbringen sowohl der gesprochenen Sprache als auch der Gebärdensprache
beteiligt (Corina 1998). Für das Gehirn ist Sprache Sprache, ganz gleich, ob gesprochen oder in
Gebärden.
Obwohl es die linke Hemisphäre ist, die Sprache schnell und wörtlich versteht, wird sie von
der rechten darin übertroffen, ausgeklügelte Schlussfolgerungen zu ziehen (Beeman u. Chiarello
1998; Bowden u. Beeman 1998; Mason & Just 2004). Wenn man der linken Hemisphäre das Wort
»Fuß« nur für den Bruchteil einer Sekunde als Prime (Reiz, der Erwartungen weckt) darbietet,
gelingt es ihr sehr schnell, das Wort »Ferse« zu erkennen, das mit »Fuß« eng assoziiert ist. Aber
wenn man kurzzeitig die Wörter »Fuß«, »Schrei« und »Glas« einblendet, erkennt die rechte Ge-
hirnhälfte schneller als die linke das Wort »Schnitt«, das mit den drei ersten nur entfernt assoziiert
ist. Gibt man den Versuchspersonen ein Verstehensproblem – welches Wort lässt sich mit den
folgenden verbinden: »hoch«, »Bezirk«, »Gebäude«? – kommt die rechte Hemisphäre schneller auf
die Lösung (»Schule«). Ein Patient, bei dem die rechte Hemisphäre verletzt wurde, erklärte: »Ich
verstehe die Wörter, aber nicht ihre subtile Bedeutung.« Die rechte Gehirnhälfte hilft uns auch, die
Wörter so zu betonen, dass die Bedeutung erkennbar wird. Dies geschieht z. B., wenn wir sagen:
»Ich möchte so klug wie Einstein sein!« Dies könnte sonst auch verstanden werden als: »Ich möchte
so klug wie ein Stein sein!« (abgewandelt bei Heller 1990)
94 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Wenn man die beiden Hemisphären betrachtet, die für das bloße Auge genau gleich aussehen,
vermutet man nicht, dass sie beide in ihrer eigenen Art zur Harmonie des Ganzen beitragen. Wenn
man sich jedoch die Fülle der heute vorliegenden Beobachtungen – bei Split-Brain-Patienten und
bei Menschen mit einem normalen Gehirn – ansieht, lässt sich zweifellos daraus schließen, dass
unser Gehirn ein Ganzes mit spezialisierten Teilen ist.
2 Kritisch nachgefragt
Linkshemisphärisch/rechtshemisphärisch? – Zur populärwissen- Neuigkeit und reduziert sie auf einen 30-Sekunden-Spot, mit 11 Sekun-
schaftlichen Darstellung von Forschungsergebnissen den Inhalt. Das bringt eine Zeitung darauf, den Gedanken zu überneh-
»Ein Irrtum fliegt von Mund zu Mund, von Feder zu Feder, und es dauert men und eine ähnliche Geschichte daraus zu machen, die wiederum von
Jahrhunderte, ihn auszumerzen.« einem populärwissenschaftlichen Magazin übernommen wird und
Voltaire (1694–1778) schließlich auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen landet.
Bei jedem Schritt werden die Ideen »spekulativer und weichen im-
Sie haben bestimmt Hunderte Male gehört, dass manche Menschen mer mehr vom tatsächlichen Forschungsergebnis ab. … Nach einer Wei-
typische Benutzer der linken Gehirnhälfte sind, also rational denkend le kann man das, was der Neuropsychologe ursprünglich gesagt hat, in
und logisch, andere dagegen ein Paradebeispiel für den »rechtshemi- der Kommunikationskette gar nicht mehr erkennen«, bemerkte Cohen.
sphärischen« Menschen, der kreativ und gefühlvoll ist. Aber Neurowissen- Gerüchte schießen ins Kraut und werden zu wissenschaftlichem Pseu-
schaftler hissen eine Warnflagge: Hüten Sie sich davor, solch komplexe dowissen, das »als Wahrheit akzeptiert« und in Gesprächen immer wie-
menschliche Fähigkeiten wie Wissenschaft oder Kunst in einer Hemisphä- der mit den Sätzen wiederholt wird, die mit den Worten »Wie jeder weiß
re zu vermuten! Roger Sperry sagte 1982 dazu: »Die Links-rechts-Dichoto- …« oder »Wie Wissenschaftler herausgefunden haben …« beginnen.
mie der Kognition ist eine Vorstellung, die sich ausbreitet wie Unkraut.« Und am Ende, so befürchtet Coren, sind die Stimmen, die diese öffent-
Warum werden aber in populärwissenschaftlichen Darstellungen lichen Mythen verbreiten, lauter als die der Wissenschaftler, die ihnen
die Ergebnisse zur Hemisphärenspezialisierung dermaßen aufge- widersprechen.
bauscht? In »The Left-Hander Syndrome« beschreibt Coren (1983), Psy- Die Moral aus der Geschichte ist nun aber nicht, dass Sie alles gering
chologe an der University of British Columbia, wie und warum Journa- schätzen sollten, was Sie lesen. Aber seien Sie wachsam! Reporter wollen
listen häufig wissenschaftliche Ergebnisse vereinfachen und ausschmü- natürlich, dass ihr Artikel veröffentlicht wird. Im Idealfall haben sie dabei
cken. Er erinnert sich daran, einen Vortrag von Doreen Kimura, damals das Ziel vor Augen, das darzustellen, was an einem Thema wesentlich ist
Psychologin an der University of Western Ontario in London, Ontario, – also etwas einfach und verständlich darzustellen, ohne zu vereinfa-
gehört zu haben. Kimura führte darin aus, dass Melodien, die mit dem chen. Im schlimmsten Fall machen sie aus einem Ereignis von der Größe
linken Ohr gehört werden, schneller erkannt werden, als wenn sie mit einer Mücke eine Geschichte vom Format eines Elefanten: Einige Men-
dem rechten Ohr gehört werden. Da das linke Ohr ja einen Großteil der schen sind linkshemisphärisch, die anderen rechtshemisphärisch …
Informationen an die rechte Hemisphäre sendet, schloss sie daraus, dass
bei ihren rechtshändigen Studenten die rechte Gehirnhälfte Melodien
besser erkennen konnte.
Einige Tage später war in der »New York Times« Folgendes zu lesen:
»Doreen Kimura, Psychologin aus London, Ontario, fand heraus, dass die
Musikalität eines Menschen ihren Sitz in der rechten Gehirnhälfte hat«
(Kursivsetzung nicht im Original, sie hebt die schlimmste Übertreibung
hervor). Offensichtlich von diesem Bericht abgeschrieben, berichtete
eine andere Zeitung kurz darauf, dass »die Londoner Psychologin Dr.
Doreen Kimura sagt, dass Musiker rechtshemisphärisch sind«. (Kimura
untersuchte doch Studenten, nicht Musiker!) Später stellte ein Folge-
artikel die Befunde noch verzerrter dar: »Eine britische Psychologin er-
klärt endlich, warum so viele Musiker Linkshänder sind.«
Mit Blick darauf, dass Kimura nicht aus England kommt, keine Musi-
ker untersuchte und vor allem keine Linkshänder, wiederholte Coren die
Worte eines amerikanischen Redakteurs: »Alles, was Sie in der Zeitung
S. Wahl
lesen, ist absolut wahr, bis auf den seltenen Fall einer Geschichte, von der
Sie aus erster Hand wissen«.
Linkshemiphärisch – rechtshemisphärisch
Was geschehen kann, ist Folgendes: Wenn die Information vom Wis-
Ist die Künstlerin »rechtshemisphärisch«? Solche Annahmen ignorieren die
senschaftler zum Leser weitergeleitet wird, wird sie vereinfacht und aus- Forschungsergebnisse zum Thema Gehirnhälften. Manche Bereiche der rechten
geschmückt, genauso wie alles, was von einem Mensch zum nächsten Hemisphäre sind auf einzelne Aufgaben spezialisiert, doch die beiden Hälften
weitergetratscht wird. Ein Fernsehsender stößt auf eine interessante des Gehirns arbeiten zusammen, damit der Mensch das tun kann, was er tun will
2.4 · Gehirn
95 2
Organisation des Gehirns und Händigkeit
Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des Gehirns, der Händigkeit und
der Mortalität.
Fast 90% der Menschen sind primär Rechtshänder (Medland et al. 2004). Etwa 10% (etwas mehr Die meisten Menschen nehmen den rechten Fuß
bei Männern, etwas weniger bei Frauen) sind Linkshänder. (Einige wenige Menschen schreiben zum Treten, schauen mit dem rechten Auge
durch ein Mikroskop und küssen, indem sie Kopf
mit der rechten Hand und werfen einen Ball mit der linken Hand oder umgekehrt.) Nahezu alle
und Nase nach rechts drehen (Güntürkün 2003)
(95%) Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Gehirnhälfte, die gewöhnlich etwas
größer zu sein scheint als bei Linkshändern (Springer u. Deutsch 1985). Bei Linkshändern ist es
etwas komplizierter. Bei mehr als der Hälfte ist die Sprache in der linken Hemisphäre repräsentiert,
genauso wie bei Rechtshändern. Bei etwa einem Viertel wird sie in der rechten Hemisphäre abge-
bildet; das restliche Viertel nutzt dazu beide Hemisphären.
C. Styrsky
alle der »Kopf-nach-rechts«-Babys bevorzugt ihre rechte Hand, um nach etwas zu greifen, wäh-
rend die »Kopf-nach-links«-Babys lieber ihre linke Hand benutzten. Diese Ergebnisse (zusammen
mit der Tatsache, dass weltweit Rechtshändigkeit häufiger vorkommt) sind Hinweise darauf, dass
die Händigkeit erblich ist oder durch pränatale Faktoren beeinflusst wird.
Ein Rätsel für die Wissenschaft: Der Fall der verschwindenden Linkshänder
Während er sich mit dem Thema Linkshändigkeit beschäftigte, stieß der Psychologe Stanley Coren
(1993) auf eine recht erstaunliche Tatsache: Mit dem Alter nimmt der Prozentsatz an Linkshän-
96 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
dern stark ab. In seiner ersten Stichprobe mit 5147 Personen waren 15% der 10-Jährigen, 5% der
50-Jährigen und weniger als 1% der 80-Jährigen Linkshänder (. Abb. 2.39). Forscher überall auf
der Welt bestätigten dieses Ergebnis. Voller Faszination angesichts solcher Befunde versuchten
Coren u. Halpern (1991; Halpern u. Coren 1988, 1991, 1993) eine Antwort auf die Frage zu finden,
warum dies so ist. (Wenn Sie damals an ihrer Stelle gewesen wären, welche Erklärungen wären
Ihnen eingefallen?)
Vielleicht dachten Coren und Halpern zunächst daran, Umerziehung, die viele ältere Links-
händer erlebt hatten, sei der Grund dafür, dass in der älteren Generation weniger Linkshänder zu
finden sind. Viele ältere Menschen können sich daran erinnern, wie ihre linke Hand geschlagen,
angebunden oder sogar mit Heftpflaster zu einer Faust verklebt wurde, wenn sie versuchten, sie zu
benutzen. Da die Eltern und Lehrer heutzutage immer mehr dazu neigen, Linkshändigkeit zu
akzeptieren, könnte dies erklären, warum mehr jüngere Menschen Linkshänder sind. Aber laut
amerikanischen und europäischen Studien gab es im 20. Jahrhundert nur eine Steigerung der
Linkshänderquote von 6 auf 10% der Bevölkerung (Porac et al. 1980); diese Steigerung ist aber zu
klein, um den großen Unterschied in der Häufigkeit von alten und jungen Linkshändern zu erklä-
ren. Coren und seine Mitarbeiter fanden darüber hinaus noch weitere Belege dafür, dass die
Häufigkeit von Linkshändigkeit stabil ist: Bei Kunstwerken aus der Zeit von 15.400 bis 3000 v. Chr.
wurden 10% der abgebildeten Menschen als Linkshänder dargestellt. In der modernen Kunst sind
es 11%.
Könnte das Verschwinden der Linkshänder schlicht durch Lernen erklärt werden? Könnte die
Welt, die für Rechtshänder entworfen ist, die Linkshänder dazu bringen, nach und nach den Ge-
brauch ihrer rechten Hand zu erlernen? Wiederum nein. Vorschüler, die noch ihre Händigkeit
wechseln, tun dies, bevor sie in die Pubertät kommen. Die Händigkeit wechselt nur selten nach
dem 8. oder 9. Lebensjahr, und selbst wenn es vorher geschieht, bezieht sich die Veränderung meist
nur auf bestimmte Handlungen wie Schreiben oder Essen.
»Um die Wahrheit zu finden, müssen wir uns der Aber was bleibt dann noch? Coren und Halpern wagten, das Undenkbare auszusprechen:
Mühe unterziehen, das Unwahre zu eliminieren. Linkshänder sterben früher. »Das kann nicht wahr sein«, erklärten skeptische Kollegen, als Coren
Wenn das Unmögliche eliminiert ist, muss das,
diese Idee zum ersten Mal aussprach. »Wenn das wahr wäre, müsste das schon einmal irgendje-
was bleibt, die Wahrheit sein, auch wenn sie uns
unwahrscheinlich dünkt.« mandem aufgefallen sein. Und außerdem, meine Großmutter väterlicherseits war Linkshänderin
Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Sign of und wurde 91.« Solche Anekdoten, so sehr sie auch aus dem Leben gegriffen sein mögen (»ich
the Four« (1890) kenne jemanden, der …«), können jedoch keine Ergebnisse ersetzen, die in Studien mit großen
Stichproben gefunden werden. Ein einzelnes Beispiel kann eine Theorie nicht bestätigen oder
widerlegen.
Also entschlossen sich Coren und Halpern, ihre makabre Idee weiterzuverfolgen. Sie dachten
zunächst über die bekannten Gesundheitsrisiken bei Linkshändern nach. So findet man bei Links-
händern häufiger eine schwierige Geburt (wie Frühgeburt oder Atmungsprobleme während der
2.4 · Gehirn
97 2
Geburt). Außerdem haben Linkshänder öfter Kopfschmerzen, mehr Unfälle (zum Teil durch Linkshänder, die lange lebten:
Geräte, die für Rechtshänder entwickelt wurden; . Abb. 2.40), haben mehr Knie- und Gelenk- Benjamin Franklin (84)
Charlie Chaplin (88)
probleme, rauchen mehr, trinken mehr Alkohol und leiden öfter unter Problemen des Immunsys-
Albert Schweitzer (90)
tems (darunter Allergien wie Asthma, Ekzeme und Heuschnupfen). Pablo Picasso (92)
Diese Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern sind nicht so bedeutsam (die indivi- Queen Mum (101)
duellen Unterschiede sind viel größer). Aber könnte auf sie, genauso wie bei den Geschlechtsun- Linkshänder, die nicht so lange lebten:
terschieden in Bezug auf Gesundheitsrisiken, die unterschiedlich lange Lebensspanne zurückge- Aristoteles (38)
hen? Coren und Halpern untersuchten eine Zufallsstichprobe von kürzlich verstorbenen Men- Marilyn Monroe (36)
schen und fanden heraus, dass Rechtshänder tatsächlich durchschnittlich 8 oder 9 Jahre länger Wolfgang Amadeus Mozart (35)
leben. Dieser Unterschied nahm etwas ab, als Coren, Halpern und ihre Kollegen Kinder ausschlos- Alexander der Große (33)
Kurt Cobain (27)
sen. Als sie Linkshänder und Rechtshänder verglichen, die früher einmal Baseball- oder Kricket-
spieler waren, fanden sie in Bezug auf die Lebensspanne einen kleineren Unterschied (3 Jahre,
schätzte Coren); aber er war noch immer vorhanden (Aggleton et al. 1993; Rogerson 1994).
Dieses bestürzende Ergebnis schlug ein wie ein Blitz und erregte viel Interesse in der Öffent-
lichkeit. Meist wurde das Thema verzerrt dargestellt, was wiederum zu unfairen Reaktionen führ-
te: »Lieber Herr Professor … wir möchten Ihnen raten, sich in Zukunft vor finsteren und miss-
günstigen Linkshändern in Acht zu nehmen – und vor Kettensägen« und »Ihr Rechtshänder denkt,
dass ihr länger lebt als wir Linkshänder – aber das wird nicht der Fall sein, wenn wir euch vorher
umbringen!« (Halpern et al. 1996). Die Ergebnisse führten auch zu Folgestudien, bei denen keine
Unterschiede in Bezug auf die Lebenserwartung von Rechts- und Linkshändern nachgewiesen
werden konnten (Harris 1993). Eine Forschergruppe des National Institute of Aging in den Ver-
einigten Staaten verfolgte das Leben von 3800 Erwachsenen aus Boston über 6 Jahre hinweg und
fand, dass die Linkshänder zu keinem Zeitpunkt mit größerer Wahrscheinlichkeit starben (Salive
et al. 1993). Coren (1993) jedoch widersprach diesen Ergebnissen, da der Zeitraum von 6 Jahren
zu kurz sei, um in einer so kleinen Stichprobe einen signifikanten Unterschied festzustellen.
Dieser ungelöste Fall der verschwindenden Linkshänder zeigt anschaulich, was Wissenschaft
im Kern ist – wie Forscher es wagen, alle Fragen zu stellen, die erforscht werden können, auch
wenn sich aus den Antworten vielleicht unerfreuliche Schlussfolgerungen ergeben. Es ist wie vor
Gericht: Die Forscher dürfen gerne neue Ideen aussprechen, aber sie müssen sich den Kreuzver-
hören der Gegenseite und heißen Debatten stellen. Im Laufe der Zeit hat die Wissenschaft damit
einen Weg gefunden, Fehler aufzudecken und der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen (und
damit oft auch einer besseren Welt). Wenn eine Erklärung für das Verschwinden der Linkshänder
gefunden wird, kann man daraus vielleicht Schlussfolgerungen ziehen, die es uns erlauben, die
Welt für Linkshänder angenehmer zu gestalten.
In diesem Kapitel konnten wir einen Eindruck von der Wahrheit gewinnen, die in folgendem
grundlegenden Prinzip dieses Kapitels liegt: Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biolo-
gisch. Wir haben uns damit beschäftigt, wie unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen aus der
Aktivität unseres spezialisierten, aber auch ganzheitlichen Gehirns entstehen. In den folgenden
Kapiteln werden wir darauf eingehen, welche Bedeutung die biologische Revolution in der Psy-
chologie hatte. Wir werden z. B. sehen, wie
98 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
4 die Gene und die Erfahrungen gemeinsam unsere Persönlichkeit, unsere Gefühle und unsere
Intelligenz beeinflussen;
4 die Entwicklung des Gehirns die Grundlage für die geistige Entwicklung ist;
4 unsere Sinnesorgane es uns ermöglichen, zu sehen und zu hören;
4 das Gehirn unsere Erinnerungen speichert;
4 Gehirn und Körper zusammenwirken, um unsere Empfindung von Hunger und Sexualität,
von Angst und Wut sowie von Schlaf und Träumen hervorzurufen;
2 4 unser Geist und unser Körper gemeinsam unsere Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und
unsere Fähigkeit zur Selbstheilung steuern;
4 unsere eigene evolutionäre Entwicklung uns dazu bringt, andere zu verletzen, ihnen zu helfen
oder sie zu lieben.
Es war ein langer Weg von der Phrenologie des 19. Jahrhundert bis zur heutigen Neurowissen-
schaft. Trotzdem stellt das, was wir nicht wissen, noch immer unser Wissen in den Schatten. Wir
können das Gehirn beschreiben. Und wir können versuchen, zu verstehen, wie die einzelnen Teile
miteinander kommunizieren. Aber wie kann unser Geist aus diesem Zellhaufen entstehen? Wie
kann ein elektrochemisches Aufleuchten in einem Knäuel von der Größe eines Kopfsalats zu einer
kreativen Idee, zur freudigen Erregung vor dem Geburtstag und zur Erinnerung an unsere Groß-
mutter führen?
Ähnlich wie aus Gas und Luft etwas Neues entstehen kann, nämlich Feuer, so könnte auch das
komplexe menschliche Gehirn etwas Neues erschaffen: das Bewusstsein. Davon war zumindest
Geist und Gehirn als holistisches System Sperry überzeugt. Der Geist, argumentierte er, entsteht aus dem Tanz der Ionen im Gehirn, kann
Nach Roger Sperrys Ansicht erschafft das Gehirn jedoch nicht auf ihn reduziert werden. Zellen können nicht allein durch die Bewegung von Atomen
den Geist und ist auch sein Steuerorgan, doch erklärt werden, ebenso wenig kann der Geist durch die Aktivität von Zellen erklärt werden. Die
beeinflusst der Geist wiederum das Gehirn.
Psychologie hat ihre Wurzeln in der Biologie, die wiederum auf der Chemie beruht, die ihrerseits
(Stellen Sie sich lebhaft vor, in eine Zitrone zu bei-
ßen – vermehrte Speichelabsonderung?)
auf der Physik basiert. Trotzdem ist die Psychologie mehr als angewandte Physik. Die Bedeutung
der Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten
Weltkrieges lässt sich nicht auf neuronale Aktivität reduzieren. Sexuelle Liebe ist mehr als verstärk-
te Blutzufuhr in den Genitalien. Moral und Verantwortungsbewusstsein lassen sich erst erklären,
wenn wir unseren Geist als »holistisches System« verstehen, wie Sperry (1992) feststellte. Wir sind
mehr als plappernde Roboter.
Der Geist versucht, das Gehirn zu verstehen; dies ist in der Tat eine der größten Herausforde-
rungen der Wissenschaft. Und das wird immer so sein. Um es mit den Worten des Kosmologen
John Barrow zu sagen: Ein Gehirn, das so einfach ist, dass man es verstehen kann, ist zu einfach,
um einen Verstand hervorzubringen, der es versteht.
Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Sys- Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass
tems, und erklären Sie, wie eine dieser Strukturen die Hypophyse steuert. Sie diesen Satz vorlesen.
Zwischen dem Hirnstamm und dem zerebralen Kortex liegt das lim- Die Sprache ist das Ergebnis der Integration vieler spezifischer neuro-
bische System, das mit dem Gedächtnis, den Gefühlen und Trieben des naler Netze, die spezialisierte Unteraufgaben erfüllen. Wenn Sie etwas
Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Ein Teil des limbischen Sys- vorlesen, nimmt der visuelle Kortex des Gehirns Wörter als visuelle
tems ist die Amygdala (Mandelkern), die an aggressiven oder ängstli- Reize auf, der Gyrus angularis transformiert diese visuellen Repräsen-
chen Impulsen beteiligt ist. Ein anderer Teil ist der Hypothalamus, der tationen in auditorische Codes, das Wernicke-Zentrum interpretiert
verschiedene lebenserhaltende Funktionen des Körpers steuert, z. B. das diese Codes und schickt die Botschaft an das Broca-Zentrum, das den
Belohnungs- und das Hormonsystem. Der Hippocampus, der auch Teil motorischen Kortex dabei steuert, wie er die gesprochenen Wörter her-
des limbischen Systems ist, verarbeitet Gedächtnisinhalte. vorbringt.
Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum Ziel 18: Erörtern Sie die Plastizität des Gehirns nach einer Verletzung oder
er für das Gehirn des Menschen so wichtig ist. einer Krankheit.
Der zerebrale Kortex ist die dünne Oberflächenschicht miteinander ver- Wenn eine Gehirnhälfte früh im Leben eines Menschen Schaden nimmt,
bundener Neuronen, von der die Hemisphären des Gehirns bedeckt kann die andere Hälfte die meisten ihrer Funktionen mit übernehmen.
sind. Der Kortex des menschlichen Gehirns ist größer als der anderer Diese Plastizität nimmt jedoch mit dem Alter ab, obwohl bei einem
Lebewesen; er ermöglicht Lernen, Denken und andere komplexe For- Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung die umliegenden Neu-
men der Informationsverarbeitung, zu denen nur wir Menschen fähig ronen eventuell einen Teil der Funktionen der geschädigten Zellen über-
sind. nehmen.
Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex. Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und
Jede Hemisphäre des zerebralen Kortex wurde zur besseren Orientie- erklären Sie, wie sie zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer
rung in vier Teile aufgeteilt: Der Frontallappen (direkt hinter der Stirn) ist rechten und linken Hirnhälfte beiträgt.
am Sprechen, an den Muskelbewegungen, dem Planen und dem Urtei- Klinische Beobachtungen zeigten schon vor langer Zeit, dass die linke
len beteiligt. Die Parietallappen (im oberen und hinteren Teil des Kopfes) Hemisphäre für die Sprache unverzichtbar ist. In der Forschung zum
erhalten sensorische Signale zu Berührungen und zur Körperposition. Thema Split Brain (Experimente mit Patienten, deren Corpus callosum
Zu den Okzipitallappen (am Hinterkopf ) gehört die Sehrinde. Die Tem- durchtrennt wurde) zeigte sich, dass bei den meisten Menschen die lin-
porallappen (direkt über den Ohren) enthalten die Hörrinde. Jeder Ge- ke Hemisphäre eher verbale Fähigkeiten hat, während die rechte bei der
hirnlappen erfüllt viele Funktionen und tritt mit anderen Arealen des visuellen Wahrnehmung und dem Erkennen von Emotionen brilliert.
Kortex in Interaktion. Untersuchungen an Menschen mit intaktem Gehirn bestätigen, dass
jede Gehirnhälfte auf ihre Art dazu beiträgt, dass das Gehirn in inte-
Ziel 16: Fassen Sie kurz einige der Befunde zu den Funktionen des moto- grierter Weise seine Funktion erfüllen kann.
rischen und des sensorischen Kortex zusammen, und erörtern Sie die Bedeu-
tung der Assoziationsfelder. Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des
Einige Areale des Gehirns haben spezielle Funktionen (. Abb. 2.23). Ein Gehirns, der Händigkeit und der Mortalität.
solches Areal ist der motorische Kortex, eine Region, die wie ein Bogen Etwa 10% der Menschen sind Linkshänder. Nahezu alle Rechtshänder
geformt ist. Er befindet sich im hinteren Teil der Frontallappen und verarbeiten die Sprache in der linken Hirnhälfte, wie dies bei etwas mehr
steuert die willkürlichen Bewegungen. Ein anderes Areal ist der senso- als der Hälfte der Linkshänder der Fall ist. Die übrigen Linkshänder teilen
rische Kortex, eine Region im vorderen Teil der Parietallappen, die die sich nahezu zu gleichen Teilen in solche auf, die Sprache in der rechten
Körperempfindungen aufnimmt und verarbeitet. In diesen Regionen Hirnhälfte verarbeiten, und in solche, die dies in beiden Hirnhälften tun.
belegen Körperteile, die besonders präzise gesteuert werden müssen Der Prozentsatz der Linkshänder nimmt mit dem Alter stark ab, von etwa
(im motorischen Kortex), und jene, die besonders sensibel sind (im sen- 15% im Alter vom 10 Jahren auf weniger als 1% im Alter von 80 Jahren.
sorischen Kortex), am meisten Raum. Den größten Bereich des Kortex Diese Abnahme könnte Folge einer höheren Gefährdung durch Unfälle
– den größten Teil jedes Einzelnen der vier Hirnlappen – nehmen die sein.
nicht spezialisierten Assoziationsfelder ein; sie führen die Informationen
zusammen, die im Zusammenhang mit dem Lernen, dem Erinnern, dem > Denken Sie weiter: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie zwei ge-
Denken und anderen höheren Funktionen anfallen. trennte Gehirnhälften hätten, die beide Ihre Gedanken und Hand-
lungen steuern, von denen aber nur eine die Vorherrschaft über Ihr
Bewusstsein und Ihre Sprache hätte? Was würde das für Ihr Selbst-
bild als unteilbare Person bedeuten?
100 Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten
Antworten
Birbaumer, N., Schmidt, R.F. (2006). Biologische Psychologie, 6. Aufl. Heidelberg: Springer.
Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F. (2001). Neurowissenschaften. Vom Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Heidelberg:
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Elbert, T., Birbaumer, N. (Hrsg). (2002). Biologische Grundlagen der Psychologie. Bern: Huber.
Jäncke, L. (2005). Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften. Stuttgart:
Kohlhammer.
Kandel, E.R., Schwartz, J.H., Jessel, T.M. (1995). Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg: Spektrum.
Lautenbacher, S., Güntürkün, O., Hausmann, M. (2007). Gehirn und Geschlecht. Heidelberg: Springer.
Markowitsch, H.J. (Hrsg). (1996). Grundlagen der Neuropsychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Biologische
Psychologie, Bd. 1. Göttingen: Hogrefe.
Springer, S.P., Deutsch, G. (1998). Linkes/rechtes Gehirn. Heidelberg: Spektrum.
Thompson, R.F. (2001). Das Gehirn. Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung, 3. Aufl. Heidelberg: Spektrum.
3
3.2 Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht – 115
3.2.1 Natürliche Selektion – 115
3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität – 118
3.2.3 Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz – 120
Ziel 1: Geben Sie Beispiele an für Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der großen Familie
Mensch.
Unsere Verwandtschaft zeigt sich auch in unserem Sozialverhalten. Ganz gleich, ob unser
Familienname Wong, Nkomo, Meier, Smith oder Gonzales lautet, wir beginnen mit ungefähr
8 Monaten zu fremdeln, während wir als Erwachsene die Gesellschaft von Menschen suchen,
deren Einstellungen und Merkmale den unseren ähnlich sind. Auch wenn wir aus unterschied-
lichen Teilen der Erde stammen, so wissen wir doch das Lächeln und das Stirnrunzeln der ande-
ren einzuschätzen. Als Angehörige einer Spezies schließen wir uns mit anderen Menschen zu-
sammen, passen uns an, tauschen Gefälligkeiten aus, bestrafen Vergehen, organisieren Status-
hierarchien und betrauern den Tod eines Kindes. Ein außerirdischer Besucher könnte irgendwo
auf der Erde landen und würde immer Menschen finden, die tanzen und Feste feiern, singen und
beten, Sport treiben und spielen, lachen und weinen, in Familien leben und Gruppen bilden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Universelle Verhaltensweisen verweisen auf unsere gemein-
same Eigenart als Mensch.
Was ist die Ursache für die erstaunliche Unterschiedlichkeit der Menschen und die allen eige-
ne menschliche Natur? Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dieser komplexen Frage: Wir
beginnen mit der Verhaltensgenetik, in der untersucht wird, welche Auswirkungen unsere Gene
(Anlage) und unsere Umwelt (äußere Einflüsse) auf die individuellen Unterschiede beim Verhalten
und bei den geistigen Prozessen haben. Gemeinsam formen unsere Gene und die Umwelt unser
einzigartiges Körper-Geist-System und legen das fest, was uns zu unterschiedlichen Menschen
macht. Gene sind durchaus bedeutsam. Aber auch die Kultur ist wichtig und alles, was wir auf
unserem Weg vom Mutterleib bis ins Grab erleben.
Wir werden uns damit beschäftigen, wie uns Anlage und Umwelt formen, und konzentrieren
uns dabei auf folgende Punkte:
4 Die Evolutionspsychologie. Sie untersucht die Verhaltensweisen, Emotionen und Denkfähig-
M. Barton
Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgenetiker interessieren.
Wie sehr werden unsere Verhaltensunterschiede von unseren genetischen Unterschieden beein- Umwelt (environment): jeder nichtgenetische
flusst? Und wie sehr durch unsere Umwelt, die auf unsere genetischen Merkmale reagiert? Es geht Einfluss, von der pränatalen Ernährung bis zu
den Menschen und Dingen in unserer Umge-
also um jeden äußeren Einfluss, angefangen mit der Ernährung im Mutterleib bis hin zur sozialen
bung.
Unterstützung kurz vor dem Tod. Genauer: Wie stark werden wir durch äußere Einflüsse geformt?
Durch unsere Kultur? Durch unsere momentanen Lebensumstände? Wenn sich Jaden Agassi,
Sohn der früher sehr erfolgreichen Tennisspieler Andre Agassi und Steffi Graf, später zu einem
Tennisstar entwickelt, sollten wir dann seine Begabung seinen Grand-Slam-Genen zuschreiben?
Der Tatsache, dass er in einer Umwelt aufgewachsen ist, in der es immer um Tennis ging? Den
hohen Erwartungen? Oder alles zu gleichen Teilen? Die Verhaltensgenetik untersucht die Unter- Verhaltensgenetik (behavior genetics): die
schiede zwischen uns und versucht, herauszufinden, welches Gewicht Anlage und Umwelt bei den Untersuchung der relativen Gewichte von
genetischen und Umwelteinflüssen auf das
relativen Auswirkungen zukommen.
Verhalten.
Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, was ein Gen und was ein Genom. Beschreiben Sie die
Beziehungen dieser Begriffe zueinander.
Hinter der Geschichte unseres Körpers und unseres Gehirns steckt die Vererbung, die mit unseren
Erfahrungen interagiert und so sowohl unsere universelle Eigenart als Menschen hervorbringt als
auch unsere individuelle und soziale Vielfalt. Vor kaum mehr als einem Jahrhundert hätte keiner
geglaubt, dass jeder Zellkern in unserem Körper den gesamten genetischen Code für den ganzen Chromosomen (chromosomes): im Zellkern lie-
Körper enthält. Das ist so, als befände sich in jedem Raum des Empire State Buildings ein Buch, gende fadenähnliche Strukturen aus DNA-Mole-
külen, die Gene enthalten.
in dem die Baupläne für das ganze Gebäude aufbewahrt werden. Diese Pläne umfassen – um bei
dem Vergleich zu bleiben – 46 Kapitel, 23 stammen von der Mutter (von ihrer Eizelle) und 23 vom DNA/DNS (desoxyribonucleic acid; Desoxyribo-
Vater (von seiner Samenzelle). Diese Kapitel, die sog. Chromosomen, sind jeweils aus einer spiral- nukleinsäure): komplexes Molekül, das die ge-
förmig zusammengerollten Kette des Moleküls DNA (Desoxyribonukleinsäure) zusammengesetzt. netische Information enthält und letztlich die
Die Gene, die kleinen Segmente dieser gigantischen DNA-Moleküle, bilden sozusagen die Wörter Chromosomen bildet.
in diesen Chromosomenbüchern (. Abb. 3.1). Man kann davon ausgehen, dass jeder von uns
Gene (genes): biochemische Bausteine für die
ungefähr 30.000 Gene besitzt. Dabei ist jedes Gen eine Einheit, die sich selbst kopieren kann und Vererbung, aus denen die Chromosomen beste-
zudem in der Lage ist, Proteine zu synthetisieren. Wenn sie »angeschaltet« werden, stellen sie hen. Gene sind Segmente der DNA, die an der
einfach den Code bereit, um die Proteinmoleküle, die Bausteine für unsere körperliche Entwick- Proteinsynthese beteiligt sind.
lung, aufzubauen.
Genetisch gesprochen ist jedes menschliche Wesen nahezu unser eineiiger Zwilling. Sogar die
Person, die man am wenigsten mag, ist nicht weit davon entfernt, unser Klon zu sein; und mit ihr
haben wir ungefähr 99,9% unserer DNA gemeinsam (Plomin u. Crabbe 2000). Zusammen mit der
Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt entscheidet dieser Unterschied von 0,1% jedoch
darüber, ob wir es mit Nelson Mandela oder Adolf Hitler zu tun haben werden.
Genomforscher haben die gemeinsame Sequenz innerhalb der menschlichen DNA entdeckt. Genom (genome): enthält die vollständigen In-
Genau dieses gemeinsame genetische Profil macht uns zu Menschen und nicht zu Schimpansen formationen, um einen Organismus herzustel-
len; besteht aus dem gesamten genetischen
oder Tulpen. Wir unterscheiden uns eigentlich gar nicht so sehr von einem Schimpansen, mit dem
Material in den Chromosomen des Organismus.
wir je nachdem, wie wir es quantifizieren, mindestens 96% unserer DNA-Sequenzen gemeinsam
haben (Mikkelsen et al. 2005). An »funktional wichtigen« Stellen der DNA, so berichtet ein Team
von Molekulargenetikern, beträgt die DNA-Ähnlichkeit zwischen Menschen und Schimpansen
99,4% (Wodman et al. 2003). Dieser winzige Unterschied ist allerdings von Bedeutung. Trotz
104 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
einiger bemerkenswerter Fähigkeiten geben Schimpansen nur Laute von sich. Shakespeare dage-
gen hat zur Erschaffung seiner Meisterwerke etwa 24.000 Wörter auf eine komplexe Weise kom-
biniert. Und selbst kleine Unterschiede zwischen Schimpansen sind durchaus von Bedeutung.
Zwei Arten, die sich in Bezug auf ihr Genom weniger als 1% unterscheiden, weisen offensichtliche
Unterschiede in ihrem Verhalten auf. Gewöhnliche Schimpansen sind aggressiv und von den
Männchen dominiert. Bonobos sind friedvoll und werden von den Weibchen angeführt.
»Die Banane und wir haben 50% unserer Gene Genetiker und Psychologen sind an den zufälligen Veränderungen interessiert, die man an
gemeinsam.« bestimmten Genorten in der DNA findet und die in ihren vielfältigen Kombinationen die Einzig-
Robert May, Evolutionsbiologe und Präsident
artigkeit eines Menschen bestimmen. Geringe interpersonelle Abweichungen vom gemeinsamen
der britischen Royal Society (2001)
Muster geben Hinweise darauf, warum der eine unter einer Krankheit leidet und der andere nicht,
warum eine Person klein ist und die andere groß, warum jemand glücklich ist und ein anderer
depressiv.
Die Persönlichkeitsmerkmale des Menschen werden meist von Genkomplexen beeinflusst,
einer Vielzahl gemeinsam agierender Gene. Wie groß ein Mensch ist, kommt letztendlich auch in
der Länge seines Gesichts, der Ausdehnung der Wirbelsäule, der Länge der Beinknochen etc. zum
Ausdruck – wobei jeder Größenindikator durch verschiedene Gene in ihrer Wechselwirkung mit
der Umwelt beeinflusst werden kann. Ähnlich werden komplexe menschliche Eigenschaften wie
Intelligenz, Fröhlichkeit und Aggressivität durch Gruppen von Genen beeinflusst.
! Unsere genetischen Prädispositionen tragen dazu bei, sowohl unsere gemeinsamen Merkmale
als Menschen als auch die Vielfalt der Menschen zu erklären.
3.1.2 Zwillingsstudien
Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, und beschreiben Sie die
Methoden, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu
verstehen.
Um das Knäuel aus Vererbung und Umwelt zu entwirren, benutzen Verhaltensgenetiker oft zwei
Arten von Pinzetten: Zwillingsstudien und Adoptionsstudien.
Eineiige Zwillinge (identical twins): Zwillinge, Eineiige und zweieiige Zwillinge im Vergleich
die sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle Um Umwelt- und Vererbungseinflüsse wissenschaftlich voneinander trennen zu können,
entwickeln, die sich dann in zwei Eizellen teilt
müssten wir die häusliche Umgebung kontrollieren können, während wir die Vererbungsfaktoren
und somit zwei genetisch identische Organis-
men bildet. variieren. Glücklicherweise hat uns die Natur zwei Arten fertiger Untersuchungsobjekte zur
Verfügung gestellt: eineiige und zweieiige Zwillinge. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch
3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
105 3
Studien mit 13.000 schwedischen, 7000 finnischen und 3810 australischen Zwillingspaaren liefern
Interessanterweise unterscheidet sich die Häu-
übereinstimmende Ergebnisse: In Bezug auf Extraversion und Neurotizismus (emotionale Insta-
figkeit von Zwillingsgeburten bei unterschied-
bilität) sind sich eineiige Zwillinge ähnlicher als zweieiige. Auf der Suche nach Erklärungen für lichen ethnischen Gruppen. So ist die Häufigkeit
individuelle Unterschiede spielen die Gene also eine Rolle. bei Weißen nahezu 2-mal so hoch wie bei Asia-
Wenn sich Gene auf Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Instabilität auswirken, könnten ten und nur halb so groß wie bei Afrikanern. In
sie dann auch die sozialen Auswirkungen dieser Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen? McGue Afrika und Asien sind die meisten Zwillinge ein-
eiig. Im Westen sind die meisten Zwillinge zwei-
u. Lykken (1992) untersuchten die Scheidungsraten bei 1500 gleichgeschlechtlichen Zwillings-
eiig. Außerdem nimmt die Anzahl zweieiiger
paaren im mittleren Lebensalter. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: Wenn man einen zweieiigen Zwillinge mit dem Einsatz von Medikamenten im
geschiedenen Zwilling hat, liegt die eigene Scheidungsrate um das 1,6-fache höher, als wenn man Rahmen von Fertilitätsbehandlungen zu (Hall
einen nicht geschiedenen Zwilling hat. Hat man einen eineiigen geschiedenen Zwilling, erhöht sich 2003; Steinhauer 1999).
die Rate entsprechend auf das 5,5-fache. McGue u. Lykken schlossen aus diesen Daten, dass die
Scheidungsraten zu ungefähr 50% auf genetische Faktoren zurückzuführen sind.
Auch andere Dimensionen weisen auf genetische Einflüsse hin. So unterzogen Loehlin u.
Nichols (1976) 850 amerikanische Zwillingspaare mehreren Tests und stellten fest, dass sich ein-
eiige Zwillinge in vielen Aspekten wie beispielsweise Fähigkeiten, persönlichen Merkmalen und
Interessen ähnlicher waren als zweieiige. Allerdings berichteten die eineiigen Zwillinge auch häu-
figer als zweieiige, gleich behandelt worden zu sein. Sind demnach eher ihre Erfahrungen als ihre
Gene für diese Ähnlichkeit verantwortlich? Loehlin u. Nichols verneinen dies: Eineiige Zwillinge,
die von ihren Eltern nahezu gleich erzogen wurden, waren sich psychologisch nicht ähnlicher als
3 unterschiedlich behandelte eineiige Zwillinge.
Im Großen und Ganzen konnte man Jim als gesund bezeichnen. Nach einer Vasektomie
konnte er keine Kinder mehr zeugen, und sein Blutdruck war etwas hoch, was vielleicht auf sein
Kettenrauchen zurückzuführen war. Er kaute exzessiv Fingernägel. Außerdem hatte er Migräne
– Kopfschmerzen, die jeweils einen halben Tag andauerten – »das ist so, als schlüge dir jemand
mit einer Holzlatte ins Genick«. Vor einer Weile schon war er etwas übergewichtig geworden,
hatte aber schon wieder einige Pfunde abgenommen.
Das Ungewöhnliche an Jim Lewis war (und das ist jetzt keine Erfindung!), dass es zur selben
Zeit einen anderen Mann gab, der auch Jim hieß und für den all diese Dinge einschließlich des
Namens, den er seinem Hund gegeben hatte, ebenfalls zutrafen. (Mit einem kleinen Unterschied:
Eineiige Zwillinge sind Doppelgänger Jim Lewis nannte seinen Sohn James Alan. Jim Springer fügte in den Namen ein weiteres L ein und
Die eineiigen Zwillinge Gerald Levey and Mark nannte seinen Sohn James Allan.) Der andere Jim – Jim Springer – war 38 Jahre zuvor sein Mit-
Newman wurden nach der Geburt getrennt und
bewohner im Mutterleib gewesen. 37 Tage nach ihrer Geburt wurden diese genetisch gleichen
wuchsen in verschiedenen Familien auf. Bei einem
Wiedersehen im Alter von 31 Jahren entdeckten sie,
Zwillinge voneinander getrennt, jeweils von einer Arbeiterfamilie adoptiert und wuchsen ohne
dass sie beide zur freiwilligen Feuerwehr gehörten. Kontakt miteinander und ohne Wissen über den Verbleib des anderen auf – bis an einem Februar-
In der Forschung konnte man bemerkenswerte tag Jim Lewis’ Telefon klingelte. Der Anrufer war sein genetischer Klon (der sich auf die Suche
Ähnlichkeiten bei den Lebensentscheidungen ge- nach ihm gemacht hatte, nachdem ihm von seinem Zwilling erzählt worden war).
trennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge nachwei-
Einen Monat nach diesem schicksalsträchtigen Zusammentreffen wurden die Brüder als erstes
sen; dies liefert gute Argumente für genetische
Einflüsse auf die Persönlichkeit
Zwillingspaar von Thomas Bouchard und seinen Kollegen an der Universität von Minnesota ge-
testet. So entstand eine Studie mit getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die bis heute fortgesetzt
wird (Holden 1980a; 1980b; Wright 1998). Nachdem man Persönlichkeit, Intelligenz, Herzfre-
»In einigen Bereichen sieht es so aus, dass sich quenz und Gehirnwellen untersucht hatte, stellte man fest, dass sich die Zwillinge trotz ihrer 38
unsere Zwillinge, die zusammen aufwuchsen, Jahre andauernden Trennung praktisch so ähnlich waren, als wäre dieselbe Person 2-mal getestet
… einander genauso ähnlich sind wie die ge- worden. Intonation und Modulation der Stimme ähnelten sich derartig, dass Jim Springer sagte:
trennt aufwachsenden Zwillinge. Das ist nun aber
»Das bin ich«, als er hörte, wie ein Interview mit seinem Bruder auf Tonband vorgespielt wurde.
ein erstaunlicher Befund, und ich kann Ihnen
versichern, dass keiner von uns diesen Grad an Die eineiigen Zwillinge Oskar Stohr und Jack Yufe wiesen genauso erstaunliche Ähnlichkeiten
Ähnlichkeit erwartet hätte.« auf. Der eine wurde im nationalsozialistischen Deutschland von der Großmutter als Katholik
Thomas Bouchard (1981) aufgezogen, der andere hingegen von seinem Vater als Jude in der Karibik. Trotzdem haben sie
3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
107 3
jede Menge gemeinsamer Merkmale und Gewohnheiten. Sie mögen scharfes Essen und süße
Liköre, haben die Gewohnheit, vor dem Fernseher einzuschlafen, betätigen die Toilettenspülung,
bevor sie die Toilette benutzen, bewahren Gummibänder am Handgelenk auf und tunken Toast
in ihren Kaffee. Stohr tritt als Pascha gegenüber Frauen auf und schreit seine Frau an, wie dies auch
Yufe vor seiner Scheidung tat. Beide heirateten eine Frau namens Dorothy Jane Scheckelburger.
Gut, das Letzte war nur ein Witz. Wie jedoch Judith Rich Harris (2006) anmerkt, ist es kaum ver-
rückter, als einige andere Zufälle, die berichtet werden.
Mit Hilfe von Zeitungsannoncen haben Bouchard et al. (1990; DiLalla et al. 1996; Segal 1999)
80 nicht gemeinsam aufgewachsene Zwillingspaare ausfindig gemacht und untersucht. Sie fanden
Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur auf Geschmack und Körpermerkmale bezogen, sondern
auch auf die Persönlichkeit, Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen und sogar Ängste.
In Schweden stießen Pedersen et al. (1988) auf 99 getrennt lebende eineiige und mehr als 200
getrennt lebende zweieiige Zwillingspaare. Im Vergleich zu einer Stichprobe aus gemeinsam auf-
gewachsenen eineiigen Zwillingen hatten die getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge eher
voneinander abweichende Persönlichkeiten – charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und
Handelns. Dennoch waren sich die getrennt aufgewachsenen, genetisch gleichen Zwillinge immer
noch ähnlicher als zweieiige. Eine Trennung kurz nach ihrer Geburt (im Gegensatz zu beispiels-
weise im Alter von 8 Jahren) bewirkte keine Zunahme ihrer Persönlichkeitsunterschiede.
Bouchards Kritiker, die uns daran erinnerten, dass »der Plural von Anekdote nicht Belege Zufälle sind nicht nur Zwillingen vorbehalten.
heißt«, ließen sich von den aufregenden Geschichten über die Ähnlichkeiten der Zwillinge nur Patricia Kern aus Colorado wurde am 13. März
1941 geboren und Patricia Ann Campbell ge-
wenig beeindrucken. Sie behaupten, dass zwei beliebige, einander unbekannte Menschen, die
nannt. Patricia DiBiasi aus Oregon wurde eben-
stundenlang ihre Verhaltens- und Lebensgeschichten vergleichen müssten, mit hoher Wahr- falls am 13. März 1941 geboren und ebenfalls
scheinlichkeit viele zufällige Ähnlichkeiten entdecken würden. Würden denn Paare, die zu einer Patricia Ann Campbell genannt. Beide hatten
von den Forschern gebildeten Kontrollgruppe aus biologisch nicht verwandten Paaren des glei- Väter, die den Namen Robert trugen, als Buch-
chen Alters, des gleichen Geschlechts und der gleichen ethnischen Gruppe gehörten und nicht halter arbeiteten und zu dieser Zeit Kinder im
Alter von 19 und 21 Jahren hatten. Beide mach-
zusammen aufgewachsen waren, sich aber bezüglich ihres wirtschaftlichen und kulturellen Hin-
ten eine Ausbildung als Kosmetikerin, hatten
tergrundes genauso ähnlich wären wie viele der getrennt aufgewachsenen Zwillinge, nicht genau- Ölmalerei als Hobby und heirateten in einem
so frappierende Ähnlichkeiten aufweisen (Joseph 2001)? (Bouchard entgegnet darauf, dass sich Abstand von 11 Tagen Männer, die beim Militär
getrennt aufwachsende zweieiige Zwillinge in Bezug auf ihre Ähnlichkeiten nicht mit getrennt arbeiteten. Im genetischen Sinne gibt es zwi-
aufwachsenden eineiigen Zwillingen vergleichen lassen. Und Nancy Segal (2000) merkt an, dass schen den beiden keine Verwandtschaft. (Aus
einem AP Bericht vom 2. Mai 1983)
»virtuelle Zwillinge« – biologisch nicht verwandte Stief- oder Adoptivgeschwister des gleichen
Alters – auch viel unähnlicher sind).
Selbst die besonders eindrucksvollen Befunde aus der Persönlichkeitsdiagnostik werden
davon überschattet, dass sich viele der Zwillinge bereits einige Jahre vor Durchführung der Tests
wiedergefunden hatten. Sie haben dasselbe Aussehen und können mit denselben Reaktionen
darauf rechnen. Die Stellen, die über Adoptionen entscheiden, versuchen, voneinander getrenn-
te Zwillinge in ähnlichen familiären Verhältnissen unterzubringen. Trotz dieser Kritik haben die
erstaunlichen Ergebnisse der Zwillingsstudien dazu geführt, dass genetischen Einflüssen in wis-
senschaftlichen Theorien immer mehr Bedeutung beigemessen wird.
3.1.3 Adoptionsstudien
Ein weiteres praktisches, realitätsnahes Experiment, die Adoption, führt zu zwei Gruppen von
Verwandten: den genetischen Verwandten (biologische Eltern und Geschwister) und denjenigen,
mit denen die Adoptivkinder eine gemeinsame Umwelt teilen (Adoptiveltern und -geschwister).
Bei der Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen kann man daher immer danach fragen,
ob Adoptivkinder eher ihren Adoptiveltern gleichen (die Teil der Familienumwelt sind) oder
ihren biologischen Eltern (die die Gene beisteuerten). Können adoptierte Kinder, die gemeinsam
mit den leiblichen Kindern eines Paares aufwachsen und demnach denselben familiären Bedin-
gungen ausgesetzt sind, auch dieselben Persönlichkeitsmerkmale entwickeln wie die biologischen
Kinder?
108 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Das Ergebnis ist so bedeutsam, dass man es noch einmal wiederholen sollte: Die Umweltfaktoren,
3 die für die Kinder innerhalb einer Familie die gleichen sind, haben praktisch keinen Einfluss. Zwei
in derselben Familie aufgewachsene, adoptierte Kinder haben in Bezug auf ihre Persönlichkeits-
merkmale ebenso wenig miteinander gemein wie mit irgendeinem Kind, das nur in derselben
Gegend wohnt. Die Anlagen formen die Persönlichkeit auch bei anderen Primaten. So etwa bei
Familienbande Schimpansen: Die Anlage formt die Persönlichkeit und weniger die Tatsache, dass sie im selben
Studien über Adoptivfamilien lieferten neue Er-
Zoo aufwachsen (Weiss et al. 2000). So zeigen Makaken, die von Pflegemüttern großgezogen
kenntnisse zu Erb- und Umwelteinflüssen. Adop-
tierte Kinder teilen mit ihren Adoptiveltern viele werden, ein Sozialverhalten, das eher dem ihrer biologischen Mütter ähnelt als dem ihrer Pflege-
Werte und Einstellungen, doch neigen die Persön- mütter (Maestripieri 2003). Dies sollte zusammen mit dem Befund gesehen werden, dass sich
lichkeiten adoptierter Kinder dazu, das genetische eineiige Zwillinge so ähnlich sind, wie wir es aufgrund ihrer gemeinsamen Gene erwarten würden,
Vermächtnis ihrer biologischen Eltern in den Vor- ob sie nun zusammen oder getrennt aufwachsen; und die Auswirkung einer Umwelt, in der sie
dergrund treten zu lassen
gemeinsam groß werden, scheint bestürzend gering zu sein.
Pinker (2002) behauptet, dass wir hier vielleicht »auf das wichtigste Puzzle in der Geschichte
der Psychologie« gestoßen sind: Warum sind Kinder aus derselben Familie so unterschiedlich?
(Sogar biologische Geschwister sind oft auffallend unterschiedlich.) Warum haben die gemein-
samen Gene und die gemeinsame Umwelt (soziale Schicht, Persönlichkeit der Eltern, gemeinsam
oder allein erziehend, Erziehung in Ganztagesstätten oder zu Hause, Wohngegend) so wenig
deutlich erkennbare Auswirkungen auf die Persönlichkeiten der Kinder? Liegt es daran, dass jedes
Kind dennoch verschiedene Erfahrungen macht und verschiedenen Einflüssen durch Alters-
genossen und Lebensereignisse unterliegt? Oder ist es eher darauf zurückzuführen, dass die Be-
ziehungen zwischen Geschwistern zur Entfremdung führen, was wiederum ihre Unterschiede
verstärkt? Geht es darauf zurück, dass Geschwister, obwohl sie die Hälfte der Gene gemeinsam
»Mag sein, dass Mama ein ›Full House‹ auf der haben, sehr unterschiedliche Genkombinationen aufweisen? Wirkt sich der elterliche Einfluss
Hand hat und Papa einen ›Straight Flush‹: Wenn deshalb auf ein gelassenes Kind anders aus als auf ein Kind, das stark emotional reagiert? »Kinder-
der Junior von jedem eine Zufallshälfte bekommt,
erziehung ist nichts, was die Eltern einem Kind antun«, bemerkt Harris (1998). »Es ist etwas, was
mag sein Pokerblatt dennoch das Blatt eines Ver-
lierers sein.« Eltern und Kinder zusammen machen ... Ich wäre bei meinem ersten Kind als nachgiebige und bei
David Lykken (2001) meinem zweiten Kind als herrische Mutter abgestempelt worden.«
Ist die Erziehung von Adoptivkindern somit ein sinnloses Unterfangen? Nein.
! Die genetischen Vorgaben begrenzen den Einfluss der Familienumwelt auf die Persönlichkeit,
aber die Eltern beeinflussen Einstellungen, Werte, das Benehmen, Vorstellungen in Glaubens-
fragen und politische Auffassungen ihrer Kinder (Brodzinsky u. Schechter 1990).
Zwei adoptierte Kinder oder eineiige Zwillinge verfügen über ähnlichere religiöse Vorstellungen,
wenn sie dasselbe Zuhause haben, vor allem solange sie als Jugendliche noch im Elternhaus woh-
nen (Kelley u. deGraaf 1997; Rohan u. Zanna 1996). Die Erziehung hat also durchaus eine Be-
deutung!
Die größere Einheitlichkeit von Adoptivfamilien Darüber hinaus sind Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern und so-
– meist gesunde, positiv auf die Kinder einwir- gar Ehescheidungen bei Adoptiveltern selten. (Adoptiveltern werden im Gegensatz zu leiblichen
kende Familien – trägt zur Erklärung der Tatsa-
Eltern sorgfältig überprüft.) Es überrascht folglich nicht, dass sich die meisten Adoptivkinder trotz
che bei, dass es nicht so viele auffallende Unter-
schiede gibt, wenn man die Ergebnisse bei un- eines größeren Risikos für psychische Störungen gut entwickeln, vor allem wenn sie als Klein-
terschiedlichen Adoptivfamilien miteinander kinder adoptiert wurden (Benson et al. 1994; Wierzbicki 1993). In Intelligenztests erreichen sie
vergleicht (Stoolmiller 1999). höhere Werte als ihre biologischen Eltern. Sieben von acht Kindern berichten, dass sie sich einem
oder beiden Adoptivelternteilen stark verbunden fühlen. Als Kinder von sich selbst aufopfernden
Eltern wachsen sie so auf, dass sie sich auch selbst mehr einbringen und altruistischer verhalten
als der Durchschnitt (Sharma et al. 1998). Und im Allgemeinen werden sie glücklicher und stabi-
ler, als sie es in einer gestressten und vernachlässigenden Umgebung geworden wären. In einer
schwedischen Studie wuchsen adoptierte Kleinkinder mit weniger Problemen auf als Kinder, de-
3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
109 3
ren biologische Mütter sie zuerst zur Adoption freigeben wollten und sich dann doch anders
entschieden hatten (Bohman u. Sigvardsson 1990). Gleichgültig wie groß die Persönlichkeits-
unterschiede zwischen Eltern und ihren Adoptivkindern sind, die Kinder profitieren von der
Adoption.
Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt, wie stark der Einfluss
der Vererbung auf die Entwicklung ist.
Die meisten Eltern mit zwei Kindern berichten, dass sich Babys bereits vor ihrem ersten Atemzug
voneinander unterscheiden. Wir wollen uns nun mit einem früh erkennbaren Aspekt der Persön-
lichkeit beschäftigen: Das Temperament eines Kindes drückt sich in seiner angeborenen emotio-
nalen Erregbarkeit aus – ob es aufbrausend und intensiv reagiert, herumzappelt oder ob es Dinge
eher leicht nimmt, ruhig und gelassen ist. Schwierige Babys sind bereits in den ersten Lebenswo- Temperament (temperament): charakteristische
chen irritierbarer, reagieren heftiger und weniger vorhersagbar. Dagegen gelten »einfache« Babys emotionale Reaktionsbereitschaft und Reaktions-
stärke eines Menschen.
als vergnügt, entspannt und in Bezug auf Füttern und Schlafen als besser vorhersagbar (Chess u.
Thomas 1987).
Eltern, die besonders sensibel für die Unterschiede zwischen ihren Kindern sind, nehmen
deren Temperament sogar als noch unterschiedlicher wahr, als es ist (Saudino et al. 2004). Doch
es gibt tatsächlich Temperamentsunterschiede, und sie bleiben bestehen. Schauen Sie sich die
folgenden Ergebnisse an:
4 Die Neugeborenen, die am stärksten emotional reagieren, zeigen diese Reaktionsbereitschaft
auch im Alter von 9 Monaten (Wilson u. Matheny 1986; Worobey u. Blajda 1989).
4 Vier Monate alte Säuglinge, die auf wechselnde Situationen mit einem gekrümmten Rücken,
strampelnden Beinen und Schreien reagieren, sind in ihrem 2. Lebensjahr gewöhnlich ängst-
lich und gehemmt. Jene, die mit einem entspannten Lächeln reagieren, erweisen sich dagegen
als angstfrei und kontaktfreudig (Kagan 1990).
4 Extrem gehemmte und furchtsame 2-Jährige sind oft auch als 8-Jährige noch relativ schüch-
tern; ungefähr die Hälfte davon entwickelt sich zu introvertierten Erwachsenen (Kagan et al.
1992, 1994).
4 Die meisten der heftig reagierenden Vorschulkinder zeigen auch als junge Erwachsene ver-
gleichsweise vehemente Reaktionen (Larsen u. Diener 1987). Eine immer noch laufende Lang-
zeitstudie mit 900 Neuseeländern ergab, dass stark emotional reagierende und impulsive Kin-
der sich zu noch impulsiveren, aggressiveren und konfliktsuchenden 21-Jährigen entwickelten
(Caspi 2000).
Vergleicht man ein- und zweieiige Zwillinge, so sind sich die eineiigen Zwillinge bezogen auf das
Temperament ähnlicher. Dies deutet darauf hin, dass die Anlage möglicherweise zu Tempera-
mentsunterschieden prädisponiert (Emde et al.1992; Gabbay 1992; Robinson et al. 1992). Ein
weiteres Befundmuster geht auf physiologische Tests zurück, die zeigen, dass ängstliche, ge-
hemmte Kinder einen erhöhten und unregelmäßigen Herzschlag sowie ein leicht erregbares
Nervensystem haben und dass sie mit einer stärkeren physiologischen Erregung reagieren, wenn
sie mit neuen und fremden Situationen konfrontiert werden (Kagan u. Snidman 2004). Derartige
Befunde führen ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass unser in der Biologie verankertes Tem-
perament an der Bildung unserer überdauernden Persönlichkeit beteiligt ist (McCrae et al. 2000;
Rothbart et al. 2000).
110 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
3.1.5 Erblichkeit
Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und Gruppen anwenden lässt,
und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass Gene selbstregulierend sind.
Erblichkeit (heritability): Ausmaß, in dem indivi- Anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien können Verhaltensgenetiker die Erblichkeit eines
duelle Unterschiede auf Gene zurückgeführt Persönlichkeitsmerkmals mathematisch berechnen, d. h. das Ausmaß, in dem die Unterschiede
werden können. Die Erblichkeit eines Persön-
zwischen Individuen auf ihre unterschiedlichen Gene zurückgeführt werden können. Wenn die
lichkeitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der
ausgewählten Population und den unter- Erblichkeit von Intelligenz z. B. 50% beträgt, so bedeutet das nicht, dass die Intelligenz eines
3 suchten Umweltbedingungen variieren. Menschen zu 50% genetisch bedingt ist (7 Kap. 11). (Wenn der Erblichkeitsgrad für die Kör-
pergröße 90% beträgt, heißt dies nicht, dass eine 1,70 m große Frau 153 cm ihren Genen und
die restlichen 17 cm ihrer Umwelt zuschreiben kann). Es bedeutet vielmehr, dass wir 50% der
beobachteten Variation unter Menschen genetischen Einflüssen zuschreiben können. Es ist un-
sinnig, zu sagen, Ihre Persönlichkeit gehe zu x Prozent auf Ihre Anlagen und zu y Prozent auf
Ihre Umwelt zurück. Dieser Punkt wird so häufig missverstanden, dass ich es wiederholen
möchte:
! Wir können nicht sagen, zu welchem Prozentsatz die Persönlichkeit oder Intelligenz einer be-
stimmten Person vererbt ist. Bei prozentualen Angaben zur Erblichkeit geht es vielmehr um
das Ausmaß, in dem die Unterschiede zwischen Menschen allgemein in Hinblick auf ein be-
stimmtes Merkmal auf Gene zurückzuführen sind.
Sogar diese Schlussfolgerung muss differenziert werden, da die Erblichkeit von einer Studie
zur anderen variieren kann. Würden wir dem Vorschlag des für seine sarkastischen Beschrei-
bungen bekannten Schriftstellers Mark Twain (1835–1910) folgen, Jungen bis zum Alter von
12 Jahren in Fässern aufzuziehen und sie durch ein Loch zu füttern, würden sie einen ver-
gleichsweise geringen Intelligenzquotienten aufweisen. Da sie alle unter den gleichen Umwelt-
bedingungen leben, könnte man dann jedoch die individuellen Unterschiede bezüglich ihres
Intelligenzquotienten als 12-Jährige ausschließlich auf Vererbungsfaktoren zurückführen. Mit
anderen Worten: Die intellektuellen Unterschiede zwischen ihnen wären zu fast 100% anlage-
bedingt.
! Je ähnlicher die Umweltbedingungen sind, desto größer wird der Stellenwert der Vererbung
als Erklärung für die Unterschiede.
Hätten alle Schulen die gleiche Qualität, alle Familien eine gleich liebevolle Atmosphäre und
funktionierte das Leben in allen sozialen Gemeinschaften gleichermaßen gut, so würde die Erb-
anlage – also die genetisch bedingten Unterschiede – mehr Gewicht bekommen (da Unterschiede,
die auf die Umwelt zurückgeführt werden könnten, abnehmen). Andererseits wäre der Einfluss
der Erbanlage relativ gering, wenn alle Menschen ähnliche Erbfaktoren hätten, aber in drastisch
unterschiedlichen Umgebungen aufwüchsen (z. B. einem Fass im Gegensatz zu einer gut situierten
Familie).
Gruppenunterschiede
Wenn genetische Einflüsse zur Erklärung der individuellen Vielfalt bei Persönlichkeitsmerkmalen
wie Aggressivität beitragen, stellt sich die Frage, ob das nicht auch auf Gruppenunterschiede zwi-
schen Männern und Frauen und zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zu-
trifft. Die Antwort lautet: nicht notwendigerweise. Individuelle Unterschiede z. B. in Bezug auf
Körpergröße und Gewicht sind zu einem Großteil vererbt. Will man erklären, warum die Gruppe
der Erwachsenen heute größer und kräftiger ist als im letzten Jahrhundert, so muss man jedoch
eher Ernährungs- als genetische Einflüsse heranziehen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich
nicht etwa, weil sich die menschlichen Gene innerhalb dieser winzigen Zeitspanne von einem
Jahrhundert verändert hätten.
Was für die Größe und das Gewicht zutrifft, gilt auch für Werte in Persönlichkeits- und Intel-
ligenztests: Vererbbare Unterschiede zwischen Individuen müssen keine vererbbaren Gruppenun-
terschiede mit sich bringen. Auch wenn einige Menschen eine stärkere genetische Disposition für
die Entwicklung von Aggressivität haben, erklärt das nicht, warum sich einige Gruppen aggressiver
3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
111 3
verhalten als andere. Versetzt man Menschen in einen neuen sozialen Kontext, kann sich dadurch
ihre Aggressivität verändern. Die friedvollen Skandinavier von heute tragen viele Gene in sich, die
ihnen von ihren Wikingervorfahren vererbt wurden.
3.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion
»Die Erbanlage verteilt die Karten, die Umwelt Ziel 8: Nennen Sie ein Beispiel für ein genetisch beeinflusstes Persönlichkeitsmerkmal, das bei anderen
spielt das Blatt aus.« Reaktionen hervorrufen kann, und ein weiteres Beispiel für eine Umwelt, die eine Genaktivität auslösen
Charles L. Brewer (1990)
kann.
Wenn man sagt, dass sowohl die Gene als auch Erfahrungen wichtig sind, ist das
nicht falsch. Präziser ausgedrückt müsste man jedoch sagen, dass sie interagieren.
Stellen Sie sich zwei Babys vor, von denen das eine genetisch prädisponiert ist, attrak-
3 tiv, kontaktfreudig und unbeschwert zu sein, während das andere nur eine geringe
Prädisposition für diese Eigenschaften mitbringt. Nehmen Sie weiter an, dass das
erste Baby mehr liebevolle und anregende Fürsorge erhält als das zweite und sich
insofern zu einer warmherzigeren und offeneren Person entwickelt. Wenn es älter
wird, sucht sich das von Natur aus offenere Kind häufiger Aktivitäten und Freunde,
die zum Aufbau weiteren sozialen Zutrauens ermutigen.
Was führte nun am Ende zu den Persönlichkeitsunterschieden? Weder die Ver-
Cinetext/Allstar
Cinetext/Allstar
erbung noch die Erfahrung haben für sich genommen einen Einfluss. Umwelten
lösen eine Genaktivität aus. Und unsere genetisch beeinflussten Persönlichkeits-
merkmale rufen bedeutsame Reaktionen bei anderen hervor. Bei einem Lehrer z. B.,
Anlage-Umwelt-Interaktion der sonst eher freundlich auf vorbildliche Klassenkameraden des Kindes reagiert,
Die Menschen reagieren nicht in gleicher Weise auf löst die Impulsivität und Aggressivität eines Kindes möglicherweise Ärger aus. Auch Eltern ver-
einen Rowan Atkinson (Mr. Bean) wie auf seinen
halten sich gegenüber ihren Kindern unterschiedlich; ein Kind verleitet sie dazu, es zu bestrafen,
Schauspielerkollegen Orlando Bloom
das andere nicht. In diesen Fällen interagieren die Anlage des Kindes und die Erziehung durch die
Eltern. Keins von beiden funktioniert unabhängig vom anderen. Anlage und Umwelt agieren ge-
meinsam.
Beziehungsreiche Interaktionen helfen uns dabei, zu verstehen, warum sich in unterschied-
lichen Familien aufgewachsene, eineiige Zwillinge an die Herzlichkeit ihrer Eltern in bemerkens-
wert ähnlicher Weise erinnern – fast so ähnlich, als hätten sie dieselben Eltern gehabt (Plomin
et al. 1988, 1991, 1994). Zweieiige Zwillinge erinnern sich an erhebliche Variationen in ihrem
frühen Familienleben – sogar dann, wenn sie in der gleichen Familie aufgezogen wurden. »Je
nachdem, welche Eigenschaften Kinder selbst haben, erleben sie uns als andere Eltern«, merkt
Sandra Scarr (1990) an. Außerdem suchen wir uns mit zunehmendem Alter die Umweltbedingun-
gen, die gut zu uns passen.
Interaktion (interaction): Die Auswirkung eines So sind wir vom Augenblick unserer Entstehung an das Ergebnis einer Kaskade von Inter-
Faktors (z. B. der Umwelt) hängt von einem an- aktionen zwischen unseren genetischen Prädispositionen und den uns umgebenden Umweltbe-
deren Faktor ab (z. B. den Anlagen).
dingungen.
! Unsere Gene bewirken, wie Menschen auf uns reagieren und uns wiederum beeinflussen.
Biologische Phänomene haben soziale Konsequenzen.
Die Frage, ob Gene oder Erfahrungen wichtiger sind, ist deshalb ähnlich wie die Frage, ob das
Lenkrad oder der Motor wichtiger für das Autofahren ist. Lassen Sie uns also die Debatte »Anlage
oder Umwelt« vergessen; wenden wir uns lieber der Frage zu, wie äußere Einflüsse vermittelt über
die Erbanlagen wirken.
Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und Gefahren der molekular-
genetischen Forschung bestehen.
Verhaltensgenetiker sind mittlerweile über die Frage »Beeinflussen Gene unser Verhalten?« hin-
weg. Die neue Herausforderung in der verhaltensgenetischen Forschung ist die »Bottom-up«-
Molekulargenetik (molecular genetics): Teilge-
biet der Biologie, das sich mit der Untersuchung
Suche (konzeptgeleitete Suche) der Molekulargenetik, um die spezifischen Gene zu identifizieren,
der molekularen Struktur und Funktion von Ge- die letztlich das Verhalten beeinflussen. So stellte der Psychologe Plomin (1997) fest: »Der DNA-
nen befasst. Zug verlässt den Bahnhof« – und die Psychologen springen schnell auf.
3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede
113 3
Wie wir bereits gesehen haben, werden beim Menschen die meisten Merkmale durch Gruppen »Unsere Vorhersage lautet, dass die DNA die
von Genen beeinflusst. So wird zwar aus Zwillings- und Adoptionsstudien berichtet, dass sich die psychologische Forschung und Therapie
schon sehr früh im 21. Jahrhundert revolutio-
Vererbung auf das Körpergewicht auswirkt; doch es gibt nicht ein einzelnes »Übergewichtsgen«.
nieren wird.«
Wahrscheinlicher ist, dass einige Gene Einfluss darauf ausüben, wie schnell der Magen dem Ge- Robert Plomin und John Crabbe (2000)
hirn mitteilt: »Ich bin voll.« Andere Gene geben möglicherweise vor, wie viel Energie die Muskeln
verbrauchen, wie viele Kalorien durch Herumzappeln verbrannt werden und wie wirkungsvoll der
Körper zusätzliche Kalorien in Fett umwandelt (Vogel 1999).
! Das Ziel der molekularen Verhaltensgenetik besteht darin, einige der vielen Gene zu finden,
die normale Merkmale des Menschen beeinflussen, wie etwa das Körpergewicht, die sexuelle
Orientierung und die Extraversion.
Mit Hilfe genetischer Tests lässt sich jetzt bei mindestens einem Dutzend Krankheiten herausfin-
den, für welche Unterpopulation ein Erkrankungsrisiko besteht. In Laboren rund um die Welt, in
denen Molekulargenetiker mit Psychologen zusammenarbeiten, geht die Suche weiter. Sie wollen
Gene ausfindig machen, die für bestimmte Menschen ein Risiko für solche genetisch beeinflussten
Störungen wie Lernstörungen, Depression, Schizophrenie, Aggressivität und Alkoholismus dar-
stellen. In 7 Kap. 17 werden wir z. B. auf die weltweiten Forschungsanstrengungen zur Entdeckung
von Genen hinweisen, auf die die erhöhte Anfälligkeit für die emotionalen Schwankungen der
bipolaren Störung zurückgeht (früher als manisch-depressive Störung bekannt). Um herauszufin-
den, welche Gene daran beteiligt sind, suchen Molekulargenetiker Verbindungen zwischen spe-
zifischen Genen oder Chromosomsegmenten und bestimmten Erkrankungen. Zuerst suchen sie
Familien, in denen eine bestimmte Störung über mehrere Generationen hinweg bestanden hat.
Anschließend entnehmen sie Blutproben oder Speichelabstriche sowohl bei betroffenen als auch
bei nicht betroffenen Familienmitgliedern und untersuchen ihre DNA auf Unterschiede. »Das
stärkste Potenzial der DNA«, so Plomin u. Crabbe (2000), »liegt in der Vorhersage eines Risikos,
so dass entsprechende Schritte eingeleitet werden können, um bestimmte Probleme gar nicht erst
entstehen zu lassen.«
Mit Hilfe neuer, erschwinglicher DNA-Scan-Techniken (optisches Abtasten) werden die Medi-
ziner bald in der Lage sein, werdenden Eltern mitzuteilen, wie stark die Gene ihres Fötus vom
normalen Muster abweichen und welche Bedeutung das hat. Dieser Vorteil ist jedoch auch mit Ri-
siken verbunden. Könnte es z. B. zu einer Diskriminierung führen, wenn man einen Fötus als
»lernstörungsgefährdet« abstempelt? Die pränatale Diagnostik führt zu ethischen Problemen. Für
werdende Eltern ist es bereits leicht möglich, das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. In China und
Indien, wo Jungen einen hohen Stellenwert haben, hat der Test, mit dem die Geschlechtszugehörig-
keit des Nachkommen untersucht wird, selektive Abtreibungen ermöglicht und zu Millionen (!)
»fehlender Frauen« geführt. Eine neue Technik, mit deren Hilfe sich Spermien mit männlichen oder
weiblichen Chromosomen sortieren lassen, könnte es künftigen Eltern ermöglichen, mit einigerma-
ßen guten Erfolgschancen das Geschlecht eines Kindes bereits vor seiner Zeugung auszuwählen.
Die Möglichkeiten zur Schaffung von »Designer-Babys« werden natürlich eingeschränkt durch
die Tatsache, dass man viele Gene benötigt, um das mit komplexen Umwelten interagierende Ver-
halten zu beeinflussen. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich: Sollten dann künftige Eltern
ihre Eizelle und seine Samenzellen in einem gentechnischen Labor untersuchen lassen, bevor sie
verschmelzen und ein Embryo entsteht? Bevor Sie sich spöttisch über diese Möglichkeit äußern,
erinnern Sie sich daran, wie entsetzt die Menschen noch vor einem viertel Jahrhundert über die
In-vitro-Fertilisation (»Zeugung im Reagenzglas«) waren. Heute ist es üblich, dass unfruchtbare
Paare diese Behandlung verlangen. Vor einem halben Jahrhundert regten sich die Menschen über
die Art von Kontrolle auf, die Aldous Huxley in seinem Roman »Brave New World« (»Schöne neue
Welt«) ausmalt: Regierungsbeauftragte konstruieren eine Gesellschaft, indem sie Babys in Treib-
häusern ausbrüten, die je nach ihrem genetischen Design Rollen wie kluge »Alphas« und schwach-
köpfige »Epsilons« zugewiesen bekommen. Wright (1999) meint, dass in der heutigen, einsichtige-
ren neuen Welt Millionen von Eltern, wenn sie die Wahl hätten, nach Gesundheit und vielleicht
nach Denkvermögen, Schönheit und Sportlichkeit auswählen würden.
Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgeneti- Ziel 5: Beschreiben Sie, wie Verhaltensgenetiker Adoptionsstudien nutzen,
ker interessieren. um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen.
Verhaltensgenetiker interessieren sich vor allem für das Ausmaß, in dem Adoptierte Kinder bringen die genetischen Anlagen ihrer biologischen
die Genetik und die Umwelt unser Verhalten beeinflussen und dabei Eltern in eine Umwelt ein, die von ihren Adoptivfamilien geschaffen
individuelle Unterschiede bewirken. In diesem Kontext umfasst Umwelt wird. Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den biologischen Verwand-
jeden äußeren nichtgenetischen Aspekt unseres Lebens, von der präna- ten sind ein Indikator dafür, welchen Einfluss die Vererbung hat. Ähnlich-
talen Ernährung bis zu den uns momentan umgebenden Menschen und keiten zwischen dem Kind und den Adoptivverwandten sind ein Hin-
Dingen. weis darauf, welchen Einfluss die Umwelt hat. Adoptierte Kinder neigen
dazu, ihren biologischen Eltern in ihrer Persönlichkeit zu ähneln (den für
Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, ein Gen und ein Genom. Be- sie charakteristischen Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns) und
schreiben Sie die Beziehungen dieser Begriffe zueinander. ihren Adoptiveltern in ihren Wertvorstellungen, Einstellungen, ihrem
In jeder Zelle haben wir 46 Chromosomen – 23 von der Mutter und 23 Benehmen, ihrem Glauben und ihren politischen Tendenzen.
vom Vater. Chromosomen sind fadenartige Strukturen, die aus DNA be-
stehen, ein spiralförmiges komplexes Molekül, das die Gene enthält. Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt,
Unsere etwa 30.000 Gene sind DNA-Segmente, die, wenn sie angeschal- wie stark der Einfluss der Vererbung auf die Entwicklung ist.
tet werden, Schablonen für die Schaffung verschiedener Proteinmole- Das Temperament, also das charakteristische Niveau und die Intensität
küle bilden, den Bausteinen für unsere körperliche Entwicklung und für der emotionalen Reaktionsbereitschaft, kommt schon bald nach der
die Entwicklung des Verhaltens. Ein Genom ist das genetische Profil Geburt zum Ausdruck und bleibt gewöhnlich bis ins Jugendalter relativ
eines Organismus – der vollständige Satz an Instruktionen zum Aufbau unverändert. Dies deutet darauf hin, dass bei der Entwicklung des Tem-
dieses Organismus; es besteht aus dem gesamten genetischen Material peraments die Anlage eine viel größere Rolle spielt als die Umwelt.
in seinen Chromosomen. Kombinationen von Variationen an bestimm-
ten Genorten tragen dazu bei, die Unterschiede zwischen uns festzule- Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und
gen. Die meisten Merkmale des Menschen werden von vielen zusam- Gruppen anwenden lässt, und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir
menwirkenden Genen beeinflusst und kommen nicht durch den Einfluss sagen, dass Gene selbstregulierend sind.
eines einzelnen allein agierenden Gens zustande. Erblichkeit beschreibt das Ausmaß, in dem die Unterschiedlichkeit der
Individuen den Genen zugeschrieben werden kann. Dies ist nur auf Un-
Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, terschiede zwischen Individuen anwendbar – nicht auf eine einzelne Per-
und geben Sie die Methoden an, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um son. In einem imaginären Experiment, mit dem sich identische Um-
die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen. welten schaffen ließen, wären alle beobachteten Unterschiede zwischen
Eineinige Zwillinge entwickeln sich aus einer Eizelle, die sich nach der Menschen (z. B. in Bezug auf das Gewicht) das Ergebnis von Vererbung,
Befruchtung in zwei Zellen teilt. Sie haben den gleichen Satz an Genen und in Bezug auf dieses Merkmal wäre die Erblichkeit hundertprozentig.
gemeinsam, eine ähnliche pränatale Umgebung und gewöhnlich die- Vererbbare individuelle Unterschiede in Bezug auf Merkmale wie Größe
selbe Familie und Kultur nach der Geburt. Zweieiige Zwillinge entwickeln oder Intelligenz müssen nicht notwendigerweise eine Erklärung für
sich aus voneinander getrennten befruchteten Eizellen und haben eine Gruppenunterschiede sein. Gene erklären vor allem, warum manche
Familie sowie eine soziokulturelle Umgebung nach der Geburt gemein- größer sind als andere, aber nicht, warum die Menschen heutzutage
6
3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
115 3
größer sind als vor einem Jahrhundert. Wenn man sagt, Gene seien Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und
selbstregulierend, bedeutet dies, dass die Gene keine Baupläne sind; sie Gefahren der molekulargenetischen Forschung bestehen.
können auf unterschiedliche Umwelten unterschiedlich reagieren. Molekulargenetiker untersuchen die molekulare Struktur der Gene und
ihre Funktion; dabei suchen sie nach jenen Genen, die Verhaltensweisen
Ziel 8: Geben Sie ein Beispiel an für ein genetisch beeinflusstes Persönlich- beeinflussen. Psychologen und Molekulargenetiker arbeiten zusammen
keitsmerkmal, das bei anderen Reaktionen hervorrufen kann, und nennen bei der Suche nach bestimmten Genen – oder häufiger Gruppen von
Sie ein weiteres Beispiel einer Umwelt, die eine Genaktivität auslösen kann. Genen –, durch die Menschen anfällig für bestimmte Krankheiten sind.
Einige Merkmale des Menschen (wie etwa zwei Augen zu haben) entwi- Das Wissen über derartige Zusammenhänge wird es Medizinern mög-
ckeln sich in jeder Umwelt, aber viele wichtige psychologische Merkmal lich machen, werdende Eltern darüber zu informieren, dass ihr Fötus von
ergeben sich aus der Interaktion zwischen unseren genetischen Prädis- den normalen Mustern abweicht. Man wird über die ethischen Fragen
positionen und der uns umgebenden Umwelt. Beispielsweise kann eine sprechen müssen, die mit solchen Wahlmöglichkeiten verbunden sind,
stressreiche Umwelt Gene zur Aktivität bringen, die die Produktion von wenn sich Eltern dafür entscheiden können, ein Kind abzutreiben, das
Neurotransmittern beeinflussen, die ihrerseits zu einer Depression bei- nicht mit ihrem Bild von einem idealen Kind übereinstimmt.
tragen. Und eine genetische Prädisposition, die ein Kind dazu bringt,
unruhig und hyperaktiv zu sein, kann bei Eltern und Lehrern Ärger- > Denken Sie weiter: Würden Sie genetische Tests an Ihrem ungebo-
reaktionen auslösen. renen Kind in der Gebärmutter durchführen lassen? Was täten Sie,
wenn Sie wüssten, Ihr Kind wäre zu einer Hämophilie (Bluterkrank-
heit), einer Schizophrenie oder einer Lernstörung verdammt? Wäre
es von Vorteil oder Nachteil für die Gesellschaft, wenn solche Kinder
abgetrieben würden?
Ziel 10: Beschreiben Sie den Teilbereich der Psychologie, für den sich die Evolutionspsychologen
interessieren.
Bei der Molekulargenetik geht es um eine hier und jetzt angewendete Methode, um Verhaltens- Evolutionspsychologie (evolutionary psycho-
weisen und Merkmale zu identifizieren, die Individuen zu etwas Charakteristischem machen. Die logy): die Untersuchung der Evolution des
Verhaltens und des Denkens mit Hilfe der Prin-
Vertreter der Evolutionspsychologie konzentrieren sich meist darauf, was uns Menschen einan-
zipien der natürlichen Selektion.
der so ähnlich macht. Um zu verstehen, wie diese Prinzipien wirken, lassen Sie uns zunächst auf
ein einfaches Beispiel eingehen: auf Füchse.
Ziel 11: Erklären Sie das Prinzip der natürlichen Selektion, und geben Sie einige mögliche Auswir-
kungen der natürlichen Selektion auf die Entwicklung der Merkmale des Menschen an.
Ein Fuchs ist ein unbändiges und misstrauisches Tier. Wenn Sie einen Fuchs einfangen und ver-
suchen, sich mit ihm anzufreunden, rate ich Ihnen, auf der Hut zu sein. Stecken Sie Ihre Hand in
den Käfig und der scheue Fuchs kann nicht fliehen, so wird er wahrscheinlich Ihre Finger verspei-
sen. Dmitri Belyaew vom Institut für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wis-
senschaften fragte sich, wie unsere Vorfahren es bewerkstelligt haben, die Hunde, die von genauso
wilden Wölfen abstammen, zu zähmen. Er überlegte, ob er es schaffen würde, in einer vergleichs-
weise kurzen Zeitspanne ein ähnliches Kunststück zu vollbringen, und einen furchtsamen Fuchs
in einen kontaktfreudigen Fuchs verwandeln könnte.
Dieses Ziel vor Augen begann Belyaew, mit 30 männlichen und 100 weiblichen Füchsen zu
arbeiten. Von ihren Nachkommen wählte er die zahmsten 5% der männlichen und die zahmsten
20% der weiblichen Füchse aus und paarte sie (er erforschte die Zähmbarkeit durch die Reaktion
der Füchse auf Fütterungs- und Berührungsversuche wie Anfassen und Stoßen). Über 30 Fuchs-
generationen hinweg wiederholten Belyaew und seine Mitarbeiterin Lyudmilla Trut diese einfache
116 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Vorgehensweise. Heute, mehr als 40 Jahre und 45.000 Füchse später, haben sie eine neue Aufzucht
von Füchsen, die nach Trut (1999) »sanftmütig und kontaktfreudig sind und unzweifelhaft als
gezähmt gelten können. … Da das aggressive Verhalten des wilden Rudels (Vorfahren) vollständig
verschwand, verwandelte sich das wilde Tier vor unseren Augen in ein zahmes Haustier.« Sie sind
derart zugänglich und versessen auf menschliche Kontakte – sie lieben es zu winseln, um Aufmerk-
samkeit zu erregen, und lecken Menschen ab wie anhängliche Katzen –, dass das mittellose
Institut dazu überging, seine Füchse als Haustiere zu vermarkten, um sich zusätzliche finanzielle
Mittel zu erschließen.
Wie Belyaew und Trut zeigen konnten, können bestimmte Merkmale selektiert werden und
3 nach einer gewissen Zeit überwiegen, indem man einem einzelnen Lebewesen oder einer Art
L. N. Trut, American Scientist (1999) 87: 160–169
einen Vorteil bei der Fortpflanzung einräumt. So können wilde Wölfe über viele Generationen
hinweg zu gezähmten Haushunden werden und misstrauische Füchse anhängliche Nachfahren
haben. Plomin et al. (1997) erinnern uns daran, dass auch Hunde für spezielle Aufgaben gezüchtet
wurden: z. B. Hirtenhunde zum Hüten der Schaf- oder Rinderherden, Apportierhunde, Such- und
Spürhunde für die Jagd. Psychologen züchteten ebenfalls Hunde, Mäuse und Ratten, deren Gene
sie dazu prädisponierten, gelassen oder schnell zu reagieren und schnelle oder langsame Lerner
zu sein.
Im Leben außerhalb des Labors verschafft derselbe Selektionsprozess bestimmten Lebewesen
einen Vorteil gegenüber anderen. Vor langer Zeit war tief unten im Meer ein mutierter Hai mit
»Zahm wie ein Fuchs« einem schärferen Geruchssinn in der Lage, mehr Beute zu finden, was ihm ein längeres Leben und
Nach 40 Jahren Experimenten mit der Aufzucht von mehr Nachwuchs ermöglichte. Da die Natur über unzählige Generationen hinweg immer wieder
Füchsen sind die meisten Nachkommen treu, an- die Haie begünstigte, die am besten an ihre ökologische Nische angepasst waren, entwickelte sich
hänglich und dazu fähig, starke Bindungen an den
ein ausgesprochen effektives Raubtier. Während Ihrer Lebenszeit hat sich ein viel kleineres Raub-
Menschen aufzubauen
tier entwickelt: Bakterien, die im Krankenhaus eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt haben,
vermehrten sich schneller, während die weniger resistenten Bakterien ausstarben. Mit der Zeit war
die natürliche Folge, dass viele Krankenhäuser unter einer Plage antibiotikaresistenter Bakterien
zu leiden haben.
Natürliche Selektion (natural selection): Prin- Kann die natürliche Selektion auch die menschliche Entwicklung erklären? Die Natur hat
zip, dass von den unterschiedlichen vererbten tatsächlich vorteilhafte Variationen unter den Mutationen (Zufallsfehler in der Genkopie) und
Merkmalen eher diejenigen an nachfolgende
unter den mit jeder Empfängnis entstehenden neuen Genkombinationen selektiert. Neigen wir,
Generationen weitergegeben werden, die zu
vermehrter Reproduktion und zum Überleben
wie zuvor vermutet, zur Furcht vor Schlangen und Höhen, da unsere Vorfahren wegen ebendieser
führen. Furcht mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebt und ihre Gene weiterverbreitet haben?
Vielleicht. Aber die spezifischen genetischen Anlagen, die Ameisen zum Bau eines Hügels oder
Mutation (mutation): Zufallsfehler bei der Gen- Hunde zum Schnüffeln prädisponieren, sind wie eine straff geführte Leine: Sie geben einen engen
replikation, der zu einer Veränderung führt. Korridor für ein bestimmtes Verhalten vor. Anders beim Menschen: Unsere Gene, die im Lauf der
Geschichte unserer Vorfahren selektiert wurden, sind weitaus mehr als eine lange Leine, an der
wir uns bewegen: Sie statten uns mit einer großen Lernfähigkeit und somit einer Fähigkeit aus, uns
an ein Leben unter verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen – von der Tundra bis hin zum
Dschungel. Sowohl die Gene als auch Erfahrungen beeinflussen die Nervenverbindungen in un-
serem Gehirn.
! Evolutionspsychologen betonen, dass unsere Flexibilität bei der Anpassung der Reaktionen
auf verschiedene Umweltbedingungen zu unserer Leistungsfähigkeit beiträgt – und somit zu
unserer Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit.
Insgesamt betrachtet sind die Lebensweisen über alle Kulturen hinweg dennoch verblüffend ähn-
lich. Schauen Sie sich im internationalen Ankunftsbereich des Frankfurter Flughafens um, wo
Passagiere aus der ganzen Welt eintreffen und von ihren freudig erregten Angehörigen erwartet
werden. Sie werden sehen, dass die Gesichter aller Großmütter aus Jamaika, aller chinesischen
Kinder und aller heimkehrenden Briten genauso vor Freude strahlen. Obwohl es eher die Unter-
schiede zwischen Menschen sind, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, müssen auch die
großen Ähnlichkeiten erklärt werden. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (2002, S. 73)
glaubt, dass die gemeinsamen Merkmale der Menschen »durch die natürliche Selektion geformt
wurden, die im Laufe der Evolution des Menschen wirksam war«. Dann ist es kein Wunder, dass
unsere Emotionen, Triebe und Denkfähigkeiten »über die Kulturen hinweg einer gemeinsamen
Logik unterliegen«.
3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
117 3
Diese Ähnlichkeiten in Bezug auf Verhalten und Biologie sind das Resultat unseres gemein-
samen menschlichen Genoms. Nicht mehr als 5% der genetischen Unterschiede zwischen Men-
schen gehen auf Unterschiede zwischen den Gruppen in der Population zurück. Mehr als 95% der
genetischen Variation tritt innerhalb einer Population auf (Rosenberg et al. 2002). Der spezifische
genetische Unterschied zwischen zwei isländischen Dorfbewohnern oder zwischen zwei Kenia-
nern ist viel größer als der durchschnittliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen. Der
Genetiker Lewontin (1982) wies deshalb darauf hin, dass, selbst wenn nach einer weltweiten
Katastrophe nur Isländer und Kenianer überleben würden, die menschliche Spezies lediglich eine
im Grunde »belanglose Reduktion« ihrer genetischen Vielfalt hinnehmen müsste.
Warum sind wir einander so ähnlich? In den Anfängen der menschlichen Geschichte waren
unsere Vorfahren mit bestimmten Fragen konfrontiert: Wer ist mein Verbündeter, wer mein Geg-
ner? Welche Nahrung soll ich zu mir nehmen? Mit wem soll ich Nachkommen zeugen? Manche
Individuen beantworteten diese Fragen mit mehr Erfolg als andere. Beispielsweise prädisponiert
manche Frauen das Erlebnis, dass ihnen in den wichtigen ersten drei Monaten der Schwanger-
schaft schlecht wird, dazu, bestimmte bittere, intensiv schmeckende und neuartige Nahrungs-
mittel zu meiden. Die Meidung dieses Essens hat einen Sinn fürs Überleben, da es sich gerade um
jene Nahrungsmittel handelt, die am häufigsten Gift für die embryonale Entwicklung sind (Schmitt
u. Pilcher 2004). Diejenigen, die es schafften, gesunde anstelle von giftiger Nahrung zu sich neh-
men, überlebten und konnten ihre Gene an spätere Generationen weitergeben; diejenigen, die
Leoparden für nette Streicheltiere hielten, überlebten oft nicht.
Ähnlich erfolgreich waren jene, die sich einen Partner suchten, mit dem sie sich fortpflanzen
und ernähren konnten. Über Generationen hinweg gingen gewöhnlich die Gene der Individuen,
die diese Disposition nicht hatten, dem menschlichen Genpool verloren. Als sich weitere Muta-
tionen ereigneten, wurden jene Gene selektiert, die einen Vorteil für die Anpassung mit sich
brachten. Nach den Aussagen der Evolutionspsychologen ergaben sich daraus Verhaltensten-
denzen und ein Denk- und Lernvermögen, das schon unsere Vorfahren im Steinzeitalter zum
Überleben, zur Fortpflanzung und damit zur Weitergabe ihrer Gene an zukünftige Generationen
befähigte. Die Natur entschied sich für die überlebensfähigsten Anpassungsmuster, die auch die
Unterschiedlichkeit des Menschen berücksichtigen und es somit Bewohnern des Äquators und
der Antarktis ermöglichen, in ihren unterschiedlichen Umwelten zu gedeihen.
! Als Erbträger unseres prähistorischen genetischen Vermächtnisses sind wir zu Verhaltens-
weisen prädestiniert, die bei unseren Vorfahren die Fähigkeit förderten, zu überleben und sich
fortzupflanzen.
Wir lieben den Geschmack von Süßem und Fettem, Dinge, die einst schwer zu bekommen waren,
aber unsere Vorfahren dazu befähigten, in Hungersnöten zu überleben. Da Hungersnöte in west-
lichen Kulturen selten auftreten und Süßigkeiten und Fette uns ständig aus den Geschäftsregalen,
Imbisstheken und Verkaufsautomaten anlachen, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass
Dickleibigkeit bei uns zu einem immer größeren Problem geworden ist. Unsere natürlichen Dis-
positionen, die tief in unserer Geschichte verwurzelt sind, passen einfach nicht zu unserer heutigen
Umwelt mit all ihrem Fastfood (Colarelli u. Dettman 2003). In gewisser Weise sind wir biologisch
für eine Welt konzipiert, die es gar nicht mehr gibt.
Seit langem ist die Evolution als organisierendes Prinzip der Biologie anerkannt. Jared Dia-
mond (2001) merkt an, dass »praktisch kein zeitgenössischer Wissenschaftler glaubt, Darwin
habe sich grundlegend geirrt«. Darwins Theorie lebt weiter als Organisationsprinzip für die Bio-
logie und erst vor kurzem durch die »Zweite Darwinsche Revolution« für die Psychologie. Charles
Darwin (1859) nahm die Anwendung der Evolutionstheorien auf die Psychologie vorweg: In der
Zusammenfassung seines Werkes »The Origin of Species« (dtsch. »Der Ursprung der Arten«) sah
er »offene Felder für weitaus wichtigere Forschungen voraus. Die Psychologie wird auf einer neuen
Grundlage basieren« (S. 346).
Und Darwin hatte Recht: Evolutionspsychologen interessieren sich dabei heute beispielsweise
für folgende Fragen:
4 Warum beginnen Kinder zu fremdeln, sobald sie sich fortbewegen können?
4 Warum ist es bei biologischen Vätern sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie ihre Kinder missbrau-
chen und ermorden, als bei nicht verwandten Partnern, die mit den Kindern zusammenleben?
118 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Lassen Sie uns eine kurze Pause machen und dieser letzten Frage nachgehen, um zu sehen, wie
3 Evolutionspsychologen denken und argumentieren: Wie und warum unterscheiden sich aus der
Sicht der Evolutionspsychologen die weibliche und die männliche Sexualität?
amerikanischen Lesben ist es doppelt so wahrscheinlich (47%), dass sie in einer Partnerschaft
leben, wie bei schwulen Männern (24%) (Doyle 2005).
! Geschlechtsunterschiede in den Einstellungen gehen auch mit Verhaltensunterschieden
C. Styrsky
einher.
Biologen erklären das Paarungsverhalten zahlreicher Arten mit der natürlichen Selektion. Diese Der berühmte kanadische Bulle Starbuck
dient auch den Evolutionspsychologen als Erklärung dafür, dass Frauen beim Sex eher Beziehungs- Holstein zeugte mehr als 200.000 Nach-
kommen.
aspekte wichtig finden, während bei Männern die sexuelle Entspannung im Vordergrund steht. In
der Zeit, in der eine Frau normalerweise ein einziges Kind austrägt und stillt, kann ein Mann
seine Gene über viele andere Frauen weiterverbreiten. Unser natürliches Verlangen ist die Metho-
de, wie sich unsere Gene reproduzieren. Bereits bei unseren Vorfahren gaben Frauen ihre Gene
durch kluge Partnerwahl an zukünftige Generationen weiter. Männer dagegen suchten sich viele
Partnerinnen. »Menschen sind lebende Fossilien – eine Ansammlung von Mechanismen, die
durch früheren Selektionsdruck entstanden sind«, so der Evolutionspsychologe Buss (1995).
Was finden heterosexuelle Männer und Frauen denn nun attraktiv am anderen Geschlecht?
Einige Aspekte der Attraktivität scheinen unabhängig von Zeit und Ort zu sein. In 37 Kulturen –
von Australien bis Sambia – bewerten Männer Frauen mit einer jugendlichen Ausstrahlung als
attraktiver. Nach Ansicht der Evolutionspsychologen hatten Männer, wenn sie sich deshalb zu
gesunden Frauen hingezogen fühlten, die fruchtbar wirkten und mit ihrer weichen Haut und
jugendlichen Figur viele kinderreiche Jahre versprachen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihre
Gene an zukünftige Generationen weiterzugeben. Ganz unabhängig von kulturell unterschied-
lichen Vorstellungen über das Idealgewicht fühlen sich Männer überall auf der Welt am meisten
von Frauen angezogen, deren Taille gut ein Drittel schmaler ist als ihre Hüften; denn dies wird als
Zeichen künftiger Fruchtbarkeit interpretiert (Singh 1993).
Auch Frauen fühlen sich zu gesund aussehenden Männern hingezogen, wenn auch insbeson-
dere zu jenen, die reif, dominant, kühn und wohlhabend aussehen (Singh 1995). Nach Ansicht der
Evolutionspsychologen stehen solche Attribute für die Fähigkeit zu Versorgung und Schutz (Buss
1996, 2000; Geary 1998). Ca. 150 Studien über Geschlecht und Risikoverhalten demonstrierten,
dass Männer in 14 von 16 Bereichen (einschließlich intellektuellem Risikoverhalten, physischen
Herausforderungen, Rauchen und Sex) eher dazu bereit sind, ein Risiko einzugehen (Byrnes et al.
1999). Wenn es um den Aktienmarkt geht, neigen sie auch dazu, optimistischer zu sein und offen-
siver mit Aktien zu handeln (Jacobe 2003; Myers 2002). Als Erklärung dafür, warum 16–24 Jahre
120 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
alte Männer mehr Wagemut zeigen und deshalb nahezu mit 3-mal höherer Wahrscheinlichkeit bei
Autounfällen ums Leben kommen als junge Frauen, spekulierte Nell (2002), dass sich »die jungen
Männer genau so verrückt aufführen wie der Pfau und der Rehbock, die beim Nahen des Löwen
herumtänzeln und sagen: ›Schau mich an! Ich verfüge über so viel Kraft und Fähigkeiten, dass ich
furchtlos sein kann – ich werde überleben, ganz gleich, wie viel ich trinke oder wie schnell ich
fahre‹«.
Evolutionspsychologen merken an, dass Frauen Partner bevorzugen, die ein Potenzial für eine
lange Partnerschaft haben und sich für ihre gemeinsamen Nachkommen einsetzen (Gangestad u.
Simpson 2000). Sie wollen lieber einen Mann haben, der zu Hause bleibt, als einen, der ständig
ausgeht. Langzeitpartner tragen zum Schutz und zur Versorgung bei, wodurch die Kinder größere
Überlebensaussichten haben. Letztlich müssen Männer einen genetischen Kompromiss finden
zwischen dem Wunsch nach einer weiten Verbreitung ihrer Gene und der Bereitschaft, die Eltern-
rolle zu übernehmen.
! Nach Meinung der Evolutionspsychologen gilt folgendes Prinzip: Die Natur wählt Verhaltens-
weisen aus, die es wahrscheinlicher werden lassen, dass sich die eigenen Gene künftig aus-
breiten (. Abb. 3.4).
Als mobile Gentransportmaschinen sind wir dafür ausgestattet, solchen Verhaltensweisen den
Vorzug zu geben, die auch für unsere Vorfahren innerhalb ihrer Umwelt nützlich waren. Sie waren
dazu prädisponiert, so zu handeln, dass sie Enkel und Urenkel bekommen; wären sie es nicht ge-
wesen, dann gäbe es uns gar nicht. Als Träger ihres genetischen Erbes haben wir ähnliche Prädis-
positionen.
Ziel 14: Fassen Sie die Kritik an evolutionspsychologischen Erklärungen menschlicher Verhaltens-
weisen zusammen, und stellen Sie die Antworten der Evolutionspsychologen auf diese Kritik dar.
Es gibt auch kritische Stimmen zur Evolutionspsychologie, wobei die natürliche Selektion von
Persönlichkeitsmerkmalen und ihr Einfluss auf das Überleben der Gene nicht in Frage gestellt
werden.
! Es wird kritisiert, dass von einem bestimmten Effekt (z. B. dem unterschiedlichen Verhalten der
Geschlechter in der Sexualität) im Nachhinein auf eine Erklärung geschlossen wird.
Stellen Sie sich vor, wir machen eine ganz andere Beobachtung und schließen zurück. Wenn sich
alle Männer ihren Partnerinnen gegenüber gleichermaßen loyal verhielten, müssten wir dann
3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht
121 3
nicht schlussfolgern, dass die Kinder von engagierten, sie umsorgenden Vätern häufiger überlebt
und deren Gene weitergegeben haben? Täten Männer nicht besser daran, wenn sie mit nur einer
Frau zusammen wären, um die ansonsten geringe Anzahl an Befruchtungen zu erhöhen und die
Frau von Avancen konkurrierender Männer abzuschirmen? Könnte nicht eine ritualisierte Ver-
bindung wie die Ehe die Frauen auch vor männlichen Belästigungen bewahren? Tatsächlich wer-
den solche Argumente als evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Vorliebe für
monogame Beziehungen herangezogen.
Nach Miller et al. (2002) sind die Eigenschaften, die Männer und Frauen bei einem Partner
suchen, »bemerkenswert ähnlich«, obwohl der Wunsch nach zahlreichen Sexualpartnern bei
Männern stärker ausgeprägt ist als bei Frauen. Doch wie kommt es dann, dass sich bei Arten wie
den gewöhnlichen Bonobo-Schimpansen die leidenschaftlichen Weibchen mit zahlreichen Männ-
chen paaren? Führt dieses Verhalten dazu, dass die Männchen, die nicht wissen, wer wirklich der
Vater der Nachkommen ist, diese gemeinsam tolerieren und beschützen? Man kommt kaum über
Erklärungen hinaus, die auf Rückschlüssen basieren, und mit denen man meist auf der sicheren
Seite ist. Wie der Paläontologe Stephen Jay Gould (1997) anmerkt, handelt es sich eher »um Spe-
kulation [und] Raterei, wie sie auf Partys üblich ist«. Einige machen sich Sorgen über die sozialen
Folgen der Evolutionspsychologie. Wird hier ein genetischer Determinismus propagiert, der pro-
gressive Bestrebungen zur Veränderung der Gesellschaft im Kern trifft (Rose 1999)? Ist diese
Lehre die Totengräberin für ethische Überlegungen und moralische Verantwortlichkeit? Könnte
sie dazu genutzt werden, um zu rechtfertigen, dass »Männer mit einem hohen Status eine Reihe
junger, fruchtbarer Frauen heiraten« (Looy 2001)? Ein Großteil dessen, was wir sind, ist nicht in
uns angelegt – und das bestreiten die Evolutionspsychologen auch gar nicht. So unterliegen die
Definitionen der Geschlechtsrollen kulturellen Erwartungen, und auch die Ansichten über Attrak-
tivität sind je nach Ort und Zeit variabel. Das üppige Marilyn-Monroe-Ideal der 50er Jahre wurde
in den folgenden Jahrzehnten durch das Bild der schlanken, sportlichen Frau ersetzt. Darüber
hinaus könnte man vermuten, dass Männer, die dazu erzogen wurden, lebenslangen Verpflichtun-
gen einen hohen Stellenwert zu geben, Sexualbeziehungen mit nur einer Partnerin pflegen. Im
Unterschied dazu werden Frauen, deren Sozialisation Gelegenheitssex nicht mit einem Tabu be-
legte, möglicherweise sexuelle Beziehungen mit vielen Partnern eingehen.
In gewisser Weise sind Geschlechtsrollenunterschiede bei den Vorlieben für einen Partner
kulturübergreifend. Aber auch hier sind derartige Unterschiede teilweise durch die sozialen und
familiären Strukturen in einer Kultur mitbedingt. Wenn Eagly u. Wood (1999; Wood u. Eagly
2002) in ihren Studien auf eine Kultur mit ungleichen Geschlechterrollen stießen – in der Männer
die Versorgerrolle und Frauen die Rolle am Herd einnehmen –, so handelte es sich dabei auch um
eine Kultur, in der Männer nach potenziellen Partnerinnen mit jugendlichem Aussehen und häus-
lichen Fähigkeiten verlangen, während sich Frauen Männer mit einem ansehnlichen Status und
einem potenziell hohen Verdienst suchen. Fanden Eagly u. Wood dagegen eine Kultur, in der die
Geschlechter gleichgestellt waren, so konnten sie dort im selben Maße auch die Existenz von
weniger ausgeprägten Geschlechtsunterschieden bei der Partnersuche belegen. Sie zogen ihre
Schlussfolgerungen aufgrund einer Analyse anhand derselben 37 Kulturen, die zuvor von David
Buss (1994) untersucht worden waren. Evolutionspsychologen versichern uns, dass die Ge-
schlechter weitaus ähnlicher sind als unterschiedlich. Sie betonen, dass Menschen über eine aus-
geprägte Fähigkeit zum Lernen und damit für sozialen Fortschritt verfügen. (Wenn wir auf die
Welt kommen, dann sind wir für die Anpassung und das Überleben ausgestattet, ganz gleich ob
wir in Iglus oder in Baumhäusern leben).
! Evolutionspsychologen betonen die Kohärenz und die starken Argumente der Evolutions-
theorien, vor allem jener, die überprüfbare Vorhersagen liefern (z. B. dass wir andere in dem
Maße bevorzugen, in dem sie Gene mit uns gemeinsam haben oder unsere Zuneigung später
erwidern können).
Und sie erinnern uns daran, dass die Suche danach, wie wir so geworden sind, wie wir es jetzt sind,
nicht notwendigerweise eine Anweisung dafür ist, wie wir handeln sollen. Manchmal trägt es,
wenn wir unsere Vorlieben verstehen, schon dazu bei, sie zu überwinden.
122 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Wir haben erfahren, wie unsere Gene, die in bestimmten Umwelten zum Ausdruck kommen,
einen Einfluss auf Entwicklungsunterschiede haben. Aber was ist mit dem Teil von uns, der nicht
in uns angelegt ist? Wenn wir durch unsere Anlagen über die Erziehung geformt werden, was sind
dann die wirkungsvollsten Elemente dieser äußeren Einflüsse? Wie wird unsere Entwicklung
durch die pränatale Entwicklung, die frühen Erfahrungen, die Familie, die Freunde und die Kultur
geleitet, und wie trägt all dies zur Vielfalt bei?
3.3 · Eltern und Gleichaltrige
123 3
3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen
Die formende Umwelt, die mit den Anlagen zusammenwirkt, fängt bei der Empfängnis mit der
pränatalen Entwicklung an. Nach der Geburt weitet sie sich auf unsere Familie, auf die Bezie-
hungen zu den Gleichaltrigen (engl. »peers« oder »peer group«) und auf all unsere sonstigen Er-
fahrungen aus.
Pränatale Umwelt
Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Bedingungen, die die Entwicklung vor der Geburt beeinflussen
können.
deckung so überrascht, dass er vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse das Experiment einige
Male wiederholte. Die Effekte waren so deutlich, dass man beim Ansehen eines kurzen Videoclips
allein aufgrund der Aktivität und Neugier der Ratten sagen konnte, ob sie in einer reizarmen oder
gut ausgestatteten Umwelt aufgezogen worden waren (Renner u. Renner 1993). Nach 60 Tagen der
Aufzucht in einer gut ausgestatteten Umwelt, so berichten Kolb u. Whishaw (1998), nimmt das
Gewicht des Gehirns um 7–10% zu, und die Anzahl der Synapsen vermehrt sich um ungefähr
20% – was »eine außergewöhnliche Veränderung« ist. Derartige Ergebnisse waren Anlass dafür,
dass die Lebensbedingungen für Tiere in Labors, auf Bauernhöfen und auch im Zoo verbessert
wurden – aber auch für Heimkinder.
3 Mehrere Forscherteams fanden heraus, dass sich eine Stimulation durch Berührung oder
Massage sowohl auf junge Ratten als auch auf frühgeborene Babys positiv auswirkt (Field 2001;
Field et al. 2004). Beide, Ratten und Kinder, die häufig berührt werden – nehmen rascher an Ge-
wicht zu und weisen eine schnellere neurologische Entwicklung auf. Intensivstationen in Entbin-
U. Conrad-Willmann
dungskliniken nutzen diesen Befund so, dass die Frühgeborenen mit Massagetherapie behandelt
werden, so dass sie sich schneller entwickeln und die Klinik rascher verlassen können. Greenough
et al. (1987) entdeckten zudem, dass wiederholte Erfahrungen das Nervengewebe einer Ratte ge-
nau an dem Ort im Gehirn verändern, der für die Verarbeitung von Erfahrungen zuständig ist.
Neuronale Differenzierung durch frühe Speziali-
Das reifende Gehirn stattet uns mit einer Fülle von Nervenbahnen aus. Die Erfahrung trägt zum
sierung
Spieler von Streichinstrumenten, die vor dem Alter
Erhalt unserer aktivierten Nervenverbindungen bei, während sie unsere nicht genutzten Nerven-
von 12 Jahren mit dem Spielen beginnen, weisen verbindungen degenerieren lässt. In der Pubertät kommt es dann zu einem massiven Verlust an
größere und komplexere Nervenschaltkreise auf, nicht genutzten Verbindungen (dieser Prozess wird im Englischen als Pruning bezeichnet, dt. von
die die Finger der linken Hand kontrollieren, mit Überflüssigem befreien).
denen die Tonhöhe kontrolliert wird, als Streicher,
Hier an der Schnittstelle von Umwelt und Anlage aktiviert und bewahrt die gut ausgestattete
die später mit dem Unterricht angefangen haben
Umwelt eines Kindes jene Nervenbahnen, die im Falle spärlicher Erfahrungen aufgrund von
mangelndem Gebrauch abgestorben wären. Es gibt also eine biologische Realität der Früherzie-
hung. Während der frühen Kindheit können die Kleinen am leichtesten die Grammatik und den
Akzent einer Fremdsprache meistern, solange nämlich noch das Übermaß an Verbindungen ab-
rufbereit ist. Kommt es jedoch vor der Adoleszenz nicht zu irgendeiner Auseinandersetzung mit
einer geschriebenen Sprache oder Zeichensprache, so wird ein Betroffener nie irgendeine Sprache
beherrschen (7 Kap. 10).
Entsprechend entwickeln Menschen, die wegen eines grauen Stars während der Kindheit mit
unzureichenden visuellen Erfahrungen aufwuchsen, keine normale Wahrnehmung, selbst wenn
ihr Sehvermögen durch die Entfernung des grauen Stars wiederhergestellt wird (7 Kap. 6). Die
Hirnzellen, die normalerweise für das Sehen zuständig sind, sterben ab oder werden für andere
Zwecke umfunktioniert. Für eine optimale Gehirnentwicklung ist die normale Stimulation wäh-
rend der ersten Jahre von entscheidender Bedeutung.
»Gene und Erfahrungen sind nur zwei Arten,
dasselbe zu machen – Synapsen miteinander zu ! Beim reifenden Gehirn scheint eine Regel besonders wichtig zu sein: Nutz es, sonst geht es
verbinden.« verloren.
Joseph LeDoux, »The Synaptic Self« (2002)
Die Hirnentwicklung endet allerdings nicht mit der Kindheit. Unser Nervengewebe verändert
sich das ganze Leben hindurch. Sowohl die Umwelt als auch unsere Erbanlagen formen unsere
Synapsen. Anblicke, Gerüche, Berührungen und Stöße aktivieren und stärken unsere Nerven-
bahnen, während die übrigen mangels Benutzung schwächer werden, so wie wenig begangene
Waldwege allmählich verschwinden und belebte Wege sich verbreitern. Unsere Gene geben unse-
re generelle Hirnstruktur vor, doch die Erfahrung weist den Weg zu den Details. Wenn ein Affe
mehrere tausend Mal am Tag übt, mit einem Finger einen Hebel zu drücken, verändert sich das
Hirnareal, das den Finger steuert, und es bildet auf diese Weise die Erfahrung ab. Menschliche
Gehirne funktionieren ähnlich. Ob wir nun lernen, auf einem Keyboard zu spielen oder Skate-
board zu fahren, wir verbessern in dem Maße unsere Fähigkeiten, in dem unser Gehirn den
Lernprozess verinnerlicht (. Abb. 3.7).
Es kann Angst auslösen, wenn man erkennt, wie riskant es ist, Kinder zu haben und sie großzu- Auch bei Schimpansen ist es so: Wird ein Junges
ziehen. Wie beim Kartenspiel mischen Frau und Mann bei der Fortpflanzung ihre Genkarten. Sie von einem anderen verletzt, dann greift dessen
Mutter oft die Mutter des Schuldigen an
geben ein lebensentscheidendes Blatt an ihr künftiges Kind aus, das dann zahllosen Einflüssen
(Goodall 1968).
ausgesetzt sein wird, die ihrer Kontrolle entzogen sind. Trotzdem sind Eltern i. Allg. sehr zufrieden
mit den Erfolgen ihrer Kinder, entwickeln aber auch Schuld- und Schamgefühle, wenn diese
versagen. Angesichts eines Kindes, das gerade eine Auszeichnung erhalten hat, strahlen sie vor
Freude. Andererseits fragen sie sich, was sie mit ihrem Kind falsch gemacht haben, wenn sie mehr-
mals hintereinander ins Dienstzimmer des Schulleiters gebeten werden. Psychoanalytische An-
sätze in der Psychiatrie und Psychologie ließen die Vorstellung aufkommen, »unzureichende
mütterliche Fürsorge« sei die Ursache für Probleme von Asthma bis Schizophrenie. Die Gesell-
schaft verstärkt diese Kritik an den Eltern noch: Wer glaubt, dass Eltern ihre Nachkommen formen
wie ein Töpfer den Ton, ist schnell dabei, Eltern für die Tugenden ihrer Kinder zu rühmen und sie
für ihre schlechten Angewohnheiten zu tadeln. Die öffentlichen Medien schrieben immer wieder
über den psychischen Schaden, den »Rabeneltern« ihren zarten, schwachen Kindern zufügen. So
sah Bradshaw (1990) das »vernachlässigte, verletzte Kind« in jedem von uns als »Hauptursache für
das menschliche Elend«.
Ist es denn wirklich so, dass zu gutmütige – oder unbeteiligte – Eltern zukünftige Erwachsene
mit einem »inneren verwundeten Kind« produzieren? Oder sind es die Eltern, die ihre Kinder zu
sehr antreiben, oder die, die sich nicht durchsetzen können? Liegt das Problem vielleicht bei den
überbehütenden oder etwa bei den zu distanzierten Eltern? Sind Kinder tatsächlich so leicht ver-
wundbar? Wenn dem so ist: Ist es dann richtig, unsere Eltern für unsere Fehler und uns selbst für
das Versagen unserer Kinder verantwortlich zu machen? Sollten wir Strafzettel verteilen und die
Eltern für die Missetaten ihrer Kinder belangen? Oder ist es denkbar, dass durch das ganze Gerede
über verletzte, schwache Kinder normaler Eltern die Brutalität einer wirklichen Misshandlung
trivialisiert wird?
Neubauer u. Neubauer (1990, S. 20–21) zeigen anschaulich, wie wir im Nachhinein unsere
Eltern vielleicht unangemessenerweise loben oder tadeln:
Zwei Männer, die eineiige Zwillinge und jetzt 30 Jahre alt sind, wurden nach der Geburt voneinander
© Ricardo Azoury/Corbis
getrennt und in unterschiedlichen Ländern von ihren jeweiligen Adoptiveltern aufgezogen. Beide
waren ausgesprochen ordentlich und sauber bis hin zu dem Punkt, wo es ins Pathologische geht.
Ihre Kleidung war makellos, Verabredungen hielten sie exakt ein, die Hände schrubbten sie regel-
mäßig, so dass sie schon wund gerieben und rot waren. Als der eine gefragt wurde, warum er das
Bedürfnis habe, so sauber zu sein, war seine Antwort klar: ›Meine Mutter. Als ich bei ihr aufwuchs, Wer ist schuld?
hielt sie das Haus perfekt in Ordnung. Sie bestand darauf, dass jeder noch so kleine Gegenstand an Diese Jugendlichen gehen ein großes Risiko ein,
seinen Platz zurückkam. Die Uhren – wir hatten Dutzende davon – waren alle darauf eingestellt, um wenn sie auf dem Dach von Hochgeschwindigkeits-
12 Uhr mittags zu läuten. Wissen Sie, sie bestand darauf. Ich lernte von ihr. Was hätte ich anderes zügen mitfahren. Warum nur? Die überraschenden
Unterschiede zwischen Kindern, die in derselben
machen sollen.‹
Familie aufgewachsen sind, deuten auf die Grenzen
Der Zwillingsbruder des Mannes war genauso ein Perfektionist, wenn es um Wasser und Seife des elterlichen Einflusses hin. Auch die genetischen
ging, und erklärte sein eigenes Verhalten folgendermaßen: ›Der Grund ist ganz einfach. Ich reagierte Prädispositionen und sozialen Einflüsse prägen das
auf meine Mutter, die wirklich schlampig war.‹« Leben der Kinder
126 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Eltern sind wirklich wichtig (Collins et al. 2000; Eisenberg et al. 1998a, b; Vandell 2000). In Extrem-
situationen wird die Macht des elterlichen Einflusses am deutlichsten. In 7 Kap. 4 werden wir die
prägnantesten Beispiele dafür anführen: Missbrauchte Menschen, die selbst missbrauchen, vernach-
»Wenn Sie Ihre Eltern für Ihre eigenen Probleme
als Erwachsener verantwortlich machen wollen, lässigte Menschen, die ihre Kinder vernachlässigen, die geliebten, aber streng erzogenen Kinder, die
dann haben Sie ein Anrecht darauf, den Genen, selbstbewusst und sozial kompetent werden. Welch starke Wirkung die Familie hat, zeigt sich auch
die Sie von ihnen haben, die Schuld dafür zu ge- häufig in den politischen Einstellungen der Kinder, ihren religiösen Überzeugungen und in ihrem
ben; Sie haben aber kein Anrecht darauf, Ihre El- Benehmen gegenüber anderen Menschen. Und sie kommt zum Vorschein in den bemerkenswerten
tern für die Art und Weise, wie sie Sie behandelt
schulischen und beruflichen Erfolgen der Kinder von Flüchtlingen, die man Boat People nannte und
haben, verantwortlich zu machen ... Wir sind keine
Gefangene unserer Vergangenheit.« die aus Vietnam und Kambodscha geflohen waren – Erfolge, die man auf die eng miteinander ver-
3 Martin Seligman, »What You Can Change and What
You Can’t« (1994)
bundenen, unterstützenden, ja sogar fordernden Familien zurückführt (Caplan et al. 1992).
! Die gemeinsamen Umwelteinflüsse, einschließlich der von Geschwistern gemeinsam erlebten
familiären Einflüsse, können generell nur weniger als 10% der Unterschiede zwischen den
Kindern in Persönlichkeitstests erklären.
In den Worten der Verhaltensgenetiker Plomin u. Daniels (1987) heißt das: »Zwei
Kinder aus derselben Familie sind im Durchschnitt so unterschiedlich wie zwei
Kinder, die zufällig aus einer Population ausgewählt werden.«
Die Entwicklungspsychologin Scarr (1993) zieht daraus die Schlussfolgerung,
dass »Eltern für Kinder, die sich großartig entwickeln, weniger gelobt, und für
Kinder, bei denen das nicht der Fall ist, weniger gescholten werden sollten«. Ob-
wohl die Umwelt einen Einfluss hat, »ist es unbarmherzig, den Einfluss der Um-
welt zu sehr zu betonen«, behauptet Gazzaniga (1992). Warum wohl? »Weil es bei
den Eltern so ankommt, als sei ihr Kind durch etwas, was sie getan – oder unter-
lassen – haben, verbogen worden.«
C. Styrsky
Die Erziehung durch die Eltern ist vergleichbar mit der Ernährung. Es macht
keinen großen Unterschied, ob wir unser Eiweiß daher bekommen, dass wir
Huhn oder dass wir Rindfleisch essen, aber wir müssen Nahrung bekommen. Entsprechend macht
es keinen großen Unterschied, ob wir bei Eltern aufwuchsen, die uns früh oder spät aufs Töpfchen
gesetzt haben, aber es ist ganz gewiss hilfreich für uns, jemanden zu haben, zu dem wir uns als
zugehörig empfinden, jemanden, der sich um uns kümmert.
Ziel 18: Schätzen Sie die Bedeutung des Einflusses von Gleichaltrigen auf die Entwicklung ein.
Welche Rolle spielen äußere Einflüsse, wenn die Kinder heranwachsen? Wir sind auf
allen Altersstufen in dem Maße Gruppeneinflüssen ausgesetzt (7 Kap. 15), in dem wir
versuchen, uns selbst zu etablieren und in unterschiedlichen Gruppen akzeptiert zu
werden, sei es nun in der Schule oder anderswo. Das Konformitätsverhalten von Kin-
dern, die bestrebt sind, sich in verschiedene Gruppen einzupassen, ist ein wichtiger
Einflussfaktor bei Verhaltensweisen im Alltag. Beispielsweise:
4 Kleinkinder, die trotz elterlichen Drängens eine bestimmte Mahlzeit verschmähen,
essen sie, wenn andere Kinder dabei sind, die dieses Essen mögen.
4 Ein Kind, das zu Hause seine Muttersprache mit einem bestimmten Akzent hört
und gleichzeitig einen anderen Akzent in seiner Nachbarschaft und Schule, nimmt
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unweigerlich den Akzent der Altersgenossen an und nicht den der Eltern.
4 In Hinblick auf das Rauchen ist der direkte Einfluss der Eltern weniger bedeutsam,
Die Macht der Gleichaltrigengruppe als viele Menschen annehmen. Jugendliche, die anfangen zu rauchen, haben viel-
Während wir uns entwickeln, spielen wir mit unse- mehr Freunde, die ihnen das Rauchen vormachen, ihnen seine Vorzüge vorgau-
ren Altersgenossen, wir arbeiten und gehen freund-
keln und ihnen Zigaretten anbieten (Rose et al. 1999, 2003). Zum Teil mag die
schaftliche Beziehungen mit ihnen ein. Es ist des-
halb kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche so Ähnlichkeit unter Gleichaltrigen auch auf einen »Selektionseffekt« zurückzufüh-
sensibel auf die Einflüsse der Gleichaltrigengruppe ren sein. Denn Kinder suchen sich Altersgenossen aus, die ähnliche Einstellungen
reagieren und Interessen haben wie sie selbst. Die Raucher (oder Nichtraucher) suchen sich
Freunde, die ebenfalls rauchen (oder eben nicht).
3.3 · Eltern und Gleichaltrige
127 3
Wenn man weiß, dass das Leben teils durch Einflüsse jenseits der Kontrolle von Eltern abläuft, ist »Mehr als ihren Vätern gleichen die Menschen
Vorsicht angebracht, wenn man Eltern wegen der Leistungen ihrer Kinder lobt oder ihnen für die ihrer Zeit.«
Altes arabisches Sprichwort
besorgniserregenden Merkmale ihrer Kinder die Schuld gibt. Und wenn unsere Kinder sich nicht
so einfach durch die elterliche Erziehung formen lassen, können wir Eltern uns vielleicht ein wenig
entspannt zurücklehnen und unsere Kinder so lieben, wie sie nun einmal sind.
Ein starker Einfluss der Eltern kann jedoch auch indirekt wirksam werden. Eine Gruppe von »Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzu-
Eltern kann durchaus auf das soziale Umfeld einwirken, das einen Einfluss auf die Gruppe der ziehen.«
Afrikanisches Sprichwort
Gleichaltrigen hat. Bildung und Kultur werden über Generationen hinweg zum Teil über das
weitergegeben, was Judith Rich Harris (2000b) »die Effekte der Elterngruppe auf die Kindergrup-
pe« nennt. Wenn dem so ist, so äußert sich der elterliche Einfluss beispielsweise darin, dass die
Eltern ihren Kindern bei der Wahl einer Wohngegend und von Freunden helfen. In diesem Zu-
sammenhang ist der Einfluss der Wohngegend wichtig (Kalff et al. 2001; Leventhal u. Brooks-
Gunn 2000). Deshalb zielen Interventionsprogramme für Jugendliche am besten auf die ganze
Schule und das gesamte Wohnviertel ab und nicht nur auf Einzelne. Wenn ein schlechtes allge-
meines Klima kennzeichnend für die Umgebung eines Kindes ist, muss dieses Klima – und nicht
das Kind – geändert werden.
Gardner (1998) kommt zu dem Schluss, dass Eltern und Freunde komplementär sind:
Eltern sind wichtig, wenn es um Bildung und Ausbildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfs-
bereitschaft und die Art des Umgangs mit Autoritätspersonen geht. Freunde sind wichtig, um
Zusammenarbeit zu lernen, zu erfahren, wie man sich beliebt macht und welcher Stil für die Inter-
aktionen mit Altersgenossen der richtige ist. Die jungen Menschen finden ihre Freunde vielleicht in-
teressanter, verlassen sich aber auf ihre Eltern, wenn sie an ihre Zukunft denken. Außerdem wählen
die Eltern die Wohngegend und die Schule der Kinder aus, in der ihre Altersgenossen die Freunde sein
werden.
Ziel 19: Erörtern Sie die Vorteile der Kultur für das Überleben.
Im Vergleich zu dem schmalen Grat, auf dem sich Fliegen, Fische und Füchse bewegen, hat die
Natur für uns eine längere und breitere Straße gebaut, auf der uns die Umwelt vorantreibt. Die
Fähigkeit, zu lernen und uns anzupassen, ist das Kennzeichen unserer Spezies und damit das
größte Geschenk der Natur an uns. Wir kommen zur Welt, ausgestattet mit einer riesigen zere-
bralen Festplatte, und sind bereit, viele Gigabytes kultureller Software aufzunehmen.
3 Kultur (culture): überdauernde Verhaltenswei-
sen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und
Kultur umfasst die Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Traditionen,
die von einer Gruppe von Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergege-
Traditionen, die von einer großen Gruppe von
ben werden (Brislin 1988). Baumeister (2005) merkt an, dass die Eigenart des Menschen für die
Menschen geteilt und von einer Generation an
die nächste weitergegeben werden. Kultur gemacht zu sein scheint. Wir sind soziale Lebewesen, aber noch mehr. Wölfe sind soziale
Lebewesen; sie leben und jagen in Rudeln. Ameisen sind unaufhörlich sozial und nie allein. Doch
Baumeister schreibt: »Kultur ist eine bessere Methode, sozial zu sein.« Die Kultur trägt viel dazu
bei, dass wir überleben und uns fortpflanzen; dies geschieht mit Hilfe sozialer und ökonomischer
Systeme, die uns in die Lage versetzen, im Winter Früchte zu essen, im Internet zu surfen und
Informationen zu sammeln. In etwa leben Wölfe noch genauso, wie sie es vor 10.000 Jahren taten.
Sie und ich kommen in den Genuss von Dingen, die den meisten unserer Vorfahren vor 100 Jahren
unbekannt waren; und dazu gehören Elektrizität, sanitäre Einrichtungen und Antibiotika. Die
Kultur funktioniert.
Wie wir in 7 Kap. 10 erfahren werden, weisen Primaten rudimentäre Elemente von Kultur auf;
dies umfasst auch die lokal angepassten Gewohnheiten beim Werkzeuggebrauch, die Körperpfle-
ge und das Werben um das andere Geschlecht. Kleinere Schimpansen und Makaken entwickeln
manchmal Gewohnheiten – in einem bekannten Beispiel das Waschen von Kartoffeln – und geben
sie an Gleichaltrige und an Nachkommen weiter. Aber bei der Kultur des Menschen geschieht
mehr. Dank der Tatsache, dass wir die Sprache beherrschen, wissen wir Menschen nicht nur, wie
man Nahrungsmittel reinigt, sondern wir verfügen auch über das Hauptmerkmal der Kultur: die
Bewahrung der Innovation. Aufgrund unserer Kultur standen mir heute Post-it-Klebezettel, Goog-
le und ein Latte macchiato zur Verfügung; das alles hatte für mich einen Nutzen. Wir haben es
auch dem gesammelten Wissen der Kultur zu verdanken, dass sich im letzten Jahrhundert unsere
Lebenserwartung von 47 auf 76 Jahre erhöhte. Außerdem ermöglichte die Kultur eine kosteneffi-
ziente Arbeitsteilung. Obwohl eine Person das Glück hat, dass ihr Name auf dem Umschlag dieses
Buchs steht, ist das Produkt eigentlich das Ergebnis der Koordinierung und des Engagements eines
Zwang zur Uniformierung Teams von Frauen und Männern, von denen keiner allein in der Lage ist, es hervorzubringen.
Menschen aus individualistischen westlichen Kul- Über die Kulturen hinweg unterscheiden wir uns in Bezug auf die Sprache, das Währungs-
turen empfinden die traditionelle japanische Kultur
system, die Sportarten, darin, mit was für einer Gabel – wenn überhaupt – wir essen und auf
als sehr einschränkend. Doch aus der Sicht der Japa-
ner drückt diese Tradition die »Gelassenheit von welcher Seite der Straße wir Auto fahren. Doch hinter diesen Unterschieden steckt eine ganz
Menschen, die genau wissen, was sie voneinander große Ähnlichkeit – unsere Fähigkeit zur Kultur, zu gemeinsamen und überlieferten Sitten und
zu erwarten haben«, aus. (Weisz et al. 1984) Gebräuchen sowie zu Überzeugungen, die uns in die Lage versetzen, zu kommunizieren, Geld
gegen Dinge einzutauschen, zu spielen, zu essen und Auto nach Regeln zu
fahren, auf die wir uns geeinigt haben, und dabei nicht miteinander zu
kollidieren. Diese gemeinsame Fähigkeit zur Kultur macht unsere Unter-
schiede erst möglich. Die Eigenheit des Menschen zeigt sich in der Vielfalt
der Menschen.
Kevin R. Morris/Bohemian Nomad Picturemakers/Corbis
beträgt der Ausländeranteil im Durchschnitt 8,8%, allerdings mit großen Unterschieden je nach
Bundesland: Hamburg 14,2%, Baden-Württemberg 11,9%, Thüringen und Sachsen-Anhalt 1,9%
(Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Anteil der ausländischen Bevölkerung vom
18.10.2007). Ich kann mir auch vorstellen, dass die Leser der englischsprachigen Ausgabe dieses
Buchs aus einer Vielfalt von Kulturen kommen, z. B. aus der Türkei oder aus Spanien, aus den USA
oder aus Kanada.
Ziel 20: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Kulturen unterscheiden.
Wie die meisten Amerikaner spreche ich fließend nur Englisch. Ich schätze die Freiheit und meinen
persönlichen Raum. Ich halte mich an zeitliche Vereinbarungen. Ich fühle mich nur mit bestimmten
Formen von Berührung wohl. Eine bestimmte Anzahl von Augenkontakten und eine gewisse Distanz
zwischen zwei Menschen fühlen sich für mich korrekt an. Einige Dinge erscheinen viel genießbarer
als andere. Ich fühle mich am besten, wenn ich eine bestimmte Form der Kleidung wie Jeans und T-
Shirts trage. Ich gehe ohne Kopfbedeckung aus und trage innerhalb des Hauses Schuhe. Ich unter- Norm (norm): allgemein verstandene Regel für
halte mich gerne. akzeptiertes und erwartetes Verhalten. Normen
schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor.
Für die in Nordamerika ankommenden Besucher aus Japan und Indien ist es schwer zu verstehen, Persönlicher Raum (personal space): Puffer-
warum Menschen im Haus schmutzige Straßenschuhe tragen, andere wundern sich, warum es zone, die wir gerne um unseren Körper herum
ihnen Vergnügen bereitet, im Wald inmitten von Ameisen und Fliegen ein Picknick zu machen. aufrechterhalten.
! Jede kulturelle Gruppe entwickelt eigene Normen, Regeln für akzeptiertes und erwartetes
Verhalten.
So benutzen viele Menschen aus Südasien zum Essen nur die Finger ihrer rechten Hand. Die
Briten haben die Norm, sich ordentlich in einer Reihe anzustellen. Manchmal wirken soziale
Normen einengend: »Warum sollte es von Bedeutung sein, wie ich mich anziehe?« Andererseits
ölen Normen die soziale Maschinerie. Vorgeschriebene, gut gelernte Verhaltensweisen machen
es unnötig, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen. Wenn wir wissen, wann wir klat-
schen oder uns verbeugen sollen, welche Gabel wir bei einer Einladung zum Abendessen als
erste benutzen sollen und welche Komplimente und Gesten angemessen sind, können wir uns
entspannen und die Gesellschaft anderer ohne Angst vor Verlegenheit oder Kränkungen genie-
ßen. Genauso ist es, wenn es innerhalb einer Kultur eine allseits akzeptierte Begrüßungsnorm
wie z. B. das Händeschütteln oder den Wangenkuss gibt – ausgenommen einmal die unange-
nehmen Momente der Unentschlossenheit, ob man jemanden mit der Hand oder mit einem
Wangenkuss begrüßen soll.
C. Styrsky
Wenn Kulturen aufeinander treffen, sorgen die verschiedenen Normen häufig für Verwirrung.
Wenn jemand z. B. unseren persönlichen Raum verletzt, jene transportable Pufferzone, die wir
um unseren Körper herum aufrechterhalten möchten, fühlen wir uns unwohl. Skandinavier, Bri- Das neue Au-Pair-Mädchen
130 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
ten, Deutsche und Nordamerikaner haben gerne einen größeren persönlichen Raum als Latein-
amerikaner, Araber und Franzosen (Sommer 1969). Einem Mexikaner, der bei einem sozialen
Ereignis eine ihm angenehme Distanz für eine Unterhaltung herzustellen versucht, passiert es
vielleicht, dass ein Amerikaner am Ende ständig vor ihm zurückweicht. (Sie können diese Erfah-
rung bei einer Party machen, wenn Sie während einer Unterhaltung »Verletzer des persönlichen
Raumes« spielen.) Dem Amerikaner mag der Mexikaner aufdringlich erscheinen, während der
Mexikaner den Amerikaner als hochnäsig wahrnimmt.
Kulturen unterscheiden sich ebenfalls in der Art, wie sie sich ausdrücken. Personen, die ihre
Wurzeln in nordeuropäischen Kulturen haben, nehmen Menschen aus der Mittelmeerregion als
3 herzlich und charmant wahr, aber auch als ineffizient (bei der Arbeit). Die Bewohner der Mittel-
meerregionen dagegen sehen die Nordeuropäer als effizient an, nehmen sie aber gleichzeitig auch
als kalt und pünktlichkeitsbesessen wahr (Triandis 1981).
Kulturen variieren auch in der Geschwindigkeit, mit der sich der Alltag abspielt. Ein britischer
Geschäftsmann wird sich über einen lateinamerikanischen Klienten ärgern, der 30 Minuten nach
Jason Reed/Reuters/Corbis
der vereinbarten Zeit zum Mittagessen kommt. Dagegen bemerken Menschen aus dem zeitbe-
wussten Japan – wo die Uhren der Banken immer die exakte Zeit anzeigen, die Fußgänger flott
gehen und Postangestellte Wünsche in Höchstgeschwindigkeit erfüllen – vielleicht, dass sie bei
einem Besuch in Indonesien zunehmend ungeduldiger werden. Dort geben die Uhren die Zeit
weniger genau an, und das Tempo ist i. Allg. langsamer (Levine u. Norenzayan 1999). Die ersten
Freiwilligen des US-Friedenscorps berichteten darüber, dass es, nachdem sie die Sprache des
Kulturen unterscheiden sich
Verhalten, das in einer Kultur angemessen zu sein Gastlands gelernt hatten, zwei große Kulturschocks bei der Anpassung an ihre Gastländer gab: das
scheint, kann die Normen einer anderen Kultur andere Lebenstempo und den anderen Umgang mit Pünktlichkeit (Spradley u. Phillips 1972).
verletzen. In arabischen Ländern, aber nicht in west-
lichen Kulturen begrüßen sich Männer oft mit
einem Kuss oder halten als Zeichen der Freund- 3.4.2 Zeitübergreifende Veränderungen
schaft Händchen, wie es US-Präsident George W.
Bush 2005 tat, während er mit dem saudischen
Kronprinz Abdullah spazieren ging Ziel 21: Erklären Sie, warum Veränderungen im Genpool des Menschen nicht als Erklärung für eine
kulturelle Veränderung über die Zeit hinweg herangezogen werden können.
Denken Sie doch einmal daran, wie schnell sich Kulturen über die Zeit hinweg verändern können.
Der englische Dichter Geoffrey Chaucer (1342–1400) ist von einem modernen Briten nur 20
Generationen entfernt, doch die beiden würden nur unter größten Schwierigkeiten eine Unterhal-
tung führen können. In dem kürzeren Kapitel der Geschichte seit 1960 haben sich die meisten
westlichen Kulturen mit bemerkenswerter Geschwindigkeit verändert. Menschen aus der Mittel-
schicht fliegen an Orte, über die sie einst höchstens gelesen hatten, schreiben E-Mails an jene,
denen sie einst Briefe im Schneckentempo schickten, und genießen die Bequemlichkeit einer
klimatisierten Arbeitsumgebung, während sie einst vor Hitze fast umgekommen wären. Sie kom-
men in den Genuss der bequemen Urlaubsbuchung per Internet und des mobilen Telefonierens;
sie essen – ermöglicht durch ihr deutlich höheres Realeinkommen – mehr als zweimal so oft im
Restaurant wie ihre Eltern in den 60ern. Bedingt durch größere ökonomische Unabhängigkeit
heiraten die Frauen von heute eher aus Liebe und müssen mit geringerer Wahrscheinlichkeit aus
ökonomischer Notwendigkeit heraus Beziehungen ertragen, in denen sie misshandelt oder miss-
braucht werden. Viele Minderheitengruppen profitieren von einer zunehmenden Umsetzung der
Menschenrechte.
Doch manche Veränderungen waren durchaus nicht positiv. Wären Sie im Jahre 1960 in den
USA eingeschlafen und ein Viertel Jahrhundert später aufgewacht, hätten Sie Ihre Augen in einer
Kultur geöffnet, die doppelt so hohe Scheidungsraten, 3-mal so hohe Suizidraten bei den unter
20-Jährigen und eine 4-mal so hohe Rate gemeldeter Gewaltverbrechen durch Jugendliche auf-
weist (Myers 2000). Zudem verbringen Amerikaner mehr Stunden bei der Arbeit, weniger Stun-
den mit Schlaf und weniger Stunden mit Freunden und der Familie (Frank 1999; Putnam 2000).
Gottlob begannen die Selbstmordraten bei Jugendlichen und die Kriminalitätsraten nach 1993
wieder abzunehmen. Ähnliche kulturelle Veränderungen fanden in Kanada, England, Australien
und Neuseeland statt. Und obwohl nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes die allge-
meine Suizidrate im gleichen Zeitraum in Deutschland sogar rückläufig ist und die Deutschen in
Umfragen angeben, im Vergleich zu den 50er Jahren heute deutlich mehr Freizeit zu haben, zeig-
3.4 · Kulturelle Einflüsse
131 3
ten sich auch negative Entwicklungen: Im Vergleich zu den 70er Jahren hat sich laut Bundes-
ministerium des Inneren die Anzahl der Raubüberfälle auf Straßen, Wegen und Plätzen mehr
als verdoppelt und die Anzahl der Drogentoten stieg um das 15-fache. Die Arbeitslosigkeit, die
1960 zu Zeiten der Vollbeschäftigung überhaupt keine Rolle spielte, ist inzwischen zu einem der
zentralen gesellschaftspolitischen Probleme geworden, wenn sie auch zeitweilig zurückging.
Ganz gleich, ob uns diese Veränderungen gefallen oder nicht: Ihr atemberaubendes Tempo ist
beeindruckend. Sie lassen sich nicht durch Veränderungen im menschlichen Genpool erklären,
da sich dieser für solche kulturellen Hochgeschwindigkeitstransformationen viel zu langsam ent-
wickelt.
! Kulturen sind unterschiedlich, Kulturen verändern sich, und sie geben unserem Leben eine
bestimmte Form.
Ziel 22: Geben Sie einige Aspekte an, in denen sich eine vorwiegend individualistische Kultur von
einer vorwiegend kollektivistischen Kultur unterscheidet, und vergleichen Sie die Auswirkungen auf
die personale Identität.
Kulturen unterscheiden sich dadurch, wie sehr der Erziehung und dem Ausdruck der eigenen Individualismus (individualism): Die Priorität
personalen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe Priorität beigemessen wird. Um den für die eigenen Ziele ist höher als die für Grup-
penziele; die eigene Identität definiert sich eher
Unterschied zu verstehen, sollten Sie sich einmal vorstellen, Sie würden aus Ihren sozialen Bezügen
über persönliche Eigenschaften als über Grup-
herausgerissen und wären ein allein lebender Flüchtling in einem fremden Land: Wie viel von Ihrer penmerkmale.
Identität würde intakt bleiben? Die Antwort würde zu einem großen Teil davon abhängen, ob Sie
dem unabhängigen Selbst, das den Individualismus kennzeichnet, Priorität einräumen oder eher
dem wechselseitig abhängigen (interdependenten) Selbst, das typisch für den Kollektivismus ist. Kollektivismus (collectivism): Die Ziele der
Wären Sie als unser allein lebender Flüchtling Individualist, dann bliebe ein Großteil Ihrer Gruppe (oft die Großfamilie oder die Arbeits-
gruppe) haben Priorität, die Definition der eige-
Identität intakt: Der innerste Kern Ihres Seins, Ihr Ich-Gefühl, wäre nicht berührt, auch nicht Ihre
nen Identität richtet sich an ihnen aus.
Überzeugungen und Wertvorstellungen. Der Individualist räumt seinen persönlichen Zielen eine
relativ hohe Priorität ein, und seine Identität definiert sich über persönliche Merkmale. Er strebt
nach persönlicher Kontrolle und individueller Leistung. In der amerikanischen Kultur mit ihrer
relativ starken Betonung des Ich und dementsprechend einer geringen Betonung des Wir lautet
die Aussage von 85% der Menschen, es sei möglich, »mehr oder weniger das zu sein, was du sein
willst« (Sampson 2000). Der im Wesentlichen auf sich selbst bezogene Individualist wechselt
leichter seine soziale Gruppe. Er empfindet es als seine Entscheidung, eine Arbeitsstelle aufzuge-
ben und eine andere anzunehmen oder sogar die Großfamilie zu verlassen und sich an einem
anderen Ort anzusiedeln. Eine Ehe hält häufig nur so lange, wie beide Partner es wollen.
Individualismus variiert in jeder Kultur von einer Person zur anderen. Im Film »Antz« verlieh Wie die Sportler, die sich mehr über den Sieg
Woody Allen einer individualistischen Ameise eine Stimme, die sich gegen den extremen Kollek- der Mannschaft als über ihre eigene Leistung
freuen, empfindet der Kollektivist eine Befriedi-
tivismus in der Kultur ihrer Kolonie auflehnte: »Es geht um dieses ganze enthusiastische Loyali-
gung darin, die Interessen seiner Gruppe zu
tätsgetue, diese Sache mit dem Superorganismus, die ich einfach nicht verstehe. Ich verstehe es fördern, selbst auf Kosten seiner persönlichen
nicht. Ich versuche es, aber ich verstehe es einfach nicht. Was ist das eigentlich? Man erwartet Bedürfnisse.
von mir, dass ich alles für die Kolonie mache? Und – und was ist mit meinen Bedürfnissen? Was
ist mit mir?«
Wenn man als Kollektivist in einem fremden Land hilflos ausgesetzt wird, würde man wahr-
scheinlich einen sehr viel schlimmeren Identitätsverlust erleben als ein Individualist. Abgeschnit-
ten von der Familie, von Gruppen und loyalen Freunden, würde man die Verbindungen verlieren,
die darüber bestimmten, wer man ist. In einer kollektivistischen Kultur verschafft dem Betreffen-
den die Identifikation mit der Gruppe ein Zugehörigkeitsgefühl, sie bietet einen Satz von Wertvor-
stellungen, ein Netz von Personen, die sich um die eigene Person kümmern und die Sicherheit
gewährleisten. Im Gegenzug geben die Kollektivisten den Zielen ihrer Gruppe Priorität; die Grup-
pe ist oft die Familie, der Clan oder die Firma. Sie definieren ihre Identität entsprechend nicht als
»ich«, sondern als »wir«. In Korea z. B. legen die Menschen weniger Wert darauf, ein konsistentes
einzigartiges Selbstkonzept zum Ausdruck zu bringen, sondern betonen eher die Tradition und
die gemeinsam praktizierten Handlungsweisen (Choi u. Choi 2002).
132 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
Der Kollektivist verhält sich in einer neuen Gruppe schüchtern und gerät leichter
in Verlegenheit als sein individualistisches Gegenstück (Singelis et al. 1995, 1999).
Verglichen mit Menschen aus dem Westen zeigen Personen in der japanischen oder
chinesischen Kultur eine größere Schüchternheit gegenüber Fremden, und sie küm-
mern sich mehr um soziale Harmonie und Loyalität (Bond 1988; Cheek u. Melchior
1990; Triandis 1994). Ihre Bindung an die Familie und an vertraute Gruppen ist tiefer
und beständiger. Die Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie kann wichtiger
sein als die eigenen beruflichen Vorlieben. Verglichen mit Studierenden in den USA
neigen Studierende in Japan, China und Indien viel weniger dazu, den Satzanfang »Ich
3 bin ...« mit Persönlichkeitsmerkmalen zu vervollständigen (»Ich bin ehrlich«, »Ich bin
zuversichtlich«), und viel mehr dazu, ihre soziale Identität preiszugeben (»Ich bin
Student an der Universität von Keio«, »Ich bin der dritte Sohn in meiner Familie«)
(Cousins 1989; Dhawan et al. 1995; Triandis 1989a,b). »Meine Eltern werden von mir
enttäuscht sein« war eine Sorge, die von 7% der Jugendlichen in den USA und in Ita-
lien sowie von 14% der australischen Jugendlichen zum Ausdruck gebracht wurde,
aber nahezu von 25% der Jugendlichen auf Taiwan und in Japan (Atkinson 1988).
Beziehungen, die der Kollektivist eingeht, sind auf Dauer angelegt. Zwischen
action press/Kyodo News
Chef und Angestelltem herrscht eine starke Loyalität. Es ist daher nicht verwunder-
lich, dass die Kolonialisierung der Welt in der Neuzeit nicht von Asiaten angeführt
wurde, die nur ungern die Aufrechterhaltung sozialer und familiärer Bindungen
gefährden wollen, sondern von den eher individualistischen Europäern. Und es ist
auch nicht verwunderlich, dass die Länder, die von Europäern – Menschen, die be-
Kollektivismus reitwillig Freunde und Familie aufgeben – kolonialisiert wurden, heute ausgesprochen individua-
Diese pakistanischen Kinder und Frauen identifizie- listisch sind (Triandis 1989b). Wer sich in einem anderen Land ansiedeln will, ist mehr an Arbeit
ren sich mit ihrer Familie und mit anderen Gruppen;
und Leistung interessiert als an Familie und Freunden; die, die bleiben wollen, haben mehr Inte-
daraus gewinnen sie ein »Wir«-Gefühl, feste Wert-
vorstellungen und ein Netz für gegenseitige Hilfe.
resse an Bindungen (Boneva u. Frieze 2001).
Das kollektivistische Unterstützungssystem hat Individuen innerhalb einer Kultur unterscheiden sich, und in Kulturen leben die verschieden-
diesen Menschen vielleicht dabei geholfen, mit den sten Untergruppen (Oyserman et al. 2002a, b). Dennoch haben die interkulturellen Psychologen
Verwüstungen fertig zu werden, die im Oktober einige Variationen über die Kulturen hinweg entdeckt; diese reichen vom Individualismus in den
2005 durch ein Erdbeben in Kaschmir hervorgeru-
USA (mit Ausnahme der Südstaaten) bis zum Kollektivismus in den ländlichen Gebieten Asiens
fen wurden und die das Haus im Hintergrund des
Bildes dem Erdboden gleichmachten
(Hofstede 1980; Triandis 1994; Vandello & Cohen 1999). Menschen in kollektivistischen Kulturen
legen Wert auf Gemeinschaft und Solidarität, deshalb ist es ihnen sehr wichtig, die Harmonie
aufrechtzuerhalten und darauf zu achten, dass andere nie ihr Gesicht verlieren. Was jemand sagt,
drückt sowohl aus, was er fühlt (seine innere Einstellung), als auch, was er annimmt, dass der
»Man muss den Geist kultivieren, bei dem man andere es fühlt (Kashima et al. 1992). Man zollt Älteren und Vorgesetzten Respekt. Um das Grup-
das kleine Ich opfert, um an die Vorteile des gro- pengefühl zu bewahren, werden die direkte Konfrontation, schonungslose Ehrlichkeit und kon-
ßen Ichs zu gelangen.«
troverse Themen vermieden, man beugt sich den Wünschen anderer, man ist höflich und demütig
Chinesisches Sprichwort
und vermeidet es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (Markus u. Kitayama 1991). Deshalb hört
sich der individualisierte Kaffeewunsch – großer Latte macchiato mit Karamell und besonders
heiß –, den man bei uns als etwas ganz Spezielles ansieht, in Seoul eher als selbstsüchtiges fordern-
des Auftreten an, bemerken Kim u. Markus (1999). Und in koreanischen Werbeanzeigen betont
man auch weniger die persönliche Wahlmöglichkeit, die Freiheit und die Einzigartigkeit, und es
werden viel häufiger Menschen zusammen dargestellt (Markus 2001). In kollektivistischen Kul-
turen erinnert man sich daran, wer einem einen Gefallen getan hat, und Reziprozität wird zur
gesellschaftlichen Kunst erhoben. Das Selbst des Kollektivisten ist nicht unabhängig, sondern
wechselseitig abhängig (interdependent) (. Tabelle 3.1). In kollektivistischen Gesellschaften, be-
sonders in denen, die von Konfuzius’ Vorstellung von einem »in ein Netz wechselseitiger Bezie-
hungen« eingebetteten Selbst beeinflusst sind, ist niemand eine Insel (Kim u. Lee 1994). Glück ist,
sich auf andere Menschen einzustellen (Kitayama u. Markus 2000).
Individualistisches Sprichwort: »Das Rad, das am ! Beide Formen des Zusammenlebens, sowohl der Individualismus als auch der Kollektivismus,
meisten quietscht, wird geschmiert.« haben ihren Nutzen und sind mit Kosten verbunden.
Kollektivistisches Sprichwort: »Die Kugel trifft
Individualistische Kulturen bieten mehr persönlichen Freiraum, erlauben mehr Stolz auf die eige-
die Ente, die quakt.«
ne Leistung; ihre Mitglieder sind geographisch weniger an die Familie gebunden und haben mehr
Privatsphäre. Unterschiede werden betont, und dem Einzelnen bietet sich eine reichhaltige Aus-
3.4 · Kulturelle Einflüsse
133 3
. Tabelle 3.1. Entgegengesetzte Wertvorstellungen bei Individualismus und Kollektivismus. (Nach Schoeneman 1994; Triandis 1994)
Selbst Unabhängig (Identität durch individuelle Merkmale) Wechselseitige Abhängigkeiten (Identität durch Zugehörigkeit)
Lebensaufgabe Die eigene Einmaligkeit entdecken und ausdrücken Beziehungen aufrechterhalten, sich einpassen, eine Rolle ausfüllen
Wichtig ist Ich: persönliche Leistung und Erfüllung; Rechte und Wir: Gruppenziele und Solidarität; soziale Verantwortung und soziale
Freiheiten; Selbstwertgefühl Beziehungen; Pflichten innerhalb der Familie
Moral und Ethik Vom Einzelnen definiert (Basis: das eigene Selbst) Von sozialen Netzen definiert (Basis: Pflichtgefühl)
Beziehungen Zahlreiche, häufig kurzfristige oder Gelegenheits- Wenige, enge und beständige Beziehungen; Harmonie hoch bewertet
beziehungen; Konfrontation akzeptabel
Attributionsverhalten Bringt Persönlichkeit und Einstellungen zum Ausdruck Bringt soziale Normen und Rollen zum Ausdruck
wahl an Lebensstilen; der Einzelne ist aufgefordert, sich eine eigene Identität zu schaffen, Innova-
tion und Kreativität werden hoch gehalten und die individuellen Menschenrechte geachtet. Das
mag dazu beitragen, den Befund von Diener et al. (1995) zu erklären, dass die Menschen in indi-
vidualistischen Kulturen einen höheren Grad an Glück angeben als die Menschen in kollektivisti-
schen Kulturen. Wenn Individualisten ihre eigenen Ziele verfolgen und sie Erfolg dabei haben,
kann das Leben durchaus lohnend sein.
Es ist jedoch erstaunlich, dass innerhalb einer individualistischen Gesellschaft gerade die
Menschen mit den stärksten sozialen Bindungen die größte Zufriedenheit mit ihrem Leben zum
Ausdruck bringen (Bettencourt u. Door 1997). Außerdem gehen die scheinbar positiven Wir-
kungen des Individualismus möglicherweise auf Kosten von mehr Einsamkeit, mehr Scheidun-
gen, mehr Morden und mehr stressbedingten Krankheiten (Popenoe 1993; Triandis et al. 1988).
Menschen in individualistischen Kulturen bringen in stärkerem Maße einen auf sich selbst fo-
kussierten »Narzissmus« zum Ausdruck, indem sie z. B. der folgenden Aussage zustimmen: »Ich
finde es einfach, Menschen zu manipulieren« (Foster et al. 2003). Individualisten erwarten von
einer Ehe auch eher romantische Liebe und mehr persönliche Erfüllung; das setzt die eheliche
Beziehung einem größeren Druck aus (Dion u. Dion 1993). In einer Umfrage wurde »romanti-
sche Liebe lebendig halten« von 78% der amerikanischen Frauen als wichtig für eine gute Ehe
bewertet, aber nur 29% der japanischen Frauen vertraten diese Auffassung (»American Enterprise«
1992: ). In China geht es in Liebesliedern häufig um eine lebenslange Bindung und um Freund-
schaft (Rothbaum u. Tsang 1998). In einem Lied heißt es: »Wir werden von nun an zusammen
sein … ich werde von nun an für immer die Gleiche sein.«
Ziel 23: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich die Kindererziehung in individualistischen und
in kollektivistischen Kulturen unterscheiden.
Auch in den Erziehungspraktiken zeigen sich die je nach Ort und Zeit unterschiedlichen kultu-
rellen Werte. Hätten Sie lieber selbstständige Kinder, die unabhängig sind? Oder möchten Sie
Kinder, die sich dem anpassen, was andere denken?
Wenn Sie in einer westlichen Kultur leben, sind die Chancen dafür hoch, dass Sie sich für die
erste Wahlmöglichkeit entscheiden. In westlichen Gesellschaften möchten die meisten Eltern
selbstständig denkende Kinder haben. Westliche Familien und Schulen brachten ihren Kindern
Prinzipien bei wie: »Du bist für dich selbst verantwortlich. Folge deinem Gewissen. Sei ehrlich zu
dir selbst. Entdecke deine Fähigkeiten. Denk an deine persönlichen Bedürfnisse.« Doch auch
diese kulturellen Werte unterliegen einer zeitbedingten Veränderung. Vor einem halben Jahrhun-
134 Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen
dert legten die Eltern im Westen Wert auf die Vermittlung von Eigenschaften
wie Gehorsam, Respekt und Sensibilität gegenüber anderen (Alwin 1990; Rem-
ley 1988). Sie lehrten ihre Kinder: »Bleibt euren Traditionen treu« und »Seid
loyal gegenüber eurem kulturellen Erbe und eurem Land. Habt Respekt vor
euren Eltern und Vorgesetzten.«
Im Gegensatz zu vielen Menschen aus westlichen Kulturen, die ihre Kinder
zur Unabhängigkeit erziehen, leben viele Asiaten und Afrikaner in dörflichen
Kulturen, die auf den Aufbau emotionaler Nähe ausgerichtet sind. Anstatt ein
eigenes Schlafzimmer zu haben und einer Tagesmutter anvertraut zu werden,
3 schlafen die Kinder und Kleinkinder üblicherweise bei ihren Müttern und ver-
bringen ihre Tage in der Nähe eines Familienmitglieds (Morelli et al. 1992;
Whiting u. Edwards 1988). Kinder aus traditionsbewussten Kulturen wachsen
mit einem stärkeren Sinn für das Familien-Selbst auf. Damit ist ein Gefühl ge-
© Steve Reehl
meint, das sich darin äußert, dass die Schande des Kindes auch die Schande der
Familie ist. Andererseits bringt das, was der Familie zur Ehre gereicht, auch dem
Kulturen unterscheiden sich Selbst des Kindes Ehre ein.
In Stromness, einer Stadt auf den britischen Orkney- Kinder haben sich unabhängig von Ort und Zeit unter den verschiedensten Erziehungssyste-
Inseln, macht es das Vertrauen in die soziale Ge- men gut entwickelt. Britische Eltern aus der Oberschicht überließen die alltägliche Erziehung
meinschaft möglich, Kinderwagen samt Kleinkin-
traditionell einem Kindermädchen und schickten ihre Kinder schon mit etwa 10 Jahren auf ein
dern vor einem Geschäft abzustellen
Internat. Diese Kinder sollten sich zu den tragenden Säulen der britischen Gesellschaft entwickeln,
wie es ja auch bei ihren Eltern und ihren Mitschülern im Internat der Fall ist. In der afrikanischen
Gesellschaft der Gusii wachsen die Babys ziemlich frei auf, verbringen aber die
meiste Zeit des Tages auf dem Rücken ihrer Mutter. Somit haben sie viel Körper-
kontakt, aber wenig direkte und sprachliche Interaktion. Wenn die Mutter wie-
der schwanger wird, wird das Kleinkind entwöhnt und jemand anderem, oft
einem älteren Geschwister, übergeben. Angehörige westlicher Kulturen fragen
sich vielleicht, welche negativen Effekte diese mangelnde verbale Interaktion
haben könnte. Auf der anderen Seite würden sich die afrikanischen Gusii über
westliche Mütter wundern, die ihre Babys im Kinderwagen umherschieben und
sie in Laufställchen und Autositze setzen (Small 1997).
! Kulturelle Vielfalt bei der Kindererziehung sollte uns davon abhalten, ein-
photos. com
Ganz unabhängig von unserer Kultur – und gerade die Kultur ist etwas, was uns alle formt und
»Wir erkennen klar und deutlich, dass wir aus vie- steuert – unterliegen wir als Menschen alle demselben Lebenszyklus. Wir alle reden ähnlich mit
len Kulturen, Traditionen und Erinnerungen her- unseren Kindern, reagieren ähnlich auf ihr Brabbeln und ihr Schreien (Bornstein et al. 1992a, b).
vorgegangen sind, dass wir von anderen Kulturen Überall auf der Welt entwickeln die Kinder von warmherzigen und helfenden Eltern ein besseres
lernen können, wenn wir einander achten. Die Selbstbild und verhalten sich weniger feindselig als die Kinder von Eltern, die häufig mit Bestra-
Verbindung von Fremdem und Eigenem macht
fung arbeiten und sich ablehnend verhalten (Rohner 1986; Scott et al. 1991). Innerhalb einer
uns stark.«
Der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan Kultur verhalten sich die ethnischen Untergruppen möglicherweise unterschiedlich, obwohl sie
in seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedens- ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Unterschiede, die manchmal auf