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Übersichtsarbeit

Hereditäre Neuropathien
Klinisches Bild und genetische Panel-Diagnostik

Katja Eggermann, Burkhard Gess, Martin Häusler, Joachim Weis, Andreas Hahn, Ingo Kurth

B
ei den peripheren Neuropathien, auch Polyneuropa-
Zusammenfassung thien (PNP), handelt es sich um eine ätiologisch he-
terogene Gruppe von Erkrankungen peripherer mo-
Hintergrund: Hereditäre periphere Neuropathien bilden mit einer Prävalenz von
torischer, sensorischer und autonomer Nerven. Es lassen
1:2 500 eine große Gruppe genetischer Erkrankungen. Durch den Einsatz der
sich infektiöse, immunvermittelte, metabolische, toxi-
Hochdurchsatzsequenzierung („next generation sequencing“, NGS) wurden in den
sche, vaskuläre, genetische und idiopathische Formen ab-
letzten Jahren immer mehr Gene beziehungsweise deren Defekte als Ursache von
grenzen. Die klinischen Bilder zeigen Überschneidungen.
Neuropathien identifiziert. Hier soll eine Übersicht zum Ablauf und Nutzen der gene-
Auch Kombinationen verschiedener Krankheitsmecha-
tischen Diagnostik von Neuropathien – auch vor dem Hintergrund einer bislang oft
fehlenden kausalen Therapie – gegeben werden. nismen kommen vor.
Zu den erblichen Formen peripherer Nervenschädi-
Methode: Übersichtsarbeit nach selektiver Literaturrecherche in PubMed mit den gungen zählen die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung
Suchbegriffen „hereditary neuropathy“, „Charcot-Marie-Tooth disease“, „hereditary (CMT; auch hereditäre motorisch-sensible Neuropathie,
sensory neuropathy“ und „hereditary motor neuropathy“. HMSN), die hereditären sensorischen und autonomen
Neuropathien (HSAN; auch hereditäre sensible Neuro-
Ergebnisse: Bis auf wenige Ausnahmen kann die Diagnose hereditärer Neuropa-
pathie, HSN), die hereditären motorischen Neuropathien
thien im Sinne einer Stufendiagnostik mit anfänglicher Untersuchung einzelner Ge-
(HMN) und die Small-Fiber-Neuropathie (SFN) (1)
ne begonnen werden. Bei unauffälligem Ergebnis sollte frühzeitig eine inzwischen in
(Grafik 1). Insgesamt sind Mutationen in deutlich über
der Routinediagnostik verfügbare NGS-Analyse, bei der eine Vielzahl von Genen
100 Genen als Ursache hereditärer Neuropathien und
parallel sequenziert wird, eingesetzt werden. Exom-/Genom-Analysen unterliegen
differenzialdiagnostischer Erkrankungen beschrieben.
momentan noch der Einzelfallentscheidung. Bei Verdacht auf eine erblich bedingte
Unterschieden werden autosomal-dominant, autosomal-
Neuropathie sollten stets auch andere, eventuell kausal behandelbare Neuropathie-
rezessiv sowie X-chromosomal vererbte Formen. Auch
auslösende Faktoren ausgeschlossen werden. Mutationen in Neuropathie-assoziier-
ten Genen können auch mit anderen klinischen Bildern wie beispielsweise einer erbliche Mitochondriopathien können als periphere
spastischen Paraplegie oder Myopathie assoziiert sein. Eine interdisziplinäre Beur- Neuropathie imponieren. Mit dem Einsatz der Hoch-
teilung ist daher notwendig. durchsatzsequenzierung („next generation sequencing“,
NGS) in der Erforschung von Neuropathien erhöht sich
Schlussfolgerung: Die molekulare Diagnostik von Neuropathien ist durch den Ein- die Zahl ursächlich bekannter Gendefekte stetig (2, 3).
satz von NGS deutlich erfolgreicher geworden. Obwohl kausale Therapieansätze Der Artikel hat deshalb das Ziel, bei zunehmender Kom-
erst entwickelt werden, kann eine korrekte Diagnose die oft belastende Suche nach plexität der Genetik von Neuropathien einen Algorith-
der Krankheitsursache beenden und das Erkrankungsrisiko von Familienangehöri- mus für die molekulargenetische Diagnostik vorzuschla-
gen beziffern. gen. Auch wenn eine kausale Therapie hereditärer Neu-
ropathien bislang in aller Regel nicht existiert, ist die
Zitierweise
Kenntnis der Erkrankungsursache für viele Patienten ei-
Eggermann K, Gess B, Häusler M, Weis J, Hahn A, Kurth I:
ne Entlastung, beendet eine weitere Suche nach mögli-
Hereditary neuropathies: clinical presentation and genetic panel diagnosis.
Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 91–7. DOI: 10.3238/arztebl.2018.0091
chen Auslösern und lässt konkrete Rückschlüsse auf
mögliche Risiken für eigene Kinder und weitere Famili-
enangehörige zu.
Der Artikel beruht auf einer selektiven Literaturre-
cherche mit den Suchbegriffen „hereditary neuropathy“,
„Charcot-Marie-Tooth disease“, „hereditary sensory neu-
ropathy“ und „hereditary motor neuropathy“ in PubMed.
Nicht hereditäre Neuropathien werden in einem Artikel
Institut für Humangenetik, Uniklinik RWTH-Aachen: Dr. rer. nat. Eggermann, Prof. Dr. med. Kurth von Sommer et al. in dieser Ausgabe behandelt (e1).
Klinik für Neurologie, Uniklinik RWTH-Aachen: PD Dr. med. Gess
Klinik
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Sektion Neuropädiatrie und Sozialpädiatrie, Symptomatik und Verlauf
Uniklinik RWTH-Aachen: Prof. Dr. med. Häusler
Das klinische Erscheinungsbild der CMT zeichnet sich
Zentrum Kinderheilkunde, Abteilung Kinderneurologie, Sozialpädiatrie und Epileptologie, Gießen: durch progrediente distal-symmetrische Paresen, Mus-
Prof. Dr. med. Hahn
kelatrophien und Sensibilitätsstörungen aus. Im Ver-
Institut für Neuropathologie, Uniklinik RWTH-Aachen: Prof. Dr. med. Weis gleich zu den häufig sensibel betonten, erworbenen

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GRAFIK 1 ● axonal (primäre Schädigung des Axons; CMT2,


motorische NLG der Armnerven > 38 m/s
14 % ● intermediär: Mischformen der Schädigung; moto-
■ CMT1 rische NLG der Armnerven 25–45 m/s.
2% Häufig sind bei einer hereditären Neuropathie die
■ CMT2 elektrophysiologischen Veränderungen schon im jun-
3%
3% ■ CMT4 gen Erwachsenenalter deutlich ausgeprägt. Bei
■ CMTX der Small-Fiber-Neuropathie (SFN) fällt die konven-
tionelle Neurographie durch Aussparung der myelini-
7% 55 % ■ HMN sierten, schnell leitenden Nervenfasern oft unauffällig
2% ■ HS(A)N aus. Der Nachweis einer reduzierten intraepidermalen
Nervenfaserdichte in einer Hautbiopsie kann die Dia-
■ HNPP gnose einer SFN untermauern (6).
14 % ■ unklar
Weitere Diagnostik
Ein junges Manifestationsalter und eine positive Fami-
Häufigkeitsverteilung hereditärer Neuropathien von 1 652 Fällen. lienanamnese stützen den Verdacht auf eine hereditäre
Small-Fiber-Neuropathie wurden nicht berücksichtigt. Neuropathie, erfordern jedoch trotzdem die gründliche
CMT1/CMT2/CMT4/CMTX, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung Typ Ausschlussdiagnostik von metabolischen, nutritiv-
1/2/4/X-chromosomal; HMN, hereditäre motorische Neuropathie; toxischen, infektiösen und inflammatorischen bezie-
HS(A)N, hereditäre sensorische (und autonome) Neuropathie; HNPP,
hungsweise auto-immunologischen Ursachen. Neben
hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen.
(nach Fridman et al. [1]) einer Liquordiagnostik (7) sollten laborchemisch Blut-
körperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG), Kreatinin,
adultes Hämoglobin der Fraktion 1c (HbA1c), „carbo-
hydrate deficient transferrin“, antinukleäre Antikörper
Neuropathien stehen meist motorische Defizite mit (ANA), Anti-Neutrophilen-Cytoplasma-Antikörper
Verlust der Muskeleigenreflexe, Fußheberschwäche, (ANCA) sowie Vitamin B12 bestimmt werden. Zudem
Hohlfüßen und Krallenzehen im Vordergrund. Die Er- sollten eine Immunfixation und Eiweißelektrophorese
krankung kann mit neuropathischen Schmerzen, einer durchgeführt werden. In der Nervensonografie zeigen
Skoliose, Skelettdeformitäten, Schwerhörigkeit, kogni- sich bei einigen hereditären Neuropathien verdickte
tiven Defiziten, Tremor, Sprech- und Schluckstörun- Nerven (8, 9). Eine Kernspintomografie des Muskels
gen, Atemproblemen oder strukturellen Zentralnerven- kann als sensitiver und objektiver Verlaufsparameter
system-Veränderungen einhergehen (4). Häufig sind zur Darstellung distaler Muskelatrophien dienen (10).
die langen Beinnerven früher und ausgeprägter betrof-
fen als die Armnerven. Vor allem bei schweren autoso- Nervenbiopsie
mal-rezessiv vererbten CMT-Formen beginnt die Er- Die Indikation einer Nervenbiopsie (Nervus suralis) ist
krankung oft bereits im Kindesalter. vor allem dann zu diskutieren, wenn differenzialdia-
Bei den HSN beziehungsweise HSAN kann ein gnostisch behandelbare nichterbliche Neuropathien er-
Verlust des Schmerzempfindens mit der Folge von wogen werden. Dazu zählen Entzündungen wie die
Verletzungen und schmerzlosen Frakturen klinisch im Vaskulitis und die Perineuritis sowie atypische Fälle
Vordergrund stehen. Je nach Unterform treten autono- von Neuritis (chronisch-inflammatorische demyelini-
me Symptome wie Herzrhythmus-, Verdauungs- oder sierende oder axonale Neuropathie, CIDP beziehungs-
Schweißsekretionsstörungen auf (5). Die Häufigkeits- weise CIAP), der Befall der Nerven durch ein Lym-
angaben zu den einzelnen Begleitsymptomen sind nur phom und die Amyloid-Neuropathie. Nerven- und
unvollständig, da diese Erkrankungsgruppe selten Hautbiopsien aufzuarbeiten, ist aufwendig und umfasst
auftritt. Die Small-Fiber-Neuropathie (SFN) äußert neben der konventionellen Paraffinschnitt-Histologie
sich bei einer vorwiegenden Degeneration kleiner un- spezielle immunhistochemische und elektronenmikro-
myelinisierter Schmerzfasern (C-Fasern) und Aδ-Fa- skopische Methoden. Die Untersuchung sollte daher in
sern demgegenüber mit brennenden, zum Teil peri- spezialisierten Zentren erfolgen (11, 12).
odischen Schmerzen. Bei hereditären Neuropathien
ohne wesentliche sensible Beteiligung spricht man Besonderheiten im Kindesalter
von einer meist distal betonten HMN oder auch dista- Die autosomal-rezessiv erblichen Erkrankungen mit
len spinalen Muskelatrophie (dSMA). frühem Beginn werden häufig auch unter dem Begriff
der CMT4 zusammengefasst. Im Kindesalter ist die
Elektrophysiologie Symptomatik allerdings häufig weniger charakteris-
Nach dem Muster der Schädigung lassen sich CMT-Er- tisch und die elektrophysiologische Diagnostik nicht
krankungen in folgende Formen einteilen (1): richtungsweisend (13, 14).
● demyelinisierend: Schädigung der Myelinscheide; Da eine frühmanifeste Neuropathie zudem auch
CMT1, motorische Nervenleitgeschwindigkeit Teilsymptom einer übergeordneten Erkrankung sein
(NLG) der Armnerven < 38 m/s kann, ist eine umfangreiche Differenzialdiagnostik er-

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TABELLE

Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung mit Beginn im Kindes- und Jugendalter*

Typ Gen Beginn klinische Charakteristika typische nervenbioptische Befunde


CMT4A GDAP1 < 2 Jahre schwere CMT1, Stimmband- und Zwerchfellparese segmentale Demyelinisierung, Zwiebelschalen
CMT4B1 MTMR2 3 Jahre schwere CMT1, faziale/bulbäre Schwäche, Skoliose Myelinausfaltung, Verlust myelinisierter Fasern
CMT4B2 SBF3 4–13 Jahre schwere CMT1, Glaukom, Kyphoskoliose Myelinausfaltung, Verlust myelinisierter Fasern
CMT4B3 SBF2 1. Ljz schwere CMT1, evtl. Mikrozephalie, kraniale Neuropathie fokal gestörte Myelinausfaltung
CMT4C SH3TC2 1./2. Ljz schwere CMT1, Kyphoskoliose, Taubheit, lange zytoplasmatische Ausziehungen unmyelinisierter
Zungenfaszikulationen Fasern, Zwiebelschalen
CMT4D NDRG1 1–10 Jahre schwere CMT1, Taubheit Demyelinisierung, Axonverlust, Zwiebelschalen,
axonale Einschlüsse
CMT4E EGR2 Geburt kongenitale Hypotonie, respiratorische Insuffizienz, ausgeprägter Verlust myelinisierter und unmyelinisierter
Arthrogryposis Fasern, Zwiebelschalen
CMT4F PRX Geburt CMT1, vorwiegend sensorische Symptome ausgeprägter Verlust myelinisierter Fasern, kongenitale
Hypomyelinisierung
CMT4G HK1 8–16 Jahre relativ schwere CMT1 Hypomyelinisierung, regenerierende Cluster
CMT4H FDG4 < 2 Jahre schwere CMT1, Skoliose Hypomyelinisierung, kleine Zwiebelschalen
CMT4J FIG4 ≤ 6. Ljz schwere CMT1, Ähnlichkeiten mit Motoneuronerkrankungen ausgeprägter Axonverlust, dünne myelinisierte Fasern

* CMT4 (modifiziert nach Tazir et al. 2013 [14]); CMT, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen; Ljz, Lebensjahrzent

forderlich. In einigen Fällen finden sich aber charak- Druckläsionen (HNPP) häufig eine Deletion des entspre-
teristische Zusatzsymptome, die die Diagnosefindung chenden Genabschnitts. Deletionen des PMP22-Gens
erleichtern (Tabelle). Komplexe klinische Bilder mit werden zudem gelegentlich bei Patienten mit einer
einer Neuropathie als Teilsymptom finden sich bei- CMT2 nachgewiesen (16), sodass es durchaus sinnvoll
spielsweise beim Anderman-Syndrom (Balkenagene- ist, auch bei einer axonalen Neuropathie zunächst eine
sie und mentale Retardierung) oder der Riesenaxon- entsprechende Untersuchung durchzuführen. Ergeben
neuropathie (auffällig krauses Haar und erhebliche sich Hinweise auf einen X-chromosomalen Erbgang in
mentale Retardierung). Weitere autosomal-rezessiv einer Familie (CMTX), zum Beispiel bei fehlender Va-
vererbte Neuropathien mit Beginn im Kindesalter ter-Sohn-Vererbung und schwererem Verlauf bei männ-
betreffen mitochondriale Störungen, wie zum Bei- lichen Betroffenen, sollte zunächst das GJB1-Gen inklu-
spiel Mutationen in COX6A1 (Komponente des Kom- sive seiner genregulatorischen Abschnitte überprüft wer-
plex-IV der Atmungskette) oder SURF1 (zerebrale den (17). Bei primärer Beteiligung der kleinen Fasern im
Laktatazidose und Diffusionsstörungen in der Magne- Sinne einer SFN und histologisch nachgewiesener redu-
tresonanztomografie [MRT]/Leigh-Syndrom durch zierter intraepidermaler Nervenfaserdichte lässt sich in
kombinierten Atmungskettendefekt). Folgende meta- 10–30 % durch Analyse der für die spannungsgesteuer-
bolische und neurodegenerative Erkrankungen gehen ten Natriumkanäle codierenden Gene SCN9A, SCN10A
mit einer Beteiligung des peripheren Nervensystems und SCN11A eine kausale Mutation nachweisen (18).
einher: Bei anderen Formen der CMT oder HSAN beziehungs-
● Morbus Refsum weise HMN ist die Gesamtaufklärungsrate durch geziel-
● metachromatische Leukodystrophie te Testung einzelner Gene wesentlich geringer und eine
● Morbus Krabbe NGS-Panel-Diagnostik als erster Schritt in der Regel
● Adrenomyeloneuropathie zielführender (19, 20). Eine Übersicht von Zentren, die
● Pelizaeus-Merzbacher-Erkrankung diese Diagnostik anbieten, findet sich beispielsweise un-
● Lowe-Syndrom ter www.hgqn.org.
● hereditäre Ataxien (zum Beispiel Friedreich-
Ataxie). „Next generation sequencing“-basierte Testung
Die NGS-Panel-Diagnostik zur genetischen Abklä-
Einzelgenanalyse rung einer peripheren Neuropathie hat mittlerweile
Bei Verdacht auf eine demyelinisierende CMT sollte als Einzug in die Klinik gehalten (Grafik 2) (5, 21, 22).
erster diagnostischer Schritt die Kopienzahl des Bei der Panel-Diagnostik von Neuropathien wird eine
PMP22-Gens bestimmt werden (15, 16). Bis zu 70 % Vielzahl ursächlicher Gene parallel sequenziert und
der Patienten mit einer familiären CMT1 weisen ei- beurteilt (23, 24) (eTabelle). Die gleichzeitige Analyse
ne Duplikation des PMP22-Gens auf. Umgekehrt findet vieler Neuropathie-Gene begründet sich darin, dass
sich bei einer hereditären Neuropathie mit Neigung zu Mutationen des einzelnen Gens bis auf die oben ge-

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GRAFIK 2 ligt. Bei einer genetischen Beratung muss im Vorfeld


einer umfassenden molekularen Analyse insbesonde-
re über möglicherweise erhobene Zusatzbefunde der
Verdacht auf erbliche Neuropathie NGS-Diagnostik, die beispielsweise erbliche Tumor-
risiken oder Prädispositionen für andere spätmanifes-
CMT HMN HS(A)N SFN
te Erkrankungen betreffen, aufgeklärt werden. Der
(axonal))/ X-chrom. Umgang mit Zusatzbefunden und eine daraus gegebe-
demyelin.
ggf:
nenfalls abzuleitende Mitteilungspflicht ist augen-
PMP222 Del/Dup GJB1
ggf. Einzelgene SCN9A blicklich Gegenstand intensiver Debatten. Hierzu
SCN10A wird auch auf die Stellungnahme der Deutschen Ge-
SCN11A
sellschaft für Humangenetik verwiesen (e2) oder das
falls falls
negativ negativ „Policy Statement of the American College of Medi-
cal Genetics and Genomics“ (28).

überlappende Phänotypen
ALS Umgang mit unklaren genetischen Varianten
NGS-Panel HSP Jedes menschliche Genom beinhaltet circa 30 Millio-
nen genetische Varianten („single nucleotide poly-
Myo- morphism“, SNP), ein Großteil davon kommt häufig
pathie
in der Bevölkerung vor und hat keine klinische Be-
deutung. Andere Varianten sind klar pathogen (Muta-
Exom/Genom
tionen), während wieder andere zunächst als soge-
nannte Varianten von klinisch unklarer Bedeutung
Vorschlag eines diagnostischen Algorithmus bei Verdacht auf eine erbliche Neuro- („variants of unknown clinical significance“, VUS
pathie. Als häufigere Ursachen für die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankungen (CMT) sollten zu- [29]) einzuordnen sind. Der Klasse der VUS kommt
nächst wenige Einzelgene analysiert werden, bei Small-Fiber-Neuropathien (SFN) kann zu- eine zentrale Bedeutung zu, da nicht selten mehrere
nächst ebenfalls eine eingeschränkte Mutationssuche sinnvoll sein. Periphere Neuropathien infrage kommende, aber zunächst unklare Varianten
sollten durch eine „next generation sequencing“ (NGS)-Panelanalyse zu einem frühen Zeit-
innerhalb der analysierten Neuropathie-Gene detek-
punkt abgeklärt werden. Aufgrund klinischer Überlappungen kann eine Panelerweiterung um
tiert werden. Diese müssen dann hinsichtlich ihrer
Gene aus dem Formenkreis der amyotrophen Lateralsklerose (ALS), den hereditären spasti-
schen Paraplegien (HSP) oder Myopathien sinnvoll sein. Alternativ kann die Exom- oder Ge- möglichen Pathogenität beurteilt werden. Unter die-
nomsequenzierung zur umfassenden Untersuchung ursächlicher Genveränderungen einge- sen Varianten könnte sich die krankheitsursächliche
setzt werden. Del, Deletion; Dup, Duplikation; demyelin., demyelinisierend; HMN, hereditäre Veränderung befinden. Genauso könnten aber auch
motorische Neuropathie; HS(A)N, hereditäre sensorische (und autonome) Neuropathie; X-chrom., ausschließlich nichtpathogene Varianten vorliegen.
X-chromosomal Um eine Variante zu beurteilen, kommen neben der
Literatursuche unter anderem bioinformatische Vor-
hersageprogramme zum Einsatz. Zudem wird die
nannten Ausnahmen jeweils nur einen kleinen Anteil Häufigkeit der Varianten in der Allgemeinbevölke-
an der Gesamtmutationsrate ausmachen und eine zeit- rung anhand von Datenbanken überprüft. Ebenso
lich aufeinanderfolgende Untersuchung einzelner Ge- können Diskussionen mit Klinikern und der Nerven-
ne deshalb wenig zielführend ist (25). Die Aufnahme biopsie-Befund dabei helfen, die pathogene Mutation
von NGS-basierter Diagnostik in den einheitlichen zuzuordnen (29). In einigen Fällen kann auch eine
Bewertungsmaßstab (EBM) erlaubt zurzeit den be- Testung weiterer Familienangehöriger auf die Verän-
schränkten Einsatz in der Routinediagnostik (25 Kilo- derung eine eindeutige Klärung verschaffen. In kei-
basen codierender Sequenz pro Krankheitsfall). Für nem Fall dürfen die entsprechenden Varianten aber
die außerordentlich hohe Zahl infrage kommender Ge- zunächst genutzt werden, um nicht betroffene Famili-
ne bei einer Neuropathie ist dies ein erster wichtiger enangehörige prädiktiv zu testen. Zusammenfassend
Schritt, jedoch aus medizinischer Sicht nicht hinrei- ist die NGS-Diagnostik als ein Instrument zu verste-
chend. Das Gleiche gilt für die Diagnostik von Neuro- hen, das die Chance auf einen eindeutigen und damit
pathien im Kindesalter; auch wenn hier Mutationen im diagnosesichernden Befund erhöht.
SH3TC2-, MPZ- oder PRX-Gen gehäuft vorkommen
(26, 27). Bedeutung der genetischen Testung
Bei der schnell steigenden Zahl neuer krankheits- Die Kritik an der Indikation zur genetischen Testung
assoziierter Gene sowie Überlappungen zu anderen von Neuropathien und dem breiteren Einsatz einer
Erkrankungen ist nach ausführlicher Aufklärung der NGS-Panel-Diagnostik bezieht sich zumeist auf das
Patienten sowie vor dem Hintergrund sinkender Kos- Argument der fehlenden Therapierbarkeit. Auch wenn
ten aus diagnostischer Sicht zunehmend die Exom- die Therapie von Neuropathien bis auf wenige Aus-
Sequenzierung, das heißt die parallele Sequenzierung nahmen symptomatisch bleibt, ist eine Abgrenzung
aller circa 23 000 Gene des Menschen, ein zielführen- von behandelbaren erblichen Formen wie der Trans-
der diagnostischer Schritt. Diese Maßnahme unter- thyretin-Amyloidose oder dem Morbus Fabry wichtig
liegt jedoch aktuell der Einzelfallentscheidung durch (26). Es zeigt sich zudem vermehrt, dass typische neu-
die Krankenkassen und wird bislang nur selten bewil- rophysiologische Zeichen einer inflammatorischen

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Neuropathie auch bei Patienten mit erblichen Neuro- GRAFIK 3


pathien, zum Beispiel bei Mutationen in GJB1,
SH3TC2, FIG4 oder SPTLC1, gefunden werden und
dass bei einer hereditären Form nicht immer symme- HS(A)N ARL6IP1
trische Verteilungsmuster vorliegen müssen. Bei the- SFN FAM134B
SCN9A ATL3
rapierefraktärer vermeintlich inflammatorischer Neu- SCN11A ATL1
ropathie sollte deshalb auch aufgrund differenzialdi- KIF1A
agnostischer Erwägungen eine genetische Testung in RAB7
Betracht gezogen werden.
FIG4 ALS
Häufig wird zudem unterschätzt, dass durch die VCP
molekulare Diagnosesicherung auch eine meist lange, SPG11
teure und für den Patienten belastende Suche nach der
DNM2 HSP

Myopathie
Ursache der klinischen Symptome beendet wird. KIF1A
LMNA CMT SACS
Letzteres wird von vielen Patienten als sehr hilfreich TFG
im Umgang mit der Erkrankung empfunden. Indem
BSCL2
die Diagnose gesichert wird, kann eine eindeutige REEP1
Aussage zum Erbgang und damit eine Angabe zur GARS
Wiederholungswahrscheinlichkeit in einer Familie DYNC1H1 IGHMBP2 HSBP1
getroffen werden. Diese Kenntnis kann für die Fami- TRPV4 HSBP8
lienplanung wichtig sein und ermöglicht gerade bei HMN
schwereren Verlaufsformen über eine prädiktive oder SMA
pränatale Testung aufzuklären. In diesem Zusammen-
hang, wie auch bei der Diagnostik und Befunderläute- Genetische Überlappungen innerhalb der Neuropathien und mit anderen klinischen
rung, kommt dem Aspekt der humangenetischen Be- Entitäten. ALS, amyotrophe Lateralsklerose; CMT, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung;
ratung eine zentrale Bedeutung zu. HMN, hereditäre motorische Neuropathie; HS(A)N, hereditäre sensorische (und autonome)
Neuropathie; HSP, hereditäre spastische Paraplegie; SFN, Small-Fiber-Neuropathie;
SMA, spinale Muskelatrophie
Genetische Überlappungen bei Neuropathien
Zunehmend zeigt sich, dass Mutationen im gleichen
Gen zu klinisch distinkten Entitäten führen können. Im
MPZ-Gen
Z wurden Mutationen zunächst als Ursache für ten. Auch ergeben sich zusätzliche Argumente für die
eine demyelinisierende CMT (CMT1) beschrieben breite Mutationssuche durch eine Exom-Sequenzie-
(30). In der Folge wurden aber auch axonale und inter- rung. Auf Basis des genetischen Befundes können mög-
mediäre Formen aufgrund von MPZ-Mutationen be- licherweise als atypisch erachtete Symptome besser
richtet (31, 32). Des Weiteren zeigen sich Überschnei- und früher erkannt sowie eingeschätzt werden oder die
dungen in den Erbgängen: Mutationen in EGR2, klinischen Befunde auf Basis der Mutation aber auch
GDAP1, NEFL L sowie einigen weiteren CMT-assoziier- erneut evaluiert werden. Außerdem zeigen Anamnese
ten Genen können sowohl einem rezessiven als auch und Nervenbiopsie nicht selten, dass eine Neuropathie
dominanten Erbgang folgen. Nicht nur elektrophysiolo- mehrere Ursachen hat. Demnach können neben geneti-
gische Einteilungen und Vererbungsmodi überlappen, schen Veränderungen vaskuläre, oft prädiabetische Lä-
auch werden verschiedene neuromuskuläre Erkran- sionen sowie entzündliche Alterationen nachgewiesen
kungen durch Veränderungen im selben Gen verur- werden. Es wächst hieraus der Bedarf einer intensiven
sacht. Dies wird insbesondere durch den Einsatz einer Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen wie
breiteren NGS-Diagnostik immer deutlicher. Genver- der Neurologie, Neuropädiatrie, Neuropathologie und
änderungen, die mit einer CMT assoziiert werden, kön- Humangenetik, beispielsweise im Rahmen neuromus-
nen klinisch auch zu einer HSAN oder HMN bezie- kulärer Zentren. Die symptomatische Behandlung der
hungsweise distalen spinalen Muskelatrophie führen häufig schweren klinischen Verläufe erfordert zudem
(Grafik 3). Darüber hinaus kann es zu einer Beteiligung eine multidisziplinäre Betreuung durch auf neuromus-
zentralnervöser Nervenbahnen kommen. Nicht zuletzt kuläre Erkrankungen spezialisierte Neurologen, Neuro-
werden aber auch gänzlich konträre klinische Bilder bei pädiater, Orthopäden, Pulmologen, Psychologen und
Mutationen im selben Gen beobachtet. Mutationen im Physio-/Ergotherapeuten.
ATL1-Gen sind eine wichtige Ursache der HSP, können
aber auch zur HSAN ohne Zeichen einer Beteiligung Ausblick
des Zentralnervensystems führen (33, 34). Weitere Die NGS-basierte Genanalyse trägt wesentlich zum
Überschneidungen gibt es zwischen Neuropathien und Verständnis von Neuropathien bei und hat zur Identifi-
Myopathien, zum Beispiel bei Mutationen im zierung vieler neuer krankheitsassoziierter Gene ge-
DNM1-Gen (35), oder Neuropathien und Motoneuron- führt. Dies bildet die Grundlage für die Aufklärung
erkrankungen, wie bei Veränderungen im FIG4-Gen von Pathomechanismen, die zur Entwicklung von ge-
(36, 37) (Grafik 3). Hierdurch wird klar, dass die gene- zielten Therapien unerlässlich sind. Beispielhaft sei
tische Diagnostik sowie die Klassifikation der Neuro- hier auf präklinische Modelle wie die Applikation von
pathien nicht starren Einteilungsprinzipien folgen soll- HDAC6-Inhibitoren, die einige Krankheitsparameter

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Literatur
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Tooth. Allerdings sind 168 der Studien interventionell pathol 2012; 31: 7–23.
angelegt, die meisten mit symptomatisch wirksamen 13. Baets J, Deconinck T, De Vriendt E, et al.: Genetic spectrum of heredi-
tary neuropathies with onset in the first year of life. Brain 2011; 134:
Medikamenten. Nur einige wenige haben derzeit ei- 2664–76.
nen kausalen Ansatz. Es ist jedoch zu erwarten, dass 14. Tazir M, Bellatache M, Nouioua S, Vallat JM: Autosomal recessive
Charcot-Marie-Tooth disease: from genes to phenotypes. J Peripher
auf der Basis weiterer Studien die Bedeutung der ge- Nerv Syst 2013; 18: 113–29.
netischen Charakterisierung weiter zunimmt und die 15. Saporta AS, Sottile SL, Miller LJ, Feely SM, Siskind CE, Shy ME:
Einteilung von Neuropathien vermehrt durch eine mo- Charcot-Marie-Tooth disease subtypes and genetic testing strategies.
Ann Neurol 2011; 69: 22–33.
lekulare Klassifikation erfolgt. Eine große Herausfor-
16. Rudnik-Schoneborn S, Tolle D, Senderek J, et al.: Diagnostic algo-
derung der kommenden Jahre ist der Umgang mit ge- rithms in Charcot-Marie-Tooth neuropathies: experiences from a Ger-
netischen Varianten von unklarer klinischer Signifi- man genetic laboratory on the basis of 1206 index patients. Clin Genet
2016; 89: 34–43.
kanz, die zum Teil auch eine den klinischen Verlauf 17. Tomaselli PJ, Rossor AM, Horga A, et al.: Mutations in noncoding re-
modifizierende Wirkung haben könnten (sogenannte gions of GJB1 are a major cause of X-linked CMT. Neurology 2017;
„modifier“-Gene). Möglicherweise ist eine kombi- 88: 1445–53.
18. Hoeijmakers JG, Faber CG, Lauria G, Merkies IS, Waxman SG:
nierte Wirkungsweise mehrerer dieser Varianten der Small-fibre neuropathies—advances in diagnosis, pathophysiology
Schlüssel zum Verständnis, warum eine Genverände- and management. Nat Rev Neurol 2012; 8: 369–79.
rung bei einem Patienten eine periphere Neuropathie 19. Kurth I: [Sensory and autonomic neuropathies and pain-related chan-
nelopathies]. Schmerz 2015; 29: 445–57.
hervorruft, in anderen Fällen aber beispielsweise vor- 20. Bansagi B, Griffin H, Whittaker RG, et al.: Genetic heterogeneity of
wiegend das obere Motoneuron betrifft. Von einer Pa- motor neuropathies. Neurology 2017; 88: 1226–34.
thogenese auf Basis mehrerer zusammenwirkender 21. Rudnik-Schoneborn S, Auer-Grumbach M, Senderek J: Hereditary
neuropathies: update 2017. Neuropediatrics 2017; 48: 282–93
genetischer Veränderungen wird zunehmend berichtet
22. Rossor AM, Polke JM, Houlden H, Reilly MM: Clinical implications of
(40). Man kann annehmen, dass zukünftig neben ver- genetic advances in Charcot-Marie-Tooth disease. Nat Rev Neurol
besserten bioinformatischen Ansätzen auch die Fort- 2013; 9: 562–71.
schritte im Bereich der künstlichen Intelligenz helfen 23. Wang W, Wang C, Dawson DB, et al.: Target-enrichment sequencing
and copy number evaluation in inherited polyneuropathy. Neurology
werden, das komplexe Zusammenwirken genetischer 2016; 86: 1762–71.
Varianten zu verstehen. 24. Antoniadi T, Buxton C, Dennis G, et al.: Application of targeted multi-
gene panel testing for the diagnosis of inherited peripheral neuropathy
provides a high diagnostic yield with unexpected phenotype-genotype
Interessenkonflikt variability. BMC Med Genet 2015; 16: 84.
PD Dr. med. Gess bekam Kongressgebühren- und Reisekostenerstattung
25. Gess B, Schirmacher A, Boentert M, Young P: Charcot-Marie-Tooth
von der Firma Grifols. Für Vorträge wurde er honoriert von der Firma disease: frequency of genetic subtypes in a German neuromuscular
Bayer. Studienunterstützung (Drittmittel) wurde ihm zuteil von den Firmen center population. Neuromuscul Disord 2013; 23: 647–51.
Grifols und Pharnext.
26. Bird TD: Charcot-Marie-Tooth neuropathy type 4. In: Pagon RA, Adam
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. MP, Ardinger HH, et al. (eds.): GeneReviews. Seattle (WA) 1993.
27. Wilmshurst JM, Ouvrier R: Hereditary peripheral neuropathies of child-
Manuskriptdaten hood: an overview for clinicians. Neuromuscul Disord 2011; 21:
eingereicht: 30. 6. 2017, revidierte Fassung angenommen: 22. 11. 2017 763–75.

96 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 6 | 9. Februar 2018


MEDIZIN

28. Kalia SS, Adelman K, Bale SJ, et al.: Recommendations for reporting 38. Harel T, Lupski JR: Charcot-Marie-Tooth disease and pathways to
of secondary findings in clinical exome and genome sequencing, molecular based therapies. Clin Genet 2014; 86: 422–31.
2016 update (ACMG SF v2.0): a policy statement of the American 39. Garofalo K, Penno A, Schmidt BP, et al.: Oral L-serine supplementa-
College of Medical Genetics and Genomics. Genet Med 2017; 19: tion reduces production of neurotoxic deoxysphingolipids in mice and
249–55. humans with hereditary sensory autonomic neuropathy type 1. J Clin
29. Weis J, Claeys KG, Roos A, et al.: Towards a functional pathology of Invest 2011; 121: 4735–45.
hereditary neuropathies. Acta Neuropathol 2017; 133: 493–515. 40. Gonzaga-Jauregui C, Harel T, Gambin T, et al.: Exome sequence
30. Hayasaka K, Himoro M, Sato W, et al.: Charcot-Marie-Tooth neuro- analysis suggests that genetic burden contributes to phenotypic
pathy type 1B is associated with mutations of the myelin P0 gene. Nat variability and complex neuropathy. Cell Rep 2015; 12: 1169–83.
Genet 1993; 5: 31–4.
31. Kleffner I, Schirmacher A, Gess B, Boentert M, Young P: Four novel Anschrift für die Verfasser
mutations of the myelin protein zero gene presenting as a mild and Prof. Dr. med. Ingo Kurth
late-onset polyneuropathy. J Neurol 2010; 257: 1864–8. Institut für Humangenetik der RWTH Aachen
32. Marrosu MG, Vaccargiu S, Marrosu G, Vannelli A, Cianchetti C, Mun- Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen
toni F: Charcot-Marie-Tooth disease type 2 associated with mutation ikurth@ukaachen.de
of the myelin protein zero gene. Neurology 1998; 50: 1397–401.
33. Hubner CA, Kurth I: Membrane-shaping disorders: a common path- Zitierweise
way in axon degeneration. Brain 2014; 137: 3109–21. Eggermann K, Gess B, Häusler M, Weis J, Hahn A, Kurth I:
34. Timmerman V, Clowes VE, Reid E: Overlapping molecular pathologi- Hereditary neuropathies: clinical presentation and genetic panel diagnosis.
cal themes link Charcot-Marie-Tooth neuropathies and hereditary Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 91–7. DOI: 10.3238/arztebl.2018.0091
spastic paraplegias. Exp Neurol 2013; 246: 14–25.
35. Jungbluth H, Wallgren-Pettersson C, Laporte J: Centronuclear (myotu- ►The English version of this article is available online:
bular) myopathy. Orphanet J Rare Dis 2008; 3: 26. www.aerzteblatt-international.de
36. Chow CY, Landers JE, Bergren SK, et al.: Deleterious variants of
FIG4, a phosphoinositide phosphatase, in patients with ALS. Am J Zusatzmaterial
Hum Genet 2009; 84: 85–8. Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit0618 oder über QR-Code
37. Chow CY, Zhang Y, Dowling JJ, et al.: Mutation of FIG4 causes
neurodegeneration in the pale tremor mouse and patients with CMT4J. eTabelle:
Nature 2007; 448: 68–72. www.aerzteblatt.de/18m0091 oder über QR-Code

KLINISCHER SCHNAPPSCHUSS
Sauerstoff-refraktäre „Zyanose“ nach Sonnenexposition
Der 63-jährige Patient (1,75 m, 98 kg) wurde wegen akuter Dys-
pnoe in notärztlicher Begleitung mit dem klinischen Bild einer
schweren Zyanose eingeliefert. Er war am Vortag aus dem sonni-
gen Urlaub von den kanarischen Inseln zurückgekehrt. Der präkli-
nische Verdacht einer Lungenarterienembolie bestätigte sich nicht.
Es lag eine Linksherzdekompensation bei hypertensiver Entglei-
sung vor. Anamnestisch bestand seit 5 Jahren eine Amiodaron-
Medikation (200 mg/d) nach rezidivierter Tachyarrhythmia absoluta.
Die vermeintliche Zyanose trotz guter Sauerstoffsättigung wurde
durch eine phototoxische Amiodaron-Hyperpigmentierung imitiert.
Es handelt sich hierbei um lysosomale Speicherungen von Lipiden
und Amiodaron(-metaboliten) in Histiozyten der Dermis. Die
Effloreszenzen treten dosisabhängig mit deutlicher Latenz seit der
ersten Einnahme an lichtexponierten Arealen wie Stirn, Nase und
Wangen auf. Hautfalten (siehe Augenlider) werden ausgespart.
Passagere Erytheme sind häufig und treten bei bis zu 10 % der
Amiodaron-Patienten auf. Das schwere Vollbild wird nur sehr
selten beschrieben. Die schiefergraue Hyperpigmentierung kann
über Jahre nach Absetzen des Amiodarons persistieren und – wie
Effloreszenzen an lichtexponierten Arealen wie Stirn, Nase
im vorliegenden Fall – bei erneuter Sonnenexposition reaktiviert
und Wangen. Hautfalten (siehe Augenlider) werden ausge- werden. Die Therapie besteht aus dauerhaftem Amiodaronverzicht
spart. und Sonnenschutzmaßnahmen.

PD Dr. med. Friedhelm Sayk, Interdisziplinäre Intensivmedizin, Sana Kliniken Lübeck, friedhelm.sayk@sana.de
Hans-Martin Grusnick, Kardiologie/Intensivmedizin, Sana Kliniken Lübeck
Prof. Dr. med. Joachim Weil, Kardiologie, Sana Kliniken Lübeck
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Zitierweise: Sayk F, Grusnick H-M, Weil J: Oxygen-resistant “cyanosis” after sun exposure. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 97.
DOI: 10.3238/arztebl.2018.0097
►The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de

Deutsches Ärzteblatt | Jg. 115 | Heft 6 | 9. Februar 2018 97


MEDIZIN

Zusatzmaterial zu:

Hereditäre Neuropathien
Klinisches Bild und genetische Panel-Diagnostik
Katja Eggermann, Burkhard Gess, Martin Häusler, Joachim Weis, Andreas Hahn, Ingo Kurth
Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 91–7. DOI: 10.3238/arztebl.2018.0091

eLiteratur
e1. Sommer C, Geber C, Young P, Forst R, Birklein F, Schoser B:
Polyneuropathies—etiology, diagnosis, and treatment options.
Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 83–90.
e2. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik: Stellungnahme der
Deutschen Gesellschaft für Humangenetik zu genetischen Zusatz-
befunden in Diagnostik und Forschung. 2013.
www.gfhev.de/de/leitlinien/LL_und_Stellungnahmen/2013_05_
28_Stellungnahme_zu_genetischen_Zufallsbefunden.pdf (last
accessed on 1 December 2017).

eTABELLE

Übersicht über Gene, in denen Mutationen für Neuropathien verantwortlich sein können

Erkrankung verantwortliche Gene


HMSN AARS, ABCA1, ABHD12, AIFM1, ALS2, ANG, ARHGEF10, BAG3, BSCL2, C10ORF2, C12ORF65, CCT5, COX6A1, COX10, CTDP1,
CYP27A1, DCAF8, DCTN1, DGAT2, DHTKD1, DNAJB2, DNM2, DRP2, DYNC1H1, EGR2, FAM126A, FBLN5, FGD4, FIG4, FUS, FXN,
GALC, GAN, GARS, GDAP1, GJB1, GJB3, GNB4, GSN, HADHA, HADHB, HARS, HINT1, HK1, HOXD10, HSPB1, HSPB3, HSPB8, IFRD1,
IGHMBP2, INF2, KARS, KIF1B, KIF5A, KLHL13, LITAF, LMNA, LRSAM1, MARS, MED25, MFN2, MME, MICAL1, MORC2, MPV17, MPZ,
MTMR2, MYH14, NDRG1, NDUFAF5, NEFH, NEFL, NIPA1, OPA1, OPTN, PDHA1, PDK3, PEX12, PLEKHG5, PLP1, PMP2, PMP22, PNKP,
POLG, PRPS1, PRX, RAB7A, REEP1, SACS, SBF1, SBF2, SEPT9, SH3TC2, SH3BP4, SLC5A2, SLC5A3, SLC12A6, SLC25A46, SOX10,
SPG11, SURF1, SYT2, TARDBP, TDP1, TFG, TNNT2, TRIM2, TRPV4, TUBB3, TYMP, VCP, YARS, ZNF106
HSAN/SFN AAAS, ARL6IP1, ATL1, ATL2, ATL3, CLTCL1, DNMT1, DST, FAM134B, FLVCR1, GLA, GMPPA, IKBKAP, KIF1A, NAGLU, NGF, NTRK1,
PRDM12, RAB7A, RNF170, SCN10A, SCN11A, SCN9A, SPTLC1, SPTLC2, TECPR2, TMEM173, TRPA1, TTR, WNK1
dHMN/dSMA AARS, ASAH1, ASCC1, ATP7A, BICD2, BSCL2, CHCHD10, CLP1, DCTN1, DNAJB2, DYNC1H1, EXOSC3, EXOSC8, FBXO38, GARS,
HEXA, HINT1, HMBS, HSPB1, HSPB3, HSPB8, IGHMBP2, LAS1L, PLEKHG5, RBM7, REEP1, SCO2, SETX, SIGMAR1, SCL5A7, TFG,
TRIP4, TRPV4, UBA1, VAPB, VRK1

Im Rahmen einer Analyse des „next generation sequencing“-Panels können diese Gene (bzw. Untergruppen) parallel untersucht werden. Die Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Der schnelle Wissenszuwachs auf dem Gebiet der Neuropathien erfordert kontinuierliche Anpassungen der Panels bzw. breitere Testverfahren wie die Exom- bzw. Genomsequenzierung.
dSMA, distale spinale Muskelatrophie; HMSN, hereditäre motorisch-sensible Neuropathie; HSAN, hereditäre sensorische und autonome Neuropathie; SFN, Small-Fiber-Neuropathie;
dHMN, distal betonte hereditäre motorische Neuropathie

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