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MARTIN BAUER

ZUR GENEALOGIE VON NIETZSCHES KRAFTBEGRIFF

Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt

l Für Renate
f
! „Was Nietzsche mit ,Kraft' bezeichnet und meint, ist
nicht das, was die Physik so nennt."
Martin Heidegger

„Hüten wir uns", heißt es in einem nicht weniger bedeutsamen als rätsel-
vollen Aphorismus Nietzsches, „etwas so Formvolles, wie die kyklischen Be-
wegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen;
schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht
viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit
ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen." An dieser Warnung, die zu
einer ganzen Serie von Warnrufen gehört, die den Text des 109. Aphorismus
im Dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft skandieren und allesamt unsere
besondere Aufmerksamkeit verdienten, wird hitfr lediglich jener Blick interes-
sieren, der nach Nietzsches Auskunft Keplers und Newtons Gewißheit einer
zyklischen Motorik aller Himmelskörper zu irritieren vermag. Dabei wird un-
ser Interesse nicht der denkwürdigen Folgerung gelten, die sich Nietzsche —
allem Anschein nach — bei seinem Anblick des bestirnten Himmels äufge-
zwungen hatte. Unter anderem muß deshalb auch die Frage unberücksichtigt
bleiben, warum „die astrale Ordnung, in der wir leben," eine Ausnahme dar-
stellt, wie Nietzsche folgerte, und warum diese Ausnahme wiederum die
„Ausnahme der Ausnahmen", nämlich „die Bildung des Organischen" er-
möglichen konnte.1 Demgegenüber soll nach der Geschichte jenes Blickes ge-
fragt werden, eines Blickes, dessen Wiederholung den Leser der Fröhlichen
Wissenschaft immerhin zum prospektiven Augenzeugen derjenigen Zweifel er-
hebt, die Nietzsche schließlich veranlaßten, vom „Gesammt-Charakter der
Welt" auszusagen, er sei „in alle Ewigkeit Chaos."2.

1
2
KSA 3, S. 468.
Ebd.
212 Martin Bauer

Nun lehrt ein ungemein nüchternerer Blick, die Rede ist vom Blick des
Philologen in die nachgelassenen Fragmente Nietzsches, daß sein fröhlich-wis-
senschaftlicher Blick in die Milchstraße in Wahrheit der Blick in ein Buch auf
dem Schreibtisch von Sils-Maria gewesen war. Denn in den Aufzeichnungen
aus der Sommerperiode 1881, also in den Notaten, die Nietzsche dort etwa ein
Jahr vor Erscheinen der ersten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft abfaßte,
stößt man auf folgenden j eher unscheinbaren Wortlaut: „Wie unregelmäßig ist
die Milchstraße!" Ergänzt hat Nietzsche/seinen Ausruf mit dem Zusatz —
„(Vogt, p 110)".*
Es ist dieses Nachlaßfragment, das zum erstenmal für die schriftstelleri-
sche Hinterlassenschaft Nietzsches einen Hinweis auf den 1843 in Florenz ge-
borenen, später in Leipzig als Professor der Philosophie tätigen Johannes Gu-
stav Vogt enthält. Dessen Erstveröffentlichung — Die Kraft, Eine real-moni-
stische Weltanschauung — 1878 im Leipziger Verlag Haupt und Tischler er-
schienen, begegnete Nietzsche aller Wahrscheinlichkeit nach bereits Anfang
Juli 1881. Zu diesem Zeitpunkt befaßte er sich mit einer Aufsatzsammlung, in
der Otto Caspari naturphilosophische Themen und Publikationen jüngsten
Datums diskutierte. Auch das Werk Vogts besprach der dem Heidelberger
Monistenkreis angehörende, an der dortigen Universität ebenfalls Philosophie
lehrende Caspari in seinem Der "Zusammenhang der Dinge betitelten Buch.4
Die durchaus kritische Rezension, mit der Caspari Vogt bedachte, muß gleich-
wohl Nietzsches Interesse an Vogts Unternehmen, auf kausal-mechanischer
Grundlage den kosmischen Kreisprozeß zu beweisen, nachhaltig erregt haben.
So wendet sich Nietzsche in einem Brief vom 20./2l. .August 1881 an seinen
ehemaligen Basler Hausgenossen und treuen Freund Franz Overbeck mit der
Bitte, ihm einige Bücher nach Sils-Maria zu expedieren.5 In der Bücherliste,
die Nietzsche für Overbeck zusammenstellt und deren Titelverzeichnis über-
deutlich von den just bei Caspari Erlesenem geprägt ist, führt Nietzsche dann
auch das Buch des Johannes Gustav Vogt auf.
Daß Nietzsche die verlangte Ausgabe nicht bloß erhalten, sondern sich
tatsächlich auch der Mühe unterzogen hat, den verschlungenen Wegen der
Vogtschen Kosmologie über mehr als sechshundert Seiten hin nachzuwandeln,
bezeugt zunächst ein mit Nietzsches gelegentlichen Randglossen versehenes
Handexemplar, das zum erhaltenen Bestand seiner heute in Weimar archivier-
ten Bibliothek gehört, sonach und vor allem aber eine Anzahl von Fragmenten
des Nachlasses, in denen sich Spuren der Nietzscheschen Vogt-Lektüre kon-

3
KSA 9, S. 559, 11 [308] Frühjahr-Herbst 188 L
4
Otto Caspari, Der Zusammenhang der Dinge. Gesammelte philosophische Aufsätze, Breslau
1881, S. 41-48. v · " .
5
KGB /1, S. 116-118, Nr. 139.
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 213

serviert haben.6 Indes bleiben, abgesehen vom gut verborgenen Vogt-Zitat der
Fröhlichen Wissenschaft, weitere direkte Bezugnahmen auf Vogt in den zu
Lebzeiten eines schreibenden Nietzsche herausgegebenen Werken vermieden.
Da Nietzsche folglich nur in der Fröhlichen Wissenschaft Vogts Warnung —
„So ganz en masse dürfen wir die Milchstrasse denn doch nicht behandeln und
sie ohne Weiteres in -symetrische Formen zwängen, auch wenn ihre augen-
scheinlichen Unrsgelmässigkeiten offenkundig dagegen protestieren . . ."7 —
auf seine Weise, wie für seine argumentativen Zwecke paraphrasierte, tritt uns
mit Vogt im Grunde einer jener stillen, ja stillsten Teilhaber der weithin noch
anonymen Gesellschaft von Zeitgenossen Nietzsches entgegen, deren Verkehr
der einsame Philosoph auf dem Weg seines Gedankenganges gelegentlich ge-
sucht hat.
Trotz des derart unspektakulären Eintritts des Realmonisten Vogt in das,
was die intellektuelle Biographie Nietzsches genannt werden könnte, ohne daß
sie schon verfaßt wäre, hat Charles Analer noch in den zwanziger Jahren die-
ses Jahrhunderts das Faktum der Vogt-Lektüre Nietzsches für erwähnens-, ja
bedenkenswert gehalten. In seiner mit akribischem Fleiß zusammengetrage-
nen, nach wie vor instruktiven Monographie Nietzsche, Sa vie et sä pensee ist
der Person und Theorie Vogts eine eingehendere Behandlung vorbehalten.8
Ihre Motivation darf wohl auf Andlers Auffassung zurückgeführt werden, das
Buch Vogts stelle eine der „sources modernes" des Gedankens ewiger Wieder-
kehr dar. Nicht daß es den abtrünnigen Altphilologen Nietzsche überhaupt
erst mit „Pidee du retour eternel" bekannt gemacht habe, designiert für Andler
das Vogtsche Werk als Quelle, vielmehr sieht«er den entscheidenden Einfluß
Vogts darin, Nietzsche — dem spätestens seit den vergangenen Tagen seines
Studiums der stoischen Klassiker der Gedanke ewiger Wiederkehr geläufig war
— davon überzeugt zu haben, daß die moderne Naturwissenschaft ihn recht-
fertige. Dementsprechend entwirft Andler, anders als Nietzsche es in Ecce ho-
mo tun wird, wo nachzulesen ist — „Ich gieng an jenem Tage am See von Silva-
plana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block
unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke."9 — eine voll-

6
Ich möchte an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Montinari herzlich dafür Dank sagen, daß er so
freundlich war, mir die Kopien sämtlicher von-Nietzsche bei O. Caspari und J. G. Vogt in
seinen Handexemplaren glossierten Seiten zur Verfügung zu stellen.
7
Johannes Gustav Vogt, Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung, Bd. I: Die Contrak-
tionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates,
Leipzig 1878, S. 110.
Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sä pensee, Tome II: Le pessimisme esthetique de Nietz-
sche. La maturite de Nietzsche, Paris 19586, S. 421-424. En passant sei darauf hingewiesen,
daß Andler die Vornamen Vogts fälschlich mit „F. G. Vogt" abkürzt und sich überdies in den
biographischen Angaben irrt.
9
KSA 6, S. 335.
214 Martin Bauer

kommen neue Dramaturgie für den legendären Tag im August des Jahres 1881:
„Mais un jour il lui appafüt qu'elle etait vivante; que la science moderne la jus-
tifiait."10
Um seine Interpretation des Augenblicks von Silvaplana, der die Gemüter
der Nietzscheaner offenbar noch nach hundert Jahren erhitzt, zu untermaü^
ern, rekurriert Andler auf eine kleine Notiz, die Nietzsche sich in eben jenem
ersten Silser Sommer angelegt hatte. In ihr heißt es: „Wer nicht an einen
Kreisprozeß des Alls glaubt, muß an den^villkürlichen Gott glauben
— so bedingt sich meine Betrachtung im Gegensatz zu allen bisherigen theisti-
schen!" Diese an sich schon bemerkenswerte Selbstinterpretation des Gedan-
kens ewiger Wiederkehr wird Andler zum bedeutsamen Fundstück, weil ihr
ein Hinweis auf Vogt folgt — „(s. Vogt p. 90)".n Geht man ihm nach, schlägt
also die von Nietzsche zitierte Seite in seinem Handexemplar der Vogtschen
Schrift auf, findet man einen kurzen, von Nietzsche durch einen Randstrich
markierten Passus: „Die Begründung des Kreisprozesses ist, wie im Eingange
betont wurde, die erste und höchste Aufgabe einer wahren Mechanik. Jedes
reale Weltsubstrat, dessen mechanische Wirkungsform nicht in erster Linie mit
innerer, unabweisbarer Notwendigkeit den Kreisprozess bedingt, muss erst
den Händen eines Schöpfers unterbreitet werden, damit die in Wirklichkeit.
existierende Welt sich entwickeln könne."12
Ohne Vogts befremdliche Terminologie hier im einzelnen aufschlüsseln
zu können — sie würde im übrigen allemal ins Kuriositätenkabinett philoso-
phischer Begriffsbildung des 19. Jahrhunderts entführen — wird Vogts lapida-
re These verständlich sein, daß eine Mechanik, die nicht den Kreisprozeß be-
gründet, ihre eigentliche Bestimmung verfehle, weil sie Zuflucht beim Theolo-
goumenon der creatio suchen müsse. Diese Behauptung Vogts extremiert
Nietzsches Notat zu der Alternanz, man müsse entweder an Gott oder an den
Kreisprozeß glauben. Soweit hingegen hatte Vogt sich nicht vorgewagt, und
dennoch trifft Nietzsches radikalisierender Extrakt eine der Vogtschen Theo-
rie basale Überzeugung. Sie nämlich hält dafür, daß in jedem kosmologischen
System, offen oder verdeckt, die Entscheidung zwischen Theismus und At-
heismus falle. Was Nietzsche unter dieser Hinsicht seiner Lektüre Vogts ver-
dankt, ist das Unterscheidungskriterium, vermittels dessen überprüft werden,
kann, wie die Wahl jeweils ausgefallen ist. Denn Vogt vertritt in seinem Buch,
zumal in einem umfassenden Einleitungskapitel, das die zeitgenössische Na-
turwissenschaft im allgemeinen und die Mechanik im besonderen des naiven
Realismus überführen soll, die Auffassung, ein kosmologisches Modell argu-

J0
Andler, o. c., S. 420.
11
KSA 9, S. 561, [312] Früh jähr-Herbst 1881.
12
Vogt, o. c., S. 90.
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 215

mentiere, unangesehen kausal-mechanischer Prätentionen, nolens volens thei-


stisch, falls es den Kreisprozeß leugne.
In der Fluchtlinie dieses für Nietzsche bedeutsamen symptomatologi-
schen Befundes fährt Vogt im Anschluß an die bereits zitierte Passage fort:
„Ebenso wenig können diejenigen als die Vertreter einer wahren Mechanik be-
trachtet werden, welche an die Stelle des Kreisprozesses die Anstrebung eines
gewissen Grenzzustandes, eines todten Beharrungszustandes setzen möchten.
Sie vergessen ganz und gar uns den Beweis zu liefern, warum dieser Grenzzu-
stand nicht schon längst erreicht sei, sofern die Welt eine zeitlich unendliche
sein soll, oder aber auch, wenn nach Clausius bei Annäherung an diesen
Grenzzustand, den er Entropie nennt, die Bewegungen der Weltkörper sich
allmählich mehr und mehr in Wärme verwandeln und schliesslich ein .vollstän-
diger Ausgleich aller Temperaturdifferenzen im Weltall stattfinden soll, uns zu
zeigen, auf welche Weise die zwingenden Faktoren, welche die heutige unglei-
chartige Wärmevertheilung und die Bewegungserscheinungen bedingten, in
die Welt gekommen sind und wieder aus ihr verschwinden können? Wie lange
noch will die empirische Spekulation der erkenntnistheoretischen Logik Hohn
sprechen?!"13
Mit diesen Sätzen, die Nietzsche sich ebenfalls angestrichen hatte, reicht
Vogt gleich die Probe aufs Exempel einer den Kreisprozeß abweisenden Kos-
mologie nach. Er illustriert, daß die Thermodynamik „trotz allen Sträubens"
genötigt ist, an ein „schöpferisches Eingreifen" zu appellieren, wie Vogt in
seiner Einleitung formuliert, will sie das Ausbleiben des Wärmetodes, dessen
Eintritt ihr zweiter Hauptsatz bekanntlich postuliert, plausibilisieren.14 Indem
Vogt der Clausiusschen Entropiehypothese versteckten Theismus nachweist,
disqualifiziert er sie als Mechanik und bewährt derart die Scheidekunst seines
Probiersteins gerade an einer streng kausal-mechanisch operierenden, kosmo-
logischen Spekulation.
Charles Andler beschließt seine Wiedergabe der beiden von Nietzsche li-
nierten Textauszüge gemäß seiner Ausgangsvermutung mit dem Resultat: '„Ce
sont les raisons qui ont convaincu Nietzsche."15 Seine Interpretation unter-
stellt folglich, Nietzsche habe den Ausführungen Vogts all jene Gründe ent-
nommen, die seine Lehre ewiger Wiederkunft naturwissenschaftlich sanktio-
niert erscheinen lassen. Wenn sie ihn-auch nicht zum Gedanken ewiger Wie-
derkehr geführt, so sollen sie ihn zumindest von dessen Beweisbarkeit über-
zeugt haben. Diese Auslegung der Literaturangabe Nietzsches findet Andler
dann in demjenigen Notat des Sommer-Nachlasses 1881 besiegelt, das Nietz-
sche mit der Seitenangabe versehen hatte.
» Ebd.
'« Vogt, o. c., S. 12.
J$
Andler, o. c., S. 423.
216 Martin Bauer

Unserer Auffassung nach bringt Nietzsches Aufzeichnung aber etwas


gänzlich anderes zum Ausdruck als den Gewißheitsgewinn, die ewige Wiederr
kehr dürfe fortan dem gesicherten Bestand naturkundlichen Wissens zugerech-
net werden. Wäre dem tatsächlich so, bliebe vollkommen unerklärlich, wafum
Nietzsche im nachgelassenen ^Beweisstück" ausgerechnet den Glauben an
den Kreisprozeß demjenigen an den willkürlichen Gott kontrastiert. Hätte
Vogts Beitrag Nietzsche die Gewißheit verschafft, der Kreisprozeß sei ein Fak-
tum apodiktischer Positivität, müßte dem Glaubten an Gott in Nietzsches Notiz
das Wissen um den Kreisprozeß gegenübergestellt sein. In solchem Falle hätte
sich allerdings exakt jene Reflexion erübrigt, die Nietzsche für sich festhielt.
Er nämlich legt sich Rechenschaft über die Konkurrenz seines kosmologi-
schen Credos zu allen bisherigen Glaubensformen ab. Unverzichtbare Bedin-
gung solcher Komparatistik ist freilich Nietzsches Weigerung, dem Gedanken
ewiger Wiederkehr den Status eines naturwissenschaftlichen Theorems zu ver-
leihen. Einzig wenn an die Lehre von der ewigen Wiederkunft geglaubt wer-
den kann und muß, steht sie in der von Nietzsche offensichtlich erstrebten
Spannung zu anderen Glaubensoffenen. Die Nivellierung, kraft derer Nietz-
sche seine Lehre wissenschaftlicher Anfechtung geradezu ausliefert, begründet
und erlaubt erst den Vergleich, den er zieht. Ihm hingegen entspringt eine für
Nietzsche außerordentlich bedeutsame Kontingenzreduktion. Die Opposition
seiner Kosmologie ewiger Wiederkehr zu jedem Theismus, aufweichen Tatbe-
stand Vogt Nietzsche hinweisen konnte, stellt den kardinalen Exklusivie-
rungsfaktor für den Glauben an die perennierende Repetition. Wollte man es
paradox pointieren, gewinnt der Gedanke der ewigen Wiederkehr in dem Ma-
ße an Unbedingtheit, wie diese eine Bedingung seiner Geltung hervortritt: sein
agonales Verhältnis zur Gesamtheit aller Theismen.
Im Wortlaut der Nietzscheschen Aufzeichnung liegt mithin nur insofern
ein Testat der Vergewisserung vor, als Nietzsche die differentia specifica jener
Kosmologie entdeckt, zu deren Fürsprecher zu werden er sich, in den Wochen
des Silser Sommers anschickt. Was die Lehre der ewigen Wiederkunft aus-
zeichnet, besteht nach Nietzsches Überlegung darin, daß an sie erst und einzig
geglaubt werden kann, wenn und insofern an Gott nicht mehr geglaubt wird.
Dabei indiziert Nietzsches Verweis auf Vogt, daß es dessen These — Mechanik
dispensiere den Theismus — gewesen ist, die Nietzsches Unvereinbarkeitsdok-
trin von Gottglaube und Glaube an den Kreisprozeß induziert hat. Sie konnte
Nietzsche allein darum inspirieren, weil Vogt in einem symptomatologischen
Nachtrag dartut, warum wahre Mechanik Mechanik des Kreisprozesses zu
sein hat. Damit bewahrt Vogt seine Position davor, die für Nietzsche mit Si-
cherheit unerhebliche Wiederholung einer mechanistischen Platitüde zu sein.
Aus Nietzsches Referenz an Vogt abzuleiten, er habe sich von dessen kau-
sal-mechanisch monistischer Begründung des Kreisprozesses überzeugen las-
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 217

sen, wie Andler vorgeschlagen und Oskar Becker nach ihm akzeptiert hatte,
geht schlichtweg fehl.16 Gehört der Gedanke der ewigen Wiederkehr, was
Nietzsches eigefne Datierung des berühmten, „Die Wiederkunft des Glei-
chen" betitelten Entwurfes verrät17, in den Augustanfang des Jahres 1881,
kann er ihm nicht, wie Andler gesagt hatte, durch ein Buch lebendig geworden
sein, das Nietzsche erst Ende August bestellt und frühestens in den ersten Sep-
temberwocheA empfangen und gelesen hat.
Vogts Krafttheorie ist für Nietzsche also weder im strengen noch in ir-
gendeinem weiteren Sinne eine moderne Quelle des Gedankens ewiger Wie-
derkehr gewesen. Und dies nicht auf Grund von trockenen Daten der Chrono-
logie seiner Lektüren, sondern wegen des generellen Tatbestandes, daß es eine
Quelle zum Gedanken ewiger Wiederkehr einfach nicht gibt; womit lediglich
gesagt sein will, es ließen sich so viele Quellen auftun (gerade Andler führt das
in seinem Buche vor), daß die eo ipso hochproblematische, hermeneutische
Größe der „Quelle" ihre immer schon gebrechliche Signifikanz gänzlich ein-
büßt. So ist im Falle der ewigen Wiederkehr Behutsamkeit der Quellenfor-
schung äußerst angesagt und Blumenbergs mit der Treffsicherheit des Ironi-
kers gefeilte Sentenz, die Rezeption der Quellen schaffe die Quellen der Re-
zeption, als Mahnung zu beherzigen.18
Nichtsdestoweniger wurde Nietzsches Arbeit an dem, was im Nachlaß
aus dem Winter 1883^1884 die „theoretischen Voraussetzungen" der Leh-
re von der ewigen Wiederkunft genannt wird19, durch seine Auseinanderset-
zung mit Vogt auf vielfältige Weise angeregt. Da wir eine Gesamtdarstellung
der Bedeutung von Nietzsches Vogt-Lektüre hier nicht vorlegen können, be-
schränkt sich unsere Darstellung auf die Rekonstruktion eines einzigen, wie-
wohl fundamentalen Beitrags der real-monistischen Kosmologie für die argu-
mentative Kodifizierung des Gedankens ewiger Wiederkehr.
In demjenigen Nachlaßfragment, das den Nietzscheschen Notatenzyklus
zur Ableitung des Kreisprozesses in der Epoche des Silser Sommers 1881 ab-
schließt, rekapituliert Nietzsche ein letztes Mal den Sachverhalt, der — seiner
Ansicht nach — die Anerkenntnis der ewigen Wiederkehr erzwingt. Dort heißt
es: „Unendlich neue Veränderungen und Lagen einer bestimmten Kraft
ist ein Widerspruch, denke man sich dieselbe noch so groß und noch so spar-
sam in der Veränderung, vorausgesetzt, daß sie ewig ist. Also wäre zu schlie-
ßen 1) entweder sie ist erst von einem bestimmten Zeitpunkt an thätig und

16
Vgl. Oskar Becker, Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkehr, in: Blätter
für Deutsche Philosophie, IX, 1936, S. 368-387; wiederabgedruckt in: O. Becker, Dasein und
Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963, S. 41-66.
" KSA 9, S. 494, 11 [141] Frühjahr-Herbst 1881.
18
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt 1979, S. 329.
w KSA 10, S. 645, 24 [4] Winter 1883-1884.
218 Martin Bauer

wird ebenso einmal aufhören - aber Anfang des Thätigseins zu denken ist ab-
s u r d ; wäre sie im Gleichgewicht, so wäre sie es ewig! 2) oder es giebt nicht
unendlich neue Veränderungen, sondern ein Kreislauf von bestimmter Zahl
derselben spielt sich wieder und wieder ab: die Thätigkeit ist ewig, die Zahl der
Produkte und Kraftlagen endlich."20
Nietzsche rekurriert in diesen Zeilen anfänglich auf jenes energetische
Prinzip, das die Basis für seinen Versuch gelegt hatte, eine Theorie der Kraft
derart zu formulieren, daß sie in ihrer theoretischen Faktur im Erweis eines
ewigen Kreisprozesses mündet. Dieser krafttheoretische Grundsatz Nietz-
sches ist das 1842 vom Heilbronner Arzt und Physiker Julius Robert Mayer
aufgestellte Prinzip von der Erhaltung des Kraftquantums. Für die Arbeiten
Mayers, dem Nietzsche achtungsvoll „ungemeine Resultate" bescheinigt^1,
wurde er durch Peter Gast interessiert, der ein für Nietzsches Studium be-
stimmtes Exemplar von Mayers Mechanik der Wärme, in 2. Auflage 1874 in
Stuttgart erschienen, eigens neu einbinden ließ, bevor er es im April 1881 nach
Genua sandte, dem damaligen Aufenthaltsort des Nomaden Nietzsche.22 Was
das Mayersche sogenannte „Konstanzprinzip" im Rahmen einer Begründung
der ewigen Wiederkehr zu leisten hat, beleuchtet das folgende, ebenfalls im
Sommer 1881 angelegte Notat Nietzsches wohl am klarsten: „Das Maaß der
All-Kraft ist b e s t i m m t , nichts , Unendliches': hüten wir uns vor solchen
Ausschweifungen des Begriffs! Folglich ist die Zahl der Lagen Veränderungen
Combinationen und Entwicklungen dieser Kraft, zwar ungeheuer groß und
praktisch junermeßlich', aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich.
Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich d. h. die Kraft
ist ewig gleich und ewig thätig: — bis diesen Augenblick ist schon eine Unend-
lichkeit abgelaufen, d.h. alle möglichen Entwicklungen müssen schon dage-
wesen sein. Folglich muß die augenblickliche Entwicklung eine Wiederho-
lung sein und so die, welche sie gebar und die, welche aus ihr entsteht und so
vorwärts und rückwärts weiter! Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern
die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt."23
Man wird diese Ausführung Nietzsches eine mengentheoretische Begrün-
dung der ewigen Wiederkehr betiteln dürfen, da Nietzsche die kosmische Re-
petition als das unablässige Wiederholungsgeschehen in der Immanenz einer
limitierten Menge möglicher Kraftlagen betrachtet. In Spezifizierung eines er-
sten Begründungsansatzes24 schließt er an dieser Stelle aus der mit Mayer kon-
statierten quantitativen Bestimmtheit der „All-Kraft" auf die endliche „Zahl

20
KSA 9, S. 558f. 11 [305] Frühjahr-Herbst 188}.
21
Siehe ebd., S. 492, 11 [136].
22
KGB HI/2, S. 158f., Nr. 67.
23
KSA 9, S. 523, 11 [202] Frühjahr-Herbst 1881.
24
Siehe ebd., S. 498, 11 [148], sowie S. 500, 11 [152].
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 219

der Lagen Veränderungen Combinationen", die diese Kraft eingehen kann. In


Begriffen des Mayerschen Krafterhaltungsgesetzes wäre der von Nietzsche
vorgestellte Tatbestand in der Weise zu artikulieren, daß die „Unzerstörlich-
keit des Kraftquantums" für einen unendlichen Wandel der „Kraftqualitäten"
sorgt, wobei Nietzsches Überlegung zufolge die bestimmte, wenn auch nume-
risch unerfaßbare Zähl der möglichen Qualitäten die Wiederholungsstruktur
des Verwandlungsabläufes verantwortet.25 In dem herangezogenen Notat
schlägt sich die'Differenz des nach Mayer ewig konstanten Kraftquantums von
den endlichen Kraftqualitäten in Nietzsches terminologischer Unterscheidung
einer „All-Kraft" von einer „Gesammtlage aller Kräfte" nieder, die Nietzsche
im übrigen andernorts tatsächlich „die Kraftmenge" bezeichnen sollte.26 Der
statthabende Wechsel vom Singular der einen All-Kraft zum Plural der Ge-
samtheit aller Kräfte markiert daher keinesfalls eine argumentative Unscharfe
Nietzsches, vielmehr unterstreicht er, daß Nietzsche mit dem Singular die
Konstanz des energetischen Quantums betont, während der Plural für die De-
signation aller differierenden Realisationen des limitierten Kraftquantums vor-
behalten ist.
In vollkommenem Einklang mit der von Nietzsche bei Vogt wenig später
gefundenen These, das Konstanzprinzip verlange die Annahme eines kosmi-
schen Kreisprozesses27, integriert Nietzsche dem Gedanken ewiger Wieder-
kehr die bahnbrechende Folgerung des Robert Mayer, indem er dessen Kon-
stanzprinzip den Beleg für die notwendige Geschlossenheit des Universums
der Weltmöglichkeiten abliest. Die schlechterdings unverzichtbare Funktion
des durch Mayer beigetragenen Argumentationsstückes für eine Begründung
der ewigen Wiederkehr exponiert Nietzsche, wenn er formuliert — „es bewegt
sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen
gleicher Zustände. — Was alles möglich ist, das kann freilich dem menschli-
chen Kopfe nicht überlassen sein aüszudenken: aber unter allen Umständen ist
der gegenwärtige Zustand ein möglicher, ganz abgesehn von unserer Urtheils-
Fähigkeit oder Unfähigkeit in Betreff des Möglichen — denn er ist ein wirkli-
cher. So wäre zu sagen: alle wirklichen Zustände müßten schon ihres
Gleichen gehabt haben, vorausgesetzt, daß die Zahl der Fälle nicht unendlich
ist, und im Verlaufe unendlicher Zeit nur eine endliche Zahl vorkommen muß-
te?"28 Daß Nietzsche diese tragende, in all seinen Reflexionen zur ewigen
Wiederkehr als einer kosmologischen Theorie virulente Voraussetzung dem
Konstanzprinzip abgewann, soll zuletzt eine Notiz seiner Feder dokumentie-
25
Vgl. Julius Robert Mayer, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur, S. 23; zitiert
nach: J. R. Mayer, Die Mechanik der Warme, Stuttgart 18933.
26
Siehe KSA 9, S. 502,11 [157], ebenso S, 553, 11 [292] Frühjähr-Herbst 1881.
*7 Vgl. Vogt, o. c., S. 654.
» KSA 9, S. 534, 11 [245] Früh jähr-Herbst 1881.
220 Martin Bauer

ren, die uns überdies den Blick auf Vogt einstellen wird. „Ehemals dachte
man", beginnt Nietzsche die Aufzeichnung, „zur unendlichen Thätigkeit in
der Zeit gehöre eine u n e n d l i c h e Kraft, die durch keinen Verbrauch erschöpft
werde. Jetzt denkt man die Kraft stets gleich, und sie braucht nicht mehr
u n e n d l i c h groß zu werden. Sie ist ewig thätig, aber sie kann nicht mehr
unendliche Fälle schaffen, sie muß sich wiederholen: dies ist mein Schluß."29
Indem Nietzsche die Geschichte des Kraftbegriffes auf knappstem Raum
Revue passieren läßt, identifiziert er jene theoretische Innovation, die er
triumphierend die seinige nennt, als konsequente Weiterentwickelung des
durch Mayers Berechnung des Wärmeäquivalentes initiierten, epistemologi-
schen Umbruchs im physikalischen Denken. Nietzsches Selbstinterpretation
des historischen Ortes einer Kosmologie ewiger Wiederkehr verlangt, die
Theorie kosmischer Repetition als den Punkt in der Geschichte des Wissens
von der Kraft wahrzunehmen, an dem aus der verifizierten Begrenztheit des
Kraftquantums auf die endliche Zahl der Kraftqualitäten geschlossen wird. So
ist Nietzsche zwar bereit, das Mayersche Energieerhaltungsgesetz als ein-
schneidendes Datum anzuerkennen und zu würdigen, gleichwohl aber ver-
mindert er es zur Vorstufe des mit ihm erreichten Standes einer Krafttheorie.
Tatsächlich beansprucht Nietzsche, wenn hier auch nur implizit, daß erst nach
der durch ihn markierten Schlußfolgerung ein authentischer Kraftbegriff ent-
wickelt, mithin eine wahrhaft mechanische Kosmologie ermöglicht sei. Denn
einzig Nietzsches Schluß, daß die All-Kraft nicht nur quantitativ begrenzt,
sondern auch qualitativ limitiert sei, wehrt einen anonymen Organizismus me-
chanischer Kosmologik ab, den Nietzsche unausgesetzt anprangert, etwa
wenn er vermerkt: „Unendlich viele Kraftlagen hat es gegeben, aber nicht
unendlich verschiedene: letzteres setzte eine unbestimmte Kraft vor-
aus."30 Daß Nietzsche in der Kritik der Hypothese einer unbestimmten, we-
der quantitativ noch qualitativ begrenzten Kraft unzweifelhaft kosmologische
Organizismen geißelt, zeigt ein weiteres Notat schlaglichthaft: „Dafunend-
lich neue Werden ist ein Widerspruch, es würde eine unendlich wachsende
Kraft voraussetzen. Aber wovon sollte sie wachsen! Woher sich ernähren,
mit Überschuß ernähren! Die Annahme, das All sei ein Organism, wider-
streitet dem Wesen des Organischen." 31
Allein, es bleibt auch nach der Abwehr organizistischer Vorurteile eine
bisher noch undiskutierte Voraussetzung, eine noch offene Frage, die' die
Standfestigkeit 'seines Schlusses gefährdet und deshalb 'Nietzsches neuerliche
Besinnung auf seinen Beweisgang zur ewigen Wiederkehr provozierte. Hieb-

29
Ebd., S. 544, 11 [269].
30
Ebd., S. 530, 11 [232]; vgl. auch S. 553-554, 11 [292]. · . '
31
Ebd., S. 525, 11 [213]; zum Problem organizistischer Kosmologie siehe auch: S. 522,11 [201].
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 221

und stichfest will er Nietzsche erst dann erscheinen, wenn geklärt ist, ob die
Unzerstörlichkeit des Kraftqüantums, also das, was Nietzsche die Unendlich-
keit der bestimmten All-Kraft heißen würde, per se schon die Unendlichkeit
der Krafttätigkeit in der Zeit garantiert. Und eben diese Frage sucht Nietzsche
unter Punkt 1) jenes Fragmentes aus dem Nachlaß zu beantworten, das unsere
Analyse ingang brachte.
Dabei gewinnt Nietzsche seine Antwort im Dialog mit einer Position, die
der Kosmologie des Kreisprozesses nicht schon deshalb opponiert, weil sie —
wie die Organizisten — das Konstanzprinzip ignoriert, sondern weil sie aus
der in letzterem ausgesprochenen Begrenztheit des Kraftquantums die End-
lichkeit der Krafttätigkeit ableitet. Gegen diese Theorie profiliert Nietzsche ei-
nen Einwand, der um so größere Aufmerksamkeit verlangt, als er aus den oben
genannten Gründen in entscheidender Weise die Lehre ewiger Wiederkehr ar-
gumentativ absichert. Darüber hinaus verdient er unser besonderes Interesse,
da Nietzsche ihn ausschließlich seiner Kenntnisnahme des Vogtschen Werkes
verdankt. Nietzsche weist darauf hin, daß die angenommene Endlichkeit der
Krafttätigkeit deshalb eine unhaltbare Hypothese darstellt, weil sie auf der
Grundlage des Konstanzprinzips eine absurde krafttheoretische Konsequenz
nach sich zieht. Hält man nämlich mit Mayer die quantitative Erhaltung der
Kraft für faktisch, hat man sich der möglichen Begründung beraubt, die End-
lichkeit der Krafttätigkeit resultiere aus dem restlosen Verbrauch der energeti-
schen Ressource. Daß diese für alle Zeit gleich sei, daß sie — mit anderen Wor·:
ten — unerschöpflich ist, nichts anderes wollte Mayer ja in seinem Konstanz-
prinzip konstatiert haben. Folglich muß der Vertreter einer Theorie endlicher
Krafttätigkeit sein Votum mit dem von ihm anerkannten Faktum der quanti-
tativen Kraftkonstanz harmonisieren, will er sich nicht in einen unauflöslichen
Widerspruch verstricken.
Daher postuliert er die Existenz eines Noch-nicht-, bzw. Nicht-mehr-
Wirkung-Seins der Kraft. Er setzt die endliche Wirkung der Kraft gegen ihr
unendliches Sein ab, womit ein Sein der Kraft jenseits ihres Wirkung-Seins
inauguriert ist. Den Effekt einer solchen Kompromißlösung indiziert die aus
ihr datierende systematische Nötigung, das Sein der Kraft zu verdoppeln: es
gibt jetzt die Seinsregion, in der Kraft als wirkende ist, und eine zweite Seins-
region der Kraft, in der sie gleichsam regungslos verharrt, bevor sie wirken
wird und nachdem sie gewirkt hat. Zum empirischen Beweismittel für die tat-
sächliche Existenz des postulierten Nullpunktes der Kraft beruft diese - nen-
nen wir sie - dualistische Kraftontologie den Gleichgewichtszustand. Er soll
jenen Modus des Kraftseins bezeugen, in dem die Kraft zwar ist, wenn auch
nicht wirkt.
Unschwer ist einzusehen, welcher Stellenwert einem derart eingeführten
Gleichgewichtszustand innerhalb kosmologischer Spekulation zufallen würde.
222 Martin Bauer

Die Geschichte des unendlichen Universums ließe sich als Biographie einer
Kraft schreiben, die — aus einem primordialen Gleichgewicht heraustretend —
zu wirken beginnt, womit eine Entwickelung der Natur einsetzt, die schließ-
lich ihr Ende nimmt, wenn die Kraft zu wirken aufhört. Im Finale kehrt die
Kraft in ihren Gleichgewichtszustand zurück, dort für alle Ewigkeit bei sich
bleibend, verwandelt in den mechanistischen Doppelgänger jenes Seins vor der
Offenbarung, dem Schelling in den Weltalter-Fragmenten von 1811 und 1813
ein Denkmal für das 19/Jahrhundert gesetzt/hatte.32
Daß die Interjektion Nietzsches, „— aber Anfang des Thätigseins zu den-
ken ist a b s u r d ; wäre sie im Gleichgewicht, so wäre sie es ewig!", die zum
Punkt 2) des Notates überleitet, auf die durchgespielte, kosmologische Inan-
spruchnahme des Gleichgewichtszustandes durch eine dualistische Kraft-^
ontologie zielt, braucht nicht erst der eher umständliche Hinweis klären,
Nietzsches Einlassung frage, was denn der Grund für die seiende Kraft wäre,
ihr Gleichgewicht aufzugeben, um wirkende Kraft zu werden? Worauf Nietz-
sche hinaus will, wird ansichtig, zieht man den Passus aus dem Buche Vogts zu
Rate, dem Nietzsches Argumentation entstammt. „Ein absoluter Gleichge-
wichtszustand", hatte Nietzsche bei Vogt erfahren, „konnte nie möglich sein,
da ja dadurch der Kraftbegriff in seinem innersten Wesen aufgehoben würde,
indem eine in irgendeinem Augenblicke wirkungslose Kraft einfach un-
denkbar ist."33 Vogts Überlegung — in Nietzsches Handexemplar finden wir
sie angestrichen — illustriert, warum und wie Nietzsche die Theorie einer end-
lichen Kraftwirkung verwerfen konnte. Indem sich diese unter dem Titel vom
Kraftgleichgewicht die Undenkbarkeit eines nicht-wirkenden Seins der Kraft
erschleicht, begründet sie einen Kraftbegriff, dessen kosmologische Relevanz
darin besteht, daß er die Kraft als etwas zu bestimmen zuläßt, das zu wirken
beginnt, womit zugleich impliziert ist, sie verfüge über das Ende ihres Seins als
wirkende Kraft. Damit etabliert sich sozusagen im Inneren der Kraft ein
machtvoller Souverän, dessen Befehle genaugenommen die eigentlichen Ursa-
chen für Kraftwirkung wären. Die Kraft wirkt also kraft eines Beschlusses zu
wirken. Eine in der Tat absurde Konsequenz, die indes, darauf hatte Vogt
Nietzsche gestoßen, unverzichtbares Bestandstück jeder Kosmologie sein
müßte, die bei Anerkennung des Konstanz des Kraftquantüms gleichwohl von
endlicher Krafttätigkeit ausgehen will.34

3? Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Schellings Werke, Nachlaßb'd. Die WeUalter., Mün-
chen 19792, S. 23f. und S. 130f.
33
Vogt, o. c., S. 30.
34
Wolfgang MüllerrLauter hat in seinem Aufsatz „Nietzsches Lehre vom Willen -zur Macht"
(erstmals erschienen in: Nietzsche-Studien 3, 1974, S. 1—60) von einem Mißverständnis ge-
warnt, das für die von Gilles Deleuze vorgelegte Interpretation des Willens zur Macht .(siehe G.
Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Presses Universitaires de France, Paris 1962; deutsch: G.
Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976) in gewisser Weise grundlegend war
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 223

Demgegenüber hatte Vogt in seinem Buch von Anbeginn hervorgehoben,


daß die Kraft „überhaupt nur als wirkende gedacht werden kann."35 Folglich
operiert die Vogtsche Kosmologie mit einem Kraftbegriff, der das Sein von
Kraft ausschließlich als Wirkung-Sein vorstellt. Die Kraft geht im Raum ihrer
Wirkungsvektoren auf, welcher Raum seinerseits nicht aus der Transzendenz
einer reinen, noch nicht und nicht mehr wirkenden, einer Kraft an sich aufge-
spannt wird. Weil mithin die Krafttätigkeit nicht zur endlichen Episode im
unendlichen Sein der Kraft an sich zurückgestuft werden kann, ohne den ein-
zig möglichen Kraftbegriff zu destruieren, tilgt Vogt die chimärische Differenz
von Sein und Wirkung der Kraft in einer fundamentalen Identität: das Sein der
Kraft kann nur ihr.immer schon Wirkung-Sein sein.
Daß Nietzsche sich hierin Vogt anschließt, zeigt sich in unserem Nachlaß-
notat an Nietzsches Vokabel vom „Thätigsein", mit der er die wesentliche Be-
stimmung des Vogtschen Kraftbegriffes angibt. Durch ihre Verwendung mo-

(vgl. Müller-Lauter, a.a. O., S. 35f., Anm. 120). Deleuze stützt seine These — „Der Wille zur
Macht wird also der .Kraft zugesprochen, aber auf besondere Weise: er ist in einem Ergänzung
und etwas Inneres." (o. c., S. 56) — auf einen, wie von ihm hervorgehoben wird, „der wichtig-
sten Texte Nietzsches, worin er zu erklären versucht, was er unter »Wille zur Macht* versteht."
(ebd.) Deleuze zieht dann das Fragment 619 aus dem zweiten Buch der Nachlaßkompilation
„Die Umwertung der Werte" hinzu: „Der siegreiche Begriff ,Kraft* mit dem unsere Physiker
Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer
Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als , Wille zur Macht* " (Unterstreichungen
durch Deleuze) Müller-Lauter moniert nun: „Er (Deleuze — M. B.) nimmt Nietzsches Aus:
fühning, der physikalische Kraftbegriff bedürfe der Ergänzung (,complement*) durch den Wil-
len zur Macht, freilich allzu wörtlich." (a.a.O., S. 35) und weist auf die Notwendigkeit hin,
Nietzsches Rede von Kraft nach „zweierlei Bedeutufig" zu unterscheiden: „zum einem im Sin-
ne des mechanistischen Vorstellens, zum anderen im Sinne von ,Wille zur Macht'." (a.a.O.,
S. 36) Müller-Lauters semantische Differenzierung für die Aussagen Nietzsches zur Kraft
wehrt eine Explikation des Willens zur Macht ab, die ihn — wie Deleuze — als dasjenige be-
stimmt, was im Inneren der Kraft will, damit die Kraft, durchaus auch in ihrer physikalischen
Definition, sein kann, was sie ist.
Durch unsere Untersuchung der Vogt-Rezeption Nietzsches können wir Müller-Lauters Kritik
am Versuch Deleuzes, den Willen zur Macht im Rückgriff auf Nietzsches Bemerkungen zum
mechanistischen Kraftbegriff in seinem spezifischen Gehalt zu entfalten, bestätigen. Denn
wenn Nietzsche Vogt darin beipflichtet, Kraft könne nur als wirkende gedacht werden, wird
die von Deleuze für Nietzsche reklamierte Initiative, das Können der Kraft als Wollen eines, in
ihr agierenden Willens zu dechiffrieren, hinfällig. Nietzsche würde ganz im Gegenteil eine sol-
che innere Komplettierung der Kraft durch einen Willen zur Macht mit Vogt als Auflösung des
einzig denkbaren Kraftbegriffes denunzieren.
Doch unsere These scheint im deutlichen Widerspruch zum Wortlaut des von Deleuze zitierten
Nachlaßfragmentes zu stehen, insofern Nietzsche dort ja tatsächlich einen inneren Willen der
Kraft postuliert. Allein, weder Deleuze noch Müller-Lauter konnten wissen, was Nietzsche in
seinem wichtigen Text notierte: wie die neue Entzifferung Montinaris enthüllt, hatte Nietzsche
sich vermerkt — „Der siegreiche Begriff ,Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt
geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen
werden, welche ich bezeichne als ,Willen zur Macht* [. . .]** (KSA , S. 563,36 [31], Juni-Juli
1881; Hervorhebung durch M, B.)·
35
Vogt, o.e., S. 21.
224 Martin Bauer

difiziert Nietzsche auf signifikante Weise seinen bis dahin für den Silser Som-
mer maßgeblichen Sprachgebrauch, insofern er zuvor durchgehend von der
„Tätigkeit" der Kraft gesprochen hatte. Als philologische Miniatur zeigt die
unversehens einsetzende Rede vom Tätigsein Nietzsches Interesse, fürderhin
nicht mehr von der Tätigkeit der Kraft als einem ihrer Attribute, sondern vom
Tätigsein - wenn man so sagen darf - als dem Wesen der Kraft theoretischen
Gebrauch zu machen. Worauf aber lenkt Nietzsches Verfahren hin? Daß es
um mehr als lexikalische Variation geht, wird in Anbetracht der kosmologi-
schen Implikationen jener Vogtschen Bemerkung handgreiflich, an die an-
knüpfend, Nietzsche zum neuen Worte fand. Was bei Vogt vorderhand die
Stellungnahme zur adäquaten Konstruktion des Kraftbegriffes sein könnte,
will — wie wir gesehen haben — in Wahrheit eine kosmologische Rekrutierung
des Gleichgewichtszustandes unterminieren. Ist Kraft der Vogtschen Erinne-
rung zufolge immer und ausschließlich wirkende Kraft, wird der Gleichge-
wichtszustand, soll er die Abwesenheit von Wirkung im unendlichen Sein der
Kraft veranschaulichen, schlechterdings inexistent. Mit dieser begriffsanalyti-
schen Folgerung grundiert Vogt seine kosmologische Dichotomie, es könne
entweder nur wirkende Kraft oder den Gleichgewichtszustand geben, wobei
letzterer — so die Konsequenz des Vogtschen Kraftbegriffes — gänzlich unun-
terscheidbar vom absoluten Nichts ist. Gibt es also überhaupt etwas, lautet
demnach der önto-kosmologische Grundsatz Vogts, dann allein die immer
schon gewirkt habende und für alle Gegenwart und Zukunft wirkende Kraft.
Als Leser Vogts beerbt Nietzsche dessen Negation eines Seins, das dem
Wirkung-Sein der Kraft logisch und chronologisch vorherginge; eine Erb-
schaft, die in Nietzsches Gedankengang vom Spätsommer 1881, genauer wohl:
in seinen Reflexionen zur Begründung der ewigen Wiederkehr als einer kos-
mologischen Denkfigur, doppelt zu Buche schlägt. Ist es nämlich absurd, mit
Vogt zu sprechen, sogar undenkbar, „einen Anfang des Thätigseins" anzuset-
zen, bedeutet dies zum einen, daß die Kraft seit Ewigkeiten wirktj mithin we-
der einen Ursprung, noch ein Ende ihres Tätigseins angenommen werden
kann. Zum anderen präpariert die Abweisung eiries ontischen Antezedens des
Tätigseins, wie sie Nietzsche und Vogt im Namen des einzig möglichen
Kraftbegriffes vollziehen, die kosmologische Perspektive, das Sein des Univer-
sums ausschließlich als das unendliche Tätigsein der Kraft aufzufassen.'Denn
wenn dem Sein der Kraft kein irgend anders definables Sein vorhergehty Kraft
hingegen einzig in der ausgezeichneten Weise des immer schon Tätigseins exi-
stiert, muß die Realität der Welt als Krafttätigsein begriffen werden. Was folgt
daraus für Nietzsche?
Zunächst ist damit die letzte, Nietzsche noch zweifelhaft gewesene Vor-
aussetzung der Lehre ewiger Wiederkunft überprüft. Gegen die etwaigen Be-
denken, Kraft könne lediglich von endlicher Wirkung sein, stellt er fest, daß
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 225

Kraft, wenn sie überhaupt ist, als unendlich tätige Kraft existiert. Sonach wird
Nietzsche in kosmologischer Hinsicht aus seinem Ergebnis extrapolieren, daß
nicht nur der Gleichgewichtszustand, sondern ebenso auch ein definitives En-
de — mithin die beiden Eventualitäten, deren bloße Möglichkeit schon den
Kreisprozeß dementieren würde — für eine Welt ausgeschlossen werden kön-
nen, die Nietzsche bereits in seinem ersten Ableitungsversuch der ewigen Wie-
derkehr die „\Kelt der Kräfte" genannt hatte.36 Schließlich gilt, daß diese Welt
der Kräfte keine abgeschlossene oder auch nur abschließbare Entität repräsen-
tiert, die in dem Augenblick hergestellt wäre, wo die Kraftwirkung sich for-
miert. Wenn nämlich das Krafttätigsein prinzipiell infinit ist, kann die Welt
kein durch Kraft einmal bewirktes Erzeugnis, kann sie kein in seiner Selbigkeit
für unendliche Zeiten konserviertes Seiendes sein. Nachdem er sich im Früh-
jahr 1881 schon gefragt hatte, „— Ist für uns die Welt nicht nur ein Zusam-
menfassen von Relationen unter einem Maaße?"37, bezeichnet „Welt" folglich
für den mit krafttheoretischen Motiven experimentierenden Nietzsche des
Spätsommers 1881 das Geschehen im Spiel der Kraftqualitäten des begrenzten
Kraftquantums. Weil Nietzsches Weltbegriff, insofern er sich im adaptieren-
den Rekurs auf den bei Vogt entdeckten Kraftbegriff herausschält, die Welt als
werdende zu denken fordert, wird fortan alle Welterkenntnis immer nur endli-
che Wirkungssequenzen des Krafttätigseins in der Welt zum Gegenstand ha-
ben können.38 Niemals vermag sie die Gesamtheit solcher Sequenzen, das
würde heißen, die Welt in ihrer Totalität vor sich zu haben, da es einer in der
Permanenz des unendlichen Werdens existierenden Welt schlechthin versagt
bleibt, sich zu einer Gesamt- und Einheit ihres Daseins zu vervollständigen;
denn „gäbe es in ihrem Verlaufe nur Einen Augenblick ,Sein' im strengen
Sinn", das ist die den Perspektivismus begründende These Nietzsches, „so
könnte es kein Werden mehr geben."39
Diesem Werden indes bleibt eingeschrieben, daß es sich einzig im ge-
schlossenen Möglichkeitsfeld dessen abspielen wird, was Nietzsche, wie wir
" VgL KSA 9, S. 498, 11 [148] FrühJahr-Herbst 1881.
37
Ebd., S. 454, 11 [36]; zur sehr komplexen Struktur und Genese von Nietzsches Weltbegriff,
der hier allenfalls in Andeutungen behandelt werden konnte, da sein Bezug zu Nietzsches erst
nach 1881 recht eigentlich entwickelten Theorie der Willen zur Macht abgeblendet bleibt, vgl.
die äußerst konzise Interpretation W. Müller-Lauters, a.a. O., Abschnitt 8, „Die vielen Welten
und die eine Welt", S. 28-32.
3B
Nur repräsentativ für eine Vielzahl von Fragmenten Nietzsches zur konsumtiven Endlichkeit,
sei hier ein Notat zitiert, das unsere These besonders eindringlich illustriert: „In Hinsicht auf
alle unsere Erfahrung müssen wir immer skeptisch bleiben und z.B. sagen: wir können von
keinem »Naturgesetz* eine ewige Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen
Qualität ihr ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen
absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer gro-
ben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt."
KSA 9, S, 554, 11 [293] Frühjahr-Herbst 1881.
* Ebd., S. 553, 11 [292].
226 Martin Bauer

erfuhren, summarisch die „Kraftmenge" betitelte.40 In diesem Terminus ver-


dichten sich die zwei grundlegenden, ökonomischen Aspekte von Nietzsches
kosmologisch gewendeter Krafttheorie. Er gibt zu verstehen, daß „Kraft" bei
Nietzsche ein für alle Zeiten konstantes Kraftquantum meint, dem eine glei-
chermaßen konstante Zahl von Kraftqüalitäten — Nietzsche nennt sie wahl-
weise „Kraftlagen" oder auch „Eigenschaften", „Fälle", gelegentlich schließ-
lich „Produkte" der Kraft41 — zugeordnet werden muß. Nun bürgt der Um-
stand, daß der Krafthaushalt sich quantitativ weder vermindert noch vermehrt,
für die Endlosigkeit des Tätigseins der Kraft. Ist also im Zuge dieser unab-
schließbaren Krafttätigkeit das gesamte Arsenal solcher Kraftqüalitäten freige^
setzt, haben sich zwar die Möglichkeiten des Weltwerdens erschöpft, doch ne-
zessiert aus der Kontinuität des Krafttätigseins die Fortsetzung des Prozesses.
So regeneriert das unendliche Tätigsein die Wirklichkeit des Werdens, indem
es die limitierte Anzahl der Kraftqüalitäten vori Neuem durchspielt, indem es
sie — mit anderen Worten — wiederholt: „die Thätigkeit ist ewig, die Zahl der
Produkte und Kraftlagen ist endlich."42

40
Ebd., S. 502, 11 [157] 2.26 fällt der Terminus zum erstenmal.
41
Siehe ad Kraftlagen, ebd., S. 523, 11 [202]; S. 530, 11 [232] und S. 558, 11 [305]
ad Eigenschaften, siehe ebd., S. 30, 11 [232] und S. 554, [292].
ad Fälle, siehe ebd., S. 544, 11 [269]
ad Produkte, siehe ebd., S.. 558f., 11 [305]. Wie Nietzsche in einem generelleren Sinne „Lage"
und „Eigenschaft" systematisch koordiniert, lehren die Fragmente 11 [204. 233], ebd., S. 524
bzw. 530.
42
Ebd., S. 559, 11 [305]; Bernd Magnus erinnert in seinem Aufsatz „Nietzsches äternalistischer
Gegenmythos" (zuerst erschienen in The Review of Metaphysics 26,1973, S. 604—616, dann in
deutscher Übersetzung wiederabgedrückt in: Nietzsche, hg. von Jörg Sälaquarda, Wege der
Forschung Bd. 521, Darmstadt 1980, S. 219-233) an die Beobachtung Arthur C. Dantos, es
gäbe in Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr einen „gravierenden, logischen Riß." (B.
Magnus, a.a.O., S. 220) Er bestünde darin, daß „selbst wenn Kraft und Raum endlich sind
und die Zeit unendlich", damit noch nicht erwiesen sei, „daß eine endliche Kraftsumme auch
eine endliche Zähl von Kraftzuständen zur Folge hat." (ebd.) Magnus erläutert im Anschluß
daran, unter welchen mathematischen Konditionen die Annahme einer quantitativen Begrenzt-
heit der Kraft durchaus unverträglich mit der Behauptung wäre, „daß die endliche Kraftsumme
eine endliche Zahl von Kraftzuständen zur Folge hat." (a.a.O., S.221) Er fährt dann fort:
„Nietzsche hätte natürlich behaupten können, daß Raum, Kraft und die Konfigurationen der
Kraft finit sind und dabei auf der Unendlichkeit der Zeit bestehen. Falls jedoch diese fehlende
Prämisse hinzugefügt worden wäre, hätte Nietzsche Konsistenz nur «m den Preis der Zirkel-
haftigkeit erreicht. Wird die Endlichkeit der Anzahl von Kraftzuständen vorausgesetzt, so kann
sie nicht anschließend aus den übrigen Prämissen abgeleitet werden." (ebd.)
Dem muß zunächst entgegnet werden, daß Nietzsches Kosmologie sich keinesfalls den logi-
schen Schnitzer zu schulden hat kommen lassen, den Magnus in der Spur Dantos konstatiert.
Nietzsche hat, wie Unsere Untersuchung zeigt, mehrfach und explizit die zahlenmäßige Be-
grenztheit dessen vorausgesetzt, was Magnus die „Kraftzustände" oder die „Konfigurationen
der Kraft" heißt. (ygL KSA 9, S. 530,11 [232], um nur die eindeutigste Belegstelle anzuführen.)
Auf die eigentliche Inkonsistenz einer Begründung der ewigen Wiederkehr, insofern .sie mit der
endlichen Zähl der Kraftlagen argumentiert, hat zuerst MüHer-Lauter aufmerksam gemacht, 'als
er schrieb: „Nietzsche nimmt nicht nur eine Begrenzung der Gesamtsumme von Kraft an,, son-
Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff 227

Eben dies ist Nietzsches Schluß gewesen, das '„Argumentationsballett" —


nach einem Worte Sartres43 —, von dem der Gedanke der ewigen Wiederkehr
umtanzt wurde, freilich in der Abgeschiedenheit jener unveröffentlichten No-
tizhefte und Zettelsammlungen Nietzsches, die sich erst jetzt unentstellt dem
geschult indiskreten Blick der Philologen-Gilde preisgegeben finden.

. dem auch eine Begrenzung der möglichen Zahl von Kraftlagen· Er gerät dabei in Widerspruch
mit sich selbst: die unendliche Teilbarkeit der Kräfte, durch die jeder Gedanke an eine Quasi-
Substantialitat der Willen zur Macht ausgeschlossen wird, läßt dem Gedanken von unendlich
vielen Kräfte-Kombinationen Raum. Nietzsche muß jedoch eine Begrenzung der Kraftlagen
annehmen, wenn denn seine (. . .) Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen kosmologi-
sche Gültigkeit haben soll." (Müller-Lauter, a. a. O., S. 30-31) Wollte man dem durch Müller-
Lauter identifizierten Konflikt zwischen dem Theorem absoluter Teilbarkeit der Kraft einer-
seits und dem durch ersteres neutralisierten, wiewohl systematisch unverzichtbaren Theorem
von der Begrenztheit der Kraftlagen andererseits mit Nietzsche eigenen Worten begegnen, wird
ein Nachlaßfragment relevant, in dem Nietzsche die entstandene Aporie zu schlichten sich be-
müht: „Die Mechanik nimmt die Kraft als etwas absolut Theilbares: aber sie muß erst jede
ihrer Möglichkeiten an der Wirklichkeit controliren." (siehe KSA 9, S. 530, 11 [233] Früh-
jahr—Herbst 1881) Nietzsche sucht hier die Wirklichkeit gleichsam zum regulativen Prinzip zu
befördern, an dem sich die theoretisch gegebene, unendliche Teilbarkeit schließlich doch limi-
tiert, indem potentiell unendliche Teilbarkeit in actu ihre faktische Grenze hat.
Gegen einen derartigen Lösungsweg hat Magnus, offenbar ohne Nietzsches tatsächlichen Ar-
gumentationsansatz gekannt zu haben, mit Recht eingewandt: „Die Einschränkung von mög-
liche Konfigurationen* auf , wirkliche Konfigurationen* hebt die Unterscheidung von ,möglich*
und »wirklich* mit auf. Nimmt man aber diese Aufhebung einmal hin, so konnte Nietzsche nur
geltend machen, daß (a) Raum und Kraft endlich sind, (b) Zeit unendlich ist und (c) die Zahl
der wirklichen Kraftzustände endlich ist. Doch müßte Nietzsche noch mehr voraussetzen. Er
hätte zu behaupten, daß diese wirklichen Kraftzustände die einzig möglichen sind. Etwas Neu-
es ist nicht zulässig. Reduziert man mögliche Weiten auf wirkliche Welten, gerät man in das
Leibnizsche Dilemma. Die bestehende Welt ist die einzig mögliche. Dann wäre es ihr aber nicht
möglich, wiederzukehren. Somit gebraucht Nietzsche merkwürdigerweise auf der eben Seite
den Begriff der logischen Möglichkeit, während er auf der anderen Seite dessen Implikationen
ablehnen muß/' (Magniis, a. a. O., S. 221-222).
43
Jean-Paul Sartre, Die ewige Wiederkunft des Gleichen: Nietzsches List, S. 107, Anm. 4, zitiert
nach: Alfrede Guzzoni, 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Konigstein/Ts., 1979.

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