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J. F-e.
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Der Letzte seines Stammes.
Aus den Papieren eines *schen Beamten.
Herausgegeben von J. F–e.
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Die Anwesenden bei der Leiche sahen mit einer
unheimlichen Ungeduld der Ankunft des Gerichts, mit
einer noch unheimlicheren dem Eintreffen der Mutter
und der Schwestern des Todten entgegen. Die Armen!
Jahrelang hatte der einzige Sohn, der Bruder, anstatt ihre
Stütze zu sein, ihnen nur Kummer und Verdruß gemacht.
Jahrelang hatten sie dann nur mit Angst und Zagen an
ihn denken, von ihm reden können. Seit vierzehn Tagen
war er ihre Freude, ihr Trost, ihre Hoffnung, und seit drei
Tagen erwarteten sie ihn täglich, stündlich. Jedes
Geräusch kündigte ihn ihnen an. Bei jedem Schritte, der
sich ihrer einsamen Wohnung nahete, flogen sie an das
Fenster, ihn zu sehen oder Kunde von ihm zu erhalten.
Schritte naheten sich wieder ihrer Wohnung jetzt, in
dieser nämlichen Stunde. Sie flogen an das Fenster. Er
war nicht da, wieder nicht. Aber Kunde kam von ihm:
„Er liegt im Walde, todt, ermordet.“ Sie stürzten hin zu
dem Walde, Alle, selbst halb entseelt. –
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erforderlichen Gerichtspersonale verfügte ich mich unter
Führung des Jägers zu dem Walde.
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Der Tod mußte augenblicklich erfolgt sein. Die Kugel
wurde in der Leiche gefunden, es war eine mittelmäßig
große Pistolenkugel. Die Aerzte, erklärten, daß das
Verbrechen vor etwa vierundzwanzig Stunden verübt
sein müsse.
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übrigen Sachen des Ermordeten, in gerichtliche
Verwahrung, nachdem ich, für den Fall späterer
Verwischung, die von dem Tragen der Uhr
zurückgebliebene Rundung sowohl an der Weste selbst
als zu den Acten genau abgezeichnet hatte.
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ermitteln, wo der Ermordete zuletzt lebend gesehen sei,
seine Reise zurückzuverfolgen, und zu erforschen, ob
und in welcher Gesellschaft er gewesen, sowie ob in
seiner Nähe oder in der Gegend sich verdächtige
Personen gezeigt hätten. Ich kam zu folgenden
Resultaten: Die Nachforschungen in Antwerpen, sowie
weiter in Belgien und den Niederlanden, blieben ohne
allen Erfolg. Weder war dort über den Namen Franz
Bauer, noch über Jemanden, der dem Ermordeten
geglichen hätte, irgend eine Auskunft zu erhalten. Auch
in den angrenzenden deutschen Ländern nicht. Kein
Paßbureau, kein Wirth, kein Anderer vermochte
Auskunft zu geben. Die erste Nachricht über ihn kam erst
aus der Nachbarschaft.
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sie sich mit dem schönen jungen Manne unterhalten, oder
vielmehr zu unterhalten gesucht. Denn der junge Mann
war kalt und wortkarg gegen sie gewesen. Der Wirthin
war es sogar vorgekommen, als ob er gerade darum, um
den Gesprächen mit der Dame zu entgehen, sich so viel
mit dem Ermordeten zu schaffen gemacht habe. Frauen
haben in solchen Sachen einen scharfen Blick, oft aber
auch einen zu scharfen, als daß er richtig sein sollte.
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ungefähr anderthalb Meilen von der Stelle entfernt, wo
die Leiche im Walde gefunden war.
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einmal festzustellen, wo der Mord verübt war. An der
Stelle, an der die Leiche gefunden wurde, war es nicht
geschehen. Keine Blutlache war dort, keine Spur eines
Kampfes oder Ueberfalls; Spuren an der Erde deuteten
vielmehr an, daß die Leiche dorthin geschleppt sei, um
sie in dem abgelegenen Versteck zu verbergen. Aber
auch nirgends anderswo im Walde ließ sich eine Stelle
entdecken, die Spuren, daß dort das Verbrechen verübt
sei, aufgewiesen hätte. Freilich hatte es den ganzen
Sonntag über stark geregnet, und sowohl Fuß- wie
Blutspuren hatten dadurch größtentheils verwischt
werden müssen, ganz verwischt und vertilgt werden
können.
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dem Verkehr abgeschnittenen und fast gar nicht mehr
besuchten Landstraße. In der Nacht zum vergangenen
Sonntag gegen Morgen war er von dem ungewöhnlichen
Geräusch eines Wagens erwacht, der schwerfällig in der
steilen und holperigen Landstraße herangefahren kam. In
der Nähe seines Hauses hielt der Wagen. Er stand auf,
um zu sehen, was es sei, und ob Jemand bei ihm
einkehren wolle. Es war draußen noch zu dunkel, als daß
er genau etwas unterscheiden konnte. Nach einer Minute
ungefähr setzte sich auch der Wagen wieder in
Bewegung, und er hörte ihn weiter fahren, tiefer in das
Gebirge hinein. Er glaubte trotz der Dunkelheit eine
Reisekutsche erkannt zu haben und stellte noch seine
Betrachtungen darüber an, wie dieselbe, zumal bei
Nacht, in diese Gegend komme, als er ein Klopfen an
seiner Hausthüre vernahm. Er öffnete das Fenster und
sah hinaus. Er konnte nur einen dunklen Gegenstand
gewahren, der sich unten an der Thür bewegte. Er rief
hinunter, wer da sei.
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Der Wirth ließ sie eintreten und führte sie in die
Krugstube. Sie war nicht blos elegant gekleidet, sie sah
auch sonst reputirlich und ordentlich aus. Der Krüger
fand kein Bedenken ihr zuzusagen, daß sie bei ihm
logiren könne. Sie theilte ihm darauf mit, daß sie mehrere
Tage zu bleiben wünsche. Sie erwarte hier Jemanden,
einen Verwandten, der ihr wichtige Nachrichten zu
bringen habe. Es sei aber ein Geheimniß dabei. Sie bat
deshalb, ihr ein einzelnes Stübchen anzuweisen, wo sie
von den Leuten nicht gesehen werde, und zugleich ihren
Aufenthalt gegen Jedermann zu verschweigen. Sie
begleitete ihre Bitte mit der Hinlegung eines
Doppellouisd’ors, als Vorausbezahlung für Quartier und
Verpflegung. Der Krüger sagte ihr auch das
Geheimhalten zu. Und er hielt seine Zusage – bis ein
Andres hinzu kam.
Der Wirth legte sich wieder zu Bett, schlief bald ein und
hatte nicht gehört, wann der Fremde sich wieder entfernt
hatte. Am andern Morgen war er fort. Hinterher fiel es
dem Wirlh ein und auf, daß der Fremde mit einer
sonderbar gedämpften, wie absichtlich verstellten
Stimme gesprochen habe. Verdächtig war ihm das Alles
geworden, als er die Nachricht von dem Raubmord
gehört hatte.
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Ermordeten befunden hatten. Das Geheimnißvolle in
ihrem Benehmen deutete zugleich auf eine Verbindung
mit dem Morde hin.
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Der Protokollführer und ich waren eingetreten, ohne
anzuklopfen, ohne durch das geringste Geräusch unsere
Ankunft zu verrathen. Wir standen völlig unerwartet in
dem Zimmer, vor der Dame, die darin war. Sie saß bei
einer Lampe an einem Tische und las in einem alten
Buche, welches sie wohl von dem Wirthe geliehen hatte.
Verwundert sah sie auf, als wir plötzlich an ihrer Seite
standen, und warf einen raschen, forschenden Blick auf
uns. Einen Augenblick schien etwas in ihrem Innern zu
zucken, durch ihr Gesicht zu fliegen. Dann erhob sie
sich, langsam, ruhig. Sie sah uns fragend an, verwundert,
aber mit kalter, fast stolzer Verwunderung.
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schuldig war.
„Allein?“
„Ganz allein.“
„Nein.“
„Zufällig.“
„Es war im freien Felde. Nur auf der einen Seite der
Straße befand sich eine Waldung.“
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„War es früh oder spät am Abende?“
„Nein.“
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unbefangen, wie sie war, in meinen Fragen fort:
„Es käme darauf an. Indeß, Ihr Name, wenn ich bitten
darf?“
„Antonie Hein.“
„Aus –?“
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fragen wollen, so genüge Ihnen schon im Voraus meine
Erklärung: ich finde es gut, es gefällt mir, Ihnen über
mich nicht ein Wort weiter zu sagen.“
Sie sprach mit ihrer ganzen Ruhe, aber auch mit einer
Entschiedenheit und Festigkeit, die eine große
Willenskraft anzudeuten schienen.
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Sie sprach die letzten Worte mit einem gewissen Hohn,
welcher mir in ihrer Lage wenig angebracht schien. Die
ordinaire Frau der Wirthsleute fiel mir wieder ein. Sie
mochte in der vornehmen Welt gelebt haben, jedoch
gehörte sie derselben nicht an. Aber ich wollte mir kein
voreiliges Urtheil über sie bilden, nur eins konnte ich
nicht über mich gewinnen: sie für eine verheirathete Frau
zu halten. Die Heiligkeit der Ehe und sie – die
Verbindung widerstrebte mir; freilich, es gibt ja auch
unheilige Ehen. Ich trat den entscheidenden Fragen an sie
näher.
„So?“
Ich sah sie scharf genug bei diesen Worten an. Kein Zug
ihres Gesichts veränderte sich, aber sie stand von ihrem
Sitze auf.
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„Das Schicksal des Mannes dauert mich,“ sagte sie mit
unverkennbarer Theilnahme in Stimme, wie in Blick.
„Ich bin nur wenige Stunden mit ihm gereist; aber ein
solches Verbrechen entsetzt uns, wenn es auch Jemanden
betroffen hat, den man blos flüchtig kannte.“
Sie behielt den Blick auf mich gerichtet, als sie die Frage
ausgesprochen hatte. Ihre Augen blitzten, ihre Wangen
waren geröthet, und so erwartete sie meine Antwort. Sie
sah fast edel aus in diesem Augenblick, ihre Schönheit
war eine erhabene. War das Kunst? Ich war ihr Offenheit
schuldig und stand ohnehin nach dem Gange des
Verhöres unmittelbar an dem entscheidenden
Augenblick.
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sind am Sonnabend Nachmittag in seiner Gesellschaft
gesehen worden; auch sind Sie geständig, noch am
Sonnabend Abend in seiner Gesellschaft gewesen zu
sein, und waren bei ihm in der Nähe des Ortes des
Verbrechens; Sie waren bei ihm in Gesellschaft noch
eines Dritten, seitdem jedoch waren Sie spurlos
verschwunden und hatten sich in diese öde, verlassene
Gebirgsgegend zurückgezogen. Hier endlich
aufgefunden, wollen Sie keine Auskunft über sich geben,
weder über Ihre Heimath und Verhältnisse, noch über den
Zweck Ihres verborgenen Hierseins. Das Alles erweckt
Verdacht, allerdings nur entfernten; Sie können völlig
unschuldige Ursachen zu Ihrem Benehmen haben, aber
nun vernehmen Sie ferner: Sie haben während Ihres
Hierseins den geheimen Besuch eines fremden Mannes
empfangen, welcher jenem Dritten glich, mit dem Sie
zuletzt in der Gesellschaft des Ermordeten waren, und
diesen Besuch haben Sie mir abgeleugnet. Entscheiden
Sie.“
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seine Stelle getreten, und dieser konnte jenes Andere
natürlich zurückgedrängt haben. Es konnte aber auch
Kunst sein, daß sie auf einmal auf der Durchsuchung
ihrer Sachen bestand – wie oft schon hatte ich ein solch
gemachtes Pochen auf Unschuld und Herausfordern des
Richters erfahren, nur nicht so geschickt, so natürlich!
Sie wollen dadurch sicher machen, der Richter soll mit
weniger Sorgfalt verfahren, vielleicht ganz vertrauen und
Abstand nehmen.
Sie hatte nur wenige Sachen bei sich, welche sie in einem
leichten Reisenachtsack mitgebracht hatte. Diesen stellte
sie jetzt geöffnet vor mich auf den Tisch. Außerdem war
nur ein Schrank in der Stube, welchen sie aufschloß und
hierauf auch die an dem Tische befindliche Ziehlade
herauszog. Der Schrank war leer und in der Tischlade
lagen nur Toilettengegenstände, auch den Reisesack
durchsuchte ich, welcher jedoch nur Wäsche und
Kleidungsstücke enthielt. Sie erröthete, als ich einen
Blick in den leeren Schrank geworfen und mich nun zu
dem Wenigen, fast Aermlichen in dem Reisesack wandte.
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führen.“
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Mit dem Durchsuchen des Reisesackes war ich jetzt
fertig, der Schrank stand noch offen, in dem man aber
nichts sah; nur unten in einer Ecke hätte sich vielleicht
ein nicht umfangreicher Gegenstand verbergen können.
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sinnreicher, glücklicher Versteck, mußte ich bei mir
denken. Ich nahm das Päckchen wie spielend in die
Hand. Sie stand noch neben mir und hatte soeben Börse
und Portemonnaie von mir zurückempfangen. Sie sah
mein Spielen. Leise wollte sie ihre Promenade durch das
Zimmer fortsetzen, sie blieb. Nach mir wollte sie nicht
hinsehen, aber ihre Augen hafteten auf meinen Fingern.
Ich bog den Draht zurück, mit dem das Päckchen
umwunden war. Wie unbewußt abwehrend hob sie ihre
Hand auf. Die Haarnadeln fielen auseinander.
Ich verglich die Breite des Ringes mit der in den Acten
angegebenen Breite des schmaleren Ringes. Sie paßte auf
das Genaueste. Ich legte den Ring auf die Abbildung in
den Acten, und er deckte sie vollständig. Ich durfte
keinen Zweifel mehr haben, wenigstens nicht für
dasjenige, was ich zunächst zu thun hatte.
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„Antonie Hein, Sie sind meine Gefangene.“
„Ich darf mir die Frage ersparen, warum?“ sagte sie. Der
Ton ihrer Stimme war doch fragend und noch ungewiß.
„Es ist wegen jenes Mordes,“ fuhr sie fort, nicht mehr
fragend und mit völliger Sicherheit der Stimme. „Aber
meine Unschuld wird an den Tag kommen. Sie glauben
es jetzt nicht, mein Herr. Sie können es mir nicht
glauben. Der Tag wird kommen, an dem Sie überzeugt
sein werden.“
„Oft?“
„Nur einmal.“
„Wann?“
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Ihre Entschiedenheit hatte sich mit jedem Worte, das sie
sprach, befestigt. Sie hatte wirklich eine große
Willenskraft. Diese war heute nicht mehr zu brechen. Ein
in ihrer augenblicklichen Lage natürlicher Trotz mußte
sie vielmehr erhöhen. Gebrochen konnte sie nur werden
durch die Zeit oder durch irgend ein auf sie einwirkendes
Ereigniß. Ich brach das Verhör ab und nahm sie mit als
Gefangene. Mit einer Ruhe, die mehr als Fassung war,
ergab sie sich in ihre neue Lage. Daß ein Ereigniß mir zu
Hülfe kommen werde, hoffte ich. Ich rechnete sogar auf
ein bestimmtes.
„Ich habe nur eine Frage an Sie,“ erwiderte ich ihr ernst.
„Die wäre?“
„Ja.“
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Obrigkeit Thatsachen vorenthalten, über die in ähnlicher
Lage Jeder, namentlich ein Unbekannter, Auskunft zu
ertheilen nach den Gesetzen verpflichtet ist. Geben Sie
Auskunft über Ihre Verhältnisse, nennen Sie den, der in
dem Gebirgskruge Sie besuchte, und Ihre Unschuld,
wenn Sie unschuldig sind, muß und wird in kurzer, in
kürzester Zeit an den Tag kommen.“
Hiernach hielt sie mich nicht mehr auf, und ich verließ
sie. Ich hatte Recht, aber auch ihr konnte ich dasselbe,
nicht absprechen; trotzdem konnte ich sie der Haft nicht
entlassen, solange der auf ihr haftende Verdacht nicht auf
die eine oder die andere Weise beseitigt war, weshalb ich
die gesetzlichen Mittel ergreifen mußte, den Verdacht zur
Gewißheit zu bringen; wenn die Gewißheit nicht zu
beschaffen war, so war er eben dadurch beseitigt.
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Das Ereigniß, auf das ich gerechnet hatte, machte das
eine, wie das andere Mittel unnöthig, denn an demselben
Abend lieferten zwei Gensd’armen einen Gefangenen an
mich ab, dessen Figur genau zu dem Signalement des
Mannes paßte, dessen Verhaftung ich schon vor vier
Tagen ausgegeben hatte. Sie hatten ihn aber nicht in dem
Gebirgskruge ergriffen, auch nicht in dessen Nähe,
sondern drei, beinahe vier Meilen weiter, tiefer in dem
Gebirge, in einem einsamen, mitten im Walde liegenden
Köhlerhause hatten sie ihn aufgefunden, woselbst er sich
seit fünf Tagen verborgen gehalten hatte; nur bei Nacht
hatte er einen Ausgang gemacht, jede Nacht; wohin,
hatte er den Köhlerleuten nicht gesagt. Gegen Morgen
war er wieder zurückgekehrt, und auf solchem Rückwege
hatten ihn einmal Leute gesehen. Er war vorsichtig,
scheu in einem Pfade gegangen, der nach diesem Hause
hinführte; eine andere menschliche Wohnung lag in dem
Walde nicht. Die Gensd’armen hatten davon erzählen
hören, worauf sie sich nach der Köhlerhütte aufgemacht
und den Fremden gefunden hatten. Er hatte sich ohne
jeden Widerstand verhaften lassen und nur nach der
Ursache seiner Arretirung gefragt. Sie hatten ihm diese
natürlich nicht mitgetheilt und sich nur seinen Namen
nennen lassen. Er war ein Mann von achtundzwanzig bis
neunundzwanzig Jahren und nannte sich Wilhelm Grote.
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„Prediger in dem Orte.“
.Ihr Stand?“
„Das heißt?“
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„Ich muß Sie bitten, mir dieselben zu geben; das Gesetz
fordert es, und im Gefängnisse Ihre eigene Sicherheit.“
„In Antwerpen.“
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„Sie waren danach nicht in Ihrer Heimath?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Welche?“
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„Wenn aber meine Frage in Ihrem eigenen Interesse
geschähe?“
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„Ich wüßte kaum.“
„Waren Sie auf der Reise von Antwerpen bis hierher mit
Deutschen zusammen?“
„Allerdings.“
„Ja.“
„In Californien.“
„Nein.“
„Diese ist?“
„Ja.“
„Nicht oft.“
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Ich ließ den Punkt fallen. „Ist Ihnen auch der Weg
bekannt,“ fragte ich weiter, „den Franz Bauer zu seinem
Dorfe nehmen mußte?“
„Nein. Ich war in dem Dorfe und auf dem Wege dahin
nie gewesen.“
„Nein.“
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„Führte er außerdem Werthgegenstände bei sich?“
„Eine Dame.“
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„Kannten Sie sie?“
„Nein.“
„Erzählen Sie.“
„Nein.“
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Es war die zweite Lüge. Der Schweiß war ihm auf die
Stirn getreten.
„Gewiß.“
„Nein.“
„Nein.“
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Dieses Nein sprach er wieder offener, freier. Aber konnte
ich ihm glauben?
„Zufällig im Gebirge.“
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wurde er auf das Heftigste davon ergriffen. Er wurde
blaß, wie die Wand des Zimmers. Auf dem Stuhle, auf
dem er saß, bewegte er sich hin und her. Er erhob die
Augen zu mir, er schlug sie wieder nieder. Er hatte mir
etwas zu sagen, er konnte sich nicht dazu entschließen.
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„Wen sehen Sie dort?“ fragte ich den jungen Mann.
Was war das? War es Wahrheit? Ich wurde irre, denn ich
hatte keinen festen Plan mehr und mußte mich selbst
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sammeln.
„Er ist hier,“ fuhr ich fort. Ich konnte es sagen, mit der
Ueberzeugung des Krügers.
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Reisegefährte ist in meiner Hand,“ sagte ich, „derselbe
Mann, der mit Ihnen zuletzt in der Gesellschaft des
Ermordeten war. Glauben Sie, daß es mir jetzt noch
schwer sein werde, von Ihnen die Wahrheit zu erfahren?“
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Dafür war nur eins anzunehmen: Grote war ihr
Reisegefährte, nicht aber der Mann, der sie im Kruge
besucht hatte. Nur diesen fürchtete sie; den Anderen
jedoch, ihren Reisegefährten Grote, fürchtete sie nicht,
trug vielmehr ein Verlangen, ihn zu sehen, mit ihm
zusammengestellt zu werden; denselben Grote, der vor
Schreck beinahe zusammenbrach, als er sie sah. Auf
einmal glaubte ich es zu haben: sie war Mitschuldige,
wenigstens schuldige Mitwisserin des Mordes; Grote war
unschuldig, er konnte aber sie und den eigentlichen
Mörder verrathen. Der Unbekannte, der sie in dem
Gebirgskruge besucht hatte, war der Mörder, und wer
war er? Er mußte in seinem Aeußeren Aehnlichkeit mit
Grote haben, nur Haare und Bart waren schwärzer,
glänzender, und das war die bis jetzt anzunehmende,
bisher nicht beachtete Unähnlichkeit.
Grote aber mußte ihn kennen, und von ihm mußte ich
also dennoch Auskunft erhalten; darum wünschte sie mit
ihm zusammengestellt zu werden, denn auch sie kannte
ihn als einen nicht festen Menschen. Sie mußte eine
Gelegenheit haben, ihn zu kräftigen, ihn vor Verrath zu
warnen, und dies ist gerade die gefährlichste Seite der
gerichtlichen Confrontationen, weshalb ich Grote um so
schleuniger vernehmen mußte. Ich schickte die Hein in
das Gefängniß zurück und ließ Grote wieder vorführen,
dessen Charakter mir jetzt noch klarer geworden war. Er
dachte nicht an die noch entferntere, er erschrak vor der
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nahen Gefahr. Ich legte ihm den bei der Hein gefundenen
Ring vor.
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„Ich hatte es schon früher und habe es mir redlich
erworben.“
Er verstummte.
„Nein, nein.“
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Er starrte in einer unbeschreiblichen Unruhe und Angst
vor sich hin; noch zwei oder drei Schläge, und ich mußte
ihn haben. Es waren grausame Schläge, die ich nach ihm
führte, Schläge einer entsetzlichen moralischen Tortur;
aber rief er sie, indem er dem Rechte sein Recht nicht
werden lassen wollte, nicht selber als Acte der
Gerschtigkeit hervor?
„Durch mich?“
„Als ich Ihnen vor einigen Tagen durch jenes Fenster die
Hein zeigte, erschraken Sie, wie vor einem Blutzeugen.“
Der Schweiß floß ihm von der Stirn, und ich hörte fast
die Tropfen auf die Erde fallen.
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„Nehmen Sie dazu noch Ihr verborgenes,
geheimnißvolles Herumschweifen in dieser Gegend, über
das Sie keinem Menschen Auskunft geben können, und
jetzt antworten Sie mir.“
„Es gibt in der Welt nur ein Mittel, das Sie retten kann,
und Sie haben es in Ihrer Gewalt.“
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furchtbare Gewalt aber hielt ihn zurück, den Mörder zu
nennen?
„Und Sie wollen nicht durch die Wahrheit Ihre Ehre, Ihr
Gewissen retten?“
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ihr zusammenführen, und Niemand wußte, daß er sie
auch sonst gesehen hätte. Dennoch fiel mein Verdacht
auf ihn, wie auch der des Inspectors. Wir forschten nach,
combinirten, ermittelten Einzelnes und hatten zuletzt das
Ganze: er hatte sie entfliehen lassen. Sie war wirklich
eine eben so verworfene, wie geriebene Person, welcher
er in seinem Leichtsinn nicht hatte widerstehen können;
auch hatte er ihr außerdem vor ihrer Flucht ein Billet an
den Gefangenen Grote bestellt. Er wurde für die Zukunft
unschädlich gemacht, aber für die Untersuchung war der
Schade einmal da. Und doch nicht. Auch ein „zwölf
Jahre gedienter“ Unterofficier sollte einmal durch ein
Verbrechen etwas Gutes stiften.
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„Ein neuer Beweis gegen Sie,“ hielt ich ihm vor, „daß
Sie freventlich die Wahrheit verschweigen.“
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Ohne einen Schritt weiter hinter dem leeren Wagen
herzureiten, oder mit einem einzigen Menschen weiter
ein Wort zu sprechen, war der Gensd’arm eilends
zurückgekehrt, um mir das Erfahrene, aber auch
Folgendes mitzutheilen, das er schon vor einiger Zeit
erfahren, das aber jetzt erst auf einmal eine Bedeutung
für ihn gewonnen hatte: In dem benachbarten Kreise,
nicht weit von der Grenze des Gerichtsbezirks, lag ein
adliges Gut, die Diburg genannt, welches einer alten
freiherrlichen Familie des Landes gehörte, die aber schon
seit vielen Jahren verarmt war und sich nur noch dadurch
zu erhalten vermocht hatte, daß von Jahr zu Jahr mehr
Stücke von dem Gute verkauft wurden. Zuletzt war nur
noch das Schloß Diburg mit einem Garten, einer kleinen
Holzung und einigen Morgen Ackerland da, und das so
Uebriggebliebene war verfallen genug. Es war seit
ungefähr zehn Jahren in dem Besitze zweier Geschwister,
der letzten Sprößlinge der alten freiherrlichen Familie
von Lengnau. Der Sohn hatte das Gut – wenn jene
wenigen Stücke noch den Namen verdienten – von
seinem Vater übernommen und die Schwester wohnte bei
ihm auf dem Schlosse. Der Sohn war bei dem Tode des
Vaters einige zwanzig, die Tochter dreizehn bis vierzehn
Jahre alt gewesen. Beide hatten nichts als den ärmlichen
Gutsrest. Der Sohn hatte auch nichts gelernt, denn dem
Vater hatte es an Mitteln gefehlt, ihn einer
standesmäßigen Bestimmung zu widmen. Er selbst hatte
zu keiner ernsten Beschäftigung Lust gehabt, und so war
er unter Jägern auf der Jagd, unter Knechten auf dem
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Felde, unter Rohheiten überall aufgewachsen. Er war
bald der Roheste von Allen geworden, und eine
Bösartigkeit des Charakters wurde ihm allgemein
nachgesagt.
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Kreises erzählt, mit denen er aus der früheren Zeit noch
in Verbindung stand. Wenige Tage nach der Ermordung
Bauers war der Freiherr von Lengnau nach Schloß
Diburg zurückgekehrt. Er erwartete eine Dame. Drei
Meilen von Diburg hatte Antonie Hein, in dem einsamen
Gebirgskruge, sich versteckt aufgehalten. Nach Schloß
Diburg hin war die Entflohene, nach Verlassung des
Wagens, quer durch den Wald geeilt.
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„Gewiß.“
„Sein Haar?“
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[402] „Kennen Sie ihn?“ wiederholte ich.
Es war, als wenn der Tod ihm an das Herz trete. Er mußte
sich auf einen Stuhl niederlassen.
„Bedenken Sie,“ ermahnte ich ihn, „daß ich Sie hier nach
einem Umstande frage, der jeden Augenblick durch
Nachfrage an dem Orte, wo das Fräulein war, festgestellt
werden kann.“
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Er überzeugte sich und nannte einen deutschen
Handelsplatz, an dem er früher Commis gewesen war.
„Zu jener Zeit nicht; sie war auf dem Schlosse Diburg
wie eine Gefangene gehalten.“
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„Sie waren also dort?“
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„Haben Sie ihn seitdem oft wiedergesehen?“
„Außerdem nicht?“
Waren der Freiherr und die Hein noch da, so mußte ich
schon mitten im Schlosse sein, ehe sie nur den Versuch
machen konnten, durch den geheimen Ausgang des
Schlosses zu entfliehen. Daß sie noch da seien, davon
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mußte ich ausgehen. Es war auch Wahrscheinlichkeit
vorhanden. Der Freiherr wußte durch die Hein, daß in der
Untersuchung bisher nicht einmal sein Name genannt
war. Die Hein mußte in den ersten Tagen nach ihrer
Flucht auf allen Wegen Steckbriefe und Gensd’armen in
ihrer Verfolgung wissen.
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Das Schloß Diburg hing wie ein Krähennest an einem
steilen Bergabhange und war nach allen Seiten mit
Mauern umgeben; selbst durch eine Belagerung war es
nur von einer Seite zu nehmen, und während es dort
genommen wurde, gingen die Belagerten von der
anderen Seite ruhig und sicher an dem jähen Abgrunde
auf verdeckten Schleichwegen hinunter, die nur ihnen
bekannt und nur ihnen nicht gefährlich waren. Dazu die
Persönlichkeit des Besitzers. Er war schon vor seiner
Auswanderung in der ganzen Gegend als einer der
verwegensten und gewaltthätigsten Menschen gefürchtet.
Es steckte der echte, nichts achtende und nichts
schonende Raubritter des Mittelalters in ihm. Seit seiner
Rückkehr sollte er noch wilder und unbändiger geworden
sein; er hätte zugleich den rohesten Uebermuth des
Geldes mitgebracht. In Schloß Diburg hatte er seine alten
Genossen um sich versammelt, den Auswurf der unteren
Stände der Gegend: verkommene Jäger, bestrafte
Wilddiebe, verliederlichte Bauerbursche. Mit ihnen
führte er ein Leben, so roh und gemein, wie die
Menschen selbst, mit denen er es führte. Wie sie mit ihm
roh und gemein waren, so waren sie auch mit ihm
verwegen und gewaltthätig. Große Hunde dienten ihnen
zur Jagd, zu ihren rohen Späßen, zur Sicherheit. War jetzt
die entflohene Hein da, war sie die Genossin des
Freiherrn, so war die wüste Gesellschaft des Schlosses
nicht nur möglichst auf der Hut vor einem Ueberfalle, sie
mußte auch immer bereit sein, ihren Herrn und Meister
gegen jeden Angriff auf das Aeußerste zu vertheidigen.
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Daß die Hein angekommen sei, davon wußte der alte
Schulze nichts. Nach der Schwester des Freiherrn mußte
ich noch fragen.
Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „O, das ist
eine unglückliche Geschichte. Das Fräulein ist ein Engel
mitten in der Höllenwirthschaft da. Sie hat nur noch eine
Hoffnung, daß der Himmel sie bald erlösen werde, Sie
hatte sich vor vielen Jahren mit einem braven jungen
Manne verlobt; aber er war ein Bürgerlicher, und der
Freiherr wollte die Verbindung nicht zugeben. Sie
fürchtete den Zorn des Bruders und unterwarf sich
seinem Willen. Seitdem zehrt sie da oben ab, still und
leidend, und ohne andere Hoffnung, als auf den
Himmel.“
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„Der Mann ist ein altes Familienstück des Hauses; er ist
uralt und war schon ein Greis, als ich noch ein Knabe
war. Er ist der einzige ehrliche Mann im Schlosse. Der
Freiherr haßt ihn, weil er ehrlich ist und ihn von früh her
zum Bessern ermahnt hat, aber ihn aus dem Schlosse zu
werfen, hat er nie gewagt. Er ist der Schutzengel des
armen Fräuleins.“
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Gensd’arm des Kreises, den einer von meinen Leuten
unterdeß herbeigerufen hatte.
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Bald verließen wir seine Krümmungen. Der Schulze
führte uns in geraderer Richtung auf keinem gebahnten
Wege, aber sicher unter den Bäumen weg. Er war hier
überall bekannt. Wir hatten so den doppelten Vortheil,
schneller an unserem Ziele anzulangen und Niemandem
zu begegnen. Wir begegneten wirklich Niemandem und
hörten auch kein Geräusch. Der Wind strich mitunter
heulend durch die Bäume; das war der einzige Ton, der
an unser Ohr schlug. Wir erreichten die Höhe des Berges,
das Ende des Waldes. In der Dunkelheit lag eine dunkle
Fläche vor uns. Sie lief hinten spitz zu. An der Spitze war
eine Erhöhung.
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gerader Linie auf das Schloß zu. Von diesem konnte man
jetzt die Umrisse erkennen. Wir waren bis dahin
beisammen geblieben. Es mußte nun zunächst, und zwar
mit der größten Vorsicht, recognoscirt werden.
„Sie können auf jener Seite sein, und der Wind kommt
von dieser. Zudem, wenn sie schliefen –“ Der Schulze
unterbrach sich. „Was war das?“
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„Da, jenseits des Thors. Ich wollte gerade sagen, daß
während der Nacht, wenn sie im Schlosse zu Bett sind,
ein Paar der großen Hunde zur Wache hinausgelassen
werden, und da –“
„Und da?“
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Thürmen flogen schrillend hin und her. Es war die
gräulichste Katzenmusik in dem Dunkel der Nacht, auf
dem einsamen hohen Berge, an dem alten, verfallenen
Schlosse. In dem Gebäude selbst regte sich nichts.
„Man will uns nicht hören! So kann man uns die ganze
Nacht warten lassen.“
„Ich kenne das alte Thor,“ sagte er. „Es sieht nur fest aus.
Mit einem alten Baumstamm, der in dem alten Park noch
zu finden sein wird, rennen wir es ein. Pochen wir vorher
noch einmal.“
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[404] Wir pochten noch einmal. Die Hunde hörten auf zu
bellen. Sie knurrten nur noch. Irgend etwas mußte ihnen
Ruhe geboten haben. Eine menschliche Stimme ließ sich
jenseits des Thors vernehmen.
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Schritt nahte sich dem Thore; nur ein einzelner. Es mußte
Jemand sein, der eine Laterne trug. Er kam nicht bis ganz
an das Thor.
Der Mann mit der Laterne entfernte sich wieder von dem
Thore. Die knurrenden Hunde folgten ihm. Nach einer
Weile kehrte er ohne die Hunde zurück; er hatte sie
fortgeschafft. Das Thor wurde von innen geöffnet. Ein
schneeweißer, von vielen Jahren tief gebückter, von noch
mehr Sorgen tief gebeugter Greis stand in dem Scheine
der Laterne vor uns. Er sah so ehrlich aus, der alte Mann.
Er war der einzige ehrliche Mann in dem alten
Freiherrnschlosse. Er sah uns, alle die fremden Gesichter,
ruhig, aber traurig genug an.
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Ich ließ ihn das Thor verschließen und die Schlüssel an
mich abgeben. Ein Gensd’arm mußte als Wache an dem
Thore zurückbleiben. Mit meinen anderen Begleitern
folgte ich dem Greise zu dem Gebäude. Wir überschritten
eine Brücke, die früher eine Zugbrücke gewesen war,
und kamen in einen schmalen Hofraum. Vor uns lag das
Schloß. Ein hohes Eingangsthor stand offen. Der Greis
führte uns dahin. Das Gebäude lag dunkel vor uns und
eben so still. Dunkel und Stille waren so unheimlich.
Was sollte jetzt gleich darauf folgen? Hatte der trotzige,
gewaltthätige Herr des Schlosses, der verfolgte
Raubmörder, in diesem alten Raubneste uns einen
Hinterhalt bereitet? Einen Hinterhalt, um noch seinem
gewaltthätigen, trotzigen Sinne ein Opfer zu bringen, um
noch Rache zu nehmen für die Behandlung seiner
Geliebten, für seine eigene Verfolgung, und dann für
immer das Land, den Welttheil zu verlassen, in dem er
als geächteter, dem Henker verfallener Verbrecher
erkannt war? Der greise Diener sah ehrlich aus. Er
konnte selbst getäuscht sein. Wir traten in das hohe
Portal, in eine weite Halle. Es war kein anderes Licht da,
als das der Laterne des Dieners.
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„Er ist fort.“
„Seit wann?“
„Und außerdem?“
„Weiter Niemand?“
Der alte Mann log nicht. Ich war zu spät gekommen. Ich
konnte doch noch eine Aufgabe in dem Schlosse haben.
Es war möglich, daß der Entfliehende in der Eile ein
verdächtigendes Beweisstück zurückgelassen habe.
Jedenfalls war festzustellen, ob die Hein dagewesen sei.
95
geblieben. Ich trat in ein geräumiges, hohes gewölbtes
Gemach. Es hatte ein einziges breites und hohes
Bogenfenster. Wie der Bau des Zimmers, so waren auch
die Möbel darin alterthümlich. Aber Alles war solide. Zu
seiner Zeit war es kostbar, vielleicht prachtvoll gewesen.
Daß ein wüster Mensch dort gehauset habe, zeigte sich
nirgends. Ich traf zunächst Anordnungen, daß die
verschiedenen Theile des Schlosses durch Gensd’armen
und Executoren besetzt wurden, um Vertragungen,
Collusionen und dergleichen zu verhüten. Den alten
Schulzen behielt ich bei mir in dem Gemache. Dann
befragte ich zuerst den Diener.
„Sprach er davon?“
„Zu mir nicht. Aber seine letzten Worte, als er das Schloß
verließ, waren ein Abschied für immer von hier.“
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„Ging er allein?“
„Eine Fremde?“
„Niemals.“
„Nein.“
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Der Greis ging. Ich sah mich näher in dem Gemache um.
Außer den Tischen und den alten, hohen, gepolsterten
Lehnsesseln fielen besonders mehrere alte Wandschränke
darin auf. Sie waren von Eichenholz, mit künstlichem
Schnitzwerk. Das Alter, vielleicht das Alter von
Jahrhunderten, hatte sie dunkelbraun gefärbt. Einige
standen ganz offen, in andern steckte der Schlüssel. Jene
waren leer. Einen der letztern schloß ich auf. Es hingen
alte Kleidungsstücke darin. Ich drückte gegen diese, um
zu fühlen, ob sich in oder hinter ihnen noch etwas
Anderes befinde. Auf einmal war es, als wenn die Wand
des Schranks hinter den Kleidern nachgäbe. Ich schob
diese auseinander und blickte in einen dunkeln Raum.
Der Schrank hatte keine Rückwand. Die Mauer, an der er
stand, bildete diese. Und in der Mauer war eine
Oeffnung. Ich theilte meine Bemerkung dem Schulzen
mit.
98
ich hatte ihr so Vieles mitzutheilen. Sie konnte es ahnen,
sie sah es mir an. Der Diener hatte sofort das Zimmer
wieder verlassen. Sie warf einen Blick auf den Schulzen,
dann einen bittenden auf mich. Ich ließ auch den
Schulzen hinaustreten.
Sie sah mich flehend an. Ich mußte sie doch fragen.
99
Ich mußte sie zu einem der alten Lehnsessel führen.
Dann fuhr ich fort:
„Heute Abend.“
100
„Dürfen Sie mir sagen, was Ihr Bruder mit der Fremden
verhandelt hat?“
102
geachtet. Der Schulze wird zurückkehren, hatte ich
gedacht. Da stand eine wirkliche Gestalt vor mir. Kein
edles, kein in Scham und Trauer verhülltes Gesicht. Aber
ein stolzes, wie von wilder Leidenschaft verzerrtes. Der
Freiherr Dietrich von Lengnau! Er mußte es sein. Seine
Gestalt glich der Wilhelm Grote’s. Er trug denselben
Vollbart, dasselbe lockige Haar. Beide waren nur dunkler,
schwärzer, glänzender.
103
wehren und griff nach einem Pistol, das ich auf der Brust
trug.
„Wenn Sie einen Laut von sich geben, sind Sie des
Todes.“
„Ja.“
„Ja.“
„Ja.“
104
„In Ihrem Gemache. Ihr Diener hat mich auf mein
Verlangen hierher geführt.“
Ich schwieg.
„Und es ist gut, daß Sie hier sind. Ich brauche keinen
andern Zeugen herbeizurufen, nicht den greisen Diener.“
„Hören Sie mir zu, mein Herr,“ fuhr er fort. „Ich stamme
aus einem edlen Geschlechte. Ich bin der Letzte dieses
Geschlechts und bin ein Verworfener. Alter Same artet
aus. Ich bin entartet und meinte, ich könnte es ertragen.
Als ich aber heute dem Schlosse meiner Väter den
Rücken gewandt hatte, für immer, da fühlte ich, mein
Herr, daß ich Alles könne, aber Eins nicht. Ich bin der
Mörder, mein Herr, den Sie suchen. Ich habe meinen
Namen, mein Geschlecht, meine Ahnen entehrt. Hier, in
meinem, in ihrem Schlosse, in dem Gemache, in dem ich,
in dem sie gelebt haben, hier, wo ihre edlen Geister mich
umschweben, hier bin ich ihnen, hier bin ich mir die
Sühne schuldig. Bezeugen Sie es der Welt, mein Herr,
und meiner armen Schwester.“
105
Er ließ meinen Arm los. Er setzte das Pistol an seine
Stirn. Ich wollte aufschreien, aber er war rascher als ich,
und seine Hand drückte ab. Ehe ich mich besinnen
konnte, lag eine Leiche vor mir. Der alte, greise Diener
des Hauses war der letzte ehrliche Mann in dem Schlosse
der stolzen Freiherrn von Lengnau. Der letzte Sproß des
stolzen Geschlechts hatte sich doch ein stolzes Herz
bewahrt. Er hatte sich als den Mörder bekannt, den ich
suchte. Er war todt.
106
Bürgerlichen um seine Schwester hochmüthig und roh
zurückgewiesen hatte.
107
seiner Heimath sie zu begleiten, und er habe sich dazu
bereit erklärt. Jetzt war auch Grote bereit, sich dem
Bekannten anzuschließen.
Bauer, Grote und die Hein, oder wie die Geliebte des
Freiherr eigentlich heißen mochte, reisten zusammen auf
der Eisenbahn von Antwerpen ab und blieben zusammen
bis zu der letzten Eisenbahnstation. Die beiden Männer
nahmen dort für ihre Weiterreise einen Miethwagen. Als
sie einstiegen, war auch die Hein wieder da, die mit
ihnen fuhr, zufällig, wie sie behauptete. Sie fuhren in
dem Miethwagen ab: Bauer wollte bis zu einem Punkte
der Landstraße fahren, wo der Weg in seinen
Heimathsort abging; Grote wollte nach Schloß Diburg,
Sophie von Lengnau zu sehen, bevor ihr Bruder zurück
sei.
Wohin die Hein wollte, hatte sie nicht gesagt. Sie kamen
an dem Wege an, der zu der Heimath Bauer’s führte. Es
war Abend, und Bauer stieg aus, den Weg zu Fuße zu
machen. Mit ihm stieg Grote aus. Er hätte noch zehn
oder zwölf Minuten weiter fahren können, wo dann auch
für ihn ein Seitenweg, aber in entgegengesetzter
Richtung, abging. Er wollte jedoch nicht den Wagen
zweimal halten lassen. Die Hein fuhr allein weiter. Bauer
und Grote nahmen von einander Abschied, und Ersterer
ging links, einer Waldung zu, in die sein Weg
hineinführte.
108
Grote ging langsam auf der Landstraße weiter, und er
hatte beinahe den Seitenweg erreicht, den er zu nehmen
hatte, als er auf einmal durch die Stille des Abends einen
Schuß fallen hörte. Der Schuß fiel hinter ihm, in der
Richtung, die Bauer genommen hatte. Er stutzte, und es
fiel ihm heiß auf das Herz. Warum war der Freiherr von
Lengnau zurückgeblieben? Warum hatte er Bauer um die
Begleitung der Hein gebeten? Die Hein, die schon auf
der Eisenbahnstation Abschied von ihnen genommen
hatte, war bald nachher durch einen so seltsamen Zufall
wieder mit ihnen zusammengetroffen. Sie hatte
unterwegs sich so angelegentlich um ihn, Grote,
bekümmert, ihn offenbar an sich zu ziehen gesucht, und
als er zugleich mit Bauer ausgestiegen war, hatte sie ihn
zurückhalten wollen. Eigenthümliche Blicke, die sie
zuweilen auf Bauer geworfen, fielen ihm hinterher
ebenfalls auf.
109
Das Geräusch hatte aufgehört, er drang aber dennoch
weiter. Er war bewaffnet und drang mit gespanntem
Revolver vor. Ein Schuß fiel durch die Finsterniß, kaum
zehn Schritte vor ihm, und eine Kugel schlug unmittelbar
neben seiner Brust in die Zweige der Bäume. Er sprang
zu der Stelle, an der er das Feuer des Gewehres hatte
aufblitzen sehen, und – er stand vor dem Freiherrn von
Lengnau, welcher im Begriff war, einen zweiten Hahn
seines Doppelpistols zu spannen. Eine Leiche, Bauer’s
Leiche, lag zu seinen Füßen.
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Wilhelm Grote und Sophie von Lengnau wurden nach
Jahr und Tag ein Paar. Von der Antonie Hein wurde nie
wieder etwas gehört.
Anmerkungen (Wikisource)
1. ↑ Vorlage: Tode
2. ↑ Vorlage: ihren
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