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166 Die Franzosen IV, Spinoza 107

IV. Spinoza und die griechische Philosophie. Trotzdem möchte ich den Namen
Pantheismus im neuzeitlichen Sinn wich? dafür gebrauchen, weil hier
Spinoza gehört zwar nicht direkt in die französische Philosophie, die Begrenzung der Natur durch ein Jenseits überhaupt noch nicht so
seine Eltern stammten vielmehr von den sogenannten Marannen ab, gesehen war, wie es in der Geschichte erst seit dem Zeitalter des jen-
gewaltsam zum Christentum bekehrten portugiesischen Juden, die seitigen Gottes möglich ist. Pantheismus im genauen philosophischen
nach Holland ausgewandert waren, um der religiösen Verfolgung in Verstand ist also die bewußte und absichtliche Gleichsetzung von
Portugal und Spanien zu entgehen. Äber die ganze Problemstellung Natur und Gott in einem Zeitalter, dem ein jenseitiger Gott durchaus
bei Spinoza ist doch so wesentlich von Descartes abhängig, daß er in- schon bekannt und geläufig ist, nicht aber die naive (auch philoso-
mitten der übrigen Philosophie der Neuzeit in Europa am besten hier phisch naive) Naturheiligung des Heidentums. Beides unterscheidet
angefügt sein mag. sich sehr wesentlich voneinander. In diesem definierten Sinn des Worts
Benedictus oder, wie es mit jüdisch sakraler Form heißt, Baruch gibt es in der Antike noch keinen Pantheismus oder höchstens an ihrer
Spinoxa ist 1632 in Amsterdam geboren. In der Jugend lernte er in Grenze zum Zeitalter des jenseitigen Gottes hin, also im stoischen
der portugiesisch-jüdischen Schule das Bildungsgut seiner Glaubens- System, in der Neuzeit aber nur bei Spinoza. Alle andern pantheistisch
genossen kennen, vor allem das Alte Testament, den Talmud, die gefärbten Strömungen der Neuzeit erreichen hier in der Konsequenz
Schriften des Maimonides und des Gersonides (eines mittelalterlich- der Systematik Spinoza nicht; auch etwa Giordano Bruno oder Shaftes-
jüdischen Scholastikers, der dem Averroismus nahesteht). Später nach bury durchaus nicht, denn in beiden ist der Einfluß des Neuplatonis-
dem Tod seines Vaters hat er vielleicht eine Zeitlang dessen Geschäft mus viel zu groß und damit ein Gesichtspunkt, der die Natur als das
geleitet, dann aber durch Selbststudium sich das System der Scholastik größte und beste Werk des jenseitipen Gottes sieht. In dieser Hinsicht
(Thomas, Suarez u. a.) und das des Descartes angeeignet und die Dia- fällt das System Spinozas in der Tat aus der Geschichte der neuzeit-
loge Leone Ebreos gelesen, eines jüdischen Neuplatonikers der Renais- lichen Philosophie heraus. Das läßt sich bis in jeden Zug des
sance. Auch die Naturwissenschaft und Mathematik seiner Zeit hat er Systems hinein zeigen; ebenso aber auch die Rolle als eines Mittels zur
studiert. Wegen „schrecklicher Irrlehren‘“ wurde er aus der jüdischen Scheidung der Geister daraus erklären, die dieses System in der ferne-
Gemeinde ausgeschlossen und lebte fortan konfessionslos und gefähr- ren Entwicklung der Philosophiegeschichte gespielt hat.
det an verschiedenen Orten Hollands von Renten, die Freunde ihm
Schon in der ersten Arbeit Spinozas, dem Traktat De deo et homine
ausgesetzt hatten. Mit Glasschleifen beschäftigte er sich nur aus wis- eiusque felicitate (Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und
senschaftlichem Interesse, nicht um seinen Lebensunterhalt zu ver- seinem Glück), die erst 1852 wieder aufgefunden, nicht von ihm selber
dienen. Einen Ruf nach Heidelberg an die Universität schlug er aus veröffentlicht war, sind alle Elemente dieses Systems enthalten, nur
Vorsicht aus, um sich die Freiheit seines Philosophierens konfliktlos noch nicht in einer logisch so stark aufeinander bezogenen Form wie
zu erhalten. 1677 ist er an der Schwindsucht gestorben, im Hauptwerk, der Ethik, später: Der Beweis für die Einzigkeit, Not-
Unter Pantheismus im strengen Verstand kann man nicht die An-
wendigkeit und Unendlichkeit der Substanz mit den Mitteln der scho-
nahme eines Wirkens des jenseitigen Gottes in der Natur verstehen lastischen Grottesbeweise und die Gleichsetzung dieser Substanz mit
und das davon veranlaßte, die Natur als etwas Gutes und Großes der Natur. Weiterhin Descartes’ Trennung von Ausdehnung und
einschätzende Interesse an ihr, sonst wäre alle Philosophie der Neuzeit Denken und die Vereinigung dieser Getrennten durch Bezichung
und sogar der Hochscholastik Pantheismus. Vielmehr ist Pantheis-
beider auf die eine infinite Substanz. Endlich die Bestimmung eines
mus die methodisch konsequent durchgeführte Gleichsetzung von
Ziels für das Menschenleben in der liebend-erkennenden Hingabe an
Gott und Natur unter ausdrücklicher Ausschaltung der Jenseitigkeit
die Substanz der Gottnatur, in welcher Hingabe zugleich ganz in stoi-
Gottes. Auf einer direkten Vergöttlichung, Heiligung der Natur be-
scher Manier die Freiheit des Menschen erblickt wird. — Zwischen
ruhte — wie im I. Band gezeigt wurde — bereits das griechische Leben
diese erste fragmentarische Darstellung des Systems und die letzte
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Fassung der Ethik scheint dann noch bei Spinoza das Studium Bacons Das ist der Grundgedanke, Der Anspruch allerdings, dadurch eine
und vor allem des Hobbes gefallen zu sein, deren Empirismus und Na- streng bewiesene und unangreifbare Philosophie im ganzen aufgestellt
turalismus Spinoza erst den vollen Mut zur Durchführung seiner Ab- zu haben, ist — wie jeder Anspruch der philosophierenden Logistik —
sichten gereben und die Ausdehnung der Fragestellung auf die Pro- Schein, denn die in jeder Philosophie unbeweisbaren Voraussetzungen
bleme von Staat und Recht veranlaßt haben mag. Im ganzen aber und Willkürlichkeiten liegen hier bereits in den Axiomen und sogar
enthält das Hauptwerk nicht viel mehr als die Ausgestaltung dieser in den Definitionen. Philosophisch besteht der Fehler darin, daß nicht
Grundlagen und ihre durchgearbeitete Darstellung more geometrico mit der Möglichkeit und dem Problem des Erkensens des absoluten
(nach dem Muster der Geometrie Euklids). Seins, seiner Bezeugung im menschlichen Zweifeln, Wissen, Wahr-
Die nächsten Werke Spinozas, der Tractatus de intellectus emen- nehmen begonnen wird, sondern mit ihm selber, wie als ob es gar keine
datione (Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes) und der Menschlichkeit, sondern nur solches Sein für sich selber gäbe, So wäre
Tractatus theologico-politicus (Theologisch-politische Abhandlung) es z. B. schon die Frage, ob so etwas wie „Substanz‘“ (was in sich be-
stellen im wesentlichen eine Stufenreihe des Erkennens von der steht und durch sich begriffen wird) oder „Gott“ (das unbedingt un-
puren Meinung bis zur Erkenntnis des Wesens auf und fordern Denk- endliche Wesen, das aus unendlich vielen unendlichen Attributen be-
und Redefreiheit und Trennung von Philosophie und konfessioneller steht) überhaupt möglich und wie es erkennbar und definierbar ist.
Religion. Im theologisch-politischen Traktat ist auch das erstemal mit Solche Fragen können sogar in dieser synthetischen Darstellung gar
aller Schärfe eine rein historisch-kritische Betrachtung der Bibel ge- nicht mehr erörtert werden. Und so täuscht gerade der mathematische
fordert. Dann hat Spinoza noch in einem Werk „Prinzipien der Philo- Panzer mehr wie jede freiere Darstellung oder wie z.B. der analytische
sophie des Descartes“ zu Zwecken des Unterrichts das System Des- Beginn Descartes’ mit dem Zweifel oder die kritisch prüfende Dialek-
cartes nach geometrisch synthetischer Weise durch Definitionen, tik Platons über die spezifischen Fraglichkeiten des Systems hinweg.
Postulate, Axiome und Lehrsätze dargestellt, ähnlich wie das Des- Im wesentlichen sind es drei Lehrstücke, die Spinoza in seiner
cartes selber bereits auf Aufforderung hin im Anhang zu seinen Er- Ethik behandelt: ı. die Substanz, Gott oder Natur, in ihrem Sein,
widerungen auf die zweiten Einwände an einem Beispiel getan hat. 2. das menschliche Erkennen und seine Möglichkeit, 3. das mensch-
Das Hauptwerk des Spinoza aber, das sein ganzes System enthält, ist liche Handeln, und zwar unter drei Gesichtspunkten: nach der Na-
die Ethik, Sie ist wohl zwischen 1662 und 166; entstanden, aber bis tur der Affekte, nach der Unterworfenheit des Menschen unter die
zu seinem Tod immer wieder durchgearbeitet und verbessert worden. Affekte, und nach seiner Freiheit. Grundlegend für alles übrige ist
Er selber hat sie nicht mehr veröffentlicht. das erste Lehrstück.
Auch die Ethik bedient sich eines synthetisch-mathematischen Be- 1. Es gibt nur eine Substanz, (die substantia infinita Descartes’), sie
weisverfahrens, wie es sonst in der neuzeitlichen Mathematik nicht ist zugleich Gott und Natur, Diese Substanz ist die Ursache ihrer
üblich ist, aber in der Antike bei Euklid vorgebildet war. Zunächst selbst (causa sui). Spinoza gebraucht auch den alten neuplatonischen
werden die Begriffe definiert; dann werden in den Axiomen die- Namen, den Schelling dann wieder von ihm übernommen hat: natura
jenigen Sätze vorangestellt, die durch sich selbst einsichtig und keines naturans, Und zwar ist die Substanz natura naturans, wenn sie als
Beweises fähig und bedürftig sein sollen. Aus ihnen werden Lehr- Substanz, ihre Attribute und Modi aus ihr hervorgehend, vorgestellt
sätze abgeleitet, die durch Korollarien und Scholien erläutert werden. wird, nicht wenn sie unter einem bestimmten Attribut (in mensch-
Wenn die Gottnatur selbst als Substanz eine unbedingte Notwen- licher Weise) aufgefaßt wird. Dann ist sie natura naturata. Weiterhin
digkeit besitzt in der Ordnung und im Zusammenhang aller ihrer ist diese Substanz absolut unendlich, nicht nur unendlich in ihrer
einzelnen Geschehnisse, so muß auch das sie darstellende System Gattung wie z. B. der Raum, neben dem es ein ihn nicht berührendes
durch eine abbildlich-logische Ordnung verbunden sein; eine Ord- Denken gibt. Absolut unendlich in diesem Sinn aber heißt, daß die
nung, in der alles durch Schlußfolgerungen auseinander hervorgeht. Substanz unendlich viele in ihrer Gattung unendliche Attribute hat.
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n
und Ausdehnung,
Nur zwei dieser unendlich vielen Attribute, Denke Ordnung und Zusammenhang im Denken (der Ideen) dem absoluten
sind uns bekannt. Ein Attribut ist das, was der menschliche Ver- Sein zufolge genau so angelegt sein müssen wie in der Ausdehnung
stand von der Substanz jeweils als ihr Wesen auffaßt, also Descartes’ (der Dinge), so haben wir ein wahres Wissen nicht nur von uns selbst,
endliche Substanzen im Unterschied zu Gott, der unendlichen Sub- sondern auch von den Körpern. Es besteht ein notwendiger Parallelis-
stanz. Die verschiedenen Attribute berühren sich aber nicht; ihr ein- mus des Ablaufs der Geschehnisse in allen Attributen nebeneinander,
ziger Zusammenhang besteht darin, daß sie alle Attribute der einen ähnlich wie bei Leibniz oder Malebranche auch, nur aus ganz anderm
Substanz sind. Die Attribute selber wieder haben Modi ( was in der Grund. Der Körper ist der Gegenstand unsres Wissens; aber auch
Scholastik Accidentien hieß), die ihnen gegenüber unselbständig sind, vom Geist habe ich Erkenntnis, denn er kennt sich selbst, Wer etwas
also Zustände der Substanz. So existiert etwa das Ausgedehnte in ver- weiß, weiß zugleich dadurch, daß er es weiß. Das Erkennen selber
schiedenartigen Körpern, die sich gegenseitig stoßen, berühren, ver- wächst an Gewißheit von der bloßen Meinung (opinio) über die be-
drängen, ursächlich bewegen können und Modi der Ausdehnung, des griftliche Erkenntnis (ratio) bis zur unmittelbaren intellektuellen Er-
einen Attributs der Substanz, heißen. In der großen Ordnung der ewi- kenntnis (scientia intuitiva, dem wü; des Aristoteles). Auch Bejahung
gen göttlichen Natur, dem Zusammenhang der Modi in ihren Attri- und Verneinung einer Vorstellung sind nicht (wie bei Descartes und
buten, ist alles Geschehen (auch jeder Willensakt als Modus des Attri- in der Stoa) Willensakte oder freie Akte des Denkens, sondern durch
buts Denken) absolut und fest determiniert; Freiheit als Willkür gibt die Ordnung des Denkens bestimmt. Wille and Intellekt sind nur Modi
es nicht. Ebensowenig aber ist die Natur als Gott selber frei (wie doch des Denkens und als solche von der Gesamtordnung determiniert.
der jenseitige Gott Descartes”). Alle Attribute und Modi müssen viel- 3. Jedes Ding strebt, sich in seinem Sein zu erhalten. Aus diesem
mehr in dieser und keiner andern Ordnung aus der Substanz als natura Grundsatz ist auch die Natur der menschlichen Aflekte erklärbar. Es
naturans hervorgehen, und zwar ohne Willkür und ohne Zwecke; gibt nur drei ursprüngliche oder Grundaflekte: Begierde, Freude und
sich dann aber auch in der natura naturata in ebenso notwendiger Ge- Traurigkeit (cupiditas, laetitia, tristitia). Begierde ist das Streben nach
samtordnung gegenseitig kausal bedingen bei ihren Bewegungen. allem, was das eigene Sein erhält und fördert; Freude ist der Zustand
Alles ist, wie es ist, norwendig. des Übergangs in größere, Traurigkeit der des Übergangs in geringere
2. Der menschliche Geist erkennt durch Ideen. Ideen sind Modi des Vollkommenheit. Wie Descartes lehrt dann auch Spinoza, daß ein
Denkens, Eine Idee aber ist nichts Ruhendes, kein bloßes Bild; viel- den Affekten unterworfener Mensch nicht frei ist, sondern abhängig
mehr enthält sie aktiv ihren Gegenstand und zugleich die Gewißheit von den Dingen, an die ihn seine Affekte binden, also von den Um-
von diesem Gegenstand in sich. Deshalb gibt es auch kein eigenes ständen und vom Geschick (fortuna). Da die Affekte aber Zwangs-
Wahrheitskriterium, sondern die Wahrheit ist sich immer ihrer selbst mechanismen sind, die nicht beliebig aufgehoben werden können,
und auch des Falschen zugleich bewußt (veritas norma sui et falsi). kann sich der Mensch nicht einfach der Knechtschaft der Affekte ent-
Gerade dieses zwar völlig richtige aber grundsätzlich nie anwendbare ziehen. Vielmehr kann er einen Aftekt nur durch einen stärkeren Af-
Kriterium zeigt, daß als Folge der Voranstellung der absoluten Gott- fekt überwinden. Nun muß nach der Ordnung und Vernunft der
natur menschliches Erkennen hier nur mehr dargestellt werden kann, Dinge der Mensch letztlich immer dann Erfolg haben und Recht be-
wie es vom Standpunkt des absoluten Seins aus aussehen »wrde. halten, wenn er das erstrebt, was ihm nützt, Aber dieses letzte ratio-
Der menschliche Geist erkennt von den unendlich vielen göttlichen nale Ziel ist ja gerade sehr oft durch Affekte verdunkelt, die einen bloß
Attributen nur zwei: Denken und Ausdehnung, also sich selbst und scheinbaren, augenblicklichen Nutzen erstreben, einen Nutzen, der
seinen Gegenstand. Als Ausdehnung und als Denken kennt er allein auf die Dauer sich als Schaden erweist. Es gilt also in der Ethik, nur
den Gott, d. h. die Natur oder Substanz. Beide Attribute sind zwar (wie den Affekt zur Herrschaft zu bringen, der wir&äch nützt. Er wird aber
Descartes gelehrt hatte) absolut verschieden und können sich bei immer dans im Menschen der stärkste sein und alle andern Affekte
Spinoza genau so wenig berühren wie im Occasionalismus, Aber da überwinden können, wenn der Mensch eine klare und unbeschränkt
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vernünftige Finsicht in die Gesamtsituation seines Lebens hat. Je


mehr also der Geist alle Dinge und ihren notwendigen fest bestimm-
ten Zusammenhang erkennt, um so weniger leidet er unter den Aflek-
ten. Aber er kann gerade dar nicht mehr verlangen, daß) der Gott
oder die Natur, den er mit seiner höchsten Einsicht und Liebe ergreift,
ihn wieder liebt (ein Satz, der bekanntlich auf Goethe einen besonders
starken Eindruck gemacht hat). In der höchsten intellektuellen Liebe,
mit der wir die Gott-Natur erfassen, liebt in Wahrheit dieser Gott durch
unsern Geist hindurch sich selbst. Diesen Satz übernimmt Spinoza
durch scholastische Vermittlung hindurch von Aristoteles. Ähnlich
wie die arabischen Kommentatoren des Aristoteles auch, erblickt er im
unpersönlichen Intellekt den ewigen unsterblichen Teil des Menschen.
Das letzte Werk Spinozas ist der unvollendete, kurz vor seinem
Tod begonnene Tractatus politicus (politische Abhandlung). Es steht
ranz unter dem Eindruck der Staatslehre des Engländers Hobbes und
wiederholt dessen Konstruktionen (Seite 450 f#f.). Nur vermag Spinoza
aus seinem Pantheismus heraus den Naturalismus des Hobbes noch in
ganz anderer Weise zu verschärfen und die Staatslehre ohne jedes
Sollen alsreine Machtlehre aufzubauen. Recht und Macht fallenhier tast
zusammen; das Naturrecht geht nicht wie bei Hobbes im Staatsrecht
auf, Der Staat hat nur so viel Recht, als er Macht hat. Es gilt auch
hier nur das, was ir#: „Daher erstreckt sich das natürliche Recht der
Banzen Natur und folelich jedes einzelnen Indir iduums ebensoweit wie

seine Macht, und folglich handelt ein Mensch in allem, waser nach den

(Tesetzen seiner Nat uf Luk, nach dem hi schsten Naturrecht u und L hät +]

weit Recht auf die Natur, als er Macht hat,“ (Politischer Traktat,
cap. 10,)
Der Zauber ‚ den Spinozas System immer wieder ausgeübt hat, liept
in der stillen und unaufhaltsamen intellektuellen L.iebe zur vergöttlich-
ten Natur in ihrer absoluten Notwendigkeit (amor intellectualis Dei).
Aber es fräpt sich eben, ob rerade diese Notwendirkeit allen Zusam-
menhangs in der Gottnatur beweisbar oder überhaupt einsichtig ist.
Wie gesagt beginnt Spinoza sein System mit der Definition des höch-
sten Wesens und erblickt dann sozusagen alles von dessen Standpunkt
aus. Auf diese Weise würde allerdings die Notwendirkeit der Natur
das unruhige und vielfach wünschende und irrende Herz des Men-
schen beruhigen. Nur eben ist Notw endigkeit in Wahrheit doch ein
Prädikat der natura naturata, nicht der natura naturans. Der falsche
IV, Spinoza 113

Beginn mit der absoluten Gottnatur statt mit unsrer Beziehung zu ihr
rächt sich dadurch, daß wir die Kennzeichen der Natur als Erschei-
nung dem Gott zuschreiben. Und das hat dann die gefährlichsten Fol-
gen in der Rechts- und Staatslehre, wo auf Grund dieser Verwechs-
lung im Ursprung des Systems Tugend zu Selbsterhaltung und Recht
zum Faktum der Macht wird. So hat das Werk Spinozas im allge-
meinen in seiner Zeit wie in der Folgezeit Ablehnung erfahren, und
zwar eine viel heftigere und nachhaltigere Ablehnung als jedes der
andern Systeme, Im ganzen ist es doch immer als Fremdkörper in der
neuzeitlichen Philosophie empfunden worden. Vor allem haben es
natürlich die Theologen der Konfessionen verketzert. Daneben hat
sein Naturalismus dann als Korrektiv und Mittel einer Betonung der
Natur gedient an Stellen, wo über dem jenseitigen Gott die Natur, die
von ihm aus sichtbar und gesehen wird und die in dieser Sicht Haupt-
thema des neuzeitlichen Philosophierens ist, verdunkelt oder entwer-
tet wurde, So spielt das System Spinozas bei Goethe etwa — wenn
auch oder zerade weil Goethe es nicht ganz in seinem eigentümlichen
Sinn auffaßte und viel eigentlich Leibniz Gehöriges dazwischen
mischte — die Rolle einer Brücke zum Griechentum. Die klassischen
englischen Philosophen Locke, Berkeley, Hume waren selber hin-
reichend naturalistisch gesinnt und ließen deshalb Spinoza charak-
teristischerweise fast unbeachtet liegen. Bei Schelling dagegen diente
es wieder als ausgesprochenes Korrektiv gegen die falsche Moralisie-
rung der Natur und ihre Entwertung zum bloßen Material der Pflicht
in der Lehre Fichtes.
Am merkwürdigsten ist ein Urteil Fichtes über ihn, das Hegel be-
richtet: Spinoza hätte eigentlich selber gar nicht an seine Philosophie
glauben können (Hegel: Differenz d. Fichteschen und Schellingschen
Systems, Ausg. Lasson I, ır). Wenn dieses Urteil im weiteren Sinn
so gedeutet werden kann, daß in einer Zeit, wo die Natur als Werk
Gottes sichtbar ist, Gott und Natur nicht mehr ohne Künstlichkeit
und Gewalt gleichgesetzt werden können, ist es das tiefste Urteil über
Spinoza. Denn freilich hat Spinoza den jenseitigen Gott in Wahrheit
nicht so völlig ausschließen können, wie es in der Systemkonsequenz
gelegen hätte. Er war ihm ja auch schon durch seine neuplatonischen
Studien (Leone Ebreo) nahegebracht. So ist eigentlich die nicht (im
Sinn der Erscheinungslehre Kants) menschlich begrenzte Notwendig-
keit, die dieses starre System durchherrscht, die äußerste Position
V, Aufklärung ‚All gemeine Charakteristik 113
114 Die Franzosen SEE:

jastet dann auf dem Menschen. Das ist die Situation, die für jede Auf-
seines künstlichen Naturalismus. Um dieser starren und naturalistisch klärung Voraussetzung ist und ihr das Recht ihrer Existenz gibt. In
absolut gesetzten Notwendigkeit willen galt er den deutschen Philo- der Neuzeit war die Tradition ganz besonders mächtig, schr vielver-
sophen (Kant, Fichte) als dogmatisches Gegenbild ihrer Absichten. schlungen durch eine über 2000 Jahre fast nicht abreißenden Ge-
Und in der Tat mag das als etwas erscheinen, an das der Mensch in schichte und daher auch nur schwer durchschaubar in ihrem Sinn und
der Neuzeit gar nicht voll glauben kann. Symbolbestand. Deshalb hat die Aufklärung hier eine viel stärkere
Vehemenz, ähnlich wie der Dampfdruck in einem fest verschlossenen
V. Die Aufklärung in Frankreich Kessel größer wird.
ı. Allgemeine Charakteristik. 2. Die Moralisten. 3. Bayle. 4. Voltaire. 4. Montesquieu. Die Aufklärung hat das Ziel, den Menschen auf sich selber zu
6. Diderot, 7, Condillac und Helretius, Lamettrie und Halbach, 8. Maupenuis, d’Alembert, stellen, ihn unabhängig zu machen von allen traditionellen Bindun gen.
Turgot
und Condarcet.
Es darf nur mehr gelten, was wir se/ber einsehen, verantworten,
1. Über der griechischen Aufklärung, der Sophistik, steht schr pla- verstehen und erkennen können. Deshalb hat in der Tat Kants Devise
stisch und eindrücklich der Satz des Protagoras: „Aller Dinge Maß
„Habe Mut, dich deines eigener Verstandes zu bedienen“ ganz genau
ist der Mensch; der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß
den gleichen Sinn und die gleiche Wirkung im Leben und in der
sie nicht sind.‘ (Vgl. I. Bd., 5. 108 ff.) Damit ist deutlich und sichtbar
Philosophie wie der Satz des Protagoras „Aller Dinge Maß ist der
die große Wende im Thema der Philosophie von der Naturphilosophie
Mensch‘. Beide sind theoretisch und praktisch zugleich; sie gelten
zur Anthropologie angezeigt, die die Grundlage jeder Aufklärung bil-
so gut für das Wissen wie für das Handeln und sprechen den Menschen
det. Der gleiche Satz könnte auch als Motto über der Aufklärung des
mündig in seinem Leben.
18. Jahrhunderts stehen. Kant hat ihr nachträglich — nachdem er
Dadurch ergeben sich in der Neuzeit drei Folgerungen:
selber schon die Aufklärung überwunden hatte — einen ganz ähn-
a) Die großen metaphysischen Entwürfe und Systeme des 17. Jahr-
lichen Wahlspruch wie Protagoras gegeben: „Aufklärung ist der Aus-
hunderts (Descartes, Leibniz) werden jetzt aufgegeben zugunsten einer
gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
gleichsam dem Menschen näher liegenden einzelnen Begriffsbildung
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Lei-
in der Erfahrung und an den Tatsachen selber. Condillac erklärt z. B.
tung eines Ändern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündig-
ausdrücklich im Trait€ des systömes, dal) der Systemgeist des 17. Jahr-
keit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
hunderts ausder Physik und Metaphysik verschwinden müsse; d’Alem-
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne
bert schließt sich ihm in seinem Discours pr&liminaire, der Einleitung
Leitung eines Andern zu bedienen. Sapere aude. Habe Mut, dich
zur eroßen Enzyklopädie, an. Die Vernunft wird nur in den Fakten
deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der
gesucht und geschätzt, nicht mehr an sich wie im Zeitalter des Ra-
Aufklärung.“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1784.)
tionalismus. Descartes’ großer Entwurf der Physik als einer Wirbel-
Aufklärung ist formal die Ablösung des Denkens — überhaupt des
theorie wird ersetzt durch Vorstellungen Newtons, in denen die Er-
ganzen Lebens — von einer übermächtig und starr gewordenen Tra-
dition, die den Menschen bedrückt und in der Freiheit und Neuheit fahrung schon eine viel größere Rolle spielt. Die Schwere ist dabei
nur eine »vorläufig letztes Eigenschaft der Materie, die angenommen
seines Lebens hindert. — Insofern ist sie eine typische Erscheinung
wird, weil sie Berechnungen erlaubt. Der Grund der Natur, ihr
bei allen Völkern, die es zur Philosophie bringen, wie ich schon in der
erstes Prinzip, das Ziel der Metaphysik des 17. Jahrhunderts, bleibt
Einleitung zum I. Band betont habe ($S.23/24). Der Mensch ist ur-
überhaupt unerreichbar und wird dahingestellt, wie Voltaire im Philo-
sprünglich geschichtlich gebunden, empfängt die Grundsätze, Richt-
linien und Dircktiven seines Lebens, Denkens und Handelns von
sophe ignorant sagt. Wichtig ist der schlichte Aufweis der empi-
geschichtlich gewordenen Mächten, die sich in der Tradition aus- rischen Verknüpfungen und Zusammenhänge der Natur durch Beob-
wirken. Die Tradition wird aber bald nicht mehr verstanden und achtung. Man begnügt sich mit vorläufigen, relativen Gesichtspunk-

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