Sie sind auf Seite 1von 157

УДК 373.167.1:811.112.

2
ББК 81.2Нем-93 4-58
Автор-составитель дидактических материалов
М. С. Лукьянчикова

Чидолю Д. 4-58 Лондон, любовь и все такое : Кн. для


чтения на нем. яз. / Д. Чидолю; Авт.-сост. ди-дакт.
материалов М. С. Лукьянчикова. — М. : Просвещение;
Вайнхайм : Бельц Ферлаг, 2004. — 270 с. —- ISBN 5-
09-011854-Х.
Роман немецкой писательницы Дагмар Чидолю
рекомендуется для чтения в старших классах школ
с углубленным изучением немецкого языка и на
начальных курсах языковых институтов. Каждая
глава романа сопровождается дидактической
разработкой, содержащей лексико-грамматические
задания.
УДК
373.167.1:811.112.2
ББК 81.2Нем-93
ISBN 5-09-011854-Х О Издательство
«Просвещение», 2003
©Beltz Verlag, 1997 ©
Художественное
оформление.
Издательство
«Просвещение», 2003 Все
права защищены
KAPITEL 1
Oliver stand hinter ihr, hatte beide Arme um ihre Schultern
gelegt, als ob er sie nie weglassen wollte. Sein Kinn ruhte
auf ihrem Kopf.
„Sieh mal", sagte er. „Passen wir nicht gut zueinander?" Er
wies mit dem Zeigefinger nach vorne, ohne Katharina
loszulassen, und sie sah, was er meinte. Sie spiegelten sich
in der verglasten Tafel mit den gelben und roten
Abfahrtsplänen der Züge. Verwundert stellte Katharina fest,
dass sie sich eigentlich verteufelt ähnlich sahen. Oliver
wiegte sie leicht hin und her, und Katharina zog ein
unglückliches Gesicht, was er nicht sehen konnte.
„Wirst du mir auch schreiben?", pustete er in Katharinas
Haare. „Und dass du mir mit keinem Engländer herum-
machst." Jetzt drohte er leicht mit demselben Zeigefinger,
der vorhin auf die Tafeln gezeigt hatte. „Meine Mutter hat
schon geunkt", sagte er. „Was machst du, wenn sie einen
anderen kennen lernt, hat sie gesagt. Ja, was mach ich dann,
Schätzchen. Ich bin rettungslos verloren ohne dich. Damit
du's weißt."
Katharina hoffte, dass er nicht weitersprechen würde. Er
würde es noch fertig bringen und Ich liebe dich rausbrüllen.
Hier vor allen Leuten auf dem Bahnhof. Er drehte sie jetzt
an den Schultern um, so dass sie ihn ansehen musste. Dann
drückte er sie fest an sich, und ihr Gesicht scheuerte über
seinen Pullover, den sie nur zu gut kannte. „Ich liebe dich",
sagte er nun doch. Als ob man so etwas sagen müsste, wenn
es so wäre. Der Zug, der sie nach London bringen sollte,
fuhr ein, und das Gedrängel auf dem Bahnsteig wurde noch
größer und unübersichtlich. Oliver nahm ihr Gepäck auf.
Zwei Koffer in einer Hand, damit er die andere weiterhin um
Katharinas Schultern legen konnte. Er stieg mit ein in das
Abteil, sorgte für einen Sitzplatz und hievte die Koffer hoch.
Einen Moment lang hatte Katharina die schreckliche
Vorstellung, dass der Zug abfahren konnte, bevor Oliver
wieder draußen war. Sie drängte ihn hin-
3
aus, stieg ebenfalls hinunter auf den Bahnsteig und ließ sich sie. Und andermal war er riesig, und sie kam sich wie
von ihm küssen. ein rechtes Dummchen vor. Irgendwie stimmten
Oliver sah auf sie hinab mit dem gleichen Gesichtsausdruck, die Verhältnisse nicht, und sie gab sich allein die
den er seit Beginn ihrer Freundschaft aufgelegt hatte, wann Schuld daran.
immer er sie anschaute, und der sie anfangs auch zum Es konnte sein, dass Oliver ihre Zerrissenheit merkte und sie
Schmelzen gebracht hatte. Und irgendwie musste Katharina wegen ihrer Launen zärtlich neckte. „Du schwebst
sich schämen. wieder mal einen Meter über dem Boden", sagte
„Ich werde dich vermissen, Schätzchen", sagte Oliver. „Pass er. Katharina wünschte sich, den Boden zu berühren
gut auf dich auf. Schreib mir. Und denk an mich. Versprich und trotzdem diesen Schwebezustand beizubehalten.
mir das." Sie war ein bisschen verrückt, ja wirklich. Die Welt war in
Katharina versuchte zu nicken, aber Oliver hielt jetzt ihren Ordnung. Oliver eigentlich auch. Was wollte sie mehr.
Kopf mit beiden Händen, dass sie keine Bewegung machen
konnte. Sie fühlte sich wie ein Hündchen. Über den Zu Hause hatte es einen langen Abschied gegeben. Die
Lautsprecher kam die Ansage, dass der Zug abfahren würde. Mutter war aufgeregt gewesen, das hatte Katharina ver-
Katharina stieg schnell ein und schaute aus dem Fenster. standen, denn schließlich fuhr die Tochter das erste Mal in
Oliver streckte seine Hand hoch, und Katharina ergriff sie. ein anderes Land.
Warum trug er mitten im Sommer diesen Norwegerpullover. Katharina tänzelte herum, als Oliver ihre Koffer in den
Es störte sie wie ein unmodern gewordenes Möbelstück, das Wagen packte, und schwebte, wenn man bei dem Bild
längst fehl am Platz war, und sie gab dem Pullover alle bleiben will, nunmehr viele Meter über der Erdoberfläche.
Schuld. Der Zug ruckte an. „Tschüs, mein Schätzchen", Der Vater steckte Katharina noch einen extra Geldschein zu
sagte Oliver und rannte eine Weile neben dem und schlug Oliver, als es endlich losgehen sollte, kräftig auf
Eisenbahnwagen her. Endlich aber blieb er mit die Schulter. „Dann mach's mal gut", sagte die Mutter.
hocherhobenem Arm stehen, winkte, winkte, und Katharina „Bleib gesund und komm heil zurück." Danach standen
machte all dem ein Ende, indem sie abrupt ihren Kopf beide, Vater und Mutter, an der Toreinfahrt des Hauses und
zurückzog, die Augen ein wenig verdrehte und sich in ihrem winkten. Und Katharina steckte den Arm aus dem offenen
Abteil seufzend in den Kunststoffsitz fallen ließ. Und als der Fenster der alten Ente und winkte auch, Oliver tat es ihr
Zug die Bahnhofshalle verließ, schoß dieses vertraute Gefühl nach. Als ob er zur Familie gehörte. Dann sah Katharina nur
in sie, nie ankommen zu wollen. Das, was ihr Leben noch geradeaus, die ganze, lange Fahrt von der kleinen
ausmachen sollte, musste ein unendlicher Anfang sein mit Vorstadtsiedlung bis zum Frankfurter Hauptbahnhof. Und
all dieser ewigen Vorfreude, die sie schon als Kind verspürt dieser grandiose Schwebezustand in ihr hielt an, sie genoss
hatte und die ihr das Erwachsensein als eine Art es und war sogar versucht, mit dem Atem zu verharren, um
Glückseligkeit erscheinen ließ. Das Versprechen, das dieses das Glücksgefühl nicht zu verscheuchen. Aber irgendwie
Gefühl ihr gegeben hatte, war bisher nicht eingelöst worden, wusste sie, dass nichts ihre Stimmung trüben konnte, nicht
aber sie war entschlossen, es von der Zukunft zu fordern. einmal Oliver.
Nur so, dachte sie, ließ sich überhaupt leben.
Katharina gegenüber saß ein Mädchen, wahrscheinlich
Katharina war froh, es schließlich geschafft zu haben, allein jünger als sie, vielleicht um die fünfzehn, das sich schnell,
auf diese Reise nach London zu gehen, wo sie ihr Englisch nach ein paar Stunden, nein, Minuten schon, mit dem neben
aufbessern wollte. Allein hieß: ohne Oliver. Ihre Beziehung ihr sitzenden Jungen anfreundete, auf eine so zärtliche
zu Oliver bezeichnete sie insgeheim als eine große Weise, dass Katharina ständig zu den beiden hinschauen
Verwirrtheit. Dass die Sache so kompliziert war, wusste musste. Sie lagen bald irgendwie ineinander verschränkt auf
keiner außer ihr. Hätte sie darüber geredet, wäre sie gewiss der gegenüberliegenden Sitzbank, die Köpfe einander
als verrückt bezeichnet worden. Manchmal hatte sie den zugeneigt, und sahen fast geistesabwesend aus, in sich
Eindruck, dass Oliver viel kleiner war als verloren, stumm und grenzenlos friedfertig. Katharina
konnte nicht anders, unter halbgeschlossenen
5
4
4
Augenlidern musste sie die beiden, als die Gespräche im die sehr wohl verstanden, damit umzugehen. „Könnt ihr mir
wohl ein paar Scheine einwechseln?", fragte Katharina. Sie
Abteil allmählich einschliefen, immer wieder anstarren. Es hatte normalerweise solche Typen nicht angesprochen und
schien ihr, als sei es das höchste Glück auf Erden, so mit fand die ganze Situation auf merkwürdige Weise typisch für
einem anderen Menschen umgehen zu können, so ihre Lage.
selbstverständlich und erdfern und irgendwie kindlich, und Irgendwie auch wegweisend. Das Fieber, das sie zu Hause
schon gespürt hatte, dieses eigenartige Lampenfieber, war
in ihr kam Lust und Neid auf, auch ein wenig Trauer, und sie nicht gewichen, es hatte sich eher noch verstärkt. Die Jungen
wünschte sich sehr, Oliver bei sich zu haben. zeigten sich überraschend freundlich, wühlten in ihren
Auch später, als sie in Ostende alle umgestiegen waren, vom Brustbeuteln, und einer fragte: „Wo willst du denn hin?"
„Zug auf die Fähre, die sie in fünf Stunden über den Katharina versuchte es ihnen zu erklären. Irgendwie
Ärmelkanal bringen würde, fand Katharina das Paar quer wünschte sie sich, dass die Punker sie begleiteten, weil sie
über einigen Gepäckstücken liegend. Sie schliefen fast, nah anscheinend weitaus besser in der Lage oder gewöhnt waren,
beieinander, tatsächlich wie Kinder. Es war dunkel eine neue Situation zu bewältigen. Katharina hatte plötzlich
geworden, und Katharina hatte unter Deck keinen Platz mehr Angst vor der Stadt, so eine riesengroße, unbeschreibliche
gefunden. Sie war froh, dass sie oben zwei Jungen aus dem Angst vor dieser Stille und dem Ausmaß an Fremdem, das
Zugabteil traf, so dass sie sich ohne allzu viel Hemmungen sie sicherlich draußen erwartete. „Kauf ihr doch'ne Karte",
zu ihnen setzen konnte. An Deck war es trotz der sagte einer der Jungen, und ein anderer steckte einige
sommerlichen Jahreszeit frisch und feucht. Die Jungen Münzen in den Automaten, drückte auf einen Knopf und
hielten sich mit irgendeiner Flüssigkeit aus einem reichte Katharina das Ticket. „Wie soll ich...", sagte sie,
Flachmann warm und fingen an zu blödeln. Es machte alles „was kostet..." Aber die Jungen hatten schon ihr Gepäck
keinen Sinn, und es war noch nicht mal komisch, und aufgenommen und zogen weiter. Einer rief: „Geschenkt."
Katharina geriet allmählich in Wut, weil sie kein Auge zutun Katharina sah ihnen nach, wie sie die Treppen hinaufstiegen,
konnte. Als sie gegen Morgen in Dover den Zug nach und sie hob ihre Koffer auf, die ihr unwahrscheinlich schwer
London nahm, fühlte sie sich zerschlagen und verdreckt. erschienen, und ging zu dem Bahnsteig, wo sie auf ihren Zug
Eine seltsame Stille herrschte in diesem britischen Zug. wartete. Sie fühlte sich sehr unglücklich und wünschte, es
Vielleicht flößten die anwesenden Engländer den wäre schon alles vorbei oder sie wäre erst gar nicht von zu
Jugendlichen Respekt ein, vielleicht fühlten sich aber auch Hause fortgefahren. Sie hatte alles unterschätzt, diese
alle so wie Katharina, so ausgelaugt und kaputt. Jedenfalls ganze verdammte Reise.
war es wieder wie ein Abschied, und tatsächlich stob man in
London in alle Himmelsrichtungen auseinander. Finchley Central wirkte mit seinen aneinandergebauten
Backsteinhäusern wie ein Stadtteil aus lauter roten Mauern,
Katharina hatte einen alten Plan der Londoner U-Bahn uneinsehbar, undurchdringbar und abweisend. Kein Mensch
dabei. Sie wusste, dass sie nach Norden fahren musste, wo war zu sehen. Nichts rührte sich in dieser fremden Stadt.
sie bei einem gewissen Ehepaar Rajan für die nächsten Katharina schleppte ihre Koffer und Taschen eine
Wochen ein Zimmer gemietet hatte. Hangstraße hoch und bereute, das Gepäck nicht aufgegeben
Die Haltestelle der U-Bahn, Victoria Station, war so zu haben. Von der U-Bahn-Station kommend, hatte sie sich
frühmorgens wie ausgestorben. Fahrkarten schien es nur aus instinktiv nach rechts gewandt, das Gehen .bereitete ihr
Automaten zu geben, und Katharina hatte keine Münzen einige Mühen, und sie schob es auf ihre Übermüdung. In den
dabei. Augen kratzte es wie Sand. Ihr Haar, dachte sie, müsste wie
Sie wusste nicht, wie sie an ein Ticket kommen konnte, und Filz aussehen. Plötzlich tauchte wie in einem Märchen ein
fühlte sich hilflos und wie auf einem anderen Planeten Wesen auf, eine Frau in Blau, Himmelblau. Blümchenhut,
zurückgelassen. Kostüm, Schuhe, Handtasche, einfach alles strahlte in
Fast erleichtert hörte sie deutsche Wortfetzen, wandte sich diesem Vergissmeinnichtblau.
um und sah vor den Fahrkartenautomaten einige Punker,
6 7
Diese Frau, diese Lady, passte in den verrückten Traum, in gen konnte. Tatsächlich bekam sie jetzt nur noch die Hälfte
dem sich Katharina befand. Sie war aufgetaucht wie von allem, was um sie herum verging, mit. Mr. Rajan war
Mary Poppins und sah aus wie die Queen kaum zu verstehen. Er sprach ein enges, gepresstes Englisch
höchstpersönlich, ganz unwirklich, weil man so nur mit einer fremden Melodie, und seine Frau übersetzte.
in einem Bilderbuch aussehen darf. Die Lady war Katharina versuchte beides, Deutsch und Englisch, aber sie
Katharinas einzige Chance. „Entschuldigung", begann hatte das Gefühl, sich dauernd verteidigen zu müssen; weil
sie. „Excuse me, please." „Yes, my dear?", sagte die sie allein nach Finchley gefahren war, weil sie ihre Koffer so
Lady. weit getragen hatte, wegen was noch alles. Und gerade weil
„Vielleicht können Sie mir helfen", sagte Katharina und beide Rajans sich so auf sie stürzten, gerade weil sie
fragte nach dem Weg. Zu ihrer größten Verwunderung Katharina mit ihrer Herzlichkeit fast erdrückten, fühlte sie
antwortete die Lady in einer Sprache, die Katharina ver- sich entsetzlich allein gelassen. Sie hatte dem nichts
stand. Es war das Englisch, das sie in der Schule gelernt entgegenzusetzen außer einem abschwächenden „Es macht
hatte, deutliche, singende Worte wie die eines zwitschernden doch nichts" und „Es ist schon gut", aber die beiden hörten
Vogels, und sie erhielt eine präzise Beschreibung des und hörten nicht auf, schlugen immer wieder die Hände
Weges. Es war ganz einfach, just go straight on, dear, at zusammen und begannen schließlich, Katharina mit rosa und
that junction over there turn to the left, at the next corner gelb gezuckerten Keksen zu füttern.
you have to go to the right, and there you are, you can 't Katharina blieben die bunten Kekse, die sie stark an die
miss it, dear. himmelblaue Lady erinnerten, fast im Hals stecken, und
Katharina würde den Weg nicht verfehlen. Einen Moment auch der Tee, mit Milch und Zucker gerührt, war ihr
lang schien ihr London vollständig himmelblau und zuwider, schmeckte er doch wie Karamellpudding. Die
liebenswert. Sie versuchte ein Lächeln, bedankte sich, und Rajans sahen ihr zu, und Katharina versuchte ihr Bestes und
die Lady entschwebte. lächelte wie verrückt. Ihr fiel auf, dass die beiden sich auf
Katharina sah ihr nach, wie sie die Straße runterging und eine merkwürdige Art ähnlich sahen. Obwohl sie sich auf
dann um die Ecke bog und somit aus der ganzen Anhieb und äußerlich sehr unterschieden, da sie sehr
merkwürdigen Geschichte verschwand, in der Katharina sich hellhäutig und er sehr dunkel war, schienen sie ineinander zu
in diesem Moment aufhielt. fließen, wie man es von manchen alten Ehepaaren her kennt,
und erinnerten Katharina an zierliche Zwillingspärchen aus
Die Rajans wohnten in einem dieser roten und mit Erkern Rosenbildern. Inzwischen war Katharina so müde geworden,
versehenen Häuschen, und sobald Katharina den wildbe- dass ihre Augen nicht nur brannten, sondern sie auch die
wachsenen Vorgarten durchschritten und an der Haustür Umgebung nur leicht verschwommen wahrnehmen ließen.
geklingelt hatte, wurde es fast unerträglich turbulent. Mrs. Unter ihrem Oberschenkel hatte sich ein in der Couch
Rajan begrüßte Katharina, als ob sie sich schon ewig querstehender Nagel hochgedrückt und fing an, weh zu tun,
kennten, dabei wusste Katharina nichts von ihr, nur, dass sie stach in die Haut, und Katharina begann hin und her zu
aus Deutschland stammte und mit einem Inder verheiratet rutschen auf dieser rotbespannten Couch, die wie selbst
war. Vielleicht war es die gemeinsame Sprache, die Mrs. gebastelt aussah.
Rajan eine gewisse Verwandtschaft voraussetzen ließ. Die Rajans zeigten endlich Erbarmen mit Katharina und
Katharina jedenfalls fühlte sich ein wenig überrumpelt, wie führten sie ins Schlafzimmer, wo sie Katharina in ihr Ehebett
sie da umarmt und hineingezogen wurde mit einem Schwall packten, das eigentlich nur aus zwei auf dem Boden
banaler Worte, ach, dass du schon so früh kommst, hatten liegenden Matratzen bestand. Katharina hatte keine Zeit, sich
wir nicht erwartet, aber macht nichts, wie war die Reise, hat zu wundern, die Worte gingen in ihren Kopf rein und raus,
es lang gedauert, ach Gott, musst du müde sein, vielleicht sie verstand nichts mehr, wollte nicht mehr, konnte nicht
willst du gleich schlafen oder erst was essen, oder willst du mehr.
dich doch erst hinlegen. Mrs. Rajan deckte sie zu mit einer Decke, die nicht mehr
Katharina hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil sie ganz frisch gewaschen roch, und ließ Katharina
in ihrer Müdigkeit nicht den gleichen Elan aufbrin-
8 9
allein. Die fiel sofort in einen Halbschlaf, fühlte sich vor fünfzehn Jahren ausgesehen haben mochte, sie war zu
ungemütlich in diesem fremden Bett, ein wenig abgestoßen, klein gewesen damals, aber grundsätzlich kam es ihr jetzt
und hatte eine unbestimmte Ahnung, dass schließlich mit vor, dass zu Hause schon immer alles so gewesen sein
diesem Englandaufenthalt doch alles schief gegangen sein musste, schon immer und immer, nur woanders sah es anders
musste. aus, und woanders hieß jetzt London, ja, da sah es wirklich
Gegen Mittag stand sie auf, eigentlich immer noch ohne anders aus. „Wir sind seit acht Jahren verheiratet", fuhr Mrs.
Schlaf und mit diesem heißen Wunsch nach Ruhe in sich, Rajan fort, „und es ist eine gute Ehe, ja wirklich, auch wenn
dem sie aber nicht hatte nachgeben können. Sie fühlte, dass man meint, dass er anders ist, nein, das ist er eigentlich nicht,
die ganze Welt in Unordnung geraten war, und fand das nur obwohl, man muss sich gewöhnen, denn im Grunde ist er
bestätigt, als die Rajans ihr begreiflich machten, dass das schon anders, im Grunde ist er ganz anders." Katharina
Zimmer, das Katharina ursprünglich bewohnen sollte, noch wusste nicht, was Mrs. Rajan meinte. Das Ungewöhnliche
belegt war, für einige Zeit, wie überhaupt alle Räume des war, fand sie, dass Mr. Rajan dieses Englisch sprach, so
Hauses vermietet waren außer dem kleinen Wohnzimmer, in einen flachen Singsang, den sie noch nie gehört hatte, aber
dem sie jetzt saßen, und dem Schlafzimmer, das Katharina ja möglicherweise gab es noch andere Menschen, die so einen
auch schon kannte. Sie dachten jetzt beide laut über Tonfall hatten.
Ausweichmöglichkeiten für Katharina nach, die aber alle Ansonsten war an Mr. Rajan nichts Besonderes. Er war klein
Vorschläge, angefangen von der Anmeldung in einer und ziemlich dünn. Er hatte schwarze, glatte Haare, und er
Jugendherberge bis zur Unterbringung bei der Heilsarmee, war dunkler als die meisten Menschen, die Katharina bisher
im Grunde für unannehmbar hielt. „I think we try Lilian", gesehen hatte. Er war ziemlich dunkelbraun. Ungewöhnlich
sagte Mrs. Rajan schließlich, und ihr Mann stimmte ihr zu. war das ganze Ehepaar Rajan. Sie benahmen sich ein
Auch Katharina schien es das Beste zu sein, es bei Lilian zu bisschen wie Kinder, so aufgedreht, aber der ganze Tag war
versuchen, wer immer sich hinter Lilian verbergen mochte, sowieso wie ein einziges Sandkastenspiel gewesen, und
und sie nickte erfreut, als die beiden sie fragend ansahen. So Katharina fühlte sich fremd und mehr denn je auf diesem
wurde beschlossen, Katharina bei Lilian unterzubringen, und anderen Planeten. „Wenn man damit fertig wird", sagte Mrs.
Mr. Rajan machte sich zur nächsten Telefonzelle auf, um Rajan, „dass er anders ist, überall, ich meine wirklich überall
Lilian den Gast anzukündigen. Es war sehr still geworden, anders, dann geht es."
der Gesprächsstoff schien Mrs. Rajan ausgegangen zu sein, Bei dem Wort überall musste Katharina sich wie
seit ihr Mann das Haus verlassen hatte. Sie sah angestrengt zwangsläufig Mr. Rajan nackt vorstellen. Sie schämte sich
zur Decke, dann lächelte sie Katharina an. Schließlich ein bisschen über das Bild in ihrem Kopf, aber es kam nichts
räusperte sie sich und sagte fast verlegen: „Er ist ein guter Besonderes dabei heraus. So ungewöhnlich konnte Mr.
Mann. Eigentlich tut er alles für mich." „Ja", sagte Rajan nackt nicht aussehen, und als er jetzt zurückkam, war
Katharina. „Er ist sehr nett." Katharina fast erleichtert, und sie fühlte so etwas wie
„Ja", wiederholte Mrs. Rajan, „er ist sehr nett, das ist er." Mitleid, nicht Mr. Rajan gegenüber, sondern eher mit seiner
Dann sah sie sich im Zimmer um, als ob es das erste Mal Frau, die jetzt das alte Spiel wieder aufnahm und mit heller
wäre. „Wir haben das Haus gekauft", sagte sie. „Aber es ist und hoher Stimme rief: „What about Lilian?"
fast alles vermietet, weil wir es abzahlen müssen." Es klang Mit Lilian, so stellte sich heraus, ging alles in Ordnung, und
fast wie eine Entschuldigung, aber Katharina wusste nicht, Katharina schien eine neue Unterkunft zu haben, die nicht
was sie entschuldigen sollte. „Er ist sehr nett", sagte Mrs. teurer sein sollte. „Same price", sagte Mr. Rajan. Zehn
Rajan, „und sehr fleißig. Wir legen jeden Pfennig beiseite, Pfund für eine Woche.
um das Haus abzuzahlen. Er ist Maler von Beruf,
Anstreicher, und ich arbeite auch noch den ganzen Tag, und Es war ein heftiger Regen draußen. Die Stadt sah riesig und
in Deutschland war ich schon seit fünfzehn Jahren nicht trostlos aus, und die Fahrt mit dem Auto der Rajans schien
mehr." Katharina konnte sich nicht erinnern, wie endlos zu dauern.
Deutschland
10 11
Sie hielten schließlich vor einem fünfgeschossigen Haus, verwandelte sich von einem mysteriösen kleinen Mann in
und ein Mann in Livree öffnete ihnen die Eingangstür. Die ein liebenswürdiges Kind, und Katharina versuchte eine
Flure des Hauses waren mit roten Teppichen belegt, auch die erste Konversation auf Englisch. „Ich habe noch nie ein so
Stufen der Treppe, die nach oben führte. Die einzelnen elegant angezogenes Kind gesehen", sagte sie, „indeed", und
Wohnungen hatten weiß- und goldgestrichene Amobi antwortete brav: „Thank you."
Eingangstüren, und das Innere des Hauses erinnerte Dann sah Katharina auch endlich Lilian, die aus einem der
Katharina eher an ein vornehmes Hotel als an einen Zimmer in den Korridor getreten war. Es durchzuckte
Wohnblock. Katharina, dass sie Lilian nie würde leiden können, sie
Die Rajans und Katharina gingen geräuschlos über den wusste es einfach, und es tat ihr jetzt schon Leid. Lilian war
Teppich, und Katharina meinte bei jedem Schritt hochschwanger. Sie trug ein helles Umstandskleid und
einzusinken. Dann klingelten sie im ersten Stock an einer erinnerte Katharina an eine weichgekochte Kartoffel. Auch
dieser wunderschönen Türen. ihr rosa und etwas geschwollen aussehendes Gesicht
Katharina glaubte sowieso in irgendeinem Traum zu stecken. verstärkte diesen Eindruck nur.
Sie erwartete an diesem Tag alles Mögliche, und so war sie Lilian sagte auch: „Willkommen", auf Deutsch dieses Mal,
auch nur ein bisschen verwundert, als ein kleiner Mann, der und fragte, woher Katharina eigentlich komme. Sie selber
ihr vielleicht bis zur Brust reichte, die Tür öffnete und sie habe in Baden-Württemberg gelebt, vor ihrer Londoner Zeit,
ernsthaft und höflich zugleich hineinbat. Sie fand den ja, sie seien Landsleute, Katharina und sie, eine Aussage, die
kleinen Mann äußerst hübsch und gut angezogen und in Katharina leichtes Unbehagen weckte.
wunderte sich nur etwas über seine Winzigkeit. Lilian zeigte Katharina ihre Unterkunft — es war ein perfekt
Er trug eine dunkelgraue Flanellhose und ein hellblauweiß ausgestattetes Gästezimmer, das direkt neben der Küche lag,
gestreiftes Oberhemd mit akkurat gebundener, dunkelblauer wo Katharina sich jeden Morgen ihr Frühstück zubereiten
Fliege. Seine schwarzen, großlockigen Haare waren sollte.
sorgfältig und luftig gebürstet. Die ganze Person wirkte auf Die Rajans verabschiedeten sich, und John führte Katharina
Katharina merkwürdig adrett und fast kunstvoll. Als sie das in den Wohnraum, der Lounge hieß und so riesig war, dass
Apartment betrat, musste er sich vorgestellt haben, aber ein anderes Wort auch gänzlich unpassend gewesen wäre.
Katharina verstand kein Wort.' Sie hatte sich inzwischen Das Zimmer war voller Leute. Männer, so dunkel wie John.
darauf vorbereitet, dass sie bei Liliputanern wohnen würde. Sie benahmen sich genauso unkompliziert und gelöst wie
In fast derselben Sekunde korrigierte Katharina aber ihre John, was Katharina einfach überwältigte. Eine Zeit lang
Vorstellung, denn vom langen Ende des Korridors her kam stand sie völlig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Man
ein Mann auf sie zu, fast eine identische Ausgabe der entschied sich, sie Cathrin zu nennen. Lilian, Johns Frau,
kleinen Person, die ihr die Tür geöffnet hatte, nur dass er klärte Katharina in dem Gewühl schnell auf. An diesem
viel größer war und viel dunkler. Der Mann kam mit Abend waren Freunde und Kollegen von John zu Besuch,
ausgestreckten Händen auf Katharina zu. „Welcome", sagte fast alle im diplomatischen Dienst tätig wie übrigens John
er. „I'm John ... You may call me John." auch, oder sie waren auf Geschäftsreise in Europa von Afrika
Katharina hatte seinen Nachnamen nicht verstanden. John aus. Also Afrika.
gab ihr die Hand. Den linken Arm legte er halb auf ihre Afrika war für Katharina bis dahin nur der große Kontinent
Schulter, und es war so eine herzliche Begrüßung, wie sie südlich des Mittelmeeres gewesen. Was wusste sie noch?
Katharina bei einem Fremden noch nicht erlebt hatte. Und Nicht viel. Irgendwo gab es immer ein paar kleine Kriege,
eigentlich auch bei Freunden noch nicht. John begrüßte die die niemand sonst auf der Welt beachtete. Touristen fuhren
Rajans wie Altbekannte. Dann stellte er Katharina seinen nach Kenia. Zur Safari. Südafrika, das wusste sie, war eine
Sohn vor, den kleinen Mann, der sie empfangen hatte, und einzige Peinlichkeit, über die man nicht gern sprach. Und
der war elf Jahre alt und hieß Amobi, und John ließ keine sonst?
Ruhe, bis Katharina den Namen richtig nachgesprochen
hatte. Amobi lächelte und
12 13
Der Lärm, die Stimmen, die Fragen verwischten das Bild, Spiel zu befinden, also genau auf der Mattscheibe. Und erst
das Katharina je in ihrem Kopf gehabt haben als Lilian den Raum verließ, folgte sie ihr mit krampfhaft
konnte. Und sie fragte auch, wollte sich rantasten, festen Schritten, um sich für die Nacht zu verabschieden.
die Lücken zu füllen. Welcher Teil von Afrika? Katharina lag im Bett und bemühte sich, die Augen offen zu
Welches Land? Nigeria. halten, weil sich sonst ihr Zimmer bewegte, als säße sie in
Katharina erhielt auf der Stelle Nachhilfeunterricht in einer rasenden Schiffschaukel. Sie fand sich blöd, weil sie
Geographie und Politik und Geschichte und ihr Lächeln nicht ablegen konnte, und schließlich gab sie
Gesellschaftskunde. Ebenso interessiert war man an ihr und doch dem Zwang, die Lider zu schließen, nach und ließ sich
was sie mache und vorhabe, und als sie ihre eher konfusen von dem Rauschen in ihrem Kopf forttragen. Ganz leise kam
Gedanken, vielleicht mal Mathematik studieren zu wollen, ihr noch der Gedanke, dass sie irgendetwas vergessen hatte,
vorbrachte, war man fast entzückt und ging ernsthaft auf das irgendetwas ursprünglich sehr Wichtiges. Aber dieses
Thema ein. Rauschen in ihr verpackte den Gedanken wie in Watte. Und
Es herrschte eine lockere und irgendwie weltmännische es fiel ihr einfach nicht ein.
Atmosphäre.
Katharina konnte das nicht anders ausdrücken. Sie fühlte
sich wohl und gleichzeitig fehl am Platz. John verteilte
Getränke, und auch Amobi bot Drinks an, höflich und
unaufdringlich und absolut gut erzogen, immer aber mit
dieser eigenartigen Ernsthaftigkeit, die er schon zu Beginn
des Abends gezeigt hatte. Einmal fing Katharina auf seinen
Rundgängen zwischen all den Menschen im Raum seinen
Blick ein und lächelte ihm zu, und er grinste plötzlich
verschmitzt zurück. Ihr war, als habe sie einen
Verbündeten.
John bot Katharina etwas zu trinken an. Sie sah die Palette
an Flaschen, kam sich sehr dumm und provinziell vor und
bat um einen Whisky, vielleicht nur, weil ihr nichts anderes
einfiel.
Der Whisky war mit Sodawasser aufgefüllt. Sie hatte „stop"
gesagt, als das Glas schon fast zu voll war. Jetzt nippte sie
daran und versuchte, sich so zu geben wie alle anderen, ja,
eben weltmännisch. Im Kopf stieg ihr der ganze Tag an wie
der Whisky-Soda im Glas. Sie wurde randvoll mit Träumen
und Gesprächen und Situationen und all diesen Abschieden.
Der Whisky stieg ihr dann auch noch in den Kopf. Sie
lächelte wie verrückt und wusste, dass sie langsam total
betrunken wurde. Katharina nahm sich vor, niemand merken
zu lassen, wie es um sie stand.
Sie hatte das Gefühl, dass es sonst mit ihrer weltmännischen
Haltung vorbei sein würde und sie einfach eine lächerliche
Figur sein musste. So trank sie langsam und Schlückchen für
Schlückchen das ganze Glas leer, hörte mit leeren Ohren den
Gesprächen zu und behielt ihr Lächeln bei. Sie schwebte wie
durch einen Fernsehfilm und mit dem Gefühl, sich gerade
zwischen Realität und
14
ния с Оливером были очень запутанные, и в
этом она обвиняла себя. Рядом с ним она
чувствовала себя неуютно, часто казалась
себе глупенькой. Kapitel 2
На поезде Катарина доехала до Остенде и
пересела на паром, который прибывал в Довер
рано утром. Оттуда Катарина поехала на
поезде в Лондон. Поездка очень утомила ее.
Она чувствовала себя уставшей и разбитой. Als Katharina aufwachte, ging es ihr gut. Das Rauschen im
Недалеко от вокзала одна женщина Kopf war verflogen.
объяснила ей дорогу. К удивлению Катарины, Sie blinzelte ins Licht, lauschte auf Geräusche im Haus, die
женщина говорила на языке, который был von weit her zu kommen schienen, und entschied sich
ей знаком по школе. schließlich aufzustehen. Niemand in der Wohnung rührte
В Лондоне Катарина должна была sich. Entweder schliefen noch alle, oder sie waren außer
остановиться у семьи Раджан. Миссис Раджан Haus. Katharina kam sich vor wie eine Diebin, als sie durch
приветствовала Катарину, как будто они знали den Korridor ins Bad schlich. Auch später, in der Küche,
друг друга целую вечность. Раджаны угостили war ihr etwas unheimlich zumute. Sie machte sich einen
Катарину разноцветным печеньем и уложили Instantkaffee und ein Toastbrot. Danach bekam sie erst recht
спать в их комнате. Когда Катарина Appetit und rostete sich eine zweite Scheibe.
проснулась, выяснилось, что все комнаты у Sorgfältig vernichtete sie alle Spuren, die sie in der Küche
Раджанов заняты. Тогда они решили hinterlassen hatte, wischte die Brotkrümel in die Hand und
отправить ее к Лилиан на тех же условиях. warf sie ins Spülbecken.
У Лилиан Катарину встретили очень Vom Fenster aus konnte sie in einen Innenhof schauen, der
дружелюбно. Выяснилось, что здесь живут unbenutzt schien.
африканцы — Джон, его жена Лилиан, немка, Jede Wohnung hatte einen schmiedeeisernen Balkon, auf
и сын Джона Амоби. Все решили называть dem der Müllcontainer in einer Art Aufzug stand. Katharina
Катарину Кэтрин. Вечером в гостях были packte die Koffer aus und verstaute deren Inhalt in einem
друзья и коллеги Джона, почти все дипломаты. Schrank. Sie legte sich mitgebrachte Lektüre bereit, auch die
Царила непринужденная, светская атмосфера. Kamera, überlegte, was sie sonst noch tun konnte, und fing
dann an zu lesen. Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf das
Buch zu konzentrieren, und die Geschichte schien ihr auch
zu unwirklich, obwohl sie sich auch heute nicht sicher war,
ob sie sich überhaupt in der Realität befand und nicht in
irgendeinem ausgedachten Stück. Die Stille fing an, ihr in
den Ohren zu dröhnen, und sie verspürte den Wunsch, an
irgendetwas teilzunehmen, hängte sich die Tasche über und
wollte gehen. Ihr fiel ein, was ihr eigentlich schon gestern
hatte einfallen sollen, nämlich dass sie zu Hause ihre
Ankunft melden musste, aber sie fand diese Verpflichtung in
ihrer jetzigen Situation merkwürdig unwichtig, obwohl sie
diese Situation nicht hätte beschreiben können. Sie fühlte
sich eben wie eine Bewohnerin eines anderen Sterns.
25
Das Telefon stand auf einem Tischchen im Korridor. Es zu Hörner bekam wie ein Ziegenbock. „Ja, wirklich?", fragte
benutzen wäre ihr wie Betrug vorgekommen. So wollte sie die Mutter.
doch hinausgehen und war fast dankbar für die Idee. Es war „Ja", sagte Katharina langsam, weil ihr nicht viel mehr
wie eine Aufgabe, die sie bewältigen musste. Beim einfiel. Sollte sie der Mutter den Gemüsemann beschreiben?
Verlassen der Wohnung nahm sie sich vor, den Namen zu „Ach ja", sagte Katharina dann doch. „Ich bin nicht da, wo
behalten, der auf einem Messingschild am Türrahmen ich eigentlich sein sollte. Ich wohne jetzt woanders." „Wieso
glänzte: Okonkwo. Aber schon unten, als sie an dem höflich denn das?", schrie die Mutter ins Telefon. „Was ist
grüßenden Butler vorbeiging und die Straße betrat, hatte passiert?"
sie das Wort vergessen. „Es ist alles in Ordnung", sagte Katharina. „Es geht mir
Kurz dachte sie daran, Ausschau zu halten nach einem gut."
sicherlich roten Telefonhäuschen und danach wieder ins „Sag mir doch, wo du bist", sagte die Mutter. „Die Adresse.
Haus zu flüchten, aber dann fiel ihr der Stadtplan in ihrer Die Telefonnummer." „Keine Ahnung", sagte Katharina. Es
Handtasche ein, auf dem sie schon zu Hause all diese amüsierte sie, und sie konnte sich jetzt auch endlich die
Sehenswürdigkeiten eingekringelt hatte, und sie wollte dann Mutter vorstellen, wie sie aufgeregt war und in den Hörer
doch überallhin. Sie sah die roten Busse mit der Aufschrift schrie.
Victoria fahren. Es gibt sie wirklich, dachte sie und stieg Sie sah in den Himmel, der blassblau war, und suchte
ein. die Sonne und dachte, komisch, dass es die gleiche
„Victoria", sagte sie zum Schaffner und gab ihm einen Sonne ist, die die Mutter jetzt auch sieht. „Ich versteh
Schein. Das Wechselgeld steckte sie ungezählt in ihre dich nicht", sagte die Mutter. „Was ist passiert?"
Tasche. „Nichts", sagte Katharina. „Ich bin jetzt bei anderen
Bei der Victoria Station beginnend fing sie an, sich die Leuten."
Stadt zu erlaufen, und schaute und schaute, lief jedem „Was für Leute?", fragte die
der malerisch gekleideten Guards hinterher, besah sich Mutter. „Afrikaner", sagte Katharina.
Westminster Abbey und Buckingham Palace, was man „Afrikaner?", fragte die Mutter. „Was heißt das?
alles so sehen muss. Hyde Park Corner. Vor allem die Aus Afrika? Du meinst, Schwarze?" „Ah ja", sagte
Leute. Nach den Häusern sah sie sich die Leute an, und Katharina. „Mein Gott", sagte die Mutter.
es waren andere Leute als zu Hause. Als ob man die „Also", sagte Katharina, „die Frau ist deutsch, aber sonst
Erde genommen und geschüttelt und die Leute dann sind alle Afrikaner."
verteilt hätte auf dreihundertsiebenundachtzig „Mein Gott", sagte die Mutter. „Aber wenn du
Bushaltestellen. Da standen sie nun, alle Nationalitäten der meinst. Du musst es wissen. Warum nicht. Was
Welt. Es war ein buntes Bild, und es gefiel Katharina. Oliver sagen wird. Aber Hauptsache, dir geht es gut."
„Ja, mir geht es gut", sagte Katharina. „Lass es dir
Dann das Telefonat. gut gehen", sagte die Mutter. „Und lass dich von
Katharina warf Münzen ein, vorsichtshalber so viele sie den Schokoladenmännern nicht auffressen." „Mein Gott",
hatte und der Apparat aufnahm. sagte Katharina.
Die Mutter nahm ab. „Ja Kathi, wo steckst du denn, bist du Es war nicht so leicht, wieder nach Hause zu
erst jetzt angekommen, bist du gut angekommen, wir haben finden. Nach Hause, dachte Katharina schon. Sie hatte
uns schon Sorgen gemacht, Oliver hat schon zweimal nach sich die Nummer der Buslinie gemerkt. Aber welche
dir gefragt, noch gestern Abend hat der Papa gesagt, die Haltestelle?
Kathi müsste sich aber auch schon melden, na Gott sei Dank, Das wusste Katharina nicht. Alle Leute im Bus, in den
dass du angekommen bist." „Mir geht es gut", sagte Katharina eingestiegen war, beteiligten sich am Rätselraten,
Katharina. Irgendwie konnte sie sich die Mutter nicht wo sie aussteigen müsste. „Ich weiß nicht, wie
vorstellen. Sie sah sie nicht, nur den Gemüsemann auf dem
Bürgersteig, der Pfirsiche in eine rechteckige Tüte steckte
und sie dann schwungvoll um sich selber drehte, dass
die Tüte an den Seiten
26 27
es heißt", sagte Katharina, „aber ich weiß, wie es aussieht." Amobi schlug einen Orangensaft vor. Dann saßen sie zu
Zwei Häuser mit Fronten wie in Fachwerk gearbeitet zweit in diesem riesigen Raum, jeder in seiner Ecke, und
standen gegenüber der Haltestelle. Katharina nippte an ihrem Getränk, und Amobi erzählte ihr
Der Schaffner musterte Katharina und schätzte den Preis, in seiner Viertakt-Sprache alles, was er heute in der Times
den sie bezahlen sollte. Sie fuhren, so schien es Katharina, gelesen hatte. Er musste ein fast fotographisches Gedächtnis
eine endlose Strecke, vorbei am Marble Arch und die haben, denn er zitierte ganze Artikel über den Bestand von
Edgware Road hoch bis nach Maida Vale. Als Katharina die Pershing-Raketen in Europa. Er wusste auswendig, über wie
beiden Häuser mit dem auffallenden Fachwerk erblickte, viele Panzer die NATO in Europa verfügte und wie hoch die
stieg sie aus. Der Schaffner war besorgt. Ob es auch wirklich Anzahl im Warschauer Pakt war. Er ratterte die Zahlen und
die richtige Haltestelle war. Katharina fand sein Kümmern Begriffe runter, als ob er sie irgendwo abläse, aber in seinem
liebenswert. Gesicht spiegelte sich nichts wider, kein Schrecken oder
Von allen zu Hause war John am aufgeregtesten. Man hatte vielleicht eine Leidenschaft. Er war so wenig Kind. Amobi
Cathrin schon für verschollen gehalten und schien sichtlich holte sich nun selber ein Glas Saft. Katharina fühlte sich
erleichtert über ihr Wiederauftauchen. Sie bekam sogleich fremd in diesem Zimmer, und auch Amobi passte nicht
einen Hausschlüssel und musste sich die genaue Adresse hierher. „Darfst du das?", fragte sie. „Einfach an die
aufschreiben. Und John würde sie jeden Morgen mit in die Getränke gehen?"
Stadt nehmen, wenn sie es wünschte. Nachmittags war Gleichzeitig mit ihrer Frage fiel ihr ein, dass Amobi ja
Katharina mit Amobi allein in der Wohnung. Sie saß in hier zu Hause war, und auch sie ging zu Hause an alle
ihrem Zimmer und wollte nun wirklich lesen, hatte auch das Sachen, aber komischerweise beantwortete Amobi ihre
Gefühl, fürs Erste genug von London gesehen zu haben. Frage nicht so, wie sie es jetzt erwartete. „Ich habe die
Amobi schlich auf dem Korridor entlang, passierte mehrere Erlaubnis meines Vaters", sagte er. „Ich verstehe",
Male Katharinas offene Tür und lud sie schließlich ein, doch sagte Katharina.
mit ihm im Lounge zu sitzen. „Und was wird deine Mutter dazu sagen, wenn du mich hier
Wieder war er so erwachsen angezogen, und sein Verhalten bewirtest?"
wirkte aufgesetzt und dennoch angenehm, jedenfalls war er „Sie ist nicht meine Mutter", sagte Amobi. Katharina
ganz anders als andere Kinder, die Katharina kannte und die wusste darauf nichts zu erwidern, und Amobi fing an,
ihr manchmal zu wild waren. Sie zögerte, den Wohnraum ihr eine konfuse Geschichte zu erzählen. „Meine Mutter
aufzusuchen, aber Amobi bestand darauf. So setzte sie sich ist Italienerin", sagte er. „Und mein Vater ist aus
auf eine der Couches im Lounge. Nigeria." Jetzt wurde sein Gesicht lebhaft und
Sie hatte Schwierigkeiten, Amobi zu verstehen, kindlich.
obwohl er zweifellos richtiges Englisch sprach, und es Katharina hörte zu, was es mit Amobi auf sich hatte, dass
dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er stotterte. Sie seine Eltern geschieden seien und sein Vater jetzt Lilian
stellte sich darauf ein, und als sie sich angewöhnt habe, dass er, Amobi, eine Schwester in Italien habe, deren
hatte, nur ungefähr jede vierte Silbe aufzunehmen, kam Foto in seinem Zimmer stehe. „Hier in England gehe ich auf
eine ganz passable Konversation zustande. Amobi benahm ein Internat", sagte er. „Und in den Ferien bin ich bei
sich wie der perfekte Gastgeber. „Möchtest du einen meinem Vater. Aber ich muss jeden Tag eine Lektion für die
Drink, Cathrin?", fragte er. Katharina hatte sich schon Schule lernen, und Lilian übt mit mir, aber lieber wäre mir
diese Nacht vorgenommen, nie mehr zu trinken. meine Mutter." Und dann rannte er in sein Zimmer und kam
„Nein, danke", sagte sie. „Ich trinke nicht." „Ich auch mit einem gerahmten Foto zurück.
nicht", sagte Amobi, was Katharina zum Lachen gebracht Katharina sah Amobis Schwester. „Sie ist wunderschön",
hätte, wenn es nicht so ernsthaft vorgetragen worden sagte sie, und Amobi sagte: „Ich liebe sie." Er sagte: „A-a-a-
wäre. ai 1-1-1-love her." Und Katharina sah seine strahlenden
Augen und hatte gerne was Schönes gesagt, und am liebsten
hätte sie ihm über das Haar gestreichelt, nicht
28 29
um seinetwillen, sondern komischerweise ganz allein für die Nase voll von allem. Jeden Abend das Haus voller Leute.
sich. Jeden Abend! Es ist der reine Wahnsinn." Lilian zog sich
Als Lilian zurückkam, war der Frieden vorbei. „Hast du einen zweiten Stuhl heran und legte ihre geschwollenen
deine Hausarbeiten gemacht? Ich will sie sofort sehen", Beine auf die Sitzfläche. „Mach dir doch einen Kaffee,
sagte sie. Cathrin", sagte sie und meinte wohl, dass sie selber einen
„Und ist er höflich gewesen, Cathrin? Hat er sich anständig wollte.
benommen?" Katharina kochte Kaffee für beide. Lilian zeigte ihr noch, wo
„Aber ja", sagte Katharina, und Lilian war verdutzt. sie diese rosa, blau und orange gezuckerten Kekse
„Wir müssen hart an ihm arbeiten", sagte sie. „Er war aufbewahrte, von denen anscheinend ganz England voll war.
nicht immer bei uns. Man hat ihn verdorben. Wie Ihr Gesicht war nun ganz flach und gelöst und sah mehr
er spricht! Hast du deine Hausarbeiten gemacht, denn je wie eine Kartoffel aus. Sie schlürfte ihren Kaffee,
Amobi?" „Wir haben miteinander Englisch geübt", sagte schien ihre Hände an der Tasse zu wärmen und fing aus
Katharina. „Ich hab einiges von ihm gelernt." „Ist nicht heiterem Himmel an, Katharina ihre ganze Lebensgeschichte
wahr", sagte Lilian. zu erzählen.
„Doch", sagte Katharina. „Wir haben uns gut verstanden." Es war keine besondere Geschichte. Katharina kehrte
„Man kann ihn überhaupt nicht verstehen", sagte Lilian. „Er zwischendurch immer wieder zu ihren eigenen Gedanken
stottert so, dass sich einem das Herz im Leibe umdreht." zurück. Wenn sie wieder bei der Sache war, wunderte sie
„Ich kam ganz gut mit ihm zurecht", sagte Katharina. sich, dass Lilian ständig von irgendeinem Herbert in
Lilian packte aus einer großen Papiertüte Deutschland sprach. Herberts Geschichte war aber noch
Lebensmittel auf den Küchentisch. langweiliger, so dass Katharina überlegte, ob sie heute noch
„Dann ist es ja gut", sagte sie. Katharina hatte das Gefühl, mal rausgehen sollte.
alles falsch gemacht zu haben, und suchte nach irgendetwas, Als Lilian mit ihrer Erzählung schließlich bei John angelangt
das sie Lilian sagen konnte, um sie zu versöhnen. Sie war und berichtete, wie er sich stets im Kalender notierte,
betrachtete die eingekauften Sachen, aber von da kam ihr wann sie ihre Tage hatte, wachte Katharina aus ihren
keine Idee. Sie fühlte sich abhängig von Lilian und auf ihren Überlegungen wieder auf und hoffte, dass Lilian mit ihrer
guten Willen angewiesen, und so entschied sie sich, Lilian Geschichte bald am heutigen Tag angelangt wäre. Amobi
ihre Hilfe anzubieten, obwohl sie freiwilliges Helfen im lungerte an der Küchentür herum, und Lilian unterbrach
Haushalt von Kindheit an verabscheute. Lilian nahm ihren Bericht.
Katharinas Hilfe wie selbstverständlich an. Sie stemmte eine „Hast du deine Aufgaben erledigt?", fragte sie scharf.
Hand in den Rücken und drückte ihren umfangreichen Amobi nickte. „Ja, Lilian", sagte er. „Kann ich sie
Bauch vor. Dann ließ sie sich stöhnend auf einen Stuhl fallen sehen?", fragte Lilian. „Ja, Lilian", sagte er.
und dirigierte Katharina in der Küche umher. Katharina „Zeig sie abends deinem Vater", sagte Lilian.
verstaute die eingekauften Sachen in den Schränken. Sie Katharina nutzte die Unterbrechung. Sie stand auf
überlegte krampfhaft, womit sie Lilian fangen könnte, und und räumte die Tassen fort. „Ich werde noch einkaufen
beschloss, sie auf ihren Zustand hin anzusprechen. gehen", sagte sie. „Gibt es hier Geschäfte in der
Lilian war im achten Monat schwanger. „Es ist ein Nähe?" „O ja", sagte Amobi schnell. „Gleich um die
Wunschkind", sagte sie. Ecke." „Sie hat dich nicht gefragt", sagte Lilian.
„Das Blöde ist, dass es geboren wird, wenn wir mitten im „Wenn man nicht gefragt ist, hält man den Mund." »Es
Umzug stecken. John wird nach Dublin versetzt. Genau um ist schon in Ordnung", sagte Katharina. „Kann Amobi
die Zeit herum, in vier bis sechs Wochen. Die ganze vielleicht mitgehen und mir die Geschäfte zeigen?" „Ich
Geschichte mit Packen und Umziehen. Dazu das Baby. Dazu komme gern mit dir, Cathrin", sagte Amobi steif
noch den Jungen. Ich hoffe, John schafft es, ihn wieder und fast uninteressiert, so dass Lilian ihn sogar drängte:
zu seiner Mutter zu bringen. Ich habe „Sei so gut, Amobi, und zeige Cathrin, wo sie einkaufen
kann." Katharina schnappte schnell ihren Schulterbeutel
und lief
30 31
hinaus. Als Amobi die Tür hinter sich zuzog, prustete „Stammer", sagte Amobi.
Katharina los. Sie hatte nicht sagen können, weshalb, denn „Ja", sagte Katharina. „Ich versteh fast alles, was du sagst.
Lilian machte sie eher traurig, aber das Lachen tat ihr Auch wenn du stotterst."
einfach gut. Amobi sah Katharina zunächst sehr erstaunt an. „Lilian versteht mich nicht", sagte Amobi. Er sagte L-l-l-
Dann lachte er auch, und sein Lachen war fast wie sein lilian.
Sprechen, stoßweise, als ob er probieren musste, ob es „Stottern ist ja nicht schlimm", sagte Katharina. „Wenn man
auch ginge. ein bisschen übt, kann man es loswerden. Glaub ich."
Dann hörte er plötzlich mit dem Gelächter auf. „Sie ist nicht „Sie finden es schlimm", sagte Amobi. „Mein Vater und
meine Mutter", sagte er. „Sie ist Lilian." Und der Name Lilian."
hörte sich an wie etwas, das gleich vergehen oder aus sein „Alle Welt stottert", sagte Katharina. „Ich kenne
konnte, wie vielleicht Seifenblase oder Pferderennen oder mindestens tausend Leute, die stottern." „Vielleicht in
Ferienreise. Deutschland", sagte Amobi. „Ach", sagte Katharina.
„Ja", sagte Katharina. „Das ist wahr. Sie ist Lilian." Erst jetzt „Überall. Und ich kenne weitere tausend Leute, die haben
verstand sie den Satz einigermaßen. Es war eine ganze andere Sprachfehler. Wie heißt das? Wenn man kein S
Geschichte dahinter, Amobis Geschichte, und sie nahm sprechen kann?" „Ich weiß nicht", sagte Amobi.
Amobis Hand und hüpfte mit ihm die Treppe hinunter. Wie „Wart mal", sagte Katharina. „Die sprechen so. Alles mit Te
gestern Abend hatte sie das Gefühl, dass sie Verbündete Ha. Lass mich mal einen schönen Satz überlegen. Vielleicht
waren, Verschwörer gegen etwas, das sie nicht beschreiben den: Mithter Tham thinkth of thome nithe thingth." Amobi
konnte, das aber, irgendwie, furchtbar erwachsen war. lachte.
Es gab einige Geschäfte in der Nähe. Amobi Katharina sagte: „Die Hälfte der Politiker haben
deutete auf die Schaufenster und beschrieb, was man da einen Sprachfehler. Jedenfalls die deutschen. Und die
kaufen konnte. „Gibt es nicht so etwas treten sogar im Fernsehen auf." „Ehrlich?", fragte
wie einen Selbstbedienungsladen hier?", fragte Katharina. Amobi. „Ehrlich", sagte Katharina.
„Weißt du, ich habe Angst, mit den Leuten zu reden." Amobi hatte sie bis zu einem kleinen Supermarkt geführt,
Amobi sah Katharina erstaunt an. Dann lächelte er. „Ich wo man alles in einen Einkaufswagen packen konnte. Hier
habe auch Angst", sagte er. „Ich fürchte, dass mich die brauchte man kein Wort zu sagen. Katharina kaufte eine
Leute nicht verstehen", sagte Katharina. „Ich auch", sagte Menge Kekse ein. Kekse und Nüsse und Schokolade. Alles,
Amobi. womit man ein paar Tage überleben konnte.
„Und dann denke ich, dass ich alles noch mal An der Kasse hielt sie einfach einen Schein hin, weil sie
sagen müsste", sagte Katharina. „Und wenn sie mich nicht verstand, wie viel das alles kostete. Die Verkäuferin
wieder nicht verstehen, dann denken die Leute vielleicht sah sie an und fragte etwas, was Katharina nicht kapierte.
noch, ich sei blöd." Ach, so hatte sie sich das gedacht. „Ob du kein Kleingeld
„Das denke ich auch immer", sagte Amobi. „Ich weiß, hast, Cathrin", sagte Amobi. „O nein", sagte Katharina
dass ich nicht blöd bin. Mein Kopf ist voller Gedanken, schnell. „Ich habe keine Münzen." Irgendwann musste sie
aber ich kriege sie nicht so schnell raus." doch diese verdammte Sprache verstehen können!
„Das versteh ich", sagte Katharina. Amobi bestand darauf, die Einkaufstüte zu tragen.
„Und dann kriege ich manchmal gar nichts mehr raus", „Magst du Erdnüsse?", fragte Katharina. „O ja", sagte
sagte Amobi. Amobi. „Aber das heißt nicht, dass ich welche
„Ich hab dich noch immer verstanden", sagte Katharina. möchte."
„Obwohl du so eigenartige Sachen sagst wie „Ich weiß", sagte Katharina. „Und da fällt mir noch was ein.
Pershing. Das mit dem Stottern. Wenn man singt, dann hört
Aber ich weiß, worum es geht."
„Auch, wenn ich...", sagte Amobi.
„Ja", sagte Katharina. „Wie heißt das eigentlich?
Ich weiß das Wort auf Englisch nicht."
32 33
das Stottern angeblich auf. Hast du das schon mal probiert?" Der Cousin drehte stumm die Platten um. Francis, der
„Nein", sagte Amobi. London von früheren Besuchen gut kannte, beschwor
„Ich kann nur ein englisches Lied", sagte Katharina. „Ten Katharina, sich von ihm die Stadt zeigen zu lassen. Sie hatte
green bottles. Ach, und Old MacDonald had a das Gefühl, dass sie eigentlich schon genug von der Stadt
farm. Aber ich trau mich nicht, auf der Straße zu hatte. Sie war ihr einfach zu groß. John fand die Idee mit
singen." „Ich mich auch nicht", sagte Amobi. Francis als Stadtführer gut. „Er ist sehr zuverlässig", sagte
er. „Du kannst dich ihm ruhig anvertrauen, Cathrin."
Lilian saß in der Küche und schnitt bohnenartig aussehendes Katharina wusste nicht, ob Francis so vertrauenswürdig war.
Gemüse in kleine Stücke. Die Schnipsel blieben wie mit Er sah vierschrötig aus, ein sehr kräftiger Mann mit dunklen,
dicken Schleimfäden aneinander kleben. Es sah nicht sanften Augen. Sie vertraute diesen Augen und sagte zu. Der
besonders appetitlich aus. Cousin saß nun vor dem Plattenspieler, kroch fast hinein, um
„Okro", sagte Lilian. „Es wird mit Fleisch gekocht wie die Musik zu hören. Katharina hatte so etwas wie Mitleid
Gulasch. Und dazu gibt es Fufu. Das ist vielleicht ein Zeug. mit ihm. Sie war überzeugt, dass sie das Zimmer bewohnte,
Du musst es in die Okrosoße tauchen und runterschlucken. das eigentlich für ihn bestimmt war, und schnitt das Thema
Es wird nicht gekaut. Scheußliche Angewohnheit ist das. bei John an. „O no", sagte John. „Er wird im Lounge
Aber heute Abend kommt wieder Gott und die Welt zum schlafen. Mach dir da mal keine Sorgen."
Essen. Da muss es eben Okro geben." „Und wegen des Geldes", sagte Katharina. Sie hätte die
Lilian war schlecht gelaunt, und als John kam und mit ihm finanzielle Seite gern geklärt, gerade weil alles so anders
eine Menge Leute, wurde ihre Laune noch schlechter. John lief, als sie es sich ursprünglich vorgestellt hatte. „Soll ich
schien das nichts auszumachen. Er ignorierte Lilian, bat für die Unterkunft gleich bezahlen? Das ist mir fast lieber
Katharina in den Lounge und stellte ihr Freunde vor. Edgar, als hinterher."
der auch gestern an der Party teilgenommen haben sollte und „Was für Geld?", fragte John. „Oh, vergiss es. Du bist unser
an den Katharina sich nicht erinnern konnte, und Francis, der Gast, und von Gästen nimmt man kein Geld. Also, vergiss
heute Morgen erst in London angekommen war. Francis war es, Cathrin."
Beamter und hatte den Auftrag, sich nach neuen Investoren Es war Katharina peinlich, aber John sah so offen und
in Europa umzusehen. John hatte auch seinen Cousin vom freundlich aus, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu
Flugplatz mitgebracht, der nicht viel älter als Katharina war lächeln und sich bei ihm zu bedanken. Gleichzeitig aber
und Theologie studierte. Er sah sehr verschüchtert aus und fühlte sie sich abhängiger und dachte an Lilian, der sie nun
blickte Katharina nicht ein einziges Mal an. Edgar und John wohl mehr in der Küche helfen müsste, und bei dem
spielten Karten und versuchten, Katharina ihr Spiel Gedanken an Lilian wurde ihr unbehaglich.
beizubringen. Es war sehr einfach, eine Art Schwarzer Peter, Amobi spielte wieder seine Rolle als Sohn des Hausherrn
und sie spielten um Geld. „Sag um Gottes willen Lilian und verteilte Drinks auf seine feine, unauffällige Art. Er
nicht, dass wir um Geld spielen", sagte John zu Katharina. Er machte es gut und sicher und redete kein Wort dabei, außer
zwinkerte ihr zu. „Sie kann so was nicht leiden. Aber uns vielleicht ein paar einfache Phrasen wie „Thank you" und
macht es Spaß." Der Cousin legte ein paar Platten auf, die er „Here you are".
aus Nigeria mitgebracht hatte, und sie hörten sie alle durch, Der Cousin hing über dem Plattenapparat und horchte hinein
Highlife, eintönig melancholisch klingende Melodien von und sah aus, als ob er schon jetzt tiefstes Heimweh habe.
verschiedenen Blechinstrumenten. Sie gingen Katharina Komisch, dachte Katharina, jetzt sind wir mindestens drei
leicht in den Kopf, und als sie fragte, was der Text bedeutete, Leute hier, die fremd in der Stadt sind, und wir tun so, als ob
konnte man ihr nur vage antworten. Es war eine von den draußen nichts los wäre, und klammern uns hier aneinander.
vielen hundert Sprachen des Landes, und man verstand sie Die Wohnung roch aufregend. Ein fremder Geruch, den
nicht, aber die Musik machte Spaß. Katharina gerade deswegen gut aufnehmen konnte.
34
35
Ich werde mich mein Lebtag an diesen Geruch erinnern, suchte er mit Katharina ein chinesisches Restaurant auf.
dachte sie, ja bestimmt. Es wird mich an diese Stadt Katharina hatte keinen Appetit, trank eine Cola und sah
erinnern, wo sich alle Welt trifft, und plötzlich hatte auch sie Francis beim Essen zu. Die Schüssel, die er vor sich hatte,
ein fast schüttelndes Heimweh, und sie wusste nicht, was sie war mit buntem Gemüse und allerlei Fleisch gefüllt. Francis
überhaupt hier tat, in fremden Räumen, und vielleicht war es aß mit Stäbchen, und lange, durchsichtige Fäden ringelten
diese Musik, die ein bisschen an italienische sich um das Holz.
Beerdigungslieder erinnerte. Vielleicht war es auch nur der Katharina fiel ein, was die Mutter immer gesagt
Geruch des Okro. hatte, dass Chinesen nämlich Regenwürmer essen, und sie
wandte ihren Blick von Francis ab, weil ihr sonst schlecht
Am Morgen unterhielt sich Katharina pflichtgemäß mit geworden wäre. Später brachte Francis sie nach Hause.
Lilian, die wieder über diesen Herbert sprach, und Katharina „Vielen Dank für den Tag", sagte Katharina. „Bekomme
fing an, über Oliver zu sprechen wie über eine Sache, die ich keinen Kuss?", fragte Francis. „O nein", sagte
längst vorbei war. An seinen Pullover erinnerte sie sich, aber Katharina. „Nein." Sie hatte es ja gewusst und war wütend
— wirklich — sie konnte sich sein Gesicht nicht mehr über sich selber und über Francis und darüber, dass sie
vorstellen. Wie schrecklich, dachte sie und bemühte sich, überhaupt in einer Situation war, in der jemand
ihre Gefühle wieder ins Reine zu bekommen. Sie stellte sich meinte, ihr so einen Vorschlag machen zu können.
vor, wie Oliver ein anderes Mädchen kennen lernen würde, „Warum nicht?", fragte Francis und sah ziemlich erstaunt
sah sie beide durch die Stadt gehen, zu Hause, und aus.
versuchte, recht eifersüchtig zu werden, aber es kostete sie „Ich will nicht", sagte Katharina. „Zum Abschied",
einige Anstrengung und dauerte auch seine Zeit, während sagte Francis. „Warum nicht?" „Weil ich nicht will",
Lilian redete und redete, und dann war wieder alles klar in sagte Katharina. Francis warf ihr das Päckchen mit
Katharina, ja, sie liebte Oliver. der Kette in den Schoss. Katharina warf es zurück.
„Ja, wegen des Geldes", sagte Katharina noch einmal, um „Ich will das nicht", sagte sie.
die Sache auch bei Lilian in Ordnung zu haben, aber Lilian Sie spielten nun Päckchenwerfen, bis Francis wohl die Nase
unterbrach sie gleich. voll hatte. „Nun behalt das schon", sagte er. „Ich habe es für
„Das geht schon in Ordnung", sagte sie. „Wie du es mit Mrs. dich gekauft." Sie hatte es ja gewusst. So nahm sie endlich
Rajan abgesprochen hast, zehn Pfund die Woche, und es das Päckchen und stieg aus. Ging mit schiefem Lächeln
reicht, wenn du am Ende bezahlst." durch die Eingangstür, die ihr der Butler aufhielt.
Es war ein heißer Tag. Katharina wusste nicht, ob Francis Während sie über den weichen Teppichboden des
sich extra ein Auto gemietet hatte, jedenfalls fuhr er sie in Treppenhauses ging, dachte sie, das ist mir einfach alles eine
einem himmelblauen Wagen spazieren. Sie besichtigten Nummer zu groß. London und all das. In den nächsten
Madame Tussaud's Wachsfigurenkabinett und die National Tagen nahm sie sich noch einmal London vor. Sie besuchte
Gallery. Francis war unermüdlich. Sie liefen dreimal über die Täte Gallery und das Britische Museum, und dann
den Trafalgar Square, der voller Menschen und Tauben war. brummte ihr der Kopf. Sie aß in Snackbars, wo sie sich
Die Tauben widerten Katharina an. Aber sie schoss Fotos selbst bedienen konnte und kein Wort Englisch sprechen
von ihnen und Francis und kam sich wie eine richtige musste.
Touristin vor, was sie auch nicht ausstehen konnte. Nachmittags ging sie mit Amobi bummeln oder spielte mit
In einem kleinen Juwelierladen am Trafalgar Square kaufte ihm Dame, während der Cousin vor dem Plattenspieler saß
Francis ein Goldkettchen mit einer Perle dran. Es war ein und Heimweh hatte.
ganz hübsches Kettchen, und Katharina wusste sofort, dass Manchmal dachte sie an Oliver und auch wieder nicht.
es für sie bestimmt war, und hatte schon Angst vor dem Fing einen Brief an. Lieber Oliver... Und wusste nicht
Moment, wo Francis damit ankommen würde. Francis ließ weiter.
die Kette in ein Kästchen einpacken. Dann
37
36
Вечером ждали в гости много разных
людей. Среди них был двоюродный брат
Джона, который изучал теологию, и
бизнесмен Френсис, только сегодня утром
приехавший в Лондон. Кузен все время ставил
пластинки с африканской музыкой, которая
легко запоминалась.
На следующий день Френсис показывал
Катарине Лондон. Он был просто неутомим.
Френсис купил Катарине в подарок золотую
цепочку, которую она долго не хотела Samstag früh zankte Lilian sich mit John über eine Party am
принимать. К вечеру она очень устала, и ей Abend, zu der sie eingeladen waren. „Ich bin zu dick", sagte
казалось, что Лондон, все это слишком много sie. „Schau, wie ich aussehe. Ich pass wirklich nicht dahin.
для нее. Lass mir meine Ruh." „Du siehst schön aus", sagte John und
zwinkerte Katharina zu. „Wirklich, schwangere Frauen sind
nun mal dick. Das ist doch keine Schande. Du siehst schön
aus, glaub mir."
„Ach, mach doch, was du willst", sagte Lilian.
„Aber lass mich zu Hause. Nimm Cathrin mit." „Um
Gottes willen", sagte Katharina. „Doch", sagte Lilian.
„Nimm sie mit. Das ist doch mal was anderes."
„Kommst du mit, Cathrin?", fragte John. Seinen Cousin
wollte er sowieso mitnehmen.
„Ich weiß nicht", sagte Katharina. „Wie ist das mit
Francis? Wenn er auch da ist,„komme ich nicht mit."
„Francis wird zu so was überhaupt nicht
zugelassen", sagte John. „Es werden fast nur Diplomaten
da sein." „Aber kann ich denn so einfach mit?", fragte
Katharina. „Die kennen mich doch gar nicht."
„Das geht schon in Ordnung", sagte John. „Es ist Jims Party,
und er ist ein Landsmann von mir. Ich werd noch
telefonieren und dich ankündigen. Aber das geht schon in
Ordnung."
„Und dass du mir auf Cathrin aufpasst", sagte Lilian.
„Diplomaten! Cathrin, du musst höllisch aufpassen.
Diplomaten! Sie werden alle versuchen, dich abzuschleppen.
Sei auf der Hut. Ich habe so meine Erfahrungen. Sie werden
mit allen möglichen Anträgen kommen. Sag immer nur
eins. Sag: Nein!"
Katharina war amüsiert. Sie zog ein schmales, schwarzes
Kleid an, das sie eigentlich nicht mochte und das fürs
Theater gedacht war. Auch der Cousin zog wohl seinen
besten Anzug an. Hellgrauer Flanell. Später saßen sie beide
im Fond des Autos. Ein bisschen wie Hühner, die
abgeschlachtet werden sollten.

51
51
Jim nahm sie an der Tür in Empfang. Als Katharina ihm ihre sucht, Katharina zum Tanzen aufzufordern, geschweige denn
Hand reichte, riss er sie hoch und drückte einen Kuss drauf. sie abzuschleppen. Man wird meine Provinzialität gemerkt
Es war filmreif, und es ging Katharina durch Mark und Bein. haben, dachte Katharina. Der Einzige, der sich dann doch
Sie mochte Jim auf Anhieb überhaupt nicht, und obwohl Jim bemühte, war Edgar. Katharina tanzte mit ihm im Gedränge
den ganzen Abend lang mit den anwesenden Frauen flirtete, den Highlife, und er bat sie, ihre Schulter küssen zu dürfen.
verlor Katharina nicht das Gefühl, dass er schwul sein müsse. Edgar war so klein, dass sein Kopf gerade über Katharinas
Jims Haus war brechend voll. In jedem Zimmer drängelten Schulter hing, und sie fand seinen Wunsch irgendwie
sich Leute, und sie mussten aus allen Ländern der Erde rührend und absurd zugleich. Sie dachte an Lilians Warnung
kommen. Die Männer benahmen sich so, wie Katharina das und ihren Ratschlag, immer nur nein zu sagen, und so
aus dem Fernsehen kannte. Sie standen in kleinen Grüppchen sagte sie eben: „Nein."
herum, hielten Gläser in den Händen und erzählten sich was. Die Abschlepperei hatte nun wohl angefangen, vermutete
Katharina konnte nicht ausmachen, um was es eigentlich bei Katharina, denn nach Edgar bat sie ein langer, blonder
diesen Gesprächen ging. Nicht nur, dass die Leute aus allen Mensch um den Tanz. Er tanzte aber überhaupt nicht,
Ländern der Erde stammten, auch alle Sprachen der Welt sondern stand mit Katharina nur still in der Menge, und
schienen hier vertreten zu sein. Jemand hatte Musik obwohl alles Mögliche um sie herum passierte, hatte
aufgelegt. Manche Frauen fingen an, sich im Takt zu Katharina doch das Gefühl, dass hier mit ihr und dem
bewegen, und Katharina erkannte den Rhythmus. Es war die Blonden etwas geschah, und sie war froh, als er fragte, ob sie
Musik von Johns Cousin, der auch hier in einer Ecke stand, eine Stunde mit ihm teilen würde, denn nun wusste__sie
auf den Boden starrte und schließlich doch anfing zu tanzen, Bescheid.
und er sah dabei aus wie der einsamste Mensch auf der Erde. „Nein", sagte sie-und lächelte leise.
Die Frauen waren bildschön und die Kleider, die sie trugen, Sie fing nun an zu zählen. Ach, Diplomaten, dachte sie
wohl atemberaubend teuer. Mehr denn je fühlte sich abwertend wie Lilian, aber es machte ihr schon Spaß. Ein
Katharina wie aus tiefster Provinz stammend, und sie Mann, den sie sich als Russen vorstellte, der aber genauso
lächelte ein bisschen blöd und ging dann hinüber in die Ecke gut aus irgendeinem anderen östlichen Land sein konnte, bat
zum Cousin, wo sie tat, als ob sie auch tanzte. Das Zimmer sie, doch die Nacht mit ihm zu verbringen, und als sie nein
war in rotes Licht getaucht. Katharina konnte nur gesagt hatte, kam jemand aus Ghana, der wirklich schwarz
schemenhaft die Leute erkennen. John schien Stunden mit wie die Nacht war, schwarz und schön wie Ebenholz, der
irgendwelchen Männern zu reden und kümmerte sich nicht wollte sie mitnehmen in sein Land, gleich morgen und für
um sie. Jim hielt Händchen mit den Frauen, wobei sich seine das ganze Leben. Katharina flüchtete nun zu dem Cousin,
Arme mit ihren auf merkwürdige Art verschränkten. nippte noch einmal an dem scheußlichen Orangengetränk
Katharina hatte den Eindruck, dass sie und der Cousin und hätte gern ihr glühendes Gesicht mit Eis gekühlt. Sie
überhaupt nicht hierher passten. Neben der Tür war ein Tisch setzte sich auf die Armlehne einer Couch, schlug die Beine
mit Getränken aufgebaut, und Katharina schüttete sich in ein übereinander und lächelte vorsichtshalber in den Raum
Glas ein, was ihr am harmlosesten vorkam, aber als sie das hinein.
orangefarbene Getränk schluckte, war es scharf wie Feuer,
und sie musste wieder was total verkehrt gemacht haben. Der Später kam noch jemand, der auch nicht hierher passte.
Cousin und sie tanzten nun in der Ecke zusammen. Highlife. Stand im Türrahmen, schaute sie an und reagierte nicht
Langsam kapierte sie den Rhythmus. Der Cousin hielt auf ihr gefrorenes Lächeln.
manchmal ihre Hand, aber sie hatte genauso gut irgendein Katharina besah sich wieder die Leute, wie sie redeten
Requisit für ihn sein können. Es müsste fast Mitternacht sein, und wie sie sich bewegten, und war froh, neben
und im Grunde war noch nichts passiert. Keiner der dem Cousin zu stehen, das war wie ein Ankerplatz.
Diplomaten hatte ver- Der noch gekommen war, trug eine schwarze Strickjacke
mit abgerundeten Ecken und runden Lederknöpfen,
und Katharina dachte, die Jacke passt aufs Land, aber
52 nicht hierher, und der Mann trug an den Füßen
auch noch
53
Slipper, war also _ganz und gar nicht für diese Party auch nicht mehr so strahlend. Katharina mit heißem Gesicht
gekleidet. Jim und ein paar andere unterhielten sich kurz mit wie zuvor. „Wollen wir?", fragte John und griff sich auch
ihm in einer anderen Sprache, und Katharina vermutete, dass den Cousin. Jim brachte sie zur Tür und nahm Katharinas
er auch aus Nigeria war. Später forderte er Katharina zum Arm und drückte wieder seinen glühenden Kuss auf ihren
Tanzen auf. Fängt das schon wieder an, dachte sie und war Handrücken.
dann doch ein bisschen beruhigt, dass er sie nicht zu sehr an John, der Cousin und sie liefen ein Stückchen die Straße
sich drückte und auch nicht erwartete, dass sie den Highlife hinauf zu Johns Wagen, und der mit der Strickjacke, von
perfekt tanzen konnte. Im Gegenteil, ihm schien die Musik dem Katharina schon fast den Namen wieder vergessen
ziemlich gleichgültig zu sein, er tanzte mit Katharina hatte, Asohka, nein, Azuka, lief die Straße hinunter.
hausbacken eins rechts, eins links, so dass sie die Schritte Katharina blickte sich um und sah, dass Azuka sich auch
vergessen und ihn ansehen konnte. Er fing eine blöde umgedreht hatte. Aber viel war in der Dunkelheit nicht zu
Konversation an, woher sie komme und was sie hier mache, sehen.
und im Nu waren sie vom Thema London auf das Thema
Paris gekommen und auf Chagall, und Katharina erzählte, Am Montag Vormittag bummelte Katharina durch die Stadt,
dass Chagall ihr Lieblingsmaler sei, und dann redeten sie die mittlerweile aussah wie irgendeine andere Stadt. Schon
über Musik und über Mozart und über Beethoven, und um zwölf Uhr hielt sie sich in der Nähe des Museums auf,
Katharina dachte, komisch, dieser Mensch, der mitten auf trank eine Cola in einer kleinen Gaststätte. Pünktlich um ein
dieser Diplomatenparty in Strickjacke und Slippern steht und Uhr stand sie vor dem Haupttor des Britischen Museums.
über Musik redet. Als die Platte zu Ende war, ging Katharina Viele Leute gingen vorbei oder auch in den Hof des
zu dem Tisch, auf dem die Getränke aufgebaut waren, und Museums hinein.
suchte nach etwas, das den Durst löschen würde, und der mit Niemand, der Azuka sein konnte, kam auf sie zu. Vielleicht
der Strickjacke reichte ihr ein Glas Mineralwasser mit etwas hatte sie sich mit dem Treffpunkt geirrt. So stand sie auf, um
von dem orangenen Zeug, und das schmeckte, und sie zum Tor auf der Rückseite des Hauses zu gehen. Aber auch
setzten ihr Gespräch einfach fort, nach Beethoven kam da wartete niemand auf sie. Katharina fiel ein, dass sie
Tschaikowski an die Reihe, zweites Klavierkonzert, und Azuka möglicherweise gar nicht erkennen würde. Was war
dann die Franck-Sinfonie, aber die kannte Katharina nicht. dran an ihm. Hatte er ein besonderes Kennzeichen?
„Hast du Lust, die Universität zu besichtigen?", fragte er wie Und auch sie. Die Straßen um das Britische Museum herum
beiläufig und stellte sich vor, bekam also plötzlich einen wimmelten von blonden Mädchen. Sie trug kein schwarzes
Namen, Asohka oder so, „Ah, Zett, Uh, Kah, Ah", also Kleid heute, sondern Jeans und lila Sweatshirt. Was war
Azuka. dran an ihr.
Katharina dachte an Lilian und reihte Azuka in die Reihe der Sie machte sich wieder auf den Weg zum Haupttor und
Diplomaten ein. Diplomaten! besah sich die Leute, die ihr begegneten. Vielleicht würde
„Falls du interessiert bist", sagte Azuka. „Ich habe eigentlich sie ihn doch erkennen. Er sah anders aus als andere. Schon
keine Zeit, weil ich mich auf ein Examen vorbereite, aber am Samstag Abend.
wenn du schon in London bist... Wie war's mit Montag, ein Jemand, der anders aussah als andere, kam ihr entgegen. Sie
Uhr, vor dem Britischen Museum?" Katharina dachte an wusste sofort, dass es Azuka war, und auch er musste sie
Lilian, und dann hörte sie auf, an Lilian zu denken, und sagte erkannt haben, denn er kam geradewegs auf sie zu.
„vielleicht", und dann sagte sie „ja" und dachte, jemand wie Sie redeten gleichzeitig, wie um eine aufkommende
der ist anders, in Strickjacke und Slippern, und so blöd muss Verlegenheit zu überbrücken, und beide versuchten, eine Art
erst mal jemand sein, eine Universitätsbesichtigung Erklärung abzugeben über die verschiedenen Eingänge des
vorzuschlagen, oder ist das ein neuer Trick. Leise Museums, aber es wurde noch unverständlicher, und
plätschernd ging die Party dem Ende zu. Die müden Katharina hörte lieber auf zu sprechen. „Schön, dass du
Gesichter. Und die Frauen gekommen bist", sagte Azuka dann. „Ja, ich freu mich
auch", sagte Katharina.
54 55
Unterhaltung war etwas schwierig. Katharina sah auf ihren
„Wollen wir zuerst essen gehen und dann die Universität Teller oder geradeaus in den Raum hinein. Wenn sie Azuka
besichtigen, oder sollen wir nach dem Rundgang was essen?" ansehen wollte, musste sie den Kopf stark zur Seite drehen.
„Zuerst die Universität." Eigentlich war es eine Es kam ihr sehr blöd vor. „Du bist also kein Diplomat?",
Frechheit, das Essen mit der Besichtigung so zu fragte sie. „Nein", sagte Azuka. „Ich studiere noch. Aber
verknüpfen, so, dass man nicht nein sagen konnte. warum sollte ich Diplomat sein?"
Katharina wurde wieder an Lilians Worte erinnert, und „Weil John gesagt hat, dass nur Diplomaten zur
es machte sie wütend. Party eingeladen waren." „Und wenn ich einer wäre?"
Azuka und sie gingen schweigend hinüber zur University of „Na ja", sagte Katharina. „Dann müsste ich sehr
London. Azuka schleppte sie durch tausend Gänge und vorsichtig sein. Lilian sagt das."
Bibliotheken, treppauf, treppab, erläuterte mit knappen „Wer immer Lilian ist, ich glaube, sie hat Recht."
Worten deren Funktion, und nach Stunden, schien es „Aber du spielst mit ihnen Tennis", sagte Katharina. „Ja,
Katharina, konnte sie nichts mehr aufnehmen. In einer aber mehr auch nicht", sagte Azuka, und Katharina wurde
kleinen Kantine ließ Azuka sie endlich niedersitzen und rot. Sie ärgerte sich sehr über sich selbst. „Und was
spendierte ein kühles Getränk. hast du mit John zu tun?", fragte Azuka. „Bist du
„Ich muss mich für meinen Aufzug am Samstag seine Freundin?"
entschuldigen", sagte Azuka. „Ich war nicht auf eine Party Katharina stieg das Blut noch mehr in den Kopf, und sie war
eingestellt. Ich hatte für mein Examen gearbeitet, bis in die froh, dass sie nebeneinander saßen und das Sichansehen
Nacht hinein, und wollte dann nur kurz bei Jim doch mit Schwierigkeiten verbunden war. „Aber nein", sagte
vorbeischauen und mit ihm einen Termin für ein sie. „Wo denkst du hin. Ich bin dort in Ferien. Es ist eine
Tennismatch ausmachen." lange Geschichte." „Erzähl sie doch", sagte Azuka.
„Es war ja nicht schlimm", sagte Katharina. „Es war nur ein „Es ist wirklich eine lange Geschichte", sagte Katharina.
bisschen anders."
„Eigentlich sehe ich auch nicht ein, warum man sich für eine „Jedenfalls ist Lilian Johns Frau, und John hat einen Sohn,
Party so ausstaffieren muss", sagte Azuka. „Aber ich meine, mit dem beschäftige ich mich, wenn ich nicht gerade in
ich wäre normalerweise nicht in Slippern erschienen." London herumlaufe." Und dann fügte sie hinzu, und wusste
Katharina musste lachen, und Azuka lachte auch, eher aber nicht, warum: „Der Sohn ist elf Jahre alt und heißt Amobi."
nur seine Augen, die eine plötzliche Wärme zeigten. „Sollen Jetzt wandte sie den Kopf zur Seite, und auch Azuka sah sie
wir chinesisch essen oder indisch?", fragte er, und in an, und wieder hatte sie so ein eigenartiges Gefühl, als ob er
Katharina stellten sich alle Antennen wieder auf Achtung. schon alles von ihr wüsste.
Chinesisch erinnerte Katharina an Francis, also sagte sie: „Wollen wir den Kaffee hier trinken oder
„Vielleicht indisch." „Vielleicht indisch oder wirklich woanders?", fragte Azuka, und Katharina fühlte sich
indisch?" „Also gut", sagte Katharina. „Indisch." Sie lächelte wieder in die Ecke gedrängt, wenn auch nur ein
halb. Azuka sah sie misstrauisch an, und sie hatte das Gefühl, bisschen. „Woanders", sagte sie.
dass er all ihre Gedanken lesen konnte. Sie wandte den Blick
ab, wie um sich zu verstecken, und wünschte sich schleunigst In seinem Zimmer in einem Studentenhaus sah es
das Ende der Begegnung herbei. aufgeräumt aus. Volle Bücherregale. Ein großer
Schreibtisch. In der einen Ecke ein schmales Bett mit einer
Es war spät geworden. Sie waren die einzigen Gäste des roten Baumwolltagesdecke.
indischen Restaurants und saßen nebeneinander an einem der Katharina setzte sich weit weg von dem Bett auf einen Stuhl
Tischchen, die hier entlang den Wänden gestellt waren. zwischen Schreibtisch und Bücherregal. Sie beobachtete
Katharina hatte auch keine Ahnung von indischem Essen. So Azuka, der den Kaffee zubereitete. Ja wirklich, dachte
wählte sie etwas nicht zu Exotisches, Curryreis und eine sie, er kocht nur Kaffee. Sie wurde ein
Fleischspeise. Es schmeckte wider Erwarten gut. Die
56 57
wenig ruhiger, obwohl sie ihre Handtasche fest auf dem Sie drehte sich um und sah ihn an. Er hatte eine Augenbraue
Schoß hielt und ziemlich sprungbereit auf dem Stuhl saß. leicht hochgezogen und blickte sie wie spöttisch an. Sie hatte
Azuka brachte Wasser in einem Elektrokessel zum Kochen. gewusst, dass er es so aufnehmen würde, dass es so aussah,
Er schüttete Instantkaffee in zwei Tassen und stellte Milch als habe es was zu bedeuten, und sie hatte keine Ahnung,
und Zucker auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich auf den wie sie diesen Eindruck wieder verwischen könnte. Da
Stuhl vor seinem Arbeitstisch, sah Katharina still an und lehnte er sich etwas vor, und wie mit einer kleinen
wartete darauf, dass das Wasser kochte. Der Kessel fing leise Verbeugung sagte er: „Willkommen, Frau Kollegin."
an zu surren. Azuka erhob sich und brühte den Kaffee auf. Katharina konnte nicht aufhören, in sein Gesicht zu schauen.
Alles, was er tat, machte er mit langsamen und sicheren Und sie dachte, Himmel, was ist denn das für eine
Bewegungen, und es gefiel Katharina. Geschichte, ich mag es, wenn er mich so ansieht, Himmel,
Azuka stopfte sich eine Pfeife. Der Rauch zog gemächlich was für eine Geschichte.
durch das Zimmer zum Fenster hin, und Katharina dachte Azuka schaute auf die Uhr, und Katharina dachte, so, das ist
sich eine Menge dazu aus, Ferien an einem skandinavischen jetzt wohl der Hinauswurf, und dann klopfte er die Pfeife
See oder eine sanfte Abenddämmerung vor einem aus und stand auf.
Wüstenzelt. „Ich muss ein paar Bücher in die Bibliothek bringen", sagte
„Eigentlich kann ich Raucher nicht ausstehen", sagte er. „Ich kann es leider nicht aufschieben, und sie machen
Katharina, aber es stimmte gar nicht, sie wollte ihn in seiner gleich zu. Bitte bleib hier und warte ein Weilchen. Ich bin
Ruhe stören, diese offenbare Sicherheit irgendwo gleich zurück. Wirklich, nur ein paar Minuten." Er schnappte
aufknacken. So etwas hatte ihr immer Spaß gemacht, und sich einige Bücher, und Katharina blieb sitzen, auf diesem
Oliver konnte sie damit zur Weißglut bringen. Sie freute sich Stuhl zwischen Schreibtisch und Regal, als ob das
dann diebisch, und es machte ihr nichts aus. „Ich auch selbstverständlich wäre.
nicht", sagte Azuka, „und es ist auch nur zum
Abgewöhnen." Sie traute sich nicht zu rühren. Hielt ihre Tasche immer noch
Katharina merkte, dass sie ihn nicht so leicht verunsichern umklammert und dachte, was für ein verrückter Kerl, das ist
konnte, und auch das gefiel ihr. „Du rauchst also gar nicht?", doch nicht normal, einen Fremden allein in seinem Zimmer
fragte Azuka. „Nicht mehr", sagte Katharina. „Ich habe mal zu lassen, eine Fremde, ich könnte doch jetzt seine ganze
Kette geraucht und dann nur, um Oliver zu ärgern, aber dann Bude durchsuchen. Dann besah sie sich von ihrem Platz aus
dachte ich, ich sollte es ganz sein lassen. Wegen Gesundheit noch einmal das Zimmer, die Bücher mit den Titeln, die sie
und so." nicht verstand, dort hinten eine Menge Schallplatten, und
„Wer ist Oliver?", fragte Azuka. wahrscheinlich war auch die Franck-Sinfonie dabei, das
„Oliver ist Oliver", sagte Katharina und störte sich plötzlich würde sie gerne wissen. Sie hatte überhaupt den Wunsch,
an dem Namen. „Das ist eine lange Geschichte." „Dann hast eine Menge über ihn zu erfahren, was er gern aß, was er
du schon zwei lange Geschichten zu erzählen", sagte Azuka. abends machte und wie es in seinem Kleiderschrank aussah.
„Fang mal an." Sie dachte, ich bin verrückt, ja, das bin ich, und ich sollte
„Lieber nicht", sagte Katharina und lenkte ab, betrachtete die jetzt gehen, aufstehen und rausgehen, aber sie blieb still
Bücher, die im Regal standen, und hatte wieder das sitzen und betrachtete das Holz der Schreibtischplatte neben
Gefühl, durchsichtig zu sein. „Was studierst du?", sich und danach das Flechtwerk ihrer Handtasche, obwohl
fragte sie. „Mathematik", sagte er. sie es Millionen Mal gesehen hatte. Und dann sah sie
Es verschlug ihr fast die Sprache, denn sie hatte ja vor, nirgendwo mehr hin, saß still und hörte, wie die Welt
ebenfalls Mathematik zu studieren, und sie dachte, wenn ich
das sage, dann hat das was zu bedeuten, und sie sagte erst draußen lärmte.
nichts und dann doch: „Ich will auch Mathematik studieren." Als Azuka zurückkam, setzte er sich wieder vor
den Schreibtisch.
„Entschuldige", sagte er, „aber es war wirklich dringend."
58 59
„Ist schon okay", sagte Katharina. Katharina warf einen Blick in den Schrank. Wie es darin
„Ich bin ein bisschen unter Druck", sagte Azuka. „In einem aussah, wusste sie also jetzt auch schon. Azuka zog sich den
Monat mache ich mein Examen. Es ist verdammt schwer, Anorak über. Katharina stand nah bei ihm. Ihr fiel auf, dass
und ich muss den Stoff von mehreren Jahren im Kopf er etwas größer war als sie, nicht zuviel, und sie konnte ihm
haben." gut in die Augen sehen.
„Wenn ich das höre, dann fange ich lieber gar „Ich habe sehr viel zu tun", sagte Azuka. „Und eigentlich
nicht erst an", sagte Katharina. „Mit Mathematik." keine Zeit. Aber ich würde mich freuen, wenn wir uns
„Alles ist schwer", sagte Azuka. „Wenn man was Wiedersehen könnten. Aber es geht erst am Samstag."
gut machen will, ist alles schwer." „Samstag geht gut", sagte Katharina, ohne nachzudenken.
„Was machst du danach?", fragte Katharina. „Was macht „Ich könnte dich von der U-Bahn abholen", sagte Azuka.
man danach? Lehrer?" „Russell Square. Um drei Uhr?" „Drei Uhr geht gut", sagte
„Wenn du wissen willst, was ich danach mache", sagte Katharina. Sie verließen das Zimmer und gingen durch die
Azuka. „Ich mache weiter. Ich habe schon eine Zulassung langen Gänge des Studentenhauses nach draußen, wo sich
für Cambridge. Ich werde an meiner Dissertation arbeiten." tatsächlich einiges abspielte und Leute waren und Verkehr,
„Toll", sagte Katharina. „Deine Eltern müssen sehr stolz auf was Katharina einen Moment lang verwunderte. Azuka fuhr
dich sein." einen grünen Mini. Katharina hatte ihm ihre Anschrift
„Weniger", sagte Azuka. „Ich hätte Jura oder Medizin gesagt. Sie wechselten unterwegs kein Wort miteinander,
studieren müssen, damit meine Eltern stolz auf mich sind. und Katharina hatte nicht das Gefühl, dass sie was sagen
Erste Söhne müssen Jura studieren, die zweiten Medizin, müsste. In Maida Vale setzte Azuka Katharina ab, und sie
und erst dann kommt es nicht so darauf an." „Und was für fürchtete, dass er jetzt alles kaputtmachen würde, aber er
ein Sohn bist du?", fragte Katharina. „Der Älteste", sagte sagte nur: „Dann bis Samstag", und sie nickte, ging zum
Azuka. Haus, wo der Portier die Tür aufriss und sie lächelnd einließ.
„Aber wenn du deinen Doktor machst, werden sie schon Ist das nun eine Geschichte, dachte sie, oder ist das keine.
glücklich sein", sagte Katharina. Die Woche zog sich. Katharina schien nur auf Samstag
„Ich bin nicht sicher", sagte Azuka. „Eigentlich zu warten.
sollte ich nach dem Examen nach Hause kommen Sie hatte John und Lilian von Azuka erzählt, und Lilian
und eine Familie gründen." „Einfach so?" zog sie auf, fast auf sarkastische Weise.
„Einfach so", sagte Azuka. „Das heißt, es war schon alles John nahm die Sache zu ernst, fand Katharina. Er hatte
vorbereitet. Seitdem ich vier Jahre alt war, wusste ich schon, sich sofort über Azuka informiert und gab das, was er
wen ich einmal heiraten würde. Klar, ein Mädchen aus wusste oder erfahren hatte, an Katharina weiter.
gutem Haus. Vor zwei Jahren haben wir uns offiziell verlobt. „Er ist ein guter Student", sagte er. „Kein Zweifel. Aber
Sie hat auch lange Zeit in Europa gelebt, und jetzt sollte ich du wirst Schwierigkeiten mit ihm haben. Er ist der älteste
nach Hause." „Und?", fragte Katharina. Sohn."
„Ich geh nicht", sagte Azuka. „Ich mache erst mit meiner „Ich weiß", sagte Katharina. „Hat das was zu bedeuten?"
Arbeit hier weiter. Erstens. Und zweitens habe ich die „Eine ganze Menge", sagte John. „Älteste Söhne
Verlobung gelöst." „Warum das?", fragte Katharina. sind
„Das ist auch eine lange Geschichte", sagte Azuka und die Erben der Tradition. Sie müssen, wenn es
stand auf. „Und du bist mir schon zwei schuldig." drauf
Katharina lachte und stand auch auf. „Ich fahre dich jetzt ankommt, die Familie leiten, vertreten die Väter und sind
nach Hause", sagte Azuka. Er öffnete seinen Kleiderschrank deren Nachfolger in der Verantwortung für die Familie.
und nahm eine Windjacke heraus. Mit ältesten Söhnen ist man sehr streng. Azuka
wird
nie eine Ausländerin heiraten können."
„Was du so denkst", sagte Katharina.
„Du bist verliebt", sagte John.
60 61
„Ach nein", sagte Katharina. „Ich finde ihn ... wie abnahm, fand Katharina sich einen Moment lang nicht
soll ich sagen ... angenehm ... anders eben. Das ist
alles." zurecht.
„Das ist nicht alles", rief Lilian. Es schien sie zu Sie fing sich schnell. „Ja, mir geht es wirklich gut."
amüsieren. „Du bist verliebt, tatsächlich, das bist du." „Du hättest dich auch mal bei Oliver melden können",
John blickte Katharina an, ein bisschen väterlich, sagte die Mutter. „Der Junge hängt so an dir."
fand sie. „Ich wollte schreiben", sagte Katharina. „Im Ernst,
„Und außerdem", sagte er. „Azuka hat einen bestimmten ich hatte auch schon angefangen."
Ruf!“ „Dann tu das doch", sagte die Mutter. „Ruf an
„Was für einen Ruf?", fragte Katharina. oder schreib einfach."
„In Bezug "'auf Mädchen", sagte John. „Er ist hinter Es war nicht so einfach. Katharina hatte begonnen. Lieber
jedem Rock her. Sagt man. Er hat auch Edgars Freundin Oliver. Und dann war ihr nichts mehr eingefallen.
abgeschleppt. Elizabeth. Also, du musst aufpassen, ich Sie hatte den Bogen zerrissen. Auch zwei Ansichts-
will nicht, dass dir was passiert, Cathrin." karten.
„John hat Recht", sagte Lilian. Sie hielt sich jetzt stöhnend Lieber Oliver. Mehr war nicht rausgekommen. Aber das
den Rücken und räkelte sich auf dem Stuhl. Katharina war eben nicht genug.
musste immerzu auf Lilians dicken Bauch schauen. Ihr „Oder ist was los?", fragte die Mutter.
wurde ein bisschen schlecht. „Nein", sagte Katharina. „Es ist alles in Ordnung."
„Nun", sagte John. „Solange du weißt, was du willst, „Vom Papa soll ich dich auch grüßen", sagte die Mutter.
ist alles in Ordnung. Aber du solltest eben wissen, um „Und von der Oma. Und wenn Oliver fragt, was
was es hier geht." soll ich sagen?"
John, dachte Katharina, nahm die Sache wirklich zu ernst. „Viele Grüße", sagte Katharina.
Und auch wieder nicht. Sie legte auf.
Amobi stand in der Ecke, hatte sich etwas an
Die Tage vergingen kaum. Die meiste Zeit verbrachte die Kommode gelehnt und sah Katharina aus dunklen Augen
Katharina mit Amobi. Wenn Lilian außer Haus war, hatten sie an. Sie lächelte ihm zu, und im Vorbeigehen hätte
viel Spaß miteinander. Sie sangen Ten green bottles sie ihm gern über das Haar gestreichelt. Wie fühlt es
miteinander und Old MacDonald had a farm. Amobi wirkte sich an, dachte sie. Aber sie traute sich immer noch
weniger steif und förmlich als noch vor einer Woche, und nicht. Und vielleicht wäre er auch zurückgeschreckt.
kurze Sätze brachte er ganz ohne Stottern heraus. Er freute Als sie so alt war wie er, erinnerte sie sich, mochte sie es
sich, wenn Katharina ihn darauf hinwies, aber dann war er auch nicht, angefasst zu werden.
davon so aufgeregt, dass er nicht über das nächste Wort Samstag stand sie am Russell Square. Sie war nervös.
kam. Vielleicht würde sie ihn jetzt mit anderen Augen sehen. Sie
„Du darfst dich nicht freuen und auch nicht traurig sein", sagte dachte an irgendeine Elizabeth und war wütend und dachte
Katharina. „Das ist der Trick an der Sache. Cool, boy." an Lilians Warnungen und wurde noch wütender, nun aber
Sie mussten beide lachen. auf Lilian. Katharina musste lange warten. Der Wind blies
Dann aber konnte Katharina nur noch an Samstag denken und ihr Haar in alle Richtungen, und sie musste wüst aussehen,
hatte Amobi gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie was ihre Laune nicht besserte, aber dann kam Azuka, sie sah
versuchte, sich intensiver mit ihm zu beschäftigen, aber er seinen Mini schon von weitem und ging zum Bordstein. Er
schien es zu merken und zog sich mehr denn je in sich selbst hielt, beugte sich zur Seite und öffnete die Tür von innen.
zurück. Katharina sah ihn an, er wirkte etwas erschöpft, sie vergaß
An einem Abend dieser Woche rief Katharina die Eltern an. alles, was sie je gehört hatte, über Elizabeth und so, und
Sie stand im Korridor und nahm wieder diesen Geruch wahr, wünschte sich, ihm über das Haar streichen zu können, wie
diese Fremdheit, und wusste nicht, ob es London oder ihr sie es bei Amobi hätte tun können oder bei irgendeinem
Zuhause betraf, und als die Mutter, wie üblich, anderen Kind. Katharina setzte sich wieder auf den Stuhl,
auf dem sie
62
63
schon letztes Mal gesessen hatte. Sie fühlte sich hier sicher,
so eingeklemmt zwischen Holzwänden. Sie war verlegen, mit Ausländerinnen, um Gottes willen, was ging sie das an.
wusste nicht, ob sie was sagen sollte, sagen musste, und „Im Grunde", sagte Azuka, „hab ich mit Mädchen nichts zu
versuchte sich daran zu erinnern, wo es am Montag tun haben wollen, jedenfalls im Moment nicht."
aufgehört hatte. Azuka schien nicht sehr hilfsbereit, und die „Wegen deiner Verlobten?“ fragte Katharina.
Stille war ihr nun unerträglich. „Du siehst müde aus", sagte „Exverlobten", sagte Azuka. „Ich wollte nur meine Ruhe
sie, und er setzte sich. „Ich habe viel gearbeitet", sagte er. und muss das sowieso noch mit meinem Vater durch-
„Ich hatte es dir ja gesagt." kämpfen. Und Schwierigkeiten habe ich nicht gern, wenn ich
Sie musste auf seine Krawatte schauen und fand es komisch, mitten im Examen stehe. Ich kann mich nicht noch mit
dass überhaupt jemand ohne besonderen Anlass eine Mädchen belasten."
Krawatte trug, und er erinnerte sie wieder an Amobi, wie er Katharina war ein bisschen beleidigt und dachte, sie könne ja
damals so akkurat angezogen in der Tür gestanden hatte. gehen, wenn sie so lästig war, aber dann schluckte sie es
Es war eine merkwürdige Krawatte, die Azuka trug, und runter.
irgendwie passte sie nicht ganz zu der rustikal karierten „Wieso hast du die Verlobung aufgelöst?", fragte sie. „Ich
Jacke, die aussah wie ein Requisit zu einem britischen Film. sagte dir schon, es ist eine lange Geschichte", sagte Azuka.
Azuka bemerkte ihre Verwunderung. „London University", „Ich hätte das Mädchen jedenfalls nicht ertragen können,
sagte er, und das sollte wohl eine Erklärung sein, jedenfalls nicht ein ganzes Leben lang." Katharina nickte heftig und
tat Katharina so, als habe sie verstanden, und nickte. Es war schämte sich dann für ihre Reaktion. „Mein Vater hat es erst
alles sehr fremd zwischen ihnen auf einmal, und Katharina nicht geglaubt", sagte Azuka. „Dass ich die Verlobung
dachte, das müsse Elizabeth sein und all das, und sie fiel gelöst habe. Ich hätte das Mädchen auf alle Fälle heiraten
gleich mit der Tür ins Haus. „Ich hab so einiges gehört über sollen. Sie stammt eben aus einer sehr reichen Familie, und
dich", sagte sie. „Und ich bin etwas erschrocken. Ich mein, es war von Anfang an beschlossen, zwei gleiche Familien
ich find das nicht gut, und ich wollte dir das wenigstens wären zusammengekommen, so ist das, aber ich wäre dabei
sagen." „Was gibt es denn?", fragte er und sah plötzlich kaputtgegangen."
entspannter aus, und sie hatte Mut, ihm den ganzen Wust, Katharina hätte Azuka am liebsten in den Arm genom-
den John ausgegraben hatte, vorzusetzen. Es schien ihn zu men, rührte sich aber nicht, und er stand auf. „Tee zur
amüsieren. Abwechslung?", fragte er. „Ja", sagte sie. „Und wo
„Ich weiß, was man über mich denkt", sagte er. „Aber soll ist deine Pfeife?" „Ich hab's aufgegeben", sagte er. „So
ich dir die wahre Geschichte erzählen? Es ist nämlich so, schnell?", fragte sie.
dass ich Edgar im Grunde überhaupt nicht kenne, nur vom Er sagte nichts, stand über das niedrige Tischchen gebeugt
Sehen her, und er war auf einer dieser Partys, und diese und sah sie von unten herauf mit einem Grinsen an. Dann
langweiligen Veranstaltungen kennst du ja. Ich unterhalte stellte er das Service hin und schüttete den Tee in eine
mich immer mit jemandem, und da war jemand, das muss Kanne.
Elizabeth gewesen sein, und ich habe mich mit ihr „Was macht Amobi?", fragte er.
unterhalten, weil sonst niemand zum Unterhalten da war. „Oh", sagte sie. „Es ist alles in Ordnung. Dass du seinen
Jedenfalls hat sie den ganzen Abend nicht getanzt, also auch Namen behalten hast!"
nicht mit Edgar. Kein Wunder, dass er wütend ist. Aber das „Ich habe alles behalten, was mit dir zu tun hat", sagte
ist alles. Sonst noch was?" „Nein", sagte Katharina und hatte Azuka. „John und Lilian und Amobi und Oliver.
auch sonst noch alles vergessen, nur das mit den ältesten Was ist mit Oliver?" „Oha", sagte Katharina. „Was heißt
Söhnen nicht, aber so was konnte sie ihn doch nicht fragen, das?", fragte Azuka.
wie das war in seiner Familie mit der Verantwortung und „Och", sagte Katharina und lenkte ab. „Dass du so einen
den Ehen schwierigen Namen wie Amobi behalten hast!" „Er ist
doch nicht schwierig für mich", sagte Azuka.
64 65
„Nein", sagte Katharina. „Genau wie Azuka, nicht wahr. Azuka hatte Sandwiches vorbereitet, die: Katharina
Jetzt ist dein Name auch nicht mehr schwierig für mich." eigentlich nicht mochte, weil sie das fade Weißbrot im
„Wie war's mit Nwokeke", sagte Azuka. „Oder Chukwudi Grunde nicht für essbar hielt. Sie schluckte ies aber hin-
oder Obiajulu." unter, und zusammen mit dem Tee war es genießbar.
„Wie war's mit Heidemarie oder Reinhard oder mit „Erzähl mir von Amobi", sagte Azuka, deir
Schwarzenberger", sagte Katharina. Katharinas Verstimmung anscheinend nicht
„Schwarzenberger", sagte Azuka, und es hörte sich grässlich wahrgenommen hatte. „Was soll ich erzählen?", sagte
an. Sie mussten beide lachen. Katharina und beschrieb lieber Lilian, wie sie sich quälte mit
„Warum aber Amobi und Azuka", sagte Katharina, „und ihrem dicken Bauch, auf den auch jeder gefälligst Rücksicht
nicht... na ... eben John oder Jim?" „Weil es was zu zu nehmen hatte. Sie versuchte Lilian nachzumachen, räkelte
bedeuten hat", sagte Azuka. „Was?", fragte Katharina. sich auf dem Stuhl und streckte den Bauch raus. Azuka
„Es könnte ein Zeichen dafür sein, dass die schien sich köstlich darüber zu amüsieren. „Solche
Familien besonders traditionell ausgerichtet sind", sagte Frauen kenne ich", sagte er. „Sie laufen auch in
Azuka. Also doch, dachte Katharina. „Ist das bei dir Scharen in Afrika nun und sind unerträglich. Eigentlich passt
auch so?", fragte sie. „O ja", sagte Azuka. „Deswegen das Benehmen besser zu Engländerinnen. Die brauchen
auch das Theater zu Hause wegen der aufgelösten nämlich mitten im tropischen Regenwald auch ihren Fünf-
Verlobung. So etwas tut man nicht, gerade wenn sich Uhr-Tee."
beide Elternteile einig waren. Alle paar Jahre geraten Azuka machte die Frauen nach. Er nahm den gezierten
wir wegen so etwas aneinander." britischen Tonfall an.
„Deine Eltern und du?" „James, darling", sagte er. „What about a cup of tea?" Und
„Mein Vater und ich", sagte Azuka. „Auch wegen meines noch besser: „Billy, dear, it's just too hot. I need my ice-
Studiums. Als ältester Sohn hätte ich eben Jura studieren cream now!"
müssen. Aber das hat mich einfach nicht interessiert. Bis „Das machst du wundervoll", sagte Katharina. „Du bist ein
heute hat mein Vater nicht akzeptiert, dass ich Mathematik geborener Schauspieler."
studiere. Ich hätte Rechtsanwalt werden und dann in die Azuka gab noch ein paar Einlagen. Er konnte den gepressten
Politik gehen sollen. Wie er." „Dein Vater ist Politiker?" indischen Akzent nachmachen, den breiten der Amerikaner
„Ja", sagte Azuka. „Und nein. Im Moment gibt es keine und auch Sätze mit deutscher Aussprache. Es hörte sich
Politiker, die die Macht haben. Das Militär regiert. Das heißt fürchterlich an, aber Katharina erkannte in der Betonung ihre
aber nicht, dass sich niemand für die Politik interessiert. halbe Schulklasse wieder. Es machte sehr viel Spaß.
Mein Vater jedenfalls ist ein Vollblutpolitiker. Und wenn du „Besonders gut bin ich bei Shakespeare", sagte
mal in unsere Region kommst und nach unserem Namen Azuka. „Das hab ich von meinem Großvater. Der kann bis
fragst... jeder wird dir sagen können, wo du uns findest." heute noch Shakespeare-Dramen auswendig zitieren."
Katharina konnte sich nicht vorstellen, nach Afrika zu fahren „Erzähl mir von deinem Großvater", sagte Katharina. „Er
und nach Azuka zu fragen. Sie wollte sich das auch nicht ist ungefähr achtzig Jahre alt", sagte Azuka, „und
vorstellen. Es klang, als ob alles schon vorbei war, was muss ein toller Bursche gewesen sein. Er ist als einziger aus
eigentlich noch nicht angefangen hatte. Sie hätte sich Azuka seiner Familie zur Schule gegangen. Freiwillig. Seine
als Fremden vorstellen müssen, und sie wünschte sich das Geschwister haben ihn gedeckt, haben es vor den Eltern
Gegenteil. Sie sah Azuka an. Die letzten Sätze standen geheim gehalten, dass er, statt die Ziegen zu hüten, in
zwischen ihnen und stießen sie auseinander wie die die Missionsschule gelaufen ist. Er ist Jurist
Stoßkraft des Magnetismus, und Katharina wusste nicht, wie geworden und mein Vater dann auch." „Die Tradition",
sie alles wieder in die Reihe bekommen sollte, und lächelte sagte Katharina.
halb. „Ja sicher", sagte Azuka. „So sollte es dann auch wei-
tergehen. Mein Großvater ist so traditionsbewusst, dass er
66 seine christlichen Namen, die er in der Missionsschule
bekommen hatte, später wieder abgelegt hat."
67
„Hasste er die Schule so?", fragte Katharina. „Nein", sagte
Azuka. „Er hatte der Schule viel zu verdanken. Es gab zurück. „Und?", fragte sie. „Hättest du keine Lust,
wirklich viele Europäer, die selbstlos arbeiteten, in allen Schauspieler zu werden?"
möglichen Institutionen. Es gibt sie auch heute noch. In Azuka grinste etwas spöttisch, sagte zuerst nichts und dann:
Schulen, in Krankenhäusern. Aber es gibt auch die „In Afrika wird man nicht Schauspieler." Er fügte hinzu:
Gegenseite." „Eigentlich auch nicht Mathematiker. Jedenfalls nicht so ein
„Ist deinem Großvater was Besonderes passiert?", Theoretiker, wie ich es bin." „Was für Theorien hast du?",
fragte Katharina. fragte Katharina. „Ich werde mich mit Operations Research
„Das kann man so sagen", sagte Azuka. „Irgendein briti- beschäftigen", sagte er. „Wenn du verstehst, was ich meine,
scher Beamter hat ihn mal gezwungen, sich vor ihm Frau Kollegin."
hinzuknien. Das war lange vor der Unabhängigkeit. Noch „Keine Ahnung", sagte Katharina.
vor dem Zweiten Weltkrieg. Einer von diesen „Ich werde eine Arbeit schreiben über den Einsatz von
Verwaltungsbeamten, die sie in die Kolonien geschickt Computern bei der Entwicklung von mathematischen
haben. Vielleicht ein Sadist. So einer in Khakiuniform und Verfahren zur Verknüpfung von Produktionsprozessen",
Tropenhelm. Und mein Großvater war schon als sagte er.
Rechtsanwalt zugelassen. Stell dir das vor. Dieser Mensch, „Hört sich ja grauenvoll an", sagte Katharina. „Man kann es
der alles aus eigener Kraft erreicht hatte, wird von so einer auch kürzer sagen", entgegnete Azuka. „Es heißt
Figur gezwungen, sich hinzuknien. Das hat er sein Lebtag Iterationsverfahren, aber so eine Dissertation muss immer
nicht vergessen. Bis heute kann er kein weißes Gesicht einen langen und präzisen Titel haben." „Es hört sich immer
sehen. Das heißt, er sieht sie ja und muss mit Weißen
umgehen. Aber er misstraut ihnen vollständig und hält sie noch scheußlich an", sagte Katharina. „Und ich dachte, ich
für von Grund auf böse." könnte Mathematik studieren. Ich mag Integral- und
Katharina rührte in ihrem Tee und fischte mit dem Löffel Differentialrechnung." „Da hört das lange noch nicht auf,
darin herum, obwohl es da nichts zu fangen gab. Sie sagte Azuka. „Aber du könntest ja Lehrerin werden. Dann
wusste beim besten Willen nichts zu sagen. wendest du die Mathematik, die du magst, ständig an."
„Vielleicht", sagte Katharina. „Ich weiß nicht. Bei uns an der
Es war spät geworden. Der Nachmittag war fast um. Schule sagt man, dass Mädchen, die Mathematik im
Azuka stand auf, kam zu Katharina und legte ihr Leistungskurs gewählt haben, selber aussehen wie ein
die Hand unter das Kinn. „So ist das nun mal", Integral." Azuka schob Katharina etwas von sich und
sagte er. betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Du siehst nicht aus wie
„Du solltest dich damit nicht belasten, Cathrin. Soll ich ein Integral", sagte er. „Nein, wirklich nicht." Dann zog er sie
wieder an sich, und Katharina wollte den Mund öffnen, aber
etwas Musik machen?" er sagte so etwas wie schsch, und dann schloss sie den Mund
Katharina zuckte mit den Schultern. Sie hatte wieder. Sie tanzten ganz langsam zu dem Lied von dem
eigentlich nichts vermisst, keine Hintergrundmusik oder Wunsch nach einem Lächeln. Aber eigentlich tanzten sie gar
nicht. Sie hielten sich nur fest, und Katharina musste immer
so etwas. auf den Sänger hören und fühlte Azukas Arme. Sie mochte
„Die Franck-Sinfonie?", fragte sie. es, ihn anzufassen, und wurde wie von selbst weniger steif.
„Wo denkst du hin?", sagte Azuka. „Dann bekommst du Mein Gott, dachte sie, ich bin gar nicht mehr bei Sinnen, was
vielleicht noch Depressionen." soll das Ganze, und war getroffen in Mark und Bein. Azuka
Er legte eine Platte auf, und es war eine so küsste sie, und sie wollte eigentlich was sagen und schnappte
schöne Melodie, die Katharina auch nicht kannte, und ein nach Luft, aber es war so, wie sie sich das immer vorgestellt
Sänger behauptete Yesterday's gone und forderte And all I hatte, ganz insgeheim, und wie sie das früher in
want is a smile. irgendwelchen dicken Büchern gelesen hatte. Es war ihr
Azuka zog Katharina von ihrem Stuhl hoch und fing an, bisher nie passiert. Blitz und
mit ihr zu tanzen. Wenn sie so etwas in irgendeinem Film 69
sah, fand sie das immer blöd. Mit Azuka war es nicht blöd,
aber sie machte sich trotzdem steif und versuchte
weiterzureden. Sie bog ihren Kopf etwas

68
Donner und Feuer und Flamme und alles auf einmal, und sie konnte. Aber am meisten Angst hatte sie vor sich selbst, weil
legte sich sanft hinein in diese Sache. Sie strich mit den sie die Sache mit Azuka wollte, unbedingt und
Fingern über Azukas Haar, dachte, darf ich das eigentlich, unaufschiebbar und natürlich für alle Ewigkeit. Am Morgen
und dachte, eigentlich darf ich jetzt alles, und fühlte sein schrieb sie einen Brief an Azuka. „Lieber Azuka, ich konnte
Haar, das sie an Amobi erinnerte, ein bisschen, dachte an die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich immer an dich
nichts, und es fühlte sich gut an, trocken und rauh und stark denken musste und auch an das, was du gestern gesagt hast.
und gut. Ganz tief innendrin musste sie es zu einem Lächeln Ich habe einfach Angst, wenn ich an uns denke, weil ich
gebracht haben. Sie fühlte sich sehr ruhig, sehr friedlich, gerne Zeit haben möchte und doch fühle, dass wir keine Zeit
sehr sicher. Später brachte Azuka Katharina nach Hause. Er haben. Ich habe Angst, alles zu überstürzen, weil ich weiß,
hielt vor dem Haus. dass ich alles überstürzen würde, sobald wir uns sehen. Ich
„Was ist mit Oliver?", sagte er und hatte die Frage doch denke deshalb, es ist das Beste, dass wir uns am Samstag
nicht vergessen. nicht treffen. Ich kann das alles nicht so ausdrücken, aber ich
„Nichts ist mit ihm", sagte Katharina, und so fühlte sie auch. hoffe, du verstehst mich." Katharina überlegte lange, ob sie
„Nichts ist, glaube ich." mit Cathrin oder mit Katharina unterschreiben sollte,
„Was ich meine, ist, dass ich niemandem, den ich kenne, das entschied sich dann für Cathrin und hoffte, dass Azuka den
Mädchen wegnehme", sagte Azuka. „Und ich meine, dass Brief ignorieren und sie anrufen würde. Am besten aber
ich alles tun werde, um diesem Oliver das Mädchen sollte er herkommen, hereinstürzen, sie in die Arme nehmen
wegzunehmen. Nicht wegen Oliver, natürlich, sondern und alle Angst wegstreicheln.
wegen dir, Cathrin."
Katharina fühlte sich ganz schwach und wusste gar nicht, Azuka meldete sich nicht.
worüber Azuka eigentlich redete. Oliver klang wie ein Name Katharina verbrachte ihre Zeit nun fast ausschließlich mit
aus einer fernen Welt, aus einer alten Kindergeschichte, und Amobi. Sie gingen Erdnüsse kaufen oder einfach um den
sie hatte wirklich nichts mehr damit zu tun. „Sehen wir uns Block herum. Amobi erzählte irgendwelche Geschichten,
am Samstag?", fragte Azuka, und Katharina nickte. irgendwelche Zeitungsberichte, und Katharina hörte nicht zu
„Du weißt", sagte Azuka, „dass ich dich gerne eher sehen und sah durch Amobi hindurch, auch wenn sie so tat, als
würde, aber es geht nicht, ich muss mich wirklich aufs sähe sie ihn an.
Examen konzentrieren. Falls was ist, kannst du mich ruhig Sie musste immer mehr an zu Hause denken und konnte sich
im London House anrufen. Die Telefonzentrale ist bis doch sich selber in alltäglicher Umgebung nicht vorstellen,
Mitternacht besetzt. Man kann dich also fast jederzeit mit jedoch auch nicht hier, im großen Lounge, und kam sich
mir verbinden." selbst fremd und geteilt vor und ganz und gar unwirklich.
„Ja", sagte Katharina und dachte nur daran, wie sie die Johns Cousin versprach ihr, einige Schallplatten zu schicken,
Woche rumkriegen sollte, und dann wünschte sie, dass sobald er wieder zu Hause sein würde. Er notierte sich ihre
Azuka nicht abfahren würde, dass sie hier sitzen blieben für Anschrift, und Katharina sah schließlich das Bild, sie in
immer und ewig, so zeitangehalten, aber Azuka legte leicht ihrem Zimmer Highlife hörend, unaufhörlich, und eine
den Arm um sie und küsste sie kurz zum Abschied, und ihr kleine Erinnerung mit sich tragend, und das für alle Zeiten.
war zum Heulen zumute. Das Bild machte sie traurig. Lilian und John zogen sie auf.
In der Nacht schlief Katharina nicht eine Sekunde lang. Sie Sie lachten über ihren Liebeskummer, wie sie es nannten,
wünschte sich sehr, mit Azuka zusammen zu sein, und hatte aber es war etwas ganz anderes. Katharina war wütend mit
gleichzeitig eine entsetzliche Angst, als ob sie vor einem sich selbst, weil sie den Brief geschrieben hatte, von dem sie
Riesenberg stünde, den sie nie erklimmen würde. Sie hatte jedes Wort meinte und nicht meinte, und allmählich stieg in
Angst vor sich selber und Angst vor Azuka, der ihr ihr auch eine Wut auf gegen Azuka, der den Brief gelesen
konsequent und geradlinig vorkam, und sie wusste nicht, und verstanden haben musste, wie er ihn eben nicht ver-
wie sie diesen Angstberg abschütteln stehen sollte. Und sie hasste ganz London.
70 71
Jeden Abend war das Apartment voller Leute, und Katharina Katharina das verkratzte Muster eines Linoleumbodens
konnte den Gesprächen nichts mehr abgewinnen. erkennen.
Francis war wieder aufgetaucht und bekniete Katharina, mit Aus riesigen Lautsprecherboxen schallte Rockmusik.
ihm auszugehen. Er schlug das Flamingo vor, irgendeinen Pärchen hatten sich gebildet, die sich langsam zu den
Nachtclub, und John behauptete, mit Francis auszugehen Rhythmen bewegten.
würde Katharina nicht in Schwierigkeiten bringen. Francis Francis legte seine Arme um Katharina und versuchte zu
bettelte und bettelte: „Nur auf einen Kaffee", und Katharina tanzen. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum
stimmte schließlich zu, ohne eigentlich irgendetwas inzwischen verloren. Draußen war ein Irrgarten aus Beton
entschieden zu haben. und Nacht. Es musste fast Mitternacht sein. Die Tanzenden
Noch im Treppenhaus bat Francis Katharina, seine Frau zu sahen sie an, so kam es ihr vor, wie jemanden, der nicht
werden, und sie zankten sich eine ganze Weile herum, weil hierher gehörte. Um sie herum dunkle Gesichter und
Francis Katharinas Gründe für die Ablehnung seines dunklere. Francis sagte etwas, das sie nicht verstehen konnte.
Antrages nicht verstehen wollte. Dann stand sie allein und dachte, was ist heute eigentlich für
„Ich kenn dich doch gar nicht", sagte Katharina, und Francis ein Tag, Sommer oder Winter, und wie viele Jahre sind
sprang ein paar Treppenstufen hinunter, drehte sich um und vergangen seitdem, und was seitdem bedeutete, fiel ihr auch
breitete die Arme aus. „Hier bin ich", sagte er. „Frag mich, nicht ein. Francis brachte einen Drink. Sie stellte das Glas
was du willst, ich erzähl dir alles über mich." auf einen der Stühle, und dann gingen sie gleich.
Es war ein sehr theatralischer Auftritt, der Katharina, wenn Wo um Himmels willen spielte sich das alles ab. In
sie ihn auf einer Bühne hätte sehen können, zu Lachsalven Francis' Auto dachte sie daran, an irgendeiner Kreuzung
gebracht hätte. Aber sie lachte nicht, sondern sah Francis an, herauszuspringen, aber die Stadt schien auf einmal
der ihr Leid tat, weil sie ihm alles, was er sagte, leer zu sein, und sie fürchtete sich vor der Leere noch mehr
komischerweise glaubte und der ihr deswegen wie jemand als vor Francis.
vorkam, der das Leben nicht kannte. Ein bisschen erinnerte
Francis sie auch an Oliver, und sie dachte, so ein Auftritt Francis bewohnte ein kleines Zimmer im ersten Stock eines
wäre ihm auch zuzutrauen, dieser Satz „Hier bin ich", den geklinkerten Hauses.
die ehrlichen Seelen aussprechen können, die alles Im Treppenhaus begegneten sie mehreren Leuten.
unkompliziert sehen und ohne an die Zukunft zu denken. Vermutlich waren alle Afrikaner. Francis war aufgekratzt.
Katharina aber litt fürchterlich, diese Ungetüme von Angst Die Leute hier schienen Freunde von ihm zu sein oder gute
und Sehnsucht vor den Augen, und ein bisschen beneidete Bekannte. Er begrüßte sie lauthals und stellte Katharina vor,
sie auch solche Leute wie Francis oder Oliver, die jeden und einer brachte ihm einen Teller mit einer riesigen Portion
Moment genießen konnten, ohne an den nächsten zu denken. Reis und Fleisch in einer roten Soße. Katharina, der man
Die Worte sagen wie „Hier bin ich" und Fragen stellen wie ebenfalls zu essen angeboten hatte, lehnte ab. Während
„Was willst du mehr?". Ja, vielleicht doch den Himmel auf Francis aß, blieb der andere im Zimmer und stellte Katharina
Erden. ein paar höfliche Fragen, wie um sie zu unterhalten, aber sie
Sie schüttelte den Kopf. „Aber Francis." Und dann ging sie blieb wortkarg, hatte überhaupt Schwierigkeiten, einen
mit, obwohl sie eigentlich auf dem Absatz kehrtmachen Gedanken zu fassen, aber sie wusste, sie musste hier so
wollte. schnell wie möglich raus. Das Zimmer war rasch von dem
Geruch der Mahlzeit erfüllt. Es roch gut und herzhaft und
Francis schleppte sie eher in eine dunkle Kaschemme als in eigentlich weniger fremd als in dem Apartment von John und
einen Nachtclub. Es war ein unauffälliger Eingang in einem Lilian. Und plötzlich war Katharina furchtlos. Vielleicht lag
Hinterhof, und rotes Licht erhellte zwei erbärmliche Räume es auch an Francis, der satt und zufrieden aussah, und sie
nur schwach. Stühle standen an den Wänden verteilt, billige dachte, jetzt hast du nur noch eine Aufgabe, nämlich heil
Holzsitze, und unter ihren Füßen konnte herauszukommen, und das möglichst schnell. Als Francis
mit dem Essen fertig war, saßen sie allein
72 73
im Zimmer. Er hatte sich auf die Couch, oder war es ein „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren", sang er.
Bett, neben Katharina gesetzt, hielt ihre Hand und begann Katharina flehte ihn an, und auf einmal sagte Randolph
von neuem die Tour vom Heiratenwollen. „Lass mir Zeit", Lewis, dass Azuka gar nicht da sei. „Ja wirklich", sagte
sagte Katharina, und als er den Arm um Katharina legte und er. „Ich habe ihn vorhin weggehen sehen. Was heißt
sie hart an sich drückte, sagte sie: „Morgen. Lass mir Zeit vorhin. Vor Stunden schon, und er wird sicherlich die
bis morgen. Ich bin einfach zu müde." ganze Nacht fortbleiben." „Wirklich?", fragte Katharina
Francis zögerte etwas, und dann spürte Katharina, wie die und fühlte so eine bodenlose Verzweiflung in sich.
Härte nachließ, und sie dankte insgeheim ihrem eigenen „Wirklich?" „Ja wirklich", sagte Randolph Lewis.
Gottvertrauen. „Ehrlich. Er ist überhaupt nicht greifbar. Es tut mir
„Morgen", sagte Francis, „morgen fahr ich nach schrecklich Leid." Katharina wurde dann ganz ruhig,
Leicestershire. Ich hol dich ab. Sieben Uhr. Ich und als Randolph Lewis ihr ein Angebot machte: „Können
werde vor deiner Tür stehen und warten. Morgen also." nicht wir beide... zusammen...", legte sie einfach auf. Na
„Ja", sagte Katharina, „morgen also", und hatte dann, dachte sie und musste ihren vagen, kühlen
einen vagen und kühlen Gedanken im Kopf. Gedanken doch verwirklichen. Sie ging die paar Schritte
zum Haus zurück, packte ihre Koffer und legte das Geld,
Es war mittlerweile fast Mitternacht. In der Wohnung war das sie für ihre Unterkunft schuldig war, auf den
alles ruhig. John und Lilian und Amobi schliefen schon. Küchentisch. „Liebe Lilian, lieber John", schrieb sie auf
Katharina hatte ihr Zeitgefühl zurückbekommen. Sie einen Zettel. „Es tut mir Leid, aber ich denke, es ist das
überlegte, ob sie von hier aus telefonieren könnte, entschied Beste, nach Hause zu fahren. Macht euch keine
sich dann aber, lieber niemanden zu stören, und schlich sich Sorgen. Und gebt meine Adresse auf keinen Fall an
aus dem Haus. Zum Glück gab es nachts nicht den Portier Francis weiter. Grüße an Amobi. Cathrin."
vor der Tür. An der Ecke zum Supermarkt stand ein
Telefonhäuschen. Sie rief London House an, und man
wollte sie verbinden, aber sie geriet an jemanden, dessen Draußen fiel nun ein leichter, nebeliger Nieselregen.
Stimme sie nicht kannte. Möglicherweise, ganz sicher sogar, Katharina fand, dass die Kulisse für ihr Vorhaben trefflich
war sie falsch verbunden worden, aber sie versuchte es gewählt war.
trotzdem und fragte nach Azuka. Ob sie ihn sprechen Sie musste nur wenige Augenblicke warten, dann tauchte ein
könne. Taxi auf, das sie mit einer Armbewegung anhielt. „Zum
Ob sie das könne, sagte der andere, das wisse er nicht, aber Flughafen", sagte sie, und der Fahrer schien sie nicht zu
sie solle sich doch selber fragen, dann wisse sie es. verstehen, sah sie entgeistert an, und Katharina stellte ihre
Katharina war zu nervös, um darüber nachzudenken, ob der Koffer ab, breitete die Arme aus und machte
Mensch ein Witzbold war. „Please", sagte sie. „Bitte Flügelbewegungen. „Airport", sagte sie. „Flughafen,
verbinden Sie mich doch mit ihm." Flugzeug, Heathrow Airport."
„Welchen Namen soll ich melden?", fragte er, und als er Schließlich schien der Taxifahrer sie ernst zu nehmen, ließ
ihren Namen erfahren hatte, sagte er: „Angenehm, Randolph sie einsteigen und fuhr mit ihr durch die Ewigkeit.
Lewis, können wir uns nicht zusammentun, ich bin heut
Nacht auch allein." Es war das erste Mal, dass Katharina eine Reise in einem
„Es ist dringend", sagte sie. „Bitte verbinden Sie mich
doch." Flugzeug machen wollte. Sie hatte sich das einfacher
„Woher kommst du denn?", fragte Randolph Lewis. „Bist du vorgestellt und gedacht, dass man von London aus zu jeder
vom Kontinent? Lass mich raten. Schweden?" Zeit in alle Welt fliegen könnte. Es war jedoch nicht so
„Germany", sagte Katharina, und Randolph Lewis flippte einfach, sie unterzubringen, und sie sollte Stunden warten,
fast ganz aus. bis man feststellen würde, ob die Maschine aus Montreal
sie aufnehmen könnte.
Sie lag in der Abfertigungshalle erschöpft in den Sesseln.
Ein britisches Ehepaar bot ihr unaufhörlich Apfelsinensaft
74 75
und Kekse an, fragte auch, ob sie genügend Geld habe, um
nach Hause zu kommen.
Katharina tat die Fürsorge gut. Und sie war im Nachhinein
den Eltern dankbar für das Extrageld, das sie ihr vor der
Abreise zugesteckt hatten und das für alle Fälle gedacht war.
Sie aß und trank, sah sich öfters um, ob nicht auch Francis
hier auftauchen würde, und fing schließlich mit brennenden
Augen an, vor sich hin zu dösen.
Um fünf Uhr morgens wusste sie, dass ihr ein Platz in der
Maschine aus Montreal sicher war, um sechs Uhr brachte
eine Stewardess sie als einzigen Passagier mit dem Bus
zum Flugzeug.
Sie hatte einen Fensterplatz bekommen und schaute hinaus
auf die silbernen Flügel der Maschine. Das Flugzeug fing an
zu zittern, zu beben, dann ein drohendes Motorengeräusch
wie eine Vorwarnung, schließlich drehte sich alles, der
Flugplatz, die Startbahn, bis die Maschine in Position stand.
Die Düsen röhrten, sammelten Kraft, und dann zogen sie ab
wie vom Flitzegummi geschossen. Noch Bodenberührung.
Die Nässe auf dem Boden wie Gischt. Und schließlich
zwischen Himmel und Hölle, auffahrend, auffahrend. Durch
Nebel, durch Wolken, und dann doch der Himmel und wie
Gold das Morgensonnenlicht. Der reinste Kitsch, das Blau,
das Weiß, das Gold, und die Wolken wie Watte und das
Flugzeug ein Spielzeug. Mein Gott, ist das schön, dachte
Katharina und guckte und guckte und vergaß die Tage und
Wochen und Geschichten und flog so einfach nach
Hause.

76
„Erzähl mal", sagte die Mutter. „Oder lieber nicht. Ich
KAPITEL 4 glaube, ich rege mich noch im Nachhinein auf. Oder lieber
doch. Erzähl mal alles."
Katharina nahm sich ein Brötchen, schnitt es auf und
schmierte dick Butter und Erdbeermarmelade auf die
Hälften. Ihr kamen dieses frische Brötchen auf dem
Frühstücksteller und der noch duftende Kaffee wie ein
Die Mutter war über Katharinas unerwartete Ankunft Stillleben vor, eine Idylle, und kurz dachte sie, dass dieser
erschrocken und erleichtert zugleich. Moment so vollkommen irreal war wie die ganzen letzten
Der Vater fühlte sich gestört, aber das hatte Katharina Wochen, zumindest so vergänglich. Sie war von einer
erwartet, denn nichts auf der Welt hasste der Vater mehr als plötzlichen Trauer erfüllt. Sie hätte gern etwas Greifbareres
eine Unterbrechung des alltäglichen Ablaufs, und Katharina in den Händen gehabt, ein Stück wirkliches Leben, aber ihr
war eben nicht für heute erwartet. Sie war zu Hause war, als stünde sie außen vor, als Zuschauerin irgendwie,
eingetroffen, noch bevor der Vater das Haus verlassen hatte, und alles spielte sich anderswo und ohne sie ab, und selbst
um in die Firma zu gehen, die nicht weit entfernt in einem die Fragen der Mutter brachten sie nicht zurück ins Dasein.
Gewerbegebiet lag. Der Vater war von Grund auf ein So erzählte sie eine Geschichte, die ihr spannungslos vorkam
Ordnungsfanatiker, und sein Beruf als Lagerverwalter kam und von der sie den Eindruck hatte, dass sie das Wichtigste
seiner Neigung entgegen. Seine Pedanterie hatte auch gute vergessen hatte, aber die Mutter war zufrieden, umarmte
Seiten. Man konnte sich auf ihn verlassen. Wenn er „neun Katharina, küsste sie, wie um sie zum Leben zu erwecken.
Uhr" sagte, dann hieß das auch neun Uhr, und wenn er „ja" Der Kaffee versetzte Katharina in einen Zustand noch
gesagt hatte, hielt er diese Zusage, auf Biegen und Brechen größerer Müdigkeit. Sie ließ sich, so wie sie war, ins Bett
und wenn es ihn den Kopf kosten sollte, selbst wenn sich die fallen, das nach frischem Wind roch, und als sie
Dinge inzwischen verändert oder sich sogar als falsch spätnachmittags aufwachte, war sie klar im Kopf. Sie wusch
erwiesen hatten. sich, biss in einen Apfel, dessen Säure ihr die Schleimhaut
Katharina war heute zum Frühstück nicht eingeplant, und im Mund zerfraß, dass sie sich klinisch sauber vorkam. Dann
der Vater verschob Katharina gewissermaßen auf den setzte sie sich aufs Rad, um zu Oliver zu fahren.
Feierabend, sprach kein Wort und las, wie immer, die Diese Luft. Diese Landschaft. Sie liebte den Geruch des
Zeitung, während die Mutter gleichzeitig den Vater bediente Dorfes und verstand den Vater, der nichts verändert haben
und Katharina mit halben Sätzen ausfragte. Endlich war der wollte. Katharina trat tüchtig in die Pedalen. Mit
Vater, dann doch später als gewöhnlich, gegangen, und die Verwunderung und Erleichterung stellte sie fest, wie einfach
Mutter setzte sich. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet, das Leben doch sein konnte.
und auf ihrer Oberlippe hatten sich feine Schweißperlen Oliver war noch nicht zu Hause. Seine Mutter erwartete ihn
gebildet. aber jede Sekunde. Sie war fast genauso aufgeregt wie
„Na, dann ist ja alles gut", sagte die Mutter, und Katharina Katharinas Mutter, umarmte sie sprachlos und führte sie in
nickte. „Mein Gott, bin ich froh", sagte die Mutter. „Das war Olivers Zimmer, wo Katharina sich auf sein Bett setzte. Den
das einzig Richtige, was du da gemacht hast. Manchmal Rücken an die Wand gelehnt, sah sie auf die Tür, durch die
muss man fortlaufen, wenn's brenzlig wird. Hör da nicht auf Oliver gleich kommen musste. Als Oliver Katharina
den Papa. Der würde alles durchstehen. Bis zum bitteren entdeckte, sah er glücklich aus, was Katharina fast
Ende. Mein Gott, ich bin froh, dass du wieder da und noch unerträglich fand. Sie schämte sich für ihr Gefühl, und als er
heil bist." „Was sollte mir schon passieren?", fragte sich dann neben sie auf Bett setzte und sie umarmte, drückte
Katharina, die es plötzlich dumm fand, so einfach abgehauen sich Katharina fest gegen ihn. „Na, Schatz", sagte er und
zu sein. Es war auch ein bisschen feige gewesen. wiegte Katharina wie ein Baby. Sie kam sich
wunderbar getröstet vor und
100 101
wusste doch nicht, weshalb, und dann setzte sie sich gerade ein Schlüsselwort wie aus einem Märchen, und sie sah die
und erzählte ihm die Geschichte, wie sie es auch bei der Mutter an, der so was wie blanke Angst in den Augen stand,
Mutter getan hatte, und Oliver lächelte väterlich. und sie drehte sich um, weil sie mit sich selbst allein sein
Olivers Mutter bat Katharina, doch zum Essen zu bleiben. wollte und mit dieser Botschaft. Und dann schoss in ihr doch
Sie trug eine weiße Schürze, als ob es Sonntag wäre. In den so was wie Glück hoch, und es war etwas ganz anderes als
Händen hielt sie ein kleines Gemüsemesser, mit dem sie das, was sie gestern versucht hatte zu definieren. Es waren
grüne Bohnen geschnippelt hatte, und Katharina fiel die dreihundert-fünfundsechzig Gefühle auf einmal, und sie
kolossale Ähnlichkeit zwischen beiden Müttern auf, obwohl wurde ruhig und aufgeregt zugleich, und was immer das
sie ganz unterschiedliche Gesichtszüge hatten. alles zu bedeuten hatte, sie wollte es wirklich und dringend
Katharina dankte, weil ihr das alles heute zuviel vorgekom- und gleich.
men wäre, und grüne Bohnen mochte sie sowieso nicht. Sie
wollte nach Hause, wo sicherlich nicht mehr viel passieren „Liebe Cathrin", schrieb Azuka. „Ich weiß nicht, warum du
würde, außer dass der Vater sie ansehen und ihr zunicken London so plötzlich verlassen hast, und man gibt mir die
würde. „Na?", würde er sagen, und das war dann alles, Schuld daran, jedenfalls Johns Frau, mit der ich mich vorhin
und es war gut so. unterhalten habe, und eigentlich fühle ich mich nicht
Sie verabschiedete sich von Oliver, dem das Glück aus den schuldig, nur ein bisschen traurig, dass du dich vor deiner
Augen sprang. Abreise nicht mehr hei mir gemeldet hast.
So viel Glück verdient er gar nicht, dachte Katharina und Dein Brief hatte mich schon etwas enttäuscht, auch verstand
konnte ihn nicht ansehen und wollte gleichzeitig, dass auch ich ihn nicht, deine Ängste, denn ich dachte, wir könnten uns
bei ihr das aufkam, Glück, weil das normal war, wenn man alles sagen. Ich hatte mich dann voll auf meine Arbeit
jemanden wie Oliver hatte, und sie dachte, fängt das schon konzentriert und wollte nicht ständig alles hinterfragen.
wieder an, diese Unruhe, was willst du eigentlich, Glück ist Vielleicht habe ich mich auch geirrt, dachte ich. Du weißt,
das, was dir nicht weh tut, was du in Händen hältst, und sie ich bin da im Moment etwas allergisch. Vorhin, als ich nach
musste an die Mutter denken und an Olivers Mutter und an Cambridge fahren wollte, wo ich eine Menge regeln muss,
die grünen Bohnen, und das alles tat ihr doch weh. Oliver kam mir der Gedanke, dass du vielleicht gerne mitfahren
küsste sie leicht zum Abschied. „Bis morgen, Schatz", sagte würdest. Cambridge ist eine wunderschöne Stadt. So fuhr ich
er. „Ich bin froh, dass du wieder da bist." Und „Ja", sagte bei John vorbei, und Lilian hielt mich über eine Stunde fest
sie. „Ja, ja, ja." und machte mir Vorwürfe.
Dann fuhr sie davon, drehte noch eine Extrarunde mit dem Ich kann mir nicht vorstellen, dass du meinetwegen die Stadt
Rad, außen rum ums Dorf, und immer kamen ihr diese verlassen hast. Ich wollte dir nicht wehtun, ich denke auch,
grünen Bohnen in den Kopf. Das, dachte sie, werde ich dass ich das nicht getan habe. Bitte, erzähl mir, was passiert
mein Lebtag nicht vergessen. ist. Auch hoffe ich, dass die Zeit, die wir bisher zusammen
verbracht haben, nicht alles ist, was uns beide verbindet.
Zwei Tage später, nachdem sie früh wach geworden war, Denn ich habe dich sehr gern. Ich möchte dich bald
arbeitete Katharina etwas in ihrem Zimmer, versuchte, schon Wiedersehen. Dein Azuka."
an die Schule zu denken, aber sie brachte nichts Richtiges
zu Stande. „Lieber Azuka." Katharina setzte sich sofort hin und schrieb.
Gegen Mittag war der Postbote gekommen, und die Mutter, „Lieber Azuka. Ich kann dir gar nicht beschreiben, was ich
die plötzlich wie vorgestern aussah, so erhitzt, verschwitzt, empfand, als ich deinen Brief erhielt. Glück, glaube ich.
brachte Katharina den Brief aufs Zimmer. Katharina nahm Ich war sehr enttäuscht, als du dich auf meinen Brief hin
ihn, hob und senkte ihre Hand, als ob sie den Brief wiegen nicht gemeldet hast. Ich weiß, es war ein komischer Brief,
wollte. Sie sah auf die Marke, und ihr war, als hielte sie aber ich konnte das nicht anders ausdrücken.
eine Botschaft in der Hand,
102 103
Dass ich London verließ, hat nichts mit dir zu tun. Lilian hat unter, sprang über die Stufen und war schließlich unendlich
das eigentlich wissen müssen. Ich hoffe auch, dass wir uns froh, das Freie erreicht zu haben.
Wiedersehen können. Vielleicht erzähle ich dir dann alles.
Ich hatte übrigens versucht, dich vorher anzurufen. Aber du Die Mutter hatte dem Vater wohl alles erzählt, aber er
warst nicht da. Das hat mich auch enttäuscht. reagierte nicht, wahrscheinlich war nicht mehr als
Ich habe dich auch sehr gern. Die Stunden mit dir gehören zu ein Schulterzucken zu sehen gewesen.
den schönsten Dingen, die ich je mitgemacht habe. Es ist so, Es war fast wie immer. Sie aßen zu Abend, und
als ob ich von der Erinnerung daran leben könnte. Seitdem der Fernsehapparat lief, aber Katharina war nicht bei
dein Brief da ist. Ich denke, dass ich dich in den Herbstferien der Sache und die Mutter wohl auch nicht. Nur der
sehen kann. Im Oktober. Und jetzt muss ich erst einmal einen Vater ließ einige Geräusche hören, die besagten, dass
schweren Gang tun. Du hattest, als wir zusammen waren, er am Weltgeschehen teilnahm.
nach Oliver gefragt. Die Sache mit Oliver ist ja nun zu Ende. Die Mutter sah wie beleidigt aus. Ihre Nervosität
Ich werde heute zu ihm gehen und das erklären. Ich bin war verflogen, auch die Röte und ihr Schwitzen. Sie
überaus glücklich, dass du geschrieben hast, und ich bin schien ruhig, aber so, als ob sie ihr Todesurteil
deine Cathrin." vernommen hätte. Und Katharina, die vor Glück nicht
wusste, wohin mit sich selbst, war wütend auf die Mutter,
Katharina setzte sich nicht auf das Bett in Olivers Zimmer. die ihr Glück nicht verstand, nicht verstehen wollte, ihr
Sie zog den Stuhl vom Schreibtisch heran und hockte sich dieses Schweigen entgegenbrachte.
vor Oliver, um ihm alles zu erklären. Olivers Eltern waren Erst in der Küche, beim Aufräumen und Saubermachen,
nicht da. Es war still in der Wohnung, und auch Oliver sagte konnte die Mutter nicht anders und öffnete den
nichts. Das Glück, das ihm gestern noch in den Augen stand, Mund. Zuerst flüsterte sie vor sich hin, und dann
war gestorben, und er kam Katharina wie ein Fremder vor, so sprach sie in die Luft hinein.
dass sie nicht wusste, was sie eigentlich noch bei ihm sollte. „Was ist?", fragte Katharina, während sie die Teller
Oliver selber wirkte eben auch wie tot, und das tat Katharina in den Geschirrspüler packte.
schon wieder ein bisschen Leid, und sie hoffte, dass ihr so „Nichts, nichts", sagte die Mutter und sah immer noch
was nie im Leben passieren würde, so sitzen gelassen zu wie tödlich getroffen aus.
werden, auf irgendeinem Bett in irgendeiner stillen Katharina meinte, eher Grund zum Eingeschnapptsein zu
Wohnung. haben, weil sie heute Mittag schon ein Gespräch geführt
Es war eine unmögliche Situation, und Katharina stand auf, hatten, von dem Katharina nicht viel behalten hatte, aber
um das alles zu beenden, was ja schon beendet war. was hängen geblieben war, war ein Wust von
Oliver brachte sie hinaus bis ins Treppenhaus. Sie ging ein Worten, die im Einzelnen sie schon vergessen, die
paar Stufen hinunter und drehte sich um. Ihr fiel auf, dass die sich aber in sie gebohrt hatten wie eine schlechte
Brille, die er manchmal trug und die er auch jetzt aufhatte, Krankheit.
ihm überhaupt nicht stand. Oliver hatte den Mund leicht „Ich mein ja nur ...", sagte die Mutter. Sie hielt
geöffnet. Und auf einem seiner Schneidezähne war eine Spur aber in ihrer Arbeit inne und drehte sich um, und
von Blut. Sie musste immerzu draufschauen, als ob das das Katharina richtete sich auf. Sie standen sich gegenüber
Wichtigste an Oliver wäre und das Widerlichste zugleich. Er und sahen sich halb an und halb aneinander vorbei.
stand oben auf dem Treppenabsatz und wirkte so viel größer „Du hast mich missverstanden", sagte die Mutter.
als sie. Sie konnte es nicht mehr ertragen, dieses halbe „Ich weiß, was du verstanden hast. Ich weiß es,
Lächeln auf seinem Gesicht, diese Zähne mit der Blutspur, weil ich gesehen habe, wie du deine Faust gemacht hast.
und sie drehte sich wortlos um, rannte hin- Du hast so eine Faust gemacht, und das gegen deine Mutter,
aber ich habe nicht ... wie heißt das ... ich habe nicht
Nigger gesagt, sondern Neger, und das darf man doch, was
soll ich sonst sagen, das darf ich doch noch!"
Dann sah die Mutter weg von Katharina und auf
die Ecke, in der das Regal hing mit dem Efeutopf und
der Sammlung von Keramikfröschen.
104 105
„Was ich meine, ist, dass du dann weit weg bist, „Und die Oma sagt auch, dass die da immer Messer mit sich
so weit weg, und überhaupt", sagte sie. „Ich weiß nicht, rumtragen", sagte die Mutter. „Ich habe sie vorhin
was du meinst", sagte Katharina. „Wenn du heiratest", angerufen. Ich muss ja mal mit einem Menschen darüber
sagte die Mutter. „So endlos weit weg. Ich weiß reden können. Und die versteht das auch nicht. Jedenfalls
nicht, wie viel tausend Kilometer, fünf oder zehn sagt sie, die rennen immer mit Messern durch die Gegend,
oder zwanzig oder am Ende der Welt." „Hör doch auf die da unten, die Türken auch, das hat sie in der Zeitung
damit", sagte Katharina. „Wer redet denn schon vom gelesen, und ob du so was wirklich gut findest."
Heiraten. Ich bin mit ihm befreundet, und vielleicht „Was für'n Quatsch ihr redet", sagte Katharina. „Weißt du,
wird es eines Tages aus sein, das ist doch vorher wir sprechen jetzt nicht mehr darüber. Das ist am besten."
auch schon mit mir passiert, Oliver und so, also, mach dir „Du machst ja doch, was du willst", sagte die Mutter. „Ja
doch nicht so komische Gedanken." „Die mach ich mir eben", sagte Katharina.
aber", sagte die Mutter. „Weil ich weiß, dass es so „Und wie soll das weitergehen?", fragte die Mutter.
kommen wird, das spür ich, ich weiß das eben." „Was heißt weiter?", sagte Katharina. „Im Oktober fahr
„Na dann weißt du es eben", sagte Katharina. „Und ich habe ich hin."
mir das mit dir immer anders vorgestellt", sagte die Mutter. „Wie?", fragte die Mutter. „Was heißt das?" „In den
„Man soll doch immer seinen Lebensstandard verbessern, Herbstferien", sagte Katharina. „Ich denk, ich fliege.
das sollte doch das Ziel sein, dass es einem besser geht, und Ich hab nur eine Woche Zeit. Da flieg ich am
nun so was." „Du kennst doch gar nicht seinen besten."
Lebensstandard", sagte Katharina. „Und außerdem, dein Ziel „Du hast dir schon alles ausgedacht", sagte die Mutter. „Und
muss doch nicht mein Ziel sein." das kostet doch was. Wer soll denn das bezahlen?" „Ich",
„Das kennt man doch alles vom Fernsehen", sagte die sagte Katharina. „Ich hab noch Geld. Von der Oma zum
Mutter. „Wie es da unten aussieht. Und Hunger und Dreck Geburtstag. Und mein Sparbuch. Und ich könnte wieder
und Krankheiten. Die sterben doch da unten wie die Fliegen. Nachhilfestunden geben. Also, hin fahr ich auf alle Fälle."
Ich bin ja auch dafür, dass man hilft, ja wirklich, die können „So hast du dir das also gedacht", sagte die Mutter.
ja oft nichts dafür, und ich habe ja auch nichts dagegen, dass „Ja", sagte Katharina. „So habe ich mir das
man mit ihnen befreundet ist, ja wirklich, Freundschaft ist gedacht. Aber denk du nur, was du willst. Denk
eine gute Sache, du kannst wirklich mit ihnen befreundet doch einfach: Aus den Augen, aus dem Sinn. Ihr habt
sein, aber doch nicht mehr." doch immer so Sprüche für alle Gelegenheiten. Denk das
„Wieso eigentlich nicht?", fragte Katharina. „Weil ...", sagte doch einfach." Aber es fiel der Mutter wohl schwer, so zu
die Mutter. „Weil ..." Und dann zuckte sie mit den denken. Sie sah unglücklich aus, viel älter als sonst und
Schultern. „Weil ... jeder sollte sich eben an seinesgleichen wie krank. „Der Papa sagt ja nichts", sagte sie. „Aber
halten, weil das so ist, dafür hat der liebe Gott das so denk nicht, dass der keine Meinung hat. Der wird auch seine
gemacht, dass die Menschen unterschiedlich sind, das ist ja Gedanken haben. Der sitzt nur still da und denkt sich
nicht umsonst so, und deswegen eben." was." „Ja", sagte Katharina. „Und?" „Ich mein ja bloß",
„Du redest wie die Leute in Südafrika", sagte Katharina. sagte die Mutter. Katharina hatte die letzte Schüssel in
„Du redest genauso dummes Zeug." den ausgefahrenen Korb gelegt. Sie schüttete
„Ich weiß nicht, was die da reden", sagte die Spülmittel in den Behälter, schloss die Tür und stellte
Mutter. „Ich kenn mich da nicht aus. Ich sage dir den Geschirrspüler an. Es wurde laut in der Küche. Die
nur meine Meinung, und das darf ich ja wohl noch." Maschine gurgelte und saugte und rührte und rauschte.
„Jetzt hast du sie gesagt, und damit hat sich das Man konnte kein bisschen mehr verstehen. Die Mutter und
für mich", sagte Katharina. Katharina verließen die Küche, und beide sahen so
aus, als ob sie froh wären, dass das Reden
unmöglich gemacht war.
106 107
Trotz allem fühlte sich Katharina in den letzten Ferientagen tem an, gleichzeitig mit drohendem und flehendem
wie im Paradies. Sie lebte mit Azuka an ihrer Seite, sprach Gesichtsausdruck.
mit ihm, legte ihr Gesicht an seins, spürte seine Wärme, „Du gehst jetzt mit einem Inder?", fragte Claudia, mit der
seine Arme. Damals, in London, nach dem zweiten Treffen Katharina etwas befreundet war und die anscheinend alles
mit ihm, hatte sie das nicht ausgehalten, diese Gefühle, und falsch mitbekommen hatte. „Nein", sagte Katharina. „Wie
sie hatte ihm diesen Brief schreiben müssen. Jetzt hielt sie kommst du drauf?" „Das erzählt man sich so", sagte Claudia.
das ganz gut aus. Sie war am Schweben, und ihr war, als ob „Wie ist denn das passiert? Hast du den bei den Leuten
ihr nichts mehr irgendwas anhaben könnte. kennen gelernt, bei denen du gewohnt hast? Das waren doch
An einem Nachmittag spielten sie ihr Lied. Yesterday's gone Inder, oder nicht?"
and all I want is a smile. Sie rief die Mutter. „Unser Lied", „Er ist kein Inder", sagte Katharina. „Er ist Afrikaner." „O
sagte sie. „Das haben sie gespielt, damals ... als ..." Gott", sagte Claudia. „Deine Eltern!" Claudia war nicht das,
Die Mutter sah sie an mit großen, geweiteten Augen und was man als Katharinas beste Freundin bezeichnen konnte,
ging wieder hinaus zu ihrer Gartenarbeit, von der Katharina aber sie saßen manchmal nach der Schule im Cafe
sie gerufen hatte. zusammen und erzählten sich schon mal was in den
Katharina hätte das wissen müssen, die Reaktion der Mutter, Unterrichtspausen. Claudia war anders als die anderen. Sie
schob sie aber weit von sich und aus ihrem Blickfeld, aus hielt sich sehr zurück, und sie war auch mit keinem der
dem Gedächtnis heraus, und ließ sich durch die Musik Jungen befreundet. Es ging das Gerücht, dass man sehr
zurücktragen in Azukas Zimmer, war ihm ganz nah, fühlte schwer an sie rankam, und auch Katharina hatte das Gefühl,
ihn. Und eines Tages kam noch ein Päckchen aus Afrika. immer wieder an eine Mauer zu stoßen. Manchmal war
Johns Cousin hatte Schallplatten geschickt und ein Claudia ausgesprochen albern und witzig, und Katharina
postkartengroßes Foto mit einer Widmung. „Ist er das?", dachte, sie habe eine Tür aufgestoßen, aber dann war es, als
fragte die Mutter. „Nein", sagte Katharina. „Das ist er nicht." ob ein Vorhang fiele.
Sie legte die Platten auf, im Wohnzimmer, und sie hörte Trotzdem unterhielt Katharina sich gern mit Claudia, und
Highlife, eine Platte nach der anderen, und es versetzte sie jetzt, als sie in der Schule ziemlich abseits stand, blieb
total in den Lounge von Johns und Lilians Apartment. Sie ihr auch nicht viel mehr an Kontakt übrig. Oliver mied
saß vor dem Apparat wie der Cousin, versunken in die sie wie die Pest, und den anderen Jungen kam sie
Melodie, und ihr war, als ob sie wieder den Geruch anscheinend exotisch vor.
wahrnähme, diesen fremden und vertrauten Geruch der Nach den ersten Tagen, in denen man noch Neugier gezeigt
Londoner Wohnung. hatte, war Katharina kein Thema mehr, auch nicht ihr Inder,
Die Mutter hatte einen Moment lang starr zugehört, dann hartnäckig hatte sich aber die Aussage gehalten, dass es
aber das Zimmer verlassen, und Katharina nahm später die ein solcher war.
Platten mit hinauf auf ihr Zimmer. Sie konnte sie Da Azuka sowohl in der Schule als auch zu Hause kein
stundenlang abspielen, und solange die Melodien zu hören Gesprächsthema war, brannte Katharina drauf, irgendje-
waren, diese Trompeten, solange betrat die Mutter auch mandem von ihm zu erzählen, und die Einzige, die zuhören
nicht Katharinas Zimmer. konnte, war Claudia, mit der sie jetzt wieder im Cafe saß.
Es machte Katharina nichts aus. Denn eigentlich war sie in „Na ja", sagte Claudia. „Was hier so in der Schule rumläuft,
ihrem Leben immer einsamer gewesen als gerade jetzt in ist sowieso alles indiskutabel. Sie sind so kindisch. Ich kann
diesen Tagen. mir nicht vorstellen, mit einem von ihnen was
anzufangen."
In der Schule wussten alle schon nach kurzer Zeit Bescheid. „Ich kann es mir schon vorstellen", sagte Katharina. „Ich
Oliver musste alles gleich berichtet haben. Überhaupt rannte war ja lange genug mit Oliver zusammen. Fast ein
er rum, dass man seinen verletzten Stolz bemerken konnte. Dreivierteljahr. Aber jetzt ist das was ganz anderes. Wenn es
Er sah Katharina nur von wei- so was gibt, dann ist es Glück. Ich bin einfach glücklich."
108 109
„Wie schön für dich", sagte Claudia. „Aber das ihrem Kaffee und starrte in die Tasse. Der Löffel kratzte am
wird sich legen. Du kennst ihn ja noch gar nicht." „Ich Boden, und es machte Katharina nervös. Claudia hatte sich
glaube nicht, dass sich das ändern wird", sagte wieder in sich selbst zurückgezogen, hielt sich am Löffel fest
Katharina. „Ich habe das Gefühl, dass ich ihn und an den Zigaretten, die sie pausenlos rauchte. Es war, als
schon ewig kenne." habe sie den Vorhang fallen gelassen.
„So genau wirst du einen anderen nie kennen", sagte
Claudia. „Du denkst, alles ist klar, und eines Tages stellt sich An einem Samstag weckte die Mutter Katharina früh.
doch heraus, dass du dich geirrt hast. Und dann stehst du da „Oliver ist da", sagte sie, und Katharina fuhr erschreckt
und meinst, Zeit verschenkt zu haben." Katharina hatte das hoch, auch ein bisschen wütend, weil sie samstags, wenn
Gefühl, dass Claudia über was ganz anderes sprach. „Ich schulfrei war, gerne länger schlief.
rede vom Anfang", sagte sie. „Es hat doch gerade erst Katharina ging ins Bad, beeilte sich, dachte, was will denn
begonnen, und mir ist es ziemlich egal, wie es weitergeht, der, wusste nicht, ob sie sich extra schön oder extra hässlich
wie es endet, und wenn es nur kurze Zeit dauert, aber ich zurechtmachen sollte.
wünschte mir, es wäre die Ewigkeit." Später saß sie mit Oliver im Wohnzimmer und kam sich wie
„Mensch, wach auf, sagte Claudia. „Du wirst das gar nicht Besuch vor.
aushalten. Du hast da was im Kopf, das keine Realität ist. Oliver trug seine Tweedjacke. Er hatte sie im Frühjahr neu
Realität ist, dass du und er verschieden ausseht. Das heißt, gekauft, Katharina erinnerte sich daran, wie er mit seiner
wo immer du mit ihm zusammen auftauchst, sehen sich die Mutter nach Frankfurt gefahren war und wie sie insgeheim
Leute nach euch um." „Die Leute, die Leute", sagte gelacht hatte, dass er seine Mutter für den Einkauf brauchte.
Katharina. „Die Leute sind mir egal." Vom nächsten Tag an trug er diese Tweedjacke, täglich, und
„Aber du selbst", sagte Claudia. „Wenn du ihn ansiehst. sie war der vorhergehenden, die er bis dahin ständig
Du musst doch sehen, dass er schwarz ist." „Na und", angehabt hatte, so ähnlich, dass man einen Unterschied
sagte Katharina. eigentlich nicht merkte. Katharina fiel diese Jacke heute
„Das muss dir doch eines Tages auf die Nerven gehen." besonders auf. Sie wusste nicht, warum. Es war, als ob sie
„Wieso sollte es das?" „Weil er eben anders ist als einen alten Film wiedersähe und sich nicht darin
andere." „Wieso?", fragte Katharina. „Es gibt Millionen wiedererkennen könnte. Ihr fielen eine Menge Dinge an
Schwarze auf der Welt." Oliver auf. Er hatte eng beieinander stehende Augen, und
„Auf der Welt", sagte Claudia. „Aber nicht in deiner Nähe. seine blonden Haare hatten gar keinen Schnitt. Halbe
Du bist das nicht gewöhnt. Wenn du ihn ansiehst, ist er eben Locken, mit denen er nichts anzufangen wusste. Die Nase
anders als andere. Für dich. Er ist schwarz!" „Wenn ich ihn war ein bisschen schief und die Finger zu kurz. Wieso hatte
ansehe", sagte Katharina, „dann ist er er." sie ihn immer für gut aussehend gehalten?
„Willst du sagen, dass du nicht siehst, dass er schwarz ist?" „Ich wollt dich noch mal fragen, ob du nicht zu mir
„Ja und nein", sagte Katharina. „Was ich meine, ist, dass er zurückkommst", sagte Oliver.
Azuka ist und nicht schwarz oder gelb oder grün. Ja, in dem „Warum sollte ich?", fragte Katharina. „Es ist doch alles
Sinn sehe ich es. Wenn ich dich ansehe, sehe ich ja auch klar."
dich und nicht jemand, die gerade beim Friseur war und die „Vielleicht gibst du mir seine Adresse", sagte Oliver.
Sommersprossen auf der Nase hat." „Dann könnte ich ihm schreiben."
„Gott bewahre dir deine himmelhohe Naivität", sagte Katharina musste lachen. Sie versuchte, das Glucksen zu
Claudia, verzog den Mund, nicht ironisch, nicht bedauernd, unterdrücken. „Was willst du ihm denn schreiben?", fragte
Katharina wusste nicht, wie. Dann rührte Claudia sie.
in „Dass er dich freigeben soll", sagte Oliver. „Was redest
du für einen Quatsch", sagte Katharina. „Das ist doch
hirnrissig, was du da sagst." „Aber wir waren doch
glücklich miteinander", sagte Oliver.
110 111
„Und wir könnten wieder miteinander glücklich werden." „Er könnte ja Aids haben, nicht wahr", sagte er. „Und wenn
„Und das willst du ihm schreiben?" „Ja", sagte Oliver. du krank wirst, was dann, dann brauchst du doch jemand."
„Und du glaubst, dass das so einfach ist", fragte Katharina. „Himmel, was du für Gedanken hast", sagte Katharina.
„Du glaubst wirklich... also angenommen, er sagt, du kannst „Ja, die hab ich,", sagte er. „Oder hast du mit ihm über so
mich haben ... du glaubst wirklich, ich würd das machen?" was gesprochen?" „So was?"
„Wir waren doch glücklich zusammen", sagte er, „Über Aids", sagte Oliver.
und Katharina musste ihn genauer ansehen, weil sie das, was „Hab ich mit dir über so was gesprochen?", fragte Katharina.
er sagte, nicht fassen konnte, einfach nicht glaubte. „Es „Das ist ja wohl auch was anderes", sagte er. „Wieso
ist vorbei", sagte Katharina. „Kapier das doch endlich. Ich ist das was anderes?", fragte Katharina. „Weil die eben
will nicht mehr. Ich! Ich!" Aids haben", sagte Oliver und war sehr laut. Sein
„Ich versteh das alles nicht", sagte Oliver. „Wir könnten Gesicht war rot und die Augen auch, und er schrie und
wieder von vorn anfangen. Ich bin sicher, auch du könntest schrie. „Die haben doch alle Aids, die haben ja alle Aids."
das." Katharina stand auf und ging zur Tür, und Oliver kam ihr
„Ja, meinst du, ich renne einfach von einem zum anderen, so nach und hörte nicht auf zu schreien, schrie seine
einfach mir nichts, dir nichts?", sagte Katharina. „Meinst du Verzweiflung heraus. Katharina wusste das wohl. Draußen
das?" stand die Mutter im Korridor, voller Schrecken, und
„Nicht so einfach", sagte Oliver. „Deswegen will ich ja auch Katharina lief an ihr vorbei, und der schreiende Oliver kam
schreiben. Wenn du das Gefühl hast, dass er dich freigibt, nach, bis nach draußen, wo er sich umdrehte und Katharina
dann fällt es dir leichter, zu mir zurückzukommen." anschaute, und sie fand, er sah irgendwie wie ein Soldat aus,
„Mich gibt keiner frei", sagte Katharina. „Ich war immer grässlich, verzerrt, in seinen persönlichen Krieg verwickelt.
frei. Du kannst mich doch nicht so manipulieren. Was denkst „Was gibt's, was ist denn?", fragte die Mutter und erhielt
du denn, wer ich bin. Ich gehöre doch mir, und wenn ich keine Antwort.
etwas nicht will, dann will ich es nicht. Versteh das doch. Und Oliver hörte auf zu schreien, wurde schlagartig bleich
Das hat nichts mit ihm zu tun. Nur mit mir." „Ist ja gut", und wie tot, als ob er jetzt alles kapiert hätte, alles, was
sagte Oliver und war eine Zeit lang stumm und sah auf den zwischen ihnen je gewesen sein konnte und was in Zukunft
Boden und dann wieder auf sie. „Ich meine, du könntest zwischen ihnen sein würde, nämlich nichts, und ein
mich ja ... sagen wir, als Freund behalten. Du brauchst mich bisschen tat er Katharina Leid.
ja nicht ganz wegzuschieben. Ich mein, er ist ja weit weg,
und wenn du mal jemand brauchst ... Was ich meine, ist,
dass ich dann für dich da war."
„Du meinst, so als Reserve", sagte Katharina. „Ja",
sagte Oliver. „Damit du nicht so allein bist. Es
könnte ja gut sein, dass du mal jemand brauchst. Wenn
du in Schwierigkeiten bist. Vielleicht wirst du noch mal
froh sein, wenn du mich hast." „Was für
Schwierigkeiten?", fragte Katharina. „Du könntest ja mal
krank werden", sagte Oliver. „Ich versteh kein Wort",
sagte Katharina. „Du verstehst nicht, du verstehst nicht",
sagte Oliver und war weniger leise. „Er könnte ja krank
sein, nicht wahr, und du könntest ja krank werden, nicht
wahr." „Sprich dich aus", sagte Katharina.
112
113
KAPITEL 5 Und dann saßen sie schließlich beide auf dem knochenharten
Sofa der Rajans, wo die Nägel in die Oberschenkel stachen,
aber es machte Katharina nichts aus. Die Rajans benahmen
sich wieder wie die Kinder, lachten und freuten sich und
sahen Katharina und Azuka wie ein Weltwunder an. Sie
fütterten sie mit bunten Keksen, und das alles kam Katharina
so bekannt vor, und sie erzählten von John und Lilian und
dass das Baby inzwischen angekommen sei, ein Junge sei es,
Katharina lebte in diesen Tagen von den zwei, drei Briefen, und jetzt wohnten sie in Dublin.
die Azuka geschrieben hatte. Sie wartete auf Post von ihm Katharina traute sich nicht, nach Amobi zu fragen, weil sie
und sog jedes Wort ein, und sie fühlte, dass ihre Familie sich vorstellen konnte, dass er eben nicht in Dublin war,
darauf wartete, dass eben keine Post aus England kam. sondern gewissermaßen abgeschoben in irgendeinem
Anfang Oktober flog Katharina nach London. Das Internat, und sie versuchte, ihre Gedanken auf etwas anderes
Flugerlebnis, das sie bei der Reise im August gehabt hatte, zu lenken. Azuka kam ihr zu Hilfe mit dem Vorschlag, ein
ließ sich nicht wiederholen. Auch war es eine kleine Fest zu besuchen. Sie stimmte sofort zu und wollte doch
Chartermaschine voller Studenten, und die Motoren lieber irgendwo allein mit ihm sein und doch nicht und hatte
dröhnten, die Luft war heiß und stickig. Das Flugzeug Angst und Furcht und alle Sehnsucht dieser Welt tief in
schien manchmal abzusacken, und Katharina bekam Angst, sich.
die ihre Nervosität noch verstärkte.
Sie landeten schließlich in Luton, auf einem kleinen Es war ein großes Fest in einer Riesenhalle, und es waren
Flugplatz in der Nähe von London. Azuka war nicht da. fast nur Afrikaner da. Tausende, dachte Katharina und
Noch nicht da, wünschte Katharina und hatte doch eine fühlte sich doch sehr fremd.
maßlose Angst, dass alles ein Irrtum sein könnte, ein Traum, Azuka nahm sie bei der Hand und führte sie durch das
ein Nichts, eine wilde Vorstellung von etwas, das es Gedränge. Ihr fiel ein, dass sie noch nie seine Hand
vielleicht niemals gegeben hatte. angefasst hatte, ach, bis auf Guten Tag vielleicht, Guten Tag
Und dann sagte Azuka: „Hallo", nur das eine Wort, seine und Auf Wiedersehen.
Stimme, dachte sie und drehte sich um und sagte: „Ich bin Seine Hand fühlte sich gut an. Sie war groß und trocken und
so froh, deine Stimme zu hören", und Azuka sagte im umschloss ihre nicht zu fest und nicht zu locker. Und als sie
Grunde dasselbe noch mal. „Ich bin auch froh, deine endlich dort angelangt waren, wo ein bisschen Platz war, wo
Stimme zu hören", sagte er, und alles war, wie es sein sollte, man stehen und sich unterhalten konnte und Azuka
wie sie es sich vorgestellt hatte, Blitz und Donner und all Katharina losließ und sie vielen Leuten vorstellte, sah sie auf
das. seine Hand und dachte, sie müsse sich das einprägen, wie sie
Katharina würde bei den Rajans wohnen. Dieses aussah, wie sie sich anfühlte, denn irgendwann würde das
Mal war wirklich ein Zimmer frei, und Azuka fuhr mit hier wieder vorbei sein und sie müsste davon leben, von
ihr in den nördlichen Stadtteil. „Wie geht es dir?", Erinnerungen und von all diesen Gefühlen.
fragte er und sah geradeaus. Die Frauen in ihren Kleidern sahen prachtvoll aus.
Katharina sah ihn kurz an. „Gut", sagte sie und schaute Katharina fiel das Wort Gewänder ein, und sie selber kam
sich ein bisschen vor wie eine graue Maus. Überhaupt waren
wieder auf die Straße. „Wie geht es dir?" die Menschen schön und stolz, und Katharina wunderte sich,
„Auch gut", sagte Azuka, und als sie an der wie man sich um sie kümmerte, sie zu unterhalten versuchte.
nächsten Ampel halten mussten, wagte Katharina doch Sie fühlte sich von Azuka getrennt und konnte kaum den
wieder einen Blick, sah, wie er leise lächelte, und sie Gesprächen zuhören, sah sich nach ihm um und dachte, er
dachte, er ist ein bisschen fremd und ein bisschen sieht auch hier anders aus als die anderen. Ein bisschen
nah, und, warum nimmt er mich nicht in die Arme. schmal und ein bisschen stark. Er
128 129
trug einen grauen Anzug aus grob gewebtem Wollstoff, „Versuch, Schlaf zu bekommen, wenigstens für ein paar
dessen Jacke seitlich am Rücken zwei Schlitze hatte und der Stunden", sagte Azuka und blieb mit dem Auto vor dem
eigentlich aussah wie für eine Landpartie gedacht. Er wirkt Haus stehen, bis Katharina die Eingangstür geöffnet hatte.
so unauffällig, dachte Katharina, aber er fällt auf. Und dann Er hob die Hand. Es sah wie ein Schatten hinter feuchten
nahm Azuka ihr die Handtasche ab und vertraute sie jemand Scheiben aus. Dann wandte sich Katharina um und ging
anders an. Er griff nach ihrer Hand und zog sie auf die hinein.
Tanzfläche, und dort standen sie sich gegenüber, zum ersten
Mal nah beieinander, und sie schämte sich fast, ihn Es war kein guter Tag. Er begann mit lauter kleinen
anzusehen, und musste es doch tun, und er sah sie an, mit Widerwärtigkeiten.
diesem feinen Lächeln, und drückte sie etwas an sich wie Das Haus der Rajans war voll fremder Leute. Alle Zimmer
zum Tanzen. Sie bewegten sich kaum in dieser Menge, was waren vermietet, und Katharina, die im Nachthemd durch
auch schier unmöglich war, und sie hörte auf, ihm ins das Treppenhaus lief, störte sich an den Gesichtern von
Gesicht zu starren, und wollte nur seine Nähe spüren, sah Menschen, die ihr noch nie begegnet waren. Es ging zu wie
auf eine Stelle seiner Haut zwischen Jackenkragen und Kinn in einer Herberge, und Männer und Frauen trafen sich oben
und fühlte seine Wärme. Azuka hatte ihre rechte Hand vor der Tür zum Badezimmer und sahen aus, als ob jeder
umschlossen und hochgezogen, so dass ihrer beider Arme den anderen zum Teufel wünschte. Schließlich war
wie zwischen ihnen lagen. Er hatte sie die ganze Zeit über Katharina an der Reihe. Das Badezimmer war zu schmal
angesehen, und als sie jetzt wieder aufschaute, hörte sie auf, und zu hell und zu gewöhnlich, und die Nässe vor dem
sich zu schämen, sah ihm direkt in die Augen und hindurch Fenster, die nachts noch glitzernd und geheimnisvoll
und fort von hier und dachte, dass die ganze Welt jetzt sehen gewesen war, sah nur noch grau und trostlos aus.
könnte, was zwischen ihnen war, alles nämlich, alles, alles, Katharina hatte mit allem Schwierigkeiten. Mit dem Licht,
und sie fühlte eine große Ruhe in sich, Ruhe und Sicherheit das ihr zu grell in die Augen stach und dem sie nichts als
und etwas, das ihr sagte, dass sie jetzt angekommen war. ihre Müdigkeit entgegenzusetzen hatte, mit dem
Sie verließen dann bald die Festhalle, und er fuhr mit Wasserhahn, aus dem der Strahl nur dünn und kalt geronnen
Katharina durch eine dunkle Nacht. Die Stadt glänzte kam, und mit der Wasserspülung des Klosetts, die überhaupt
regennass und wie schwarz lackiert, und die Lichter nicht zu funktionieren schien. Schließlich verließ sie das
spiegelten sich hinauf und hinunter bis ins Unendliche. Bad und gab die Klinke ihrer Nachfolgerin in die Hand,
Katharina sah still hinaus und in diese Kulisse hinein und einer jungen Asiatin, die einen starken Haarzopf trug und
wünschte kein Ende, und dann waren sie schließlich doch schon morgens so wach und schön aussah, dass Katharina
im Norden angelangt, vor dem Haus der Rajans, es musste sich schämte. Das Mädchen sah Katharina kühl und
längst nach Mitternacht sein, schon gegen Morgen, und distanziert an, und als sie im Badezimmer verschwunden
endlich legte Azuka leicht den Arm um Katharina, küsste sie war, schämte Katharina sich noch mehr und fühlte sich
auf die Wange, und sie kam sich wie ein sehr kleines Kind wegen der Toilettenspülung sehr schuldig.
vor. „Schlaf jetzt", sagte Azuka. „Morgen früh hole ich dich Bei den Rajans trank sie einen erbärmlichen Kaffee, der zu
ab. Dass du keinen Schrecken bekommst. Bei mir sieht es hell und zu milchig war, und sie fragte wegen der
schlimm aus. Alles steht auf dem Kopf. Übermorgen geht es Wasserspülung im Bad, die aber in Ordnung sein sollte,
nach Cambridge. Du kommst doch mit, nicht wahr?" Ja, wenn man die Metallkette mit einer bestimmten
was sonst. Geschwindigkeit und einer gewissen Verzögerung nach
Azuka drückte Katharina etwas an sich, ließ sie schnell los, unten bewegte, und nach dieser Auskunft fühlte Katharina
und sie kam sich ein bisschen vor wie ein Tierchen, sich noch schäbiger.
irgendein Urwesen, das Anfang und Ende nicht kannte, und Im Gegensatz zu Katharina sah Azuka ausgeschlafen aus. Er
dann stieg sie brav aus. trug eine helle Kamelhaarjacke, die Katharina sehr gut
gefiel. Sie selbst wollte auf Nummer Sicher gehen und hatte
130 sich schwarz angezogen, Rock und Angorapullover,
131
der zart und weich war und in dem sie sich immer „Nun hör aber auf, sagte Azuka. „Verschreck mir Cathrin
gestreichelt vorkam. nicht. Sie ist was ganz Besonderes." Katharina wurde ein
Azuka wollte noch einen alten Freund besuchen, und es war bisschen verlegen. Ihr war unbehaglich zumute, wenn sie so
Katharina recht. Sie drückte sich in die Polsterung des ins Spiel gebracht wurde. „Nun, Mrs. Gibson war auch was
Autositzes, zog sich in sich zurück und betrachtete die Welt Besonderes,", sagte Sunny. „Weißt du noch? Du musst
aus dieser entfernten Perspektive, und diese Sicht war ihr wissen, Cathrin, Azuka war ihr Lieblingsschüler, und er
schon immer die liebste gewesen. Allmählich fühlte sie sich durfte ihr die Bücher nach Hause tragen. Im Ernst, er war
wie eine Katze, zusammengerollt, geschmiegt an Angora verrückt nach ihr."
und Velours. Sie versuchte, ihre Augen schräg zu stellen, „Ich war zwölf, rief Azuka.
blinzelte schläfrig und faul und entfernte sich langsam von „Eben", sagte Sunny und schlug sich lachend auf die
allem. Schenkel.
Katharina vergab Azuka Mrs. Gibson auf der Stelle. Sie war
Sunny habe ihm das Kochen beigebracht, behauptete Azuka, mit zwölf auch heftig verliebt gewesen, lange vor der Zeit
und Sunny schien stolz darauf zu sein, auch auf sein mit Oliver, und ganz unbekümmert und himmelhoch. Wie es
Lunchgericht, das wirklich köstlich war. Ein sehr lockerer sein sollte, dachte Katharina. Wie es jetzt ist.
Reis, eine Fleischsoße mit Krabben und grünem Sunny schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. Er
Stangengemüse. Etwas pfeffrig war das Essen, aber aus- wurde von einer Sekunde auf die andere ernsthafter,
gewogen. druckste herum.
Sunny und Azuka kannten sich von der Schule her, wo Katharina stand auf, ging zum Fenster und tat so,
Sunny, der damals größer und kräftiger gewesen war, Azuka als ob sie der Hinterhof draußen interessierte. „Wie
aus so mancher kniffligen Situation herausgehauen hatte, im kommst du so zurecht?", fragte Sunny Azuka. „Wie
wahrsten Sinne des Wortes. Sunny war Katharina wirklich meinst du das?", fragte Azuka. Katharina spürte im
sympathisch, und wenn es nur wegen seiner Beschützerrolle Rücken, dass Sunny sie ansah. „Nun, so ...", sagte
in Azukas Kindheit war, um die ihn Katharina plötzlich Sunny. „Mit den Mädchen." „Nun sag schon, was du
beneidete. meinst", sagte Azuka. „Ja, wie kommst du mit Mädchen
Azuka, der inzwischen viel größer als Sunny gewachsen zurecht?", fragte Sunny. „Ich komme überhaupt nicht mit
war, genoss die Erinnerung an die Schulzeit und lachte Mädchen zurecht", sagte Azuka. „Ich komme mit einem
ungehemmt und mit zischenden Geräuschen, über die Mädchen zurecht." „Das ist genau, was ich meine",
Katharina sich amüsieren konnte, mehr als über die sagte Sunny. „Ein Mädchen! Die haben doch alle
Geschichten, die sie manchmal nicht nachvollziehen konnte. Angst heutzutage. Die denken doch alle, man hat
Weißt-du-noch-Geschichten. Aids. Und ich kann doch nicht rumlaufen und
„Weißt du noch, wie du unbedingt die öffentlich mitteilen, dass ich kein Aids habe, und
Englischarbeit nicht mitschreiben wolltest und plötzlich fragen, wer will mit mir. Und wenn ich jemanden mag,
Fieber bekamst?" „Es hat doch funktioniert", sagte soll ich fragen, hast du oder hast du nicht. Junge,
Sunny. „Stell dir vor", sagte Azuka zu Katharina. „Er das ist doch unmöglich." Katharina hoffte, dass Azuka
brachte es fertig, das Thermometer auf eine anständige das Gespräch schnell beenden würde, irgendwie, denn
Fiebertemperatur steigen zu lassen, obwohl er nicht krank ihr war es im Hals heiß aufgestiegen, und sicherlich
war und Doktor Eze dabeistand und darauf achtete, dass er war ihr Kopf knallrot geworden.
das Thermometer im Mund behielt. Er war ein „Im Ernst", sagte Azuka. „Es ist keine Sache, die man so
Teufelskerl." „Was sollte ich machen, wenn Englisch mir leicht nehmen sollte, und ich finde solche Fragen auch
nicht lag." „Er ist eben technisch begabt", sagte Azuka. schrecklich. Ich verstehe die Leute, die sagen, heirate das
„Er manipuliert zwar nicht mehr an Thermometern herum, Mädchen aus dem Nachbarhaus, da weißt du, was du
sondern an Flugzeugen. Aber das Talent besaß er schon bekommst."
damals." „Du auch, mein Lieber", lachte Sunny und
zwinkerte Katharina zu. „Er hatte schon immer eine
Schwäche für schöne Frauen."
132 133
„Aber das ist praktisch unmöglich", sagte Sunny. „Wie krieg „Immer, mein Freund", sagte Azuka, bevor er Katharina
ich die Nachbarstochter hierher?" „Es ist auch nicht so am Arm fasste und sie zur Treppe führte.
wörtlich zu verstehen", sagte Azuka. „Ich meine das im Unten, draußen, war Katharina wie benommen von
übertragenen Sinn. Am besten gibst du dich mit Leuten ab, der
die du gut kennst, sagen wir mal, denen du dich verwandt frischen Luft, und obwohl sie vorhin den grauen Nebel
fühlst auf irgendeine Art, die dich eben nicht überraschen nicht mochte, war ihr jetzt wohler und fast
können. Du suchst sie dir gut aus, mit Bedacht und behaglich
Verantwortung." Katharina hörte, wie Azuka jetzt aufstand. zumute.
„Ich kann das Problem nicht für dich lösen, Sunny", sagte er.
„Ich denke, um das mal genau auszudrücken, man schaut Katharina und Azuka waren am London House angelangt. In
sich denjenigen doch schon gut an, mit dem man ins Bett der Nähe des Empfangs stand ein ziemlich dünner, blass
gehen will." aussehender Student, und Azuka sah ihn starr und mit einer
Katharina sah weiterhin hinaus auf den Hinterhof. Es schien Kälte an, die Katharina frieren machte. Sie bemerkte, wie
ihr im Moment der sicherste Ort zum Hinschauen zu sein. der junge Mann versuchte, gleichgültig vorbeizusehen, aber
Sie war aber nicht undankbar für die Diskussion und dann fing er an, leicht mit den Augen zu flattern. Katharina
stimmte Azuka im Grunde zu. Es war so ein ver- hatte ihn noch nie gesehen, aber in diesem Moment wusste
wandtschaftliches Gefühl, das sie im Umgang mit Azuka sie, dass es sich eigentlich nur um Randolph Lewis handeln
spürte und das ihr Sicherheit gab. konnte, über den sie in einem ihrer Briefe an Azuka berichtet
„Tja", sagte Azuka. „Wir müssen nun gehen, Sunny, mein hatte. Da spielte sich etwas ab, was sie nicht verstand oder
Freund." nicht verstehen wollte, und sie nahm sich vor, Azuka nicht
Katharina drehte sich um, und Sunny streckte seinen Arm danach zu fragen.
aus, wie um Katharina zu sich zu holen. Sie ging ein paar Azukas Zimmer hatte sich verändert, und Katharina war
Schritte vorwärts, bis sie neben Azuka stand. Dann griff enttäuscht. In ihren Gedanken war sie oft in diesem Zimmer
Sunny nach ihrer Hand und führte sie durch den Korridor. gewesen, und sie saß zwischen Schreibtisch und Bücherregal
Es war so eine Kinderanfassbewegung, und sie schlenkerten auf dem Stuhl, der nun aber ganz woanders stand, und auch
ein bisschen durch den Flur. Azuka ging hinter ihnen her, der Schreibtisch war vor das Regal gerückt worden, das fast
und Katharina war zurückversetzt in eine längst vergangene ausgeräumt war. Der Raum hatte Ähnlichkeit mit einer
Zeit, zurückversetzt nach Afrika, auf einen heißen, sandigen Rumpelkammer. Überall standen Kisten herum, und es war
Schulhof, und Sunny hatte Azuka grad herausgehauen, und Katharina, als ob irgendetwas sie schon den ganzen Tag lang
jetzt war alles gut, sie waren — ja — Nachbarskinder, gute in die Kälte werfen wollte.
Freunde, Katharina roch die schwere, feuchte Hitze, und Azuka hantierte herum, setzte Teewasser auf und packte die
dann waren sie an der Eingangstür. Katharina musste Kisten weiter. Katharina ging zum Fenster und fühlte sich
blinzeln, und Afrika verschwand, nur dieser hässliche verloren, bis Azuka kam und sie fragte, ob sie nervös sei.
Korridor war da mit einer schmuddeligen Wohnung Ja, sie war nervös. Sie nickte etwas und sah ihn an und
dahinter, und das passte alles gar nicht zusammen. wünschte sich eine Dämmerung herbei, dunkleres Licht,
Sunny ließ ihre Hand nach einem Extraschlenker los. Was das einen einhüllen konnte.
dann kam, war eine komplizierte und fast rituelle Azuka schien das zu spüren. Er umarmte sie leicht. „Es tut
Verabschiedung. Azuka schlug mit den Fingern leicht auf mir Leid, dass ich so wenig Zeit für dich habe", sagte er.
die Innenfläche von Sunnys ausgestreckter Hand, und dann „Aber bis morgen früh muss alles fertig sein. Phil wird die
kehrten sie das Spiel um, und Sunny schlug bei Azuka ein. großen Kisten in sein Auto packen und mit nach Cambridge
Danach umfassten sie ihre erhobenen Hände und lösten sich fahren. Ein schlechter Tag für Cathrin."
endlich mit einem Fingerschnalzen voneinander. „Mach's Wenn Azuka sie so hielt, war der Tag nicht so schlecht, und
gut, Junge", sagte Sunny. sie fragte schnell: „Wer ist Phil?" „Ein Schulfreund",
sagte Azuka, und Katharina hatte das
134 135
Gefühl, dass Azuka irgendwie gut eingebettet war, umgeben „Eigentlich hätte ich gar nicht auf der Party sein sollen",
von Freunden und Bekannten, und nun stand sie wirklich sagte er. „Und dann dieser Randolph Lewis. Der
draußen in der Kälte. Sie waren sich sehr fremd, ganz anders hat damals doch dieses Märchen erzählt." Katharina
als gestern Abend. Was hatte sie eigentlich erwartet, ein wurde rot, und das Gespräch war ihr unangenehm,
bisschen Kerzenschein und das Lied von damals, das mit weil sie nicht wissen wollte, was sie doch wusste.
dem Lächeln, und auch noch für immer und ewig? „Und dann noch John und Lilian", sagte Azuka. „Hieß sie
Azuka drückte sie schnell und fest an sich, und sie war so? Diese Puderzuckerfrau? Lilian?" „Ja", sagte
ihm dafür dankbar. Katharina. „Was ist mit ihr?" „Ich werde nicht vergessen,
Und dann gingen die schlechten Omen des Tages weiter. Als wie sie versuchte, mich fertig zu machen", sagte Azuka.
Azuka sich von ihr löste, war seine helle Kamelhaarjacke „Damals an dem Tag, als ich dich abholen wollte und
voll von schwarzen Haaren, die sich aus Katharinas hörte, du seist abgefahren. Sie saß da, hoch und steif
Angorapullover gelöst hatten. „Es tut mir Leid", sagte und irgendwie über mir und diesem rosa Morgenrock.
Katharina und wusste nicht, was sie tun sollte. Jeder andere Schrecklich. Wirklich wie aus Puderzucker."
hätte sie nun in die Arme genommen und ihr versichert, dass „Ich hab das alles nicht verstanden", sagte Katharina. „Sie
alles halb so schlimm sei, aber Azuka war einen Moment muss doch gewusst haben, weshalb ich abgereist bin. Ich
lang wie zur Salzsäule erstarrt, und sie dachte, mein Gott, hatte ihr einen Zettel hingelegt. Wegen Francis bin ich
eitel ist er auch noch, und sagte: „Ich bringe das wieder in weggefahren. Weggeflogen. Eigentlich war das alles klar."
Ordnung. Gib her." „Vielleicht wollte sie nicht, dass irgendjemand von dem
Azuka zog tatsächlich die Jacke aus, und Katharina setzte Zettel weiß", sagte Azuka.
sich auf sein Bett und zupfte Härchen für Härchen ab. Es „Ich hatte ihr noch Geld dazugelegt", sagte Katharina.
war eine blöde Situation, aber wenigstens wusste sie jetzt, „Aha", sagte Azuka. „Was heißt ,aha'?", fragte
wohin mit ihren Händen. Katharina.
Der Tee war fertig. Azuka hatte ein paar Kekse dazugestellt. „Davon war auch nicht die Rede. Sie wird es für sich
Er arbeitete weiter daran, das Zimmer noch ungemütlicher behalten haben."
zu machen. „Vielleicht hast du Recht", sagte Katharina. „Ich konnte sie
Katharina brachte langsam die Jacke wieder in Ordnung. Es auch nicht ausstehen. Aber John hatte ich sehr gern." „Der
war still, und sie kam in ein gedankenloses Träumen, bis ein hat sich neulich auf einem dieser Empfänge fast auf mich
Geräusch sie aufweckte. Sie blickte auf. Immer noch räumte gestürzt", sagte Azuka. „Er sah so wütend aus, dass ich
Azuka herum, sprang dann mit einem Satz auf den dachte, er schlägt gleich zu." „Wieso denn das?"
Schreibtisch, um die letzten Dinge aus dem obersten Regal „Na, er dachte, du bist meinetwegen bei Nacht und Nebel
zu holen. Katharina gefiel, wie Azuka auf den Schreibtisch aus London geflüchtet. Er dachte wer weiß was, was ich dir
gekommen war. Er war sehr sportlich im Gegensatz zu ihr, angetan hätte."
die immer aktive Leute bewundert und sich wegen ihrer „Also wusste er auch nichts von dem Zettel." „Sicherlich
Unsportlichkeit geschämt hatte. Sie ließ die Jacke sinken nicht", sagte Azuka. „Wir haben uns ausgesprochen und die
und sah zu ihm auf. Ein bisschen ist es, dachte sie, als ob wir Dinge geklärt. Ich will John mal ausnehmen. Aber sonst,
uns Jahre kennen würden und nichts mehr zu reden hätten, denke ich, gibt es eine Menge Leute, die nicht wollen, dass
aber es ist nicht störend, sondern so, als ob schon alles wir zusammen sind. Glaubst du an Schicksal?“
gesagt wäre. Azuka drehte sich um und schaute zu ihr herab. Katharina wollte die Frage nicht beantworten. Sie stand
„Weißt du, dass wir eigentlich gar nicht beieinander sein auf und war nun mit Azuka auf gleicher
sollten?", fragte er. Augenhöhe. „Zieh sie wieder an", sagte sie. „Die
„Wie meinst du das?", sagte Katharina. Er blieb oben Jacke. Sie ist fertig." Azuka rührte sich nicht, sah
auf dem Schreibtisch, ging aber in die Knie, so dass Katharina unverwandt an,
er immer noch wie über Katharina schwebte.
136 137
dass sie erwartete, sich jeden Moment ungemütlich zu „Was für eine?", fragte Azuka. „Ankiri maluka mbatele
fühlen. Aber sie hielt seinen Blick aus. funjora", sagte Katharina. „Das könnte aus Ostafrika
„Ich glaube daran", sagte er schließlich. „Manche Dinge sind kommen", sagte Azuka. „Nein", sagte Katharina, die
unausweichlich." Dann sprang er auf den Boden. Katharina sich ein wenig wunderte, dass Azuka sie nicht
hielt ihm die Jacke hin. Er nahm sie und hängte sie sorgfältig auslachte. „Ich spinne nur." „Vielleicht hast du in einem
auf einen Bügel und danach in den Kleiderschrank. Dann früheren Leben in Ostafrika gelebt", sagte Azuka.
drehte er sich um, fasste Katharina unters Kinn und sah sie „Ich spinne nur", sagte Katharina. „Anjoro tabanu kats-
lange an. „Arme Cathrin", sagte er. „Es gibt wohl viele china." Aber es hörte sich gut an. Sie schämte sich jetzt
Dinge, die du nicht verstehst. Ich weiß nicht, ob du stark doch, weil sie nackt war und ihr Körper im matten Licht fast
genug bist." Katharina hatte das dringende Bedürfnis, sich wie Phosphor leuchtete, aber sie war mutig geworden und
an Azuka anzulehnen, aber sie traute sich nicht. Ich wünsche sagte: „Eigentlich heiße ich auch nicht Cathrin."
mir, dachte sie, dass ich das eines Tages tun kann, ohne ihn „Nein?", sagte Azuka. „Wie heißt du denn?"
zu fragen, ohne auf ihn zu warten, ohne um Erlaubnis zu „Eigentlich heiße ich Katharina", sagte sie.
bitten, einfach so, mich an ihn anlehnen, meinen Kopf an „Katharina", sagte Azuka.
seine Brust oder auf seine Schulter, Gesicht an Gesicht, und „Eigentlich heiße ich auch nicht Katharina", sagte sie.
es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, ja, das wünsche „Nein?", sagte Azuka. „Wie heißt du denn?"
ich mir. „Eigentlich heiße ich Kathi", sagte sie. „Und wie heißt
Azuka legte seine Arme um Katharina, und sie stellte sich du wirklich, Kathi?", fragte Azuka. „Kathi", sagte
vor, wie sein Hemd jetzt aussehen würde mit all den langen, Katharina und lachte.
schwarzen Angorahaaren, und es amüsierte sie, dass sie Sie fühlte sich plötzlich sehr fröhlich und hörte auf, sich zu
vielleicht gleich noch mal sitzen und zupfen würde, und sie schämen, und wusste nicht, warum. Vielleicht, weil Azuka
wollte am liebsten irgendwas sagen, um eine aufkommende nicht gelacht hatte, als sie ihre Kinderwörter mit Sprache
Verlegenheit zu unterdrücken. Azuka hatte sein Gesicht an gefüllt hatte. Sie sah Azuka an und musste mit einem Mal an
ihres gelegt, und sie wollte ihn riechen, sog die Luft heftig Mrs. Rajan denken und an ihren Mann, der so anders
ein und fragte: „Bist du mit Aufräumen fertig? Hast du alle aussehen sollte, so ganz anders. Katharina wusste nicht, was
Kisten gepackt?" Und da er noch immer nichts sagte, wollte Mrs. Rajan gemeint haben konnte. Azuka jedenfalls sah
sie weiterreden, atmete ein, und dann sagte er: „Kannst du nicht anders aus, nicht so ganz anders und auf keinen Fall
nicht mal den Mund halten? Aber wirklich." fremd. Er sah vielleicht ein bisschen angezogener aus und
so, in der Dunkelheit, ein bisschen weniger nackt, und sie
Es wurde schnell dunkel in diesem Oktober. Der feuchte nahm ihn einfach in die Arme.
Nebel tat ein Übriges.
Katharina lag neben Azuka und wusste nicht, ob sie was
sagen sollte oder musste. Ob sie sich schämen sollte oder Bis elf Uhr musste Katharina London House verlassen
musste. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, damit haben, und Azuka fuhr sie zurück zu den Rajans. Sie sagten
überhaupt nichts mehr zu passieren brauchte. Dann dachte unterwegs kein Wort, weil jedes wie ein Abschied
sie krampfhaft doch über was nach, über das man reden geklungen haben würde, und dann hielt Azuka an, wieder
konnte, weil sie sich immer in ungewöhnlichen Situationen war es so eine schwarze, regennasse Straße mit all den
in Schweigen oder Reden geflüchtet hatte. Es gab für sie gespiegelten Londoner Lichtstrahlen, die sich weit unter der
nichts dazwischen, obwohl sie fühlte, dass es eine Menge Erde irgendwo treffen mussten.
dazwischen geben könnte. Sie dachte über Worte nach, Aus einer Kneipe drang Musik, und sie gingen hinein, und
zusammenhanglose Fetzen, und dann fiel ihr altes eigentlich war es keine Kneipe, sondern ein Raum, in dem
Kinderspiel ein, ihr ureigenes Spiel, und sie sagte: „Weißt Leute auf langen Holzbänken saßen. Gläser standen auf den
du, dass ich mir als Kind eine eigene Sprache ausgedacht Tischen, gefüllt mit dunklem Bier oder auch
habe?"
138 139
nur mit Sodawasser. In der Luft hing Zigarettenrauch, dass und sie hasste Joy, die doch an nichts schuld war. Später
man kaum atmen konnte. bekam sie Bauchkrämpfe und Blutungen und wusste nicht,
Es war nicht genug Platz, dass sie zusammensitzen konnten, was sie machen sollte, wie sie das erklären sollte, und packte
und so zwängten sie sich irgendwohin zwischen die sich im Waschraum mit Toilettenpapier zu. Vor Madingley
Anwesenden, Katharina hierhin und Azuka dorthin. Sie Hall, einem Wohnheim für graduierte Studenten,
trank einen Weißwein, und die Leute redeten, und Katharina verabschiedeten sie sich. Phil fuhr mit seiner Schwester
verstand kein Wort und versuchte, ihre Gedanken über dem zurück, und Katharina fühlte sich so froh, dass sie sogar dem
Lärm zu bewegen. Ein Junge spielte Gitarre, auch irgendwie abfahrenden Wagen nachwinkte. Madingley Hall war ein
entfernt von den Menschen. Er hatte sich tief über das Traum. Es war ein altes, typisch Cambridgeshire Herrenhaus
Instrument gebeugt und spielte für sich, brach ab und mitten in einem parkähnlichen Garten, und obwohl
begann von neuem. Katharina im Grunde eher leicht verwachsene, verwilderte
Katharina sah, dass Azuka zuhörte und sich dann auch Grundstücke liebte, war sie von diesem Garten bezaubert
wegdachte, und sie fühlte sich erst allein und dann doch und ging wie verwandelt die Kieswege entlang. Akkurat
einsam und dachte, warum müssen all diese Tage so voller geschnittene Hecken begrenzten Rosenbeete. Hohe
Abschiede sein. Zypressen standen dunkel gegen den Himmel, und bis auf
das Knirschen ihrer Schritte war es still. Nur ab und zu
Phil hatte seine Schwester Joy auf die Fahrt nach Cambridge waren vor kreisenden Vögeln klagende Schreie zu hören.
mitgenommen, und unterwegs gingen sie essen, in einem Katharina sah Azuka an und musste lächeln. Ihr fielen
kleinen indischen Restaurant, dessen Wände und Decke Shakespeare-Verse ein und dann eigene, und sie schämte
wohl einen blauen Himmel darstellen sollten, mit sich wegen ihrer romantischen Anwandlung, aber sie bekam
hunderttausend goldenen Sternen. Es sah furchtbar das feierliche Gefühl nicht aus sich heraus. Azuka hatte zwei
schwülstig und kitschig aus, und irgendwelchen entzückende Zimmer in Madingley Hall zugewiesen
Hinterräumen entströmte ein muffiger Geruch. Joy sah sehr bekommen, brachte sein Gepäck ins Haus, und Katharina
unscheinbar aus, ein unauffälliges Mädchen mit einer sah zu, wie er seine Sachen einräumte. Dann war Dinner-
randlosen Brille. Trotzdem war Katharina eifersüchtig, weil time, und alle Studenten versammelten sich im Ess-Saal, der
Joy sich ungehemmt mit Azuka und ihrem Bruder unterhielt. rundum mit geschnitztem Holz getäfelt war und wieder diese
Sie war, wie Katharina aus den Gesprächen heraushören Atmosphäre verbreitete, die Katharina schon draußen in den
konnte, bei endlosen Monopolyspielen in Kindertagen Anlagen verspürt hatte. Sie saßen an langen Tischen, die in
Spielgefährtin gewesen und hatte Katharina also etwas Hufeisenform aufgestellt waren. Das Geschirr stand auf dem
voraus, Jahre mit Azuka. Es gab Curryreis zu essen, und von nackten Holz, und jemand brachte stumm die Gerichte zu
Monopoly ausgehend hatten sie sich noch weiter in die den einzelnen Plätzen. Man unterhielt sich auf sehr höfliche
Vergangenheit zurückerzählt. Wie war das gewesen, damals, und freundliche Weise und bezog den Tischnachbarn in die
als sie beim sehnsüchtig erwarteten Regenguss nackend auf Unterhaltung ein, so dass auch Katharina sich bemühen
die Straße liefen, als Fünf-, Sechs-, Siebenjährige, und die musste und einen exaltierten Tonfall annahm, den sie erst
Luft vor Wärme und Feuchtigkeit greifbar geworden war. aufgesetzt, dann aber passend fand, und so lief dann das
Die drei lachten lauthals über alte Geschichten. Die Augen Gespräch auf eine sehr manieristische Weise und über ganz
blitzten. Und Katharina hatte dem nichts gegenüberzustellen. banale Dinge, das Wetter, das Essen und woher sie denn
Wie Azuka Mr. Smith nachgemacht hatte. Den mit dem komme, aber irgendwie passte plötzlich alles zusammen und
steifen Bein. Wie sie nachts aus dem Internat fortgeschlichen machte Katharina einen irrsinnigen Spaß, und sie tauchte in
waren, um sich Erdnüsse zu holen. Wie Mrs. Whiter diese Sprache, dieses übertriebene, kunstvoll geformte
ausgesehen hatte, in die sie alle verliebt gewesen waren. Wie Englisch, ein wie in ein warmes Bad. Es gab kleine
sie mit Bussen zum Girl's College kutschiert worden waren, Portionen zu essen, Lammbraten und Kartoffelbrei und ein
wo endlich ein Tanzabend stattgefunden hatte. Katharina Erbsen-Möhren-Gemüse, und Katharina wunderte sich,
wünschte sich, mit Azuka allein sein zu können, wie man davon satt werden konnte. Sie
140 141
tranken Wasser dazu, Leitungswasser, und das wirkte in kenne", sagte Katharina. „Obwohl alle Welt sagt, dass es
dieser Umgebung fast edel. sich um was anderes dreht, ist es für mich einfach die
Zum Nachtisch gab es Streuselkuchen mit einer größte Liebesgeschichte."
Art Vanillesoße, und man war tatsächlich satt. „Tatsächlich?", fragte Azuka und wog das Buch in sei-
Die Gespräche hatten sich verändert. Man sprach ner Hand. „Ich hasse Liebesgeschichten." „Es ist keine
über die einzelnen Forschungsarbeiten der Doktoranden Liebesgeschichte", sagte Katharina schnell, weil sie wollte,
und schließlich über Politik, und jeder gab vor, Bescheid dass Azuka es behielt. „Es ist eine politische Geschichte."
zu wissen. „Arme Kathi", sagte Azuka und sah sie mit zurückgelegtem
Katharina rettete sich auf ein Yes, I think so, too und Kopf kritisch an, was Katharina sehr mochte. „Du bist
hatte also zeitweilig das Gefühl, mit dabei zu sein, bis durchschaut. Du sollst wissen, dass du mir nichts vormachen
sie schließlich Azuka flehentlich ansah und er den Rückzug kannst."
vorbereitete. „Ich weiß", sagte Katharina. „Es ist trotzdem beides drin,
Azuka brachte sie ins Hotel, wo sie übernachten sollte. Liebe und Politik."
Sie saßen eine Weile still beieinander, und jetzt „Ich kann Liebesgeschichten nicht ausstehen", sagte Azuka.
hätte Katharina nicht um alles in der Welt mit Joy „Es erinnert mich an meine große Schwester. Die
tauschen mögen, diese Minuten nicht gegen alle hat Tag und Nacht Liebesromane gelesen. Ich denke,
Kinderjahre, und dann sagte Katharina, dass sie man wird schwachsinnig davon." „Ist sie
Bauchschmerzen habe, obwohl sie eigentlich nicht schwachsinnig?"
gewusst hatte, wie sie das sagen sollte, und dann war „Nein", sagte Azuka. „Aber ich kann sie nicht ausstehen. Sie
es ganz einfach und normal. Azuka brachte sie zu Bett hat mich immer verprügelt, als wir noch Kinder waren."
und deckte sie zu, und sie träumte einen fremden Katharina musste lachen. „Ja, das sind ja ganz schreckliche
Traum, von Shakespeare und Dark Lady, Black Lady, Assoziationen", sagte sie. „Eine prügelnde Schwester, die
aber morgens ging es ihr gut, ihre Blutungen hatten Liebesromane liest. Das kann ich mir vorstellen. Aber bei
aufgehört, sie war irgendwie körperlos und freute sich Marquez ist es nicht so eine Liebesgeschichte. Ich weiß, was
auf den letzten Tag. du meinst. Mit Tränen und Sehnsucht und Mond und den
Wolken. Das kann man ja auch nicht ertragen. Hier geht es
Azuka und Katharina machten einen Spaziergang durch die aber um eine Ehe, die schon uralt ist. Ein alter Mann und
Stadt, und Katharina nahm Cambridge auf, wie es ein Kind eine alte Frau, die sich lieben. Das wird nicht gesagt, das
tut, mit wachen Sinnen, und die Straßen und die Plätze merkt man. So eine Geschichte ist das. Eine Geschichte über
drangen ihr durch alle Poren, der Marktplatz, die Türme der Selbstverständlichkeiten." Azuka hörte auf, das Buch
Colleges, der träge Fluss mit den Trauerweiden. Vor allem abzuwiegen, und steckte es in die Manteltasche. Und dann
Trinity College, das Azukas Forschungsstätte werden verspürte Katharina eine leise Wut, dass er es doch
würde. genommen hatte. Sie versuchte, sich ihr Gefühl zu erklären,
Sie sahen sich in Geschäften um, nur so und ohne die und sah etwas Symbolisches in diesem Doppelkauf, so, als
Absicht, auch nur das Geringste zu kaufen, und schließlich ob jeder allein für sich war, und sie hätte viel lieber gesehen,
fanden sie sich in einer Buchhandlung wieder, und Katharina dass sie gemeinsam ein Buch besitzen würden. Sie stellte
entdeckte ein Buch, das sie schon immer hatte haben wollen, sich vor, das irgendwann einmal, irgendwann, beide Bücher
Marquez' Geschichte von dem Oberst, der niemanden hat, nebeneinander in einem Bücherregal stünden und wie unnütz
der ihm schreibt, und sie kaufte den Band, und Azuka kaufte das wäre, ja, rein unsinnig, und sie dachte, warum denkt er
sich die Geschichte auch, und er sagte, auch er habe sich denn nicht genauso, warum denkt er denn anders als ich, und
immer Marquez kaufen wollen. „Ich kenne das Buch", sagte all das machte ihre Wut aus. Sie kaufte noch ein schmales
Katharina. „Aber ich habe es bisher nicht besessen. Ich liebe Liederbuch mit englischen Volksliedern, das sie Amobi
die Geschichte, und was ich liebe, das möchte ich auch schicken wollte, an den sie mit einer plötzlichen Trauer
besitzen." „Das ist sehr egoistisch", sagte Azuka. denken musste.
„Egoistisch, aber sehr natürlich." „Es ist im Übrigen die
größte Liebesgeschichte, die ich
142 143
Das Mittagessen nahmen sie im Restaurant des Art's Theatre In Madingley Hall wiederholte sich der Traum vom
ein, Hühnchen und Pommes frites und geviertelte Tomaten, Vorabend. Die Stille. Dieser gestaltete Garten. Die Zimmer,
und Katharina trank ein Glas Sekt dazu, der sie in gute wo sie endlich alleine waren und endlich niemand störte,
Stimmung versetzte. Später setzte sich eine spanische nicht Marquez und keine Spanierin. Wo Azuka Katharina
Studentin an ihren Tisch und fing ein Gespräch mit Azuka endlich festhielt und sie endlich die Augen schließen konnte,
an, der auf die Fragen zwar oberflächlich, aber bereitwillig ganz fest, und endlich, endlich wie zu Hause war.
Auskunft gab, und Katharina war zornig und konnte die Komisch, dachte Katharina, warum schäme ich mich nicht,
Spanierin, die nun ihr halbes Leben ausbreitete, nicht warum ist alles selbstverständlich und wie lange erwartet,
ansehen. Sie war froh, dass sie bald gingen. Draußen sagte dieses ganze geschlechtliche Zeug, vielleicht wie eine gute
Katharina: „Eigentlich gehe ich nicht gern essen. Ja wirklich, Tasse Kaffee, die erste morgens, ja, so normal und ohne all
eigentlich gehe ich nicht gern in Restaurants." diese Schlenker, Film, Fernsehen, Küsse und Zigaretten und
Und Azuka sagte: „Wenn du das nächste Mal kommst, dann immer ein schaler Geschmack hinterher, dabei ist es ganz
koche ich für uns", sagte das so dahin, als ob er nicht wüsste, einfach und normal. Und dann kam doch Marquez
dass das gerade der wichtigste Satz der letzten Tage dazwischen, der alte Oberst und seine Frau, und Katharina
gewesen war. dachte, so was wie die beiden, so eine Beziehung, blödes
Katharina vergab Azuka im selben Moment den doppelten Wort, aber das ist das Himmelreich. Der weiße Bettüberwurf
Marquez, und sie traute sich, sich leicht bei Azuka wies dann Flecken auf, und sie schämte sich dann doch
einzuhängen. deswegen, als ob sie ganz Madingley Hall befleckt hätte, und
„Aber erzähl das bloß meiner Mutter nicht, dass ich für sie stand auf und hätte gern alles verdeckt.
dich kochen werde", sagte Azuka. „Wenn sie erfährt, dass Azuka sagte: „Wasch dich zuerst, und später müssen wir die
ihr Sohn Küchenarbeit verrichtet, steht ihre Welt auf dem Decke noch waschen, sie kommen hier jeden Tag hinein
Kopf. Sie wird fürchterlich wütend mit dir sein." „Im zum Saubermachen", und ging hinaus und reichte ihr seinen
Ernst?", fragte Katharina. Regenmantel herüber.
„Im Ernst", sagte Azuka. „Zu Hause durfte ich O Gott, was ist das alles einfach bei ihm, dachte Katharina,
noch nicht einmal in die Küche hineinschauen." „Na gut", no problem, und dann stand sie am Waschbecken und wusch
sagte Katharina. „Ich werd's nicht sagen. Wenn du ihr nicht sich und dann in aller Ruhe die Tagesdecke, die sie
sagst, dass ich überhaupt nicht kochen kann. Bei mir brennt schließlich zum Trocknen über einen Stuhl breitete.
das Wasser an." Sie ließ den Regenmantel an, und eine Weile danach saß sie
„Das ist schlimm", sagte Azuka. „Du solltest kochen ler- zu Azukas Füßen, es war blöd, aber ihr war danach. Sie legte
nen. Damit du unabhängig wirst. Ich kann's auch. ihre Arme auf seine Knie und dann den Kopf darauf, und sie
Ich versuche überhaupt, alles Wichtige zu können." sahen sich an, und sie dachte, so müsste es auf einer
„Knöpfe annähen?", fragte Katharina. Mondinsel sein, was immer das ist.
„Schon längst", sagte Azuka. „Ich habe im Internat auch Bei Dämmerung standen sie schließlich am Fenster. Die
Nähunterricht gehabt. Ich kann Knöpfe annähen und dunklen Vögel, Krähen, Raben vielleicht oder Dohlen,
Strümpfe stopfen. Ich kann Gardinen nähen und Bettwäsche. strichen über das Dach und riefen sich einsame Klagen zu.
Ich kann einen Auspuff montieren und Zimmer tapezieren. Katharina blieb bis in alle Ewigkeit stehen, heute, morgen,
Ich kann Rosen züchten und Hibiskus und Kokospalmen." übermorgen, und sie war wie in einer von den anderen
„Es gibt doch keine Rosen in Afrika", sagte Katharina. „Ja, Welten.
was denkst du", sagte Azuka. „Du kannst deinen ganzen Erst nachts, im Flugzeug, wachte sie auf. Voller Schmerz
Garten damit bepflanzen, und sie blühen das Jahr durch, und und Trennung.
sie duften so, dass du morgens von dem Geruch aufwachst
und dir davon schwindelig werden kann."
„Das klingt, als ob du Heimweh hättest", sagte Katharina.
„Ja, was denkst du", sagte Azuka.
144 145
KAPITEL 6
„Im Übrigen", sagte die Mutter. „Wie hast du, dir
das denn gedacht. Wo willst du ihn unterbringen. Wo
wird er denn wohnen. In einem Hotel oder so?"
„Wieso?", fragte Katharina. „Wie kommst du drauf. Wir
haben doch genug Platz hier."
„So hast du dir das also gedacht," sagte die
Mutter. „Ich dachte, in einem Hotel oder so." „Warum?''
sagte Katharina. „Wenn wir Besuch bekommen,
überhachtet der doch immer hier. Also, wo ist das
Problem."
„Ich dachte ja nur", sagte die Mutter. „Weihnachten ist ja
eigentlich ein Familienfest. Ich dachte ja nur so." „Dann
kannst du so einem armen Ausländer doch mal zeigen, was
ein deutsches Weihnachtsfest ist", sagte Katharina. „Deutsche
Weihnachtsfeste sind weltberühmt. Mach doch mal." „Wie
du immer redest."
„Nein", sagte Katharina. „Ihr redet immer. Also, nun mach
mal."
„Das ist ja auch was anderes", sagte die Mutter. „Wir
haben auch Ausländer beim Missionsfest in der Kirche.
Und in diesem Jahr war beim Erntedankfest jemand da
aus ... warte mal ... aus Äthiopien, glaube ich. Das war
sehr interessant. Was der alles erzählt hat. Ein Pfarrer
aus Äthiopien war das."
„Dann hättest ihn doch mal einladen sollen zum
Weihnachtsfest", sagte Katharina. „Hätt ich auch", sagte
die Mutter.
„Ja, und jetzt hast du die Gelegenheit dazu", sagte Katharina.
„Kein Pfarrer aus Äthiopien, aber ein Mathematiker aus
Nigeria."
„Das ist was ganz anderes", sagte die Mutter. „Wie
denn das?"
„Alle Menschen sind Brüder", sagte die Mutter. „Das sollten
sie wenigstens sein. Ich finde das auch richtig. Aber man
muss doch nicht soweit gehen wie du. Du hast doch was
mit ihm."

159
„Na klar hab ich was mit ihm." „Azuka", sagte Katharina und breitete ihren Mantel aus
„Das habe ich gleich gewusst, damals, als du zurückkamst und sich selber und legte ihr Gesicht an seins. „Azuka."
aus England. Und der Papa hat das auch gleich gesehen. Im Die Mutter ließ sie allein, und Katharina fragte
Oktober. Die hat mit ihm, hat er gesagt. Ich seh das, hat er Azuka aus, wann war er gekommen, und wie war es
gesagt. Der Papa kann das sehen, und ich habe es auch gewesen, mit der Mutter und dem Vater.
gleich gewusst." „Ich habe das extra gemacht", sagte „Ich weiß nicht, ob sie mich verstehen", sagte
Katharina. „Was?", fragte die Mutter. Azuka.
„Ich habe mir ein Strahlen auf die Augen gelegt", sagte „Aber ich denke schon. Wir haben mit Händen
Katharina. und Füßen geredet und immer über Kathi, ich weiß
„Was?", fragte die Mutter. nicht, was, aber sie scheinen sehr stolz auf dich zu sein,
„Ja", sagte Katharina. „Ich habe mir ein Strahlen auf die und du bist ihre einzige Tochter."
Augen gelegt. Damit du's weißt. Ich wollte, dass ihr seht, „Na und", sagte Katharina.
dass ich mit ihm. Ich habe gestrahlt! Ich wollte, dass alle „Ich meine, es war sehr schön", sagte Azuka. „Sie haben
Welt sah, dass ich mit ihm. Wenn ich's nicht gewollt hätte, mich sehr herzlich aufgenommen, wollten mir gleich zu
dann hättet ihr auch nichts gewusst." „Herrgott", sagte die essen geben, aber ich sagte, ich wollte auf Kathi warten,
Mutter. „Und das ist es ja. Du bist auch noch stolz drauf." und dann haben sie mich hierher verfrachtet. Und jetzt
„Wieso nicht?", fragte Katharina. bist du da."
„Wieso nicht, wieso nicht. Du willst einfach nicht ver- „Ich hätte das sehen wollen", sagte Katharina.
stehen. Und das versteh ich wieder nicht. Wie kann man nur „Aber mein Vater ist schon wieder zur Arbeit. Und
so sein. Wie kannst du uns das antun." „Was?" meine Mutter spinnt inzwischen. Erzählt was von einem
„Ich mein ja bloß", sagte die Mutter. „Und überhaupt, Päckchen."
wo soll er denn schlafen?" „Im Gästezimmer", sagte „Was für ein Päckchen?"
Katharina. „Die Oma kommt auch", sagte die Mutter. „Sie spinnt", sagte Katharina. „Aber komm, jetzt
„Na, dann im Wohnzimmer auf der Couch." „Das hast du essen wir zusammen. Ich freu mich so."
dir ja alles schön ausgedacht. Was ihr mit mir treibt. „Ich mich auch", sagte Äzuka.
Aber vielleicht ist das mein Schicksal. Die Oma sagt,
er ist ja auch Gottes Kind. Ja, sicher." Die Mutter hatte ausgerechnet Sauerkraut gekocht. Das
ganze Haus roch danach, nach Kohl und Kümmel und
Azuka sollte am Tag vor Heiligabend ankommen, Kasseler.
und Katharina glühte und glühte, stürzte von der Schule Azuka aß sich tapfer hindurch, saß Katharina gegenüber, die
heim mit diesen fiebrigen Augen, und die Mutter unaufhörlich lächeln musste.
sagte: „Es ist ein Päckchen gekommen. Es ist im Die Mutter hatte sich auf den Sessel am Fenster
Wohnzimmer." „Was für ein Päckchen?", fragte gesetzt und sah beiden zu. „Versteht er, was wir
Katharina und war riesig enttäuscht. „Und was ist mit sagen?", fragte sie. „Nein", sagte Katharina. „Er kann
Azuka? Ist er noch nicht da?" „Es ist ein Päckchen kein Deutsch." „Ist er das erste Mal hier?", fragte die
gekommen", wiederholte die Mutter. „Im Wohnzimmer." Mutter. „Ob du das erste Mal hier bist", übersetzte
„Was für ein Päckchen?" „Geh doch schon." Katharina und dann zurück: „Nein, er war schon mal in
Katharina ging ins Wohnzimmer, und da lag Azuka auf der Deutschland. Er hat auch Freunde hier." „Wo?", fragte
Couch, als ob ihn die Reise ermattet hätte, und vom Fenster die Mutter. „Wo", sagte Katharina. „In Sigmaringen."
aus liefen Sonnenstrahlen durchs Zimmer, als ob es Frühling „Ach", sagte die Mutter. „Dann hätte er ja da ..."
wäre. „Was?", fragte Katharina.
„Na ja", sagte die Mutter. „Ich meine ja bloß." „Was
hat sie gesagt?", fragte Azuka. „Ob dir der Kohl
schmeckt", sagte Katharina. „Er schmeckt fürchterlich",
sagte Azuka. „Ob es ihm schmeckt?", fragte die
Mutter.
160
161
„Ja, es schmeckt ihm", sagte Katharina. „Aber er ist es erwartet hatte. Am Ende war sie aber erschöpft. Sie hatte
nicht gewöhnt." den ganzen Tag übersetzen müssen, hinüber und herüber,
„Dann will er nicht noch eine Portion essen? Er sieht und es war ein Balanceakt gewesen, Dinge, die eigentlich
mir nicht so aus." nicht zusammenpassten, passend zu machen. Die Oma war
„Nein, ich denke, er ist satt." gekommen. Man hatte sie einigermaßen gut vorbereitet, und
„Vielen Dank", sagte Azuka. „Sag ihr, es hat sie benahm sich anfangs auch wie ein normaler Mensch.
gut geschmeckt. Deine Mutter ist sicherlich eine Das Abendessen verlief gesprächiger als sonst, weil der
vorzügliche Köchin." Vater sich bemühte, mal einen Satz zu sagen, und Azuka
„Was hat er gesagt?", fragte die Mutter. lobte wieder das Essen und bestand darauf, dass Katharina
„Danke schön." seine Bemerkungen übertragen sollte, was sie komisch
„Aber es war so lang, was er gesagt hat." fand. Seit wann lobte jemand die Mutter wegen ihrer
„Und noch, dass du gut kochst." Kochkünste.
„Ja, das tu ich", sagte die Mutter. „Ich bemüh mich Die Mutter saß da mit fiebrigen Backen und erklärte Azuka,
jedenfalls. Morgen gibt es Kartoffelsalat und Würstchen. wie man einen guten Kartoffelsalat zubereitet, mit ganz
Das ist Tradition. Am Heiligabend wird nichts Besonderes einfachen Sachen, und die einfachen Dinge im Leben seien
gegessen, erst am Erstfeiertag wieder. Ich habe einen sowieso das Beste. Der Vater fragte tatsächlich, ob Azuka zu
Rinderschmorbraten gekauft. Ich dachte, das ist am besten. Hause auch einen Weihnachtsbaum gehabt hätte, und Azuka
Vielleicht Gans, dachte ich erst. Aber ich weiß ging ernsthaft darauf ein und beschrieb ein nigerianisches
nicht. Sie hatten keine polnischen Gänse mehr. Polnische Weihnachtsfest, bei dem das Zusammenkommen vieler
Gänse sind besser als die deutschen. Aber sie waren Verwandter und ein gutes Essen die Hauptsache wären.
schon ausverkauft. So habe ich Rinderschmorbraten. Besser, „Es ist sehr laut zu Weihnachten", sagte Azuka. „Sehr laut
ich geh auf Nummer Sicher." und fröhlich."
„Was hat sie gesagt?", fragte Azuka. Die Mutter fand das nicht richtig und versuchte klarzustel-
„Ach, vergiss es", sagte Katharina. „About goose and len, um was es eigentlich beim Weihnachtsfest ginge,
geese and beef." nämlich um ein stilles christliches Gedenken, und deswegen
„Was hast du gesagt?", fragte die Mutter. werde auch an Heiligabend nicht schon Putenoder
„Ich sollte doch übersetzen", sagte Katharina. Gänsebraten gegessen, oder eben dieser
„Es klingt immer anders", sagte die Mutter. Rinderschmorbraten, sondern erst am Weihnachtstag selbst,
„Na klar klingt es anders", sagte Katharina. „Es ist ja denn an Heiligabend, an Christi Geburt, denke man schon
auch eine andere Sprache." an das Ende am Kreuz, und das sei ja eigentlich eine
„Na ja", sagte die Mutter. „Soll ich dir was sagen, ich traurige Sache.
habe mir das eigentlich anders vorgestellt." Dann saßen sie eine Weile still da, und der Vater sagte
„Was?" schließlich: „So, so, aber im Grunde feiert ihr ja auch
„Na ihn." Weihnachten. So wie ich das verstanden habe." Und Azuka
„Wieso?" kramte ein paar Fotos hervor, und dann wurde es sehr
„Ich habe mir immer gedacht, der, den du mal, also, lebendig, wie sie sich über die Bilder beugten und Azuka
der müsste sehr groß sein, sehr, sehr groß, so habe ich mir erklärte und Katharina übersetzte, und es hieß ah! und oh!
ihn vorgestellt. Und dann mache ich die Tür auf, und immerzu, als ob sie kaum glaubten, was sie sahen.
dann, sag mal, er ist doch nicht viel größer als du, ,,Ja, ich dachte...", sagte der Vater. „Ja, eigentlich dachte
oder irre ich mich da." ich, dass es anders aussieht, da bei euch." Und er konnte
„Ach, lass doch", sagte Katharina und sah gequält aus. nicht aufhören, das Bild von Azukas Zuhause zu betrachten,
„Was hat sie gesagt?", fragte Azuka. „Übersetz doch nein, es war ein richtiges Steinhaus und zweistöckig dazu,
mit Fenstern und Balkonen, die rund ums
mal."
„Den Teufel werd ich tun", sagte Katharina.
Der Heiligabend verlief besser, als Katharina es eigentlich
163
162
Haus liefen, und im Erdgeschoss hatte der Vater kleines Gärtchen. Wirklich, so schön sieht das aus." Es
seine Praxis, ja, Jurist war er, Rechtsanwalt. „Ja, braucht ist kein Garten", erklärte Azuka. „Das ist ein rundes
man das denn da unten?", fragte die Mutter. „Ja, was Beet mitten in der Auffahrt zum Haus, um das die Autos
denkst du denn“, sagte der Vater etwas vorwurfsvoll. fahren, wenn sie wenden wollen." Die Mutter war etwas
„Rechtsanwälte braucht man überall auf der Welt. Was enttäuscht. „Ach, Autos", sagte sie. „Na, so viele Autos
denkst du denn." „Ja, aber auch da unten", sagte die gibt es wohl nicht bei euch." Azuka erklärte, dass es in
Mutter. „Da unten, da unten", sagte der Vater. „Das ist der Hauptstadt Lagos mehr Autos gebe als zum Beispiel
Westafrika. Drück dich doch mal gefälligst richtig in Frankfurt, so viele jedenfalls, dass der Verkehr total
aus. Da unten! Da weiß ja kein Mensch, wovon du zum Erliegen kommen könne, und die Mutter war
redest." „Ich sag das so," sagte die Mutter. „Ich sag
das so, weil das auf dem Atlas da unten ist. Wir ungläubig, aber der Vater wusste Bescheid.
sind hier oben, und die sind da unten. So stell ich mir „Ja", sagte er. „Die haben jetzt doch alles da unten.
das vor. Das kommt vom Atlas her." Fernsehen auch. Kühlschränke. Sieht man im
Der Vater lächelte ein bisschen wie verzeihend über die Auslandsjournal. Mama, das solltest du auch mal gucken.
Mutter, und die Mutter hängte sich an seinen Arm. „Ach Ein gebildeter Mensch guckt sich so was an. Die sind
Papa", sagte sie. „Du weißt schon, was ich meine. So hat man doch jetzt alle reich da unten. Die leben alle vom Öl. Die
uns das beigebracht. Aber sieh doch, wie tolle Häuser die da haben mehr Geld als wir. Seitdem sie da unten Öl
unten haben. Also, eigentlich schöner als manche hier bei gefunden haben, fahren sie alle Autos." Azuka sollte
uns. Dass es das gibt." „Ja, was denkst du, was es alles auf sagen, ob das stimmte, und er überlegte etwas, und dann
der Welt gibt", sagte der Vater, zwinkerte Azuka wie bei sagte er: „Alle fahren nicht Autos. Es gibt furchtbar arme
einer geheimen Verschwörung zu und besah sich das nächste Leute und auch furchtbar reiche Leute. Und es gibt viele,
Bild. Es war das Wochenendhaus des Vaters, ein großer, die leben so dazwischen, und natürlich möchten alle
einstöckiger Bungalow, der noch beeindruckender aussah als Autos haben und Fernsehapparate und Kühlschränke.
das Stadthaus, und die Mutter konnte dem Vater das Foto Genau wie hier."
kaum aus der Hand nehmen, so intensiv starrte der Vater es „Es ist überall auf der Welt gleich", sagte der Vater.
an. „Es kommt mir irgendwie bekannt vor", sagte er. „Warte „Siehst du, Mama, so ist das. Und eigentlich ist es bes-
mal. Ich kenne das Haus. Ich hab das schon mal gesehen." ser, reich zu sein. Oder so dazwischen. Wie bei uns. Uns
„Spinn nicht, Papa", sagte die Mutter. „Du warst doch noch geht es gut, nicht wahr, Mama?" Azuka erzählte, dass
nie da unten." sein Urgroßvater schon ein Auto gehabt hatte, und dann
„Ich würd hinfahren", sagte der Vater. „Also, ich würde glatt rechneten sie alle nach, wann das denn gewesen sein
hinfahren." könnte, nämlich in den dreißiger Jahren, und jetzt sahen
Die Mutter blickte erst den Vater vorwurfsvoll an und dann der Vater und die Mutter wieder so aus, als ob sie alles
das Foto, und dann schien sie was entdeckt zu haben, einige kaum glauben könnten. Die Oma hatte sich in aller
Pflanzen vor dem Haus. „Palmen", rief sie. „Das sind Ruhe die Bilder angesehen und nickte zu jedem Foto,
bestimmt Palmen." als sähe sie was Selbstverständliches. Dann sagte sie:
Azuka wusste nicht, was für Pflanzen dort standen. Das Foto „Ich hatte ja erst ein bisschen Angst, ich mein, wegen
war ein bisschen verschwommen. „Ich glaube, es ist ihm, weil ich nicht wusste, wie er so ist, ich dachte, er
Hibiskus", sagte er. wäre so, ich wusste nicht, wie ich mich benehmen
„Hibiskus!", rief die Mutter aus. „Aber nein. So groß kann sollte, aber er ist ja ganz einfach so, ich meine, fast
Hibiskus gar nicht werden. Sie verkaufen ihn bei uns im normal. Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt."
Diskontladen. So kleine Töpfe sind das. Aber nein, Hibiskus Dann aß sie noch eine Portion Kartoffelsalat, wie um
ist das nicht, den kenne ich, das sind Palmen, wirkliche, alles zu bekräftigen, und dann kicherte sie mit einem
echte, große Palmen. So ein schönes, Mal los.
164 «Weißt du", sagte sie zu Katharina. „Weißt du, als ich
das erste Mal solche sah, solche wie er, ich
weiß das
165
noch genau, ich war gerade mit dem Opa verheiratet, und er Die Verwandten waren auch sehr interessiert, und sie
nahm mich mit nach Frankfurt, gleich nach dem Krieg, und besahen sich die Fotos von den Häusern und dann noch die
sah solche wie er auf der Straße und fragte den Opa, was ist von Azukas Familie, ziemlich stumm, sie zählten leise die
denn mit denen los, mein Gott, schau dir diese Menschen an, Kinderschar ab, und die Mutter sagte zu Azuka: ,Deine
was ist denn mit denen los, und der Opa guckte mich von der
Seite so merkwürdig an, ] ich seh das noch genau vor mir, Schwester aber, die ist ja bildschön." Eine Tante sagte zu
weißt du nicht, was mit denen los ist, sagte er, nein, sagte ich, Katharina: „Schöne Bilder, wirklich, und sieh mal, das habe
was ist mit denen los, sind die alle so von der Sonne ich auch nicht gewusst, die haben ja gar nicht so dicke
verbrannt, und er sah mich wieder so komisch an, na, weißt du Lippen, ich dachte immer, die haben alle so dicke Lippen,
j nicht, was mit denen los ist, ja, das war das allererste Mal." das denkt man so, haben die gar nicht hier auf dem Foto,
Azuka schaute Katharina fragend an, aber sie übersetzte sieh mal an." Endlich gab es Kaffee. Die Mutter hatte keinen
nichts, zuckte nur mit den Schultern, und plötzlich sagte der Kuchen gebacken, sondern überall bunte Teller hingestellt.
Vater: „Ich weiß jetzt, woher ich das Haus kenne, es sieht so „Ich denke, das reicht", sagte sie. „Zu Weihnachten überisst
aus wie die Häuser in Spanien, so ähnlich, weißt du, Mama, man sich immer, was sollte ich da noch Kuchen backen, hier
wie wir vor zwei Jahren in Tossa waren, oder war das schon sind Lebkuchen und Butterkekse. Das reicht, denke ich."
das Jahr davor, vor zwei oder drei Jahren in Tossa, da gab es Die Oma ging mit der Kaffeekanne reihum. Alle ließen
Häuser, die waren so ähnlich mit diesen Mauern, die so sich einschenken, nur Azuka lehnte ab, und da
Löcher haben, da j haben sie einfach mit den Ziegelsteinen so hatten sie doch etwas, was nicht normal an Azuka war.
Muster gebaut, wie heißt das, Ornamente, ja, daher kenne ich „Kaffee ist gesund", sagte die Oma. „Und außerdem wird
dieses Haus." man hell davon."
Dann räumten die Oma, die Mutter und Katharina den Aber Azuka ließ sich nicht überzeugen.
Tisch ab, und der Vater zündete die Kerzen am Baum Dann zündeten sie die Kerzen an, obwohl es noch nicht ganz
an, und sie sangen alle Weihnachtslieder, und als sie dunkel draußen war, und die Tante flüsterte: „Guck mal, an
Herbei, o ihr Gläubigen sangen, sang Azuka mit, auf den Innenflächen der Hände ist er heller. Das hab ich auch
Englisch, und die Mutter freute sich beim Singen, das schon mal gehört. Das ist, weil der Mohr von den drei
sah man, auf ihrem Gesicht stand ein leises Lächeln, Weisen aus dem Morgenland das Christkind an den Füßen
und der Vater sah Azuka an, als ob er sagen wollte, angefasst hat, daher kommt das, von daher sind sie alle an
gut gemacht, Junge. den Händen weiß. So geht die Sage von dem Mohrenkönig.
Am Erstfeiertag kamen die Verwandten. Sie waren scheuer Und außerdem sollen sie auch an den Fußsohlen hell sein.
als sonst, und es war wegen Azuka. Der Vater sagte: „Nur Stimmt das, Katharina?" Aber dann fingen sie an, wieder die
keine Angst. Das ist Asoka. Ah-soo-hka. Ganz einfach. Er Weihnachtslieder zu singen, Gott sei Dank, und danach gab
ist ein ganz normaler Mensch, wie wir alle, und jetzt setzt es Abendbrot, Schnittchen und Tee und einen Rest
euch hin und feiert Weihnachten." Kartoffelsalat, und Katharina fiel auf, wie dunkel Azuka
Es wirkte wie eine umständlich hergerichtete Party, es war aussah zwischen all den Anwesenden. Sie saßen getrennt
zuviel Bewegung im Raum und dann zuviel Stille, und der voneinander, entfernt und nicht entfernt, und die Hitze des
Vater befahl: „Azuka, zeig die Fotos her, die von den Tees stieg Katharina in den Kopf. Und später, viel später,
Häusern." Und zu den Verwandten sagte er: „Da werdet ihr sangen sie noch einmal, und alle sahen sehr glücklich
staunen, das habt ihr euch wohl nicht gedacht, dass es da unten aus.
so aussieht. Die haben da j alles, Häuser und Autos und
Fernseher und so, und sein Vater ist ein wichtiger Mann, Am Zweitfeiertag war es, als warte jeder auf das Ende der
Rechtsanwalt ist er, und ein bisschen ist da alles wie bei Weihnachtszeit. Es war schon alles vorbei, das gute Essen,
uns." die Singerei von zwei Tagen und auch das, was ™an sich so
zu sagen hatte. Viel stiller war es geworden, und besonders
der Vater wartete auf den Alltag, der ja eigentlich schon
eingekehrt war. Sie waren wie
166 167
eingesperrt. Der Vater lief durch die Zimmer und dann
auf und ab. Azuka hatte sich Bücher mitgebracht, Es war kalt, und Azuka schlang die Arme um den
saß auf der Couch in seiner Strickjacke und las, und Oberkörper, wie um sich zu wärmen. Der Vater sah ihn aus
Katharina sah ihn an und überlegte, ob irgendetwas den Augenwinkeln an und lachte. Schön kalt, was?", sagte
an ihm sie störte oder vielleicht in ein paar Tagen er und zeigte Azuka, wie man sich durch wiederholtes
oder Wochen oder Jahren sie stören könnte, aber ihr Schlagen der Arme um den Körper warm halten konnte.
fiel nichts ein. Die Oma versuchte, ein bisschen Dann aber bogen sie ab und rum und nach Hause.
Leben zwischen die Wände zu bekommen, und erfand Die Mutter stand in der Küche über das Spülbecken
alte Geschichten, die doch keiner hören wollte, und dann gebeugt. Sie sah aus, als ob alles sie nicht berührte. „Du
fiel ihr anscheinend was Aktuelles ein. „Bei uns musst die Oma noch fortbringen", sagte sie zum Vater, und
gegenüber", sagte sie, „also schräg gegenüber auf der der behielt gleich seinen Mantel an. Die Mutter verkroch
anderen Seite, da wohnen Leute, woher die wohl sich dann in der Küche, und Katharina saß im Wohnzimmer
kommen, ich denke, die kommen aus Indien, Inder Azuka gegenüber und wollte ihm viel näher sein.
sind das wohl, und die sehen gut aus, das kann man
sagen, also, die Inder sehen sehr gut aus." Aber Der Vater und die Mutter gingen früh schlafen, weil der
keiner reagierte auf ihr Gerede. Nachmittags schlug der nächste Tag ein Werktag war. Der Vater, als er „Gute
Vater einen Spaziergang vor. Katharina und Azuka Nacht" sagte, wirkte sehr erleichtert, dass die Feiertage so
hatten ebenfalls Lust, durch die Siedlung zu gehen. gut wie überstanden waren, und die Mutter sagte: „Schon
Die Mutter war nervös, sah aus dem Fenster nach draußen, wieder ein Jahr rum."
wo eben die Dämmerung sanft einsetzte und kaum sichtbare Katharina und Azuka blieben im Wohnzimmer sitzen.
Schneekristalle schwebten. „Muss das sein?", fragte sie. Katharina hatte die Kerzen am Baum noch einmal
Sie zogen ihre Mäntel an. angezündet, und Azuka saß im Sessel rechts vom Baum und
Die Mutter lief wie aufgescheucht durch die Wohnung. erzählte eine lange Geschichte wie jemand, der sie schon
„Damit alle das sehen", sagte sie, und keiner wusste, was sie hinter sich hatte, aber es war die Geschichte seiner Zukunft.
meinte, und jeder wusste es doch, und die Mutter hoffte auf Das Kerzenlicht ließ sein Gesicht matt erscheinen. Die
Dunkelheit. Augen blickten nicht auf Katharina, sondern irgendwohin,
Es war ein schöner Spaziergang, den sie da unternahmen, der durch die Wände hindurch und über Entfernungen hinweg,
Vater, Katharina und Azuka. Der Abend fiel dann doch rasch auch über Zeiten, und Katharina konnte sich nicht erinnern,
in die Dämmerung, und sie konnten in die Wohnzimmer der irgendjemanden schon einmal so über sein Leben reden
Leute hineinsehen, wo fast überall Kerzen brannten, auf gehört zu haben. Ihr war, als steckte sie mitten in einer
Weihnachtsbäumen und manchmal noch auf den übrig fremden Zukunft, als ob sich der Himmel für einen
gebliebenen Adventskränzen. Katharina hätte Azuka gerne Augenblick geöffnet hätte, aber ihr war so ein vorwärts
die Bedeutung der Straßen erklärt, denn sie ging nach Jahren gerichteter Gedanke sehr fremd, und sie zog sich schnell in
wieder einmal mit offenen Augen hindurch, als ob sie sie sich selbst zurück. Azuka sprach über sein Land und die
zum ersten Mal sähe. Es gab eine Menge Bedeutungen für Stadt, in der er leben würde. Er setzte seine Wissenschaft
sie, Geschichten aus der Kinderzeit, die den Straßen ein schon ein, eine total angewandte und technisierte
besonderes Gewicht verliehen, aber hätte Katharina das Mathematik, er redete von Aufbruch und Hoffnung und
erzählt, wäre der Vater im Stande gewesen, sie für verrückt eben dieser Zukunft, und Katharina vermisste darin etwas,
zu erklären. Der Vater wies Azuka auf einige Häuser hin, die nämlich sich selbst, und ihr war, als würde sie mitten im
besonders schön waren, und seine Worte klangen stolz, als Leib erfrieren. Ihr war Azukas Sprache neu, wie er da über
ob er selber beim Bau beteiligt gewesen wäre. Azuka nickte irgendwelche Anwendersoftware aus dem Umfeld der
zu allem, was der Vater sagte und zeigte, und tat, als ob er künstlichen Intelligenz redete und redete, über
alles verstünde, und vielleicht war es auch so. Expertensysteme, die eigens auf Problemlösungsprozesse
zugeschnitten waren. Er versuchte es plastisch zu machen,
beschrieb Katharina,
168 169
wie so ein System auch in einem Land der Dritten Welt
einzusetzen sei, nein, beschrieb es nicht ihr, sondern sich
selbst oder irgendeinem Gremium, das er zu überzeugen
versuchte.
Katharina schweifte mit ihren Gedanken ab, versuchte, sich
ihr Afrika vorzustellen, hatte aber auch kein Bild davon, ein
wenig Hibiskus, ein paar Palmen, aber vor allem hieß Afrika
für sie Azuka, und der Rest war ihr egal.
Sie wachte auf, als Azuka sie nach ihren Plänen fragte, und
sie erschrak, weil sie auch da kein Bild sah, keine
Erinnerung an die Zukunft. Was sollte sie sagen, konnte
grad bis morgen denken, zwei, drei Tage weiter, zwei, drei
Monate.
Sie stand auf, um die Kerzen zu richten, und Azuka
griff nach ihrer Hand. Sie hätte ihn gerne gefragt, wie
es weitergehen sollte, nicht mit dieser großen Zukunft,
sondern mit ihrer eigenen, kleinen, und sie hätte sich
gewünscht, dass die Frage danach selbstverständlich wäre.
Azuka zog Katharina zu sich herunter, und sie blieb auf
der Sessellehne sitzen, sah ihn an und stellte doch die
Frage: „Wann werden wir uns Wiedersehen?"
„Wann immer du willst", sagte Azuka.
„Bald", sagte Katharina. „Kann ich zu dir kommen?"
„Selbstverständlich", sagte Azuka.
Dann setzte sich Katharina auf seinen Schoß, wollte an
nichts mehr denken und am liebsten ein kleines Mädchen
sein.

170
Was willst du eigentlich?", sagte Claudia. „Dass wir alle
Rücksicht nehmen sollen auf deine Empfindlichkeit? Dass
grün nicht mehr grün ist, sondern blau vielleicht? Dass wir
politische Realitäten verdrängen, nur weil du alles geschönt
sehen willst?"
„Nicht geschönt", sagte Katharina. „Nur realistisch und
geschichtlich wahr."
„Lade doch deinen Afrikaner ein, dass er uns einen Vortrag
Die ersten Wochen und Monate im neuen Jahr schienen sich hält", sagte Claudia. „Vielleicht weiß er es besser. Vielleicht
auf eine merkwürdige Art und Weise von Katharinas kann er uns überzeugen. Das ist eine Idee." Nie würde
früherem Leben zu unterscheiden. Sie dachte in solchen Katharina Azuka dieser Meute vorsetzen. Die Vorurteile
Begriffen: mein früheres Leben, meine Zeit mit Azuka, die waren dick und schwebend und suchten überall ein Loch,
Zukunft. Und Zukunft hatte auch unabdingbar was mit um hineinzukriechen.
Azuka zu tun.
Die Menschen um sie herum hatten sich ebenfalls verändert.
Am stärksten fiel es in der Schule auf. Oliver übrigens Zu Hause war Azuka gar kein Thema mehr. Vielleicht weil
würdigte sie keines Blickes mehr. es greifbarer, viel zu greifbar geworden war. Die Mutter
Irgendwie war sie auffällig geworden, und ihre Auffälligkeit wies nur stumm auf Azukas Briefe, die selten genug kamen.
hatte mit Afrika zu tun. Und mit schwarz. Das schlichte Wort Katharina sog aus den Zeilen Munition und schrieb aggres-
schwarz bedeutete mehr als nur eine Farbe. Wenn es in sive Briefe nach Cambridge. Zitierte seitenlang
irgendeiner Unterhaltung fiel, sah man Katharina verstohlen Zeitungsberichte über Afrika und ließ sie von Azuka
an, als ob sie auf dieses Wort reagieren sollte wie ein widerlegen. Sie wurde stärker und mutiger, und das Wort
Pawlowscher Hund. Im Geschichtsund im Politischen Afrika versetzte sie nicht mehr in Verlegenheit. Sie stellte
Unterricht wurde jeder Stoff zu einem Thema mit einer sich Afrika vor und konnte es dennoch nicht. Sie füllte die
Beziehung zur Dritten Welt. Und Dritte Welt hieß Afrika. Fernsehberichte mit mehr Leben und ging mit den Reportern
„Ich kenne mich nicht so genau aus", sagte ein Lehrer. durch die Straßen, bei den wenigen Berichten, die überhaupt
„Aber, Demokratie in Afrika, soweit ich weiß, funktioniert ausgestrahlt wurden. Der Vater sah sich die politischen
das ja nicht. Oder kann mir jemand ein Beispiel nennen, wo Fernsehsendungen mit Berichten aus der Dritten Welt
es funktioniert?"
Sie schüttelten alle die Köpfe. Sie kannten sich nicht aus, weiterhin an. Weltspiegel und Auslandsjournal. Früher hatte
aber sie wussten alle Bescheid. Und sahen Katharina von der er manchmal Kommentare abgegeben. Was es alles so gibt
Seite an, kurz und verlegen und so, als trüge sie an allem auf der Welt. Jetzt sagte er nicht mehr viel. Na ja, sagte
Schuld. er.
Im Englischunterricht wurden Referate verteilt, über engli- Alles hatte mehr Bedeutung bekommen. Und eine andere.
sche und amerikanische Autoren, und wie selbstverständlich Jeder amerikanische Krimi, der die Leute aufteilte in
erhielt Katharina ein Referat über das Buch einer schwarz und weiß. Jede Kopfdrehung eines Passanten, der
südafrikanischen Autorin zugeteilt. Die Diskussion später einem Ausländer auf der Straße nachstarrte. Und: Katharina
war wieder dieselbe. Funktioniert es, oder funktioniert es merkte, dass in ihrer Umgebung die Farbe Schwarz schon
nicht. bei Beige anfing.
Und: Es kann ja gar nicht funktionieren. Katharina war
hilflos. Ihr Wissensstand war gleich Null. Bei den anderen Manchmal, wenn die Mutter in Frankfurt eingekauft hatte,
auch. Aber sie hatten Meinungen. Sie versuchte ein war das Thema dann doch plötzlich da. „Heute habe ich eine
Gespräch mit Claudia, das ziemlich hoffnungslos war. Familie gesehen", sagte sie, „ich nehme doch an, dass es
eine Familie war, ein Mann und eine Frau, und die hatten ein
Kind, das sah so aus, also der Mann war, wie soll ich
sagen, er war wohl
180 181
Amerikaner, dunkel, und die Frau war, na, rothaarig war sie, und Azuka wies sie auf Kleinigkeiten hin, die sie in ihrer Träumerei
das Kind hatte helle Locken, fast gelb, wie Stroh, wie dunkles gar nicht bemerkt hätte. Wie spaßig eigentlich Joseph Ejiofo
Stroh. Armes Kind, musste ich denken."! „Was war mit ihm?", aussah, ein fast zwei Meter großer Landsmann, der Cambridge auf
fragte Katharina. „Nun ja", sagte die Mutter. „Was wird es denn einem Damenfahrrad erradelte. Joseph saß gerade und steif auf
denken, später, wenn es nicht weiß, wohin es gehört, hierhin oder dem Sattel, trug einen Tweedanzug mit Weste und auf dem Kopf
dorthin, eigentlich ist es nirgendwo zu Hause. Armes Kind, einen Landhut. Noch dazu wegen seiner dickglasigen Brille sah er
dachte ich." aus wie jemand, der plötzlich einer Geschichte entsprungen
Die Worte der Mutter ließen Katharina nachdenken. Hierhin oder
dorthin und wo zu Hause. Und die Fragen der Mutter beantwortete war.
sie sich selber, und es war ganz einfach. Sie dachte an Amobi als Azuka fand Josephs Aufzug geradezu lächerlich. „Da versucht
das Kind und wusste, was hierhin oder dorthin im Grunde hieß, einer, den britischen Gentleman zu spielen", sagte er. „Dabei
was ein Kind eigentlich brauchte, nämlich jemand, der es werden sich alle nur über ihn lustig machen. Er ist so dumm, das
verstand, und wenn es Glück hatte, waren das Vater und Mutter noch nicht mal zu merken." Er lud aber Joseph zum Abendessen
und vielleicht auch noch Großeltern. Und das war's. Katharina ein, mitsamt einer dänischen Freundin, und dazu noch Michael,
ging friedlich durch die Tage, bereitete sich auf die der mit einer wunderschönen Schwedin, Eva, befreundet war.
Abschlussarbeiten an der Schule vor, verschloss ihre Augen, ihre Katharina versuchte zu kochen. Es war eigentlich hoffnungslos,
Ohren und war heimlich auf Zeichen aus. weil die Mutter sie nie an den Herd gelassen hatte. Irgendwie hatte
Azuka hatte sich eine Wohnung gemietet, so dass Katharina nicht sie sich auf Huhn versteift und bemühte sich in einem kleinen
im Hotel wohnen musste. Es war eine Wohnung im zweiten Stock Souterrainladen um ein Gespräch über Gewürze und Soßen, was
eines braungelb geklinkerten Doppelhauses. Vom Wohnzimmer erbärmlich ausging. Sie zog mit schwarzen Pfefferkörnern und
aus konnte man über die Erker dea darunter liegenden Etage und einem Lorbeerblatt ab, ließ Huhn und Gewürze köcheln und
über einen ungepflegten Vorgarten auf die Durchgangsstraße probierte eine Art Holländische Soße aus. Sie hatte sich den
sehen, die nach Huntingdon führte. Schöner war der rückwärtige Geschmack des Huhns vorgestellt, und was rauskam, entsprach
Blick aus dem schmalen Küchenfenster. Katharina stand oft dai überhaupt nicht ihren Vorstellungen, aber Michael und Joseph
und schaute über die Menge der kleinen, erdfarbenen Steinhäuser. waren nun wirklich echte Gentlemen und lobten die Mahlzeit über
Es war ein Gewimmel von Dächern und Schornsteinen und den grünen Klee. Es lief zuerst fast nur ein Männergespräch ab,
Antennen, das eigentlich trostlos aussehen sollte. Tatsächlich aber das ausschließlich die politische Situation in Afrika betraf, um die
betrachtete Katharina diese Landschaft als eine voller sich alle drei Gedanken und Sorgen machten. Katharina kam sich
Schutzvorrichtungen, unter der Menschen im Warmen saßen, und dumm vor, weil sie trotz ihrer Zeitungslektüre nichts wusste. Die
sie stellte sich vor,! wie Mary Poppins über die Dächer fliegen zu schöne Schwedin sah nur schön aus, und Anna, Josephs Freundin,
können. Es war ein schöner, trauriger Anblick, ein stilles Bild, das war ein Seelchen, das in Gedanken wohl Daumen lutschte, so fort
so ganz zu ihrer Stimmung passte, die um Himmels willen keine und verloren wirkte sie.
Veränderung, keine Bewegung wollte. Azuka arbeitete Tag und Gentleman Joseph richtete das Wort an die Damen, und Katharina
Nacht an seiner Dissertation, und Katharina hatte alle Zeit der Welt sprang hinein, nahm jeden Strohhalm, der sich ihr bot, die
für sich. Manchmal überlegte sie den nächsten Schritt, ob der nicht parteiischen Zeitungsberichte, die Vorbildung, die Verbildung der
zuviel Störung im Ablauf brachte, und manchmal stürzte sie sich Journalisten, den Ausdruck politischer Meinungen in der Lyrik
auf die Bücher, die sie mitgebracht hatte. Am liebsten aber hing sie afrikanischer Autoren, ja, Gedichte hatte sie auch gelesen. Und
mit ihren Gedanken zwischen oben und unten. dann hörten sie zu, ihr zu, Michael und Joseph und Azuka, und sie
machten mit. Katharina saß mit glühendem Gesicht da. wie kam
es, dass sie sich überall auskannten, auf tausend
182 183
Gebieten, Michael, der Mediziner, hatte Grass gelesen, und der „Zur Not kann ich immer noch mit dem Rechenstab und der
Jurist Joseph wusste was von Datenverarbeitung. Das Gespräch Logarithmentafel umgehen", sagte Azuka. „Oh, ich auch", sagte
wurde weit und groß und machte die Welt greifbar. Das ist einer Katharina, um die Lücke auszunutzen.
dieser Tage, dachte Katharina, einer dieser Tage. „Ich könnte dir gut helfen."
Azuka zitierte später Shakespeare in einer herrlichen Sprache mit „Sein Vater würde einen Schock bekommen", sagte Michael.
thee und thou. Er hatte so ein wundervolles Talent, und Katharina „Möglicherweise", sagte Azuka und bot zum Nachtisch Cognac
lachte Tränen und liebte ihn sehr. „Shakespeare ist natürlich an, und es war Katharina, als wiche Azuka aus.
Pflicht im Unterricht", sagte Azuka, „afrikanische Literatur nicht.
Vielleicht ändert sich das aber langsam." Draußen hatte schlagartig die Dämmerung eingesetzt. Katharina
„Wir haben ja wenigstens schon die Geschichte des afrikanischen zündete Kerzen an und stellte Süßigkeiten auf den Tisch.
Kontinents gelernt", sagte Joseph. „Das war ein enormer Azuka legte eine Schallplatte auf mit süßlich trauriger Musik, und
Fortschritt." Anna begann sich leicht hin und her zu bewegen. Katharina verlor
Azuka wandte sich Katharina zu und erklärte, dass sein Vater im nicht das Gefühl, dass Anna sich innerlich selbst unaufhörlich
Geschichtsunterricht ausschließlich die Geschichte streichelte. Katharina hätte gern mit dem Thema, das gerade an
Großbritanniens gelernt habe und dass die Kolonialmächte der Reihe gewesen war, weitergemacht und versuchte vorsichtig,
absichtlich Geschichtsbewusstsein unterdrückt hätten. Ohne das Gespräch wieder in die Richtung zu bekommen. „Ich würde
Rücksicht auf die Völker Afrikas und ganz im eigenen gerne deinen Vater kennen lernen", sagte sie und fühlte sich in der
wirtschaftlichen und politischen Interesse seien die Kolonialländer Gesellschaft der Übrigen sicher, sonst hätte sie diesen Gedanken
ausgenutzt worden. Manche Afrikaner hätten schadenfroh gar nicht ausgesprochen.
zugesehen, was Hitler mit den europäischen Völkern anstellte. „Ich bin sicher, er würde dich phantastisch finden", sagte Azuka.
Diese hätten erst Verständnis für Freiheitsbewegungen gezeigt, als „Und du ihn, wahrscheinlich. Er ist ein äußerst charmanter
sie selber erfahren mussten, was es hieß, unterdrückt zu werden. Mann."
„Ich denke, alles fing mit den Missionaren an", sagte Katharina. „Möglicherweise wird er sie als Frau begehren", sagte
„Es wäre besser gewesen, sie hätten das Christentum in Europa Michael. „Sei vorsichtig, Azuka." „Er ist doch schon
gelassen." verheiratet", sagte Katharina. „Ja", sagte Azuka. „Sicher.
„Das kann man nicht sagen", meinte Azuka. „Mit den Und das schon viermal." „Du hattest mir nicht erzählt, dass
Missionaren, mit der Bibel kam das Wissen nach Afrika." Auch deine Eltern geschieden sind", sagte Katharina.
am Sklavenhandel seien nicht nur die Weißen schuld gewesen, Azuka lachte. Es war ein etwas hämisches Lachen. „Wie kommst
erklärte Azuka, denn viele Afrikaner hätten ihre ungeliebten du darauf?", sagte er. „Wieso geschieden? Mein Vater hat vier
Untertanen als Sklaven verkauft. „Wenn sich mein Vater über Frauen."
mich ärgert, sagt er heute noch, dass man früher Leute wie mich Katharina war etwas hilflos und wusste nichts zu sagen. „Jetzt
als Sklaven verkauft habe", sagte Azuka und lachte. „Wenn du willst du bestimmt fragen, ob man das darf, sagte Azuka. „Ja,
auch immer so radikal sein musst", sagte Michael. das darf man." „Funktioniert das denn?", fragte Katharina.
„Man muss wählen, was von den Dingen, die auf der ganzen Welt „Nein", sagte Azuka. „Bei uns in der Familie funktioniert
zugänglich sind, notwendig ist", sagte Azuka. „Man kann nicht das nicht. Das heißt aber nicht, dass es überhaupt nicht
alles, was aus Europa kommt, verteufeln. Das ist mir zu klappt. Bei manchen läuft es hervorragend. Vorrangig ist es eine
ideologisch. Moderne Maschinen können auch in Afrika nützlich Versorgungseinrichtung. Theoretisch hätte ich als ältester
sein." „Ich seh dich schon in Lagos sitzen", sagte Joseph. „Hackst Sohn auf einen Schlag drei Frauen, wenn mein Vater
auf deinem Computer herum, peng, Stromausfall, abgestürzt." sterben sollte." »Im Ernst?", fragte Katharina.
184 185
„Mit allen Rechten und Pflichten", sagte Azuka. „Das wäre
nicht schlecht", sagte Joseph. „Mein Vater hat eine Frau, Verhandlungen ablenken. Als das nichts nutzte, wurde man
die ist sogar jünger als ich. Die Pflichten würde ich gern direkter. So und so viel Prozent der Vertragssumme auf ein von
übernehmen." ihm zu benennendes Konto in Europa. Oder direkte Lieferung
„Das kann ich mir vorstellen", sagte Azuka. „Du hättest gerne bestimmter Limousinen nach Nigeria. Für ihn kostenfrei.
eine Frau auf dem Tablett überreicht. Du bist ein fauler Hund." Kostenfrei und zollfrei." „Und was wurde daraus?", fragte
„Warum nicht?", sagte Joseph. „Mein Vater hat einen guten Katharina. „Nichts", sagte Azuka. „Mein Vater macht bis heute
Geschmack." keine Verträge mit Deutschland."
„Ist das nicht alles sehr kompliziert?", fragte Katharina.
„Ich mein, ich könnt mir meinen Vater mit einer anderen Frau „Vielleicht war das alles nur ein Missverständnis", sagte
nicht vorstellen." Katharina.
„Die meisten Europäer musst du dir schon mit einer anderen Frau „Sei nicht dumm", sagte Azuka. „Es waren Prostituierte. Er
vorstellen", sagte Azuka. „Über neunzig Prozent der Ehemänner konnte sie umsonst in Anspruch nehmen. Das hatte man ihm
betrügen ihre Frauen. Umgekehrt übrigens an die siebzig Prozent." ausdrücklich versichert. Auch kosten- und zollfrei. Seitdem sind
„Wo hast du das denn her?", fragte Katharina. „Das sind für meinen Vater alle deutschen Frauen Prostituierte."
Ergebnisse von Umfragen", sagte Azuka. „Du solltest nicht den Anna hielt die Augen geschlossen. Und Katharina war überzeugt,
Stab über Leute brechen, die aus religiösen und traditionellen dass sie im Sitzen eingeschlafen war. Die Schwedin versuchte,
Gründen mehrere Ehepartner haben. Es gibt auch dabei feste aus ihren langen, glatten Haaren Locken zu drehen, was aber
Regeln. Überhaupt Sicherheiten, besonders, was die Kinder misslang. Schließlich beugte sie sich vor und hielt eine Strähne in
betrifft, die irgendwie der ganzen Gemeinschaft gehören. Die die Kerzenflamme. Es zischte auf und stank fürchterlich, und alle
Geburt eines Kindes ist immer ein Grund zur Freude. Dieses wurden wie auf einen Schlag wach. Michael schoss hoch und zog
moralische Getue, wenn hier ein Mädchen ein uneheliches Kind Eva vom Stuhl. „Es ist spät", sagte er. „Wir müssen gehen." Und
erwartet, das gibt es in Afrika nicht. Afrika ist ein Anna öffnete nach ihren Augen zum ersten Mal an diesem Abend
menschenliebender Kontinent. Manchmal sogar zuviel." den Mund. „Ist was?", fragte sie. „Es ist nichts, Schätzchen", sagte
„Als mein Vater letztes Jahr Europa besuchte, war er erschrocken, Joseph, der auch ohne Fahrrad himmelwärts ragte.
wie unfreundlich sich hier die Erwachsenen zu Kindern Anna schwebte hoch und aus dem Zimmer, und Eva setzte sich
verhalten,", sagte Michael. „Uns fällt das gar nicht mehr auf. Wir einen riesigen roten Hut mit breiter Krempe auf, der sie noch
sind auch schon geschädigt." „Kann sein", sagte Azuka. „Mein umwerfender aussehen ließ. Sie gab reihum den Übriggebliebenen
Vater hat im Grunde auch nur schlechte Erfahrungen gemacht, als die Hand. „Bye, bye", sagte sie. Es klang wie von einem
er geschäftlich in Hamburg war." Musikinstrument. Ihre kühle Hand, die sie gleich wieder entzog,
„Was, dein Vater war mal in Hamburg?", fragte Katharina. fühlte sich an wie eine Schlange.
„Das hast du mir auch noch nicht erzählt." „Was gibt es da zu Und dann waren sie fort wie ein Spuk, und Azuka stand mitten im
erzählen", sagte Azuka. „Es war für ihn eine einzige Tortur. Man Zimmer und hatte einen ironischen Gesichtsausdruck. „Manchmal
holte ihn vom Flughafen ab mit einem Riesenaufwand und lud ihn verstehe ich meinen Vater", sagte er.
in Hamburgs Paradehotel ab. Man stellte ihm Tag und Nacht Später abends stiegen in Katharina die Tränen auf. Sie
,Damenbegleitung' zur Verfügung. Er fühlte sich direkt verfolgt fühlte Wut und Angst und alles und unterdrückte den
und konnte sich vor den ,Damen' kaum retten. Es war primitiv. Drang zu weinen, griff wie aus der Luft Azukas Vater
Sie sollten ihn von seinen geschäftlichen an, der aber nicht zu packen war und ihr allmächtig
erschien.
«Lass mich mit ihm reden", sagte sie.
«Worüber, um Himmels willen", fragte Azuka.
186 187
„Über alles", sagte Katharina. „Dass er mich kennen „Was überlegst du?"
lernt. Ich könnte ihm schreiben. Damit er einen besseren ,,Wie wir es schaffen, dass wir zusammenleben können." „Ja?",
Eindruck bekommt." „Und wozu soll das gut sein?" jubelte Katharina. Ja", sagte Azuka.
„Damit er sich keine Sorgen macht. Deinetwegen." „Er "Ja?"
macht sich keine Sorgen", sagte Azuka. „Das Thema interessiert „Wenn ich es sage.
ihn nicht." Katharina stand auf und ging zu Azuka, und er hielt sie
„Hast du es überhaupt schon versucht?", fragte Katharina. fest und sah sehr unglücklich aus. Ein paar Tage später
„Wenn ich es dir sage, dann stimmt das auch." „Ich war es, als ob Steine sich aus Katharinas Körper lösten.
weiß nicht, was du ihm erzählt hast." „Was meinst du, Sie hatte Geburtstag und fühlte Vorfreude wie ein Kind, aber dann
was ich ihm erzählen sollte?" „Das von dir und mir." kam gar nichts, keine Kerzen, kein Singsang, keine Umarmung.
„Und was heißt das?" Kein Geschenk von Azuka. Er hatte die Nacht durchgearbeitet,
Sie konnte doch beileibe nicht von Liebe reden. „Dass schlief viel länger als sie und setzte sich gleich nach dem
ich eigentlich immer bei dir sein möchte." Und dann Frühstück erneut an den Schreibtisch.
weinte sie doch. Sie sah auf seinen Rücken und hielt es nicht mehr aus. „Ich habe
Azuka blieb sitzen, wo er die ganze Zeit gesessen hatte. Weit Geburtstag", sagte sie.
weg von ihr. Er schrieb weiter, wie um eine Zeile zu beenden, drehte dann den
Warum war er so anders. Nicht zum Steinerweichen. „Du Kopf und zuckte ein Lächeln hin. „Meinen Glückwunsch",
musst Geduld haben", sagte er. „Das ist das eine. Das sagte er. „Großes Mädchen." Und dann strömte es aus
andere ist, dass ich nicht weiß, ob du das alles ihr, die Tränen, die Steine, die Tränen.
aushältst." Sie dachte sich eine Menge Dinge aus. Dass sie eigentlich ein
„Was soll ich aushalten?" schönes Geschenk verdient hätte. Etwas für die Ewigkeit. Ein
„Die Umstände", sagte Azuka. „Die Umwelt. Du und ich. Das ist Schmuckstück. Einen Ring. So etwas in der Art. Zum ewigen
zeitlebens wie auf einer Bühne stehen. Du wirst immer von den Gedenken oder so. Azuka, der zuerst erschrocken ausgesehen
Leuten beguckt werden. Jede Bewegung, jedes Wort wird hatte, war dann aber weiter mit seiner Arbeit beschäftigt, und
begutachtet werden." „Das ist mir egal", sagte Katharina. „Die auch ihr grässliches Schniefen und Schluchzen schien ihn
Leute sind mir egal. Sie interessieren mich nicht." überhaupt nicht zu berühren. Schließlich hörte sie auf, eher aus
„Du gerätst in eine Isolation hinein", sagte Azuka. „Niemand kann Trotz, und es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis er sich
ohne Umwelt leben. Fast niemand. Du wirst es nicht aushalten." bewegte, durch das Zimmer lief und schließlich was sagte. „Was
„Ich halte das aus", sagte Katharina. „Die Leute haben mich nie sollte das sein?", fragte er. Ja, einmal im Jahr Geburtstag und das
interessiert. Ich brauche niemanden. Nur dich. Das ist alles. Und mit den Geschenken und überhaupt das alles.
ich weiß, dass ich stark bin. Du wirst dich wundern." „Du bist wirklich noch ein kleines Mädchen", sagte er. Und dann
„Was weißt du schon", sagte Azuka. „Du wirst dich mit deinen nahm er sich endlich Zeit und erklärte ziemlich unwillig jedoch
Eltern überwerfen. Sie werden es nicht aushalten. Ich werde mich seine Meinung über Geburtstage und versuchte ihr begreiflich zu
mit meinem Vater überwerfen. Und ich weiß nicht, ob ich das machen, dass es nicht nur seine Meinung war, sondern eine
aushalten kann." „Du musst", sagte Katharina. „Ich habe immer Grundhaltung, die aus der afrikanischen Tradition stamme.
mein eigenes Leben geführt. Meine Gedanken, meine Ideen. Was „Was für ein Egoismus", sagte er „dass ein erwachsener Mensch
soll so schwer daran sein?" den Anspruch erhebt, gefeiert zu werden, und für nichts und
„Wie kannst du so sicher sein", sagte Azuka. „Ich bin nicht so wieder nichts als für die Tatsache, dass er älter geworden ist. Ist
sicher. Ich bin am Überlegen." das vielleicht ein Verdienst?
188 189
Ich verstehe das ja noch bei kleinen Kindern, aber ein Mensch wie „Es ist mir zu schwer", sagte sie. „Wenn ich am Ende eines Satzes
du muss doch nicht Geburtstag bei Kerzenlicht feiern." bin, habe ich den Anfang schon vergessen. Ich verstehe den
„Ich bin es aber so gewöhnt", sagte sie. „Es macht mich traurig, Inhalt nicht."
wenn es nicht so ist." Azuka nahm die Seiten. „Ich werde sie gleich kor-
„Das meine ich", sagte Azuka. „Es wird hunderttausend von rigieren", sagte er. „Wieso das?", fragte sie.
diesen Dingen geben, die dich stören und mich stören, und eines „Wenn die Sätze dir zu lang sind, dann sind sie zu lang", sagte
Tages werden wir nur diese Dinge sehen, die eigentlich nichts er.
sagend, aber doch so wichtig sind." „Du nimmst mich ernst", sagte Katharina. „Was?" „Ich
„Es ist schon gut", sagte Katharina. „Es macht mir nichts aus. nehme dich ernst", sagte er. Alles Sätze für die
Wirklich nicht. Ich bin doch nicht jemand, der mitten am Ewigkeit.
Äquator Eis essen will."
„Wir wären gar nicht zusammen, wenn es anders wäre", sagte
Azuka. „Trotzdem wird es immer wieder zu solchen Situationen Zu Hause hatte die Mutter einen Geburtstagstisch gedeckt. „Es ist
kommen. Wir sollten sie vorher durchdenken, das meine ich die das erste Mal, dass du an deinem Geburtstag nicht da warst",
ganze Zeit, und wahrscheinlich fallen uns alle Möglichkeiten gar sagte sie. „Und ich dachte, wir feiern nach."
nicht ein, aber ich möchte nicht, dass du eines Tages aus allen Ein Tisch wie seit 'zig Jahren, mit buntem Papier und Schleifen
Wolken fällst." und Kerzen zum Ausblasen. Die Mutter sang Hoch soll sie leben
„Es ist schon gut", sagte Katharina. „Wirklich. Es ist wahrhaftig und stand mit strahlendem Gesicht da, und Katharina öffnete mit
lächerlich." steifen Fingern die Päckchen, ein Pullover, eine Anstecknadel in
Azuka ging zum Schreibtisch, öffnete die Schublade und holte ein Schmetterlingsform, die sie sich schon immer gewünscht hatte,
kleines Päckchen hervor, das er Katharina reichte. eine Hornspange fürs Haar und ein Ringbuchordner, und die Jahre
„Für mich?", fragte sie. „Zum Geburtstag?" „Ich denke, du kannst wurden auswechselbar, das hatte sich alles schon vor zehn Jahren
es jetzt gebrauchen", sagte er. Es waren drei Batisttaschentücher, ereignet, immer das gleiche, neunzehn Jahre lang, und immer
die eigentlich überhaupt nicht zu benutzen waren, weil sie viel zu noch freute sich die Mutter, und Katharina sah sie an und fühlte
dünn und zu klein waren, aber Katharina heulte noch einmal los sich jämmerlich, weil das alles jetzt nichts mehr zu bedeuten hatte
und schneuzte hinein, dass alles an den Seiten rauskam, und lachte und nur noch ein Symbol war.
und weinte gleichzeitig.
„Danke schön", sagte sie. „Es ist nur ... ich hätte gern was von dir
für die Ewigkeit. Und Taschentücher halten nicht ewig." „Lieber Azuka, ich weiß nicht, warum mir dieses Mal der
„Du hast doch schon mich für die Ewigkeit", sagte er. Abschied von dir so besonders schwer gefallen ist. Eigentlich war
„Mehr kann ich dir wirklich nicht geben." Sie legte ihr es gar kein Abschied, denn ich habe das Gefühl, dass du ständig
Gesicht in seine Hand. „Jetzt muss ich aber neben mir herläufst, ich bin also nie allein, und im Grunde ist das
weitermachen", sagte er leise. „Wirklich." wunderschön. Manchmal rede ich mit dir, und, wirklich, du gibst
„Kann ich dir helfen?", fragte sie. Antworten. Es ist ein sonderbarer Zustand, in dem ich mich
„Ja", sagte er. „Das könntest du. Wenn du die letzten Seiten befinde. Alles um mich herum scheint mir nicht hierher zu
durchlesen würdest." gehören, oder ich bin am falschen Ort, denke mich auch oft fort,
Katharina nahm sich ein paar Seiten eng Beschriebenes und und mir ist, als ob mein jetziges Leben, das ja sehr gerade und
verstand kaum ein Wort. Zu lange Sätze, zu schwierige einfach war, zu Ende ist und es Zeit wird, die Dinge zu
Ausdrücke. Sie war einfach überfordert. verändern.
Ich lese auch die Zeitungsberichte über die Dritte Welt mit
anderen Augen und brauche sie dir nicht zu
190 191
zitieren; ich denke, ich habe eine Menge gelernt. Du weißt, für mich war der Beginn damals viel schwerer. Ein
Über die Widersprüche und über die verschiedenen fremdes Land, und die Familie war weit weg. Du bist doch nicht
Interessen. allein und hast deine Eltern in der Nähe.
In der Schule ist nicht mehr viel los. Alle warten auch Wenn es dir hilft, die Zeit durchzustehen: Auch ich halte die
da auf das Ende. Ich bin ein wenig hilflos. Was ich Entfernung zu dir nicht gut aus. Immer dein Azuka."
machen soll. Ob ich doch Mathematik studieren soll.
Oder was. Das liegt daran, dass ich mir meine Zukunft Katharina wusste nicht, wann die Mutter mit dem Vater die Dinge
überhaupt nicht vorstellen kann. besprach. Irgendwie schien sie von ihm Rückendeckung für ihre
Am liebsten wäre ich bei dir. Diskussionen mit Katharina bekommen zu haben.
Um ehrlich zu sein, ich bin ganz schön verrückt und „Der Papa weiß auch nicht, warum du ausgerechnet Mathematik
halte die Entfernung zu dir nicht gut aus. studieren willst", sagte sie. „Vielleicht nur deswegen."
Schreib mir bald, deine Katharina." „Weswegen?", fragte Katharina.
„Nun ja", sagte die Mutter. „Als ob Mathematik das Einzige auf
„Liebe Katharina, auch mir geht es seit deiner Abreise nicht der Welt wäre."
besonders gut. Wir haben uns sehr aneinander gewöhnt, und ich „Ich habe mich schon immer für Mathematik interessiert", sagte
denke auch, dass du jeden Moment aus dem Zimmer nebenan Katharina. „Das weißt du doch." „Und was willst du dann
kommen kannst. Irgendwie riecht die ganze Wohnung nach dir, werden?", fragte die Mutter. „Ich nehme noch Englisch dazu",
und wenn ich aus der Bibliothek nach Hause komme, erwarte ich sagte Katharina. „Und dann mal sehen."
einen Moment lang, dich gleich zu sehen, aber dann wache ich auf „Mal sehen, mal sehen", sagte die Mutter. „Als ob das so einfach
und merke, dass mein Gefühl nur eine Illusion ist. wäre. Auch mit dem Geld. Was das alles kostet. Wer soll das
In Bezug auf deine weitere Ausbildung meine ich, dass du tun bezahlen?"
sollst, was du für richtig hältst. Du hast dich schon immer für „Ich denke, ich werde schon ein Stipendium bekommen", sagte
Mathematik interessiert, und so solltest du dein Studium nach Katharina. „Wenigstens einen Teilbetrag." „Und der Rest? Es
deinen Neigungen wählen. Sicherlich ist deine Studienrichtung wäre ja egal, wenn man wüsste, dass es sich lohnt. Dass du später
aber eine andere, als ich sie schließlich eingeschlagen habe, einmal fertig wirst und deinen Beruf ausübst. Dann wäre es egal."
weniger technisch aufgebaut. Ich kann mir dich ganz gut „Ich werde schon einen Beruf ausüben", sagte Katharina. „Macht
vorstellen, wie du später Kindern die Mathematik beibringst. euch da mal keine Sorgen."
Vielleicht solltest du noch ein weiteres Fach wählen und „Wir dürfen uns doch aber noch Sorgen um unsere Tochter
Pädagogik. Ich weiß nicht, welche Kombination in Deutschland machen", sagte die Mutter. „Und wo willst du studieren? Willst
möglich ist. Vergiss aber nie, dass eine fundierte Ausbildung die du hier wohnen bleiben?" „Ich weiß nicht", sagte Katharina.
beste Grundlage für eine Zukunft ist. Damit du unabhängig bist, so „Vielleicht. Da müsste ich immer mit der Bahn nach Frankfurt
gut es geht alle deine Möglichkeitea ausschöpfen kannst und fahren. Die Monatskarte kostet auch Geld."
zufrieden wirst. Ich denke, ich werde in diesem Sommer nach „Ja, die kostet auch Geld", sagte die Mutter. „Das mit dem Essen
Hause fahren. Es gibt eine Menge mit der Familie zu besprechen,, und so, das hast du ja schon die ganzen Jahre gehabt. Aber alles
und ich bin schon seit drei Jahren nicht dort gewesen. Ich werde in Drum und Dran. Ja, die Monatskarte. Und was sonst noch ist. Ich
Ruhe mit meinem Vater sprechen müssen, auch über meine weiß nicht. Und dann fährst du jede Ferien dahin. Das findet der
Zukunft. Papa ja auch, wir bezahlen dir alles, und dann machst du dauernd
Du solltest Geduld haben, auch was dich und mich betrifft. Es ist deine Vergnügungsreisen nach England. Das
keine einfache Geschichte, das solltest du verstehen und wissen,
dass ich mein Möglichstes tun! werde, dass die Zukunft lebenswert 193
wird. Auch für dich. Bitte konzentriere dich auf die Arbeit an der
Universität.
192
geht eben nicht. So haben wir das Geld ja auch nicht." Die Die Universität, die fängt doch erst im Herbst an. Also, was soll
Mutter sah Katharina nicht an, und Katharina vermied es auch das. Mit dem Bezahlen."
hochzusehen. Es wurde alles komplizierter, aber vielleicht
arbeiteten auch eine Menge Leute daran, alles komplizierter zu „Ich geh jobben", sagte Katharina. „Ich bezahl dann alles selber."
machen. Ich steh das schon durch, dachte Katharina, aber ich „Als ob das so einfach ist", sagte die Mutter. „Du hast
bin verdammt noch mal sehr allein. Vorstellungen. Als ob die dich nehmen. Du gehst jobben! Jawohl.
Und andere suchen seit Jahren. Mein Gott, du hast Vorstellungen.
Kurz vor dem mündlichen Abitur erzählte Claudia von frei Von allem. Vom Leben und überhaupt."
werdenden Zimmern in Uninähe, und Katharina versuchte die Das größte Zimmer der Wohnung in der Nähe der Universität
Mutter darauf vorzubereiten, dass sie von zu Hause ausziehen wurde von Birgit bewohnt, einer Psychologiestudentin, die mit
wollte. ihrer Diplomarbeit beschäftigt war und sich kaum um die beiden
„Claudia hat einen Bekannten, und der kennt jemand, eine anderen Mädchen kümmerte. Wie sich später herausstellte, war
Studentin, die hat zwei Zimmer in der Wohnung frei. Also, Claudias Freund Arno von derselben Fakultät. Er war dort wis-
Claudia zieht dahin, und ich könnte auch ein Zimmer senschaftlicher Assistent.
bekommen, direkt in Frankfurt, und eigentlich möchte ich das Claudia zog mit Hilfe von Arno um, der auch die Wohnung
machen." vermittelt hatte. Er war viel älter als Claudia, die Katharina in
„Ja, wieso?", fragte die Mutter. „Aber ist das nicht so eine seiner Gegenwart wie verwandelt vorkam. Ein kleines Mädchen
Wohngemeinschaft?"
„Ja", sagte Katharina. „Das ist eine Wohngemeinschaft. mit Piepsstimme, das ihn unentwegt wie von unten nach oben
Das ist billiger, als irgendwo ein Zimmer zu mieten." „Ich ansah. Sie stellte Arno Katharina vor.
dachte, du bleibst noch bei uns." „Das Zimmer ist nicht „Katharina?", fragte er. „Hab ich nicht schon von dir gehört?"
teurer als die Monatskarte für die Bahn", sagte Katharina. „Klar", sagte Claudia. „Das ist die mit dem Neger." „Angenehm",
„Und ich bin gleich an Ort und Stelle. Die Zeit sonst, die sagte Arno. „Mach dir nichts draus. Nur die Arschlöcher dieser
draufgeht." „Ja, du liebe Zeit", sagte die Mutter. „Du Welt können was dagegen haben, weil sie eben Arschlöcher
liebe Zeit. Was soll ich da sagen. Und der Papa. Was sind." Dann trat er näher an Katharina heran und legte einen Arm
wird der sagen." um ihre Schultern. „Ich find dich toll, Schätzchen", sagte er. „Ich
„Ich sag's ja nur", sagte Katharina. „Damit ihr Bescheid wisst. unterstütze dich vollkommen. Wir müssen zusammenhalten, denn
Ich will das machen." wir wissen genau, wo's langgeht. Ich finde Neger gut. Mein
„Ich will mal mit dem Papa reden", sagte die Mutter. „Was der bester Freund ist einer."
sagen wird. Dass aber alles auch so durcheinanderkommt. Aber Katharina versuchte, sich aus Arnos Arm herauszuwinden. Arno
vielleicht überlegst du es dir ja noch. Es läuft noch viel Wasser hielt aber fest. Er kam mit seinem Gesicht nah an ihres.
bis dahin den Berg hinunter." „Nächste Woche habe ich „Manchmal gehen wir einen saufen", sagte er. „Der Neger und
mündliche Prüfung", sagte Katharina. „Und dann bin ich fertig. ich. Wir sind die besten Freunde, glaub's mir. Und wenn wir so
Und die Wohnung in Frankfurt ist auch schon leer. Die Zimmer, richtig voll sind, dann nenne ich ihn Nigger, verstehst du, Nigger,
meine ich. Claudia zieht am Wochenende ein. Ich könnte auch solche Freunde sind wir. Und er hat nichts dagegen und nennt
gleich. Also nächste Woche." mich Nazi, verstehst du, Nigger und Nazi, und das ist alles in
„Ach", sagte die Mutter. „Ja, wie. Sollte man das nicht besser
überlegen?" Ordnung mit uns."
„Ich hab das überlegt", sagte Katharina. „Wirklich. Es ist das Katharina schaffte es schließlich, sich von Arno abzustoßen. Sie
Beste und das Billigste." wusste nichts zu sagen. Am besten sagte sie nichts. Sie fühlte
„Überhaupt mit dem Geld", sagte die Mutter. „Du machst ja sich gequält.
doch, was du willst. Wie hast du dir das denn vorgestellt.
Schon Monate vorher das Zimmer bezahlen.
195
194
Zu Hause war Katharinas Abschied wie eine Trauerfeier, obwohl
sie fast alle Sachen daließ. Auch die dreckige Wäsche wollte sie
der Mutter bringen. Das hatte sie versprochen.
Das Zimmer, in dem sie so viele Jahre gelebt und geträumt hatte,
wirkte schrecklich leer. Sie nahm ein paar Bücher mit, und beim
Aufräumen fiel ihr das englische Liederbuch in die Hände, das sie
eigentlich Amobi hatte schicken wollen. Dafür war es nun
irgendwie zu spät. Katharina fühlte sich beladener denn je. Ihr war
die Unschuld abhanden gekommen, die himmlische Naivität, und
sie hatte den Stand der Unwissenheit längst zurückgelassen.

196
KAPITEL 8 Land. Und, wart mal, zweihundertaehtundvierzig Sprachen.
Mindestens."
Das kleine Zimmer in Bockenheim war kaum herzurichten. Es „Du kennst dich da aus?"
„Eigentlich nicht", sagte Birgit. „Aber wir haben ab und
war möbliert mit Stahlrohrbett und Holzschrank und einem
zu mal Afrikaner im Seminar. Und da will ich wissen,
Schreibtisch, der anscheinend aus einem alten Tapeziertisch
woher und wozu und so weiter."
gefertigt war. „Mir wäre das egal", sagte Claudia. „Ich weiß ja doch
Katharina stellte ihre Bücher auf ein Hängeregal und nicht, wo das alles liegt. Afrika ist eben Afrika. Ich
klebte eine große geographische Karte von Afrika an die behalte das nicht, all die vielen Länder. Tut mir Leid.
Innenseite der Zimmertür. Sie hatte auch ihre Platten Und außerdem könnte ich nicht einen Neger vorn anderen
mitgebracht, und Claudia lieh ihr den Schallplattenspieler. unterscheiden. Sie sehen alle gleich aus. Obwohl ...
manche sehen gut aus, mein Gott, die haben Körper.
Katharina hörte Highlife. Claudia saß auf Katharinas Bett, Habt ihr Body und Soul gesehen? Wahnsinn. Die haben
aufgekratzt und neugierig. „Was für eine schreckliche den Rhythmus im Blut. Wie die sich bewegen, auch im
Musik", sagte sie. „So eintönig und immer dasselbe. Das hält Publikum, die Neger machen da alle mit, hemmungslos,
man ja im Kopf nicht aus." „Ich finde sie schön", sagte das würde sich keiner von uns trauen."
Katharina. Birgit, die gleichzeitig alt und jung aussah, war Katharina wusste nicht, warum ihr die Worte im Hals
an der offen stehenden Tür vorbeigekommen und lehnte sich stecken blieben, und sie sah Birgit wie um Hilfe suchend
an, aber Claudia fuhr fort, weiter und weiter.
an den Rahmen. Claudia übernahm die „Es mag ja was dran sein, an deinem... Wie heißt er
Erläuterungen. „Dschungelmusik aus dem tiefsten, doch? Ich versteh das zwar nicht, aber er ist ja kein
dunkelsten Afrika", sagte sie. Asylant, und Ami ist er auch nicht, das wäre ja das
Birgit fuhr mit einer Hand, die seltsam nach innen gekehrt Letzte, aber trotzdem, ich jedenfalls kann mir nicht
aussah und die Katharina richtig anzusehen sich nicht traute, vorstellen, dass ich in eine solche Situation kommen
um das Türblatt herum, wie um auf das Plakat zu zeigen. würde."
„Ich kann mir auch manches nicht vorstellen", sagte
„Afrika?", fragte sie. „Hat das was zu bedeuten?" „Und Birgit, „aber das gibt es trotzdem, zum Beispiel dich
ob", sagte Claudia. „Sie ist mit einem Afrikaner und Arno zusammen, überhaupt, wie du mit ihm zusammen
zusammen." sein kannst." „Was meinst du?", fragte Claudia.
„Hmhm", sagte Birgit. „Und wenn ich fragen darf... „Bei ihm bekommt die Redensart einen Sinn, dass der
Psychologie studiert, der es am nötigsten hat." „Was
Afrikaner, also schwarz?" meinst du damit?", fragte Claudia noch einmal, aber
„Wie die Nacht", sagte Claudia. Birgit hatte sich vom Türrahmen abgedrückt und war
„Sie spinnt", sagte Katharina. „Eher braun. Es gibt gegangen.
Katharina wusste nicht, ob es so gut gewesen war, von zu
Hunderte von Farbtönen auf der Welt, nicht nur schwarz Hause fortzuziehen.
und weiß." Katharina hatte zwei Stellen zur Auswahl. Bei McDonald's in
„Das regt mich auch immer auf, sagte Birgit. „Die der Küche oder bei Penny Kisten auspacken. Birgit riet von
Sprache ist so arm, obwohl sie so reich sein könnte. McDonald's ab. Sie hatte irgendwo gelesen, wie schamlos
Und diese Schubladen. Was nicht reinpasst, wird passend dort das Personal ausgenutzt wird. Katharina fing also bei
gemacht. Woher? Dein Afrikaner?" „Aus Nigeria." Penny an, arbeitete vier Stunden täglich und fühlte sich auch
„Und woher da? Es gibt so viele Volksstämme in dem ausgenutzt. Das Geld am Ende des Monats aber reichte
gerade für Miete und Essen, und an das Geld dachte
Katharina die ganze Zeit
212
213
über, während sie die Kisten aufschnitt, aufriss und Dosen und läufig miteinander verwandt fühlen, sehr zusammenhalten, so dass
Gläser und Pakete in die Regale packte. Sie entdeckte, dass ich im Grunde der Sohn von vielen Menschen bin und eine
Bananen ausschließlich aus Südamerika kamen und Ananas aus Unzahl von Brüdern und Schwestern habe. So war es also sehr
Singapur und von der Elfenbeinküste, und Elfenbeinküste war kurzweilig, und ich war dauernd auf Reisen. Zu Hause dann hat
doch schon sehr nah. Am Wochenende fuhr sie nach Hause. Wie meine Mutter alle meine Lieblingsgerichte gekocht, auch wenn es
geht es denn? Es geht mir gut. Es ging ihr nicht so gut, als das meine Leibspeisen in der Kindheit waren und ich mich doch
Semester angefangen hatte und sie Arbeit und Studium verbinden mittlerweile an alle möglichen europäischen Gerichte gewöhnt
musste. Um fünf Uhr aufstehen und bis spätabends am habe. Das konnte ich ihr aber doch nicht sagen. Sie nahm an, dass
Schreibtisch sitzen. ich halb verhungert war.
Es war schon Herbst, als Azukas Brief zu Hause ankam. „Willst Es ist sehr schön, in einer großen Familie der älteste Bruder zu
du ihn nicht lesen?", fragte die Mutter, als Katharina den sein. Morgens wurde ich von einer kleinen Schwester geweckt, die
geschlossenen Umschlag in die Tasche steckte. ich kaum kannte, weil sie erst geboren wurde, als ich schon in
„Zu Hause", sagte Katharina. England war. Die Brüder wollten Ratschläge für die Schule und
Zu Hause war nicht mehr zu Hause. Die Dinge änderten sich. ihre weitere Universitätsausbildung. Alle übrigens denken, Europa
Sie las den Brief auch nicht in der Bahn, obwohl er ihr auf der — und damit meinen sie England — ist das Paradies, wo es keine
Seele brannte. Sorgen gibt. Sie können sich nicht vorstellen, dass es in einem
Erst am Schreibtisch, als der heiße Lichtstrahl aus der braunen reichen Land Probleme gibt, und wenn ich ihnen erzähle, dass
Metallfeuchte auf Hände und Umschlag fiel. Es war ein dicker man als Afrikaner beispielsweise Schwierigkeiten hat, eine
Brief. Also war er lang. Ob das gut war oder schlecht, wollte Unterkunft zu finden, weil Weiße keine Schwarzen in der Nähe
Katharina nicht entscheiden. Abgestempelt war er in London. haben wollen, dann finden sie das schon sehr verwunderlich. Sie
Also doch schon London. Das war gut und nah und so denken, so was gibt es nur in Südafrika. Das gilt natürlich nur für
bekannt. diejenigen, die noch nie in Europa waren. Auch die Familien, die
einen Fernseher haben, wissen ein wenig mehr, aber sie schauen
„Liebe Katharina", schrieb Azuka. „Es sind viele Wochen die ganze Zeit amerikanische Filme und denken dann auch, dass
vergangen, Monate schon, denke ich, und ich weiß, dass du lange es so überall auf der Welt zugeht.
auf meinen Brief warten musstest. Ich hoffe, dass es dir in der Lange Gespräche hatte ich auch mit meinem Vater, von dem ich
Zwischenzeit gut gegangen ist und du eine ruhige Zeit gehabt hast ja in gewisser Weise sehr abhängig bin. Nicht nur, was die
ohne viel Aufregung. Auch stelle ich mir dich jetzt als Studentin Finanzierung meines Studiums betrifft, sondern auch im Hinblick
vor. Ich bin sicher, du kommst gut zurecht und blickst voller auf meine berufliche Zukunft. Er hat sehr feste Vorstellungen, wie
Zuversicht in deine berufliche Zukunft." du weißt. Wir haben auch über dich gesprochen. Ich bin da aber
Schon da konnte Katharina vor Tränen kaum etwas sehen. Sie auf Granit gestoßen. Der alte Mann ist zornig. „A capital NO", hat
wollte nicht weinen, weil sie dachte, dass der Brief ja nun gleich er gesagt.
besser werden müsste und sie nichts verpassen wollte, aber dann Ich denke schon, dass das nicht so leicht zu umgehen ist, weil er
waren die Augen übervoll und liefen über und auf die Seiten des ein wichtiger und einflussreicher Mann ist, der mir nur Steine in
Briefes, dass die Tinte verwischte und der Text wie mit kleinen den Weg legen würde. Und in deinen. Eigentlich habe ich das die
ausgefransten Teichen besprenkelt war. ganze Zeit gewusst und dir auch zu verstehen gegeben. Wir
„Meine Zeit zu Hause ist nicht sehr ruhig verlaufen", schrieb müssen also weiterhin Geduld haben. Verlange nicht, was ich dir
Azuka weiter. „Ich habe die Tage an verschiedenen Orten nicht geben kann, nicht im Moment. Darum will ich dich bitten,
verbracht, weil ich nach all den Jahren erst mal die vielen dass du mich richtig verstehst und diese Geduld auf dich nimmst.
Verwandten besuchen musste. Ich hatte dir erzählt, dass die Ich bin immer dein Azuka."
Familien, die sich auch nur weit-
214 215
nur halbwegs, sah auf Birgits Hände, die gar keine waren,
wie Zangen, nur jeweils zwei Finger über der Handfläche,
Es war kein Liebeskummer, was Katharina verspürte, eher ein
Ausgeliefertsein an das Unvorstellbare, an das Nichts. Sie über dem Gelenk.
weinte die ganze Nacht durch, versuchte mit den „Ich kann dir nur sagen, dass du von den Tabletten
Gedanken durch eine Wand zu kommen, um ihr Leben nicht gestorben wärst", sagte Birgit. „Erstens sind es viel
greifbar und planbar zu machen, aber sie sah nur grau- zuwenig, und zweitens sind keine Barbiturate drin. Es
gesichtige Menschen, die irgendwie alle Trauer trugen, hätte dir gar nichts genützt. Du wärst irgendwann wieder
und sie fühlte eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit. Am aufgewacht, und dir wäre hundeelend gewesen, zum Kotzen
Morgen suchte sie einen Arzt auf, hatte sich ihre und mehr, jedenfalls so, dass du bereut hättest, überhaupt
Sonnenbrille aufgesetzt und erzählte dem alten Mann die so'n Zeug genommen zu haben. Wenn du Glück gehabt
Geschichte ihrer Schlaflosigkeit. Es war eine phantasievolle hättest, wäre es so gekommen, aber es hätte auch anders
Erzählung, und Katharina wunderte sich über die Nüchternheit, sein können, je nachdem, wie lange, wie viel, wie schwer,
mit der sie kühl und ruhig ihren Text abspulte. Eine und du wärst mit einem Hirnschaden zu dir gekommen,
Liebesgeschichte. Gewiss. Aber nichts gegen die Realität, zu dir und somit nicht zu dir, und das wäre die Hölle
eher eine banale Story über ein Mädchen und irgendeinen gewesen und nicht das, was du jetzt durchmachst."
jungen Mann, dessen Vater die Verbindung zwischen Katharina pustete lauter banale Sätze heraus. Ich kann
beiden nicht wünscht. Der junge Mann blieb blass. doch nicht leben ohne ihn. Was für eine Zukunft habe
Katharina konnte sich ihn auch nicht vorstellen. Der Vater ich ohne ihn. Was soll ich tun ohne ihn.
war schon markanter. Reich, erfolgreich. Vielleicht ein bisschen Und doch konnte sie es nicht anders ausdrücken. Schwulst
wie der Arzt, der ihr die Geschichte abnahm. „Ja, das sind und Tränen.
schon Sorgen", sagte er. „Sie müssen mal zur Ruhe „Bist du überhaupt sicher, dass du ihn richtig verstanden
kommen."
Sorgen, dachte Katharina, das sollen Sorgen sein, wie würde er hast?", fragte Birgit.
reagieren, wenn er die wahre Geschichte hörte. Sie bekam ein „Ja", sagte Katharina. „Was gibt's da zu verstehen? Es
Schlafmittel verschrieben. „Probieren Sie es aus", sagte der ist aus. Aus ist aus. So einfach ist es."
Arzt, „und berichten Sie mir." Wieso, dachte Katharina, wieso „Und dann ist für dich das Leben nicht mehr lebenswert."
merkt er nichts, das mit der Sonnenbrille und meine Kälte „Ja", sagte Katharina trotzig. „So ist das." Und dann
innendrin, wieso setzt er nicht Himmel und Erde in Bewegung bekam das Draußen doch ein bisschen Farbe, und das
zur Rettung der verlorenen Seele. war so etwas wie Wut, eine schöne rote Wut, die sich
erst einmal gegen Azuka richtete. „Für ihn ist es erst
Zu Hause und schon gegen Abend zählte sie die Tabletten ab, einmal aus, weil etwas nicht geht, was nicht gehen soll,
zwanzig. Ob das reichte. Ob das genügte für den endlichen und ich sitze hier alleine, und das ist ihm egal."
Schritt. „Und da wolltest du ihn bestrafen", sagte Birgit.
Wer würde sie finden. Vielleicht überhaupt niemand. Wer hätte „Ja", sagte Katharina. „Nein."
denn schon Lust, sich um sie zu kümmern. Jeder ffir sich, und Birgit öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches und
keiner für den anderen. Überhaupt. Wer würde es erklären, holte ein Taschentuch heraus, ein weißes Tüchlein mit
später; wenn alles vorbei wäre. Sagen, wie es gewesen viel Spitze, und sie putzte sich die Nase damit, mit
war. diesen Händen, die ganz geschickt und nicht eigentlich
Sie erklärte es Birgit, die still in der Wohnung gesessen hatte. wie Zangen waren, solche Seeräuberhände, und Katharina
Stürzte in? ihr Zimmer, schon wieder wie aufgelöst und in gewöhnte sich an den Anblick, anfassen würde sie sie
Tränen und hoffte, dass Birgit sie nicht einfach in den Arm nicht, warum eigentlich nicht, anfassen würde sie sie
nehmen würde. doch.
Birgit saß auf ihrem Bett, Katharina gegenüber, und war nicht „Woher weißt du das alles überhaupt?", fragte sie. „Das
entsetzt, nicht erschrocken, erzählte ihrerseits eine Gesehiehte, mit den Tabletten."
und Katharina sah sie an, hörte kaum hin, „Ich habe es mir jedenfalls nicht ausgedacht", sagte
Birgit, „es ist alles passiert, in meiner allernächsten
Nähe", und schaute sie ruhig und unverwandt an.
217
Katharina holte tief und etappenweise Luft, bis ein ganz kindischer
Schluckauf sie schüttelte und sie sich schämte, überhaupt noch ein
Wort zu sagen. Sie presste die Hand fest auf den Mund, sah auf
Birgit und wer weiß wohin. Sie wusste nicht, ob sie Birgit mochte.
Sie war so kühl, so ganz ohne Wärme, aber sie war da, und
Katharina dachte, vielleicht ist das schon viel und alles, was man
überhaupt erwarten kann: dass jemand da ist. Die Wut verstärkte
sich noch, und nach ein paar Stunden war Katharina in der Lage,
etwas zu sagen. Sie schrieb einen Brief an Azuka. Es war ein
stinkender Brief; und er sollte auch so sein. Sie schrieb wie mit
Worten anderer über verlorene Wochen und Monate und fürchtete
sich vor den kommenden. Sie sprach über die Feigheit von Leuten
wie Azuka und meinte ihre Verletztheit. Sie wollte Freiheit und
sehnte sich nach Gebundenheit. Sie schrieb aus, aus, aus, voller
Zorn und Eifer, und ging wie mit hochgekrempelten Ärmeln
hinaus in das, was sie gerade beenden wollte.
Sie begrub ihre Gefühle, die Trauer und die Sehnsucht, und blickte
aus sich heraus mit Augen aus Glas. Zu Hause, bei den Eltern, gab
es Wochenenden, die alltäglich waren und Katharina wegen ihrer
Banalität zu Tränen hätten bringen können, aber es berührte sie
nicht, der Sonntagsbraten und die Fernsehsendungen, die Stille.
Einmal fiel die Frage: „Und was ist mit Azuka?" Die Mutter hatte
gefragt, hatte Katharina nicht angesehen, und die sah auch nach
vorn, zuckte mit den Schultern. „Es ist aus", sagte sie.
Der Vater war wie vom Blitz getroffen, fuhr zusammen und drehte
sich aus der Hüfte heraus zu Katharina, um sie anzustarren. „So?",
fragte er, und dann war da schon die Gegenbewegung, zurück und
fort, und sein Blick hing am Bildschirm. „Gratuliere", sagte er. Die
Mutter sagte gar nichts, sah eher bedrückt aus, wie misstrauisch,
als ob sie Katharina nicht glauben würde, und legte eine fremde
Trauer auf ihr Gesicht.

218
Wochenenden ging es Claudia schlecht. Da lag sie mit
verquollenen Augen im Bett, bis mittags oder darüber
hinaus, schlurfte vielleicht über den Flur in die Küche,
KAPITEL 9 um nach einem Rest Kaffee zu suchen, ihr Nachthemd
hing schlampig von einer Schulter herab, wenn sie
überhaupt eins anhatte und nicht nur im Slip in der
Wohnung herumlief.
„Ich kann's nicht mehr sehen", sagte Katharina, weil ihr
fast schlecht wurde. „Reiß dich zusammen, was ist
überhaupt los?"
Aber an Wochenenden war Claudia nicht zu gebrauchen,
Einige Wochen lang genoss Katharina das, was sie sich selbst nicht anzusprechen.
gegenüber als Freiheit bezeichnete. Sie war schon lange nicht „Wasch dich, kämm dich", sagte Katharina.
mehr allein gewesen, im Grunde seitdem die Sache mit Oliver Claudia sagte: „Scheiß der Hund drauf."
angefangen hatte. Unfrei hatte sie sich eigentlich nie gefühlt, aber
jede Entscheidung, die von ihr zu treffen war, hatte eine gewisse „Was ist eigentlich mit Claudia los?", fragte sie Birgit,
Rücksicht verlangt. Immer ein kurzer Gedanke an jemand als sich mal die Gelegenheit ergab.
anderen. Ihre neue Freiheit war in Wirklichkeit ziemlich begrenzt „Weißt du das nicht?", fragte Birgit, die mit ihren Händen
und beschränkte sich auf die Freude beim Einkaufen von ohne Schwierigkeiten Flaschen aufnahm und in eine Kiste
Kleidungsstücken, die nur ihr gefallen mussten. Ohne den kurzen legte, dass Katharina es aufgab, Birgit als behindert zu
Blick zurück werfen zu müssen, kaufte sie sich einen betrachten.
himmelblauen Pullover, der sie wie ein Baby aussehen ließ und in „Was soll ich wissen?", fragte Katharina.
dem sie sich mochte. Aber das war dann auch schon alles. Ihr „Na schön", sagte Birgit. „Sie erzählt es wohl keinem,
Studium absolvierte sie mit Wut und Liebe zugleich. Die Arbeit aber ich weiß es, weil ich Arno mindestens ebenso lange
bei Penny behielt sie bei, wenn auch nur, um den Eltern zu zeigen, kenne wie sie."
dass es auch so ginge. Und es ging. „Was weißt du?", fragte Katharina.
Das Zusammenleben mit den beiden anderen gestaltete sich „Oh", sagte Birgit. „Er ist verheiratet, hat vier Kinder
schwierig. Birgit war weniger greifbar, als Katharina es sich zu Hause, führt eine Wochenendehe und hält sich Claudia
wünschte. Claudia aber ging ihr einfach auf die Nerven mit als Alltagsbraut."
Launen, die ständig wechselten und unbe-gründbar erschienen. „Und das macht sie mit?"
Katharina war oft zu müde, um auf Claudia einzugehen. Sie hatte „Das macht sie nicht mit", sagte Birgit. „Deswegen die
ihr über den letzten Stand ihrer Geschichte mit Azuka nichts Schreierei und die Heulerei, und samstags liegt sie im
erzählt, und Birgit schien auch den Mund gehalten zu haben. Bett und wartet auf Montag."
Claudia war überhaupt so mit sich selbst beschäftigt, dass sie „Und was redet sie denn über mich", sagte Katharina.
nichts um sich herum wahrnahm, und das war gut so, „Was redet sie denn so von wegen klaren Verhältnissen
irgendwelche Ratschläge hätte Katharina jetzt nicht gebrauchen und wissen, wo's langgeht und so. Was redet sie denn
können, war im Grunde auch zufrieden, so wie es lief. Hatte sich so, schon seit Monaten, oder sind es schon Jahre, also
zugemacht, Ohren und Augen und Kopf. Dass nichts mehr an sie seit einer Ewigkeit hat sie mich bearbeitet, was für'n
rankam. Scheiß ich baue."
Claudia interessierte sich für nichts als für ihren Arno, mit dem sie „Das ist so", sagte Birgit. „Das ist so gerade bei denen,
Abend für Abend verbrachte, an dessen Hals sie hing, wann die selber nicht wissen, wie ein und aus, weil sie
immer er in ihrer Nähe war, und er tätschelte sie ab und zu wie ein eigentlich die ganze Zeit zu sich selber reden, weil sie
Hündchen, dass sie dankbar war und am liebsten in ihn wissen, wie's eigentlich richtig wäre mit ihnen, und dann
reingekrochen wäre. Montags bis freitags waren Arno- müssen sie eben ein anderes Feld beackern und kurz
Tage, und an den daran glauben, es wäre ihr eigenes."
„Mir ist schlecht", sagte Katharina.
230
231
„Im Grunde aber machen sie die ganze Zeit über mit
sich die falschen Dinge", sagte Birgit. „Sie ist so dumm und Welt besser zurecht. Wenn du kapierst, dass möglicherweise all
kauft freitags noch Mitbringsel für seine Kinder." „Woher diese Leute Unrecht haben, weil sie dumm sind oder feige oder
weißt du das alles?" bösartig oder voreingenommen oder hinterhältig.
„Och", sagte Birgit. „Er erzählt das alles, weil er es loswerden Wenn du kapierst, dass möglicherweise du Recht hast. Du allein.
muss. Er sitzt dann im Institut und heult auch los, weil er nicht Dann gibt es auch keine Enttäuschungen." „Sicher", sagte
weiß, was er machen soll, beziehungsweise alles machen und Katharina, „sicher", und war dann schon weit weg, um Birgits
alles haben will wie ein kleines Kind, weil er im Grunde auch
noch eins ist, und das weiß er auch." Sätze zu füllen mit Erfahrungen und Gesehenem. Die Wahrheit,
„Und so was ist Psychologe?", fragte Katharina. „Und dachte sie, die Wahrheit redet kaum einer, und was ist Liebe,
kein schlechter", sagte Birgit. „Er hat ein ganz gutes doch nur Habenwollen, Behaltenwollen, und was ist das Leben,
analytisches Denkvermögen, solange es um andere geht. das Einzige, was ihr gegeben wurde, und sie nahm sich vor,
Und er wäre ein noch besserer, wenn er gezwungen wäre, daraus etwas zu machen.
sich selbst zu begreifen, aber niemand stellt ihn vor die
Alternative, das bisschen Heulerei von zwei Frauen tut ihm Sie sah Leute und Orte und Himmel und Erde mit anderen
doch gut." „Mir ist zum Kotzen", sagte Katharina. „Das Augen. Klarer und schärfer und mit einer gewissen Neugier.
habe ich _ schon längst aufgegeben", sagte Birgit. „Du Schaute hoch und sah einen Husch Mistelzweige im hohen
kannst im Übrigen auch niemanden verbessern, glaube ich. Baum neben dem Straßenbahndepot. Ja, gibt's denn so was,
Du kannst nur oberflächlich was ändern, und auch nur dachte sie.
dann, wenn es dich direkt berührt. Dann musst du den Natürlich suchte sie einen Aufhänger, um an Azuka wieder
Leuten auf die Finger klopfen. Das habe ich mit ihm heranzukommen. Aber wie. Aber was. Sie kaufte eine
gemacht. Weißt du, wie er mich nannte, anfangs? Geburtstagskarte, hätte ihm gerne die ganze Welt geschenkt,
Krüppelchen! Er hat schnell gemerkt, dass es mir keinen Spaß aber Azuka mochte Geschenke nicht. Sie kaufte eine Karte, auf
macht, wenn Leute sich auf Kosten anderer amüsieren. die Gräser und Blumen geklebt waren, und hoffte, dass das
Seitdem geht es. Er kennt seine Grenzen bei mir. Und Stück Wiese lebendig genug war.
das musst du im Übrigen bei allen Leuten machen. Dein „Lieber Azuka", schrieb sie, „ich gratuliere dir von Herzen zu
ganzes Leben lang." deinem Geburtstag. Ich hoffe wirklich, dass es dir gut geht.
„Ich hab mir das anders gewünscht", sagte Katharina. Kathi"
„Ich mir auch", sagte Birgit. „Weißt du, als Kind war Mehr ging nicht, mehr konnte sie nicht. Sich ausbreiten vor
das auch nicht so einfach bei mir wegen meiner Hände. Es ihm, das Innere nach außen kehren, lieber Azuka, mir geht es
sind meine Hände. Ich bin damit geboren, ich komme damit schlecht, und ich trage Trauer wegen der Menschen, wegen der
zurecht, es sind gute Hände, sie sind zu gebrauchen, und vor Welt, wegen dir und mir, überhaupt, möchte meinen Kopf an
allem, es sind meine. Ich habe lange gebraucht, bis ich das deinen lehnen und endlich zu Hause sein, wenn du weißt, was
kapierte, weil andere das nicht als so normal ich meine, du weißt das doch, konnte sie das schreiben?
betrachteten. Mitschüler. Die mussten immer hingucken. Es war alles anders geworden. Die Sehnsucht war weniger
Finde ich heute nicht mehr so schlimm. Wenn etwas aus süchtig und die Trauer auch weniger traurig. Katharina ruhte
dem Rahmen fällt, muss man eben hingucken. Aber gut in sich selbst.
Erwachsene! Das war am schlimmsten. Weißt du, ich
habe dann das Tagebuch der Anne Frank gelesen, wo Bei den Eltern war Oliver zu Gast, auf einen Sprung
sie schrieb, sie glaube an das Gute im Menschen. Ich vorbeigekommen. Die Mutter war aufgeregt und ließ
hab das lange gesucht als Kind, das Gute im Katharina allein mit ihm. Er saß sehr aufrecht da, in
Menschen. Ich kann dir sagen, das gibt es nicht. Ich irgendeiner Bundeswehruniform, und sah stolz aus und wie
glaube an das Schlechte im Menschen. Seitdem geht es frisch gewaschen, und Katharina hatte Mitleid mit
besser. Wenn du davon ausgehst, kommst du auf dieser
233
232
ihm und wusste nicht, warum. Oliver freute sich offensichtlich, Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihr war bewusst,
grinste breit, und Katharina fiel auf, dass er sich sehr gründlich dass es Situationen gab, in denen eine Diskussion unnütz wurde.
rasiert hatte. Rötlich gescheuerte Haut und an einer Stelle blutig.
Wie es ihr ginge und was sie so mache. Seine Augen versuchten Verschenkte Worte, die nur ihre Kraft kosteten. So sah sie Oliver
alte Vertraulichkeit, und Katharina fühlte sich, als ob sie nur an, wie entsetzt, und er musste das sehen, stand auf und sagte
jemanden ertappt hätte, und hätte es- doch gern übersehen. fast flüsternd: „Du bist nicht mehr zu retten."
Schließlich kam er doch auf das Thema zu sprechen. Ob sie nicht Sie verstand genau, wie er sich fühlte, wie ein geschlagener Ritter,
vielleicht solo wäre. „Wie kommst du darauf?", fragte sie. „Ich der versucht hatte, die Frauen seines Landes gegen die
dachte nur", sagte er. „Und wenn, dann könnten wir vielleicht ... Eindringlinge zu verteidigen, und dieses Bild brachte sie fast zum
ich meine, aus alter Freundschaft, und ich könnte alles Lachen. Aber dann wurde es mit einem Schlag eiskalt in ihr, und
vergessen, ja wirklich, alles, was war, könnte ich vergessen." sie fror und verließ das Zimmer.
„Was war denn?", fragte Katharina, die eigentlich vergessen
hatte, was mit ihm je gewesen war. Die Mutter war später verlegen gewesen. Sie standen beide vor
„Nun", sagte er, „was du inzwischen... Ich würde dir dem Küchenschrank, und die Mutter zog eine Karte aus ihrer
wirklich alles vergeben. Ich denke, du warst verrannt, und Küchenschürze, reichte sie Katharina und sah sie nicht an. „Ich
ich hatte dir so was auch nicht zugetraut, aber ich würde es wollte sie dir beinahe nicht geben", sagte sie.
dir vergeben und ganz von vorn anfangen." Katharina fühlte Es war eine Ansichtskarte von Azuka, die er aus Straßburg
Wut in sich aufsteigen, weil er für das, was er weitläufig geschrieben hatte, und Katharina verstand nichts und steckte die
umschrieb, im Grunde keine Sprache hatte und religiöse Karte ein. In ihrem Kopf dröhnte es, sie nahm wenig auf, aber
Begriffe strapazierte, hinter denen eine ganz mittelalterliche doch den Anblick der Mutter, die die gleiche Trauer mit sich
Vorstellung von Sünde stand. Sie stand auf und schwankte schleppte wie damals, als sie hörte, dass Katharina sich von Azuka
etwas vor Übelkeit. „Es ist nicht vorbei", sagte sie und getrennt hatte. Trauer, die eine Mischung war aus Hilflosigkeit
meinte zweierlei, und er verstand es auf eine Art und sagte: und Missfallen und einem Wust verletzter Gefühle, vor allem
„Himmelherrgott, wann wirst du endlich zur Vernunft Eifersucht.
kommen." „Vernunft?", schrie sie. „Welche Vernunft denn?" Mit Verstand las Katharina die Karte erst in der Straßenbahn. Die
„Es ist doch klar, dass die alle so eine Verbindung Schrift mit den runden Bögen, die sie so liebte. Viel zu lässig
wollen", sagte er und war fast heiser. „Die wollen sich doch geschriebene Worte, als dass sie eine Bedeutung haben konnten.
alle nur verbessern, und deswegen sind sie hinter weißen Und doch. Jedenfalls stand eine Straßburger Adresse auf dem
Frauen her und wollen nichts lieber, als die heiraten. Das kleinen Raum zwischen Briefmarke und Text. Das hatte doch was
weiß doch jeder, nur du anscheinend nicht." Katharina merkte, zu bedeuten.
dass ihr jetzt auch die Sprache fehlte. Sie hatte sich vorgestellt, „Kathi." Warum nicht Liebe Kathi? „Kathi, vielen Dank für deine
solche Sätze, solches Denken, die Idee vom Karte. Das war nett, unter den gegebenen Umständen. Ich besuche
Herrenmenschen, ja wo, eigentlich nirgendwo, ja doch, in gerade ein mehrwöchiges Seminar an der Straßburger Universität.
Südafrika zu finden. Aber jetzt fielen sie hier, in ihrer engsten Da ich auf dem Rückweg noch durch Heidelberg will, schaue ich
Umwelt, und ihr war klar, dass das Gleiche mit gleichen Worten vielleicht anschließend bei dir vorbei, am Samstag, abends so
oder anderen schon die ganze Zeit über gesagt wurde. Sie hatte gegen sechs Uhr, Azuka."
nicht sehen wollen, was sie nicht ertragen wollte. Es war ein Katharina schrieb eine Antwort, die sie per Express nach
einziger Prozess der Verdrängung gewesen, und in ihrem Straßburg sandte. „Lieber Azuka." Sie traute sich, Lieber
Kopf formte sich doch eine Bezeichnung für die Menschen in hinzusetzen. „Über deine Zeilen habe ich mich sehr gefreut. Es
ihrer Umgebung: Rassisten. wäre schön, wenn du mich am Samstag besuchen könntest. Ich
234
wohne jetzt in Frankfurt, in der
235
Nähe der Universität. Sechs Uhr ist okay. Deine Kathi." Das Frankfurt, aber dann hatte er die Ausfahrt nach Heidelberg
würde gehen, dachte Katharina, ohne dass sie gegebenenfalls verpasst, und jetzt saß er hier.
einen Rückzug antreten müsste, Rückzug für Worte, die sie Katharina dachte, dass sie jetzt schon sehr nahe dran waren an
meinte, aber nicht sagen durfte, weil sie zuviel hineingelesen
hätte in ein paar Zeilen auf einer Ansichtskarte. ihrem Thema, das ja irgendwie Schicksal hieß, und sie dankte
diesem insgeheim für die verplatzte Ausfahrt. „Wie schön",
Samstag war ein guter Tag. Warmer Herbst. Und die Bäume sagte sie.
hatten sich wie zu einem Festtag geschmückt mit Gold und „Dass ich die Ausfahrt verpasst habe?", fragte Azuka. Sie
Glanz. nickte und lachte. „Ja", sagte sie. „Das du hier bist."
Zum Glück lebte Claudia ihren Wochenendfrust bei ihren Eltern „Ich hatte so meine Bedenken", sagte er. „Ich wusste nicht, ob du
aus. Birgit war auf einer Analyse und erst Montagmorgen nicht die Tür vor meiner Nase zuschlagen würdest."
zurück. „Warum sollte ich?", fragte sie.
Katharina saß und stand und ging und wusste nicht, wohin mit „Nach deinem letzten Brief zu urteilen", sagte er.
sich selbst. Sie hatte ihre Studienbücher auf den Tisch gelegt, um „Oh, der", sagte sie und wollte nicht darüber reden,
zu tun, als ob. Ihre halbe Lesebrille. Dann schaute sie aus denn dann hätte sie die ganze lange Zwischenzeit berichten
Fenstern, zur Straße hinaus und in den Hof hinein, seit vier Uhr, müssen, und sie hatte alles, alles jetzt und auf der Stelle
und um halb sechs dachte sie darüber nach, ob dem Wort
vielleicht möglicherweise mehr Bedeutung zuzumessen wäre, als vergessen.
sie bisher getan hatte. Obwohl das Thema jetzt da war, wich sie also aus, wollte etwas
Um ziemlich genau sechs Uhr klingelte es, und Katharina rannte, kochen, was ihr lieber war, als essen zu gehen. Sie wärmte ein
zweifelte keinen Augenblick, dass er es war, und riss die Tür Schnellgericht auf, und das schmeckte fürchterlich, aber Azuka
auf. Wie sie seine Augen liebte. Seine Stimme. lobte es. Er ist immer noch höflich, dachte sie, und noch nicht
Sie strahlte ihn an, weil sie gar nicht anders konnte, ehrlich, und sie fühlte den Abstand und hatte Hemmungen, ihn zu
versuchte dann doch, sich zu bremsen, weil sie nicht überbrücken. Was sollte sie auch tun.
wusste, wie weit und wozu und was dann. „Kannst du länger bleiben?", fragte sie schließlich.
„Komm rein", sagte sie. „Ich freue mich, dich zu sehen." „Ich weiß nicht", sagte er. „Bis morgen vielleicht. Bis
„Ich freue mich auch, dich zu sehen", sagte Azuka. Sie Montag früh."
saßen sich gegenüber auf Stühlen, die eher Gartensitze „Bis Montag früh", beschloss Katharina. „Wir müssen nur
waren, klappbare Holzsessel, die Katharina vor den sehen, wo wir dich unterbringen."
Schreibtisch gestellt hatte. „Vielleicht gibt's ein kleines Hotel in der Nähe", sagte
Azuka sah sich im Zimmer um. „Es geht dir gut", sagte Azuka.
„Wir gehen gleich auf die Suche", sagte Katharina und stand auf,
er dann, „man sieht es. Und du genießt dein Studium." und während sie durchs Treppenhaus hinuntergingen, fühlte sie,
Er wies auf die Bücher. dass er doch nur wie Besuch war, und sie versuchte ein krummes
Sie nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Es Lächeln. Katharina lotste Azuka durch die Straßen zu einem
würde ihr heute reichen, nur gut auszusehen. Sie hatte unauffälligen Hotel, das nicht so teuer aussah. Der Portier sah
lange überlegt, was sie anziehen sollte, trug nun pastell- beide, nachdem er Katharinas Frage nach einem Zimmer gehört
farbene Kleidung, in der sie sich hübsch und zart vorkam. hatte, von oben bis unten an und nannte einen horrenden Preis.
Es war eine leichte Unterhaltung, und die ganze Zeit Katharina zog Azuka am Ärmel hinaus. Sie war wütend, nicht so
über dachte sie nur, wenn er mich doch endlich in den sehr über den Betrag, den das Zimmer gekostet hätte, mehr noch
Arm nähme. Azuka berichtete über das Seminar in über die Blicke des Portiers. Sie sagte sich, sie wolle das alles
Straßburg und dass er eigentlich noch nach Heidelberg nicht mehr sehen, nicht mehr hören, und verschloss Augen und
gewollt hatte. Ohren.
Es war sehr spät geworden, zu spät im Grunde für
236

237
Azuka schaute sie an, wieder mit seinem Röntgenblick, den sie gesagt. „Ich kann dir nicht Sicherheiten versprechen, wo ich selber
so gut kannte und vor dem man nichts verstecken konnte. Er so unsicher bin. Nicht mit dir, sondern mit meinem ganzen Leben.
hatte einen ironischen Zug um den Mund. Meine Familie. Mein Vater. Ich hoffe, dass er sich eines Tages an
„Never mind", sagte er. „Mach dir nichts draus. Wir suchen den Gedanken gewöhnen wird, dass er mit dir zu rechnen hat.
weiter." Aber im Moment." „Ich brauche keine Sicherheiten", sagte
In einem Hotel an der Bockenheimer Landstraße gab es dann Katharina und fand, dass sie alle Sicherheiten der Welt hatte.
keine Probleme, ein Zimmer zu mieten, ein hübsches, kleines Azuka war wie ein Gegenpol zur Welt, die drauf und dran war, sie
Mansardenapartment, das preiswert war und von dessen Fenster zu verbittern.
aus man über die Dächer Frankfurts sehen konnte. Katharina fiel „Das wird sich ändern", sagte Azuka. „Glaub mir. Aber ich
der Blick aus dem Küchenfenster in Cambridge ein, und sie tu mein Bestes." „Verzeih mir", sagte Katharina. „Was um
verwischte das Bild schnell. Verdammt, dachte sie, warum bin ich Himmels willen?"
so blöd erzogen worden, dass ich nicht einfach zu ihm hingehen „Dass ich so reagiert hatte. Damals. Dieses Wort werde ich nie
und ihn in die Arme nehmen kann. Aber unten dann, wieder im vergessen. Dieses capital NO. Es traf mich wie ein Pfeil und
Auto und halb von einer Dämmerung umgeben, sagte er: „Kathi", schmerzte."
und sie traute sich nicht, ihn anzusehen, und traute sich doch, „Es waren nicht meine Worte", sagte Azuka. „Aber ich
dachte, das ist doch der alte, liebe Regenmantel, den er da trägt, dachte, du solltest wissen, wie die Dinge stehen. Wenn wir
ja, den lieb ich auch, und sie neigte den Kopf in Azukas zusammen sein wollen, musst du vieles ertragen können.
Richtung, weil sie gar nicht anders konnte und schwer wie Blei Viel Schlimmeres als zwei Worte." „Was?", fragte
war. „Kathi", sagte Azuka, und wie in Zeitlupe legte er die Arme Katharina. „Die Menschen", sagte Azuka.
um sie und sein Gesicht an ihres und küsste sie sanft, und sie „Ich weiß", sagte Katharina. Sie legte ihre Arme um
musste schnaufen, weil nicht genug Leben in ihr war, um das
alles zu ertragen, und dann war sie wieder zu Hause, wirklich da, seinen Hals und verlor sich in Gedanken. „Du bist dünner
und vergaß das Weinen, das in ihr saß, und steckte sich selber geworden", sagte Azuka. „Nein", sagte Katharina.
lauter kleine Trostworte zu. „Bestimmt nicht. Bei all den Schokoladensachen, die ich
manchmal in mich hineinstopfe."
Katharina ging in ihre Wohnung erst am Montagmittag „Doch", sagte Azuka. „Du bist dünner geworden." Katharina
zurück und hatte zwei Vorlesungen verpasst. „Wo um lachte. Dass so ein banales Gespräch möglich war, amüsierte sie.
Himmels willen warst du?", fragte Claudia. „Wir haben uns Und es war schön, jemand anders so ohne Hemmungen anfassen
Sorgen gemacht." „Azuka war da", sagte Katharina. zu können. Das Gefühl zu haben, der andere war wie man selbst,
„Im Ernst?", fragte Claudia. „Wow! Und ihr habt euch die ein weiteres Ich mit demselben Körper, denselben Gliedern,
ganze Nacht verlustiert, was?" denselben Gedanken. Die Sehnsucht, die sonst so unendlich groß
Die Wohnung war plötzlich zu voll. Zwei Menschen zuviel in und weit gewesen war, hatte sich in Ruhe gewandelt, und
den Räumen. Auch Birgit, die nur leise herumlief, störte. Es war Katharina betrachtete Azuka, konzentrierte sich auf ein Stückchen
eigenartig, wie die Stunden weiterliefen, als wäre nichts Schulter wie mit mikroskopischen Augen. Sie fuhr mit dem Finger
Besonderes gewesen, und Katharina hatte sich gerne die beiden über die Kuppe eines Knochens und schloss die Augen, um das
letzten Tage noch einmal wie einen lieben Brief hervorgeholt. Gefühl für immer zu bewahren. Wie schön Selbstverständliches
In der Nacht hatten Azuka und sie kein Auge zugetan. Sie war. Es war, als hätten sie sich verschworen, nicht traurig zu sein.
hatten nah beieinandergelegen und sich flüsternd gesagt, Nicht gegen Morgen und auch nicht beim Abschied. Azuka fuhr
was zu sagen war. „Es hat sich im Grunde nichts Katharina nach Hause, setzte sie vor der Tür ab. Sie hatte ihm den
geändert", hatte Azuka Weg zur Autobahn erklärt und blieb an der Bürgersteigkante
stehen. Als das Auto anfuhr,
238
239
fühlte sie sich klein und von einer riesigen Stadt verschlungen Ob sie ihr Studium in Cambridge weiter fortführen würde. Ob sie
und eine Sekunde lang wie von Gott und der Welt verlassen. ein Stipendium bekäme. Ob das Geld, das er zur Verfügung hatte,
Das war schnell vorbei. Sie bildete sich ein, Azuka wäre nur für sie beide reichen würde. Aber im Grunde war es egal. Sie
kurz um die Ecke gefahren. ordnete ihre Dinge nicht eigentlich in einem Hochgefühl der
Freude. Dafür war alles zu selbstverständlich geworden.
Es war schwerer, als sie gedacht hatte. Sie wurde gereizt.
Warum halte ich das nicht aus, dachte sie, Claudia zum Zu grauen Flanellhosen trug sie ihren dunkelblauen Blazer, der
Beispiel, ich kann sie nicht mehr sehen, das Theater mit Arno,
Claudias Klammerspiele, bleib bei mir, oder ich bringe mich vielleicht zu feierlich war und sie blass und durchsichtig aussehen
um, Händeringen wie in einem schlechten Boulevardstück, und ließ. Sie mochte ihn, weil er sehr locker an ihr hing und bequem
dann die kampfähnlichen Liebesspiele in Claudias Zimmer. war. Obwohl sie versuchte, unangenehme Dinge nicht an sich
„Kannst du dich nicht zusammenreißen?", musste Katharina ranzulassen, war sie so bereit und gewappnet.
sagen, wenigstens das. Die Mutter sah sie mit zurückgenommenem Blick an, als ob
Claudia heulte ihr was vor. „Was habe ich dir getan, dass du so Katharina schon weit weg und auf einem anderen Planeten wäre.
zu mir bist. Ich hab es schwer genug. Wenn ich ihn schon „Ich habe immer Angst davor gehabt", sagte sie und schaute weg
einmal hier habe. Nicht jeder hat es so gut wie du. Entweder du und aus dem Fenster. „Ich weiß, die Welt ist jetzt anders und so.
gehst schick in ein Hotel oder besuchst ihn in seiner Wohnung. Aber ... musst ausgerechnet du das sein?"
So gut möchte ich es auch mal haben. Verdammt gut hast du es Katharina verstand, was die Mutter meinte. „Ja", sagte sie und zog
in deinem Leben." die Brauen zusammen. „Ich, wer denn sonst?" Die Mutter zuckte
Wie sich die Dinge verändern, dachte Katharina und nahm es mit den Schultern, wandte ihr Gesicht wieder in Katharinas
nicht ernst.
Richtung und sah sie lange und wie leidend an. „Und du siehst so
schön aus", sagte sie.
Noch mehr als vorher sah Katharina Situationen überdeutlich Ach, dachte Katharina, hätte sie doch was anderes gesagt, und
und wie herausziseliert. Alles erschien ihr vorübergehend und drückte sich mit den Händen ab vom Küchenschrank, an den
vergänglich und deswegen so bedeutsam. Sie hatte Lust, gelehnt sie gestanden hatte.
Bewegungen festzuhalten und zu beschreiben, um alles für Der Vater hatte wie die Mutter aus dem Fenster gesehen, im
eine Nachwelt zu bewahren. Sie selbst dachte sich in einen Nebenzimmer, als ob ihn die Sache nichts angehen würde. Als
Zustand zwischen Nähe und Ferne hinein. Sie befand sich im Katharina den Abschied probierte, sah er sie ironisch an. „Jetzt
Wartezustand. Azukas Briefe waren anders geworden. kommst du richtig in die Patsche", sagte er.
Knappe, kurze Worte. Und auch ihren Mitteilungen fehlte die Es war witzlos, die Dinge zu erklären, und Katharina ging und
gewöhnliche Langatmigkeit, mit der sie die Tage als normal streckte ihren Kopf gerade und hoch. Draußen die Pflanzen waren
bezeichnete und sich selbst Trost spendete. Sie hielten sich unbeweglich und vom Raureif gefroren. Die Forsythien hatten
beide auf Sparflamme, um ihren Gefühlen nicht freien Lauf zu schon Knospen angesetzt. Mein Gott, ist der Strauch gewachsen,
lassen und zu verwirren, wie sie sich eingerichtet hatten. dachte Katharina, seitdem.
Kurz vor dem Weihnachtsfest schrieb sie, dass der Zustand
nicht auszuhalten war, und Azuka begriff, weil er wie
sie die Zeichen gesehen und versucht hatte, das Unmögliche Sie landete auf dem Flughafen von Luton, und es hätte wie eine
zu ertragen. Ferienreise sein können, dabei war es der wichtigste Schritt ihres
Lebens. Es amüsierte sie, dass die Leute das nicht wissen konnten.
Komm, schrieb er. Keine Pauken, Trompeten.
Sie verständigten sich kurz über die Zukunft, und das
hieß, die nächsten Tage, Wochen, alles war ein Risiko.
241
240
Die Fahrt nach Hause — nach Hause, dachte sie — hätte sie gerne wäre gelöst. Die Leute würden ein bisschen weinen und sich dann
verlangsamt, um den Beginn besser festhalten zu können. Azuka freuen, weil sie Tragödien lieben besonders Liebestragödien. Und
war still und sah auf die Straße. Ein kühler, blauer Himmel hatte die Welt hätte Recht behalten, weil so etwas wie wir nicht
sich auf die Erde gelegt. passieren sollte, nicht unter den Augen der Götter."
Und dann fuhr Azuka doch weniger schnell, als ob ihm auch klar Ich mag keine Geschichten ohne Happyend , sagte Katharina
geworden wäre, dass sie eine unendlich lange Zeit vor sich „Vielleicht nur deshalb. Ich bin entschlossen Es war auf einen
hatten. Er blickte kurz aus den Augenwinkeln auf Katharina. Schlag ernster geworden. Katharina sah wieder hinaus auf die
„Wie geht es dir?", fragte er. Sie musste grinsen. Er wusste flachen Bögen von Cambndgeshire. Azuka griff nach ihrer Hand
doch, wie es ihr ging. Sie rutschte auf dem Sitz etwas und drückte sie kurz und Katharina hatte das Gefühl, als ob sie der
vor und lehnte sich mehr hinein, wie um sich einzuwickeln. Welt ein Schnippchen geschlagen hätten. Blitzartig erschien ihr
„Weißt du was", sagte sie, „ich hatte es mir immer so die Zukunft wider alle Vernunft hoffnungsvoll und begreifbar und
vorgestellt, dass ich eines Tages, wenn ich groß sein würde, ganz und gar unkompliziert.
nach Afrika gereist wäre." „Groß?", fragte Azuka. „Erwachsen",
sagte Katharina. „Erwachsen?", fragte Azuka.
„Nun ja", sagte Katharina. „Ich denke, du verstehst, was ich
meine. Ich wäre also zum Beispiel Diplomatin geworden. Oder
Journalistin. Oder Bundestagsabgeordnete." „Sicher", sagte
Azuka.
„Ich hätte also alles getan, um nach Afrika zu kommen", sagte
Katharina. „Ich hätte dich schon aufgespürt, dich und deine
Familie, also dich und deine Frau und deine Kinder. Und was
meinst du. Ich hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dich zu
verführen. Verstehst du? Das hätte ich glatt gemacht, ohne
Rücksicht auf Verluste. So bin ich. Ich fand die Geschichte immer
toll. Wie ich dich verführt hätte. Das hätte mich darüber hin-
weggetröstet."
„Ich erzähl dir auch eine Geschichte", sagte Azuka. „In zehn
Jahren vielleicht oder auch in zwanzig oder auch jedes Jahr wäre
ich nach Deutschland gekommen. Ich hätte dich auch aufgespürt,
dich und deinen Mann und deine Kinder. Ich hätte dich verführt,
das heißt, ich hätte alles getan, was in meiner Macht stünde, um
dich rumzukriegen. Die Geschichte hat mir auch geholfen. Nur,
sie wäre keine Geschichte geblieben. Ich hätte Ernst gemacht."
„Ich auch", sagte Katharina.
Sie mussten beide kurz lachen und dann immer wieder, bis
Katharina sich die Tränen aus den Augen wischte. „Wenn
das jetzt ein Film wäre", sagte Azuka, „dann würde an
dieser Stelle was Dramatisches passieren, und einer von uns
müsste sein Leben lassen, und das Problem
242

Das könnte Ihnen auch gefallen