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Michael Wildberg
terviews ein. Horst Gecks treffen wir im Frühsom- ne Zelte aufschlägt, ist er zwar Paradiesvogel im
mer 2013 an der Westender Straße, Hartmut graubraunen Dunst, in erster Linie aber vor allem
Heidemann und Ludwig Nolden besuchen wir bei ein Niemand unter vielen. Der Meidericher SV
sich zu Hause. Rudi Guten- gilt unter Journalisten und
dorf will zuerst nicht mit uns Fußballexperten einhellig als
reden, erst Günter Preuß öff- Abstiegskandidat Nummer
net die Tür und sorgt mit ei- eins, bis auf Helmut Rahn hat-
nem Anruf dafür, dass wir uns te bisher kein Spieler auf sich
Richtung Koblenz aufmachen aufmerksam gemacht. Die
können. Mixtur, die sich aus Trainer
Ein paar Monate nach unse- und Mannschaft ergibt, sollte
rem Besuch in der Kellerbar anschließend ganz Fußball-
sitzen wir in einer Gaststät- deutschland überraschen.
te in der Nähe von Koblenz, „Die Mannschaft, das waren
rustikal, die Küche gutbür- ja ein paar Straßenjungs, die
gerlich und die Gäste so alt sind alle in einem Viertel groß
wie der Tresen. Eigentlich geworden“, erzählt der Wel-
wollten wir auf einer Auto- tenbummler, der im Laufe
bahnraststätte drehen, aber seiner Karriere weltweit über
als man uns da spontan kei- 50 Teams gecoacht hat, dar-
ne Drehgenehmigung erteilt, unter unter anderem die Na-
führt Rudi Gutendorf uns die tionalmannschaften aus An-
Autobahn runter. Wir folgen tigua, Ghana und Simbabwe.
seinem Wagen quer durch die Man mag sich wundern, dass
pfälzischen Dörfer mit ihren Straßenszene in Meiderich, 1960er Jahre jemand, der eine chinesische
Schützenfesten und grün- Foto: Privatarchiv Preuß und eine iranische Länderaus-
weißen Girlanden über den wahl bei olympischen Spielen
Straßen. Der Weltenbummler und Trainer auf fünf begleitet hat, sich noch an ein
Kontinenten erzählt uns in der tiefsten Provinz die paar Straßenkicker aus dem
Geschichte, wie er mit einer Straßenmannschaft Kohlenpott erinnern kann, aber
die Bundesliga aufmischen konnte. sobald er über den Meidericher
„Das erste, was ich von Meiderich mitbekam, war SV der ersten Bundesliga-Sai-
der beißende Geruch von der Zeche“, erinnert er son redet, wird der 87-jährige
sich. Als er kurz vor dem Start der neugegründe- lebendig. „Dieser Mannschaft
ten Bundesliga in Meiderich mit dem Sportwagen brauchtest du nicht mehr viel
vorfährt, sind die Umkleidekabinen Baracken und zeigen, die hatten fast alles be-
die Holzbänke morsch und marode. Er selber ist reits auf der Straße gelernt. So
in diesem Moment kaum älter als seine Spieler. etwas hab ich nie wieder erlebt,
Bis auf einige Achtungserfolge als Trainer in der das war einmalig auf der Welt.“
Schweiz oder beim TSV Marl-Hüls hat er bei sei- Das System, das er mit dieser
ner Ankunft nichts vorzuweisen, dafür aber da- besseren Straßenmannschaft
mals schon genug Selbstbewusstsein, um es mit spielen lässt, hat zwei tragende Nach dem letzten Heimspiel
den Provinzfürsten des MSV aufzunehmen. „Die Säulen, es ergänzt ihren Zusam- gegen Kaiserslautern: Rudi
haben mich als Trainer genommen, weil ich bil- menhalt, ihren Spielwitz und Gutendorf wird von Fans und
lig zu haben war. Und dann war das einzige, was ihre Robustheit um Strategie Spielern auf Händen getragen
ich mir in den Vertrag schreiben ließ, eine Prämie und taktische Klugheit. Vom Foto: Privatarchiv Preuß
für die Meisterschaft oder den Vizemeister. Von Erfinder des Catenaccio, Hele-
Abstieg wollte ich gar nicht reden. Für die Herren nio Herrera, übernimmt er die Defensivorientie-
vom Vorstand war ich komplett verrückt, aber für rung, Inter Mailand holt mit dieser Taktik dreimal
weniger Geld konnten sie keinen kriegen.“ den Landesmeister-Pokal. „Die Gegner haben sich
Als Rudi Gutendorf an der Westender Straße sei- gegen uns blutige Köpfe geholt, weil sie immer ge- 65
Sport Auf der Suche nach den Meidericher Jungs
dem Geld hatten. Da ist der Günter dann zum ablaufen konnte“, berichtet er von Hesselmanns
Vorstand gerannt und hat geguckt, was er für uns Wirken. Bis heute ist er davon beeindruckt. „Ich
rausholen konnte. So ein Kapitän war der Günter.“ weiß nicht, wer von uns abgerutscht wäre, wenn
Vom Balkon aus blicken wir in das kleine Stadi- wir den nicht gehabt hätten, aber von uns hatten
on an der Westender Straße. Das Ruhrgebiet galt einige das Zeug dazu. Die schlechteste Schule war
früher als „das Land der tausend Derbys“, bis zur das jedenfalls nicht.“
Aufnahme in die Bundesliga spielten sie hier in Es sollte nicht lange dauern, bis die Jungs auf dem
der berühmt-berüchtigten Oberliga West und du- Feld das erste Mal auf sich aufmerksam machten.
ellierten sich regelmäßig mit den Pottrivalen aus 1957 erntete der Verein die Früchte seiner Aufbau-
Essen, Schalke und Dortmund. Auf dem Feld vor arbeit und wurde mit der A-Jugend Niederrhein-
uns schoss Dieter Danzberg vor mehr als 20.000 meister. Werner Lotz, Dieter Danzberg, Hartmut
Zuschauern im Derby gegen Hamborn 07 eines der Heidemann, Werner Krämer und Heinz Versteeg
entscheidenden Tore zum Aufstieg, aber die Zeit waren Teil dieses Teams. Sechs Jahre später bilde-
machte auch vor solchen Momenten nicht Halt. ten sie mit weiteren Meiderichern das Grundge-
Als die Italiener während der WM 2006 in Mei- rüst jener Elf, die Vizemeister werden sollte, er-
derich ihre Trainingszelte aufschlugen, wurde das gänzt wurde die Mannschaft um einen Spieler, der
Gelände runderneuert, ein wenig erinnert es den- seinen Karrierehöhepunkt längst hinter sich hatte.
noch an früher. Die alten Umkleide-
kabinen stehen an derselben Stelle
wie damals, und auch heute noch
weht Asche über die zwei Plätze am
Eingang, wo die Jugendmannschaf-
ten trainieren.
„Unser damaliger Trainer war ein
ganz harter Hund. Vor dem Trai-
ning hat der immer geguckt, ob Tri-
kot und Hose auch sauber waren“,
berichtet Werner Lotz von den An-
sprüchen an die damals noch blut-
jungen Spieler. „Wenn nicht, dann
ab dafür, dann konntest du dich di-
rekt wieder umziehen. Mit dreckigen
Sachen brauchtest du gar nicht erst
beim Training erscheinen.“
Der Krieg ist gerade ein paar Jahre
her, als die Meidericher Jungs nach Dieter Danzberg (im Hintergrund) und Günter Preuß (m.) im Spiel
und nach in der Jugend des MSV des MSV gegen Schalke 04 Foto Privatarchiv Preuß
Duisburg auftauchen. Werner Lotz
wechselt wie „Eia“ Krämer und Michael Bella vom Und der schon eine Fußball-Legende war, obwohl
DJK Lösort-Meiderich zum Meidericher SV, zu er noch auf dem Feld stand und kickte.
dieser Zeit werden alle Jugendmannschaften noch „Beim Trainingsauftakt vor der Bundesliga waren
vom gleichen Trainer trainiert. Willi Hesselmann hier bestimmt 8.000 Leute. Die kamen alle wegen
begleitet sie von klein auf bis zu ihren ersten Pro- dem Rahn, den hatte der Gutendorf ja noch schnell
fieinsätzen und ergänzt das, was sie an Fähigkeiten aus Holland geholt“, erzählt Werner Lotz. Helmut
von der Straße mitbrachten um Charakter und ein Rahn war der erste und letzte Weltmeister, der im
paar Grundtugenden. Trikot des MSV Duisburg auflief, an Glanz und
„Das hat hier mal stundenlang Bindfäden ge- Gloria reichte ihm davor und danach niemand das
regnet, der ganze Platz war nur noch Schlamm. Wasser. „Das war ein Ding, der große Weltmeis-
Der Hesselmann hat uns dann alle zusammen- ter im kleinen Meiderich. Da wirst du so klein mit
getrommelt. Im strömenden Regen hoben wir Hut. Aber den Helmut hat das nicht interessiert.
zusammen Sickergruben aus, damit das Wasser Das muss man sich mal vorstellen: Da sitzt du in
Sport Auf der Suche nach den Meidericher Jungs
ne. Es ist der letzte Satz, den wir an diesem Tag Manfred Manglitz, Ludwig Nolden und Werner
öffentlich sagen, er ist eine Entschuldigung, aber Kubek zu später Stunde vor das Publikum tre-
vor allem ein Versprechen und lautet: „Wir wer- ten, Kai Gottlob wird es als den „emotionalsten
den euch nie wieder vergessen.“ Moment in der Geschichte des Sommerkinos“
Was am Tag der Premiere noch ein vager Wunsch beschreiben, die WAZ von einer „magischen
ist, wird Dank der Fans des MSV Duisburg in den MSV-Nacht für die Ewigkeit“ sprechen. Aber was
Wochen und Monaten nach der Uraufführung auch immer es gewesen sein sollte: Als in dieser
zum zweiten Triumphzug der Meidericher Jungs. Nacht die Vizemeister die Bühne betreten und
Der Film läuft im April und Mai zehn Mal im sich 1.100 Menschen von ihren Sitzen erheben,
Filmforum Duisburg, nach sieben ausverkauften rhythmisch in die Hände klatschen und zu Ehren
Vorstellungen entscheidet Kai Gottlob, der Ge- dieser Mannschaft minutenlang „Meidericher SV“
schäftsführer des Kinos, den Film ins Programm singen, begreifen auch wir, dass ein paar Straßen
des Stadtwerke-Sommerkinos aufzunehmen. Als weiter ein paar junge Männer auf einem Poster in
Ende Juni der Vorverkauf für das Sommerkino einer Kellerbar ihre Namen und ihre Geschichte
freigeschaltet wird, dauert es nur ein paar Stunden, endlich wiedererlangt haben.
bis die Vorstellung als erste komplett ausverkauft
ist.
In der Spätsommernacht des 12. August 2014 sind Michael Wildberg, Jahrgang 1981, lebt in
es elf Vizemeister und 1.100 MSV-Fans, die mit Duisburg und ist studierter Sozialwissen-
uns gemeinsam in der Gießhalle sitzen, wo Jahr- schaftler. 2011 veröffentlichte er seine Fan-
zehnte vorher Werner Lotz und Günter Preuß hei- Biographie „So Lonely: Ein Leben mit dem MSV
ßes Eisen in Formen gossen und darauf achtgege- Duisburg“ und begleitete seitdem verschiede-
ben haben, dass dem anderen nichts passiert. Es ist ne MSV-Projekte. So war er 2011 Mitinitiator
kurz nach Zwölf, als der Abspann über die riesige der „Aktion für Michael Tönnies“, schrieb 2012
Leinwand läuft, und als sie kurz danach schwarz in Kooperation mit dem Verein das Leitbild des
wird, ist es Werner Lotz, der sich in der Dunkelheit MSV Duisburg und legte 2013 gemeinsam mit
zuerst aus seinem Sitz erhebt und langsam in Rich- weiteren Helfern das Buch „Der Kapitän der
tung Bühne humpelt, während die anderen noch Zebras“ (Günter Preuß) neu auf. Journalis-
lebenden Spieler der Vizemeister-Elf hintendran tisch arbeitete er unter anderem für SPIEGEL
folgen. ONLINE sowie für das Fußballkultur-Magazin
Es ist immer noch schwer zu beschreiben, was da 11FREUNDE. „Meidericher Vizemeister“ ist sein
geschieht, als Werner Lotz, Günter Preuß, Hart- erster Film, den er gemeinsam mit Matthias
mut Heidemann, Johann Sabath, Heinz Höher, Knorr und Kristian Lütjens realisierte. 69