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Radikalisierung und
Terrorismus im Westen
DER BÜRGER IM STAAT
INHALT
Andreas Hasenclever und Jan Sändig
Religion und Radikalisierung? Zu den säkularen Mechanismen
der Rekrutierung transnationaler Terroristen im Westen 204
Karl Cordell
„Homegrown Terrorismus“ oder transnationaler Terrorismus?
Ein Beitrag zur Debatte 214
Clark McCauley/Sophia Moskalenko
Mechanismen der Radikalisierung von Individuen
und Gruppen 219
VERTRIEB
Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH
Postfach 1207, 70773 Filderstadt
Telefon 0711/7001530, Fax 0711/70015310
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Ist der Terrorismus religiöser und
'
brutaler geworden?
Für viele Zeitgenossen ist der Terroris-
mus seit den 1990er Jahren religiöser
! ! nur "
#
und brutaler geworden. David Rapo-
! "
#
port (2006) spricht auch von einer „vier-
ten Terrorwelle“. Nach Anarchismus, Quelle: Global Terrorism Database
204
-' )
scheidet, ein dickes Fragezeichen set- !
zen. Im zweiten Schritt werden wir uns
mit Radikalisierungsprozessen in westli-
chen Gesellschaften auseinanderset-
zen, an deren Ende „homegrown terro-
! ! nur "
#
rists“ mit islamistischer Ideologie ste-
! "
#
hen. Auch hier werden wir auf säkulare
Muster eingehen, die sich bei Radikali- Quelle: Global Terrorism Database
205
206
Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg.
Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick
Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99–77
Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),
Telefon (07 11) 44 06–0, Telefax (07 11) 44 23 49
Vertrieb: Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm,
Telefon (07 31) 94 57-0, Telefax (07 31) 94 57-224, E-Mail: www.suedvg.de
Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung.
Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskrip-
te übernimmt die Redaktion keine Haftung.
Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.
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Weltweite Such-
anzeige des islamisti-
schen Terroristen Abu
Musab al-Zarqawi:
Nach den Anschlägen
von New York, Mad-
rid und London sind
die westlichen Staa-
ten forcierter gegen
islamistische Terror-
gruppen und deren
Mitglieder vorgegan-
gen.
picture alliance/dpa
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UNSER AUTOR
Dr. Andreas Hasenclever ist Professor Diplom-Politologe Jan Sändig ist Wis-
für Friedensforschung und Internationa- senschaftlicher Mitarbeiter am Sonder-
le Politik und Mitglied des Sonderfor- forschungsbereich „Bedrohte Ordnun-
schungsbereichs „Bedrohte Ordnun- gen“ (SFB 923) an der Universität Tü-
gen“ (SFB 923) an der Universität Tü- bingen. Im Forschungsprojekt „Die Be-
bingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind drohung politischer Ordnungen in afri-
die Analyse internationaler Institutio- kanischen Entwicklungsländern“ be-
nen, das Phänomen des demokrati- schäftigt er sich mit der Mobilisierung
schen Friedens und die Rolle von Religi- von Menschen für friedliche und gewalt-
onen in bewaffneten Konflikten. Zu die- same Protestbewegungen. Seine For-
sen Themen hat er umfangreich und schungsinteressen sind ethnische und
sichtbar publiziert. Andreas Hasencle- religiöse Konflikte, Bürgerkriege, Terro-
ver hat in Tübingen, München und Paris rismus, Peace-Building und Entwick-
katholische Theologie und Politikwis- lungszusammenarbeit. Dabei liegt sein
senschaften studiert. Seine Dissertation regionaler Fokus auf West-, Zentral- und
zu militärischen Interventionen westli- Ostafrika. Jan Sändig studierte von
cher Staaten in Somalia, Ruanda und 2004–2009 Politikwissenschaft in Pots-
Bosnien-Herzegowina wurde 2003 mit dam und Paris.
dem Helmuth-James-von-Moltke-Preis
der Deutschen Gesellschaft für Wehr-
recht und Humanitäres Völkerrecht aus-
gezeichnet.
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dest aufgewachsen sind. Darüber hin- gen, dass in einem gewissen Sinne alle
Als Alternative zum unpräzisen Terminus aus wird der Begriff meist für Muslime Terroristen „homegrown“ sind, unab-
„Homegrown Terrorismus” entwickelt verwendet, die im Namen von Organi- hängig davon, welche Ziele sie verfol-
Karl Cordell eine differenzierte Typolo- sationen mit einer transnationalen gen oder welche Mittel sie einsetzen.
gie, die bei der Unterscheidung zwischen Agenda Anschläge in ihrem Geburts- Bekanntlich wird Gewalt immer wieder
„transnationalem” und „nationalem” Ter- land verüben. In meinem Beitrag möch- zur Erreichung politischer Ziele einge-
rorismus ansetzt. Transnationale Terror- te ich ein Argument entwickeln, das die setzt (vgl. Gurr 1970). Entsprechend
gruppen verfolgen eine international Angemessenheit dieser Begrifflichkeit emotional aufgeladen ist auch der Be-
ausgerichtete Zielsetzung und wollen die in Frage stellt. Hierzu werde ich zum ei- griff Terrorismus, und manche halten ihn
globale Ordnung radikal verändern. nen auf die Ziele so genannter „home- sogar für eine rein subjektive Kategorie.
Nationaler Terrorismus richtet sich gegen grown terrorists“ eingehen. Zum ande- Deshalb mag das Klischee, dass „des
ein konkretes politisches Regime, stellt
ren möchte ich mir die Gruppen näher einen Terroristen des anderen Freiheits-
dessen Legitimität in Frage und zielt auf
ansehen, die typischerweise als „home- kämpfer sei“, tatsächlich nur ein Kli-
seinen Sturz bzw. Wandel ab. Die bei-
den grundlegenden Kategorien wie-
grown“ bezeichnet werden. Um der be- schee sein. Es transportiert aber die
derum können in Subkategorien unter- grifflichen Klarheit willen, werde ich ei- wichtige Einsicht, dass Terroristen nur
teilt werden: Transnationaler Terro ris- ne Typologie entwickeln, die ohne den selten in einem sozialen Vakuum außer-
mus kann eine transnational-revolutionä- Begriff „homegrown“ auskommt und bei halb der Gesellschaft operieren, die sie
re oder transnational-dschihadistische der grundlegenden Unterscheidung befreien wollen. Oder um es anders zu
Stoßrichtung haben. Der nationale zwischen „transnationalem“ und „natio- sagen: Aus Sicht ihrer Unterstützer
Terrorismus wiederum hat vier Unterkate- nalem“ Terrorismus ansetzt. Transnatio- kämpfen Terroristen für eine bessere
gorien: Den revolutionären, den konter- nale Terrorgruppen sind daran erkenn- Gesellschaft, und dieser Kampf ist auch
revolutionären, den substaatlich-natio- bar, dass sie die globale Ordnung radi- dann legitim, wenn er die Normen und
nalistischen und den lokal-dschihadisti- kal verändern wollen. Nationale Terror- Regeln der alten Gesellschaft verletzt.
schen Terrorismus. Diese Subkategorien gruppen verfolgen demgegenüber eine Denn für Terroristen und ihre Unterstüt-
werden entlang historischer und aktuel- politische Agenda, die sich gegen ei- zer sind immer die Herrschenden für die
ler Spielarten des Terrorismus erläutert. nen bestimmten Staat richtet, ungeach- Gewalt verantwortlich, weil sie ihre
Die ausführliche Analyse des Tschet- tet davon, ob sie sich nun einer Rhetorik Macht in illegitimer Weise nutzen, um
schenienkonflikts zeigt den Wandel vom des globalen Wandels bedienen oder Unrechtverhältnisse zu stabilisieren.
nationalen Befreiungskampf hin zum nicht. Diese beiden Kategorien können (vgl. Crenshaw 1995; Post 2006).
transnationalen kriegerischen Dschiha- wiederum in Unterkategorien unterteilt
dismus. I werden: Transnationaler Terrorismus
kann transnational-revolutionär oder Der historische Kontext
(Die Übersetzung besorgte Max Döring,
transnational-dschihadistisch sein. 2
Universität Tübingen.)
Der nationale Terrorismus wiederum hat Es gibt zahlreiche Definitionen von Ter-
vier Unterkategorien: Den revolutionä- rorismus, der als globales und nicht aus-
ren, den konterrevolutionären, den sub- schließlich modernes Phänomen zu ver-
Einleitung staatlich-nationalistischen und den lo- stehen ist. Für unsere Zwecke reicht es,
kal-dschihadistischen Terrorismus. Terrorismus als eine Strategie bewaff-
Seit den späten 1990er Jahren gab es Mit Hilfe dieser Typologie lässt sich ei- neter Gruppen zu begreifen, die die Le-
einen starken Anstieg jener Form des ne wesentlich exaktere Definition der gitimität von Regierungen in Frage stel-
Terrorismus, der von vielen Beobach- aktuellen Formen von Terrorismus ent- len und gewaltsam für einen politischen
tern als „homegrown terrorism” be- wickeln. Außerdem liefert sie uns ein Wandel eintreten. Die Rede ist also von
zeichnet wird.1 Der Begriff bezieht sich besseres Verständnis der konstitutiven Gruppen, die sich bewusst entschieden
auf Terroristen, die sich für eine Sache Merkmale des dschihadistischen Terro- haben, Gewalt anzuwenden und ge-
einsetzen, die wenig mit dem Land zu rismus, als es der Begriff „Homegrown“ gen das Gesetz zu verstoßen.
tun hat, in dem sie geboren oder zumin- vermag. Im Übrigen werde ich noch zei-
Revolutionärer Terrorismus
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Gruppen mit ähnlichen politischen An- Es gibt existentielle Fragen, auf die viele
liegen stehen oft im Wettbewerb um die Menschen von der Wissenschaft keine Implikationen
gleiche soziale Basis. Ohne hinreichen- Antwort erwarten: Was ist schön und
de Unterstützung aus der Bevölkerung was ist hässlich? Was ist fair und was ist Grundsätzlich ist bei all diesen Mecha-
sind radikale Gruppen kaum in der ungerecht? Wofür sollen wir arbeiten, nismen von einer Pluralität der Radikali-
Lage, sich zu tarnen, Gelder zu be- kämpfen und im Extremfall sogar ster- sierungspfade auszugehen. Es gibt
schaffen und neue Mitglieder zu wer- ben? Bin ich ein guter Mensch, und was nicht nur einen Weg in den politischen
ben. Um im Konkurrenzkampf um die wird aus mir werden? Nach Maßgabe Radikalismus. Es gibt viele, die sich zu-
gleiche soziale Basis bestehen zu kön- der Gruppensoziologie gelten nur sol- dem auch noch gleichzeitig beschreiten
nen, tendieren Gruppen deshalb zu che Antworten als glaubwürdig, die auf lassen. Dabei lassen sich einige dieser
immer radikaleren Aktionen, sobald sie einem breiten gemeinschaftlichen Kon- Pfade beschreiten, ohne dass radikale
den Eindruck haben, dass sie auf diese sens beruhen – im Kern geht es um die Überzeugungen zwingend notwendig
Weise einen Wettbewerbsvorteil ge- Übereinstimmung mit anderen, die uns wären. Wie wir gesehen haben, können
genüber anderen Gruppen erzielen Zuversicht gibt (vgl. Festinger 1954). So Menschen aus Liebe oder aus Gel-
können. Dieser Prozess wird von Mia bieten die Sinn- und Wertsysteme, die tungsbedürfnis und Abenteuerlust radi-
Bloom (2005) auch als „outbidding“ – von Religionen und säkularen Ideologi- kal werden. Politische Überzeugungen
als wechselseitige Überbietung – be- en vertreten werden, zwar oft abstrakte werden dann beliebig und zur Neben-
zeichnet. Lehren an. Aber für ihre konkrete Ausle- sache (vgl. Della Porta 1995). Deshalb
In der Anfangszeit der zweiten Intifada gung ist der Konsens konkreter Grup- macht es keinen Sinn, von einem eindeu-
setzte die marxistisch-leninistisch orien- pen unerlässlich. tigen und für alle ähnlichen Radikali-
tierte Volksfront zur Befreiung Palästi- Solange Personen mehreren Gruppen sierungsprozess auszugehen, der sich
nas (PFLP / Popular Front for the Libera- mit unterschiedlichem Wertsystem an- über verschiedene, deutlich unter-
tion of Palestine) keine Selbstmord- gehören, ist deren Einfluss auf ihre Mit- scheidbare Radikalisierungsstufen ent-
attentäter ein und vermied jede religiö- glieder begrenzt. Wenn eine Gruppe wickelt.
se Rhetorik. Dies änderte sich jedoch aber von ihrer Umwelt isoliert ist, nimmt Radikalisierung muss nicht notwendig
schnell, als Meinungsumfragen einen ihre Definitions- und Aktionsmacht zu. im Terrorismus enden. Ob und wann po-
Rückgang der Unterstützung für die PFLP Isolierte Gruppen, wie z. B. Terrororga- litische Aktivisten die Grenze zur Illega-
gegenüber islamistischen Terrorgrup- nisationen, Jugendbanden, religiöse lität oder sogar zur Gewalt überschrei-
pen anzeigten. Die PFLP erklärte den Kulte oder Truppeneinheiten im Ge- ten, hängt stark von Kultur, Ort und Zeit
Dschihad und führte Selbstmordatten- fecht, legen verbindlich und ohne Kon- ab. Es sind immer nur einige wenige, die
tate durch. In der Folge nahm ihre Unter- kurrenz fest, was das angemessene Ver- schließlich zu radikalen Protestformen
stützung in der palästinensischen Be- halten ihrer Mitglieder in einer gegebe- greifen oder Terror verbreiten. Nach
völkerung wieder zu (vgl. McCauley/ nen Situation ist. Dabei kann der Grup- den Londoner Bombenattentaten vom
Moskalenko 2008). penkonsens extreme Einstellungen, 7. Juli 2005 zeigten Umfragen, dass fünf
Emotionen und Maßnahmen gegen je- Prozent aller britischen Muslime die An-
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UNSER AUTOR
UNSERE AUTORIN
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In Dänemark waren die Reaktionen auf l Es ist sehr schwierig, die Effektivität und
Terrorismusprävention muss frühzeitig die Anschläge vom 11. September 2001 Nachhaltigkeit präventiver Maßnah-
einsetzen. Gerade bei gefährdeten Ju- zwar weniger stark als in den unmittel- men zu erfassen. Es kann durchaus
gendlichen sind „weiche“ Maßnahmen bar betroffenen USA, sie folgten aber sein, dass „weiche“ Terrorismusbe-
der Terrorismusprävention, die auf Be- zunächst einem ähnlichen Muster. Auf kämpfung wenig erreicht, da ihre Wir-
gegnung und Dialog setzen, gefragt. der Grundlage einer verschärften Ge- kungen in dem komplexen Umfeld, in
Anja Dalgaard-Nielsen stellt ein däni- setzgebung setzte Kopenhagen zu- welchem Terrorgruppen entstehen und
sches Modellprogramm vor, das auf ei- nächst auf eine „harte“ Linie in der Ter- agieren, verpuffen. Dieses Umfeld wird
ner engen Kooperation des Dänischen rorismusbekämpfung. Es ging um die von internationalen, nationalen, loka-
Sicherheits- und Nachrichtendienstes
Zerschlagung von terroristischen Netz- len und individuellen Faktoren be-
(PET) mit Schulen, Sozialbehörden und
werken und um die konsequente Verfol- stimmt, und es ist bekanntermaßen
der Polizei beruht. Ziel ist es, die lokalen
gung von Tätern. Diese Strategie hat schwer, unter solchen Bedingungen mit
Behörden für Radikalisierungsprozesse
Jugendlicher zu sensibilisieren und ihnen sich in der Zwischenzeit allerdings ge- politischen Mitteln soziale Prozesse zu
präventive Maßnahmen an die Hand zu wandelt. Wie der Aktionsplan „Eine ge- initiieren und zu steuern.
geben. Nachdem anfängliche Vorbehal- meinsame und sichere Zukunft“ von Die genannten Probleme und Risiken
te bei den Projektbeteiligten ausgeräumt 2009 zeigt, favorisiert die dänische Po- dürfen uns aber nicht davon abhalten,
werden konnten, sind die Rückmeldun- litik zunehmend auch „weiche“ Metho- die „weiche“ Terrorismusbekämpfung
gen der lokalen Partner inzwischen viel- den, die darauf abzielen, politische Ra- weiter voranzubringen. Allerdings müs-
versprechend. Um die Nachhaltigkeit dikalisierung zu verhindern oder den sen und sollten wir unsere Ansätze und
der Präventionsmaßnahmen gewährleis- Ausstieg aus terroristischen Netzwer- unser Vorgehen ständig hinterfragen. In
ten zu können, ist neben der vertrauens- ken möglich zu machen. dieser Hinsicht ist der permanente Dia-
vollen Zusammenarbeit mit Schulen, lo- log mit der Wissenschaft äußerst hilf-
kalen Sozial- und Polizeibehörden die reich. Die Forschung kann uns helfen,
Rezeption des akademischen Diskurses Prävention und Deradikalisierung als Wissenslücken zu schließen und ange-
notwendig, um neuere Erkenntnisse für „weiche“ Maßnahmen messene Präventionsstrategien zu ent-
eine theoriegesättigte Präventionspraxis wickeln. Darüber hinaus „lehrt“ uns der
nutzbar zu machen. I Aus meiner Sicht sind Prävention und akademische Diskurs, dass es mehr als
Deradikalisierung eine notwendige Er- eine Perspektive auf ein Problem gibt
(Die Übersetzung besorgte Felix Witt- gänzung zu den klassischen konfronta- und dass wir unsere Lösungswege stets
mann, Universität Tübingen) tiven Ansätzen der Terrorismusbekämp- auf den Prüfstand stellen müssen. Die
fung, und sie haben aus menschlicher, Kooperation mit Wissenschaftlern „er-
gesellschaftlicher und manchmal sogar innert“ Praktiker an die Notwendigkeit,
ökonomischer Sicht eine Reihe von Vor- ihr Vorgehen kritisch zu reflektierten
Einleitung teilen. und an neue wissenschaftliche Erkennt-
Allerdings dürfen Probleme und Risiken nisse sowie veränderte soziale Kontexte
Die Terroranschläge vom 11. September der „weichen“ Strategie nicht überse- anzupassen
2001 haben das politische Klima in den hen werden: In diesem Beitrag möchte ich eine Teil-
USA dramatisch verändert. Als ich im l Zunächst gilt es, unterschiedliche Ak- strategie der dänischen Terrorismusbe-
Frühling 1999 mein Studium als Dokto- teure aus Politik und Gesellschaft zur kämpfung erörtern. Der Schwerpunkt
randin an der John Hopkins Universität Zusammenarbeit zu bewegen. Dabei liegt auf einer der frühen Präventionsin-
in Washington D.C. begann, lebte ich in kann die Kooperation nur funktio- itiativen des Dänischen Sicherheits- und
der bunten und weltoffenen Hauptstadt nieren, wenn sich die Akteure vertrau- Nachrichtendienstes (PET1). Es geht um
eines Landes mit all seiner Meinungs- en. das sogenannte SSP-Programm, wobei
vielfalt und seinen unterschiedlichen l Jede Stigmatisierung einzelner Religi- die Abkürzung SSP 2 für die Kooperation
politischen Positionen. Gut zwei Jahre ons- oder Bevölkerungsgruppen, ins- von Schulen, Sozialbehörden und der
später war alles anders. Am Morgen besondere der dänischen Muslime, Polizei vor Ort steht. Zielsetzung dieses
des 12. September 2001 wurde ich in ei- muss vermieden werden. Die Gefahr Programms ist es, der Radikalisierung
ner abweisenden und misstrauischen der Stigmatisierung ist bei präventiven Jugendlicher angemessen entgegenzu-
Stadt wach. Ohne große Diskussionen Ansätzen immer gegeben, da im Ge- wirken.
und ohne nennenswerte Opposition gensatz zu konfrontativen Strategien
forcierte die US-Regierung eine harte ganze Bevölkerungsgruppen in den
und konfrontative Strategie der Terro- Blick genommen werden und es nicht Das SSP-Programm basiert auf einer
rismusbekämpfung. Für „weiche“ For- um die Bekämpfung einschlägiger breiten Koalition
men der Terrorismusbekämpfung – also Netzwerke und dringend verdächtiger
für Maßnahmen, die auf Begegnung, Individuen geht. Es ist also nicht auszu- Schulen, Sozialbehörden und Polizei ar-
Dialog, Prävention und auf einen Aus- schließen, dass die Mitglieder dieser beiten in Dänemark bereits seit einigen
stieg aus terroristischen Gruppen set- Bevölkerungsgruppen pauschal als Jahren auf lokaler Ebene bei der Prä-
zen –, war für Jahre kaum mehr Platz im potentielle Terroristen diffamiert wer- vention und Bekämpfung von Jugend-
politischen Diskurs. den. kriminalität eng zusammen.
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Schlussfolgerung
Ein Däne entschuldigt sich öffentlich für die Mohammed-Karikaturen. Mithin eine kleine Ich glaube an die Wirksamkeit der „wei-
Geste, die der Stigmatisierung muslimischer Bevölkerungsgruppen und der Polarisierung chen“ Terrorismusbekämpfung als un-
der dänischen Gesellschaft entgegenwirken kann. picture alliance/dpa verzichtbare Ergänzung zu dem „har-
ten“ Vorgehen, das sich nach den An-
schlägen vom 11. September 2011 zu-
und missverstandene religiöse Bot- Materialien ihre Kenntnisse über Radi- nächst durchsetzte. Dementsprechend
schaften in Radikalisierungsprozessen kalisierung, Extremismus und Prävention sinnvoll erscheint es mir, die Expertise
eine gewichtige Rolle spielen, dann ver- deutlich erweitert haben. 4 Umgekehrt des Dänischen Sicherheits- und Nach-
suchen wir Geistliche und Koranwissen- konnte der Dänische Sicherheits- und richtendienstes (PET) nicht nur für die
schaftlicher einzuschalten, die in der Nachrichtendienst durch den Aus- Zerschlagung von Organisationen oder
Lage sind, mit jungen Menschen über tausch mit den Kooperationspartnern Netzwerken und die Verfolgung von Tä-
den Islam zu diskutieren, um sie letztlich vor Ort seine Lehr- und Informationsme- tern zu verwenden, sondern auch in die
davon zu überzeugen, dass der Islam thoden permanent verbessern. Prävention, in Deradikalisierungs-Pro-
keinen Terrorismus rechtfertigt. Um optimale Präventions-, Ausstiegs- gramme und in Aussteigerprogramme
und Integrationsstrategien entwickeln einfließen zu lassen. Dafür ist eine enge
zu können, steht der Dänische Sicher- Kooperation mit einer Vielzahl von ge-
Präventive Maßnahmen und die heits- und Nachrichtendienst (PET) in sellschaftlichen Gruppen notwendig,
Frage der Wirkung ständigem Austausch mit der Wissen- von denen manche zunächst Vorbehal-
schaft, mit lokalen Behörden und mit in- te haben können. Präventive Initiativen
Die Effekte „weicher“ Maßnahmen der ternationalen Partnern. Wir wollen si- wie das SSP-Programm müssen mit Be-
Terrorismusbekämpfung sind schwer zu cherstellen, dass unsere Empfehlungen dacht vorgehen, um die Stigmatisierung
messen und zu dokumentieren, da eine und Maßnahmen auf dem neuesten ganzer Bevölkerungsgruppen als po-
Vielzahl von Faktoren – von der interna- Stand sind und den aktuellen akademi- tentielle Terroristen zu vermeiden. Au-
tionalen über die gesellschaftliche und schen Kenntnisstand widerspiegeln. ßerdem muss die Wirksamkeit präventi-
soziale bis hin zur individuellen Ebene Darüber hinaus schätzen wir den Input ver Maßnahmen gegen Radikalisierung
– eine Rolle spielen. Es lässt sich des- dänischer Forschungsinstitute als kriti- und Terrorismus regelmäßig evaluiert
halb kaum feststellen, ob ein Radikali- sches Korrektiv. Nur auf diese Weise werden. Der Dänische Sicherheits- und
sierungsprozess auch ohne die Inter- Nachrichtendienst (PET) versucht mit
vention einer Behörde unterbrochen seiner Strategie, Antworten auf diese
wo rden wäre oder ob ein Mitglied einer Herausforderungen zu finden – teilwei-
UNSERE AUTORIN
radikalen Organisation auch ohne die se ist dies auch bereits gelungen –, um
Unterstützung durch Sicherheitsbehör- die „weichen“ Maßnahmen zur Verhin-
den ausgestiegen wäre. Wir operieren derung von Terrorismus zu optimieren
naturgemäß in einem extrem komplexen und kontraproduktive Nebeneffekte zu
sozialen Umfeld, und wir müssen immer vermeiden.
wieder überprüfen, ob unsere Maßnah-
men die richtigen sind. ANMERKUNGEN
Ziel des SSP-Programms ist es, die loka-
1 Der Dänische Sicherheits- und Nachrichten-
len Behörden und Sozialbehörden in
dienst (Politiets Efterretningsjeneste/PET) ist zu-
die Lage zu versetzen, die Kennzeichen ständig für die Ermittlung bei Straftaten, die den
für Radikalisierungsprozesse frühzeitig Kapiteln 12 und 13 des dänischen Strafgesetz-
zu erkennen und zu handeln, wenn ein PhD Anja Dalgaard-Nielsen; Direktorin buchs unterliegen, d. h. „Verbrechen gegen die
bestimmter Jugendlicher erkennbar in des Preventive Security Department staatliche Sicherheit und Souveränität“ sowie
„Verbrechen gegen die Verfassung, die obersten
eine gefährliche Richtung abdriftet. Die beim Dänischen Sicherheits- und Nach- Staatsorgane u. a. Weitere Informationen unter:
positiven Rückmeldungen, die wir von richtendienst (PET); sie ist dort für die www.pet.dk
den lokalen Behörden bisher erhalten Bereiche Prävention, Deradikalisierung 2 Die dänische Bezeichnung lautet: Socialog
haben, nehmen wir als Indikator für den und für Sicherheitsfragen verschiedens- Skoleforvaltningen Politiet.
3 Auszug dem Papier “Die dänische Jugendpo-
Erfolg des Projekts. Bei einer Umfrage ter Art zuständig; vor dieser Tätigkeit
litik” von Bertel Geismar Haarder, Minister für
Anfang 2011 haben fast alle der etwa war sie u. a. als Senior Researcher in Unterricht und Kirche, unter: www.coe.int/dg4/
100 Personen, die bislang am SSP-Pro- dem Projekt „Political Violence, Terro- youth/Source/Resources/.../N11_YP_Denmark.
gramm teilgenommen haben, angege- rism, and Radicalization“ am Danish de.pdf [27.9.2011]
ben, dass sie von unseren Kursen stark Institut for International Studies (DIIS) 4 COWI: Mid-term Evaluation of the Action
Plan “A common and safe future”, June 2011 .
profitiert und dass unsere Dossiers und tätig.
227
schäftigung mit dem dschihadistischen der Hamburger Zelle von 2001, die drei
Am 2. März 2011 verübte der Kosovare Netz dazu, auf eigene Initiative einen der vier Piloten der Anschläge vom
Arid Uka den ersten islamistischen Terror- terroristischen Anschlag zu verüben. 11. September hervorbrachte, mit de-
anschlag in Deutschland. Der Fall Uka ist Am Abend vor dem Anschlag fand Uka nen Arid Ukas vergleicht. Die Hambur-
deshalb so herausragend, weil sich ein Tä- ein Video der Islamischen Bewegung ger Zelle war Teil der Al-Qaida, einer
ter erstmals über das Internet radikalisiert Usbekistans (IBU). In dem Video rief der transnationalen Organisation, die in
und sich gleichsam von selbst für die dschi- Deutsch-Marokkaner Yassin Chouka der Lage war, die Handlungen ihrer
hadistische Sache rekrutiert hatte. Die Rol- (alias Abu Ibrahim al-Almani) von Pakis- Hamburger Gefolgsleute weitgehend
le einer terroristischen Organisation war tan aus dazu auf, den bedrängten zu kontrollieren. Die drei Piloten – der
auf ein Minimum reduziert. Sie lieferte le-
muslimischen Frauen in Afghanistan zur Ägypter Mohammed Atta, der Emirati
diglich noch die Ideologie. Die dschihadis-
Hilfe zu kommen. Zusätzlich enthielt der Marwan al-Shehhi und der Libanese Zi-
tische Szene ist gegenwärtig eher durch
Film einen Teil, in dem die Vergewalti- ad Jarrah hatten im Jahr 1999 den Weg
dezentrale Strategien charakterisiert. Den-
noch haben terroristische Organisationen gung eines Mädchens durch US-Solda- in ein Trainingslager der Al-Qaida in
ihre Funktion für den islamistischen Terro- ten gezeigt wurde. Bei dieser Sequenz Afghanistan gefunden. Sie erwiesen
rismus nicht verloren. Guido Steinberg handelte es sich um einen Ausschnitt sich als Glücksfall für die Organisation,
skizziert mit Blick auf die Bundesrepublik des amerikanischen Kinofilms „Redac- die damals bereits die Anschläge mit zu
drei Organisationsformen: die organi- ted“ von 2007, in dem das Massaker von fliegenden Bomben umfunktionierten
sierten Dschihadisten, die unabhängigen Mahmudiya gezeigt wird. Dabei han- Flugzeugen plante. Es fehlte aber aus-
Dschihadisten und die so genannten neuen delt es sich um einen wahren Fall aus reichend qualifiziertes Personal. Die
Internationalisten. Anhand konkreter Bei- dem Irak. Im März 2006 vergewaltigten ursprünglich für die Pilotenrollen vorge-
spiele werden Prozesse und Mechanismen US-Soldaten tatsächlich ein 14-jähri- sehenen Jemeniten verfügten nicht über
der Radikalisierung, die terroristischen Or- ges Mädchen in einem Dorf nahe der die notwendigen technischen und
ganisationen, deren Strategien und Akti- Stadt Mahmudiya südlich von Bagdad sprachlichen Fähigkeiten. Außerdem
onsformen eingehend dargestellt. Vor al- und töteten sie mit ihrer ganzen Familie. hatten sie keinerlei Erfahrung mit dem
lem die neuen Internationalisten, welche Die IBU hatte die Filmsequenzen in ihr Leben in der westlichen Welt. All dies
die Vorteile von Organisation und Unab- Video geschnitten, um dessen propa- brachten die Hamburger Freiwilligen
hängigkeit in hybrider Weise miteinander gandistische Wirkung zu verstärken. mit und wurden rasch als Selbstmordat-
verbinden, stellen seit 2007 die größte Uka beabsichtigte, ausschließlich nach tentäter rekrutiert. Nach einem entspre-
Bedrohung für die innere Sicherheit in Afghanistan ausreisende amerikani- chenden Training wurden Atta, Shehhi
Deutschland dar. I sche Soldaten zu töten, um so eine Wie- und Jarrah nach Hamburg zurückge-
derholung ähnlicher Ereignisse zu ver- schickt, um von dort die Organisation
hindern. Bevor er dem ersten Soldaten voranzutreiben. In allen nun folgenden
Einleitung: Der Frankfurter Anschlag in den Kopf schoss, fragte er deshalb, Phasen behielt Al-Qaida allerdings die
ob es sich bei der Gruppe, die er an- Planungshoheit und ließ den Rekruten
Am 2. März 2011 verübte der Kosovare griff, tatsächlich um Militär handelte nur so viel eigenen Entscheidungsspiel-
Arid Uka den ersten islamistischen ter- und wohin sie reisten. Für die Erfor- raum wie unbedingt notwendig. Al-
roristischen Anschlag in Deutschland. schung des islamistischen Terrorismus Qaida agierte hier wie herkömmliche
Am Frankfurter Flughafen erschoss er war der Fall Uka insofern von herausra- terroristische Organisationen, die oft
zwei amerikanische Soldaten und ver- gender Bedeutung, weil hier das erste autoritär geführt werden und sich be-
letzte zwei andere schwer. Dass nicht Mal ein Fall vorlag, in dem der Täter sich mühen, ihre Gefolgschaft einer mög-
noch mehr Menschen getötet wurden, ausschließlich über das Internet radika- lichst weitgehenden Kontrolle zu unter-
geht auf eine Ladehemmung seiner Pis- lisiert und gleichsam selbst für die dschi- werfen. Neu war damals vor allem die
tole zurück. Uka führte noch eine große hadistische Sache rekrutiert hatte und große Reichweite der Organisation, die
Menge Munition mit sich. Besonders anschließend zur Tat schritt. Dabei ihr Hauptquartier in Afghanistan hatte
Aufsehen erregend war am Fall Uka, bleibt die von Organisationen unab- und doch in der Lage war, Anschlags-
dass er nicht in Kontakt mit einer größe- hängige Radikalisierung eine von min- planungen über Kontinente hinweg zum
ren terroristischen Organisation ge- destens drei möglichen Varianten, die Erfolg zu führen.
standen und es auch keine sonstigen in verschiedenen Phasen der Geschich- Im Fall Arid Ukas hat sich die Rolle der
Hintermänner oder ideologische Brand- te des Dschihadismus unterschiedlich terroristischen Organisation – in die-
stifter gegeben zu haben scheint. Viel- wichtig waren. sem Falle der IBU – hingegen auf ein Mi-
mehr hatte sich der junge Kosovare aus- nimum reduziert. Sie lieferte lediglich
schließlich über das Internet radikali- noch die Ideologie und sehr unspezifi-
siert. Dort verschaffte sich Uka „Infor- Die dschihadistische Szene in sche Zielvorgaben, die der kosovari-
mationen“ über die politische Situation Deutschland sche Täter aus dem Internet übernahm
in Afghanistan und im Irak, befasste sich und sich auf dieser Grundlage zu einem
mit der Ideologie salafistischer Prediger Die dschihadistische Szene in Deutsch- terroristischen Anschlag entschied. Die-
in Deutschland und schaute sich zahl- land hat seit 2001 eine Wandlung ser Wandel ist zum einen das Ergebnis
reiche Propagandavideos an. Binnen durchgemacht. Dies wird beispielswei- einer Entwicklung der dschihadisti-
weniger Monate brachte ihn die Be- se deutlich, wenn man die Aktivitäten schen Szene insgesamt, in der die gro-
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Sicherheitsmaßnahmen am Eiffelturm in
Paris (Oktober 2010): Dass Frankreich in
den vergangenen Jahren weitgehend von
islamistischen Anschlägen verschont blieb,
lässt auf eine gute Strategie sowie Orga-
nisation von Polizei und Justiz schließen.
Trotzdem ist der stete Wandel der terro-
ristischen Bedrohung eine Herausforde-
rung für den französischen Sicherheitsap-
parat. picture alliance/dpa
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ropa hinunter wirksam ist. Gleichzeitig (2001): L’Islam à l’école – Une analyse sociolo-
zeichnen sich die französischen und gique des pratiques et des représentations du fait
islamique dans la population scolaire. Etude IHE-
belgischen Netzwerke durch eine ge- SI, Paris.
wisse Amateurhaftigkeit aus. Sie sind 22 Tablighi Jamaat ist eine sunnitisch-orthodoxe
stark dezentral organisiert und ihre Mit- Erweckungs- und Missionierungsbewegung, de-
glieder handeln oftmals sehr spontan. ren Ziel die Islamisierung der Gesellschaft ist. Sie
wurde bereits in den 1920er Jahren in Britisch-
Auf diese neue Netzwerkform müssen
Indien gegründet und ist seit den 1960er Jahren
sich die französischen und belgischen in Frankreich unter dem Namen Foi et Pratique
Sicherheitskräfte erst noch einstellen, aktiv.
da sie bislang eher auf die Zerschla- 23 BBC (2005): Belgian Suicide Bomber is
gung stabiler Netzwerke ausgerichtet Named. Artikel vom 2. Dezember 2005; online
verfügbar unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/eu-
sind, deren Mitglieder sie über einen Dr. Jean-Luc Marret, Senior Fellow der rope/4488642.stm [17.03.2011].
längeren Zeitraum beobachten, bevor Fondation pour la recherche straté- 24 Siehe: http://www.vdfr95.com/Journal92/
sie zugreifen. gique (Paris) und Senior Visting Fellow dossier_92.htm [17.03.2011].
am Center for Transatlantic Relations, 25 Ebd.
SAIS-John Hopkins University (Washing-
Schlussfolgerung ton, D.C.); seine Arbeits- und For-
schungsschwerpunkte sind u. a. interna-
In Frankreich gab es seit 1996 keinen tionale Sicherheitsfragen, Terrorismus-
dschihadistischen terroristischen An- bekämpfung sowie Konfliktprävention
schlag mehr. Es ist jedoch nicht gewähr- im zivilen und militärischen Bereich.
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ration für radikalisierte Muslime, die in Barcelona 2008 und auf den New
Die Anschläge von Madrid am 11. März sich weltweit in losen Zellen organisie- Yorker Times Square im Jahr 2010 stün-
2004 war kein Racheakt isoliert agieren- ren würden. Von ihnen hänge es letzt- den. 3
der und radikalisierter muslimischer Im- lich ab, ob der dschihadistische Terror Aber auch die Diagnose einer revitali-
migranten. Vielmehr wurde hinter dem gegen den Westen fortgeführt werde sierten Al-Qaida kann nicht überzeu-
Anschlag ein komplexes Netzwerk von oder nicht. gen. So ist die wachsende Zahl von Al-
internationalen und regionalen Terroror- Hinter den Anschlägen auf die Pendler- Qaida-nahen Organisationen nicht auf
ganisationen sichtbar. Die Attentäter züge in Madrid im März 2004 und auf eine wieder erstarkte Al-Qaida-Zentra-
standen in enger Kooperation mit die Londoner U-Bahn im Juli 2005 stün- le zurückzuführen. Vielmehr schließen
transnational organisierten Dschihadis-
de deshalb keine transnationale Orga- sich immer mehr regionale Terrorgrup-
ten im Maghreb und dem Al-Qaida-
nisation mit globaler Logistik, sondern pen in Pakistan, Algerien, Marokko, So-
Netzwerk. Die detaillierte Analyse des
ein Haufen „wilder Kerle“. Sageman malia oder auch im Jemen zu transnati-
Anschlags von Madrid – auch „3/11“
genannt – von Anthony Celso verdeut- spricht hier von einem „bunch of guys“. onalen Bündnissen zusammen. 4 Diese
licht, dass es Al-Qaida gelungen ist, in Diese lokalen Gruppierungen würden neuen Netzwerke mit gemeinsamer
Europa operierende Terrornetzwerke in sich vor allem aus enttäuschten mus- Ideologie – und nicht die lokalen „bunch
eine internationale Terrorallianz einzu- limischen Einwanderern der zweiten of guys“ – werden in Zukunft aller Vor-
binden. Entgegen offizieller Sichtweisen und dritten Generation zusammenset- aussicht nach die gefährlichste Bedro-
gab es eindeutige Verbindungen zwi- zen. Sie sähen für sich im Westen keine hung für die westliche Sicherheit sein.
schen Al-Qaida und den Attentätern, die Zukunft mehr, und auf sie habe der Irak- Die dschihadistischen Gruppen in den
der dschihadistischen Ideologie eine ho- krieg wie ein gewaltiger Katalysator Maghrebstaaten, in Pakistan, Somalia
he Bedeutung zumaßen. Letztlich weist gewirkt. Letztlich haben nach Sageman und im Jemen sind allesamt deutlich äl-
die Beständigkeit und Virulenz islamisti- also die Empörung über westliche Poli- ter als Al-Qaida. Ihr blutiger Kampf ist
scher Netzwerke in Spanien trotz des tik und die Suche nach Ruhm und An- aber überall ähnlich erfolglos geblie-
militärischen Rückzugs der spanischen erkennung aus enttäuschten Muslimen ben. 5 Nirgendwo gelang es ihnen, die
Truppen aus dem Irak auf eine starke Be- gefährliche Terroristen gemacht. „Ungläubigen“ aus ihren politischen
ziehung zu Al-Qaida und damit auf eine „Homegrown terrorism“ erscheint bei Ämtern zu verjagen. In dieser Hinsicht
weiterhin existente Bedrohung hin. I Sageman damit als Folge einer fatalen sind die lokalen Gruppen der Al-Qai-
Eroberungs- und Exklusionspolitik des da-Zentrale durchaus vergleichbar. Seit
Westens. Ohne sie wäre die Rekrutie- dem 11. September sind auch ihr keine
rung von Nachwuchsterroristen in den vergleichbaren Angriffe auf westliche
„Homegrown terrorism“ oder muslimischen Gemeinden Europas und Ziele gelungen. Eine stärkere Koopera-
Terrornetzwerke? Nordamerikas nicht möglich gewesen. tion zwischen der Al-Qaida-Zentrale
Deshalb würde die jüngste Welle dschi- und Al-Qaida-nahen Organisationen
In der akademischen Debatte ist der hadistischer Gewalt in dem Augenblick im Maghreb, den arabischen Ländern
„homegrown terrorism“ zu einem zent- abebben, in dem der Westen seine Poli- sowie Libanon und Somalia lag also na-
ralen Thema geworden. Und auch in tik ändere und den muslimischen Min- he und stellt eine natürliche Allianz zwi-
der Öffentlichkeit wird intensiv über die derheiten echte Lebensperspektiven schen erfolglosen internationalen und
Todesschüsse von Fort Hood (5.11.2009) biete. erfolglosen regionalen Dschihadisten
oder den Anschlagsversuch auf den Sagemans Thesen zur Lähmung von Al- dar. Alle Bündnispartner scheinen da-
New Yorker Times Square (2.5.2010) Qaida und der überwiegend lokalen bei von dem Zusammenschluss zu profi-
diskutiert. Immer geht es dabei um radi- Dimension der aktuellen dschihadisti- tieren: Al-Qaida erhöht mit Hilfe der
kalisierte Muslime, die in Nordamerika schen Bedrohung haben in der Fach- Dschihadisten aus dem Maghreb seine
und Westeuropa leben und dort lokale welt viel Kritik ausgelöst. Bereits 2007 Fähigkeit, Ziele in Nordafrika und Euro-
Terrorzellen gründen, um im Namen warnte Bruce Riedel davor, Al-Qaida zu pa anzugreifen. Gleichzeitig stärken al-
salafistischer Überzeugungen Anschlä- unterschätzen. Er wies darauf hin, dass gerische, marokkanische und tunesi-
ge gegen westliche Bürger und Instituti- sich die Terrororganisation in den Berg- sche Islamisten durch die Kooperation
onen zu verüben. Vor allem Marc Sage- regionen im Nordwesten Pakistans neu mit Al-Qaida ihre religiöse und ideolo-
man hat in seinen Büchern „Understan- formieren würde. 2 Auch Bruce Hoffman gische Glaubwürdigkeit. Außerdem
ding Terror Networks“ und „Leaderless bezweifelt die empirischen Grundlagen verbessern sich ihr Zugang zu Ausbil-
Jihad“ viel über solche lokalen Terror- von Sagemans Argument. Wie Riedel dungslagern und ihre internationale
gruppen mit transnationaler Program- meint er, dass Al-Qaida wegen seiner Mobilität.
matik nachgedacht.1 Er kommt zu dem engen Verbindung zu den pakistani- Aus dieser Perspektive sind die Anschlä-
Schluss, dass Al-Qaida als Organisati- schen Taliban nach wie vor eine ernst- ge von Casablanca 2003 und Madrid
on nach den Attentaten vom 11. Sep- hafte Gefahr für den Westen darstelle. 2004 nicht das Ergebnis von autono-
tember 2001 an Handlungsfähigkeit Denn es führe eine deutliche Spur von men Zellen nach dem Muster des „ho-
verloren hat und nicht mehr in der Lage den terroristischen Ausbildungslagern megrown terrorism“. Stattdessen stan-
ist, aus eigener Kraft große Anschläge in Nord-Wasiristan zu pakistanischen den die Attentäter in enger Kooperati-
zu verüben. Stattdessen diene Al-Qai- Diasporagruppen im Westen, die wie- on mit transnational organisierten
da heute vor allem als Quelle der Inspi- derum hinter den Anschlagsversuchen Dschihadisten im Maghrebraum und
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Kampf in Algerien und Marokko zu fi- seine Mitglieder gemeinsam Ausbil- Struktur der Attentäter von Madrid, die
nanzieren. dungslager einrichteten, die Rekrutie- wahrscheinlich nicht zufällig genau 911
Die Kriege in Bosnien, Tschetschenien, rung neuer Kämpfer koordinierten und Tage nach dem Angriff auf das World
Kaschmir und Algerien und die repressi- sich wechselseitig mit Personal und Trade Center zuschlugen.
ven Herrschaftspraktiken in vielen wei- Geld aushalfen.
teren Ländern Nordafrikas, des Vorde- Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde
ren Orients und Südwestasiens brach- Europa zur operativen Basis für „heilige Das „3/11-Netzwerk“: Internationale
ten nicht nur zehntausende muslimische Kriege“ an den verschiedensten Orten und regionale dschihadistische
Migranten nach Europa. Sie führten der Welt. Die Al-Qaida-Zellen in Ham- Verbindungen
auch dazu, dass unter den isolierten burg, London und Madrid spielten eine
und entwurzelten Menschen die marti- zentrale Rolle für die Organisation der Studien über das Netzwerk der Attentä-
alische Rhetorik islamistischer Extremis- Anschläge vom 11. September 2001. Lo- ter von Madrid (das sogenannte
ten auf fruchtbaren Boden fiel. Es war gistisch konnten sie dabei auf die GIA „3/11-Netzwerk“)12 belegen, dass Mit-
nicht schwer, sie von der Notwendigkeit zurückgreifen. Von der GIA wurde bei- glieder von Al-Qaida, GIA und GICM
des Kampfes gegen die Unrechtsregime spielsweise im Juli 2001 das Treffen von in der Planung, Organisation und Aus-
in ihren Heimatländern zu überzeugen. Mohammad Atta und Ramzi Binalshibh führung der Anschläge von Madrid zu-
Und für Al-Qaida war es anschließend in Tarragona organisiert, auf dem die sammenarbeiteten.13 Zwei der wichtigs-
ein Leichtes, die USA als den „großen operativen Details der Angriffe auf das ten Akteure aus Spaniens Al-Qaida-
Satan“ zu zeichnen, der dafür verant- World Trade Center und das Pentagon Führung waren der Syrer Abu Dadah
wortlich ist, dass der Befreiungskampf festgelegt worden sind.11 Nach der Ver- und der Marokkaner Amir Azizi. Dadah
bislang erfolglos geblieben ist. Ende treibung der Taliban aus Afghanistan galt in den 1990er Jahren als Kopf der
der 1990er Jahre gelang es Al-Qaida, und der Zerschlagung ihrer europäi- spanischen Al-Qaida. Er war es, der Ja-
die regionalen marokkanischen und al- schen Infrastruktur nahm die Kooperati- mal Zougam, einen der Schlüsselakteu-
gerischen Terrornetzwerke in seine glo- on zwischen Al-Qaida und marokkani- re im „3/11-Netzwerk“, für die Organi-
bale Netzwerksstruktur zu integrieren.10 schen sowie algerischen Terrorgruppen sation der Anschläge rekrutierte. In Zu-
Letztlich einigte dieses Netzwerk der weiter zu. Diese Kooperation zeigt sich sammenarbeit mit Azizi begann Dadah
Hass auf die USA, der so stark war, dass insbesondere in der organisatorischen die Kooperation mit Dschihad-Organi-
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kriminalisiert, indem man ihnen eine zu- für Strafrecht, 6/2010, S. 211–216.
mindest ideologische Nähe zu gewis- Zankl, Wolfgang (2009): Auf dem Weg zum Über-
sen Straftaten, die meistens Bagatell- wachungsstaat? Neue Überwachungsmaßnah-
delikte sind, aber aufgebauscht wer- men im Bereich der Informations- und Kommuni-
kationstechnologie. Wien.
den, vorwirft. Auch dieser Prozess be-
Zeger, Hans G. (2008): Mensch, Nummer, Daten-
hindert die demokratische Konfliktkultur satz. Unsere Lust an totaler Kontrolle. St. Pölten/
und könnte einige Personen zur Über- Salzburg.
zeugung bringen, nicht mehr auf die De-
mokratie zu vertrauen.
Die Folge einer erfolgreichen Kriminali- ANMERKUNGEN
sierung von sozialen Bewegungen ist 1 Eine SLAPP (Strategic Lawsuit Against Public
oft die Instrumentalisierung von Geset- Dr. Dr. Martin Balluch studierte Mathe- Participation), eine „strategische Klage gegen
zen gegen Terrorismus oder organisier- matik, Physik und Astronomie an der öffentliche Beteiligung“, ist eine besondere Form
der Klage, die dem Zweck dient, Kritiker einzu-
ter Kriminalität gegen NGOs und Akti- Universität Wien und promovierte an schüchtern und ihre öffentlich vorgebrachte Kritik
visten. Es ist offenbar nicht so leicht, der Ruprecht-Karls-Universität in Hei- zu unterbinden. In den allermeisten Fällen wird
Phänomene wie Terrorismus und orga- delberg; die zweite Promotion erfolgte diese Klage von Konzernen und Unternehmen
nisierte Kriminalität in konkrete Gesetze 2005 in Philosophie zum Thema Tier- angestrengt, weniger von Privatpersonen oder
Behörden. Die Klage richtet sich in der Regel ge-
zu fassen. Sind diese Gesetze aber zu ethik; zwölf Jahre als Universitätsassis-
gen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die
vage formuliert, werden sie rasch zur tent an den Universitäten Wien, Heidel- die Geschäftspraktiken oder die Aktivitäten des
Falle für NGOs. Die politischen Aktivi- berg und Cambridge tätig; Martin Unternehmens öffentlich kritisieren. Der Begriff
täten von NGOs zielen darauf ab, Balluch ist österreichischer Tierethiker SLAPP geht auf George W. Pring und Penelope
durch öffentlichen Druck und unter der und Tierrechtsaktivist und seit 2002 Canan (Universität Denver) zurück.
2 CCTV-Kameras, sind Kameras, die durch Be-
Anwendung von zuweilen illegalen Obmann des Vereins gegen Tierfabri- wegung aktiviert werden.
aber demokratiepolitisch legitimen Ak- ken.
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Berühmtheit und Geld genannt. 30 Um in the United States Since September 11, 2001 .
Santa Monica, S. VIII.
diese Vielzahl von Faktoren zu integrie- PhD Daveed Gartenstein-Ross ist Di-
4 Ira Silverman (2002): An American Terrorist.
ren hat das Team um Arie Kruglanski rektor des Center for the Study of In: New Yorker, 5. August 2002.
das Konzept der Bedeutungssuche – Terrorist Radicalization bei der Foun- 5 Francis X. Clines (1993): U.S.-Born Suspect in
„quest for significance“ – entwickelt. Sie dation for Defense of Democracies, Bombing Plots: Zealous Causes and Civic Roles.
gehen davon aus, dass Menschen, die einem US-amerikanischen think tank. In: New York Times, 28. Juni 1993.
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dicted were Knit into Portland’s Fabric. In: Orego- bers of Walthamstow. In: BBC, 8. Juli 2010. 2009, Open Source Center, trans.; Abu Omar al-
nian, 5. Oktober 2002; Jerry Markon und Dana 13 Eine gelungene Reportage über Gadahn bie- Baghdadi: To the New Rulers in the White House
Priest (2005): Terrorist Plot to Kill Bush Alleged. In: tet Raffi Khatchadourian (2007): Azzam the Ame- and Their Allies from Among the Leaders of the
Washington Post, 23. Februar 2005; Amanda Ri- rican. In: New Yorker, 22. Januar 2007. Other Christian Countries. 7. November 2008,
pley, (2007): The Fort Dix Conspiracy. In: Time, 6. 14 Marc Sageman (2008): The Next Generation NEFA Foundation trans.
Dezember 2007. of Terror. In: Foreign Policy, März/April 2008, 22 Anwar Al-Awlaki: A Call to Jihad. Video ver-
7 Generalstaatsanwalt John Ashcroft: Prepa- S. 36–42. öffentlicht am 22. März 2010.
red Remarks for the U.S. Mayors Conference. 25. 15 Siehe Marc Sageman (2008): Leaderless Ji- 23 Adam Yahiye Gadahn: A Call to Arms. März
Oktober 2001 . Eine ausführliche Diskussion die- had: Terror Networks in the Twenty-First Century. 2010.
ser Polizeistrategie bieten Daveed Gartenstein- Philadelphia. 24 Siehe Raffi Khatchadourian (2007): Azzam
Ross und Kyle Dabruzzi (2007): The Convergence 16 Bruce Hoffman (2008): The Myth of Grass- the American. In: New Yorker, 22. Januar 2007.
of Crime and Terror: Law Enforcement Opportu- Roots Terrorism. In: Foreign Affairs, Mai/Juni 25 Siehe Marc Sageman (2004): Understanding
nities and Perils. New York, NY. 2008, S. 133–138. Terror Networks. Philadelphia, S. 73–77; Marc
8 Dieser Ansatz wird manchmal „vorgeschobe- 17 Douglas Frantz et al. (2004): The New Face Sageman (2008): Leaderless Jihad: Terror Net-
ne Verfolgung“ (im Englischen: pretextual prose- of Al-Qaeda. In: Los Angeles Times, 26. Septem- works in the Twenty-First Century. Philadelphia,
cution) genannt, da die tatsächlich treibende ber 2004. Viele Beobachter kommen im Hinblick S. 48–50, 58–60; Alan B. Krueger (2007): What
Kraft hinter den Anschuldigungen die Furcht vor auf diese Zeit zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Makes a Terrorist: Economics and the Roots of
Terrorismus ist; siehe Daniel C. Richman and Wil- Zum Beispiel beschreibt Derek Reveron Al-Qaida Terrorism. Princeton.
liam J. Stuntz (2005): Al Capone’s Revenge: An als „eine fragmentierte terroristische Gruppe, die 26 Marc Sageman (2008): Leaderless Jihad: Ter-
Essay on the Political Economy of Pretextual Pro- sich auf der Flucht befindet und sich in Höhlen in ror Networks in the Twenty-First Century. Philadel-
secution. In: Columbia Law Review, 2005. Afghanistan versteckt“; siehe Derek Reveron phia, S. 62.
9 Für Informationen zu al-Shabaab: Daveed (2005): Tuned to Fear. In: National Review Online, 27 Jessica Stern (2010): 5 Myths about Who Be-
Gartenstein-Ross (2009): The Strategic Challen- 13. Januar 2005; Jason Burke (2004): Al-Qaeda: comes a Terrorist. In: Washington Post, 10. Januar
ge of Somalia’s al-Shabaab. In: Middle East The True Story of Radical Islam. London; Peter 2010.
Quarterly, Fall 2009, S. 25–36.; Evan F. Kohlmann Zeihan (2007): The Many Faces of Al Qaeda. In: 28 Marc Sageman (2008): Leaderless Jihad: Ter-
(2009): Shabaab al-Mujahideen: Migration and Stratfor (Austin, Tex.), 10. Juli 2007. ror Networks in the Twenty-First Century. Philadel-
Jihad in the Horn of Africa. New York. 18 Vgl. Bruce Hoffman (2008): The Myth of phia, S. 156–157.
10 Siehe Sally Neighbour (2009): Young Man Grass-Roots Terrorism. In: Foreign Affairs, Mai/ 29 Daveed Gartenstein-Ross/Laura Grossman
was Prime Target for Militant Recruiters. In: The Juni 2008, S. 133–138. (2009): Homegrown Terrorists in the U.S. and
Australian, 5. August 2009; Jonathan Rugman 19 Siehe: Drone Attacks ‚Linked‘ to Suspected U.K.: An Empirical Examination of the Radicaliza-
(2009): Somali Radicals ‚Importing Terror to UK‘ Europe Terror Plot. In: BBC News, 6. Oktober tion Process. Washington.
Say Intelligence Analysts. In: Times, 16. Februar 2010. 30 Arie W. Kruglanski et al. (2009): Fully Com-
2009; Stewart Bell (2009): Van Loan ‚Alarmed‘ by 20 Auf Englisch: Strategy of Thousand Cuts; sie- mitted: Suicide Bombers’ Motivation and the
Terror Cells. In: National Post (Canada), 28. März he: Letter from the Editor. In: Inspire, November Quest for Personal Significance. In: Political Psy-
2009; Swedes Killed Fighting in Somalia.In: The 2010, S. 4. chology, 1/2009, S. 331–357.
Local (Sweden), 29. Mai 2009. 21 Siehe Ayman al-Zawahiri: The Facts of Jihad 31 Ebd., S. 353.
11 Siehe Ken Menkhaus (2009): Violent Islamic and the Lies of the Hypocrites. Interview with Al- 32 Ebd., 352.
Extremism: Al-Shabaab Recruitment in America. Sahab, 5. August 2009, NEFA Foundation, trans.; 33 Telefoninterview mit einem Angestellten des
Zeugenaussage vor dem U.S. Senate Homeland Osama bin Laden: Address to the American Peo- Department of Homeland Security, 23. November
Security and Governmental Affairs Committee, ple. September 2009, Open Source Center trans.; 2010.
11 . März 2009. Al-Sahab Establishment for Media Production:
Landeskunde Baden-Württemberg
Angebote der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
Beim Spezialisten für Landeskunde finden Sie ein vielfältiges Angebot rund
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von Baden-Württemberg
unterstellt, ein Mann vom Range Schmie- die Finanzströme unter demokratische unterschiedlicher Meinungen zur Sache
derers sei in Beutelsbach „umarmt“ wor- Kontrolle zu bringen. in der Klasse sich geschlossen an einer
den. Wie kommt Nonnenmacher nur dazu, Demonstration (gleichgültig ob Pro
Beutelsbach muss erneut propagiert Beutelsbach würde gleichsam verhin- oder Contra) beteiligen würde. Beutels-
werden, wenn Nonnenmacher Anhän- dern, über Kontroversen zu streiten? bach fördert die Partizipation, aber bit-
ger dafür findet, das Indoktrinations- Das Gegenteil ist der Fall! Beutelsbach te auf Grund selbstständiger Urteile
verbot auszuhebeln, da es nur der indi- will geradezu die Auseinandersetzung, und Entscheidungen. Das Ideal wäre:
viduellen Freiheit diene und die unge- ohne die politische Bildung gar nicht Schülerinnen und Schüler machen sich
rechten Strukturen unserer Gesellschaft möglich ist. Wer das nicht sieht, der war mit Hilfe der Lehrerin oder des Lehrers
außen vor lasse. Dem setzt der Rezen- noch nie in Beutelsbach! intensiv über die Sache kundig, treffen
sent mit aller Kraft entgegen: Auch künf- Und was für ein Lehrerbild hat Frank ein eigenes Urteil und entscheiden, ob
tig darf für Indoktrination in den Schu- Nonnenmacher? Nach seiner Beschrei- und wie sie ihre Meinung in der Gesell-
len kein Platz sein! Das Grundgesetz bung ist es der Lehrer als Agitator mit schaft nach vorne bringen können. Um
beginnt Gott sei Dank mit dem wunder- der Fahne in der Hand, hinter der sich beim Beispiel Stuttgart 21 zu bleiben:
baren Satz: „Die Würde des Menschen alle scharen. Das ist höchst fatal. Selbst- Pro- und Contra-Demonstranten be-
ist unantastbar“. Hier knüpft der erste verständlich können Lehrerinnen und gegnen sich mit Respekt (leider die ab-
Grundsatz von Beutelsbach unmittelbar Lehrer ihre Meinung einbringen, dürfen solute Ausnahme in Stuttgart). Es ist
an. Auch wenn man der Auffassung ist, sie aber nicht höher bewerten als jede auch nicht zu kritisieren, wenn sich eini-
unsere Gesellschaftsordnung sei unge- einzelne Schülermeinung. Die jungen ge in dieser Frage nicht engagieren
recht, kann man diesen Wesenskern un- Leute können durchaus etwas über die wollen.
serer Verfassung nicht außer Kraft set- privaten politischen Aktivitäten ihrer Es ist geradezu grotesk, wenn Nonnen-
zen. Beutelsbach zwingt aber dazu, in- Lehrer erfahren. Ganz entscheidend ist macher, der offenbar genau weiß, wo-
tensiv auch der Frage nachzugehen, ob jedoch, dass sie das volle Vertrauen ha- hin die politische Reise zu gehen hat,
unsere Gesellschaft gerecht ist, wie ben können, nicht den geringsten Nach- unterstellt, dass der erste Grundsatz
man sie gerechter gestalten kann und teil zu erleiden, falls ihre Meinung von von Beutelsbach dazu dienen könne,
welche Möglichkeiten es gibt, an den der des Lehrers bzw. der Lehrerin ab- diejenigen zu diffamieren, die „politi-
Verbesserungen aktiv mitzuwirken. Die weicht. sche Aktionen“ befürworten. Es ist scha-
Frage ist eingeschlossen, ob der nach Nehmen wir das praktische Beispiel de, dass Frank Nonnenmacher so über
Artikel 20 im Grundgesetz vorgeschrie- Stuttgart 21. Die Wogen der Meinung den Beutelsbacher Konsens herfällt, oh-
bene Sozialstaat (es gelten eben nicht gehen in Stuttgart und Umgebung hin ne ihn gründlich genug zu kennen.
nur die Gesetze des Marktes!) erhebli- und her. Warum nicht auch im politi- An dieser Stelle sei gleich der Beitrag
che Defizite hat. Dazu gehört vor allem schen Unterricht? Fatal wäre es, wenn von Mirjam Prauschke und Guido Stef-
in unseren Tagen auch die berechtigte eine Lehrerin oder ein Lehrer quasi aus fens „über den Abschied von einer ge-
Frage, ob es weltweit gelingen kann, dem politischen Unterricht heraus trotz sellschaftskritischen politischen Bil-
In den Kommunen ist die Politik den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten,
denn dort wird Politik täglich erfahrbar: Wo werden unsere Kinder betreut?
Wo findet Altenpflege statt? Wie werden Migranten integriert? Und wer finan-
ziert all das?
Die Kommunen gestalten Politik wesentlich mit und prägen den öffentlichen Ein-
druck von „gelingender“ oder „versagender“ Politik. Ihre Selbstverwaltung hat
sich als Erfolgsmodell erwiesen. Ohne Kommunen ist politisches Leben schlicht
nicht denkbar.
dung“ besprochen. Er liest sich nämlich Fast wie ein Fremdkörper in diesem „erstmals eine intentionale Verbindung
wie eine Umsetzung der Theorie von Band wirkt der Beitrag von Joachim von Kompetenzorientierung und Hand-
Frank Nonnenmacher in die Praxis. Die Detjen.: „Keine demokratischen Mär- lungsorientierung“ gelungen sei.
Absicht, die Schüler „nicht mehr als un- chenerzählungen“. Obwohl der Autor Vermutlich versteht sich das Buch als
mündige Objekte der Belehrung“ zu be- alle Bemühungen unterstützt, das bür- Aufbruch zu neuen Ufern. Dem kann sich
handeln, ist ja richtig und entspricht ex- gerschaftliche Engagement zu stärken, der Rezensent nicht anschließen. Es ist
akt dem ersten Beutelsbacher Grund- hat er die Bodenhaftung nicht verloren richtig, immer wieder zu betonen, dass
satz, aber bald wird deutlich, dass sie und betont, dass die politische Bildung auch politische Bildung einen wichtigen
dem Ziel „Alternativen zur herrschen- nicht „das idealistische Bild eines jeder- Beitrag zu leisten hat für den Aufbau ei-
den Ordnung“ folgen sollten. Wie weit zeit partizipationsbereiten oder gar ner vitalen Bürgergesellschaft zur Stär-
geht also die Mündigkeit der Schülerin- des zur Partizipation verpflichteten Bür- kung unserer Demokratie. Schade aber,
nen und Schüler? Und es ist einfach un- gers zeichnen“ sollte. Er ist zufrieden, dass in einigen Beiträgen vergangene
reif bis verantwortungslos, wenn die Au- wenn die politische Bildung aus „Unwis- Schlachten wieder geschlagen werden.
toren es als ein Ziel politischer Bildung senden und Desinteressierten wenigs- Das führt nicht weiter. Aber manchmal
bezeichnen, „die Verhältnisse zum Tan- tens reflektierte Zuschauer“ machen ist auch der Ärger bei der Lektüre eine
zen zu bringen“. Es steht den Autoren kann. positive Antriebskraft. Siegfried Schiele
frei, das hessische „Kerncurriculum Poli- Helmolt Rademacher beschäftigt sich
tik und Wirtschaft“ sehr kritisch zu be- mit dem Thema „Demokratiepädago-
leuchten. Wer aber die Ziele politischer gik“. Er unterstreicht, dass sich politische
Bildung so skizziert, dem würde es gut Bildung nicht auf die Wissensvermitt- Neckargeschichten – von der Quelle
tun, einmal einen politischen Unterricht lung beschränken dürfe. Diese Forde- bis zur Mündung
zu erleben, der nach den Grundsätzen rung ist ja berechtigt, aber nicht erst die
des Beutelsbacher Konsenses gestaltet Demokratiepädagogik hat entdeckt, Thomas Vogel/Heike Frank-Ostarhild:
ist. dass die Befähigung zum selbstständi- Neckargeschichten
Kehren wir zur Reihenfolge des Buches gen Urteilen und Handeln wesentliche Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2010.
zurück. Benedikt Widmaier geht in sei- Ziele des politischen Unterrichts sind. 352 Seiten, 22,00 Euro.
nem Beitrag von der Grundthese aus, Darum war und ist der Konflikt politi-
„dass politisches Wissen und politische sche Bildung versus Demokratiepäda- Flüsse haben etwas Faszinierendes an
Kompetenzen nicht nur Voraussetzung, gogik unnütz und sinnlos. sich, weil sie – so Thomas Vogel im ein-
sondern auch Folgen von aktiver Partizi- Armin Scherb geht in seinem Beitrag auf leitenden Kapitel „Flussgeschichten“ –
pation sind“. Er zeichnet ein zu düsteres den Pragmatismus ein, weil er der Auf- Sinnbild des Lebens schlechthin sind.
Bild der politischen Bildung in der Schu- fassung ist, dass der Pragmatismus zu Flüsse sind verbindend und trennend
le, wo es seiner Meinung nach vorwie- einem praxisorientierten Konzept politi- zugleich. Als Wasserstraßen dienen sie
gend um „kognitive Mobilisierung“ ge- schen Lernens einen beachtenswerten der Mobilität, schreiben aber durch ihre
he. Widmaier geht u. a. auf den – unnö- Beitrag leisten kann. Die Theorie von Ufer Unterschiede, zum Teil – trotz ver-
tigen – Streit der Demokratiepädago- John Dewey wird in den Grundzügen bindender Brücken und Stege – schwie-
gik mit der Didaktik politischer Bildung dargelegt und eine Verbindung zum rig zu Überbrückendes fest. Galten
ein. Es ist ja richtig, gerade im Feld der handlungsorientierten Unterricht her- doch häufig zwei an einem Fluss sich
außerschulischen Bildung die Hand- gestellt. Scherb stellt jedoch klar, dass gegenüber liegende Orte als Fixpunkt
lungsperspektive bei der Bildungsar- „der interventionsfähige Bürger nicht lokaler Identitäten, die Wert auf eben
beit stark in den Blick zu nehmen, aber automatisch der demokratisch gesinnte diese „räumliche“ Trennung legten und
auch hier muss ganz klar sein, dass die Bürger“ ist. scheinbare Unterschiede betonten.
Richtung, die Art und Weise des Han- Michael Götz und Stephan Schieren (Selbst in einem kleinen Dorf am Neckar
delns und das Ob ausschließlich dem geben ihrem Beitrag die Überschrift aufgewachsen, kann sich der Rezensent
Subjekt zustehen. „Learning Active Politics“. Sie stellen in- noch lebhaft an die Schilderungen Alt-
Auch Bettina Lösch unterstreicht die Be- ternationale Jugendbegegnungen mit eingesessener erinnern, die den Be-
deutung der Partizipation für unsere Bulgarien in den Mittelpunkt. Es ist er- wohnern des am jenseitigen Ufer gele-
Demokratie, zeichnet aber ein sehr düs- wiesen, dass solche Begegnungen das genen Dorfes nicht sonderlich positive
teres Bild der demokratischen Verhält- politische Interesse von Jugendlichen „Charaktereigenschaften“ zuschrieben.
nisse in Deutschland. So kommt sie auch stärken und Kompetenzen mehren kön- Angeblich soll sich dies in früheren Ta-
dazu, „Aktionen zivilen Ungehorsams“ nen. Sie gehen auch noch auf „Politik- gen auch auf das lokale Heiratsgeba-
als wirksame Methode politischen Ler- werkstätten in Schulen“ ein und beto- ren ausgewirkt haben!) Als Lebens-
nens zu begreifen. Der schulischen poli- nen die Verknüpfung von Schule und adern, an denen entlang Menschen zu
tischen Bildung wird unterstellt, am Sta- außerschulischer Bildung. allen Zeiten siedelten, waren und sind
tus quo festzuhalten, während es nach Klaus Moegling untersucht, inwieweit Flüsse „Orte der Begegnung, des Han-
Beutelsbach geradezu selbstverständ- die Standards für die politische Bildung dels und der Händel“ (S. 10).
lich ist, Fehler und Schwächen unserer in Hessen handlungsorientiert angelegt Flüsse setzen Grenzen und öffnen Hori-
parlamentarischen Ordnung aufzugrei- sind. Er beschreibt den Dissens zwi- zonte. Sie bieten genügend Anlässe für
fen, Kontroversen offen und transparent schen Konzeptionen der Kompetenzori- philosophische und literarische Ge dan-
auszutragen und den jungen Menschen entierung mit Theorien der Handlungs- ken(spiele). Unzählige Künstler, Dichter
die Urteilsbildung zu überlassen. Dann orientierung. Der Autor ist daran inter- und Literaten wurden durch Flüsse an-
muss es aber auch – vermutlich zum essiert, den Konflikt zu entschärfen. An- geregt. Mehr noch: Flüsse haben etwas
Unmut von Bettina Lösch – möglich sein, ders als Mirjam Prauschke und Guido Beruhigendes, aber auch Bedrohliches
dass der eine oder die andere den Steffens findet er handlungsorientierte an sich. Metaphern der Geborgenheit
Status quo alles in allem für passabel Ansätze im hessischen Curriculum. und des Lebendigen stehen Sinnbilder
hält. Moegling meint sogar, dass in Hessen der Gefahr und des buchstäblichen Un-
tergangs gegenüber. Flüsse lassen sich gebändigten Fluss eindrucksvoll be- entpuppt; eine Anthologie, die ein gro-
nicht so leicht zähmen, verlangen als schreibt, bekommt eine andere „Lesart“, ßes Kompliment verdient. Die anregen-
entfesselte Naturgewalt ihren Tribut. wenn man in Wielands Schmids „Ein de und kurzweilige Lektüre macht Ap-
Der Name Neckar ist keltischen Ur- Pfad im Schatten der Kühltürme“ eine petit und Lust: auf den Neckar, seine
sprungs und bedeutet so viel wie „wil- scheinbar „zeitgemäße“ Art der Na- Landschaft und auf die mit ihm verbun-
der Geselle“. Mithin ein Beleg für die turaneignung im Schatten des Kern- denen Menschen. Siegfried Frech
Urgewalt des Wassers, die von den An- kraftwerks Neckarwestheim entdeckt.
wohnern Respekt vor dem Fluss abver- Während Johannes R. Becher, der erste
langt. Flüsse waren und sind immer Kultminister der späteren DDR, „Tübin-
schon biographische „Erinnerungsorte“ gen oder Die Harmonie“ lobt, kommen- Der grüne Ministerpräsident
und Orte der Selbstvergewisserung, tiert Axel Hacke anlässlich einer Lese-
aber auch eine reichhaltige Quelle für reise in einem „Neckarkiesel“ – kurze Peter Henkel/Johanna Henkel-Waid-
Märchen, Balladen, Legenden und My- Einsprengsel, die das ganze Buch hofer:
then gewesen, welche die Vergangen- durchziehen – eher ironisch „Da fließt Winfried Kretschmann. Das Porträt
heit beschwören. doch so ein kleiner Fluss durch Tübin- Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2011.
Thomas Vogel (Autor, Kulturschaffender gen…“ (S. 67). Peter Härtling kommt 160 Seiten, 14,95 Euro.
und Honorarprofessor der Eberhard ebenso zu Wort wie Hans Christian An-
Karls Universität Tübingen) und Heike dersen, Ottilie Wildermuth, Felix Huby Eine Biographie von Winfried Kretsch-
Frank-Ostarhild (Geschäftsführerin ei- oder Ludwig Uhland. Ernste und tiefsin- mann vor dem 12. Mai 2011 zu schrei-
nes Verlags und Lektorin) haben un- nige Texte wechseln sich mit boden- ben und zu drucken, verlangt ange-
längst in Klöpfer & Meyers Reihe „Land- ständig-schwäbischen Beschreibungen sichts der knappen Mehrheitsverhält-
schaftsgeschichten“ eine lesenswerte ab. So schildert Manfred Rommel fein- nisse im baden-württembergischen
Anthologie vorgelegt, die von der Quel- sinnig als „ Meister des Bierfassan- Landtag eine gehörige Portion Wage-
le bis zur Mündung des 367 Kilometer stichs“ – so der Titel – das Cannstatter mut (nicht zuletzt auch vom Verlag!). Pe-
langen Neckars literarische Texte ver- Volksfest als „schwäbisches Kulturereig- ter Henkel, über drei Jahrzehnte Korres-
schiedenster Gattungen vereint. Mit nis“ bzw. als „schwäbisches Bayreuth“. pondent der „Frankfurter Rundschau“,
dem Neckar, der Herz- und Lebensader Gleichwohl fallen die Schwaben nicht und Johanna Henkel-Waidhofer, lan-
Baden-Württembergs, sind Personen der „Wagnerschen Musik zum Opfer“. despolitische Korrespondentin für das
und Persönlichkeiten untrennbar ver- Das Cannstatter Volkfest ist vielmehr „Badische Tagblatt“ und langjährige
bunden. Liegen doch – so Thaddäus das „schwäbische Woodstock, wo un- Mitarbeiterin des „Staatsanzeiger“, ha-
Troll – zwei Wiegen der Weltliteratur sere Volksseele sich findet, neu begreift ben das mutige Unterfangen gewagt.
am „Weinfluss Neckar“: Schillers Ge- und von ihrer besten Seite zeigt“ Bekanntlich war die Landtagswahl am
burtsstadt Marbach und Hölderlins (S. 135ff.). Einige Texte sind ein Beleg, 27. März 2011 für die baden-würt tem-
Lauffen. Die Textsammlung beginnt dass der Neckar ein „Weinfluss“ ist. bergische Landespolitik ein einschnei-
nicht von ungefähr mit dem Gedicht Theodor Heuss, dessen 1905 abge- dendes Ereignis. Die seit 58 Jahren re-
„Der Neckar“ von Friedrich Hölderlin – schlossene Doktorarbeit sich mit dem gierende CDU verlor die Wahl und zum
mit einem der schönsten Gedichte, das Thema „Weinbau und Weingärtner- ersten Mal wurde in der Bundesrepublik
die deutsche Sprache kennt. Hölderlin stand in Heilbronn am Neckar“ be- ein Grüner Ministerpräsident.
hat Zeit seines Lebens am Neckar ge- schäftigte, vergleicht den württember- Wer ist nun dieser Winfried Kretsch-
lebt und diesen immer wieder besun- gischen Wein gar mit dem schwäbi- mann? Was sind seine Visionen und
gen. Hölderlin ist „der Sänger der Flüsse schen Charakter. Der unkundige Frem- Prinzipien? Wie „tickt“ er im politischen
schlechthin“ (S. 21). de ist „wohlwollend und nachsichtig zu Geschäft? Anhand dieser Leitfragen
Dieser eher bescheidene, zwölftgrößte ihm, ein bisschen von oben herab, lobt zeichnen Peter Henkel und Johanna
Fluss Deutschlands entpuppt sich bei die Einfachheit“. Mit Unverstand jedoch Henkel-Waidhofer ein politisches Port-
der Lektüre der Textsammlung als „Fluss genossen, folgt die Rache, die „nicht frei rät bzw. eine von überaus viel Sympa-
der Dichter“, der an Idyllen und Indust- von schadenfroher Tücke [ist]“, geht der thie getragene Charakterstudie. Im ers-
rieanlagen, an Klöstern und Kernkraft- Fremde doch in die Knie (S. 192). ten Drittel des Buches gewinnt man den
werken, an Dörfern und (Klein-)Städten Die Anthologie vereint im Übrigen „alt- Eindruck, dass da einer über den grü-
vorbeifließt und das Erleben, das „Ge- ehrwürdige“ literarische Größen, lässt nen Klee gelobt wird. Auf so manchen
müt“ und nicht zuletzt den Charakter aber auch genügend Einblicke in das li- Seiten lernt der (nüchterne) Leser den
der Menschen geprägt hat. In der ge- terarische Schaffen der Gegenwart zu, „geerdeten, wertgebundenen, boden-
lungenen Auswahl finden sich Mund- indem zeitgenössische Autorinnen und ständigen“ (S. 30) Kretschmann kennen.
art-Gedichte von Sebastian Blau in di- Autoren zu Wort kommen und dabei so Bereits auf der ersten Seite des Prologs
rekter Nachbarschaft mit Texten von manche Flussmetapher gelegentlich ge- wird Winfried Kretschmann als „knorri-
Walle Sayer, in denen die scheinbare gen den Strich bürsten. Und ein klein ger katholischer Ex-Kommunist vom
Idylle und der unkritische Gebrauch des wenig wehmütig endet die Sammlung Land, ein (wert-)konservativer Super-
Heimatbegriffs hinterfragt werden. Ne- u. a. mit dem „Neckarbrückenblues“ von Realo“ (S. 7) charakterisiert. „Authenti-
ben Hermann Hesses Kindheitserinne- Joy Fleming und Carl J. Schäuble. zität“ ist hier das Schlüsselwort und
rungen „Floßfahrt“ eröffnen mehrere Eine Rezension kann den über hundert gleichsam der rote Faden des Porträts.
Texte immer wieder historische Reise- Gedichten, Essays, Tagebuchauszügen Im letzten Kapitel – überschrieben mit
eindrücke, die durch Prosatexte – die und Prosatexten nur annähernd gerecht „Ein Philosoph wird Präsident“ – wird
man mit dem Label „kritische Heimat- werden. Thomas Vogel und Heike Frank- gar die subtile Analogie zur „Politeia“
kunde“ versehen könnte – „gebrochen“ Ostarhild haben eine Textsammlung zu- von Platon bemüht. Die Bemerkung sei
werden. Die Auszüge aus dem Reiseta- sammengestellt, die sich, wie der Klap- an dieser Stelle erlaubt, dass Macht
gebuch von Mark Twain „Den Fluss hin- pentext zu Recht bemerkt, als „literari- und Philosophie realpolitisch selten
unter“, der eine Fahrt auf dem noch un- sches Schatzkästlein“ und Vademekum oder nie verbunden gewesen sind.
Entkleidet man diese Charakterisierun- „Basta-Stil“ des Regierens? Fanden sollen, bergen allemal (koalitions-)poli-
gen ihrer schillernden Konnotationen, manche Wählerinnen und Wähler die tischen Sprengstoff genug. Eine propa-
kommt die andere Seite von Winfried „gute alte Tante SPD einfach nicht mehr gierte „Dynamik in allen Teilen der Be-
Kretschmann sehr wohl ans Tageslicht. sexy“ (S. 27) genug? Sind einstmals si- völkerung“ wurde bisher beileibe nicht
Der politische Aufstieg des „oberschwä- cher geglaubte Parteibindungen über- ausgelöst. Eher ist es so, dass abgewar-
bischen Charismatikers“ – der gegen haupt noch zuverlässig? War Mappus tet wird, was Grün-Rot politisch unter-
„Eitelkeiten und Aktionismus, gegen gar – angesichts katastrophaler Stim- nimmt.
Glamour und Karrieredenken“ (S. 11) mungswerte – ein völlig ungeeigneter Unterm Strich ist dem Autorenpaar ein
gefeit ist – wird entlang biographischer Kandidat? War es Fukushima oder war kenntnisreiches und lebendiges, von
Stationen und (partei-)politischer Weg- es der politisch dilettantische Umgang Sympathie zu Kretschmann getragenes
marken aufgezeigt. Dass die von autori- mit dem nuklearen Desaster? Einräumen Porträt des eigenwilligen Politikers ge-
tärer Willkür geprägt Zeit im Internat, muss man, dass das Buch nicht unbe- lungen. Die Charakterstudie präsentiert
die „bleierne“ Schulzeit in den 1960er dingt den Anspruch hat, nüchterne den Leserinnen und Lesern nicht nur den
Jahren und schließlich die berufliche Wahlanalysen zu betreiben. Vielmehr Politiker, sondern auch den „Mensch
Sozialisation deutliche Spuren hinter- geht es um den Politiker und um die Per- Kretsch“ – wie er von Parteifreunden ge-
lassen haben, wird spätestens dann er- son von Winfried Kretschmann. nannt wird. Siegfried Frech
sichtlich, wenn der „Pädagoge in der Eine der Stärken des Buches ist die pa-
Politik“ beschrieben, der forcierte „Pre- rallel zu Kretschmanns Werdegang
digerstil“ und der Hang zum gründli- skizzierte Geschichte der Ökologiebe-
chen Durchdringen komplexer Sachfra- wegung und der Grünen auf Bundes- Bildungspolitik – ein zentrales
gen erörtert werden (S. 37f.). Geschil- und vor allem auf Landesebene. Peter Politikfeld
dert werden auch die harten Jahre in Henkel und Johanna Henkel-Waidhofer
der Opposition, die nun mal Lehrjahre zeigen konzise, dass die Grünen – Hepp, Gerd F.:
und keine politischen Herrenjahre wa- ebenso wie Kretschmann von „Mao zur Bildungspolitik in Deutschland –
ren, weil andere an den Schalthebeln Mitte“ (S. 67) gelangte – inzwischen in Eine Einführung
der Macht saßen. Und wie ist es eigent- der Mitte der Gesellschaft angekom- VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
lich bei Winfried Kretschmann um eben men sind. Die „Partei von Claudia Roth 2011 . 315 Seiten, 24,95 Euro.
diese Macht bestellt? Scheut er die hat etwas Kuscheliges bekommen“
Macht wie der Teufel das Weihwasser (S. 27). Weit entfernt von den erbitter- Bildungspolitik ist fraglos ein zentrales
oder – so die Vermutung des Autoren- ten Bataillen auf den Parteitagen der Politikfeld der Gegenwart. Spätestens
paares – offenbaren seine Äußerungen, 1980er Jahre haben die (allermeisten) „seit PISA“ ist Bildungspolitik in aller
dass er (noch) wenig von der Macht ver- Grünen die zum Teil unerträgliche Munde und die wissenschaftliche Bil-
steht? Bemüht man Max Weber oder Rechthaberei, das Sektierertum und die dungsforschung floriert. Dennoch ist
Hannah Arendt – eine von Kretschmann gelegentliche Spöttelei über das demo- das Feld bis dato in einschlägiger Lite-
hoch geschätzte Philosophin und Publi- kratische Procedere abgelegt. Gerade ratur eher in Teilaspekten behandelt
zistin – dann weiß man sehr wohl, wel- in der Schilderung politischer Konflikte worden. Daher ist das Erscheinen die-
che zentrale Stellung der Begriff der und parteiinterner Grabenkämpfe zeigt ses Studienbuches von Gerd Hepp, das
Macht in deren Gedankengebäude das Autorenpaar seine ironischen Qua- sich eine „systematische Einführung in
einnimmt. Gar so naiv kann auch Win- litäten. Sei es die Schilderung mannhaf- den hochkomplexen Gegenstandsbe-
fried Kretschmann nicht sein! Immerhin ter Kämpfe im Jahre 1983 in Konstanz reich der Bildungspolitik“ (S. 5) zum Ziel
hat er zwei Monate nach seinem Amts- gegen die „feministischen Wühlmäuse“ setzt, sehr zu begrüßen.
antritt das rustikale (Macht-)Instrument (S. 73) – wie sich die Antragsstellerin- Aus seiner Tätigkeit als Professor für Po-
der „Peitsche“ als Metapher entdeckt – nen selbst nannten – oder sei es die äu- litikwissenschaft und Politische Bildung
wahlweise als „Innovationspeitsche“ ßerst lebendige Beschreibung und an der Pädagogischen Hochschule
oder als „Investitionspeitsche“. Nach Kommentierung der mit „Talkesseltrei- Heidelberg heraus hat der Autor ein
100 Tagen im Amt wurde Kretschmann ben“ (S. 96f.) überschriebenen Ausein- Buch vorgelegt, das für eine breite Le-
angesichts seiner neuen Wortschöpfun- andersetzungen um das Großprojekt serschaft gewinnbringend ist: Einer-
gen in der Lokalpresse als „Sprachzent- Stuttgart 21. seits bietet es Politikwissenschaftlern
rum“ charakterisiert. Das in neue Worte Trotz aller unverhohlen gezeigten Sym- und Mitarbeitern im Bildungswesen
gekleidete Denken, dem im Südwesten pathie für Winfried Kretschmann wird jeglicher fachlichen Herkunft Einblick in
der Weg bereitet werden soll, ist jedoch am Ende des Buches konstatiert, dass die Welt des Bildungswesens, anderer-
bei näherer Betrachtung so neu nicht. der jedem Anfang innewohnende Zau- seits Pädagogen eine umfassende Dar-
Kretschmann weiß sehr wohl, dass er ber – so die recht poetische Anleihe bei stellung der politischen und strukturel-
Politik mit dem bürgerlichen Wählern Hermann Hesse – früher oder später len Hintergründe ihres Arbeitsfeldes.
machen muss, nicht gegen sie. verfliegen wird. Wenn man ferner in Be- Ganz im Sinne eines Lehr- und Studien-
Etwas dürftig sind die Stellen, an denen tracht zieht, dass sich von sechs Wahl- buches erfordert es vom Leser kein fun-
mit Gründen für die politische „Zeiten- berechtigten nur ein einziger für die diertes Vorwissen; sowohl der Bil-
wende“ (S. 151) aufgewartet wird. Die Partei von Kretschmann entschieden dungsbegriff als auch Elemente des
Interpretation des Wahlerfolgs ist unter hat, wird der politische „Praxistest“ zei- Politischen werden im Buch selbst er-
Wahl- und Parteienforschern umstrit- gen, ob die vor der Wahl angekündigte läutert. Durch Darlegung aktueller Ent-
ten: Sind die oberschwäbischen Grü- „Zeitenwende“ durchsetzbar und mehr- wicklungen konzeptueller, finanzieller
nen „Fleisch vom Fleische der CDU“ heitsfähig ist. Die in dem Buch skizzier- und rechtlicher Art sowie Diskussion
(Hans-Georg Wehling)? War Kretsch- ten Themenbereiche bzw. Politikfelder, neuer internationaler Vorgaben wie
mann – selbst im oberschwäbischen Mi- die einem aufgeklärten zivilen Mitein- dem Europäischen Qualifikationsrah-
lieu – eine Alternative zur CDU und zu ander von Staat, Zivilgesellschaft und men enthält das Buch nicht nur für Stu-
dem von Stefan Mappus praktizierten Ökonomie (S. 110f.) zugeführt werden dienanfänger, sondern sicherlich für
unterschiedliche Lesergruppen interes- genen Kapitel vorgestellt, als auch in internationalen Verflechtungen – be-
sante Informationen. unterschiedlichen Kontexten eingebun- leuchtet wird. Eva-Maria Schauenberg
Hepp schlägt auf gut 300 Seiten einen den. Den Schluss des Buches bildet die
großen inhaltlichen Bogen. Einleitend Einordnung der deutschen Bildungspo-
setzt er sich mit dem sich wandelnden litik in die beständig an Bedeutung ge-
Verständnis von Bildung auseinander, winnenden und oft wenig wahrgenom- Eine neue Zeitschrift für die Politische
das insbesondere in der jüngsten Dis- menen internationalen Strukturen. Bildung
kussion nach PISA oftmals auf reine Ver- OECD und EU sind hier zu nennende
wertungsorientierung reduziert wird. Es Akteure, die mit unterschiedlichen Mit- Journal für Politische Bildung
folgt eine Skizze der verschiedenen Ele- teln einen gravierenden Einfluss auf das Hrsg. vom Bundesausschuss Politische Bildung
mente des Bildungswesens und die Auf- Bildungswesen nehmen und insbeson- und Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.;
gabenbeschreibung der Bildungspoli- dere die Bundesländer in ihrer Kulturho- 1 . Jahrgang 2011, Heft 1 (vier Hefte jährlich;
tik. „Demnach hat die Bildungspolitik heit stark einschränken. Durchgehend Einzelpreis im Abonnement 14.00 Euro).
(…) vor allem die Gewährleistung zu stehen im Fokus des Buches Schul- und
erbringen, dass das Bildungssystem Hochschulpolitik, frühkindliche sowie Eine neue Zeitschrift für die Politische
drei sich ergänzende Funktionen erfül- berufliche Bildung werden jedoch im- Bildung ist geboren – vielmehr ist sie
len kann.“ Diese sind Integration, Quali- mer wieder mit in die Darstellung einbe- durch die Zusammenlegung von „kursiv.
fikation und Allokation und zielen auf zogen. Journal für politische Bildung“ und „Pra-
kulturelle, ökonomische und soziale Zie- Ein systematisches Durcharbeiten des xis Politische Bildung“ entstanden. Der
le (S. 28). In der Erörterung des staatli- Buches ist nicht zwingend vorgesehen, Entstehung entsprechend sind Bern-
chen Ordnungsrahmens werden Ten- was sich in teilweise starker Redundanz hard Debus, Lothar Harles und Wolf-
denzen zu Deregulierung und Ökono- zeigt. So werden insbesondere die Gre- gang Beer die Herausgeber. Die Redak-
misierung deutlich. Die Auswirkungen mien der Kooperation zwischen Bund tion wird von vier ausgewiesenen Re-
demographischer Entwicklungen auf und Ländern an verschiedenen Stellen präsentanten der politischen Bildung
das Bildungswesen werden ebenso be- behandelt. Hier wären vermehrt interne verantwortet, mit Johannes Schillo als
trachtet wie Entwicklung und Struktur Verweise wünschenswert, da stets un- Leiter. Heft 1 nennt sich plakativ „Zu-
der Finanzierung, die sowohl internatio- terschiedliche Aspekte im Vordergrund kunftsfähigkeit und Zivilgesellschaft“;
nal als auch zwischen den Bundeslän- der Darstellung stehen. In diesem Zu- die anderen Hefte für 2011 sind in Pla-
dern vergleichend eingeordnet wird. sammenhang fällt auch das Fehlen ei- nung oder bereits erschienen. Heft 4
Detailliert werden die Vielzahl von nes Abkürzungsverzeichnisses auf, das beschäftigt sich mit dem Thema „Politi-
staatlichen und nichtstaatlichen Inter- aufgrund der Vielfalt an (im Texte je- sche Partizipation“.
essen artikulierenden, beratenden und weils einmalig eingeführten) Fachkür- Den Kern von Heft 1 bilden vier Schwer-
entscheidenden Akteuren und ihren Po- zeln wünschenswert gewesen wäre. punkte und eine Abteilung „QuerDen-
sitionen sowie Einflussmöglichkeiten Nachdem der Bereich der Bildungspoli- ken“. Im ersten Schwerpunkt setzt sich
vorgestellt. Den größten Umfang neh- tik stark im Fluss ist, überrascht es nicht, Herfried Münkler mit dem Konzept „Zi-
men im Buch die Darlegung von Ent- dass die Entwicklung über manche Dar- vilgesellschaft“ auseinander. Dabei
wicklungen im Zusammenspiel von Bund stellung im Buch bereits hinwegge- geht er sowohl bejahend als auch kri-
und Ländern sowie diverser Länderspe- gangen ist. Insbesondere die jüngsten tisch mit dem Konzept um. Zivilgesell-
zifika ein. Durch Verfassungsreformen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen schaft hat Konjunktur, weil politisches
von 1969 und 2006 sind die Zuständig- bestätigen jedoch Thesen, die Hepp Engagement von vielen als ineffektiv
keiten für verschiedene Bereiche des formuliert: So beschreibt er sowohl ei- angesehen wird. Aktionen gegen Stutt-
Bildungswesens zwischen Bund und nen Trend zur Vergabe des Kultusminis- gart 21 etwa oder für Atomausstieg bie-
Ländern immer wieder neu verteilt wor- teriums an den kleinen Koalitionspart- ten mehr an persönlicher Identifi kation
den. Hepp schildert hier neben den ner (was eine Abkehr von traditioneller als eine als entfremdet wahrgenomme-
rechtlichen Fakten auch Beweggründe Gegenüberstellung von CDU- und SPD- ne Politik. Die Attraktivität dieser Akti-
und mit den Reformen verbundene Vor- Kultusministern bedeutet und damit ein- vitäten liegt nach Münkler darin, dass
und Nachteile für Akteure unterschiedli- hergehend einem Abbau ideologiege- zivilgesellschaftliches Engagement so-
cher Ebenen. Insbesondere die Schul- prägter, traditioneller Frontstellungen), wohl dem Markt als auch der Politik ent-
und Hochschulpolitik auf Länderebene als auch die Abkehr der CDU von ihrer zogen ist. Damit ist der Weg frei für eine
wird detailliert und im bundesweiten alten Position der Erhaltung der Haupt- weit reichende und unspezifische Mo-
Vergleich in ihrer Entwicklung vorge- schule um jeden Preis. Mit der Sekun- ralisierung sozialer Problem lagen und
stellt. Derzeit zeigt sich im Bereich der darschule und der faktischen Fünfglied- eine damit verbundene Emotionalisie-
Schulstrukturen „eine wachsende Zer- rigkeit hat Nordrhein-Westfalen auch rung dieser Strategien. Münkler ver-
splitterung und Unübersichtlichkeit, ab- einen weiteren Beitrag zur erwähnten weist aber auch darauf, dass langfristi-
lesbar schon an der inflationären Zu- Unübersichtlichkeit und Namensvielfalt ge Beschäftigung in solchen (Politik-)
nahme der Namensbezeichnungen“ im Schulwesen geleistet. Gleichwohl Feldern dazu führen kann, dass selbige
(S. 224). Gleichzeitig prognostiziert macht dies auch deutlich, dass das um- doch auch kommerzialisiert werden
Hepp jedoch eine Abnahme der Schär- fangreich eingearbeitete Datenmateri- können und u. U. zu „Jobs“ führen. Durch
fe im Streit um die optimale Struktur al einer regelmäßigen Aktualisierung die Hintertür kommen mithin wieder In-
(S. 226). Im Bereich der Hochschulen bedarf. teressen ins Spiel. Münkler kritisiert die-
gibt es weniger parteipolitische Grä- Insgesamt ist das Buch als Gewinn zu sen überbordenden Moralismus, der
ben, hier stehen daher Fragen der Ver- betrachten, da in ihm sowohl historisch wieder in Zweckrationalität einmünden
teilung, Finanzierung und Organisati- einordnend als auch aktuell aufklärend kann. Ich denke, dass diese Kritik ver-
onsform im Zentrum der Betrachtungen. die Bildungspolitik auf allen politischen früht ist. Eine Zivilgesellschaft lebt von
Zentrale Gremien der Bund-Länder-Ko- Ebenen – vom einzelnen Bundesland immer neuen Schüben von Kreativität;
operation werden sowohl in einem ei- über die Bundespolitik, bis zur EU und dazu gehört auch „wissens gesell schaft-
liche“ Kompetenz in ganz breiter Varia- Vernichtungskrieg ortung prägnant erörtert. Das dritte
tion. Insofern überschneidet sich zivil- Kapitel (S. 29–48) zitiert grundlegende
gesellschaftliche Aktivität mit dem Kon- Wigbert Benz: Dokumente (Aktennotizen, Protokolle,
zept „cultural industries“, das von Münk- Der Hungerplan im „Unternehmen Richtlinien), in denen das Zusammen-
ler nicht erwähnt wird. Die anderen Barbarossa“ 1941 wirken der ideologischen Vorgaben mit
Autoren antworten indirekt auf Münk- Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2011. den kriegswirtschaftlichen Nützlich-
lers Vorschlag. Münkler selbst ist kei- 84 Seiten, 16,00 Euro. keitserwägungen anhand konkreter
neswegs affirmativ; und die anderen Texte aus dem Jahr 1941 aufgezeigt
Beiträge sind explizit in guter deutscher „Armut, Hunger und Genügsamkeit er- wird. Die Lektüre der amtlichen Papiere
Tradition kritisch. So fokussiert Klaus- trägt der russische Mensch schon seit offenbart die planvollen Überlegungen
Peter Hufer auf die Zusammenarbeit von Jahrhunderten. Sein Magen ist dehn- der nationalsozialistischen Vernich-
politischer Erwachsenenbildung und bar, daher kein falsches Mitleid.“ Dieser tungspolitik und hebt das perfide Kalkül
Protestbewegungen: Neues Öffentlich- an Menschenverachtung nicht zu über- des „Hungerplans“ hervor. Im vierten
keitsbewusstsein und Rückgriff auf die bietende Satz von Staatssekretär Her- Kapitel (S. 49–62) beschreibt Benz die
„70er Jahre“ sind dabei die Stichworte. bert Backe, Leiter der Geschäftsgruppe entscheidenden Akteure. Göring billig-
Er schließt sich Oskar Negt und dessen Ernährung in Görings Vierjahresplan, te den „Hungerplan“ persönlich und
Forderung an, dass politische Bildung enthüllt das rassenideologische Leitbild wurde dafür u. a. im Nürnberger Pro-
„die Herstellung von Weltzusammen- der nationalsozialistischen Kriegfüh- zess verurteilt. Des Weiteren wird die
hängen und von Urteilskraft“ ermögli- rung, das in Verbindung mit kriegswirt- Haltung Hitlers, Rosenberg und Himm-
chen soll. Wolfgang Beer fordert im schaftlichem Kalkül die treibende Kraft lers – auf einer verlässlichen Quellenla-
dritten Schwerpunkt schließlich eine des Vernichtungskrieges gegen Russ- ge fußend und den aktuellen sowie in-
umfassende Einbeziehung neuer Tech- land war. Die Idee des Hungerplans ist ternationalen Forschungsstand beach-
nologien in die Konzepte der politi- im Rassenwahn der Nationalsozialisten tend – dargestellt. Im abschließenden
schen Bildung. Wenn man gesehen hat, angelegt: „Minderwertige Völker“ wur- Kapitel (S. 63–76) gibt Wigbert Benz
welche Auswirkungen die „Facebook“- den mit „unnützen Essern“ gleichge- eine Übersicht über die Auswirkungen
Bewegung in den arabischen Ländern setzt, deren Hungertod billigend in des Hungerplans: Geschildert werden
vor kurzem zeitigte, wird man dem un- Kauf genommen und akribisch geplant die Hungersnöte in russischen Groß-
bedingt zustimmen können. Ziel soll es wurde. Der deutsche Überfall auf die städten – so in Leningrad, das 900 Tage
sein, so Beer, „sich an der technologie- UdSSR, das „Unternehmen Barbaros- (Herbst 1941 bis Anfang 1944) belagert
politischen Debatte inhaltlich zu beteili- sa“, wurde im Kern als Vernichtungs- wurde – sowie das massenhafte Ver-
gen“. Das ist hoch gegriffen, aber der und Ernährungskrieg geplant. Millionen hungern von sowjetischen Kriegsgefan-
Bedeutung der Dimension durchaus ad- Menschen sollten in den besetzten Ge- genen. Das Buch bietet einen fundierten
äquat. Christoph Bals und Stefan Ros- bieten der Sowjetunion verhungern, um Überblick, baut auf dem aktuellen For-
tock von „Germanwatch“ fordern im Nahrungsmittel für die Wehrmacht und schungsstand auf und eignet sich – nicht
letzten Schwerpunkt ein dezidiertes En- die deutsche Bevölkerung zu gewinnen. zuletzt auch aufgrund seines Umfangs
gagement der Zivilgesellschaft bezüg- Rund vier bis sieben Millionen der ins- – für ein breites, historisch interessiertes
lich der „klimapolitischen Herausforde- gesamt 27 Millionen im „Unternehmen Lesepublikum. Siegfried Frech
rungen“. Dem kann nur zugestimmt wer- Barbarossa“ getöteten Sowjetbürger
den: alles in allem vier überzeugende und -bürgerinnen sind an geplanter Un-
Schwerpunkte. ternährung gestorben. Ein Tatbestand,
In der Abteilung „QuerDenken“ domi- der in der Gedenkkultur der Bundesre- Briefe an den Bundespräsidenten
niert diesmal Pro und Contra „im Kampf publik Deutschland allenfalls eine mar-
gegen den Linksextremismus“, der von ginale Rolle spielt. Hrsg. und bearbeitet von Wolfram
der Bundesregierung anscheinend als Der Karlsruher Historiker und Lehrer Werner:
sehr wichtig perzipiert wird. Die hier Wigbert Benz hat – pünktlich zum Theodor Heuss. Hochverehrter Herr
vertretenen Standpunkte sind durch- 70. Jahrestag des deutschen Überfalls Bundespräsident!
weg distanziert, mit unterschiedlichen auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 – Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949–
Haltungen für die Praxis. Uwe Ross- den sogenannten „Hungerplan“ be- 1959.
bach, Geschäftsführer von Arbeit und schrieben. Wigbert Benz publizierte (Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. Briefe,
Leben Thüringen, gelingt dabei eine li- zur Thematik des deutsch-sowjetischen hrsg. von der Stiftung Bundespräsident-Theo-
dor-Heuss-Haus)
terarisch subtile Argumentation, die jen- Krieges (1941–1945) bereits verschiede- De Gruyter Verlag, Berlin/New York 2010.
seits ihres Inhalts schon Vergnügen be- ne Aufsätze, Schulbuchanalysen sowie 588 Seiten, 39,80 Euro.
reitet. Klaus Ahlheim kritisiert in dieser Unterrichtsvorschläge. In der nunmehr
Abteilung die biologistischen „Ideen“ vorliegenden Monographie analysiert Der Briefwechsel des Bundespräsiden-
Thilo Sarrazins. In der Abteilung „Lese- Benz die dem verbrecherischen Plan zu- ten Theodor Heuss mit der Bevölkerung
zeichen“ setzt sich Johannes Schillo grundeliegenden Dokumente, benennt nimmt in der „Stuttgarter Ausgabe“ der
u. a. mit einem Buch Ahlheims zur „Aktu- die verantwortlichen Akteure, beleuch- Reihe der Briefe von Theodor Heuss ei-
alität Adornos“ auseinander. Keiner der tet die Zustimmung Hitlers, Görings, Ro- ne besondere Stellung ein, wie die Her-
hier erwähnten oder auch nicht er- senbergs und Himmlers und stellt ab- ausgeber betonen. Es ist der erste Band
wähnten Beiträge ist langweilig oder schließend die Auswirkungen des „Hun- mit Briefen aus seiner Amtszeit 1949 bis
uninformativ. Insofern kann man der gerplans“ dar. 1959. Und im Unterschied zu den bis-
neuen Zeitschrift zur politischen Er- Im Anschluss an die Vorbemerkungen lang erschienenen vier Bänden aus den
wachsenenbildung nur alles Gute auf werden im zweiten Kapitel (S. 11–28) Jahren 1892 bis 1949 enthält dieser
ihrem neuen Weg wünschen. der Forschungsstand, die nationalsozi- Band nicht nur die Antworten des Bun-
Jakob Schissler alistische Kriegführung und Besat- despräsidenten, sondern auch die je-
zungspraxis sowie die historische Ver- weiligen Zuschriften aus der Bevölke-
rung. Diese formulierten ihre ganz per- steller griffen zur Feder. Es finden sich such in Stuttgart 1949 auf Befehl des
sönlichen Anliegen, nahmen Stellung Vorschläge für seine Kleidung, Tipps für Kultministeriums und Oberbürgermeis-
zur allgemeinen Politik und lobten oder seine Ansprachen, Anregungen für sei- ters „Spalier bilden“ zu müssen. Heuss
kritisierten seine Amtsführung. nen Speisezettel. Themen der deut- konnte dies verhindern, es sollte bei jun-
In seiner Einführung kommentiert der schen Geschichte, der Landes-, Bundes- gen Menschen nicht der Eindruck er-
Herausgeber dieses Bandes, Wolfram und Weltpolitik bewegten die Brief- weckt werden, „so war es unter Hitler
Werner, die weit gefächerten Themen schreiber: das Ende des Zweiten Welt- auch“. Bei der Bundesfeier der Deut-
der Briefe, die den Bundespräsidenten krieges, die Millionen von Flüchtlingen schen Jugend und des Deutschen Sports
täglich erreichten. Seine gesamte Brief- und Vertriebenen, das Verhältnis der in Bonn 1949 verlor eine Sparkassenan-
produktion während der Amtszeit 1949 Bundesrepublik zur DDR, die politischen gestellte ein mühsam finanziertes und
bis 1959 wird auf 50.000 geschätzt. und wirtschaftlichen Weichenstellun- vom Vater gebautes Boot; Heuss sorgte
Wenn er nicht auf Reisen war, beant- gen wie Westintegration, Wiederbe- dafür, dass ihr der Betrag von 50 DM
wortete er durchschnittlich circa acht waffnung, Wiederaufrüstung und die angewiesen wurde. Der Abt einer
bis 14 Schreiben pro Tag. Da war es ei- Auseinandersetzung um den EVG-Ver- kriegsgeschädigten Abtei ließ dem Bun-
ne anspruchsvolle Aufgabe, die Brief- trag, die mögliche Wiedervereinigung, despräsidenten eine Flasche des in der
auswahl so zu gewichten, dass mög- die Kampagne „Kampf gegen den Abtei produzierten Kräuterlikörs zusen-
lichst viele und unterschiedliche Anlie- Atomtod“, der Aufstand vom 17. Juni den und hoffte dadurch auf „Einführung
gen der Bevölkerung wie auch Heuss’ 1953, Spruchkammerverfahren und Ent- unseres Likörs in die höheren und höchs-
jeweilige Reaktion sich im Band wider- nazifizierung, das Schicksal der Kriegs- ten Kreise“; Heuss ließ humorvoll ant-
spiegeln. Für die vorliegende Edition gefangenen in der Sowjetunion, der worten, er persönlich ziehe schärfere
wurden 204 Zuschriften und die Ant- Umgang mit Kriegsverbrechern, Heuss’ Genüsse vor, der „Likörkonsum im Präsi-
worten des Bundespräsidenten ausge- Staatsbesuche im Ausland, die Fußball- dialhaushalt“ sei gering. Freundlich re-
wählt, die er fast alle persönlich diktier- weltmeisterschaft 1954, die Wahlen agierte Heuss auf eine Sendung der
te. und Wahlkämpfe von 1953 und 1957, 1953 auf den Markt gebrachten Marke
Viele Briefschreiber reagierten auf den der Heusssche Vorschlag einer neuen Hengstenberg Mildessa (mildes Wein-
Inhalt seiner Reden und Ansprachen bei Nationalhymne – um nur einige der Sauerkraut) und merkte an, dass sich
offiziellen Anlässen, auf seine Vorträge, Themen zu nennen. Die Zuschriften sind seine Schwägerin, die seinen Haushalt
die auch in den Medien verbreitet wur- eine wahre Fundgrube und spiegeln die führe, darüber freuen werde. Ein „gebo-
den. Manche wandten sich mit ihren An- unterschiedlichsten Mentalitäten der renes Schwabenmädle“, das sich um
liegen an ihn, weil sie annahmen, er sei westdeutschen Bevölkerung wider. seine Ernährung und Gesundheit sorg-
dafür zuständig, könne sich dieser an- Einige Beispiele für persönliche Anlie- te, die Atempausen während seiner Re-
nehmen, könne sie gar entscheiden gen: Verständnisvoll antwortete Heuss den auf einen „bedrängten [...] Brust-
oder die Entscheidungsträger beein- einer jungen Schülerin aus Stuttgart, die korb“ und ein „über Gebühr belastetes
flussen. Ratsuchende, Ratgebende, Bitt- sich dagegen wandte, bei seinem Be- Herz“ zurückführte und ihm Arztbesu-
Baden-württembergische Erinnerungsorte
Zum 60. Jahrestag der Gründung Baden-Württembergs
che, eine Kur und für „zu Hause eine „Kollektivscham“ der Deutschen be- des Westens’ nennen lassen. Ich habe
richtige Diätköchin“ empfahl, erhielt ei- kannte, ebenso wie seine 1952 für die mich keinen Augenblick in meinem Le-
ne sehr persönliche, ausführliche Ant- Opfer des Konzentrationslagers Ber- ben als die Kreatur eines fremden Wil-
wort mit Hinweisen auf seine „zu gerin- gen-Belsen gehaltene Rede zur Einwei- lens gefühlt und teile Ihnen mit lands-
ge Bewegung“, seine „Kropfanlage [...] hung eines Mahnmals stießen auf ge- mannschaftlicher Offenheit mit, daß ich
in Kombination mit dem zu dicken teilte Aufnahme. Den Vorwurf, er habe diesen Teil Ihres Briefes für eine an-
Bauch“ und beruhigte sie, sein Herz sei die These von der Kollektivschuld unter- maßende Unverschämtheit halte.“ Und
in Ordnung. stützt, erklärte er für „abwegig“, den „zum Kotzen“ fand er „die gewerbstüch-
Zustimmung, aber auch Widerspruch Versuch, ihn zu „belehren, daß es eine tige Verkitschung einer Volkstragödie“
erntete Heuss für manche Äußerung, Kollektivscham nicht geben könne“, in deutschen Zeitschriften, die die nati-
auch für ganze Reden, so etwa, als er wies er zurück. Auch die Debatten um onalsozialistische Zeit in endlosen Fort-
1949 das Wiederaufleben alter studen- die Neutralisierung Deutschlands, um setzungsreihen verherrlichten und eine
tischer Korporationen kritisierte. Seine die Wiederbewaffnung der Bundesre- falsche Romantisierung betrieben“, was
Silvesteransprache 1950, in der Heuss publik, Wehrdienstverweigerung und „sehr wenig mit wissenschaftlicher Ak-
eine kritische Bemerkung über die Ein- Wehrpflicht – Heuss’ äußerte öfters, kuratesse“ zu tun habe.
stellung vieler Einheimischer zu den diese sei „historisch“ gesehen „das legi- Wir lernen in diesem Band den ersten
Flüchtlingen gemacht hatte, provozierte time Kind der Demokratie“ – finden im Bundespräsidenten kennen, wie er hel-
viele Schreiber zu Hinweisen auf die ei- Briefwechsel mit der Bevölkerung ihren fend, fürsorglich, aufmunternd, entge-
gene missliche Lage und den großen Widerhall. genkommend, humorvoll, aber auch
Einfluss des BHE, der politischen Orga- Bei diesen Themen konnte Heuss eben- ablehnend, unwillig, grob, gereizt, be-
nisation der Flüchtlinge. Eine in dersel- so wie bei Zuschriften, die den Natio- lehrend, polemisch, ironisch reagiert,
ben Ansprache von Heuss verlesene, nalsozialismus und den Umgang mit ihm immer stilistisch brillierend und den ein-
von dem Dichter R. A. Schröder verfass- nach 1945 betrafen, auch sehr ungehal- gegangenen Zuschriften angemessen.
te neue Nationalhymne stieß auf breite ten reagieren. So antwortet er z. B. am Wie bei den bisher erschienenen Bän-
Kritik, führte zu unfreundlichen Kom- Ende seiner zweiten Bonner Amtsperio- den auch, erleichtert ein detailliertes
mentaren („wird Ihre Person der Lächer- de, 1959, einem Pfarrer aus Tübingen, Verzeichnis der Briefe sowie ein aus-
lichkeit preisgeben“), jedoch auch zu der in seinem Schreiben an den Bundes- führliches Personen- und Sachregister
einer Fülle von Gegenvorschlägen, die präsidenten sich für ein „wiederverei- die Lektüre. Die große Zeitspanne, wel-
Heuss je nach Inhalt und Ton der Zu- nigtes Deutschland mit dem Status einer che die Briefe umfassen, die vielfältigen
schriften mal knapp und scharf zurück- garantierten Neutralität“ ausgespro- Themen, die differenzierten, auf Anlie-
weisen ließ, mal betont sachlich und chen und den westdeutschen Politikern gen und Ton der Zuschriften abge-
ausführlich selbst beantwortete. Seine vorgeworfen hatte, sie seien „Kreaturen stimmten Antworten des Bundespräsi-
vielzitierte Rede „Mut zur Liebe“ bei ei- des Westens“: „daß wir, die wir uns Tag denten machen den Reiz und Wert des
ner Feierstunde der Gesellschaft für und Nacht bemüht haben, dem deut- Briefwechsels aus.
christlich-jüdische Zusammenarbeit in schen Volk aus seiner Zerschlagenheit Walter-Siegfried Kircher
Wiesbaden 1949, bei der er sich zur herauszuhelfen, uns [...] nicht ‚Kreaturen
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