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Vor zwei Jahren erschien eine ZEIT-Titelgeschichte (Nummer 05/2013) namens "Ich Arbeiterkind".
Der Text erzählte von einem Schulsystem, in dem die Chancen ungerecht verteilt sind. Er zitierte
Studien, die belegen, dass Kinder von Nichtakademikern viel seltener eine Universität besuchen als
Kinder von Akademikern. Und er handelte auch von mir und meinen Erfahrungen als
"Arbeiterkind", als Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers.
Über 400 Leser haben mir aufgrund des Artikels Briefe geschrieben. Der Tenor der meisten lautete:
"Mir ging es damals genauso", oder: "Mir geht es derzeit genauso." Diese Briefe waren der Grund,
wieso ich mich entschloss, der Frage nachzugehen, ob wir in einem ungerechten Land leben. Aus
der Suche nach der Antwort ist ein Buch entstanden: Du bleibst, was du bist – Warum bei uns immer
noch die soziale Herkunft entscheidet.
Im Zuge meiner Recherchen habe ich mich mit den Leserbriefschreibern und Experten, mit
Schülern und Lehrern getroffen. Aber ich habe auch mit prominenten Bildungsaufsteigern wie
Rüdiger Grube und Cem Özdemir geredet. Sie machen eines klar: Wer glaubt, dass die Biografien
dieser Prominenten bedeuten, dass ein sozialer Aufstieg durch Bildung jederzeit machbar ist, erliegt
einem Trugschluss. Denn wenn es eine Aussage gibt, die alle Protokolle vereint, lautet sie: "Mein
Aufstieg war möglich, aber er war zu schwer."
Mit Blick auf aktuelle Studienergebnisse lässt sich festhalten: Das ist auch heute noch so. Schuld
sind nicht nur schulische, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Beides ließe sich ändern –
auch darüber sprechen diese Menschen.
Leute, die sich zu einer höheren Schulbildung durchkämpfen mussten, haben oftmals auch sonst
gelernt, zu kämpfen und bestimmte Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Man fällt nicht
gleich beim ersten Windstoß um. Allerdings haben sie möglicherweise ein größeres Bedürfnis nach
Sicherheit. Ich habe Jura studiert, ein "Brot-und-Butter-Studium", eigentlich waren meine
Neigungen zur "Juristerei" damals nur wenig ausgeprägt.
Wenn drei von vier Kindern den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht übertreffen, dann ist klar, dass
hier irgendetwas schief läuft. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Frank-Walter Steinmeier
Die SPD war in den sechziger und siebziger Jahren maßgeblich daran beteiligt, dass Arbeiterkinder
wie ich an die Uni gelangten. Deswegen glaube ich, dass es Willy Brandt genauso wie mich
schmerzen würde, dass in Deutschland auch heute noch die soziale Herkunft über den Bildungsweg
entscheidet. Wenn drei von vier Kindern den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht übertreffen, dann
ist klar, dass hier irgendetwas schief läuft. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Bildungsgerechtigkeit ist und bleibt eines der bedeutendsten Themen der Sozialdemokratie,
unabhängig davon, ob wir damit Wahlen gewinnen oder nicht. Bei der vergangenen
Bundestagswahl stand Bildung ganz oben auf unserer Agenda. Es ist kaum ein Tag vergangen, an
dem wir nicht über Bildung gesprochen und unsere Politik dazu vorgestellt haben. Aber über solche
Themen werden offensichtlich keine Wahlen entschieden. Unsere Vorschläge sind knallhart
abgewählt worden.
Wir müssen also jenseits von Parteienpolitik – die einen sind für Steuersenkungen, die anderen für
Steuererhöhungen – in einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess kommen, in dem wir
uns darauf einigen, dass die Bereitschaft, Opfer zu bringen, wachsen muss, damit wir eine noch
bessere Bildung für alle haben. Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie bereit ist, mehr Geld
in Bildung zu investieren. Ich glaube, dass das notwendig ist.
Der Museumsleiter Martin Roth 2014 in Berlin © Christian Marquardt/ Getty Images
Ich wurde in der Nähe von Stuttgart geboren. Mein Vater stammte aus Niederbayern und war
gelernter Elektriker. Meine Mutter war Schneidermeisterin und saß jeden Tag von halb sechs Uhr
bis spät in der Nacht an der Nähmaschine. Manchmal höre ich noch heute das Rattern der
Nähmaschine. Der Ort in dem ich aufwuchs ist nicht dafür gemacht, Träume zu verwirklichen,
obwohl er äußerst idyllisch ist. Er ist eher als Stammsitz der Firma Bosch bekannt. Damals wusste
ich das noch nicht, aber ich habe mittlerweile erkannt, dass es Strukturen in der Gesellschaft gibt,
die sind, wie sie sind. Auch bei mir waren alle Weichen darauf gestellt, dass ich einmal gleichsam
bei Bosch am Band arbeite – wenn es meine Eltern nicht gegeben hätte.
Wenn du da raus willst, musst du entweder wahnsinnig stark sein oder jemanden haben, der dir
hilft. Bei mir waren die Helfer zuallererst meine Eltern. "Du sollst es mal besser haben als wir", war
ihr Dauer-Credo. Deswegen schickten sie mich aufs Gymnasium, "eine Schule der guten
Gesellschaft". Dorthin gingen vor allem Kinder, deren Väter bei Daimler-Benz, Bosch oder IBM
tätig waren. Und ein, zwei Kinder, die aus dem Raster fielen – Kinder wie ich. Manchmal frage ich
mich sogar, ob ich hierhergehörte. Ich spreche noch immer mit erkennbar schwäbischem Akzent
und habe nie wirklich versucht, diesen zu verbessern. Obwohl ich weiß, dass Sprache einen sehr
reduzieren kann. Mit viel harter Arbeit habe ich irgendwann dann zwar festgestellt, dass ich
durchaus erfolgreich bin, in dem was ich tue. Aber die Ängste zu versagen, blieben trotzdem immer
extrem groß. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass ich es nicht wirklich verdient habe.
Der Kulturwissenschaftler Martin Roth leitet das Victoria and Albert Museum in London.
Bereits in der ersten Klasse sagte meine damalige Grundschullehrerin auf einem Elternabend zu
meiner Mutter: "Beim Cem ist es doch egal, ob der sitzen bleibt oder nicht. Den schicken sie
sowieso zurück in die Türkei." Meine Mutter war völlig hilflos in dieser Situation. Aber sie hatte
das Glück, einen überzeugten Sozialdemokraten zum Nachbarn zu haben. Der war empört über den
Vorfall, sprach mit meiner Lehrerin und überzeugte sie davon, mich doch in die zweite Klasse zu
versetzen. Als ich später in der vierten Klasse meinen Wunsch äußerte aufs Gymnasium zu gehen,
lachte mich mein Lehrer vor versammelter Klasse aus.
Im Gegensatz zu vielen meiner Mitschüler musste ich nach der Grundschulzeit auf die Hauptschule.
Ich war von meinen Freunden getrennt und habe mich anfänglich dafür geschämt. Doch dann traf
ich erneut auf engagierte Menschen, die mich unterstützten. Ohne die hätte ich meinen Weg so nicht
gehen können – solche Menschen sind nötig für einen sozialen Aufstieg. Diese Lehrer, Nachhilfen
und Nachbarn haben mich früh in meinem politischen Interesse unterstützt und mir food for
thought, Gedankenfutter, geliefert.
Ich habe aufgrund meines Lebenswegs ein anderes Umfeld als viele meiner Politikerkollegen.
Deren Eltern sind oftmals Juristen, Professoren oder Architekten. Die Selbstverständlichkeit, mit
der sie sagen "Mein Vater ist Chefarzt an einem Krankenhaus oder Jurist in einer Kanzlei und ich
frage ihn mal um Rat", die hat mich manchmal schon beeindruckt. So etwas konnte ich aufgrund
meiner Biografie nicht aufbieten. Umso mehr weiß ich zu schätzen, was meine Eltern unter
schwierigen Umständen in ihrem Leben geleistet haben.
Ich kann gut verstehen, dass sich Leute, die aus einem ganz bestimmten Milieu kommen und sich
mithilfe von Bildung in ein anderes Milieu hochgearbeitet haben, schwer tun. Daran kann man auch
scheitern, weil es schwierig sein kann, die verschiedenen Lebenswelten zusammenzubringen. Das
fängt schon damit an, wenn man seiner Mutter erklären möchte, was man macht und es der eigenen
Mutter schwer zu erklären ist, worin der Broterwerb besteht. So etwas kann Spuren hinterlassen.
Auch ich hatte diesen Übergang zwischen meinem früheren und meinem heutigen Leben. Das war
ein harter Bruch.
Trotz dieser Erfahrung hat mich das Label Gastarbeitersohn immer begleitet und wird mich immer
begleiten. Aus meinen eigenen Erfahrungen weiß ich deswegen, wir brauchen eine chancengerechte
Schule. Die theoretische Erkenntnis, dass unser Bildungssystem zu viele Verlierer produziert, hat
sich zwar parteiübergreifend durchgesetzt. Doch bei der praktischen Umsetzung sind wir erst
mittendrin. Grundsätzliche Reformen, wie die ganzheitliche Abschaffung des Kooperationsverbots,
dürfen nicht mit 51 gegen 49 Prozent durchgesetzt werden, sondern müssen möglichst breite
Mehrheiten bekommen. Es geht da schließlich hauptsächlich um den Bildungsbereich und damit um
die Zukunft von Menschen und unseres Landes.
Letztlich war es meine Tante, die meine Eltern überzeugte, dass es sich lohnen könnte, die Tochter
auf das Gymnasium zu schicken.
Elsbeth Stern als Kind beim Spielen © Privat
Anfangs war ich eine eher mittelmäßige Schülerin, später waren meine Noten ziemlich gut. Ich fing
während dieser Zeit an viel zu lesen. Schon als Teenager wollte ich wissen, ob man wissenschaftlich
herausfinden kann, wie Menschen denken und lernen. Warum es bei manchen schneller geht als bei
anderen. Als ich mitkriegte, dass so etwas in der Psychologie erforscht wird, habe ich mich dazu
entschieden, dieses Fach zu studieren – obwohl ich nie zuvor einen Psychologen kennen gelernt
hatte.
Intelligenz und ihre Messung hat mich schon zu Beginn meines Studiums interessiert. In meiner
Forschung habe ich mich dann auf die Beziehung von Intelligenz und Lernen konzentriert: Wer
nutzt welche Bildungschancen? Da lässt sich ein Bezug zu meiner Lebensgeschichte herstellen: In
meiner Generation gab es trotz einiger Widrigkeiten die Möglichkeit, als Bauernkind aus
Nordhessen Professorin an der ETH Zürich zu werden. Ob das heute noch möglich wäre?
Aus einer größeren Studie wissen wir, dass Kinder aus der oberen sozialen Schicht mit einem
Intelligenzquotienten von unter 100 Punkten mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent eine
Empfehlung für ein Gymnasium erhalten. Dagegen wird ein Kind aus der unteren sozialen Schicht
mit der gleichen 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit erst mit einem IQ von über 115 Punkten aufs
Gymnasium empfohlen. Ist das nicht ein Skandal?
Wenn bei zehnjährigen Kindern über deren weitere Bildungskarriere entschieden wird, ist das ein
massiver Eingriff.
Elsbeth Stern
Wenn Intelligenz sich nicht durchsetzt, kriegen wir Probleme. Bei mancher Hausarbeit frage ich
mich schon, wie die Leute an die Uni kommen konnten. Da werden Menschen durch die Schule und
an die Universität geschleust, die vielleicht einen Abschluss hinkriegen, aber trotzdem nicht
kompetent sind. Gleichzeitig haben andere das Potenzial für ein Studium, bekommen aber keine
Möglichkeit. So wird in Gymnasien und Universitäten der Grundstein dafür gelegt, dass in
gesellschaftlichen Entscheidungspositionen nicht die Intelligentesten und Kompetentesten sitzen.
Heute lebe ich in Zürich. Die Eltern, die hier todunglücklich sind, wenn ihre Kinder keine
Gymnasialempfehlung bekommen, sind selten Schweizer, aber häufig Deutsche. Ich habe
Schweizer Professorenkollegen, deren Kinder nicht aufs Gymnasium gehen, sondern eine Lehre
beginnen. Das ist völlig in Ordnung für sie – hier herrscht eine andere Tradition.
Wenn wie in Deutschland bei zehnjährigen Kindern über deren weitere Bildungskarriere
entschieden wird, ist das ein massiver Eingriff. Natürlich nicht ganz so schlimm, wie in anderen
Kulturen, wo manchmal Kinder dieses Alters zur Heirat gezwungen werden. Aber trotzdem: Die
Intelligenz eines zehn Jahre alten Kindes hat sich noch nicht ausreichend stabilisiert und in
Kompetenzen umgesetzt. Wollen wir da wirklich ein solches Urteil fällen?
Die Psychologin Elsbeth Stern ist Professorin für Lehr-Lern-Forschung an der ETH Zürich.
Weil die Berufsschule so erstickend langweilig war, bin ich oft mit dem Kopf auf dem Tisch
eingeschlafen. Und ich habe angefangen Rap-Texte zu schreiben. Zu den Freundinnen aus dem
Gymnasium riss der Kontakt aber nicht ab und ich stellte fest, dass ich mit den gleichen Ansprüchen
und Erwartungen groß geworden bin. Wir sind alle zusammen in München-Großhadern
aufgewachsen. Und wenn wir zusammen waren, dann war klar, dass wir lasen und über bestimmte
Themen sprachen, über die bei mir zu Hause nicht gesprochen wurden. Auf eine gewisse Art wollte
ich also mithalten mit meinen Freundinnen. Dazugehören. Das war mein erstes Glück. Mein zweites
Glück war, dass meine Eltern ein Grundvertrauen in mich gesetzt haben. Die haben mich machen
lassen. Außerdem habe ich einen unglaublichen Ehrgeiz.
Meine Musik soll dazu motivieren, sein eigenes Ding zu machen. So möchte ich sie verstanden
wissen. In meinem Song Papa&Mama besinge ich eine Art von Sozialneid. Wenn man nicht aus
einer akademischen Familie kommt, sieht man Kinder von wohlhabenden Eltern, die tolle
Auslandssemester machen. Zumeist haben ihre Eltern ähnliche Erfahrungen auf Lager, und
motivieren die Kinder zum Schritt ins Ausland. Man erfährt, dass die Sache mit dem Vitamin B kein
Märchen ist, sondern jeden Tag stattfindet. Dass andere schneller an Jobs kommen, weil Papa oder
Mama jemand kennt. Das war bei mir nie so. Und es hat mich manchmal an den Rande der
Verzweiflung getrieben. Viele Sachen habe ich gar nicht erst probiert, weil ich dachte, das führt bei
mir zu nichts. Ich bin zum Beispiel nie ins Ausland gegangen. Wenn jemand in meiner Familie
gewesen wäre, der gesagt hätte, "Nina, das solltest du aber unbedingt machen", das wäre sehr
hilfreich gewesen. Mir fehlten Menschen, die diese Erfahrungen gemacht hatten. Meine Eltern
hätten mir alles ermöglicht. Nur kannten sie auch viele Möglichkeiten nicht.
Heute bin ich Rapperin, Moderatorin und Label-Besitzerin. Aber es war ein anstrengender Weg. Ich
musste mit einem Rückstand loslaufen. Nach meinem Studium der Soziologie, ich war Anfang
dreißig, hatte ich erste Moderatoren-Jobs beim Bayerischen Rundfunk und fünf Jahre später dachte
ich schon mal: "Verdammt noch mal, Nina, wieso fühlst du dich jetzt eigentlich, als wärest du 50?"
Ich war wahnsinnig erschöpft und das gerade zu dem Zeitpunkt, an dem der Grundstein für eine
gute Karriere gelegt wird. Der Grund dafür war, dass es irrsinnig anstrengend ist, jede Erfahrung
selber machen zu müssen. Auf eine Art höhlt man sich aus. Das darf nicht sein! Deswegen ist es
wichtig für mich, dass wir es schaffen, dass junge Menschen aus jeder Bildungsschicht motiviert
werden ihre Fähigkeiten zu entdecken und sich ihrer Möglichkeiten bewusst werden. Wir brauchen
Zeit ihnen zuzuhören, sie zu ermutigen und sie an unseren gemachten Erfahrungen teilhaben zu
lassen. Und damit meine ich nicht nur staatliche Rahmenvorgaben. Sondern hoffe auch auf eine
durchlässigere Gesellschaft.
Ich bin in einem kleinen Ort groß geworden, in einer Siedlung, in der alle Schichten der
Gesellschaft lebten: Lehrer, Arbeitslose, Banker, Arbeiter. Alle Kinder des Dorfes gingen in dieselbe
Grundschule. So bin ich in keinem bestimmten Milieu groß geworden, sondern lernte
unterschiedliche Lebensmodelle kennen. Das würde ich mir auch für heutige Kinder wünschen.
Gerade in Großstädten, wo immer mehr Menschen aufgrund der steigenden Mieten an die
Stadtränder gedrängt werden.
Es war nicht meine bewusste Entscheidung, einen anderen Weg einschlagen zu wollen, als den
meiner Eltern. Meine Interessen lagen einfach woanders. Meine Eltern haben mich gefördert, an
mich geglaubt, das war immens wichtig. Der eigene Weg sollte nicht vorgezeichnet sein, es sollte
nicht überraschen, dass eine Journalistin aus einer Arbeiterfamilie kommt. Oder, dass ein Kind,
dessen Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, jetzt mit deutscher Sprache arbeitet. Warum
nicht?
Kürzlich traf ich auf einer Veranstaltung einige Hauptschülerinnen – mit und ohne ausländische
Wurzeln. Ein Mädchen erzählte mir, dass sie sich um ihre Geschwister kümmert, einkaufen geht
und für ihre Eltern Behördengänge erledigt. Besonders Letzteres musste auch ich häufig machen.
Dem Mädchen aber fehlt dadurch die Zeit zum Lesen und Lernen, deshalb ist sie auch in der Schule
nicht gut. "Mich fragt aber in der Schule keiner danach, warum das mit den Noten nicht so klappt",
sagte sie zu mir.
Solche Kinder müssen besser gefördert werden. Deutschland ist ein wohlhabendes Land, es geht
eher um die Verteilung der Gelder. Bildung selbst ist immer förderungswürdig, ein sehr wichtiger
Faktor für unser Land, in dem es noch mehr Chancengerechtigkeit geben kann. Es darf nicht zählen
wo ich herkomme, sondern was ich daraus machen kann.
Dieser Satz ist lange ein Ansporn für mich gewesen, eigentlich bis heute. Nach neun Jahren
Hauptschule wechselte ich auf die Realschule und machte dann eine Lehre zum
Metallflugzeugbauer beim Hamburger Flugzeugbau Blohm+Voss. Damals arbeiteten 60.000
Menschen für das Unternehmen. Während meiner Ausbildungszeit habe ich für die Betriebszeitung
einen Artikel über das Spenden von Organen geschrieben. Helen Blohm, die Frau des Inhabers, las
den Artikel und lud mich zu sich ins "feine Blankenese" ein. Die Blohms hatten ein behindertes
Kind und waren deswegen von meinem Artikel angetan. Helen Blohm fragte mich nach meinen
Zukunftsplänen. Ich antwortete, dass ich gerne Pilot werden wollte oder ein Flugzeugbaustudium
aufnehmen würde, mir aber das Geld dazu fehle. Wenige Tage später rief mich ihr Mann, mein
oberster Chef, an und fragte, ob ich mit 300 D-Mark jeden Monat auskommen würde für mein
Studium. Das war für mich der Start in eine neue Welt.
Dank meines Lebenswegs weiß ich, dass man jungen Menschen eine Chance geben muss,
unabhängig davon, wo sie herkommen. Ich bin selbst nach meinem Studium für kurze Zeit Lehrer
gewesen. Deswegen weiß ich, dass man unser Schulsystem viel besser gestalten könnte. Unsere
Schulen müssen ganzheitlicher qualifizieren. Da sind andere Länder viel weiter. Das ist mit der
Grund, weswegen wir bei der Deutschen Bahn als eines der ersten Unternehmen in Deutschland alle
Bewerber auf Ausbildungsplätze zu Onlinetests einladen, egal welche Schulnoten sie haben. Im
vergangenen Jahr, 2014, haben wir auf diesem Weg etwa 3.700 Menschen eingestellt.