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Friedrich Wilhelm Graf

DER
PROTESTANTISMUS

Geschichte und Gegenwart


 
 
 
 
 
 
 
 

Verlag C.H.Beck
 

 
Zum Buch

Friedrich Wilhelm Graf bietet einen ebenso knappen wie


anschaulichen Überblick über die Geschichte des Protestantismus
und beschreibt die großen Konfessionsfamilien von den Lutheranern
über die Anglikaner und Methodisten bis hin zu den P ngstlern.
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Frage, wie der Protestantismus
in Neuzeit und Moderne seit 1800 weit über die Kirchen- und
Theologiegeschichte hinaus Kultur, Gesellschaft, Politik – und nicht
zuletzt die Wirtschaft – in Europa und Nordamerika zutiefst geprägt
hat. Ein Ausblick auf die Zukunft des Protestantischen beschließt
den Band.
Über den Autor

Friedrich Wilhelm Graf, geboren 1948, ist Professor em. für


Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und
nimmt daneben zahlreiche weitere Aufgaben wahr, u.a. als
Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
und Ehrenpräsident der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft. Als erster
Theologe wurde er 1999 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen
Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von
ihm u.a. «Die Wiederkehr der Götter» (Paperback 2007), «Moses
Vermächtnis» (3. Au . 2006), «Missbrauchte Götter» (2009) sowie
«Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird»
(2014).
Inhalt

1. Einleitung
Was ist protestantisch?
Was heißt «Protestantismus»?

2. Eine Konfession geht um die Welt


Mitgliederzahlen und Wachstumsraten
Volkskirchen und Minderheiten in Europa
Protestantischer Pluralismus in der Neuen Welt

3. Die Konfessionsfamilien
Lutheraner
Reformierte
Anglikaner
Baptisten
Methodisten
P ngstler

4. Protestantismus und Kultur


Die Suche nach dem «Wesen» des Protestantischen
Vom Rechtsbegri zum Kulturkonzept
Die Er ndung der Innerlichkeit
Die Aufwertung der Individualität
Die religiöse Verweltlichung der Welt
Die Moralisierung des Politischen
Der Protestantismus als Bildungsmacht

5. Die Zukunft des Protestantischen


Nachweis der Zitate
Literaturhinweise
Personenregister
1. Einleitung

Was ist protestantisch?

«Protestantismus» ist ein Kollektivsingular für all jene christlichen


Kirchen, Gruppen und Bewegungen, die aus der Reformation des
16. Jahrhunderts hervorgegangen sind und sich selbst als Erben des
reformatorischen Protests verstehen. Allerdings: Den Protestantismus
gibt es nicht. Schon die reformatorischen Protestbewegungen des
16. Jahrhunderts waren durch große Vielfalt gekennzeichnet. Die
Historiker streiten inzwischen darüber, ob es sinnvoll ist, von der
Reformation zu sprechen, und bevorzugen vielfach die Rede von den
Reformationen des 16. Jahrhunderts. Denn die großen Reformatoren
Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli und Philipp
Melanchthon waren in Theologie, Frömmigkeitspraxis, christlicher
Ethik und politischer Grundhaltung keineswegs einer Meinung. In
den komplexen Wirkungsgeschichten ihres Protestes gegen die
spätmittelalterliche Papstkirche hat sich die theologische, religiöse
und ethische Vielfalt des Protestantischen später immer neu
verstärkt. Die bald fünfhundertjährige Geschichte der
Protestantismen ist durch bleibende Bekenntnisunterschiede
zwischen Lutheranern, Reformierten, Anglikanern, Baptisten und
Angehörigen der vielen protestantischen Denominationen,
Freikirchen und Sekten geprägt. Für die Geschichte der
Protestantismen kennzeichnend sind darüber hinaus Erneuerungs-
und Reformprogramme, wie sie im Pietismus, im Methodismus und
in den diversen Erweckungsbewegungen bzw. Revivals und
Awakenings wirkmächtig Gestalt gewannen und teils die
religionskulturelle Vielfalt in den einzelnen protestantischen
Konfessionskirchen verstärkten, teils neue evangelische Kirchen oder
kirchliche Gruppen entstehen ließen. Seit der Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert bewirkten die in den großen protestantischen
Kirchen heftig geführten Auseinandersetzungen um das Verhältnis
des christlichen Glaubens zur Aufklärung und speziell zu modernen
politisch-sozialen Freiheitsidealen schließlich neue interne
Di erenzierungsprozesse. Mit der Entstehung des modernen
Bürgertums formierte sich, gerade auch in Deutschland, ein
bürgerlich-liberaler Kulturprotestantismus, der zwischen
überkommenen Glaubenswahrheiten und modernem Bildungskult
vermitteln und einen christlichen Humanismus zur Leitkultur der
Gesellschaft machen wollte. Im entschiedenen Kampf gegen die
politischen Revolutionen seit 1789, die Au ösung der alten feudal-
ständischen Gemeinwesen und die äußerst krisenhafte Durchsetzung
der modernen industriekapitalistischen Produktionsweise entstanden
in Europa um 1800 aber auch konservative Moralprotestantismen,
für die der christliche Glaube notwendig an alte Gemeinschaftswerte
gebunden war. Die weitere soziale Di erenzierung der Gesellschaft
in Klassen und Schichten führte schließlich dazu, dass sich innerhalb
der großen Kirchen neue protestantische Sozialmilieus und
Lebenswelten etablierten. Gerade «kleinen Leuten» wie Arbeitern,
Handwerkern, Tagelöhnern und Kleinbauern verhalf ihr intensiv
gelebter christlicher Glaube dazu, die vielen Risiken zu bewältigen,
mit denen sie angesichts des schnellen sozialen Wandels konfrontiert
waren. Noch deutlichere Züge eines Übergangsphänomens zeigen im
Rückblick die diversen Bürgerprotestantismen, die sich in vielen
europäischen Gesellschaften gleichfalls im 19. Jahrhundert
formierten. In schleichenden Prozessen sozialstruktureller
Entbürgerlichung und der «kulturellen Enteignung» (Dieter
Langewiesche) ihrer Trägerschicht lösten sie sich im Verlauf weniger
Generationen allmählich auf. Ähnliches gilt für die protestantischen
Adelswelten Europas, auch wenn hier, allen Erfahrungen des Abbaus
alter ständischer Privilegien und demokratischer Nivellierung zum
Trotz, vielfach noch immer ein gotteselitärer Protestantismus mit
stilvollem Distinktionsbewusstsein gep egt wird.
Die Erscheinungsformen des Protestantischen sind seit 1800
zunehmend bunt, vielfältig und widersprüchlich geworden. Der
Oberbegri «Protestantismus» umfasst heute unterschiedliche
Konfessionskirchen und Denominationen mit je besonderen
Bekenntnistraditionen und theologischen Überlieferungen. Er
schließt äußerst heterogene religiöse Lebenswelten ein und stellt
sich auch in ethischen Fragen und politischen Bezügen als überaus
disparat dar.
Protestanten waren nicht nur die Meisterdenker der deutschen
Philosophie wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich
Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Protestanten prägten entscheidend auch den klassischen nationalen
Literaturkanon der Deutschen: Von Gryphius über Lessing, Wieland,
Mörike bis hin zu Hermann Hesse, Thomas Mann und Gottfried
Benn haben große Autoren als Pfarrerssöhne oder skeptische Erben
protestantischer Milieutraditionen ein Dichterleben lang immer auch
die Wirkungsgeschichten einer spezi schen religiösen Sozialisation
fortgeschrieben. Protestantische Pro le konnten staatsnahe Züge
tragen oder als subversiv denunziert werden, protestantische Wege
im 20. Jahrhundert, wie Martin Niemöllers Beispiel zeigt, «vom U-
Boot zur Kanzel» und von dort ins KZ führen, ehe sie im Amtssitz
des Kirchenpräsidenten und auf den Podien der Friedensbewegung
endeten. Machtpolitiker, Magnaten und Märtyrer lebten auf je
eigene Weise ihre protestantischen Biographien: Dietrich Bonhoe er
und Wilhelm II., Otto von Bismarck und Dorothee Sölle, Rudi
Dutschke und Theodor Heuss, aber auch – mit Ausnahme Heinrich
Lübkes und Christian Wul s – alle Bundespräsidenten seither, bis
zum bibelfest-frommen Johannes Rau, zu Horst Köhler und dem
Rostocker Pfarrer Joachim Gauck. Protestanten sind die
Pfarrerstochter Angela Merkel und der Ordnungsexperte Wolfgang
Schäuble, der Liberale Otto Graf Lambsdor und der
Verantwortungsethiker Helmut Schmidt, die ökosensible Grünen-
Politikerin Katrin Göring-Eckardt und der christsoziale
Ordnungsexperte Günther Beckstein – was ist das protestantisch
Verbindende, Gemeinsame dieser Christenmenschen?
In den USA präsentieren sich protestantische Temperamente und
Geistesfärbungen ähnlich facettenreich irisierend – und auf den
ersten Blick irritierend widersprüchlich: Billy Graham und Martin
Luther King verstanden sich ebenso als Protestanten wie George
Bush und Jimmy Carter, Elvis Presley und Johnny Cash, ein «born-
again Christian» mit einer p ngstlerischen Mutter, und der
Raumfahrer Buzz Aldrin, ein Episcopalian. Mit grellen
Schreihalspredigten sammeln Fernsehprediger wie Pat Robertson
und Jerry Falwell viel Geld ein bei den Frommen einer
hochorganisierten Christian Right, die die Bibel ganz wörtlich,
buchstabengetreu zu lesen verlangt und in Mega Churches zum
heiligen Kulturkampf gegen den verhassten liberalen Säkularismus
aufruft: gegen die Legalisierung von same sex partnerships oder ein
Recht auf Abtreibung, für Schulgebet und die Ablösung der
Darwin’schen Evolutionslehre durch einen biblizistisch inspirierten
Kreationismus im Biologieunterricht staatlicher Schulen. Aber in den
USA, einem Land mit knapp 150 Millionen Protestanten, sind
protestantische Überlieferungen zugleich so tief und fest in die
symbolische Ordnung von God’s own country und die
Vergesellschaftungsmuster der civil society integriert, dass etwa das
Social Gospel, eine im späten 19. Jahrhundert entstandene
Reformbewegung, die evangelikale Frömmigkeit in «sozialer
Solidarität» mit Arbeitern und anderen Marginalisierten
konkretisiert, tiefgreifenden Ein uss auf die politischen Ideale der
Demokratischen Partei ausüben konnte.
Rigorose calvinistische Sittenwächter mit asketisch scharfen, von
schmalen Lippen und harten Blicken geprägten Gesichtern sind
ebenso Protestanten wie ekstatisch tanzende schwarze Gospel-
Sänger in New York City oder lutherische Bauern im Süden
Brasiliens, die im Schöpfergott primär den Garanten von Zucht und
Ordnung sehen. Schwedische und nnische lutherische Pfarrer, die
in alten katholischen Messgewändern Hochämter singend
zelebrieren, markieren den einen, bewusst romnahen Pol des
Protestantischen – Waldenser mit ihrem radikalen
«Bergpredigtchristentum» in den Tälern Piemonts, aber seit den
Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts auch am Rio de la
Plata, den dezidiert hierarchiekritischen, basisgemeindlichen
Gegenpol. Protestanten feiern ihre Gottesdienste in byzantisierend
reich geschmückten wilhelminischen Kathedralen wie etwa dem
Berliner Dom, aber auch in ästhetisch faszinierend kargen, allein
durch ein Kreuz bestimmten Gotteshäusern, aus denen frommer
Furor einst bilderstürmerisch alle visuellen Fixierungen des
Absoluten entfernt hat. Protestantismus ist arrogante Elitenreligion
und einfacher Kleine-Leute-Glaube zugleich, abstrakte,
vernunftfromme Intellektuellenre exivität ebenso wie naives
Urvertrauen in einen gnädigen Schöpfergott, der in seinem
Regimente machet alles wohl. Protestantismus – das sind Johann
Sebastian Bach und die Lieder Paul Gerhardts und des Pfarrerssohns
Matthias Claudius, das ist aber auch anbiederndseichter Sakralpop,
der selbst auf Kirchentagen nur noch peinlich wirkt. Ist es trotz
solcher Vielfalt überhaupt sinnvoll, von dem Protestantismus zu
reden?
Alle Protestantismen beziehen sich auf die Reformationen des
16. Jahrhunderts und die damals formulierte Fundamentalkritik an
der spätmittelalterlichen katholischen Kirche. Eine starke kollektive
Identität gewannen die Protestanten traditionell durch ihren
konfessorischen Antikatholizismus. Im Zeitalter der ökumenischen
Konsenssuche gilt die alte Konfessionspolemik als religionspolitisch
inkorrekt. Gleichwohl bleiben alle Protestantismen in Theologie,
Frömmigkeitskultur und Ethik durch bleibende, zum Teil sehr tiefe
Gegensätze zum römischen Katholizismus geprägt. Elementare
religionskulturelle wie theologische Verschiedenheit bestimmt auch
das spannungsreiche Verhältnis zu den diversen östlich-orthodoxen
Christentümern.

Was heißt «Protestantismus»?

Von «Protestantismus» ist im Deutschen erst seit dem


18. Jahrhundert die Rede. Auch die zahlreichen Komposita sind
relativ jung, etwa die erstmals im frühen 19. Jahrhundert
nachweisbaren Begri e «Altprotestantismus», «Neuprotestantismus»
und «Bildungsprotestantismus», die gegen Ende dieses Jahrhunderts
geprägten Neologismen «Kulturprotestantismus»,
«Kirchenprotestantismus», «Sozialprotestantismus»,
«Moralprotestantismus», «Bildungsprotestantismus»,
«Nationalprotestantismus», «Weltprotestantismus» und
«Staatsprotestantismus», aber auch Formeln wie «politischer
Protestantismus», «polizeilicher Protestantismus», «literarischer
Protestantismus», «moderner Protestantismus», «liberaler
Protestantismus», «freier Protestantismus», «kirchlicher
Protestantismus» und «positiver Protestantismus». All diese
Prägungen spiegeln, oft als polemisch pointierte Abbreviatur
komplexer Kon iktlagen, die tiefe innere Spaltung des deutschen
Protestantismus in einen liberal-bürgerlichen, relativ
modernitätso enen Kulturprotestantismus und einen konservativen,
zumeist von alten Eliten und vom Kleinbürgertum getragenen
neupietistischen oder lutherischkonfessionellen
Kirchenprotestantismus. Sie wurden zumeist in den
innerprotestantischen Kulturkämpfen seit Restaurationszeit und
Vormärz lanciert, in denen das Verhältnis der reformatorischen
Überlieferung zu den krisenhaften Prozessen ökonomischer,
politischer, sozialer und kultureller Modernisierung der deutschen
Gesellschaft umstritten war. Einzelne Formeln lassen sich aber
bereits in den Konfessionsdebatten des ausgehenden
18. Jahrhunderts nachweisen. So gebrauchte ein anonymer
Übersetzer Pierre Bayles 1779 die Wendung «die neuen
Protestanten»; und der in Pest lehrende katholische Germanist
Leopold Alois Ho mann sprach 1787 davon, dass «der moderne
deutsche Protestantismus so intolerant wie der ehemalige» sei.
Andere Komposita des Protestantismusbegri s wie
«Jungprotestantismus» wurden dagegen erst während des Ersten
Weltkriegs geprägt.
Schon einzelne protestantische Theologen des 18. Jahrhunderts
hatten in ihren Geschichten der christlichen Religionsparteien, den
ersten Entwürfen für die später zu einer eigenständigen
theologischen Disziplin verselbständigten «Konfessionskunde», auf
den besonderen Charakter des Protestantismusbegri s im
Unterschied zu den aus der Frühzeit der Reformation stammenden
Selbst- und Fremdbezeichnungen wie «Evangelici», «Lutherani»,
«Lutheranismus», «Zwingliani», «Calviniani», «viri boni»,
«acatholici», «eretici», «Lutheraner» und «lutherische Sekte»
hingewiesen. «Protestantes» bzw. «die Protestanten» war zunächst
kein Terminus theologischer Abgrenzung und
Identitätskonstruktion, sondern ein Rechtsbegri zur Bezeichnung
der Reichsstände, die sich den 19 mit Fragen der Evangelischen
befassten «Protestationes» auf den Reichstagen von 1521 bis 1529,
insbesondere der Speyerer «Protestatio» vom April 1529,
angeschlossen hatten. Dieses Datum markiert ein zentrales
religionspolitisches Ereignis der Reformationszeit: Kurfürst Johann
von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, Landgraf
Philipp von Hessen, Fürst Wolfgang von Anhalt sowie 14
Reichsstädte legten eine «Protestatio» gegen die Aufhebung des
einstimmigen Reichstagsabschieds von 1526 ein. Dieser hatte die
Befolgung des gegen die Reformation gerichteten Wormser Edikts
von 1521 in die Verantwortung der einzelnen Reichsstände gelegt
und so die Reformationspolitik der evangelischen Stände faktisch
legalisiert. Ihr entscheidendes Argument lautete, dass «in den
Sachen Gottes Ehre und unser Heil und Seligkeit belangend ein
jeglicher für sich selbst vor Gott stehen und Rechenschaft geben
muss». Die Speyerer «Protestatio» wurde zu einem Grundtext der
evangelischen Stände, die von ihren altgläubigen Gegnern bald
«Protestantes», «protestierende Stände» oder «Protestierende»
genannt wurden. Diese Fremdbezeichnungen spielten, analog zum
Gegenbegri «Catholicos», zunächst eine wichtige Rolle in der
Reichspublizistik der gelehrten Juristen, bevor sie in den Prozessen
der «Konfessionalisierung», der Formierung römisch-katholischer,
lutherischer und reformierter bekenntnishomogener Gemeinwesen,
dann auch von römisch-katholischen Kontroverstheologen
übernommen wurden; die gegenreformatorischen Theologen wollten
so das rein Negative der Protestierenden betonen, die die Einheit der
abendländischen Kirche zerstört hätten, vom wahren Glauben
abgefallen seien und nur vielfältigen Aufruhr erzeugten. Zwar hatten
einzelne die Reformation tragende Reichsstädte sich
«protestantische Stände» als Selbstbezeichnung zu eigen gemacht,
ebenso wie die Formel «wir Protestierenden». Aber evangelische
Juristen und Theologen übernahmen die Begri e «Protestantes» und
«Protestierende» mit wenigen Ausnahmen nur sehr zögernd, da sie
die in ihren Augen tiefen Lehrunterschiede zwischen den
Lutheranern und den entscheidend von Calvin, Zwingli und Heinrich
Bullinger geprägten Reformierten zu nivellieren drohten. Anders
war es in Frankreich, den Niederlanden und England, wo man seit
der Mitte des 16. Jahrhunderts von «protestantisme» (als Nebenform
zu «la religion protestante»), «Protestant» und «protestans» sprach,
um den Gegensatz gegen die «Papisten», «Römer» und «Verderber»
des reinen Glaubens zu betonen. In frühen Texten der Anglikaner
ndet sich «protestants» im Sinne einer glaubensstolzen
Selbstbezeichnung. Im Italienischen lässt sich das Substantiv
«protestantismo» spätestens 1677 nachweisen, ein Neologismus, der
möglicherweise beein usst ist von John Miltons Eikonoklastes, einem
klassischen puritanischen Text gegen die römischen Gebräuche in
der nur partiell reformierten anglikanischen Kirche, wo
«protestantism» 1649 konsequent als Gegenbegri zur «papist
religion» gebraucht wurde. Seit der Herrschaft Elisabeths I. (1558–
1603) verstand England sich als «the protestant nation», als
wichtigste politische Gegenmacht zur «papal church» Roms. Wohl
unter englischem Ein uss wurde seit etwa 1700 auch in
Deutschland von den «Protestanten» gesprochen. Entscheidend für
die weitere Entwicklung des Begri s wurde der von den Aufklärern
im 17. und 18. Jahrhundert intensiv geführte Diskurs über die
dogmatischen, ethischen und religionspraktischen Unterschiede
zwischen den großen christlichen «Religionsparteien» bzw.
Konfessionskulturen. In Hunderten von Zeitschriften, Traktaten und
Kanzelreden über «das Wesen», «den Geist» oder das «Prinzip des
Protestantismus» gab die neue, dominant protestantische Elite
aufklärerischer Gelehrter dem Protestantismusbegri einen dezidiert
emanzipatorischen Gehalt, auch durch entschieden antikatholische
Abgrenzung vom Hierarchieprinzip und Autoritätskult der römisch-
katholischen Kirche, die man als Inbegri des Rückständigen,
Mittelalterlichen, klerikal Korrupten verachtete.
Bereits der in Halle lehrende lutherische Theologe Siegmund
Jacob Baumgarten (1706–1757) hatte in seiner 1766 postum
publizierten Geschichte der Religionspartheyen die Erfolgsgeschichte
des Begri s zu deuten versucht. Nach Baumgarten setzte sich gerade
diese Bezeichnung durch, weil die Katholiken den «acatholici» oder
«Unkatholischen» – so die wichtigsten polemischen
Fremdbezeichnungen in der römisch-katholischen
Kontroversliteratur des 16. und frühen 17. Jahrhunderts – nicht den
Würdetitel «Evangelici» zuerkennen wollten: Die «Benennung»
Protestanten sei «selbst von den Gegnern williger eingeräumt
worden, als die Benennung der Evangelischen, die von päpstlicher
Seite ihren Gegnern niemalen eingeräumt worden, weil sie damit
hätten zugeben müssen, dass es ihrer Kirche entweder gar am
Evangelio, oder an der Reinigkeit desselben fehle».
Indem er das Protestantische als Lehr-, Bekenntnis- und
Gewissensfreiheit bestimmte, konnte der bekannte Neologe – das
heißt genau übersetzt: Neulehrer – Johann Joachim Spalding (1714–
1804) 1784 «die protestantische Welt» an «Aufmerksamkeit und
Sorgfalt» erinnern, «um zu verhüten, dass ihr nicht ein altes Joch,
das unnatürlichste und gewaltthätigste, was je menschliche Seelen
drücken kann, nämlich ohne eigenen Gebrauch des Verstandes auf
das Gebot Anderer zu denken und zu glauben, von neuem über den
Hals geworfen werde». Die enge Verknüpfung von Protestantismus,
individueller Freiheit, Selbstdenken und sittlicher Tugend bestimmte
die intensiven Protestantismusdiskurse in der sogenannten
«Sattelzeit» (Reinhart Koselleck), den Jahrzehnten zwischen 1770
und 1830, bis in die harten fundamentalpolitischen
Auseinandersetzungen um die Legitimität der Französischen
Revolution hinein. Den Katholizismus kritisierten protestantische
Meisterdenker als eine Religion von pfä scher Hierarchie,
Glaubenszwang, Seelenknechtung, Gewissensunterdrückung,
Heteronomie, Verlogenheit, Doppelmoral, barocker Lebensfreude
und laxen Sitten; ihr Protestantismus war hingegen die «Religion der
Freiheit», religiös fundierte Autonomie, Glaubens- und
Gewissensfreiheit, vernünftige Selbstbestimmung, Denkglaube,
sittlicher Ernst, asketische Strenge und überhaupt die spezi sch
neuzeitliche, modernitätsfähige Gestalt des Christlichen. So schrieb
der protestantische Aufklärungspädagoge Joachim Heinrich Campe
(1746–1818) in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung
der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke 1801 zu
«Protestant»: «Im Allgemeinen bezeichnet diese Benennung einen
Christen, der sich […] gegen die Ansprüche (Anmaßungen) anderer
Glaubensgenossen, die ihren Kirchenglauben für allgemein
verbindlich ausgeben, verwahrt. Man kann auch sagen: er verwahrt
sich gegen jede Verp ichtung etwas zu glauben, was nicht auf einer
übereinstimmenden Aussage seiner Vernunft und der Bibel beruht.
Man könnte sie die Freigläubigen nennen; denn sie sind in Bezug auf
die kirchliche Gesellschaft, was der Freibürger in Bezug auf die
bürgerliche ist.»
Der im Tübinger Stift, der Kaderschmiede der württembergischen
Landeskirche, sozialisierte Berliner Systembaumeister Hegel sah in
Luthers Reformation «die Hauptrevolution» der Neuzeit, weil hier
die Unmittelbarkeit des einzelnen Christen zu Gott durchgesetzt und
so «das Prinzip des freien Geistes […] zum Panier der Welt
gemacht» worden sei, deutete «Innerlichkeit als protestantisches
Prinzip» und erklärte in seiner Rechtsphilosophie programmatisch
den «Eigensinn, […] nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen,
was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist», als «das
Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche
Prinzip des Protestantismus». Ähnliche Formulierungen nden sich
in Tausenden von theologischen und religionshistorischen Texten
protestantischer Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Gerade entschieden liberale Theoretiker feierten den Geist
«protestantischer Freiheit» als normative Grundlage von freier
Bürgergesellschaft und nationalem Rechts- bzw. Verfassungsstaat.
Immer meinte «das Protestantische» hier sehr viel mehr als das
konfessionell Kirchliche, die Bindung an die evangelischen Kirchen,
eben eine von aktiven Christenbürgern, Bürgerchristen durch
sittliche Praxis in die allgemeine Kultur und speziell die Politik
eingezeichnete autonome Vernünftigkeit. Diese Konkretion von
protestantischer «Religion der Geistigkeit», «Gesinnungsreligion»
oder «Innerlichkeit» in aktiver Bürgerfreiheit provozierte nicht nur
auf Seiten der Katholiken, sondern bald auch bei
revolutionstraumatisierten konservativen Protestanten heftige Kritik.
Obwohl in Preußen (1817), der Pfalz (1818) und einigen anderen
Territorien wie Baden (1821) und Rheinhessen (1822) die bis dahin
bestehende lutherische Kirche mit der reformierten Kirche zu einer
«alle protestantischen Gemeinden» umfassenden «Kirche der Union»
vereinigt worden war, führte die Sorge vor einer bürgerlich-
liberalen, reformorientierten Politisierung «protestantischer
Freiheit» die preußische Obrigkeit unter Friedrich Wilhelm III. dazu,
den Gebrauch des Protestantismusbegri s zu untersagen und statt
von «protestantischer Kirche» und den «Protestanten» nurmehr von
«evangelischer Kirche» und «evangelischen Christen» zu reden.
Zahlreiche katholische Autoren führten alle Übel der neuen,
modernen Zeit auf den Ungeist des protestantischen Individualismus
zurück. Im gelehrten theologischen Diskurs wurden die
konfessionellen Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken
nun auch dadurch zugespitzt, dass Hunderte von protestantischen
Religionsdenkern seit etwa 1820 begannen, «zwei Prinzipien des
Protestantismus» zu di erenzieren: die exklusive Bindung an die
Heilige Schrift, das sogenannte sola scriptura, als «Formalprinzip»
und den individuellen Rechtfertigungsglauben, das sola de, als das
«Materialprinzip» des Protestantismus. Der Schweizer
Vermittlungstheologe Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874) vertrat
in den intensiv geführten theologischen wie religionskulturellen
Selbstverständigungsdebatten der Protestanten 1854 dann sogar die
These, dass die meisten Protestanten in Europa und den USA das
«Princip der freien Forschung» als «das eigentliche Princip des
Protestantismus» ansähen.
Über den Protestantismusbegri konnte deshalb auch ein
spezi sches Verhältnis von wissenschaftlicher Theologie und
kirchlicher Institution thematisiert werden: Analog zum
protestantischen Prinzip der allgemeinen Denk-, Glaubens- und
Forschungsfreiheit wurde in den protestantischen Ländern auch der
wissenschaftlichen Theologie mit ihrer historisch-kritischen
Bibelforschung und ihrer radikalen Dogmen- und sonstigen
Traditionskritik unbedingte Wissenschaftsfreiheit zugestanden. Die
institutionelle Autonomie der in den Fakultäten staatlicher
Universitäten betriebenen wissenschaftlichen Theologie galt vor
allem im deutschen akademischen wie religionspolitischen Diskurs
als eine kulturelle Errungenschaft des Protestantismus, die die
entscheidende Bedingung für eine außerordentlich leistungsfähige,
international auch jenseits der protestantischen Konfessionsgrenzen
bewunderte theologische Wissenschaftskultur sei. «Protestantismus»
wurde in diesen akademischen Debatten häu g zum Synonym für
eine Freiheit von Forschung und Lehre, die dem Staat wie der Kirche
und Gesellschaft insgesamt reiche Früchte durch kritikfähige,
selbstbewusste und hochgebildete Funktionseliten bringe –
einschließlich einer theologisch zu kritischem Selbstdenken
erzogenen gebildeten Pfarrerschaft.
Neben den aus den reformatorischen Aufbrüchen des
16. Jahrhunderts hervorgegangenen Kirchen der Lutheraner und
Reformierten wurden schon im 18. Jahrhundert zunehmend auch
die vorreformatorischen antirömischen Reformbewegungen der
Hussiten und Waldenser, aber auch Wiedertäufer, «Schwärmer»,
Sozinianer und Freidenker aller Art unter den Protestantismusbegri
subsumiert. Wenngleich in den internen Auseinandersetzungen der
anglikanischen Kirche umstritten blieb, ob man sich – eingedenk der
via media zwischen Rom und Wittenberg – weiter als «protestant»
bezeichnen solle, blieb der Protestantismusbegri bis in die
unmittelbare Gegenwart o en für all die neuen christlichen
Gruppierungen, Erweckungsbewegungen, Denominationen und
Kirchenbildungen, die neben der römisch-katholischen «Weltkirche»
und den östlichen, orthodoxen Kirchen ein religiös, theologisch und
ethisch eigenständiges Christentum repräsentieren. Außer den
methodistischen Kirchen und apostolischen Gemeinschaften, die auf
die englischen und schottischen freikirchlichen Bewegungen des 16.
und 17. Jahrhunderts zurückgehen, werden deshalb auch die erst
seit Beginn des 20. Jahrhunderts sich formierenden neuen
P ngstkirchen und viele charismatische Bewegungen dem
«Protestantismus» zugerechnet. Die komplexe begri shistorische
Überlieferung lässt sich insoweit in einer Formel bündeln: Unter
«Protestantismus» sind all jene Strömungen des neuzeitlichen
Christentums zu erfassen, die sich in ausdrücklicher Di erenz zum
römischen Katholizismus und zu den orthodoxen Christentümern als
eigene, dritte Überlieferungsgestalt des Christlichen verstehen.
Für dieses eigenständige dritte Christentum sind unbeschadet der
spannungsreichen Vielfalt seiner Überlieferungsgeschichten einige
gemeinsame theologische Elemente grundlegend. Man kann sie in
traditioneller, inzwischen auch trivialisierter dogmatischer Sprache
in einer Pathosformel mit drei Leitbegri en zusammenfassen:
Genuin protestantisch ist zunächst das sola scriptura, d.h. die
exklusive Schriftbindung, durch die – im Gegensatz zum
katholischen Prinzip der Doppel-Orientierung an Heiliger Schrift
und Tradition der Kirche – nun kirchliche Überlieferungen und
Praktiken allein von dem in der Heiligen Schrift bezeugten reinen
Gotteswort aus kritisiert und erneuert werden sollen; dann das sola
de, «allein aus Glauben», wodurch allen Vorstellungen
verdienstvoller Werke oder zu erwerbender Gnadenschätze von
Heiligen und Märtyrern ebenso eine Absage erteilt wird wie den
Messen für die Verstorbenen, durch die deren Stand vor Gott
verbessert werden soll; drittens das sola gratia, die Rechtfertigung
des Sünders rein aus der Gnade Gottes, womit die im Spätmittelalter
blühende Praxis des Erwerbs von sogenannten kirchlichen Ablässen
zur Minderung der Höllenstrafen abgelehnt und überhaupt bestritten
wurde, dass der sündige Mensch selbst durch irgendeine
Glaubensleistung oder Heiligkeitsanstrengung, also durch religiöses
Leistungsethos, vor Gott Gnade erlangen könne.
Religionsphänomenologisch sind für die diversen Protestantismen
ein entschiedener Individualismus und die zumeist sehr starke
Stellung der Einzelgemeinden kennzeichnend. Der Protestantismus
will weder autoritative «Heilsanstalt» im Sinne des römisch-
katholischen Hierarchieprinzips sein, noch teilt er die für die
orthodoxen Kirchen grundlegende Vorstellung, dass die episkopal
verfasste Kirche ihre normative Mitte primär in der Eucharistie, der
«göttlichen Liturgie», habe.
Er hat, gerade auch in Deutschland, eine intensive Kultur
re exiver Subjektivität hervorgebracht, die nicht an irgendwelchen
«Heilsobjekten» oder «Anstalten der Heilsvermittlung», in der
Sprache der dogmatischen Ekklesiologie: «der Kirche» als
«Heilsanstalt», sondern allein und emphatisch an der immer neuen
Selbstre exion des zutiefst widersprüchlichen, mit elementaren
Ambivalenzen des eigenen Ich konfrontierten Individuums orientiert
ist. In den drei Transzendenzchi ren sola gratia, sola scriptura, sola
de wird dieser re exive Grundzug protestantischer Subjektivität
symbolisiert, um selbstbestimmte Lebensführung zu begründen und
zu stärken.
2. Eine Konfession geht um die Welt

Mitgliederzahlen und Wachstumsraten

Die Hauptorte der reformatorischen Protestbewegungen des


16. Jahrhunderts waren Wittenberg, Zürich und Genf. Fünfhundert
Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ist der
Protestantismus ein globales Phänomen, und Christen, die sich als
Erben Luthers, Calvins, Zwinglis und anderer Reformatoren
verstehen, leben inzwischen auf allen Kontinenten. Ihre Zahl
zuverlässig zu ermitteln, fällt allerdings schwer. Denn seit etwa
1970 lassen sich auf den Religionsmärkten vieler
lateinamerikanischer, afrikanischer und asiatischer Gesellschaften
tiefgreifende Wandlungsprozesse beobachten, die häu g eng
verknüpft sind mit Migration und sozialer Mobilität. Gerade die
inzwischen gigantischen Wanderungsbewegungen von Menschen,
die ihr Heimatland verlassen, um anderswo Freiheit, Arbeit,
Wohlstand und besseres Leben zu nden, wirken zumeist
religionsproduktiv. Sie verstärken entweder die religiöse
Herkunftsidentität, den Glauben, den man mitgebracht hat, oder
fördern den Übergang in neue Glaubensgemeinschaften, die den
entwurzelten Neuankömmlingen durch Seelsorge, Netzwerke
alltagspraktischer Solidarität und Kontaktvermittlung die
Einbürgerung in der Ankunftsgesellschaft erleichtern. Zum Teil
dramatische Verschiebungen auf den Religionsmärkten außerhalb
Europas und Nordamerikas resultieren vor allem aus den großen
Missionserfolgen von P ngstkirchen und charismatischen Gruppen.
Für die vielen neuen Konversionsprozesse und missionarischen
Mobilisierungserfolge liegen ebenso wenig genaue Daten vor wie für
die im Vergleich zu Europa bemerkenswert hohe Mobilität auf dem
pluralistischen Religionsmarkt der USA. Zudem nden sich in den
einschlägigen wissenschaftlichen Enzyklopädien, Lexika und
Standardwerken höchst widersprüchliche Zahlenangaben. Die
folgenden Zahlen deuten vor allem Größenverhältnisse an. Derzeit
dürfte es weltweit neben etwa 260 Millionen orthodoxen Christen
und 1,1 Milliarden Mitgliedern der römisch-katholischen Weltkirche
gut 900 Millionen Protestanten geben, die Anhänger der
P ngstkirchen und evangelikalen Kirchen und Gruppen
eingerechnet. Davon gehören der reformierten, calvinistischen
Konfessionsfamilie, also den reformierten Kirchen, den
Presbyterianern und den Kongregationalisten, ca. 75 Millionen
Christen an. Nach den Angaben des Lutherischen Weltbundes gab es
2015 weltweit knapp 75 Millionen Lutheraner, von denen in Europa
38 Millionen lebten, in Afrika 18 Millionen, in den USA und in
Kanada 8,15 Millionen. Mit über 80,5 Millionen Mitgliedern sind die
hierzulande weithin unbekannten, jedenfalls unterschätzten
methodistischen Kirchen noch etwas mitgliederstärker als die
lutherischen, und die Baptisten mit weltweit gut 110 Millionen
deutlich größer. Die Anglican Communion – mit den Kirchen der
Anglikaner und, vor allem in den USA, der Episcopal Church –, die
sich auf die unter Heinrich VIII. erfolgte Verselbständigung der
Church of England gegen Rom zurückführt, umfasst ca. 80 Millionen
protestantische Christen. Manche entschieden konservativen
Gläubigen und vor allem Pfarrer der anglikanischen High Church
sehen sich allerdings nicht als Protestanten (auch wenn die Church
of England im englischen Sprachgebrauch immer als «protestant»
bezeichnet wurde), sondern wollen einem eigenen Kurs zwischen
Rom und den Reformationskirchen folgen. Besonders schwer zu
schätzen ist die Zahl der Christen in den protestantischen
P ngstkirchen, nicht nur weil die Angaben der einzelnen Kirchen
sehr stark schwanken, sondern auch weil die zum Teil
außergewöhnlich hohen Zuwachsraten solche Selbstauskünfte
schnell veralten lassen. Das 1999 erschienene Oxford Lexikon der
Weltreligionen schätzte die Zahl der P ngstler auf mindestens
130 Millionen, wobei allein die «Assemblies of God» als größte
P ngstkirche der USA weltweit 57 Millionen Mitglieder hatten.
Folgt man allerdings dem als seriös geltenden «Status of Global
Mission», den das in Boston und an drei anderen Standorten
beheimatete Gordon-Conwell Theological Seminary regelmäßig
aktualisiert, belief sich die Zahl der
«Pentecostals/Charismatics/Neocharismatics» Mitte 2006 auf rund
596 Millionen; 2025 werden es, nach demographischen
Berechnungen und Prognosen für eine weiterhin erfolgreiche
Missionstätigkeit, weltweit gut 708 Millionen p ngstlerische und
charismatische Christen sein. Vieles deutet darauf hin, dass alte,
etablierte Kirchen wesentlich langsamer wachsen als die freien,
unabhängigen Gemeinschaften, die evangelikalen Kirchen und
speziell die P ngstler. Für die römisch-katholische Kirche etwa wird
bis 2025 eine jährliche Wachstumsrate von 1,12 Prozent
prognostiziert, so dass es dann 1,334 Milliarden katholische Christen
geben wird; bei den Freikirchen liegt die jährliche Wachstumsrate
hingegen bei 2,23 Prozent, den Evangelikalen wie auch P ngstlern
und Charismatikern werden 2,11 Prozent Zuwachs vorhergesagt. Die
große bunte Familie vergleichsweise kleiner christlicher Kirchen,
Denominationen, Gruppen und Sekten, die die Religionssoziologen
als «Marginal Christians» zählen und die sich mit wenigen
Ausnahmen protestantischen Überlieferungen zuordnen, umfasst
derzeit knapp 35 Millionen Christen, aber 2025 voraussichtlich
schon knapp 50 Millionen; hier liegen die Zuwachsraten bei
2,79 Prozent im Jahr.
Die genannten Zahlen werfen, wie alle statistischen Daten,
erhebliche Deutungsprobleme auf, vor allem mit Blick auf das sehr
schnelle Wachstum der P ngstkirchen und charismatischen
Bewegungen. Denn auch wenn außerhalb Europas viele neue
Charismatiker in der römisch-katholischen Kirche bleiben, sehen
sich die großen P ngstkirchen und charismatischen Gruppierungen
entschieden in der Tradition der Reformation des 16. Jahrhunderts.
Die Gesamtzahl aller Protestanten wäre damit nicht weit unterhalb
der Milliardengrenze zu verorten, selbst wenn
Doppelmitgliedschaften, plurale Glaubensidentitäten und statistische
Grauzonen berücksichtigt werden. Knapp vierzig Prozent aller
Christen weltweit können als Protestanten gelten.
Bei aller Interpretationsbedürftigkeit der genannten Daten lässt
sich jedoch ein deutlicher Trend ausmachen: Trotz aller
kircheno ziellen ökumenischen Verständigungsbemühungen, etwa
der auf die Überwindung von Lehrdi erenzen zielenden
«ökumenischen Gespräche» zwischen dem vatikanischen
Einheitssekretariat und den orthodoxen Kirchen oder zwischen
Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und Repräsentanten der
evangelischen Kirchen, wird das Christentum keineswegs uniformer,
in sich einheitlicher. Gegen alle dogmatische Ökumene-Rhetorik
unterlag es vielmehr im 20. Jahrhundert einer sich weltweit stark
beschleunigenden Di erenzierungs- und Pluralisierungsdynamik, die
im frühen 21. Jahrhundert ungebrochen ist. Nach Erhebungen des
Berliner Religionssoziologen Hubert Knoblauch wurden um 1900
weltweit 1800 christliche Konfessionskirchen gezählt. Am Ende des
20. Jahrhunderts waren es schon 33.000. Für 1900 gibt das Gordon-
Conwell Theological Seminary 1900 Kirchen und Denominationen,
600 im Ausland agierende große Missionsgesellschaften und 1500
große sozialdiakonische christliche Organisationen an. 2006 sind es
38.000 Kirchen, 26.000 diakonische oder caritative
Trägerorganisationen und 4410 global operierende
Missionsgesellschaften. Schreibt man die derzeitigen
Wachstumsraten der Kirchenbildung von 1,97 Prozent fort, wird es
schon in knapp 15 Jahren, 2025, gut 55.000 christliche
Konfessionskirchen geben – ein Di erenzierungsprozess, der in
dieser Intensität und Geschwindigkeit in der zweitausendjährigen
Christentumsgeschichte ohne Beispiel ist. Es sind dabei gerade die
verschiedenen Protestantismen, die die innere religiöse wie
organisatorische Pluralisierung des modernen Christentums tragen
und weiter vorantreiben.
1996 waren nur noch 15 Prozent der Europäer Protestanten. In
Nordamerika betrug der Anteil der Protestanten unter der
Bevölkerung 35 Prozent, in Asien 2,5 Prozent, in Lateinamerika
4 Prozent, in Ozeanien knapp 28 Prozent. Beachtung verdienen die
seitdem zu beobachtenden Verschiebungen: Sowohl in Afrika und
Ozeanien als auch in einigen asiatischen Staaten, vor allem in
Südkorea, und insbesondere in Lateinamerika ist die Zahl der
Protestanten in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen. Die
einstmals dominant europäische und nordamerikanische
Sozialgestalt des protestantischen Christentums wird zunehmend zu
einer außereuropäischen Religion bzw. zu einer Religion der
südlichen Hemisphäre. Lebten 1910 79 Prozent aller Anglikaner im
Vereinigten Königreich, so nden sich hundert Jahre später nun
59 Prozent der Anglikaner in Afrika. Laut Internet-Quellen leben
derzeit mehr Protestanten in Indien als in Deutschland oder in
Großbritannien, und in Brasilien gibt es mehr Mitglieder
protestantischer Kirchen als in Deutschland und dem Vereinigten
Königreich zusammen.

Volkskirchen und Minderheiten in Europa

Der Pietismusforscher Johannes Wallmann hat die Ausbreitung der


diversen Protestantismen – zunächst in Europa, dann in
Nordamerika und schließlich auf den anderen Kontinenten – in
einem Modell überzeugend erfasst. Mit der Reformation des
16. Jahrhunderts und der Formierung der Church of England sei
Europa konfessionskulturell in zwei konkurrierende Gestalten des
Christentums getrennt worden, die sich bis ins 20. Jahrhundert
hinein ungefähr die Waage gehalten haben. Für das protestantische
Europa unterscheidet Wallmann drei Hauptformen der Ausbreitung:
den Monopolprotestantismus, der ganze Länder erfasste; einen
Protestantismus, der sich sehr stark ausbreiten konnte und
ö entlich-rechtlich anerkannt wurde, aber nicht zur
Mehrheitsreligion wurde; und einen Minderheitenprotestantismus in
dominant katholischen Gesellschaften.

Monopolprotestantismus: Noch heute sind die skandinavischen Länder


so stark vom Luthertum geprägt, dass Volkskirche und Nation
einander vielfältig durchdringen. De facto war in Nordeuropa die
lutherische Konfession im 16. Jahrhundert als Staatsreligion
eingeführt worden. Von hier aus strahlte sie intensiv ins Baltikum
aus, wo in Estland und Lettland das Luthertum tiefdringende
kulturelle Prägekraft entfalten konnte, anders als in Litauen, wo es
eine kleine Minderheitenreligion blieb. Für die skandinavischen
lutherischen Konfessionskulturen ist kennzeichnend, dass sie nicht
in direkter Konfrontation mit dem Katholizismus standen und
deshalb im Ritus, vor allem in Finnland, viele altgläubige Formen
bewahrten.
In den Niederlanden verband sich die Durchsetzung des
Calvinismus mit dem politischen Kampf gegen die spanische
Herrschaft. Nach äußerst brutal niedergeschlagenen Aufständen der
Reformierten konnte sich Wilhelm I. von Oranien-Nassau mit
Unterstützung des niederländischen Adels 1576 gegen die Spanier
durchsetzen und den Calvinismus als Staatsreligion proklamieren.
Interne theologische und kirchenpolitische Auseinandersetzungen
zwischen den Arminianern und dogmatisch strengen Vertretern des
Prädestinationsdogmas führten in der Dordrechter Generalsynode
von 1618/19 zur scharfen Verurteilung der Arminianer, von denen
viele ins Exil gingen. Die Gläubigen anderer protestantischer
Konfessionen wie Lutheraner, Remonstranten und von den
täuferischen Bewegungen geprägte Unabhängige durften ö entliche
Gottesdienste abhalten, und der kleinen katholischen Minderheit
wurde immerhin das Recht eingeräumt, sich privat zu Gebet und
Gottesdienst zu versammeln.
Auch England verstand sich seit der Loslösung von der Suprematie
des Papstes als «protestant nation». Entscheidend für dieses bis
heute starke protestantische Selbstbewusstsein war der
Puritanismus, eine theologische Protest- und Reformbewegung in
der anglikanischen Kirche, die sich, nach dem Vorbild der
evangelischen Kirchen auf dem Kontinent und in scharfer
Frontstellung gegen alles Katholische, gegen das Prayer Book, die
römische Liturgie der Staatskirche, wandte, eine bessere Bildung der
Pfarrer forderte und die episkopale Verfassung der Church of
England mit teils biblischen, teils der reformierten Tradition
entlehnten Argumenten verwarf. Bedeutende Theologen wie William
Perkins (1558–1602) widmeten sich der Vermittlung von
calvinistisch inspirierter Lehre und frommer Lebenspraxis. Über
Handbücher einer stark kasuistisch orientierten Sittenlehre und
intensive Predigttätigkeit entfalteten sie eine ebenso emotional
einfühlsame wie hochre ektierte Psychologie der Bekehrung des
Einzelnen, ohne darüber das Ziel gesellschaftlicher Neuorientierung
aus den Augen zu verlieren. Die englische Revolution 1642 und die
Militärdiktatur des Bürgerkriegssiegers Oliver Cromwell erö neten
den Puritanern zunächst weite Herrschaftsräume. Nach der
Wiederherstellung der Monarchie (1660) wurden sie jedoch von der
anglikanischen Staatskirche ausgeschlossen und bis zur Glorious
Revolution (1688) und der Declaration of Rights (1689) als
Separatisten und Nonkonformisten verfolgt. All diese
Kon iktgeschichten durchzog ein überaus vitaler
Pluralisierungsimpuls, der zum einen «den» Puritanismus nur als
kaleidoskopisch bunte Vielfalt von Ausprägungen, Spielarten und
Fraktionen erkennbar werden lässt, zum anderen aber auch über die
puritanische Ausgangsbewegung hinaus starke historische
Wirkmächtigkeit bewies: Durch ihn wurde England zum Mutterland
der protestantischen Freikirchen, zur Heimat der Presbyterianer,
Kongregationalisten, Methodisten und Quäker.

Anerkannter Protestantismus: Die reformatorischen Bewegungen


waren von Deutschland und der Schweiz ausgegangen. Dennoch
gelang es hier nicht, den Protestantismus als die führende Religion
durchzusetzen. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz
beschwor die schnelle Ausbreitung der reformatorischen Ideen
vielmehr bald kriegerische Auseinandersetzungen herauf, die
schließlich in Friedensschlüssen mit hochdi erenzierten
Paritätsregeln pazi ziert wurden. In der Schweiz garantierte der
zweite Kappeler Landfrieden von 1531 den mit Zürich verbundenen
Kantonen das Recht auf Bewahrung des Status quo; so konnten sie
reformiert bleiben. In Deutschland wurde im Augsburger
Religionsfrieden von 1555, dem «wichtigsten Fundamentalgesetz des
Reichs im Konfessionellen Zeitalter» (Martin Heckel), eine sowohl
von den Ständen als auch den Religionsparteien vereinbarte
paritätische Reichskirchenverfassung gescha en, die bis zum Ende
des Reiches 1806 eine Territorialkirchenherrschaft des «cuius regio,
eius religio» («wessen Herrschaft, dessen Religion») etablierte, also
die gleichberechtigte Koexistenz der Altgläubigen und der Anhänger
der «Confessio Augustana» von 1530 sicherte. Im Westfälischen
Frieden wurde 1648 dann auch den Reformierten ihr konfessioneller
Besitzstand reichsrechtlich garantiert. Beide Vertragswerke
erlaubten auf Reichsebene pragmatische Arrangements zwischen
den verfeindeten Religionsparteien, verfestigten aber auch die tiefe,
bis heute spürbare konfessionelle Kluft zwischen Katholiken und
Protestanten in Deutschland. Trotz seiner politischen Zersplitterung
war der Protestantismus sowohl in Deutschland als auch in der
Schweiz dem Katholizismus an ökonomisch-sozialer und kultureller
Prägekraft bis ins 20. Jahrhundert hinein deutlich überlegen.

Minderheitenprotestantismus: In vielen europäischen Ländern konnten


die reformatorischen Bewegungen nur eine Minderheit erreichen,
oder sie wurden nach schnellen Siegeszügen gewaltsam unterdrückt.
Der reformierte Protestantismus nahm seinen Ausgang von den
nord- und westschweizerischen Kantonen sowie vom Oberrhein.
Seine rasante Expansion erstreckte sich zunächst auf Frankreich, die
Mittel- und Niederrheinregion, Hessen, Ostfriesland, die
Niederlande, England und Schottland sowie im Osten auf
Vorarlberg, Ungarn, Böhmen und Litauen. Besondere kulturelle
Strahlkraft vermochten die französischen Reformierten zu entfalten,
die als Hugenotten, das heißt Eidgenossen, bezeichnet wurden. Für
die Ausbreitung des französischen Protestantismus gebrauchten
schon die Zeitgenossen das Bild einer Mondsichel, mit den Spitzen
in Lyon und La Rochelle und einem starken Schwerpunkt im
Languedoc. 50 Prozent der französischen Adeligen und 12 Prozent
der Gesamtbevölkerung waren Hugenotten. Neben dem Adel trugen
vor allem Gelehrte, Kau eute und Handwerker die protestantische
Bewegung. Bauern fanden dagegen kaum Zugang zur sehr elitären,
durch harten Fleiß, ökonomische Tüchtigkeit, asketische
Lebensführung und strenge kirchliche Sozialdisziplin geprägten
hugenottischen Glaubenskultur. In den blutigen Religionskriegen
zwischen 1562 und 1598 konnten sich die Hugenotten zunächst
erfolgreich gegen die katholische Mehrheit und die Krone
behaupten. Die Verfolgungen erreichten in der sogenannten «Pariser
Bluthochzeit» oder Bartholomäusnacht (23./24. August 1572) ihren
grausamen Höhepunkt. Nachdem der Hugenotte Heinrich von
Navarra 1589 als Henri IV. den französischen Thron bestiegen hatte
und 1593 zum Katholizismus konvertiert war («Paris ist eine Messe
wert»), gewährte er im Edikt von Nantes (13. April 1598) seinen
früheren Glaubensgenossen Toleranz. Das Edikt erlaubte die
ö entliche Religionsausübung, gesicherte Schutzburgen und
garantierte gleiche politische Rechte, untersagte aber die Mission.
Doch die Zeit der Koexistenz währte nicht lang: Nach harten
Kämpfen ließ Kardinal Richelieu die Schutzburgen wieder
beseitigen; die Festung La Rochelle el 1628. Unter Ludwig XIV.
eskalierten die Unterdrückungsmaßnahmen, es kam zu
Zwangsbekehrungen («Dragonnaden») und schließlich zur
Aufhebung des Edikts von Nantes (18. Oktober 1685). Gegen
massive Repressionen und obrigkeitlichen Rekatholisierungsdruck
formierte sich in den Cevennen eine «Wüstenkirche», doch rund
200.000 der 800.000 französischen Protestanten wählten den Weg
ins Exil, der sie zumeist nach England und Holland führte. 20.000
von ihnen konnten sich auf Grund des vom Großen Kurfürsten
Friedrich Wilhelm erlassenen Edikts von Potsdam
(29. Oktober 1685) in Brandenburg ansiedeln, wo ihnen Religions-
und Steuerfreiheit, Selbstverwaltung, eigene Schulen und Gerichte
zugestanden wurden. Die in Frankreich verbliebenen Hugenotten
verstanden es, sich ihren elitären Charakter als zumeist
hochgebildete, leistungsbereite Minderheit bis heute zu bewahren:
In den ökonomischen und politischen Funktionseliten, etwa im
Auswärtigen Dienst, sind Frankreichs etwa 1,2 Millionen
Protestanten deutlich überrepräsentiert.
In Osteuropa vermochten sich die zunächst sehr erfolgreichen
Reformierten lediglich in Ungarn und Siebenbürgen gegen die
staatliche Rekatholisierungspolitik zu behaupten. Repräsentativ für
die blutige Unterdrückung vieler reformierter Gemeinden vom
Baltikum bis zum Balkan ist dagegen das Schicksal der sogenannten
«Böhmischen Brüder», die während des Dreißigjährigen Krieges
nahezu völlig ausgelöscht wurden.
Auch in Österreich blieben die reformatorischen Christen eine
kleine Minderheit. Zwar schlossen sich hier Ende des
16. Jahrhunderts zahlreiche Adelige und auch Bauern der neuen
Glaubensbewegung an. Doch wurden sie durch die
Gegenreformation massiv unterdrückt. Erzwungene Auswanderung,
etwa der sogenannten «Salzburger Exulanten» (1731/32), und
Deportation nach Siebenbürgen konnten nicht verhindern, dass sich
ein «Geheimprotestantismus» bildete. Noch sehr viel härtere
Repressionsmaßnahmen trafen die Protestanten in Polen. Böhmische
Brüder, Sozinianer, Reformierte und Lutheraner hatten unter dem
Adelsregiment Religionsfreiheit genossen, bis eine stark von Jesuiten
geprägte absolutistische Monarchie Polen gewaltsam rekatholisierte.

Protestantischer Pluralismus in der Neuen Welt

Die Globalisierung der europäischen Protestantismen begann mit der


Kolonialisierung Nordamerikas. Für die Christentumsgeschichte der
Neuen Welt wurde das Pathos religiöser Toleranz entscheidend, in
dem sich auch die Leidenserfahrung der vielen protestantisch
Frommen spiegelte, die aus Glaubensgründen Europa, vor allem
England, hatten verlassen müssen. Um der Freiheit der vielen
verschiedenen Konfessionen willen wurde in der Verfassung der USA
eine strikte Trennung von Staat und Kirche festgeschrieben. Diese
bedeutete aber keineswegs eine Trennung von Staat und Religion.
Ganz im Gegenteil: Immer war das politische Leben in den USA von
starken religiösen Energien durchströmt, und schon die Gründung
der Republik lässt die entschiedene Prägung des neuen
Gemeinwesens durch protestantischen Biblizismus erkennen. «It is
impossible to rightly govern the world without God and the Bible»,
soll George Washington (1732–1799), der erste Präsident der USA,
erklärt haben. Den britischen Kolonisten waren bald Lutheraner aus
Schweden und Deutschland gefolgt, später auch schweizerische und
deutsche Reformierte, französische Hugenotten und Mennoniten aus
ganz Europa. Die Eroberung des riesigen Kontinents verband sich
mit Versuchen, die Native Americans oder «Indianer» für das
Christentum zu gewinnen. Der faszinierende missionarische
Aktivismus lässt sich am Beispiel des berühmten methodistischen
Predigers Francis Asbury (1745–1816) verdeutlichen. Obwohl John
Wesley, der Begründer der methodistischen Bewegung, die
amerikanische Revolution als sündhaften Aufstand des Menschen
gegen die von Gott gestiftete monarchische Autorität und Ordnung
abgelehnt hatte, feierten die seit 1760 auf dem nordamerikanischen
Kontinent missionierenden Methodisten außerordentliche
Bekehrungserfolge. Das schnelle Wachstum ihrer Kirche wurde vor
allem durch Asburys Heilsrastlosigkeit und
Glaubensbezeugungsdynamik angetrieben. Asbury ordinierte nicht
weniger als 4000 Prediger, hielt über 16.000 Predigten und reiste zu
Pferde gut 270.000 Meilen auch in schwer zugängliche Gegenden
der USA, um Native Americans ebenso wie Weiße von der Wirkkraft
seines Gottes zu überzeugen – zumeist gen Westen, denn «God’s
progress goes west», jedenfalls im Neuen Zion der USA.
Für die Religionsgeschichte der USA wurde ein pluralistisches
Sozialitätsmuster kennzeichnend, das zumeist Denominationalismus
genannt wird. Die strikte Trennung von Staat und Kirche sorgte
dafür, dass sich die Einwanderer in eigenen Formen freiwilliger
Assoziation religiös vergemeinschafteten. Kirchen sind hier keine
staatsanalog und staatsnah entworfenen Heilsanstalten, sondern
Denominationen in einer Zivilgesellschaft oder, anders formuliert,
Religionsvereine und -gesellschaften, die von interessierten
Privatleuten in freier Absprache gebildet werden. Das macht die
vielen Kirchen und religiösen Gruppen stark abhängig vom
Engagement ihrer Mitglieder, etwa von ihren nanziellen
Leistungen, fördert umgekehrt aber auch eine klare Identi kation
der Mitglieder mit ihrer Religionsgemeinschaft.
Der britische Kolonialismus brachte es mit sich, dass die Church
of England auch in Kanada, auf verschiedenen westindischen Inseln
und in einigen Ländern Mittelamerikas erfolgreich missionieren
konnte. Die vielfältigen missionarischen Aktivitäten zahlreicher
anderer protestantischer Kirchen und der seit dem 18. Jahrhundert
aktiven Missionsgesellschaften führten – in Konkurrenz mit der
Mission römisch-katholischer Orden, insbesondere der Jesuiten, und
Missionsvereine – dazu, dass sich der europäische
Konfessionspluralismus außerhalb Europas noch verstärkte. In
Indien etwa hatten Händler aus Großbritannien, Dänemark und den
Niederlanden schon im 17. Jahrhundert für ihren Glauben
geworben. 1706 sandte der dänische König deutsche Pietisten als
erste hauptberu iche Missionare aus, und englische Missionare
brachten nicht nur den Anglikanismus, sondern auch den
Methodismus auf den Subkontinent. Später folgten Missionare der
Herrnhuter Brüdergemeine, einer entscheidend von Nikolaus
Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) geprägten pietistischen,
auch durch mystischen Spiritualismus geprägten
Frömmigkeitsbewegung, die, eigenständig gegenüber den
Landeskirchen, durch ihr jedes Kirchenjahr erscheinendes
Losungsbüchlein (mit biblischen «Lageslosungen») protestantische
Frömmigkeitskultur bis heute bestimmt. So war der indische
Protestantismus von vornherein von großer konfessioneller Vielfalt
geprägt, und auch in anderen regionalen Kulturen blieben
missionsbedingt die im 16. Jahrhundert formulierten
Lehrdi erenzen zwischen Lutheranern und Reformierten in
unterschiedlichsten Brechungen erhalten.
3. Die Konfessionsfamilien

Lutheraner

Am Anfang war Martin Luther. Alle Formen des Luthertums weisen


zurück auf den Protest des Wittenberger Theologieprofessors und
Augustinereremiten gegen die heilsvermittelnde Praxis einer
institutionell verhärteten Amtskirche. Im intensiven Studium der
Heiligen Schrift hatte Luther sich die Einsicht erarbeitet, dass die
spätmittelalterliche Kirche in ihrer Lehre von der Erlösung des
Sünders durch «gute Werke» der Reue irre. Zunächst wollte der
Wittenberger Reformator weder eine neue Kirche gründen noch die
zentrale Institution der überkommenen Kirche, das Papstamt des
Bischofs von Rom, prinzipiell in Frage stellen. Ihm ging es um eine
geistliche Erneuerung der Gesamtkirche im Sinne seiner
Wiederentdeckung des ursprünglichen Sinns der biblischen
Kernbotschaft: Der Sünder könne die Gnade Gottes nicht durch
moralische Anstrengungen oder religiöse Leistungen erlangen. Es sei
allein Gott, der den Glauben schenke und Gnade gewähre. Außer
Christus gebe es kein Heil. Luthers Theologie lässt sich als
Entfaltung dieses sola gratia, sola de und solus Christus verstehen.
Sie bedeutete eine elementare Infragestellung des o ziellen
kirchlichen Lehrsystems und der im Spätmittelalter herrschenden
Heilsökonomie.
Altgläubige Theologen bezeichneten Luther und seine Anhänger
zunächst in denunziatorischer Absicht als Häretiker und
Schismatiker, die falsche Lehren verbreiteten und die Kirche
spalteten. Erst in den Prozessen allmählicher institutioneller
Verselbständigung der von der Wittenberger Reformation geprägten
Konfessionskirchen setzten sich Begri e wie «die Lutheraner», die
«lutherischen Kirchen», «das Luthertum» zuerst in der juristischen
Sprache und dann auch im Allgemeinen Sprachgebrauch durch.
Die Bildung lutherischer Konfessionskirchen war ein langwieriger,
äußerst komplizierter Prozess. Er setzte noch vor dem Augsburger
Reichstag von 1530 ein, auf dem die Reichsstände, die Luthers
Protest unterstützten, in der Confessio Augustana ihre Sicht «des
Glaubens und der Lehre» (Artikel I–XXI) sowie der «Missbräuch, so
geändert seind» (Art. XXII–XVIII) zusammenfassten. In einzelnen
Städten und Territorien hatten die weltlichen Obrigkeiten bereits
seit der zweiten Hälfte der 1520er Jahre Kirchenordnungen erlassen,
mit denen das religiöse Leben und die Ordnung des Gemeinwesens
im Sinne von Luthers Wiederentdeckung des Evangeliums gestaltet
werden sollten. Dabei gewannen Luthers Kleiner Katechismus und
sein Großer Katechismus besonderes Gewicht. Luther hatte in seinen
1529 verö entlichten Katechismen die zentralen Themen des
christlichen Glaubens in verständlicher Sprache und
erfahrungsbezogen auch für die «einfachen Leute» dargestellt. «Denn
wiewohl man niemand zwingen kann noch soll zum Glauben, so soll
man doch den Haufen dahin halten und treiben, dass sie wissen, was
Recht und Unrecht ist bei denen, bei welchen sie wohnen, sich
nähren und leben wollen.» Viele Kirchenordnungen verliehen
Luthers Katechismen verbindlichen Rang für Verkündigung und
Unterricht. Die evangelischen Prediger sollten sich bei der
Auslegung von Gottes Wort am Großen Katechismus orientieren und
möglichst viele Christen, vor allem die Heranwachsenden, neben
wichtigen Bibelversen und Kirchenliedern den Kleinen Katechismus
auswendig lernen. So wurde dieser noch zu Lebzeiten Luthers ein
Grund- und Lesebuch des protestantischen Deutschland, das bis in
die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts lutherischen Christen als
eine zentrale Inspirationsquelle christlicher Lebensführung diente.
Einer Interpretation des Dekalogs, der am Sinai Mose o enbarten
Zehn Gebote, folgten Auslegungen des Apostolischen
Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers sowie Erläuterungen der
Sakramente Taufe und Abendmahl. Aus volkspädagogischen
Gründen wählte Luther das didaktisch altbewährte Schema von
Frage und Antwort. Er fragte jeweils «Was ist das?», um dann knapp
und klar seine Antwort zu entfalten. Zum ersten Gebot «Du sollst
nicht ander Götter haben» heißt es etwa: «Was ist das? Antwort: Wir
sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.»
Gottvertrauen wurde zu einem Zentralbegri lutherischer
Frömmigkeitskulturen.
Die reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts
führten zur konfessionellen Pluralisierung des Christentums. Neben
die eine Kirche, die bis dahin einen Monopolanspruch auf Auslegung
des christlichen Glaubens vertreten hatte, traten zwei
konkurrierende Konfessionskirchen sowie verschiedene kleinere
religiöse Gemeinschaften. Diese neue Lage zwang die drei
christlichen «Religionsparteien» zu klarer Pro lbildung. Die
Lutheraner formulierten dazu Bekenntnisse, mit denen ö entlich,
zumal vor dem Kaiser und den Reichsständen, die eigene
theologische Lehre prägnant dargestellt werden sollte. Die
wichtigste Bekenntnisschrift der lutherischen Kirchen ist die bereits
erwähnte Confessio Augustana aus dem Jahre 1530, die vor allem
Luthers Wittenberger Kollege Philipp Melanchthon verfasste. Sie
gewann in der Wittenberger Reformation schon relativ früh große
Autorität; seit 1533 mussten etwa die in Wittenberg lehrenden
Theologieprofessoren bei Amtsantritt durch einen Eid ihre
Zustimmung zu den Lehraussagen der Confessio Augustana
bezeugen. Als altgläubige Theologen vor Kaiser und Reichsständen
die Confessio Augustana mit der sogenannten «Confutatio
Confessionis Augustanae» kritisierten, antworteten die Lutheraner
mit der ebenfalls von Melanchthon verfassten «Apologie des
Augsburger Bekenntnisses». Nach Luthers Tod 1546 verschärften
sich unter den lutherischen Theologen die internen
Lehrauseinandersetzungen über das Verhältnis zu den Altgläubigen
einerseits und den Calvinisten andererseits. Der humanistisch
gebildete, auf vernünftigen Ausgleich und religionspolitische
Mäßigung bedachte Philipp Melanchthon und seine theologischen
Schüler, die «Philippisten», wollten auch im Interesse des
ö entlichen Friedens Möglichkeiten pragmatischer Verständigung
mit den Altgläubigen wahren. Im Streit um die Regelung der
Religionsverhältnisse im Reich betonten sie deshalb gegen die selbst
ernannten Hüter der «reinen» Lehre Luthers («Gnesiolutheraner»),
dass Fragen der Ordnung des Gottesdienstes und der kirchlichen
Ämter einschließlich des Papstamtes nicht den Kern des Glaubens
berühren, sondern in den einzelnen Kirchen als sogenannte
Adiaphora (Mitteldinge) unterschiedlich gestaltet und gedeutet
werden dürfen. In der Konkordienformel wurde 1577 zwischen den
streitenden Theologengruppen ein Konsens formuliert, der stark an
Formulierungen Luthers anknüpfte. Gegenüber den Reformierten
betonte man die sogenannte Realpräsenz, die tatsächliche
Gegenwart des erhöhten Jesus Christus im Abendmahl, genauer: «in
usu» von Brot und Wein. In der Frage der Rechtfertigung wurde jede
Mitwirkung des Menschen konsequent verworfen. Genau fünfzig
Jahre nach der Verlesung der Confessio Augustana wurde 1580 mit
dem sogenannten Konkordienbuch der Prozess der
Bekenntnisbildung der lutherischen Kirchen abgeschlossen.
Die Bekenntnisschriften repräsentierten auf der Ebene ö entlicher
Lehre die konfessionelle Identität der lutherischen Kirchen und
stärkten deren inneren Zusammenhalt. Ihre Rezeption blieb
keineswegs auf Deutschland beschränkt. Auch die lutherischen
Kirchen in Skandinavien, dem Baltikum und in Südosteuropa, etwa
in Siebenbürgen und in Ungarn, schlossen sich der Confessio
Augustana und anderen Bekenntnisschriften an. Als durch
kolonialistische Expansion und Mission der europäische
Konfessionspluralismus nach Übersee gebracht wurde, de nierten
sich die dort entstehenden lutherischen Kirchen, etwa in den USA
oder in verschiedenen lateinamerikanischen Gesellschaften, so im
brasilianischen Süden, von den alten Bekenntnissen her. Die
Geschichte kirchlicher Theologie lässt sich im Luthertum auch als
eine immer neue hermeneutische Vergegenwärtigung von
Grundeinsichten schreiben, die in den Bekenntnisschriften ihren
klassischen Ausdruck gefunden haben. Bis zum Ende des
18. Jahrhunderts mussten in vielen lutherischen Territorien Pfarrer,
Professoren und auch politische Beamte einen Konfessionseid
ablegen. Später wurde nur noch eine weit gefasste Verbindlichkeit
für Pfarrer eingeklagt. Lehrzuchtverfahren gegen Theologen, die die
in den Bekenntnisschriften formulierte Lehre kritisierten, gab es nur
vereinzelt. Insgesamt setzte sich eine o ene, auf das Wesentliche
konzentrierte Bekenntnishermeneutik durch.
Der reformatorische Protest hatte gerade wegen seiner ethischen
und politischen Dimensionen große Resonanz gefunden. Die
Botschaft von der «Freiheit eines Christenmenschen» erlaubte
unterschiedlichen sozialen Gruppen, ihre jeweiligen
Freiheitsforderungen durch die Wittenberger Kirchenerneuerung
legitimiert zu sehen. Luther selbst verö entlichte zahlreiche
Gelegenheitsschriften zu ethischen und politischen Kon ikten seiner
Zeit. Gegenüber den Vertretern der «radikalen Reformation», den
«Täufern», «Spiritualisten» und «Schwärmern», formulierte er eine
immer schärfere, im Grundton autoritäre Kritik. Melanchthon und
andere lutherische Theologen begannen, durch Anknüpfung an die
überkommenen christlichen Naturrechtslehren eine spezi sch
lutherische Sozialtheorie zu entwerfen. In deren Zentrum stand die
Unterscheidung dreier Stände – ecclesia, oeconomia, politia – sowie
die gemeinwohlorientierte Kooperation von weltlichen und
geistlichen Obrigkeiten. In den konfessionell homogenen
lutherischen Gemeinwesen sollte das ö entliche Leben ebenso wie
die Lebensführung der Individuen mit einem einheitlichen
christlichen Ethos durchdrungen werden.
Ausgangspunkt lutherischer Ethik ist die libertas christiana. In
einem berühmten Traktat fasste Luther die «Freiheit eines
Christenmenschen» 1520 in einer paradox klingenden Antithese
zusammen: «Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und
niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht
aller Dinge und jedermann untertan.» Zur Erläuterung seiner
Doppelthese unterschied Luther zunächst zwischen dem geistlichen
inneren Menschen und dem äußeren leiblichen Menschen. Damit
wollte er eine Deutung christlicher Freiheit im Sinne einer
unmittelbaren Selbstdurchsetzung des Individuums verhindern. Der
Mensch ist sowohl coram Deo, durch das Bezogensein auf seinen
Schöpfer, als auch coram homine, durch seine sozialen Bindungen,
de niert. Die lutherische Ethik basiert auf Unterscheidungen, die es
erlauben, eine prinzipielle geistliche Eigenständigkeit des Einzelnen
und zugleich seinen Bezug auf überindividuelle
Kommunikationszusammenhänge wahrzunehmen. Die Prinzipien
sola de und sola gratia zwingen zur Unterscheidung von Glaube und
Werken. Ihnen entspricht die freiheitsdienliche Unterscheidung von
Person und Werk: Kein Mensch geht in seinen Handlungen und
deren Resultaten auf. Jeder ist noch sehr viel mehr und anderes, als
was er aus sich selbst gemacht hat. Die in der Rechtfertigung
erschlossene gottgewährte prinzipielle Freiheit des Einzelnen erlaubt
es, coram hominibus das Handeln des Menschen als Dienst der Liebe
zu quali zieren. Insoweit ist lutherische Ethik Sozialethik. Ihr
zentrales Thema ist der aktive Beitrag des Christen zur Gestaltung
einer friedlichen ö entlichen Ordnung, in der das gemeine Wohl
aller realisiert wird.
Die lutherische Ethik gewann ihr besonderes konfessionelles Pro l
durch den sogenannten «weltlichen Beruf des Christen». Entschieden
brachen Luther und seine Mitstreiter mit den altgläubigen
Konzepten einer Herrschaft der Kirche über die Welt. Auch lehnten
sie die überkommene Zweistufenethik ab, der zufolge von den
Klerikern ein höheres Maß an Sittlichkeit zu erwarten sei als von
den Laien, den einfachen Christen. Die ethische Sonderstellung der
Kleriker war traditionell in der Lehre von der Berufung (vocatio)
zum geistlichen Stand oder zum Mönch-Sein entwickelt worden.
Luther und die ihm folgenden Theologen kritisierten die Vorstellung
der exklusiven geistlichen Berufung einer religiösen Elite, indem sie
dem Immer-schon-berufen-Sein eines jeden Christen Geltung
verscha ten. Der wahre Gottesdienst des Christen liege nicht darin,
irgendwelche besonderen heiligen Handlungen zu verrichten,
sondern in der getreuen, sachgemäßen und aufrichtigen Erfüllung
der alltäglichen Berufsp ichten. Der Schuster ehre Gott, indem er
gute Schuhe herstelle, und die Mutter, indem sie sich liebevoll um
ihre Kinder kümmere. Diese Lehre vom weltlichen Beruf des
Christen lässt sich als ethische Konkretion des «Priestertums aller
Gläubigen» verstehen, mit der das römische Zweiklassenchristentum
von geweihten Priestern und bloßen Laien durch die Idee einer
egalitären Unmittelbarkeit aller Frommen vor Gott ersetzt wird. Das
Wirklichkeitsverständnis wird hier zugunsten einer theologischen
Eigenwürde des «Weltlichen» entklerikalisiert. Das christliche Leben
soll sich gerade nicht in isolierten heiligen Sonderwelten wie den
Klöstern, sondern in der aktiven Aneignung der individuell
gegebenen Welt vollziehen. Der Christ gestaltet das Leben als Dank
für die Gnade der Rechtfertigung, indem er die ihm im Alltag sich
stellenden Aufgaben mit religiös re ektierter Intensität erfüllt.
Für die Confessio Augustana kennzeichnend ist ein streng
funktionales Verständnis der Kirche. Der VII. Artikel bestimmt die
«heilige christliche Kirche» als «die Versammlung aller Glaubigen,
bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen
Sakrament laut des Evangelii gereicht werden». Die Kirche wird also
allein durch Wort und Sakrament, durch Predigt und Abendmahl
konstituiert. Folglich hat ihre äußere Ordnung oder institutionelle
Verfassung keine eigene theologische Dignität. Die Kirche ist hier
ihrem theologischen Begri nach keine Heilsanstalt mehr, keine
Institution, die den Sündern den Weg zum Heil erschließt. Der
Glaube der Frommen wird gerade nicht von der Kirche, sondern
vom Ergri ensein durch das göttliche Wort und von der Wirkung
des Heiligen Geistes her gedacht. In den Fragen der institutionellen
Gestaltung der Kirche konnten die Lutheraner deshalb große
Flexibilität entwickeln. In den deutschen Territorialkirchen wurde
nach deren Anerkennung im Augsburger Religionsfrieden von 1555
die Leitung der Kirchen faktisch dem Landesherrn als
Summepiskopus übertragen; er agierte nun gleichsam als Ersatz für
die Bischöfe. Zur Verwaltung der Kirchen richtete man Konsistorien
ein, die eng in die obrigkeitlichen Behörden eingebunden waren. So
waren die deutschen lutherischen Kirchen extrem staatsnah
organisiert. Erst nach der Revolution von 1918/19 und der
Abscha ung der deutschen Monarchien gewannen die evangelischen
Kirchen stärkere Freiheit vom und gegenüber dem Staat. In den
Kirchenverfassungsdebatten der 1920er Jahre setzte sich in den
lutherischen Landeskirchen ein synodal-episkopales Mischsystem
durch: Die Kirche wird durch einen Landesbischof repräsentiert, der
aber, im prägnanten Unterschied zum römischen Hierarchieprinzip,
keinerlei höhere geistliche Vollmacht hat als irgendein anderer
Pfarrer. Auch leitet er die Kirche keineswegs allein, dank
irgendeiner spezi sch bischö ichen Vollmacht, sondern im
Zusammenspiel mit anderen kirchenleitenden Organen, vor allem
der Synode, zu der die einzelnen Gemeinden ihre Vertreter schicken.
In Skandinavien entstanden lutherische Staatskirchen, deren
Bischöfe auf die apostolische Sukzession Anspruch erhoben. In den
lutherischen Minderheits- und Diasporakirchen Osteuropas und
Südosteuropas wurden unter dem starken Druck der katholischen
und orthodoxen Mehrheit teils presbyterial-synodale Ordnungen mit
hoher Gemeindeautonomie, teils von Bischöfen geleitete Kirchen
gebildet. Auch die Kirchenverfassungen der außereuropäischen
lutherischen Kirchen sind zumeist durch die Verknüpfung von
synodalen mit episkopalen Elementen geprägt.
Mit der Formierung lutherischer Konfessionskirchen bildete sich
auch eine Frömmigkeitskultur, die sich von der Religionspraxis der
Altgläubigen deutlich unterschied. Zunächst gewann die häusliche
Frömmigkeitspraxis großes Gewicht. Dazu gehörten das regelmäßige
Tischgebet, gemeinsames Singen, die Feier der großen kirchlichen
Festtage sowie Hausandachten, bei denen zumeist der Familienvater
einen biblischen Text auslegte, Gott dankte und die Familie dem
Segen des Herrn anvertraute. Auch wurden die Kasualien, die
Gottesdienste anlässlich von Geburt, Trauung und Tod, in den
Familien festlich begangen. Für das religiöse Leben besonders
folgenreich wurde die scharfe Kritik der Reformatoren an der
katholischen Sakramentenlehre. Die römisch-katholische Kirche
kennt sieben Sakramente (Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte,
Krankensalbung, Weihe/Ordination, Ehe). Die Reformatoren
erklärten demgegenüber mit großer theologischer Entschiedenheit,
dass allein Taufe und Abendmahl Sakramente, von Christus
eingesetzte und mit einem sichtbaren Zeichen verbundene
Handlungen, seien. An die Stelle der Firmung – nach katholischer
wie orthodoxer Lehre das zweite der Sakramente –, die von einem
Bischof gespendet wird, trat in den Reformationskirchen die
Kon rmation, als Abschluss einer intensiven Unterweisung in der
christlichen Lehre. Martin Bucer (1491–1551) hatte in der
Ziegenhainer Zuchtordnung 1539 Katechese, Bekenntnis, Seelsorge
und Einführung in das Leben der Gemeinde so miteinander
verknüpft, dass die Kon rmation zum Akt der ausdrücklich
anerkannten gläubigen Mündigkeit des jugendlichen Christen
wurde, der vor der Gemeinde seinen informierten Glauben
bekannte. Als volkskirchliche Sitte setzte sich die Kon rmation zwar
erst in Pietismus und Aufklärung durch. Doch gewann sie im
protestantischen Deutschland großes Gewicht, auch weil sie als ein
Akt gedeutet wurde, in dem der nun zu religiöser Selbstbestimmung
fähige Jugendliche seine Kindertaufe konfessorisch bestätigt. Die
Feier der Kon rmation wurde so zu einem lebensgeschichtlich
herausragenden Fest lutherischer Gemeinde- und
Familienfrömmigkeit.
Der mit der Wittenberger Reformation verbundene tiefgreifende
Wandel der kirchlichen Frömmigkeitspraxis lässt sich an einem
Beispiel veranschaulichen, das bis in die Gegenwart für die
theologischen und religionskulturellen Unterschiede zwischen den
Protestantismen und der römisch-katholischen Kirche
kennzeichnend ist: dem Gedächtniskult der Heiligen. Das solus
Christus zwang die lutherischen Theologen dazu, die überkommene
Vorstellung vom Gnadenschatz der Heiligen und ihren
überschüssigen Verdiensten abzulehnen. Denn kein Mensch habe in
seinem Leben Gottes Gesetz vollkommen erfüllt. Selbst ein
besonders frommer und moralisch hochengagierter Christ bleibe
zutiefst ein Sünder, der des in Christus sich erschließenden
Geschenks der Gnade bedürfe. Dank ihrer
glaubensprogrammatischen Unterscheidung von Person und Werk
mussten lutherische Theologen betonen, dass allein Gott, nicht aber
der Kirche oder irgendwelchen Amtsträgern ein abschließendes
Urteil über einen Menschen und seine Frömmigkeit zusteht. Die
Anrufung von Heiligen, die, so die überkommene kirchliche Praxis,
für den Sünder vor Gott einstehen sollten, lehnten sie deshalb
konsequent ab. Zwar behielten sie zunächst einige Heiligenfeste bei,
scha ten allmählich aber die meisten Gedenktage der Heiligen ab.
In den lutherischen Perikopenordnungen wurden die Feste des
Kirchenjahres zugunsten der biblisch legitimierten großen Feiertage
wie Weihnachten, Karfreitag, Ostern und P ngsten reduziert. In
Schweden scha te man die überkommenen kirchlichen Feiertage ab,
um nach dem Gebot der Sabbatheiligung die Sonntage desto
innerlicher, gehaltvoller feiern zu können. Die in den lutherischen
Kirchen geführten Debatten um eine religiöse Rationalisierung des
kirchlichen Festkanons waren vom protestantischen Arbeitsethos
geprägt. Die Theologen nahmen auch ökonomische Argumente in
Anspruch, wenn sie gegen biblisch nicht gebotene Feste
polemisierten. Lutheraner sollten arbeiten und die von Gott
gewährte knappe Lebenszeit nicht mit frömmlerischem Müßiggang
verschwenden. Mit teils theologisch normativen, teils ökonomisch
pragmatischen Argumenten wurde die Welt entzaubert und eine
neue Ordnung der Zeit institutionalisiert. Im späten 17. und
18. Jahrhundert, unter den Bedingungen von Pietismus und
Aufklärung, wurde die konfessionspolemische Kritik an den vielen
katholischen Feiertagen, Wallfahrten und Prozessionen auch mit der
gottgewollten Individualisierung der Frömmigkeit begründet.
Gegenüber dem innerlichen, im alltäglichen Beruf bewährten
Gottesdienst des Einzelnen sei der äußere Ritus der Kirche immer
nur de zitär. Keineswegs garantiere der Kirchgang das himmlische
Heil der Seele. Gottseligkeit solle sich nicht im Sonntagskult äußern,
sondern an den übrigen Tagen in «Handlungen der
Rechtscha enheit», des arbeitsamen Fleißes, der Menschenliebe, der
Treue gegen Gott und gegen die Obrigkeit, und im geduldigen
Ertragen der Beschwerlichkeiten dieses Lebens.
Besonders stark prägte dieser religiöse Habitus all jene
protestantischen Erneuerungsbewegungen, die im späten 17. und
18. Jahrhundert unter dem Leitbegri des Pietismus auf eine
grundlegende Reform der Kirche, eine «zweite Reformation»,
drängten. 1675 verö entlichte der Frankfurter lutherische Theologe
Philipp Jacob Spener (1635–1705) einen ebenso frommen wie
polemischen Traktat Pia Desideria, in dem gegen das tote
Gewohnheitschristentum in den altprotestantischen Kirchentümern
auf eine neue Individualisierung und Verinnerlichung des
Glaubenslebens gedrängt wurde. Spener wollte durch Konventikel in
den Kirchen (ecclesiolae in ecclesia) den Glaubensernst intensivieren
und zugleich von der Kirche her das Gemeinwesen tiefgreifend
erneuern. Die 1694 gegründete Universität Halle wurde bald durch
August Hermann Francke (1663–1724) zu einem Zentrum der
pietistischen Bewegung, die vielfältige theologische und
kirchenpolitische Kon ikte provozierte. Persönliche Frömmigkeit
gewann Vorrang vor dogmatischer Gelehrsamkeit. In den
Franckeschen Stiftungen bzw. Halleschen Anstalten wurden,
insbesondere in Armenschule und Waisenhaus, Funktionseliten
herangebildet, die Frömmigkeit und Professionalität miteinander
verbanden, um, wie Francke es nannte, «eine reale Verbesserung in
allen Ständen in und außerhalb Deutschlands, ja in Europa und in
allen Teilen der Welt» zu bewirken. Durch innere Erneuerung des
Individuums sollte zugleich die Gesellschaft tiefgreifend reformiert
werden. Die ökonomisch hoche zienten Halleschen
Unternehmungen boten die nanzielle Grundlage für eine expansive
Missionstätigkeit.

Reformierte

Der reformierte Protestantismus wird häu g auch als Calvinismus


bezeichnet. Dieser seit spätestens 1552 nachweisbare, von Calvin
selbst abgelehnte Begri wurde im 16. Jahrhundert von lutherischen
Theologen geprägt, die den wachsenden Ein uss des Genfer
Reformators Johannes Calvin im deutschen Sprachraum bekämpfen
wollten. Zentraler Streitpunkt zwischen den Wittenberger Theologen
und den Vertretern der schweizerischen Reformation war die
Deutung des Abendmahls. In ihrer radikal antimagischen
Glaubensau assung lehnten die Reformierten jede Form der
Abendmahlspraxis ab, in der sie noch Reste magischer Beschwörung
der Verwandlung von Brot und Wein oder einer mystischen
Einwohnung des Auferstandenen in den beiden sinnlichen
Elementen erkennen konnten. Sie deuteten das Abendmahl primär
zeichentheoretisch: Brot und Wein sind Zeichen der Gegenwart Jesu
Christi in der ihn anbetenden, erinnernden Gemeinde, nicht aber
diese Gegenwart selbst.
Die reformierten Kirchen waren theologisch zunächst durch den
Zürcher Reformator Ulrich Zwingli, den Straßburger Martin Bucer
sowie in der zweiten und dritten Generation durch Calvin und
Theodor Beza bestimmt. Den Begri «reformiert» gebrauchten sie als
religionspolitische Programmformel, um deutlich zu machen, dass
die Kirche immer neu «aus dem Evangelium» zu reinigen, den
ursprünglichen Idealen Jesu Christi gemäß zu gestalten sei. Das
Scheitern des Marburger Religionsgesprächs, bei dem 1529 Luther,
Zwingli, Bucer, Melanchthon, Justus Jonas, Johann Brenz und
Stephan Agricola vergeblich versucht hatten, eine gemeinsame
Abendmahlsdeutung zu formulieren, und die konfessionelle
Verselbständigung lutherischer Kirchen führten dazu, dass der
Begri «reformiert» zunehmend als konfessionelle Fremd- und
Selbstbezeichnung für die zweite protestantische Konfession oder
Religionspartei gebraucht wurde. Auch die Reformierten xierten
ihre konfessionelle Identität in Bekenntnisschriften, die die
maßgebliche Lehre und Ordnung des kirchlichen Lebens darstellen
sollten. Neben verschiedenen Bekenntnissen einzelner oberdeutscher
und Schweizer Städte erlangten die 39 Artikel der Kirche von
England (1562/1571) und die Westminster Confession von 1647
große Bedeutung. Für das kirchliche Leben der reformierten Kirchen
im Alten Reich und den Niederlanden wurde der Heidelberger
Katechismus von 1563 grundlegend. Die Jugendlichen mussten im
Kon rmandenunterricht wichtige Passagen des Katechismus
auswendig lernen, und auch in den Presbyterien, den institutionell
starken, ein ussreichen Gremien der Gemeindeältesten, wurden alle
Fragen des Gemeindelebens mit Bezug auf den Heidelberger
Katechismus beraten.
Von den Lutheranern unterscheiden sich die Reformierten nicht
allein durch die theologische Lehre, die Ordnung der Kirche und die
religiöse Praxis. Die religionskulturellen Di erenzen zwischen den
beiden protestantischen Konfessionsfamilien werden vielmehr auch
durch divergente religiöse Ethiken markiert. Die reformierten
Protestanten vollzogen den Bruch mit den Altgläubigen
entschiedener, radikaler als die Lutheraner. Sie entwickelten ein
Verständnis der Praxis der Kirche und des Handelns des Christen in
der Welt, das sich an dem Ideal der Heiligung und der
Durchdringung des ö entlichen Lebens mit dem von Christus
verschärften Gottesgesetz orientierte. Reformierte Ethik ist auf den
Grundton eines entschiedenen Heiligungsaktivismus gestimmt. Wo
die Lutheraner zwei Regierweisen Gottes unterschieden und durch
diese «Zwei-Reiche-Lehre» (eine Begri sbildung der 1920er Jahre)
eine relative Autonomie des Weltlichen betonten, lehrten die
Reformierten die «Königsherrschaft Christi», durch die auch die
politische Obrigkeit zu missionarischem Dienst und unbedingter
Durchführung des Christusgesetzes verp ichtet sei.
Zwingli, Calvin und die anderen reformierten Theologen nahmen
zwar die Impulse der Wittenberger Reformation auf. In den
schweizerischen Städten gewannen jedoch ältere christlich-
humanistische Traditionen der Schriftauslegung sehr viel größeres
Gewicht als im Luthertum. Mit der Frömmigkeitskultur der
spätmittelalterlichen Kirche brach man entschlossener, entfernte die
Bilder aus den Kirchen, scha te die Messe zugunsten einer ganz
schlichten, allein an den Einsetzungsworten orientierten
Abendmahlsfeier ab und ersetzte den überkommenen
responsorischen Gottesdienst durch einen Predigtgottesdienst, in
dessen Zentrum die Verkündigung des gerecht machenden Wortes
Gottes und der Gnadenzuspruch zur Stärkung der Heiligungspraxis
im Alltag standen. Auch wenn dem Prediger die Autorität des
professionellen Auslegers von Gottes Wort zuerkannt wurde,
verstand sich die Gemeinde als Subjekt des Gottesdienstes. Dafür
repräsentativ ist die Feier des Abendmahls. Die Mitglieder der
Gemeinde reichten einander auf einfachen hölzernen Tellern
gebrochenes Brot und in ganz schlichten Kelchen den Wein. So
wurde das allgemeine Priestertum der Gläubigen sinnlich erfahrbar.
In dieser Feier des Gedächtnisses des Kreuzestodes Jesu von
Nazareth wollte man eine innerlich bindende Gemeinschaft stiften,
die über den Gottesdienst hinaus, im Alltag des dichten
Gemeindelebens, dem einzelnen Halt, Schutz und Hilfe in konkreter
Not bieten sollte.
Auch die reformierten Kirchenordnungen waren von der Tendenz
geprägt, das Priestertum aller Gläubigen sichtbar werden zu lassen.
Das Bischofsamt lehnte man als unevangelisch ab. Das
überkommene hierarchische System wurde zugunsten einer
di erenzierten Selbstregierung der einzelnen Gemeinden ersetzt. Mit
der «Genfer Kirchenordnung» führte Calvin 1541 ein presbyteriales
System der Gemeindeleitung durch Pastoren, Doktoren, Älteste und
Diakone ein. Die Betonung der Autonomie der einzelnen
Gemeinden, deren Selbstregierung durch die Presbyterien und die
Bildung übergemeindlicher Synoden trugen dazu bei, dass in den
reformierten Kirchen intensiv auch Ideale republikanischer
Bürgerfreiheit entwickelt wurden. Die Freiheit eines
Christenmenschen wurde kommunitär, von der umfassenden
Einbindung des Einzelnen in die christliche Gemeinde her und mit
Blick auf das gemeine Wohl aller gedacht. Die calvinistische
Kirchentheorie und Sozialethik betonen sehr stark die
«Kirchenzucht». Die in der Confessio Augustana formulierten zwei
notae ecclesiae, «reine Predigt des Evangeliums» und «reine
Sakramentsspende gemäß göttlichem Wort», wurden in den
reformierten Bekenntnissen um ein drittes Kennzeichen der Kirche
erweitert. Angesichts der immer neuen Bedrohung durch Rom
einerseits und mit Blick auf die anarchisch-schwärmerischen
Gruppen der reformatorischen Bewegung andererseits erklärte man
die «disciplina» der Gemeinde zum dritten konstitutiven Merkmal
der wahren Kirche. Deshalb gewann die sogenannte «Kirchenzucht»
in den reformierten Kirchen eine sehr viel größere Bedeutung als im
Luthertum. Durch Kirchenzucht sollte die geistliche wie moralische
Einheit der Gemeinde gewahrt und sichergestellt werden, dass jeder
seinen Nacken unter das Joch Christi beuge, sich als dienendes Glied
des Christusleibes verstehe und ein heiliges Leben im Dienst an den
Brüdern führe. Erst die Kirchenzucht erö nete jeder einzelnen
Gemeinde den Weg zur Heiligkeitsgemeinde. Die reformierte
Sozialethik tendiert daher zu einer radikalen Moralisierung der
ö entlichen Ordnung.
Die souveräne Alleingeltung des göttlichen Gesetzes bestimmte
auch die politische Ethik des Calvinismus. Aller christlichen
Obrigkeit wurde die Autorität zuerkannt, im Namen Gottes dessen
Gesetz als ö entliche Ordnung durchzusetzen. Mit der Rückbindung
politischer Autorität an den Gesetzeswillen Gottes erhielt die
Obrigkeit auch das Mandat, den wahren christlichen Glauben gegen
Irrlehrer und Verfolger zu schützen und die Durchsetzung der
Normen heiligen Lebens zu fördern. So wurden auch die politischen
Obrigkeiten für die Realisierung der «Königsherrschaft Jesu Christi»
in Anspruch genommen. Im Unterschied zur lutherischen «Zwei-
Reiche-Lehre» tendierte die reformierte Ethik des Politischen immer
zur theokratischen bzw. christokratischen Sakralgestaltung des
Gemeinwesens in allen seinen Institutionen. Eine eigene Dignität des
Weltlichen ließ sich theologisch in calvinistischen Denk guren,
insbesondere in der Lehre von der doppelten Prädestination oder der
sogenannten Föderaltheologie, der Lehre von Gottes
Erwählungsbund zunächst mit Israel, dann durch Christus mit der
Kirche, jedenfalls viel schwerer begründen als in lutherischen
Theologien. Die hohen Heiligkeitsideale, an denen man die eigene
Lebensführung ausrichtete, verbanden sich häu g mit Moralterror
gegenüber Andersdenkenden, Laxeren. Gern wurde betont, dass man
gegen das Böse und die Bösen «heilige Kriege» führen müsse.
Die unmittelbare Rückbindung politischer Autorität an den
souveränen Gesetzeswillen Gottes hatte langfristig ambivalente
Folgen. Die Tendenz zur religiösen Übermoralisierung des
Politischen erö nete den einzelnen Gemeinden und Christen auch
bestimmte Freiheitschancen im Verhältnis zur Obrigkeit. Stärker als
viele lutherische Theologen erkannten die führenden reformierten
Theologen den Bürgern ein Recht auf Widerstand gegen eine
Obrigkeit zu, die Gottes Gesetz missachte. Besonders prägnant
wurde diese calvinistische Lehre von Theodor Beza (1519–1605)
formuliert. Nach der Bartholomäusnacht von 1572 entwickelte er
eine Theorie politischer Autorität, die später für demokratische
Partizipationsansprüche der Regierten in Anspruch genommen
wurde. Politische Autorität werde den Regierenden von Gott allein
durch das Volk zuerkannt. Dem Volk komme deshalb das von Gott
gewollte Recht zu, unter der Führung gewählter Vertreter
widergöttliche Tyrannen zu stürzen. Auch mit dieser Lehre vom
Recht auf Widerstand entfaltete der reformierte Protestantismus
indirekt modernisierende Wirkungen, weil nun die unmittelbare
Autorität der Obrigkeit re exiv gebrochen und der fromme Bürger
als eine eigene normative Instanz der Gestaltung des Politischen
anerkannt war. Auch im Diskurs über die Idee religiöser Toleranz
und den Debatten über Glaubens- und Gewissensfreiheit, den
calvinistische Theologen und Theoretiker des Politischen in England,
Frankreich und den nordamerikanischen Kolonien seit dem frühen
17. Jahrhundert intensiv führten, wurde jene Hochschätzung
individueller Autonomie gedanklich vorbereitet und entfaltet, die
für die moderne Institutionalisierung vorstaatlicher Menschen- bzw.
Grundrechte des Einzelnen grundlegend ist. Besonders starken
Ein uss gewann der puritanisch geprägte Philosoph John Locke
(1632–1704), ein theologisch hochgebildeter Repräsentant der
frühen Aufklärung, der in seinen Two Treatises of Government mit der
Lehre vom Gesellschaftsvertrag das Gottesgnadentum der Könige
verwarf und durch die entschiedene Betonung der gottgewollten
Gleichheit der Menschen vor ihrem Schöpfer wie vor dem Gesetz die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung stark prägte.

Anglikaner
Auch das englische Christentum wurde im 16. Jahrhundert von
reformatorischen Bewegungen geprägt. Doch verlief «die
Reformation» auf den Britischen Inseln ganz anders als in
Kontinentaleuropa. Dies hat der Geschichte des Christentums in
England und im einstigen britischen Empire bis heute ein eigenes
Pro l gegeben. Die aus der Reformation hervorgehende Church of
England und die Gemeinschaft der anglikanischen Kirchen sind zwar
stark von den Wittenberger Grundimpulsen wie auch von der
kritischen Auseinandersetzung mit der Genfer Reformation
beein usst. Aber sie weisen in Liturgie, Festkalender,
Kirchenverfassung, Konzeption der kirchlichen Ämter,
Traditionsbindung, theologischem Denkstil und politischem
Selbstverständnis viel größere Nähe zur römisch-katholischen Kirche
als jede andere protestantische Glaubensgemeinschaft auf.
Bedeutende Theologen und Kirchenvertreter der Church of England
haben sich seit dem 18. Jahrhundert dem Katholizismus religiös
enger verbunden gefühlt als den verschiedenen Protestantismen
einschließlich des Luthertums. Der kleinen römisch-katholischen
Minderheit im Land wurde indes erst im frühen 19. Jahrhundert
Religionsfreiheit zugestanden, und noch heute ist die Church of
England gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften des
United Kingdom privilegiert, nicht zuletzt durch die symbiotischen
Beziehungen zwischen Kirche und Monarchie. In der inzwischen
stark multireligiös geprägten britischen Gesellschaft lassen sich im
Verhältnis von Anglikanern, freikirchlichen Protestanten und
Katholiken neuerdings jedoch folgenreiche Verschiebungen
beobachten. Angesichts der massiven inneren Kon ikte in den
anglikanischen Kirchen gewinnt bei vielen der High Church
verbundenen Anglikanern ein identitätsstarker konservativer
Katholizismus, wie er im frühen 21. Jahrhundert durch Papst
Benedikt XVI. theologisch souverän repräsentiert wurde, eine hohe
Faszinationskraft. Mehrere prominente Angehörige der britischen
upper class, wie insbesondere der ehemalige Premierminister Tony
Blair, sind in den letzten Jahren demonstrativ und mit hoher
medialer Resonanz zum Katholizismus konvertiert.
Aufgrund des britischen Kolonialismus und Imperialismus sowie
dank einer intensiven Missionstätigkeit existieren schon seit
Jahrhunderten zahlreiche mitgliederstarke und traditionsstolze
anglikanische Kirchen außerhalb der Britischen Inseln. Lediglich auf
dem indischen Subkontinent war die Konkurrenz anderer
europäischer Akteure so stark, dass die Anglikaner hier nur eine
vergleichsweise kleine Minderheit blieben. Die verschiedenen
anglikanischen Kirchen, die in den USA auch als «Episcopalian
Churches» rmieren, haben sich 1867 in der ersten Lambeth-
Konferenz ausdrücklich als globale «Anglican Communion»
konstituiert. Die innere Einheit dieser Gemeinschaft wird in der
Gegenwart allerdings durch massive ethische Kontroversen bedroht.
In Großbritannien, den USA, Australien und in Neuseeland werden
die anglikanischen Kirchen entscheidend von den weißen
bürgerlichen Mittelschichten getragen. Nach den harten
religionskulturellen und theologischen Auseinandersetzungen des
19. Jahrhunderts haben viele anglikanische Bischöfe in diesen
Kirchen einen Kurs teils ideologisch forcierter, teils behutsam
pragmatischer Ö nung für die moralische Pluralisierung in den
westlichen oder westlich geprägten o enen Gesellschaften verfolgt.
Die anglikanischen Kirchen in der «Dritten» und «Vierten Welt», die
zumeist im Kontext des britischen Kolonialismus und Imperialismus
seit dem späten 18. Jahrhundert entstanden, halten demgegenüber
an einer rigiden konservativen Sozialmoral fest und setzen in allen
Fragen kirchlicher Lehre auf klare Identität durch entschiedene
Traditionsbewahrung. Streitthemen waren, wie im 20. Jahrhundert
auch in diversen lutherischen Kirchen, die Ordination von Frauen,
Reformen der Liturgie hin zu mehr legitimer Vielfalt, die einer
klassischen Trauung mehr oder minder analoge kirchliche Segnung
von Paaren in staatlich legalisierten «same sex partnerships» und
derzeit vor allem die Frage, ob o en gelebte Homosexualität mit
dem Amt der Verkündigung und Sakramentenspendung vereinbar
ist. Die Church of England kennt verheiratete Priesterinnen, lehnt es
aber ab, Frauen zum Bischofsamt zuzulassen, und sieht in
Homosexualität einen Ausschlussgrund – was unter nicht wenigen
Klerikern nur Doppelmoral befördert hat. In der «Episcopal Church»
der USA, einer traditionsbewussten und politisch höchst
ein ussreichen Tochterkirche der Anglikaner, predigen nicht nur
homosexuelle Priester, sondern seit drei Jahren auch ein
demonstrativ homosexuell lebender Bischof, dem allerdings einige
Diözesen seiner Kirche und die Church of England sowie viele
andere Kirchen in der Anglican Communion die Anerkennung
verweigern. 2006 ist mit Katharine Je orts Schori erstmals eine
Frau an die Spitze der «Episcopal Church» gewählt worden, und
auch ihr wird von einigen Diözesen der eigenen Kirche jegliche
Autorität bestritten. Die Gefahr eines Schismas, einer Spaltung der
Episkopalen in einen liberal-progressiven Gemeindeverband und
eine konservative Kirche, droht nun ebenso wie insgesamt das
Auseinanderbrechen der weltweiten Anglican Communion, auch
wenn deren damaliges symbolisches Oberhaupt Rowan Williams,
von 2002 bis Ende 2012 Erzbischof von Canterbury, vor kurzem
einen Zwei-Stufen-Anglikanismus als Lösung der tiefen Kon ikte
vorgeschlagen hat: Traditionsbewussten Kirchen und Gemeinden
soll in den Lambeth-Konferenzen volles Stimmrecht zukommen,
während die verschiedenen progressivliberalen weniger Ein uss
haben sollen. Wer je nach Mode, Sinnoption und politischem
Standpunkt Gott für eine starke Frau halte, Jesus für seine
politischen Zwecke vereinnahme, über die Ö nung der Kirche für
alles und jedes nur Traditionsvergessenheit festschreibe und gar die
normative Autorität der Bibel relativiere, sei nun einmal nicht in
derselben Weise ein anglikanischer Christ wie jener Fromme, der
den eigenen Glauben in bewusster Übereinstimmung mit den
überlieferten Bekenntnissen zu leben versuche.
Bis heute ist die Church of England sehr stark ver ochten in das
komplexe politische Institutionengefüge des Vereinigten
Königreichs. Sie ist – mit der Queen als weltlichem Oberhaupt – eine
established church, die im Mutterland der Demokratie noch immer
vielfältige Privilegien genießt. Bischöfe sind Mitglieder des House of
Lords, der Premierminister besitzt Mitwirkungsrechte bei der
Ernennung von Bischöfen, und die Nähe zur Krone wird in zahllosen
Riten und Symbolen sichtbar. Auch repräsentiert der Erzbischof von
Canterbury in den stark von traditionellen Zeichenspielen zehrenden
politischen Diskursen der britischen Gesellschaft weit mehr als nur
eine spezi sch religiöse Autorität, trotz der schnellen
religionspluralistischen Enttraditionalisierung des britischen
Religionsmarktes. Bei der ö entlichen Trauer um Diana bot die
anglikanische Kirche mit ihrem reichen Fundus an Liturgien,
Gebeten und Liedern die auch von Andersgläubigen ganz
selbstverständlich anerkannte Bühne des staatso ziellen
Trauerschauspiels, freilich mit einer durchaus fatalen Folge: Je mehr
die anglikanische Kirche als Religion primär des adeligen
Establishments oder der weißen Mittelklasse in Erscheinung tritt,
desto mehr droht sie mit einem Großbritannien von gestern
identi ziert zu werden, das es dank der kulturellen Brüche seit den
1960er Jahren und der vielfältigen Einwanderung von Menschen
aus aller Welt nur noch in der Erinnerung älterer Nostalgiker gibt.
Gerade deshalb gewinnen für die weitere Entwicklung der Anglican
Communion die vielen jungen Kirchen außerhalb des Mutterlandes
an Gewicht. Hier ist eine bemerkenswerte Tendenz zu beobachten:
Gerade die anglikanischen Kirchen außerhalb des einstigen British
Empire – in Afrika, Japan, Südamerika – wachsen sehr viel schneller
als ihre Schwesterorganisationen in den ehemaligen Kolonien. Die
schwarzen Anglikaner sind in ihrem Glaubenskonservatismus
ungleich mobilisierungsfähiger und gottesbegeisterter als die
bisweilen ratlos wirkenden anglikanischen Funktionseliten in den
einstmals genuin britischen Glaubens- und Lebenswelten.

Baptisten

Die ersten Baptistengemeinden entstanden vor dem Hintergrund


puritanischen Separationseifers. «General Baptists» und «Particular
Baptists» lassen sich in England seit den ersten Jahrzehnten des
17. Jahrhunderts nachweisen und sahen sich von Beginn an
Verfolgungen ausgesetzt. Als Verfechtern der Gläubigentaufe und
der uneingeschränkten Religionsfreiheit drohte ihnen zunächst ein
ähnliches Schicksal wie den frühen täuferischen Bewegungen, die
aus den Wirren des reformatorischen Aufbruchs hervorgegangen
waren.
In der Schweiz, in Ober- und Mitteldeutschland, aber auch in den
Niederlanden und am Niederrhein hatten sich in den 1520er Jahren
Zentren des Täufertums gebildet – unkoordiniert, oft mystisch
inspiriert, von visionärer Endzeiterwartung beherrscht und auf
charismatische Predigergestalten (Thomas Müntzer, Balthasar
Hubmaier, Hans Hut) ausgerichtet. Die zentrale Symbolhandlung
der Erwachsenentaufe, Befreiungsimpulse sozialer Bewegungen und
suggestive Formeln reformatorischer Theologie verschmolzen bald
miteinander in vielgestaltigen Formen religiöser Gruppenbildung,
deren teils welt üchtige, teils militante Züge gerade auch
reformatorisch gesinnte Zeitgenossen – Theologen wie Vertreter der
Obrigkeit – beunruhigten. «Wiedertäufern», «Anabaptisten», drohte
seit dem Speyerer Reichstag von 1529 als Aufrührern die
Todesstrafe, und so erlitten täuferisch Gesinnte fortan stille
Verfolgung oder, wie in Münster 1535, spektakuläre Vernichtung.
Einzelnen Gemeinschaften gelang der Rückzug in die geduldete
Isolation: So überlebten die von Jakob Huter (um 1500–1536) in
Mähren begründeten Gruppen, die auf ihren «Bruderhöfen»
Gütergemeinschaften nach biblischem Vorbild p egten, alle
Repressionswellen. Die Hutterischen Brüder (oder: Hutterer)
siedelten sich nach der Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat
im 17. Jahrhundert in der Ukraine an und wanderten 1874
geschlossen nach Kanada und in die USA aus. Dort orientieren sie
sich als erklärte Pazi sten bis heute – in mehr als 400 «Kolonien»
mit über 40.000 Mitgliedern – am idealen Dreiklang ihrer
Ursprungsjahre und praktizieren die Verbindung von religiöser
Kontemplation, asketischer Lebensführung und wirtschaftlichem
Aktivismus.
Erfolgreicher noch gelang einer anderen täuferischen
Denomination das Bestehen in der modernen Welt: Wie die Hutterer
zählen auch die etwa 1,2 Millionen Mennoniten zu den Geisteserben
des frühen Täufertums. Der ehemalige katholische Priester Menno
Simons (1496–1561) sammelte seit Ende der 1530er Jahre
versprengte Täufergruppen um sich und arbeitete unter Betonung
strenger Kirchenzucht an ihrer Disziplinierung als
Gemeindeverband. Orientiert am Ideal der Nachfolge Christi, ohne
anspruchsvollen theologischen Konstruktionseifer, friedfertig und
gewaltlos, verbreiteten sich «Mennoniten», «doopsgesinde»
(Taufgesinnte), im 16. und 17. Jahrhundert vor allem im
niederländisch-niederdeutschen Raum und siedelten sich in der
Folgezeit auch als gefragte, mit obrigkeitlichen Privilegien
versehene Kolonisten in Preußen, Polen (Weichselniederung) und
Russland an. Der ursprüngliche täuferische Gestus radikaler
Weltverweigerung, sinnbildlich greifbar etwa im Verbot der
Eidesleistung, wich mit wachsendem wirtschaftlichen Erfolg und
schwindender Vernichtungsdrohung einer gelasseneren Daseinsform
als staatsferne Freikirche. Unter dem elsässischen Prediger Jakob
Ammann (1644 – vor 1730), der das Festhalten an strenger
Gemeinschaftsdisziplin und Weltabgewandtheit forderte, spaltete
sich 1693 die Gruppe der Amischen ab. Die meisten Mitglieder
wanderten im 18. Jahrhundert unter dem Druck von Verfolgungen
nach Nordamerika aus, vor allem nach Pennsylvania; ihre Zahl wird
heute auf rund 200.000 geschätzt. Nicht zuletzt die
Verfolgungswellen unter den totalitären Regimen des
20. Jahrhunderts förderten das weltweite Ausgreifen mennonitischer
Gemeinden, mit neuen Siedlungsschwerpunkten in Nord-, Mittel-
und Südamerika.
Nur vage Ein usslinien führen von mennonitischen
Täufergruppen zu den Selbstverständigungsdebatten der frühen
Baptisten in England um 1600. Gerade die Eigenständigkeit, die
Abgrenzung vom kontinentalen Täufertum, galt es hier zu betonen,
etwa im Bekenntnis von 1611 A Declaration of Faith of English People
Remaining at Amsterdam in Holland. Dieses und andere Dokumente
früher Standortbestimmung in Form von «confessions» (1644 The
First London Confession) waren eher auf einen calvinistischen Ton
gestimmt. Erst im Zuge der Glorious Revolution ö neten sich im
Mutterland der baptistischen Gemeinden Toleranzräume, später
gelang die Gründung einer Missionsgesellschaft (1792). Der Aufbau
stabiler Organisationsstrukturen im 19. Jahrhundert wurde 1905
durch das erste Zusammentreten der Baptist World Alliance in
London gekrönt. Keinen Zweifel ließen die Vertreter baptistischer
Gemeinschaften durch die Jahrhunderte daran, dass sie sich als Teil
der protestantischen Konfessionsfamilie und Erbe reformatorischer
Grunderrungenschaften begri en – wenngleich neben dem
spezi schen Taufverständnis auch das kongregationalistische
Kirchenmodell und das Eintreten für die strikte Trennung von Staat
und Kirche immer wieder Di erenzerfahrungen, Ausgrenzung und
Abstandsdenken forcierten. Gar nicht überschätzt werden können
die baptistischen Missionserfolge, zumal in Nordamerika, wo die
einst als Sektierer Verfolgten in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts zur größten protestantischen Gruppierung
aufstiegen, bevor sie in der zweiten Hälfte zahlenmäßig hinter die
P ngstkirchen zurück elen. Freiheitselan und Verkündigungsmut
der Prediger – etwa in der «Social Gospel»-Bewegung – halfen,
gerade auch die afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen in ein
ethnisch heterogenes, sozial tief zerklüftetes Gemeinwesen zu
integrieren, und trugen zur «Stiftung von Identität und Gemeinschaft
für ein ganzes Volk» bei (Bill J. Leonard). Die große politische
Bedeutung der baptistischen Kirchen in den USA mit ihren rund
33 Millionen Gläubigen zeigte sich vor allem im Civil Rights
Movement der 1950er und 1960er Jahre, als zahlreiche baptistische
Prediger, allen voran der am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee,
ermordete Friedensnobelpreisträger Martin Luther King, durch
gewaltlosen Widerstand die Aufhebung der Rassentrennung und die
Gleichberechtigung der Afroamerikaner erkämpften.

Methodisten

In den Kirchen der Methodisten sind heute über 80 Millionen


protestantische Christen in mehr als 110 Ländern organisiert. Ihre
Ursprünge reichen zurück in die erregten religiösen
Diskurslandschaften im England des 17. Jahrhunderts und sind nicht
zu trennen von Person und Wirkung John Wesleys (1703–1791), der
als eine der großen, charismatischen Predigergestalten des
18. Jahrhunderts und unterstützt von seinem Bruder Charles, einem
ungemein produktiven Liederdichter, seit den 1730er Jahren die
ein ussreichste englische Erweckungsbewegung ins Leben rief. Sohn
eines anglikanischen Pfarrers, von Zinzendorfs Herrnhuter
Brüdergemeine beein usst, auch politisch ambitioniert, auf diesem
Feld aber wenig erfolgreich, setzte Wesley zunächst beinahe
ausschließlich auf die emotional vergemeinschaftende Kraft
dramatischer Bekehrungserlebnisse und einen gefühlsbetonten
Predigtstil. In Liedern verdichtete Erlösungsfrömmigkeit und
innovative Gottesdienstformen, vor allem aber die forcierte
Etablierung von lokal organisierten Gemeinschaften außerhalb der
hierarchisch starren Gemeindereglements der Amtskirche, die von
Laien geführt werden, verscha ten der neuen Bewegung raschen
Zulauf. 1769 sandte Wesley die ersten Missionare nach
Nordamerika, wo es den enthusiastischen Erweckungspredigern
gleichfalls gelang, trotz politisch widriger Umstände der
methodistischen Bekehrungsbotschaft eine suggestive Dynamik zu
verleihen. Besonders erfolgreich war der Methodismus in den
Südstaaten. Kennzeichnend für die Durchsetzung des
nordamerikanischen Methodismus ist die Sozialgestalt des
sogenannten circuit riders, des reitenden Wanderpredigers, als dessen
idealtypische Verkörperung Francis Asbury bereits vorgestellt
wurde. Diese Prediger besaßen in der Regel weder eine
anspruchsvollere theologische Ausbildung noch eine prägnante
Vorstellung von den Wesenskennzeichen der Kirche, waren dafür
aber in der Lage, den massenwirksamen volkssprachlichen
Predigtton zu tre en, die Alltagsentbehrungen der Siedler im noch
weithin unerschlossenen Kontinent zu teilen und in spontanen
Versammlungen ein spirituell überhöhtes Gemeinschaftsgefühl zu
erzeugen.
Im Unterschied zu England, wo aus Gründen des Glaubens immer
wieder eine allzu starke Autorität der Kleriker bestritten wurde,
wählten die nordamerikanischen Methodisten bald Bischöfe, die
auch die Leitung der den Distriktstre en übergeordneten Jahres-
bzw. Generalkonferenzen übernahmen. Religionstypologisch gilt der
Methodismus als die letzte größere, bald weltweit aktive
protestantische Kirchenbildung. Genau genommen handelt es sich
jedoch nicht um eine Kirche, sondern – dem in der britischen wie
nordamerikanischen Religionsgeschichte entstandenen
denominationalen Assoziationstypus entsprechend – um ein breit
di erenziertes Spektrum regionaler methodistischer Kirchen und
Bewegungen. Nicht alle von methodistischer
Erweckungsfrömmigkeit und dem theologischen Denkstil Wesleys
geprägten, insoweit methodistisch beein ussten religiösen Akteure
gehören der 1881 gegründeten Ökumenischen Methodistischen
Konferenz (seit 1951: World Methodist Council) an, dem
internationalen Koordinationsrat der verschiedenen methodistischen
Kirchen. Dies gilt insbesondere für die Heilsarmee, eine aus der
Londoner Zeltmission des ehemaligen Methodistenpredigers William
Booth (1829–1912) hervorgegangene überkonfessionell konzipierte
und auf diakonisches Handeln an sozialen Brennpunkten
konzentrierte Erweckungsbewegung, und für die 1909 in Chile
entstandene Methodist Pentecostal Church.
Methodistisches Erbe lebt auch jenseits der Gemeinschaft
methodistischer Kirchen weiter. Die evangelikale Bewegung, die sich
Mitte des 19. Jahrhunderts auch organisatorisch verfestigte (1846
Evangelical Alliance), entstammt gleichfalls den
Erweckungsbestrebungen im kirchenskeptischen Milieu der
Protestantismen des so rationalitätsstolzen 18. Jahrhunderts. Der
zentrale Rang des persönlichen Bekehrungserlebnisses, die
kompromisslose Orientierung an der Bibel und das emphatische
Bekenntnis zu Evangelisation und Mission zeigen die Nähe
evangelikaler Strömungen zu methodistischen Grundüberzeugungen.
Die fehlende Trennschärfe des Leitbegri s «evangelikal» erschwert
freilich präzise institutionelle oder konfessionskundliche
Zuordnungen: Bis heute gehört die Mehrzahl der Christen, die sich
als «evangelikal» verstehen, nichtevangelikalen Kirchen an.
Gerade die Anfänge der methodistischen Bewegung verweisen
zudem auf die seit Anfang des 20. Jahrhunderts rasant
expandierenden P ngstkirchen. Waren die sogenannten «camp
meetings» der frühen Methodisten nicht selten von ekstatischen
Ausbrüchen, Tränen uten und Massenohnmachten unter freiem
Himmel begleitet, so gewinnt auch für die pentecostals der
Gegenwart die Körperlichkeit der Glaubenserfahrung besondere
Bedeutung.
Europäer sehen in den Kirchen archaische Institutionen, die
inmitten beschleunigter Wandlungsprozesse altehrwürdige
Überlieferungen repräsentieren. Kirche wird mit der Vergangenheit,
dem in allem Wandel Bleibenden und einer immer gleichen,
änderungsresistenten Botschaft assoziiert. Dies erschwert es vielen
Europäern, die dramatischen religionskulturellen Transformationen
außerhalb Europas wahrzunehmen. Trotz der
Entkirchlichungsprozesse, die sich in zahlreichen europäischen
Gesellschaften erkennen lassen, ist das Christentum noch immer
eine relativ schnell expandierende Religion. Vor allem in Ländern
der «Dritten» und «Vierten Welt» lassen sich neue
Christianisierungswellen beobachten. Neue Formen des
Protestantismus spielen bei dieser Expansion eine Vorreiterrolle.

P ngstler

Zur schnellen Ausbreitung des Protestantismus tragen Christen bei,


deren Frömmigkeitsstil auf viele europäische Bürger irritierend,
wenn nicht abstoßend wirkt: die sogenannten Pentecostals
(P ngstler) und die von ihnen beein ussten Charismatiker. Keine
andere Form des Christentums hat die Religionsgeschichte des
20. Jahrhunderts so tiefgreifend verändert wie die sogenannte
P ngstbewegung. Seit den sechziger Jahren spaltete sich von ihr die
sogenannte charismatische Bewegung ab. Die faszinierende, erst
unzureichend erforschte Geschichte der P ngstbewegung beginnt
um 1900 im Milieu des evangelikalen Methodismus der USA.
Hundert Jahre später verstehen sich bereits mehr als eine halbe
Milliarde Menschen als Pentecostals, das heißt vom heiligen
P ngstgeist neu ergri ene Christen. Aus der Religionsgeschichte der
Moderne ist keine andere christliche Reform-, Erweckungs- und
Missionsbewegung bekannt, die sich vergleichbar schnell weltweit
durchzusetzen vermochte.
Die Anfänge der P ngstkirchen und ihre Genese aus dem Geist des
methodistischen Protestantismus werden in der Forschung
kontrovers diskutiert. Viele Historiker der Bewegung sehen in dem
schwarzen methodistischen Laienprediger William Joseph Seymour
(1870–1922) den ersten Künder des neuen antirational ekstatischen
Protestantismus. Andere Religionshistoriker verweisen darauf, dass
die innovativen religiösen Ideen von dem jungen Methodistenpfarrer
Charles F. Parham (1873–1929) entwickelt wurden. Parham war
eine schillernde, widersprüchliche Gestalt. Ein schweres
rheumatisches Leiden sensibilisierte ihn für mögliche
Zusammenhänge zwischen körperlicher Gesundheit und religiösem
Heil. Traumatische Erfahrungen mit Ärzten, die seine
Homosexualität therapieren wollten, bearbeitete er durch eine
radikale Kritik des modernen medizinischen Glaubens an eine
wissenschaftlich exakte, abschließende De nition des Individuums.
1895 verließ Parham die methodistische Kirche und begann mit
«Geistheilungen». In deren Zentrum stand die Taufe durch den
Heiligen Geist, die er, analog zum «P ngstwunder» der
Apostelgeschichte, durch «Zungenreden» bestätigt sehen wollte.
Unter Handau egung und kurzem Gebet des Predigers errichtete
sich Parhams Personalgemeinde ein sozioakustisches Heiligtum
spontaner Zungenrede (Glossolalie). Parhams methodistische
Anhänger kultivierten ein charismatisches Erwählungsbewusstsein
und sahen sich als die Avantgarde der wahrhaft Frommen,
Geisterleuchteten. Dazu trug eine typisch amerikanische
Erwählungstheologie bei. So wie sich die Pilgerväter der
Massachusetts Bay Colony (1629) als Gemeinschaft mit besonderem
Gottesbezug gesehen hatten, so beschwor auch Parham eine direkte
Kontinuität zwischen Gottes erwähltem Volk Israel und Briten wie
weißen Amerikanern. In den Angelsachsen sah der dem Ku-Klux-
Clan nahestehende Heilungsprediger Nachfahren der in der
assyrischen Deportation verschwundenen zehn Stämme Israels. Mit
Symbolen des Alten Testaments grenzten sich seine Geistgetauften
von der Masse der verlorenen Sünder ab, die primär Afroamerikaner
waren. Die synkretistische Verschmelzung des überkommenen
calvinistischen Erwählungsglaubens mit einem modernen Rassismus
prägte viele P ngstgemeinden der nordamerikanischen weißen
Mittelklasse. Der P ngstgeist, der sie beseelte, garantierte ihnen
Ordnung, Autorität, Familienwerte, starke Gemeinschaftsbindungen
und die Überlegenheit des neuen, amerikanischen Israels über
dessen böse Feinde, etwa die Kommunisten.
Parhams schwarzer Schüler Seymour durfte die Predigten des
Lehrers nur vor der Kirchentür hören, weil sich im Gotteshaus allein
die Weißen begeistern lassen wollten. So beschwor er den Heiligen
Geist, um die Grenzen von Rasse, Stand, Geschlecht und Bildung zu
überwinden. Berühmt wurde der Prediger einer schwarzen
Gemeinde in Los Angeles 1906, als sich weiße Professoren
gemeinsam mit schwarzen Waschfrauen, asiatischen Kau euten und
mexikanischen Arbeiterwitwen zu Buße und Umkehr erwecken
ließen. Die bürgerliche Presse hatte für den «selbst ernannten
Negerpropheten» nur Spott übrig. Seymours Anhänger aber sahen
sich darin bestätigt, gleich Jesu Jüngern von aller Sündenlast befreit
worden zu sein. In Spirituals und Gospel Songs bezeugten schwarze
P ngstler die Erfahrung, trotz aller äußeren Unterdrückung
innerlich frei zu sein. Indem sie Gott auf der Seite der Mühseligen
und Beladenen sahen, konnten sie sich als wahre Herren der Welt
vorstellen. Durch Zungenreden, Traumdeutung, ekstatischen Tanz,
spontanes ö entliches Gebet und wundersame Heilung von alten
Gebrechen erschlossen sie sich eine starke Identität. In den
symbolischen Sprachen der christlichen Überlieferung begründeten
sie eine neue moralische Ökonomie. Vielen Schwarzen verhalf der
ekstatische P ngstglaube zu einer aktiven Lebenshaltung, die
sozialen Aufstieg in die Mittelschicht ermöglichte. Stärker noch als
andere Protestanten sind die Pentecostals von der befreienden
Wirkung des Heiligen Geistes überzeugt. Die Geschichte ihrer
Erweckungsbewegung konnten sie als eine Bestätigung ihrer
religiösen Grundüberzeugungen lesen. Jedenfalls breitete sich
Seymours «Azusa-Street-Mission» innerhalb der USA in kürzester
Zeit «wie ein Feuer» – so die klassische Metapher der vom
P ngstgeist Ergri enen – aus.
In Afrika, Lateinamerika und Asien ließen sich p ngstliche
Frömmigkeitspraktiken leichter als die rationale, wortorientierte
Verkündigung der alten protestantischen Kirchen mit einheimischen
religiösen Traditionen verschmelzen. Die großen Missionserfolge der
P ngstkirchen erklären sich auch durch ihre undogmatische
Flexibilität in Lehrfragen. Ihre O enheit bot die Chance zur
Anknüpfung an Rituale und Symbole anderer Religionen und
Kulturen. Afrikaner konnten den Heiligen Geist als Sieger über
Dämonen und böse Geister, als Inbegri aller guten heilenden
Geister der je eigenen Tradition annehmen. Lateinamerikanischen
Katholiken erö nete der Geist asketischer Sittenstrenge die Aussicht
auf ein anständiges Leben in bürgerlichem Wohlstand und Ansehen.
In Asien führte der von den Charismatikern gefeierte Heilige Geist
Menschen dazu, dumpfe Passivität zugunsten tätiger Weltgestaltung
zu überwinden. Die unterschiedlichen protestantischen
P ngstkirchen sind jeweils durch synkretistische Verschmelzung
indigener religiöser Traditionen mit christlichen Symbolen geprägt.
Trotz der großen Vielfalt religiöser und kultureller Überlieferungen,
an die die P ngstkirchen bei ihrer aggressiven Mission anknüpfen,
bleibt in ihrer streng biblizistischen Theologie aber der entschiedene
Bezug auf den auferstandenen «Herrn Jesus» bestimmend. Es geht
ihnen in ihrer Frömmigkeitspraxis gerade darum, ein ganz enges
Vertrauensverhältnis des einzelnen Gläubigen zu Jesus zu fördern.
Zwar deuten die P ngstler den Ritus der Geisttaufe teils als Beginn
des Glaubens, teils als die krönende dritte Stufe nach dem Akt der
Bekehrung und den Vollzügen der Heiligung. Immer geht es in
dieser Zeichenhandlung aber darum, eine starke psychische Bindung
des Gläubigen an Jesus, den persönlichen Freund und hilfreichen
Begleiter auf den riskanten Wegen des Lebens, zu stiften.
Westliche Intellektuelle tun sich schwer damit, die erstaunlich
schnelle Durchsetzung der P ngstler und ihre zum Teil sehr großen
Missionserfolge in nichtchristlichen Ländern zu verstehen. Rein
theologische oder religionsinterne Deutungen greifen zu kurz. Zwar
sind die P ngstkirchen für viele Menschen gerade wegen der
intensiven Glaubenspraxis attraktiv. Aber das individuelle
Vertrauensverhältnis zum «Herrn Jesus» und das Erfülltsein durch
den Heiligen Geist führen dazu, dass das Religiöse alle Dimensionen
der Lebensführung der Frommen intensiv durchdringt. Stärker als in
anderen Formen des modernen Christentums wird der Glaube zum
bestimmenden Prinzip des Lebens in der Gemeinschaft.
P ngstgemeinden erzeugen häu g einen sehr hohen Binnendruck.
Sie greifen tief in den Alltag der in ihnen vergemeinschafteten
Frommen ein und verlangen eine unbedingte Treue gegenüber den
Regeln der Gemeinde, die in Außenperspektiven häu g als
sektiererische Kleingruppen erscheinen, in denen die Freiheit der
Individuen rigide unterdrückt wird. Liberale westliche Intellektuelle
sprechen von repressivem Gruppenzwang und hohem
Konformitätsdruck.
P ngstler nehmen dies, genau umgekehrt, als entlastende
Geborgenheit und Schutz gegenüber den Bedrohungen einer
chaotischen Welt wahr. Die Gemeinde vermittelt ihnen in einer
di usen, als gesetzlos erlittenen sozialen Umwelt starken Halt. Sie
gibt klare moralische Weisungen und trägt in ihren dichten
Vergemeinschaftungsstrukturen dazu bei, dass die Gemeindeglieder
diese Normen im Alltag befolgen. Mit dem Geistglauben der
P ngstler ist eine moralische Ökonomie verbunden, in der starke
Selbstdisziplinierung, Triebunterdrückung und Askese prämiert
werden. Viele P ngstler verzichten auf Nikotin und Alkohol, und sie
leben ihre Sexualität sehr viel disziplinierter, entsagungsbereiter als
andere Menschen. Sie betonen den Wert der Familie, bringen ihren
Kindern relativ große emotionale Nähe entgegen und p egen
autoritäre Erziehungsstile. Auch investieren sie vergleichsweise viel
Geld in die Bildung der Heranwachsenden und erzeugen eine
demonstrative Kultur der Reinlichkeit mit adrett gekleideten
Menschen, sauberen Häusern, gefegten Straßen und gep egter
Natur. Die p ngstlerischen Kirchen sind gerade deshalb in sozialen
Milieus attraktiv, in denen bisher über Religion wenig moralische
Steuerungskraft entfaltet wurde und die Kraft des Gottesglaubens
nicht dazu ausreichte, um etwa hohen Drogenkonsum,
Alkoholismus, Promiskuität und Glücksspielsucht einzuschränken.
Ihre missionarische Dynamik wird primär von aktiven Frauen
getragen, die in Lateinamerika durch ekstatischen Geistglauben den
überkommenen Machismo delegitimieren.
Menschen, die sich für rational halten, ist ein Protestantismus
äußerst fremd, der nicht durch den Vorrang des gesprochenen
Wortes, sondern durch ekstatische Begeisterung, wilden Tanz und
spontanes Zungenreden geprägt ist. In den
p ngstlerischcharismatischen Protestantismen wird eine Einheit von
Geist, Seele und Körper beschworen. Darin dürfte eine spezi sche
Faszinationskraft der p ngstlerischen und charismatischen
Frömmigkeit liegen. Mit Blick auf die neuen Tanzkulturen der
Flashlight-Diskotheken, die seit den sechziger Jahren in den
westlichen Gesellschaften entstanden sind, lässt sich die
prononcierte Körperbetonung der p ngstlerischen Glaubenspraxis
auch als eine moderne Reaktion auf die Erfahrungen von Kälte,
Zweckrationalität, forcierter Emotionskontrolle und
Körperdisziplinierung deuten. Modern ist auch der aktivistische
Grundzug der p ngstlerischen Frömmigkeit. In allen
synkretistischen Verschmelzungen einheimischer kultureller
Praktiken und religiöser Vorstellungen mit dem alles umscha enden
P ngstgeist betonen die P ngstler immer die Botschaft, dass sich der
Mensch durch Buße und Umkehr zu einer selbstbestimmten
Lebensführung emporarbeiten kann. Die erfolgreiche moralische
Selbstdisziplinierung gilt als Zeichen dafür, dass ein Mensch
tatsächlich vom Heiligen Geist beseelt ist. So lässt sich die für die
P ngstkirchen kennzeichnende Rede von der heilenden Kraft des
Geistes auch als ein neuer Ausdruck des modernen Glaubens an die
aktive Selbstbefreiung eines starken Menschen deuten. Inzwischen
ist eine eigene healing industry entstanden, mit Gebetskliniken, in
denen Wunderheiler durch Gebet und Handau egen alle möglichen
Leiden, zumal Suchtkrankheiten, zu kurieren versprechen.
Die P ngstbewegung setzte sich in den USA als Reaktion auf
bürgerliche Protestantismen durch, die wenig geistliche Kraft
ausstrahlten. Als «Religion der Hochspannung» wollte sie die
Erlösung des Menschen ernst nehmen. In ihrem
Unbedingtheitsanspruch und in der triumphalistischen Gewissheit,
vom Heiligen Geist beseelt zu handeln, erzeugte die
P ngstbewegung aber auch zahllose Opfer, die die Geisttaufe als
seelischen Terror und Versklavung ihres Ich erlebten. Gerade diese
Unbedingtheit und die entschiedene Intoleranz scheinen die
Missionserfolge der P ngstler begünstigt zu haben.
In Deutschland entwickelte die P ngstbewegung nur einen
marginalen Ein uss auf die überkommenen protestantischen
Kirchentümer. Zwar wurde 1907 in Kassel mit Hilfe zweier
norwegischer P ngstlerinnen (Agnes Telle und Dagmar Gregersen)
eine erste P ngstversammlung durchgeführt, die auf Grund der
ausufernden Prophezeiungen und Geisttaufen große ö entliche
Beachtung fand. Aber sogar in den pietistisch-konservativen Milieus
des deutschen Protestantismus wurden die P ngstler als eine kleine
Sekte um den Pastor Jonathan Paul (1853–1931) ausgegrenzt,
obwohl dieser selbst die Eskalation als «Erregung ö entlichen
Ärgernisses» heftig kritisiert hatte. Seit den 1950er Jahren entstand
unter dem Ein uss der nordamerikanischen «Assemblies of God» ein
– so der o zielle Name seit 1979 – «Forum Freikirchlicher
P ngstgemeinden», das Ende der 1990er Jahre etwa 50.000, in neun
Gliedkirchen organisierte Vollmitglieder vertrat.
In anderen westlichen Gesellschaften und vor allem in Ländern
der «Dritten Welt» gelang es den P ngstkirchen demgegenüber, vor
allem auch katholische Christen zur Konversion zu bewegen oder
Nichtchristen zu missionieren. Im Milieu der P ngstkirchen bildete
sich seit den 1960er Jahren die sogenannte Charismatische
Bewegung, die auf den kalifornischen Episkopalisten-Pfarrer Dennis
Bennett (1917–1991) zurückgeführt wird. Zunächst auf
protestantische Kirchen beschränkt, erfasste sie seit 1967 auch
römisch-katholische Christen, die sich durch die «Taufe im Heiligen
Geist» und andere übernatürliche Charismata wie Heilung,
Prophetie und intuitive Erkenntnis für eine geistliche Erneuerung
der Kirchen begeistern ließen. Zunächst wurden die Anhänger der
neuen Bewegung Neopentecostals oder Neup ngstler genannt, doch
setzte sich rasch ihre Selbstbezeichnung als Charismatiker durch. Im
Zentrum ihrer Theologie steht die Vorstellung, dass Gott seiner
Kirche jetzt eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes bzw. ein
zweites P ngsten geschenkt habe. Durch charismatische
Gebetskreise, eigene Gottesdienste und große Kongresse soll diese
Erfahrung gestärkt werden. In den protestantischen Kirchen wurden
die Charismatiker unterschiedlich beurteilt. Vor allem viele
lutherische Kirchen blieben kritisch distanziert, da man zentrale
Elemente des Lutherischen wie das Wort und die Rechtfertigung
allein aus Glauben missachtet sah. In der römisch-katholischen
Kirche hingegen wurde die charismatische Bewegung trotz der
protestantischen Ursprünge positiv gewürdigt. Besonders
wirkungsvoll agieren derzeit aggressiv missionierende
charismatische Protestanten aus den USA und aus Großbritannien.
In den USA werden die Charismatiker häu g auch von den
«electronic churches» unterstützt. Inzwischen bekennen sich über
30 Millionen Christen in allen Kirchen als Charismatiker.
4. Protestantismus und Kultur

Die Suche nach dem «Wesen» des Protestantischen

Religionspolitische Deutungsdiskurse über die Unterschiede


zwischen den christlichen Konfessionskulturen wurden im deutschen
Sprachraum seit dem frühen 17. Jahrhundert und verstärkt im 18.
und 19. Jahrhundert geführt. In ihrem Zentrum stand die Frage,
welche Folgewirkungen die Reformation und die Entstehung
konfessionell homogener lutherischer und reformierter
Gemeinwesen für Politik, Ökonomie, Bildungswesen, Wissenschaft,
Kunst und Lebensführung der Menschen gehabt haben. Seit der
«Sattelzeit» von 1770 bis 1830 richtete sich die Aufmerksamkeit
auch auf die tiefgreifende Umformung des kirchlich-ständischen
«Altprotestantismus» in einen bürgerlichliberalen
«Neuprotestantismus» sowie einen modernitätskritisch-
konservativen lutherischen und reformierten
«Neukonfessionalismus».
In den Konfessionskulturdebatten ging es weniger um Bekenntnis
oder Lehre der evangelischen Kirchen. Das rein Kirchliche,
Theologische trat hinter die politisch-kulturellen Selbstauslegungen
protestantischer Gemeinwesen sowie Habitus und kollektive
Mentalität der Frommen zurück. Angesichts der großen
Mannigfaltigkeit von Gestalten des Christentums, die sich selbst auf
die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts
zurückführten, sollte eine «protestantische Identität» gestiftet
werden. Gelingen konnte dies nur, wenn sich die Unterschiede
zwischen den Landeskirchen, die innerprotestantischen
Konfessionsgegensätze zwischen Lutheranern und Reformierten, die
ethnischen und nationalkulturellen Prägungen der verschiedenen
Protestantismen sowie die soziokulturellen Milieudi erenzen in
einem allgemeinen «Wesen des Protestantismus» verschmelzen
ließen, das trotz aller Pluralität des Protestantischen eine Raum und
Zeit übergreifende «Gemeinschaft» aller Protestanten zu
symbolisieren vermochte. Da in modernen Gesellschaften solch
kollektive Identität in starkem Maße «auf dem Wege der Geschichte»
zu gewinnen versucht wurde, entwarfen die protestantischen
Kulturanalytiker Gründungsmythen und normative Geschichtsbilder,
die die Kontinuität zwischen den Ursprüngen in der Reformation
und den vielen besonderen Gestalten des Protestantismus sichern
sollten. Sie erfanden sinnstiftende Traditionen und konstruierten im
Medium der Geschichtsschreibung Selbstbilder, die als Muster
aktueller Identi kation dienen konnten. Identität bedarf jedoch
immer einer negativen Folie, des abgrenzenden Bezugs auf ein
anderes. Sie zwingt zu Grenzziehungen auf kulturell-symbolischer
Ebene (Pierre Bourdieu) und lässt sich nur durch immer neu zu
vollziehende Ausschließungsprozeduren (Michel Foucault)
stabilisieren. Um jenseits der Vielfalt und Heterogenität der
empirischen Gestalten den Protestantismus konstruieren und die
Gemeinschaft der Protestanten symbolisch er nden zu können,
mussten die Protestantismustheoretiker deshalb scharfe, eindeutige
Grenzen gegenüber der römisch-katholischen Kirche und
Volksfrömmigkeit markieren. Auch formulierten sie um
protestantischer Identität willen eine politische Kritik der
«altgläubigen» Herrschaftsträger. Die seit dem späten
17. Jahrhundert geführten Debatten über die «Kulturbedeutung des
Protestantismus» – diese Formel wurde in den Kulturkämpfen des
Kaiserreichs geprägt und von Kulturwissenschaftlern um 1900 zum
Leitbegri kritischer Analysen des Verhältnisses von Protestantismus
und moderner Kultur gemacht – waren also konfessionskulturelle
Unterscheidungsdiskurse, in denen der behauptete Vorrang des
Eigenen durch einen negativen Bezug auf die kirchliche, politische
und moralische Kultur des Katholizismus zu vergegenwärtigen
versucht wurde. Entsprechend gilt für römisch-katholische
Diagnostiker der kulturellen Folgen der Reformation, dass sie im
Medium kritischer Analysen protestantischer Kultur die religiöse,
moralische und politisch-kulturelle Überlegenheit ihrer Kirche
deutlich machten und so zur inneren Stärkung der katholischen
Lebenswelten bzw. Milieus beitragen wollten. Seit dem frühen
19. Jahrhundert gewannen für die De nition des Protestantischen
zwar auch Abgrenzungen vom Judentum an Gewicht. Doch blieben
solche antijüdischen und auch antisemitischen
Identitätskonstruktionen insgesamt zweitrangig gegenüber der
Selbst ndung durch entschiedene Katholizismuskritik.
Die deutschsprachigen Konfessionsdiskurse lassen über große
Zeiträume hinweg eine erstaunliche Konstanz von symbolischen
Identitätsmustern, Selbstde nitionen, Figuren der Abgrenzung,
polemischen Stereotypen, Vorurteilen und Repräsentationen des
Eigenen und Anderen erkennen. In Zeiten politischer Umbrüche
oder schnellen sozialen Wandels, die als krisenhaft erfahren wurden
und latent vorhandene Tendenzen von aggressiver
Identitätsbeschwörung und Konfessionskon ikt virulent werden
ließen, konnten alte Muster zur Deutung der mentalen und
politischkulturellen Unterschiede zwischen Protestanten und
Katholiken aktualisiert werden. Beispielsweise waren viele
antikatholische Feindbildstereotypen des «Kulturkampfes» und die
protestantisch-nationalliberalen Legitimationsmuster für eine
gesamtkulturelle Führungsrolle der Protestanten schon im 17. und
18. Jahrhundert geprägt worden. Nationalistisch politisiert wurden
sie seit 1870/71 dann zur Diskriminierung der katholischen
«Reichsfeinde» und zu deren Ausschluss aus der protestantisch
imaginierten Gemeinschaft der deutschen Nation eingesetzt.
Konfessionskulturdebatten sind kein spezi sch deutsches
Phänomen. Sie wurden seit dem 17. Jahrhundert in allen
europäischen Ländern geführt, besonders intensiv in den
gemischtkonfessionellen Ländern. Die Expansion der literarischen
Märkte und eine forcierte Übersetzungstätigkeit führten seit dem
späten 18. Jahrhundert dazu, dass über nationale Grenzen hinweg
die kulturellen Eigenheiten der Konfessionen intensiv diskutiert
wurden. In den sinnstiftenden Meta-Erzählungen und in den
antikatholischen Feindbildern gab es zwischen den Eliten der
dominant protestantischen europäischen Gesellschaften ebenso
große Übereinstimmung wie in den Repräsentationsmustern der
Vorzüge der eigenen Konfession. Viele antiultramontane
Kamp ormeln deutscher kulturkämpferischer Organisationen wie
des seit 1842 aktiven «Gustav-Adolf-Vereins» oder des seit 1886
aktiven «Evangelischen Bundes zur Wahrung deutsch-
protestantischer Interessen», der mit mehr als einer halben Million
Mitgliedern größten protestantischen Massenorganisation im
Kaiserreich, prägten beispielsweise auch die in der Schweiz
geführten Kulturkämpfe und die heftigen Konfessionskon ikte im
viktorianischen England.
Eine Europäisierung der Konfessionskontroversen lässt sich
insbesondere seit der Französischen Revolution und den in den
neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts geführten Diskussionen über
das Verhältnis von religiöser Reformation und politischer Revolution
beobachten. Die Revolution und die Napoleonischen Kriege
provozierten eine starke Politisierung der Konfessionsdiskurse und
neue Konfessionalisierungsschübe. In allen multikonfessionellen
europäischen Gesellschaften wurden scharfe Konfessionskon ikte
sowie Auseinandersetzungen zwischen politischer Obrigkeit und
konfessionellen Minderheiten zu zentralen Themen der Innenpolitik.
Politisiert wurde alte Konfessionssemantik seit der Französischen
Revolution auch durch Verschmelzung mit der neuen mächtigen
Integrationsideologie des Nationalismus. Die Nation als eine
innerlich bindende Gesinnungsgemeinschaft bedurfte der
Abgrenzung von anderen nationalen Gemeinschaften. Überkommene
Di erenzen der konfessionellen Kulturen wurden daher nicht selten
zu nationalkulturellen Gegensätzen hypostasiert. Die religiöse
Antithese von «Wittenberg» und «Rom» konnte dann zur symbolisch
verdichteten Chi re für die tiefe nationalkulturelle Feindschaft
zwischen Deutschland, «dem Land der Reformation», und
Frankreich, der «erstgeborenen Tochter der Kirche», werden, oder
die politischen Kon ikte zwischen Iren und Engländern zu
Manifestationen eines neuen Glaubenskrieges zwischen
ultramontanen Anhängern der Finsternis und nordischen Sendboten
des Lichtes.

Vom Rechtsbegri zum Kulturkonzept

Als Rechtsbegri setzte sich «Protestantes» bei den Verhandlungen


der Reichstage, in der Rechtsprechung des Reichskammergerichts
und in den kameralistischen Kommentaren zu dessen Urteilen
durch. Auch die sogenannte Reichspublizistik gri die Formel auf:
Diese vorrangig an den protestantischen Universitäten des Reiches
produzierte Literatur zur Auslegung der Reichsverfassung umfasste
zahllose Dissertationen «de pace religionis», Traktate über die
Toleranz, Entwürfe einer «politica Christiana» und Lehrbücher für
ein ius publicum, das – so Michael Stolleis – «in der Phase seiner
Ausbildung als eigenständiges Rechtsgebiet weitgehend das Recht
[war], mit dem der explosive Sto der ‹streitigen Religion›
gebändigt werden» sollte. Da «nahezu jedes Rechtsproblem […]
konfessionspolitisch in ziert» war und die Katholiken, auch auf
Grund ihrer sehr viel stärkeren politischen und gesicherteren
reichsrechtlichen Stellung, bis etwa 1730 keine Reichspublizistik im
großen Stil entwickelten, wollten die protestantischen
Rechtsgelehrten durch juristische Theoriebildung den
katholischerseits immer bedrohten Augsburger Religionsfrieden von
1555 respektive die eigene Rechtsposition sichern. Sie suchten
katholische Angri e zurückzuweisen, dass die protestantischen
Stände gegenüber Kaiser und Reich illoyal seien, und im Sinne der
frühen Kameralistik die besondere politisch-ökonomische
Leistungskraft der protestantischen Territorien zu erweisen. In den
breiten Debatten über den weit größeren Anteil der Protestanten an
der Ausbildung des ius publicum prägten sich Deutungsmuster für die
Unterschiede «akademischer Kultur» an den «protestantischen» und
«katholischen Universitäten» aus, die bis in die kulturkämpferischen
Kontroversen über die Bildungsde zite bzw. die sogenannte
«Inferiorität» der Katholiken im späten 19. und frühen
20. Jahrhundert tradiert wurden. Beispielsweise sahen viele
katholische Gelehrte im freieren Geist der «protestantischen
Universitäten» eine Bedrohung des katholischen Kirchenglaubens.
Umgekehrt feierten viele protestantische Gelehrte akademische
Freiheit – oder später die «Freiheit von Forschung und Lehre» – als
eine Konkretion der von Luther erkämpften «Freiheit eines
Christenmenschen».
Im Zusammenhang der Konfessionalisierungspolitik der
absolutistischen Landesherren, die Religion als integratives Band des
Gemeinwesens sahen und deshalb konfessionelle Homogenität
durchsetzen wollten, wandelte sich der primär von Katholiken
gebrauchte Rechtsterminus «Protestantes» allmählich zu einer
Selbstbezeichnung, mit der die Angehörigen der Confessio
Augustana Freiheitsrechte gegenüber Kaiser und Reich geltend
machten. In diesem Prozess markiert der Westfälische Friede von
1648 einen wichtigen Einschnitt. Waren bisher nur die
«Lutherischen» als «Protestantes» bezeichnet worden, so wurde der
Begri nun auf die «Calvinischen» ausgedehnt. Der lutherische
Kameralist Veit Ludwig von Seckendor (1626–1692) sprach in
seinem Teutschen Fürsten-Stat 1656 teils von den «Uncatholischen»,
teils von «den Fürstentümern protestirenden Theils». Zwölf Jahre
später handelte der lutherische Jurist und Historiker Samuel
Pufendorf (1632–1694) als Severino de Monzambano über «die
neuen Religions-Verwandte(n), die man nun Protestirende zu
nennen p egt». Spätestens an der Wende zum 18. Jahrhundert
nahmen Protestanten den alten Rechtsbegri als einen
konfessionskulturellen Bewegungsbegri und religionspolitischen
Sammlungsbegri in Anspruch. Angesichts des wachsenden
politischen Gewichts der Katholiken wollten sie die Einheit der
beiden evangelischen Religionsparteien deutlich machen und eine
Union von Lutheranern und Reformierten fördern. Zugleich suchten
sie einen religiös-theologischen und kulturpraktischen
Überlegenheitsanspruch gegenüber den vermeintlich
zurückgebliebenen Katholiken geltend zu machen. Christoph
Matthäus Pfa (1686–1760) erklärte 1722 programmatisch die
früheste Christenheit zum normativen Kriterium im Streit der
Konfessionen: «O! wir Protestanten haben nicht die geringste
Ursach, uns vor der Ersten Kirche und derselben Aussprüche zu
fürchten.» In seiner «vernünftigen» Deutung der «Religions-
Strittigkeiten» zwischen der «Römischen und den Protestantischen
Kirchen» behandelte er neben dogmatischen Lehren auch
Frömmigkeitskultur, Ethik und Politik. Er fragte, «welche Religion
die Römisch-Catholische oder die Protestantische die Rechte der
Weltlichen Obrigkeit mehr erhebe und dem Staat gemäßer sey?»,
oder: «Welche Religion das wahre und thätige Herzens-
Christenthum mehr einschärfe die Römisch-Catholische oder die
Protestantische?»
Solche Fragen markieren den Übergang aus der juristischen
Semantik der älteren Reichspublizistik in die «culturhistorischen»
Konfessionsdiskurse der gelehrten Aufklärungsgesellschaft. In den
neuen Kulturgeschichten, Theologiegeschichten, Konfessionskunden,
Morallehren, Menschenkunden, Seelenlehren, Reiseberichten und
Traktaten zur Volksaufklärung traten die alten Muster
konfessioneller, das heißt an den Bekenntnisunterschieden von
Reformierten und Lutheranern orientierter Vergesellschaftung hinter
ein allgemeines «Wesen des Protestantismus» zurück. Im
Vordergrund stand zunächst die Frage, welche christliche Konfession
«Cultur», «Flor» oder «Wohlstand» eines Landes sowie die
«Glückseligkeit» seiner Bewohner am besten fördere. Diese
kulturhistorischen Konfessionsdebatten waren eng verbunden mit
einer erneuten Ausweitung des Bedeutungsgehaltes des Begri s:
Neben den Lutheranern und den Reformierten umfasste er seit
spätestens der Mitte des 18. Jahrhunderts auch die im
Zusammenhang der Reformation entstandenen «Sekten» und
täuferischen Gruppen sowie die Freikirchen und
independentistischen Gruppen in England, Schottland und den
Niederlanden. Auch Schwärmer, Mystiker, Chiliasten und die
pietistisch besonders Frommen in der von Nikolaus Ludwig Graf von
Zinzendorf gegründeten Herrnhuter Brüdergemeine wurden nun als
Protestanten bezeichnet. Im Falle der Anglikaner war der deutsche
Sprachgebrauch uneinheitlich. Angesichts ihres halbkatholischen
Charakters el es schwer, sie durch die Grenzziehungen gegenüber
dem römischen Katholizismus als ebenso protestantisch wie die
Freikirchen in Großbritannien zu erweisen.
Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde «Protestantismus»
zunehmend zu einem normativen kulturellen Konzept, das über die
Grenzen der protestantischen Konfessionskirchen hinaus für
kritische Geister in anderen Kirchen und Konfessionen gebraucht
werden konnte. «Protestantismus» sei weniger der Name für einen
«kirchlichen Verein» als vielmehr «eine religiöse Denkart» in allen
christlichen Konfessionen, erklärte 1814 der Heidelberger
Unionstheologe Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1776–1837).
Wenige Jahre später konnte ein protestantischer Schulrektor
aufgeklärte, «erleuchtete Katholiken» als «Protestanten»
charakterisieren und darauf hinweisen, «dass es jetzt auch in der
katholischen Kirche einen Protestantismus giebt».
Der jungdeutsche Schriftsteller Heinrich Laube (1806–1884)
bezeichnete 1833 alle politisch liberalen Emanzipationsbewegungen
der Zeit als einen «Protestantismus der Völker», und rückblickend
wurden nun auch geistige Strömungen vor und neben der
Reformation zum «Protestantismus» geadelt, allen voran «der
Humanismus». Dieser Enthistorisierung des Begri s entsprach es,
dass spätestens um 1900 sogar vom Protestantismus in anderen
Religionen gesprochen werden konnte. Als der Kulturphilosoph
Alfons Paquet (1881–1944) 1915 in seiner Schrift Der Kaisergedanke
einen «Protestantismus im weiten unkirchlichen Sinne» zur «Stütze
des wiedergeborenen Kaisertums» erklärte, stilisierte er zugleich den
Zionismus zum inner-jüdischen Protestantismus. «Protestantischer
Revolutionsgeist» sei in allen Religionen siegreich geworden.
«Formal protestantische Strebungen gewinnen gegenüber den
hierarchischen Ordnungen, denen das Schicksal alles
Steingewordenen beschieden ist, selbst im Buddhismus Indiens und
Japans und im Konfuzianismus der Chinesen die Oberhand. Wir
dürfen sie letzten Endes kühn als ein Weiterwirken jener großen
Reformation bezeichnen, die […] vor vierhundert Jahren in
Deutschland ihren Ausgang nahm und seitdem den lebendigsten
Beweis dafür erbrachte, dass eine von Mönchen und Scholastikern
gescha ene, dogmatisch verengte Theologie nirgends ausreicht,
ohne unerträglichen Zwang anzuwenden.» Die «zionistische
Richtung» im Judentum sei «dem Geist der deutschen Reformation
verwandt […]. Alles das ist Bewegung, ist Protestantismus in einem
höchsten Sinn.»
In den theologischen Protestantismusdebatten der
Zwischenkriegszeit trat vor allem der religiös-sozialistische
Kulturtheologe Paul Tillich (1886–1965) für die
Entkonfessionalisierung und religionsgeschichtliche
Universalisierbarkeit des Begri s ein. Der «unbedingte und
universale Charakter der protestantischen Verkündigung» erlaube
es, so Tillich 1931 in Protestantisches Prinzip und proletarische
Situation, den überkommenen bürgerlichen Protestantismus
preiszugeben. «Diese Möglichkeit […] ist die eigentlich
protestantische Möglichkeit. Zum Wesen des Protestantismus gehört,
daß er immer auch über seiner religiösen und konfessionellen
Wirklichkeit stehen, daß er nicht völlig mit irgendeiner seiner
geschichtlichen Teilformen identi ziert werden kann. […] Der
Protestantismus hat ein Prinzip, das jenseits jeder seiner
Verwirklichungen steht […]. Das protestantische Prinzip […]
enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden
absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit erhoben
wird, auch dann, wenn dieser Anspruch von der protestantischen
Kirche selbst ausgeht. […] Das protestantische Prinzip […] ist der
Wächter gegen die Versuche des Endlichen und Bedingten, sowohl
im Denken als auch im Handeln, sich zur Würde des Unbedingten zu
erheben. Es ist das prophetische Gericht über religiösen Stolz,
kirchliche Arroganz und diesseitige Selbstgenügsamkeit mit ihren
zerstörerischen Konsequenzen. […] Sofern das protestantische
Prinzip unfassbar ist, sträubt es sich sogar dagegen, auf
Protestantismus oder Christentum oder selbst Religion festgelegt zu
werden.»
Je mehr im Sinne der Aufklärer und protestantischen Liberalen
Protestantismus und individuelle Freiheit identi ziert wurden, desto
stärker suchten protestantische Aufklärungskritiker den Begri
durch eine Erneuerung der alten Selbstbezeichnungen «die
Evangelischen» oder «die evangelische Christenheit» zu ersetzen.
Viele konservative Theologen des 19. Jahrhunderts lehnten den
Protestantismusbegri mit dem Argument ab, dass hier ein
sekundäres Element der reformatorischen Bewegung, der Protest
gegen Rom, auf Kosten der entscheidenden inhaltlichen Elemente,
der Bindung an die Schrift und des strengen
Rechtfertigungsglaubens, bevorzugt werde. Damit fanden sie im
frühen 19. Jahrhundert auch bei einzelnen politischen Obrigkeiten
Resonanz. Als unter dem Ein uss von Französischer Revolution und
theologischem Rationalismus die «Protestanten des Rheinkreises»
ihre neue Unionskirche 1818 als «protestantisch-evangelisch-
christliche Kirche» bezeichneten und es «zum innersten und
heiligsten Wesen des Protestantismus» erklärten, «immerfort auf der
Bahn wohlgeprüfter Wahrheit und ächtreligiöser Aufklärung, mit
ungestörter Glaubensfreiheit, muthig voranzuschreiten», gaben sie
mit Hilfe des Protestantismusbegri s die alten Bekenntnisse als
Lehrnorm preis und forderten implizit auch politische Bürgerrechte
und Partizipation. In Preußen wurde daraufhin der ö entliche
Gebrauch des Protestantismusbegri s verboten. Nach einer
königlich-preußischen Kabinettsorder vom 3. April 1821 sollte
«darauf gehalten werden, die Benennung: evangelisch, statt
protestantisch – Evangelische, statt Protestanten, zu gebrauchen,
weil eben dadurch der alte unpassende Name nach und nach
verschwinden wird». Seitdem bezeichneten «protestantisch» und
«evangelisch» theologie- und kirchenpolitisch alternative
Selbstauslegungen der aus der Reformation hervorgegangenen
Kirchen bzw. konkurrierende Selbstdeutungen ihrer Mitglieder.
Dieser Streit um die theologische Legitimität des
Protestantismusbegri s prägte den deutschsprachigen
Protestantismus bis ins 20. Jahrhundert. Die Kritiker liberal-
neuprotestantischer Traditionen wie der schweizerische Reformierte
Karl Barth polemisierten gegen den Protestantismusbegri .
Umgekehrt nahmen protestantische Intellektuelle, die sich in
Kontinuität zum moralisch-vernünftigen Aufklärungschristentum
bzw. zum «freien Protestantismus» sahen, den Begri o ensiv in
Anspruch, um gegenüber den massiven Tendenzen einer
Verkirchlichung des Protestantismus das Eigenrecht individuellen
Glaubens sichtbar zu machen.

Die Er ndung der Innerlichkeit

Im Unterschied zu anderen konfessionellen Gestaltungen christlicher


Tradition lassen sich protestantische Lebenswelten nicht allein über
«Kirche» oder «kirchliche Lehre» de nieren. Der ein ussreichste
deutschsprachige protestantische Universitätstheologe der Moderne,
der vor allem an der 1810 gegründeten Berliner Universität
lehrende «Kirchenvater des 19. Jahrhunderts» Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher (1768–1834), bestimmte die Di erenz zwischen
Katholizismus und Protestantismus in einer berühmten Formel:
«Vorläu g möge man den Gegensatz so fassen, dass der
Protestantismus das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig
macht von seinem Verhältniß zu Christo, der Katholizismus aber
umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig macht
von seinem Verhältniß zur Kirche.» Der protestantische Fromme
lebe unmittelbar zu Jesus Christus und gewinne nur von hier aus ein
Verhältnis zur Kirche; im römischen Katholizismus hingegen werde
die Kirche als Heilsanstalt gedeutet, die dem einzelnen Gläubigen
das depositum dei, die in Jesus Christus gewährte Gnade,
vermittele. Deshalb könne ein integratives Konzept des
Protestantischen nicht rein dogmatisch, mit Blick auf die besonderen
Bekenntnisschriften und theologischen Lehrbildungen der aus der
Reformation hervorgegangenen Konfessionskirchen gewonnen
werden; die Konzentration auf die kirchliche Institution, ihre
Bekenntnisse und ihre Lehre sei bloß eine römisch-katholische
Perspektive. Jeder Begri des Protestantismus müsse der durch
Christus-Unmittelbarkeit erzeugten Relativierung der kirchlichen
Institution und dem prinzipiellen Eigenrecht des Glaubens der
Frommen entsprechen.
Alle Protestantismen beziehen sich auf den Protest eines
Wittenberger Universitätstheologen gegen eine tendenziell
allmächtige kirchliche Institution. Luther formulierte diesen Protest
unter Berufung auf das zur exklusiven Autorität erklärte Wort
Gottes, so wie es sich ihm im Studium der Heiligen Schrift
erschlossen hatte. Die individuelle Glaubenseinsicht, die an der
Schrift sich bildet, wurde zur entscheidenden Instanz. Dies schärfte
protestantischer Frömmigkeit einen institutionenkritischen
Grundzug ein. Das Schwergewicht verlagerte sich von der
objektiven «Heilsanstalt» hin zum frommen Einzelnen: Der
individuelle Glaube lässt sich nicht zureichend aus der Beziehung
des Frommen zur Institution Kirche de nieren. Die Bezogenheit auf
Gottes Wort, auf Christus wird zur religiös entscheidenden
De nitionsebene. An die Stelle von institutioneller Außenlenkung
tritt eine allein an Gottes unverfügbarem Wort orientierte
Innenleitung. Der protestantische Fromme ist aus der
Vormundschaft der kirchlichen Institution entlassen. Er ist, in einem
prinzipiellen Sinne, in die Situation einer allein durch Christus bzw.
Gottes Wort vermittelten Unmittelbarkeit zu Gott gestellt. Für alle
Protestantismen war deshalb eine andere, neue Weise von
Autoritätsbildung charakteristisch: An die Stelle äußerlich stabiler,
institutioneller Autorität traten innere, gläubige Selbstgewissheit,
das Vertrauen auf die Selbstbekundung des Geistes, die exklusive
Bindung an das unverfügbare, auch kirchlich nicht domestizierbare
Wort Gottes. Aus der Vielzahl frömmigkeitsgeschichtlich
interessanter Selbstzeugnisse von Protestanten sei exemplarisch auf
einen Brief Wilhelms I., des Königs von Preußen und Deutschen
Kaisers, an Papst Pius IX. verwiesen: «Der evangelische Glaube, zu
dem ich Mich […] bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältnis
zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesum Christum
anzunehmen.»
Für die Selbstauslegungen der diversen Protestantismen wurde
deshalb eine neue Innerlichkeitssemantik kennzeichnend. Der
Begri des «Glaubens» wurde institutionenkritisch gefasst. Nicht die
Kirche wirke den Glauben, sondern der «Geist», der uns durch das
Wort der Schrift ergreife. Dies ist ein sehr ungegenständliches,
unsinnliches, spiritualistisches und abstraktes Glaubensverständnis.
Glauben betri t nicht mehr den Nachvollzug einer objektiv
vorgegebenen lehrhaften Substanz oder den sinnlichen Kontakt mit
etwas «Heiligem». Glaube spiegelt vielmehr höchste Subjektivität;
denn er ist nur insoweit Glaube, als er aus dem geistgewirkten
Ergri ensein meines «Herzens» durch die göttliche Wahrheit
stammt, also mit einem Element des prinzipiell Unverfügbaren
(Gottes Wort) zugleich ein Element höchster Subjektivität
repräsentiert. Glaube beinhaltet immer eine prinzipielle
Vereinzelung des Frommen, sofern gegenüber der Unmittelbarkeit
der Beziehung zu Gott alle innerweltlichen sozialen Vermittlungen
des Frommen (Familie, Stand, Staat, Kirche etc.) nachrangig sind.
Für die religionskulturellen Selbstdeutungen des deutschen
Protestantismus wurden deshalb Begri e leitend, die eine starke
Tendenz zur Spiritualisierung, Verinnerlichung, Individualisierung
spiegeln. Begri e der mystischen Tradition wie «Einsicht»,
«Eindruck», «Gelassenheit», «einleuchten» wanderten im
18. Jahrhundert in die Gemeinsprache ein, weil die Pietisten sie
zuvor zu zentralen Begri en religiöser Kommunikation gemacht
hatten. «Gewissen», «innerer Mensch», «Innerlichkeit», «ganzer
Mensch», «Herzensglaube», «Herzenschristentum» und – seit dem
18. Jahrhundert – «Persönlichkeit», «Subjektivität», schließlich
«Autonomie» wurden im protestantischen Deutschland zu
Leitbegri en eines Anthropologiediskurses, in dessen Zentrum eine
religiös fundierte innerweltliche Transzendenz des Individuums
stand. Der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl (1866–1926), ein
bedeutender Luther-Forscher, prägte für dieses frömmigkeits- wie
kulturgeschichtlich signi kante Strukturelement des Protestantismus
den Begri «Gewissensreligion». Paul Tillichs Freund Kurt Leese
(1887–1965) sprach von einer «persönlichen Überzeugungs- und
Gesinnungsreligion». Mit dem für die «protestantische Religion»
grundlegenden «Princip der Innerlichkeit» werde, so der
idealistische Berliner Meisterdenker Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
eine Dimension elementarer Unverfügbarkeit des frommen Subjekts
benannt, ein höchst subjektiver Eigenraum des Individuums, der
sich gegen jeden vergegenständlichenden Zugri von außen sperrt.
Sein dänischer antibürgerlicher Kritiker Søren Kierkegaard (1813–
1855) radikalisiert die Binnenwendung des individuellen Subjekts
zur These, dass der Mensch nur in der «Innerlichkeit» der
religiösethischen Wahl seiner selbst zu sich kommen könne, und
wird so zum Klassiker der modernen existentialistischen
theologischen wie philosophischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts.
Trotz der tiefen Gegensätze zwischen Hegel und Kierkegaard lässt
sich die in allen protestantischen Lebenswelten zu beobachtende
symbolische Kommunikation, in der Innerlichkeit religiös inszeniert
und re exiv gesteigert wird, deshalb auch als Er ndung von
Individualität beschreiben.

Die Aufwertung der Individualität

Die Reformatoren setzten gegen eine machtvolle, alle Bereiche des


Lebens regulierende religiöse Institution die libertas Christiana oder
«Freiheit eines Christenmenschen» – so der Titel einer berühmten,
1520 von Luther sowohl deutsch als auch lateinisch publizierten
Programmschrift. Die Aufklärer und die Liberalen des 19. und
20. Jahrhunderts feierten die Reformation deshalb als jene religiöse
und geistige «Revolution», in der das bestimmende Prinzip der
Moderne, die Freiheit des Einzelnen, gegen die dunklen Mächte der
Tradition durchgesetzt wurde. Protestantische «Culturhistoriker» des
18. Jahrhunderts, theologische Rationalisten, Hegel und seine
Schüler, Vermittlungstheologen, Albrecht Ritschl (1822–1889) und
seine Schule, borussische Historiker der Jahrhundertwende und
nationalliberale Politiker stimmten mit führenden protestantischen
Kulturdeutern in anderen europäischen Gesellschaften und in den
USA darin überein, in der Reformation jene elementare
Epochenscheide zu sehen, die das nstere Mittelalter beende und
den Beginn der lichten Neuzeit markiere. Für diese protestantische
«whig interpretation» der eigenen Geschichte war die Konstruktion
von klaren Kontinuitätslinien kennzeichnend. So konnten
unterschiedliche Gruppen ihre politischen und kulturellen Ziele
jeweils als Vollendung der Reformation legitimieren.
Historische Kulturwissenschaftler um 1900, insbesondere Ernst
Troeltsch und die Theologen der «Lutherrenaissance», entwarfen
demgegenüber Periodisierungsschemata, mit denen die
Identi kation von Reformation und Neuzeit problematisiert wurde
und die vielfältigen Traditionsbindungen der Reformatoren sowie
der vormoderne Charakter der konfessionell homogenen
altprotestantischen Gemeinwesen in den Blick kamen. Spätestens
seit Troeltschs vielbeachtetem Vortrag auf dem IX. deutschen
Historikertag 1906 über «Die Bedeutung des Protestantismus für die
Entstehung der modernen Welt» wurden die Grenzen direkter
genetischer Herleitungen «der Moderne» aus der protestantischen
Freiheit kontrovers diskutiert. Die Kernthese des Heidelberger
Theologen lautete: «Ein großer Teil der Grundlagen der modernen
Welt in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ist
völlig unabhängig vom Protestantismus entstanden, teils einfach
Fortsetzung spätmittelalterlicher Entwicklungen, teils Wirkung der
Renaissance und besonders auch der vom Protestantismus
angeeigneten Renaissance, teils in den katholischen Nationen wie
Spanien, Osterreich, Italien und besonders Frankreich nach
Entstehung des Protestantismus und neben ihm erworben worden.»
In genau dem Maße, wie die Reformatoren aber «noch»
spätmittelalterlichen Denkhorizonten verp ichtet waren und zu
fernen, fremden Gestalten wurden, ließen sie sich nicht mehr zu
Heroen protestantischer Aufklärung, bürgerlicher Emanzipation und
liberaler Freiheit stilisieren. Die Historisierung der Reformation und
die mit der methodischen Professionalisierung der
Reformationsgeschichtsschreibung verbundene Au ösung eines
einheitlichen, gleichsam normativen Geschichtsbildes erschwerten
seit 1900 zunehmend die theologisch oder politisch interessierten
legitimatorischen Rückgri e auf die großen «Gründergestalten» des
Protestantismus. Die von der neueren
Wissenschaftsgeschichtsschreibung begonnene Historisierung der
Reformationshistoriographie und Protestantismusforschung des
frühen 20. Jahrhunderts lässt darüber hinaus erkennen, in wie
starkem Maße auch die vermeintlich rein historischen, kritischen
Deutungsangebote der Kultur- und Kirchenhistoriker von aktuellen
(kirchen-)politischen Interessen geprägt waren. Methodische
Behutsamkeit zwingt insoweit dazu, ein systematisches Konzept des
Protestantismus nicht mit der Produktion «eindeutiger»
Geschichtsbilder oder der Konstruktion «klarer» Traditionslinien zu
verbinden. Alle Aussagen über ein «Wesen des Protestantismus»
lassen sich durch vielfältige widerstrebende Phänomene in einzelnen
protestantischen Lebenswelten relativieren.
Unter diesen Einschränkungen kann die Aufwertung von
Individualität als ein zweites Strukturmerkmal des Protestantischen
gelten. Die reformatorische Bewegung vermittelte, verbunden mit
Impulsen des Renaissancehumanismus, Anstöße für folgenreiche
Individualisierungsprozesse, die protestantische Lebenswelten bis
heute von den stärker institutionenorientierten und
gemeinschaftsbezogenen katholischen Milieus unterscheiden. Unter
den langfristigen kulturellen Folgewirkungen des reformatorischen
Protests kommt dieser religiös begründeten Individualisierung
besonderes Gewicht zu.
Im Anschluss an Troeltsch ist in der neueren
Konfessionalisierungsdebatte die hohe Strukturhomogenität
zwischen den alten lutherischen, den alten reformierten sowie den
alten katholischen Gemeinwesen im Reich betont und das altliberale
Dogma zerstört worden, es sei in den altprotestantischen Territorien
freiheitlicher als unter katholischen Herrschaften zugegangen.
Repressive Kirchenzucht, insbesondere bei den Reformierten, ein
hoher religiöser Vergemeinschaftungsdruck vor allem in kleinen
Gemeinden und vielfältige Formen der Sozialdisziplinierung durch
das enge Bündnis von kirchlichen und politischen Obrigkeiten
markierten enge Grenzen für alle Versuche der Freisetzung des
Individuums aus traditionalen Bindungen. Sowohl in der juristischen
Diskussion als auch in den Ethikdiskursen der Theologen wurden
Begri e wie Libertät und Freiheit bis weit ins 18. Jahrhundert
hinein vorrangig korporatistisch gefasst. Im Medium der religiösen
Symbolsprache aber lässt sich, vor allem unter dem Ein uss des
Pietismus und anderer innerprotestantischer
Erneuerungsbewegungen, eine mit der religiösen «Verinnerlichung»
eng verbundene Tendenz beobachten, den Frommen zunehmend
unabhängig von überkommenen Gemeinschaftsbindungen, etwa als
Sünder vor Gott, wahrzunehmen. In der religiösen Grundsituation
der Konfrontation mit Gottes Wort war «der protestantische
Fromme» sehr viel stärker als der Katholik auf sich selbst
zurückgeworfen, seiner tiefen Sündhaftigkeit, Verlorenheit, Schuld
und Erlösungsbedürftigkeit ausgesetzt. Dies förderte im Bereich des
Protestantismus die Durchsetzung einer Kultur individualisierter
religiöser Re exivität, die es vergleichbar intensiv in katholischen
Lebenswelten nicht gab oder die, unter dem Ein uss
protestantischer Frömmigkeitsliteratur, hier erst mit erheblicher
Verzögerung entstand. Auch für Troeltsch lagen die
modernisierenden Wirkungen des Protestantismus primär im
«protestantisch-religiöse[n] Individualismus der persönlichen
Überzeugung»: «Indem der Protestantismus gerade an der
Herausbildung dieses religiösen Individualismus und an seiner
Überleitung in die Breite des allgemeinen Lebens seine Bedeutung
hat, ist von vornherein klar, dass er an der Hervorbringung der
modernen Welt erheblich mitbeteiligt ist.»
Die mit der Reformation langfristig verbundenen
Individualisierungsschübe lassen sich in unterschiedlichen
Perspektiven thematisieren. Schon die innovative Portraitkunst der
Reformationszeit, «the reformation of the image» (Joseph Leo
Koerner), zeige, so der Kunsthistoriker Werner Hofmann in seiner
Einleitung zum Ausstellungskatalog «Köpfe der Lutherzeit», dass
Luthers Wiederentdeckung des ursprünglichen Sinns des
Evangeliums «die Künstler dazu herausgefordert hatte, im
Individuum eine neue Leibhaftigkeit, aber auch die keinem Ideal
verp ichtete Schönheit des Charakteristischen aufzuspüren».
Grundlegend waren darüber hinaus die Wandlungen der
Gottesdienstkultur und häuslichen Frömmigkeitspraxis. Zu nennen
sind zunächst die Abscha ung der Ohrenbeichte, die
Subjektivierung des Bußverständnisses und die Aufwertung des
Individuums in Kommunikationsmedien, die die Religionskultur des
Protestantismus besonders stark prägen: im Gebet und in der
Predigt. Vielfältige Tendenzen einer religiösen «Er ndung» von
Individualität lassen sich auch in den zahlreich überlieferten
protestantischen Leichenpredigten beobachten. Große kulturelle
Folgewirkungen entfaltete die insbesondere von den Pietisten hoch
entwickelte Kultur religiöser Selbstthematisierung. Die pietistische
Autobiographik, d.h. die Vergegenwärtigung und Re-Konstruktion
der eigenen Lebensgeschichte als einer durch Wiedergeburt und
Bekehrung bestimmten vita christiana, bedeutete über die Ebene
religiöser Symbolsprache hinaus einen entscheidenden Durchbruch
zur prinzipiellen Verselbständigung des Individuums gegenüber
seiner sozialen Umwelt. Seit den klassischen Studien des Göttinger
Philosophen und Dilthey-Schülers Georg Misch (1878–1965) gilt die
pietistische Autobiographik als eine zentrale Quelle aller modernen
«Ego-Literatur». Sie übte tiefgreifende Ein üsse auf den vor allem im
protestantischen Deutschland im 18. Jahrhundert entstandenen
Bildungsroman aus und wirkte, in Verbindung mit der im Pietismus
intensiv gep egten Brie iteratur, bis in die Alltagskommunikation
des sich formierenden Bildungsbürgertums hinein
individualisierend; der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat
dies in einem berühmten Buch über Säkularisation als sprachbildende
Kraft (1958) im Einzelnen gezeigt. Deutungsmuster, die dem
Protestantismus gegenüber dem klerikal petri zierten Katholizismus
eine O enheit für das Individuelle zuerkannten, prägten auch die
Wahrnehmung der konfessionell di erenzierten deutschen
Bildungslandschaft. So berichtete der Freiburger katholische
Moraltheologe Heinrich Schreiber (1793–1872), der 1845 die
römisch-katholische Kirche verließ und zur religiös-liberalen
Oppositionsbewegung der Deutschkatholiken übertrat, dass in den
katholischen Normalschulen des späten 18. Jahrhunderts die
Schüler eine gemeinsame «katholische, d.h. steife Schrift» zu lernen
hatten, die «leichtere, von der Individualität des Schreibenden
bedingte sogenannte protestantische Schrift» dagegen verpönt
gewesen sei.
Seit dem späten 18. Jahrhundert bildete der «protestantische
Individualismus» ein zentrales Thema der politisch-kulturellen
Konfessionskontroversen. Konservative katholische Kritiker der
Französischen Revolution führten diese auf das zerstörerische
Prinzip der Mutter aller Revolutionen, der Reformation, zurück. So
machte Joseph de Maistre (1754–1821), als einer der führenden
französischen Theoretiker der Restauration zugleich entschiedener
Verteidiger der Autorität von Papst und Kirche, die vermeintlich
destruktiven Tendenzen des «politischen Protestantismus» 1820 am
Ungeist des Individualismus fest. Antithesen von protestantischem
Individualismus einerseits und katholischem Gemeinschaftsdenken
oder Korporatismus andererseits avancierten in der katholischen
Kontroverstheologie und sich formierenden Konfessionskunde des
19. Jahrhunderts zu einem zentralen Muster der Erfassung des
protestantisch-katholischen Konfessionsgegensatzes. Neben der
Kritik des Tübinger katholischen Kirchenhistorikers Johann Adam
Möhler (1796–1838) an seinem gleichfalls in Tübingen, aber eben in
der Evangelisch-Theologischen Fakultät lehrenden
liberalprotestantischen Fachkollegen Ferdinand Christian Baur
(1792–1860) ist dafür eine Formulierung des Bonner katholischen
Kontroverstheologen Bernhard Josef Hilgers (1803–1874)
repräsentativ: «Während das protestantische Princip Subjectivirung
und Isolirung fordert, und zwar bis dahin, dass sich im Einzelnen
Individuum möglicher Weise die ganze Idee der Kirche verwirklicht,
fordert das katholische Princip Gemeinschaft und Hingebung der
Subjectivität an die Anstalt bis dahin, dass sich in einem sichtbaren
Oberhaupte die Kirche zu Einer großen, vollendeten Einheit
abschließt.» Den protestantischen Individualismus aber deuteten die
katholischen Protestantismustheoretiker als den Keim von
«Zersetzung» und «völliger Au ösung» aller religiösen und in letzter
Konsequenz auch politischen Gemeinschaft.
Protestantische Theoretiker feierten, genau umgekehrt, den
«Individualismus» als Aristokratie einer Elite religiös-sittlicher
Persönlichkeiten. Dem Katholizismus warfen sie vor, in seiner
Religionspraxis nur die dumpfen Triebe eines moralisch laxen, alle
höhere Bestimmung des Menschen preisgebenden «Kirchenvolkes»
zu befriedigen. Spätestens um 1900 wanderte in die
protestantischen Konfessionsdiskurse ein polemischer Gebrauch des
Begri s der «Masse» ein. Im Verhältnis zum protestantischen
«Persönlichkeitsglauben» oder «Personalismus» konnte der
Katholizismus vielfach nur noch als untersittliche Religion der
Massenmenschen wahrgenommen werden. Die protestantische
Freiheit wurde hingegen zunehmend mit heroischem Pathos gefüllt.
«Das innerste Wesen des Protestantismus als Lebensgrundsatz heißt:
persönliche Einzelverantwortung», proklamierte der alldeutsche
Kulturprotestant Gottfried Traub (1869–1956) beim
Reformationsjubiläum 1917 und rief zum Kampf gegen allen
Kollektivismus auf.

Die religiöse Verweltlichung der Welt

Protestantismus und Katholizismus trennt auch die gegensätzliche


religiöse Bewertung der Welt. Katholische Frömmigkeit
unterscheidet prägnant zwischen heilig und profan. Sie grenzt
heilige Räume und Orte aus, die als Erinnerungs- und
Vollzugsstätten des religiösen Lebens einen sich variantenreich
manifestierenden Sonderstatus genießen, und kultiviert dabei ein
tendenziell magisches Weltverständnis, den Glauben an heilige
Gegenstände, deren Wirkkraft durch sinnlichen Kontakt, etwa durch
Berühren oder Küssen, auf den Frommen übertragen wird. In
römisch-katholischen Weltdeutungen gilt die Kirche als zentrale
Institution des Gemeinwesens, weil allein sie das Wissen über die
angemessene Ordnung der Welt verwaltet, das in der Vernunft
prinzipiell allen Menschen erschlossen, aber durch die Sünde
verdunkelt ist. Römisch-katholische Kulturkonzeptionen sind immer
auf die Kirche fokussiert. Sie sind im präzisen, unpolemischen Sinne
des Wortes klerikal, weil sie eine Weisungs- und
Orientierungskompetenz des kirchlichen Lehramtes für alle Bereiche
der Kultur beanspruchen. Sie beinhalten schließlich eine
Zweistufenethik, der zufolge an die Kleriker höhere moralische
Ansprüche als an die Masse der Laien zu stellen seien; das dafür
klassische Beispiel ist der Zölibat der Geistlichen.
Demgegenüber hat der jüdische Sozialwissenschaftler Helmuth
Plessner den wohl von Goethe geprägten Begri der
«Weltfrömmigkeit» aufgenommen, um protestantische Frömmigkeit
in ihrer Eigenart pointiert zu erfassen: Sie kennt keinen institutionell
abgegrenzten Raum des Heiligen, identi ziert keine scharf
konturierten religiösen Bereiche, in denen der Mensch Gott
besonders nahe kommen könnte. Für sie ist der entscheidende Ort
christlichen Lebens die Welt überhaupt, der Alltag. Gegen die
weltentwertende Antithese von heilig und profan erkennt
protestantische Frömmigkeit dem Weltlichen gerade in seiner
Profanität eine religiöse Eigenwürde zu. Der Gottesdienst des
Menschen soll sich nicht auf besondere religiöse Handlungen – auf
«Werke» oder «heilige Verrichtungen» – beschränken, sondern im je
besonderen «weltlichen Beruf» des Christen vollziehen. Klassische
Protestantismustheoretiker wie Matthias Schneckenburger, Karl
Bernhard Hundeshagen, Ernst Troeltsch und Max Weber haben
übereinstimmend die hohe Bedeutung von Luthers Berufsgedanken
betont. Für diese Berufskonzeption, die viele calvinistische
Theologen noch verschärften, ist grundlegend: Jede Tätigkeit im
Dienst des Nächsten, auch die geringste, nach den
Di erenzierungskriterien des ständisch gegliederten Gemeinwesens
unwürdigste Tätigkeit, hat die religiöse Dignität, Gottes-Dienst zu
sein, genauso wie ein Gebet oder eine vermeintlich besonders
heilige Handlung.
Für die ideale Lebensführung des protestantischen Frommen
bedeutete die religiöse Hochschätzung des weltlichen Berufs: Gerade
das Unspektakuläre, Alltägliche, scheinbar rein Profane gewann
einen religiösen Verp ichtungscharakter. Die Welt wurde einerseits
entklerikalisiert, von kirchlicher Fremdbestimmung befreit,
andererseits religiös aufgewertet. Indem das Göttliche nicht mehr in
heilige Bezirke ausgegrenzt wurde, konnte es die Weltlichkeit des
profanen Lebens durchscheinen. Das reformatorische «Priestertum
aller Gläubigen», die Aufhebung einer religiösen
Wertunterscheidung zwischen Klerikern und sogenannten Laien,
beinhaltete zudem die Absage an die römischkatholische
Zweistufenethik, die im protestantischen Diskurs immer auch als
«Doppelmoral» verdächtigt worden war. Damit wurde das ethische
Anspruchsniveau für den einzelnen Christen radikal verschärft.
Schon die Aufklärer des späten 18. Jahrhunderts führten die
größere Wohlfahrt protestantischer Territorien auf den religiös
induzierten größeren Fleiß der Protestanten zurück. Auf die Frage
«Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel
größer als der catholischen?» antwortete der als «Christian Friedrich
Menschenfreund» getarnte bayerische katholische Jurist Johann
Adam von Ickstatt (1702–1776) 1772 mit dem ausführlich
entfalteten Nachweis, dass es «nur die Religion ist, welche den
großen Unterschied des Wohlstands verursacht». Gerade die
religiöse Aufwertung des Werktages bewirke ökonomischen
Fortschritt und höhere kulturelle Entwicklung. «Ausser den
Sonntagen haben sie [die Protestanten] gar wenige Feyertage und
also auch wenig Versäumnis. An den Werktagen verrichtet jeder sein
Gebeth in seinem Hause. Von besonderen Andachtsübungen wissen
sie nichts, sie werden demnach von Jugend auf zur Arbeit der
Werktage und nicht zum Müßiggang der Feyertage gewöhnt.» Auch
trage die protestantische Verschärfung des Bußverständnisses dazu
bei, «Fleiß», Askese und Selbstdisziplin zu befördern. «In seinen
Handlungen be eißigt er [der Protestant] sich dahero der
Redlichkeit und Aufrichtigkeit, weil einestheils auf dieselbe allein
ein solides Glück gebaut werden kann, anderntheils aber bey diesen
Leuten keine Art der Buße vor gültig gehalten wird, als die mit der
Besserung des Herzens verknüpft ist.» Auch viele protestantische
Kulturdeuter des frühen 19. Jahrhunderts erklärten sich die
besondere kulturelle Leistungskraft des Protestantismus durch
dessen eigentümliche, die Totalität des Weltumgangs prägende
«Berufstreue». So schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen
Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821: «Von der
protestantischen Religion ging das Zutrauen der Individuen
gegeneinander aus, das Vertrauen auf ihre Gesinnung, denn in der
protestantischen Kirche sind die religiösen Werke das ganze Leben,
die Thätigkeit desselben überhaupt.» Und der spätaufklärerische
Publizist Carl Gustav Jochmann (1789–1830) rechnete es wenige
Jahre später «zu den Eigenthümlichkeiten des Protestantismus, nicht
in Zeichen und Gebräuchen, sondern in einer durch ihren
wohlthätigen Ein uss auf das Leben sich bewährenden
Gesinnungsweise die Religion zu erkennen; eben daher allen äußern
Gottesdienst, in Vergleichung mit jenem innern und wahren, für
eine dem Gewissen eines Jeden anheimzustellende und keinem
aufzudringende Nebensache zu erklären». In der Tat richteten sich
in protestantischen Lebenswelten die religiösen Energien in
besonderer Weise auf aktive Weltgestaltung. Erfolgsdenken,
Leistungsaktivismus und Aufstiegsorientierung gewannen in
protestantisch geprägten bürgerlichen Milieus einen sehr viel
höheren Stellenwert als in katholischen Gemeinwesen. Vor allem in
den bi- oder trikonfessionellen europäischen Gesellschaften
entwickelte sich ein leistungsaristokratischer Elitenprotestantismus,
geprägt durch ein Pathos der Weltbemächtigung, des Ausgreifens,
Machens, Veränderns, Neugestaltens.
Erst recht prägte dieser Heilsaktivismus, der moralische (und
häu g auch moralisierende) Anspruch, um Gottes und des eigenen
Seelenheils willen die Welt verändern, verbessern zu müssen, die
vielen kleinen protestantischen Glaubens- und
Gesinnungsgemeinschaften in der «Neuen Welt», die sich in
nationalreligiöser Erwählungssprache als «neues Zion» und
Bewahrer von «God’s own country» feierten. «Going west», die
Eroberung des großen Landes – im blutigen Kampf gegen die
«Indianer» oder Native Americans – wurde immer auch als
protestantische Kulturmission imaginiert und das soziale
Mobilitätswunder des American dream Sonntag für Sonntag von den
Kanzeln herab der versammelten Gemeinde gepredigt. Dass der
Schuster gerade nicht bei seinem Leisten bleiben solle, hörten die
Kinder von klein auf in den Sunday schools, und vielfältige
kommunitäre Prämien – Anerkennung, Prestige, Ehrerbietung,
Kreditwürdigkeit, Bonität, «trust» – belohnten die Umsetzung der
Lektion im Leben der Gemeinde. Die naheliegende Vermutung, dies
alles sei mehr oder minder nostalgische Erinnerung an ferne
Idealzeiten protestantischer Welterschließung, ist falsch. Der
britische Religionssoziologe David Martin hat in seinem inzwischen
berühmten Buch Tongues of Fire. The Explosion of Protestantism in
Latin America (1990; eine deutsche Übersetzung fehlt immer noch)
gezeigt, dass auch die schnellen Missionserfolge protestantischer
P ngstkirchen in lateinamerikanischen Gesellschaften eng verknüpft
sind mit dem Heilsaktivismus, der in den kleineren protestantischen
Gemeinschaften und ihren e zient funktionierenden Netzwerken
karitativer Solidarität prämiert wurde: Lebe als Protestant, dann
wird es dir besser gehen, weil du durch harte gottgewollte
Berufsarbeit nach oben kommen und so mehr Lebenskapital
gewinnen wirst.
Protestantischer Habitus lässt sich auch als religiös inspirierte,
durch den Glauben provozierte «Rationalisierung der
Lebensführung» (Max Weber) beschreiben. Vor allem in den
calvinistischen Eliten der westeuropäischen Länder und der USA
sowie im deutschen Bildungsbürgertum beförderte protestantische
Frömmigkeit «innerweltliche Askese» bzw. einen Habitus rationaler
Selbstdisziplinierung. Zwar tendierte der Protestantismus, im
Gegensatz zu «katholischer Sinnenfreude», «barocker Lebenslust»
und ökonomisch unproduktivem «Müßiggang der Wallfahrer» –
diese katholizismuskritischen Stereotypen sind spätestens seit dem
ausgehenden 17. Jahrhundert verbreitet – vor allem in seinen
reformierten Ausprägungen und in den diversen «Sekten» immer
auch zu moralischem Rigorismus, Gesetzlichkeit, Sittenstrenge,
harter Disziplin, Triebunterdrückung und Kampf gegen die
sündhafte Welt. Langfristig gewichtiger als die äußere
«Sozialdisziplinierung» durch kirchliche oder politische Obrigkeiten
war jedoch die religiös motivierte Bereitschaft zu rigider
Selbstdisziplinierung. Innere Verp ichtung bewirkt sehr viel mehr
als äußerer Zwang; doch mag diese Behauptung bereits eine
spezi sch protestantische Einstellung spiegeln. Für die religiös
induzierte Selbstdisziplinierung erfanden protestantische
Moraltheologen und Philosophen eine eigene Semantik. Sich selbst
überwinden, den vielen sinnlichen Verführungen widerstehen, nicht
den leichteren Weg gehen, sich in die P icht nehmen, den
(Kantischen) Gegensatz von P icht und Neigung aushalten, dem
unbedingten Anspruch des Gewissens folgen, auch die aus der
Gewissensentscheidung möglicherweise resultierende Vereinzelung
auf sich nehmen – in dieser Sprache wurde die Internalisierung von
Gottes Gesetz bzw. das tätige Ergreifen des Gesetzes im «Herzen»
beschrieben. Mit strenger moralischer Selbstdisziplinierung konnten
sich einerseits Zwanghaftigkeit, grausame Härte (gegen sich selbst
und gegenüber anderen), Sittenstrenge, Prinzipienreiterei und
arrogante Abwertung der Sünder verbinden; vor allem in der frühen
calvinistischen Ethik, etwa bei Lambertus Danäus (1530–1595), oder
in den Tugenddebatten der niederländischen Reformierten gibt es
dafür zahlreiche Beispiele. Es verband sich damit andererseits aber
auch der kulturelle Mehrwert einer strengen, rationalisierten,
antihedonistischen Lebensführung: Der protestantische Fromme
lebte nicht in den Tag hinein, sondern folgte einer «vernünftigen»
Ökonomie der Zeit. Er stellte gern Uhren auf, teilte sich die Zeit ein,
erklärte Pünktlichkeit zu einer Tugend und suchte die von Gott
gewährte Lebenszeit sinnvoll zu nutzen. Er ging mit irrationalen
Grundströmungen des Daseins distanzierter und kontrollierter als
Katholiken um. Er habitualisierte die Bereitschaft zur
Triebunterdrückung und hob die Scheidung von Arbeit und
Vergnügen auf, indem er auch noch die «Freizeit» von ihrer
Funktion für den «Beruf» her, als Erholung, Zeit zur Einkehr oder
Chance zur Regeneration, de nierte und lebte.
Die Durchsetzung protestantischer Askese lässt sich primär an
solchen Feldern der Lebensführung verdeutlichen, die in
besonderem Maße vom Kon ikt zwischen der unaufhebbaren
Irrationalität des Lebens und der postulierten Rationalität des
Menschen geprägt sind. Schon in der Reformationszeit konkretisierte
sich protestantische Frömmigkeit in einer folgenreichen
«Entzauberung» des Todes. Luther und die Reformatoren
unterbanden den Heiligenkult als Hilfe der Toten für die Lebendigen
sowie die Fürbitte der Lebenden für die im Fegefeuer schmorenden
Toten. Sie empfanden neben dieser spirituellen auch die physische
Präsenz der Toten als bedrohlich, kritisierten die Vorstellung
«geweihter Erde» und traten für die Verlagerung der Friedhöfe aus
den Städten ein, weil «die Begräbnisstätte der Toten mehr nach
medizinischen als nach memorialen Erwägungen ausgewählt
werden» sollte (Craig Koslofsky). Lutherische wie reformierte
Beerdigungsliturgie und die protestantische Leichenpredigt waren
allein an die Lebenden gerichtet und vergegenwärtigten symbolisch
die Aufwertung dieser gegenüber jener Welt: Das Gedächtnis der
Toten trat hinter die geistliche Erbauung der Lebenden zurück, die
eng mit dem sozialmoralischen Appell verknüpft wurde, das irdische
Leben gottwohlgefällig, in tätiger Entsagung und unter konsequenter
Ausnutzung der begrenzten Lebenszeit zu gestalten: «Herr, lehre uns
bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden»
(Psalm 90,12) bedeutete auf protestantischen Friedhöfen vor allem
die Tugendbotschaft, Zeit – die knappste aller menschlichen
Ressourcen – nicht «unnütz zu vergeuden».
Auch für die Sexualität, das Feld der Triebunterdrückung par
excellence, lässt sich vor allem in bürgerlichen Eliten ein
protestantischer Habitus rationaler Selbstkontrolle beobachten.
Sexualität repräsentiert den Lebensbereich, in dem Kon ikte
zwischen Irrationalität (Trieb) und Rationalität (Leistung durch
Verzicht) die Persönlichkeit besonders stark bestimmen. Zur
konfessionskulturellen Unterscheidungssemantik gehörte es seit dem
18. Jahrhundert, dass protestantische Gelehrte den Katholiken, vor
allem auch dem katholischen Klerus, Lüsternheit, Unzucht, Neigung
zum Ehebruch, Promiskuität, Schamlosigkeit und Doppelmoral
vorwarfen. Für katholische Länder wie Italien und Spanien, aber
auch für Frankreich zeichneten sie Bilder sittlichen Verfalls, bei
denen Hurerei, Knabenliebe und eheliche Untreue im Vordergrund
standen. Den protestantischen Rationalisten und Frühliberalen galt
Italien nicht als heiteres Arkadien, sondern als römisches
Sündenbabel.
Demgegenüber präsentierte sich der Protestant als ein
selbstmächtiges Subjekt strenger Triebkontrolle, das rationale
Normen perfekt verinnerlichen und den sinnlichen Verführungen
einer eitlen, bösen Welt widerstehen kann. Die mit der
Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft und der
Urbanisierung verbundene Au ösung überkommener Sitte sowie die
seit dem Vormärz von Rationalisten, lutherischen Konservativen,
Vermittlungstheologen und Spekulativen Theologen wie Heinrich
Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), Ernst Wilhelm Hengstenberg
(1802–1869), Carl Ullmann (1796–1865), Karl August von Hase
(1800–1890) und Karl Rosenkranz (1805–1879) intensiv
diskutierten Phänomene einer «Rehabilitation» oder «Emanzipation
des Fleisches» provozierten in allen protestantischen Milieus,
keineswegs nur bei den konfessionalistisch Konservativen, vielfältige
Gegenbewegungen und theoretische Anstrengungen zur Stärkung
einer rigiden Sexualmoral. In zahlreichen, nach scharf markierten
Geschlechtergrenzen organisierten Vereinen (kirchliche
Männervereine, Jungmädchenvereine, Frauenvereine) wurden neue
Keuschheitsideale propagiert und eine Sexualmoral kommuniziert,
die der viel beschworenen Überlegenheit des Geistes über «das
Fleisch» entsprechend auf rationale Selbstkontrolle, Entsagung und
strikte Einbindung der Sexualität in die Institution der Ehe setzte. In
der deutschsprachigen akademischen Theologie, in der seit den
vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ethische Re exion ein
immer größeres Gewicht gewann, wurden Verzicht und Prüderie
zum idealen protestantischen Habitus verklärt. Viel stärker noch gilt
dies für die Tugenddiskurse im viktorianischen England und in den
USA.
Auch die moderne bürgerliche «Ordnung der Geschlechter» und
die mit ihr verbundene Gefühlskultur wurden massiv durch
protestantische Strategien beein usst, die anarchischen Potentiale
menschlicher Subjektivität rational zu begrenzen. Protestanten
erwarteten von sich, selbst in besonders bewegenden, emotional
herausragenden Situationen den Ausdruck der Gefühle kultivieren
zu können. Liebe sollte intimisiert, Trauer ritualisiert, Aggression
zivilisiert werden. In den nordamerikanischen, stark puritanisch
geprägten Protestantismen wurde «emotional control» zu einer der
wichtigsten Ausdrucksformen gelebten Glaubens: Der Fromme war
seiner Erwählung gewiss, wenn er seine Gefühle unter Kontrolle
halten konnte. Protestantische Rationalisierung der Gefühle verband
sich häu g mit der Konstruktion von emotionsspezi schen
Geschlechterrollen: Dem Mann als dem idealen Repräsentanten der
Vernunft wurde ein höheres Maß an Emotionskontrolle abverlangt
als der Frau, der es in bestimmten herausragenden Momenten
erlaubt war, ihren Gefühlen auch durch Tränen Ausdruck zu
verleihen. Selbst in der Welt der protestantischen Frauen blieb
Gefühlskontrolle aber die vorrangige religiös-kulturelle Norm.
Theoretikerinnen der kulturprotestantisch-liberalen
Frauenbewegung der Jahrhundertwende begründeten die
Emanzipationsansprüche der Frauen auch damit, dass sie den
Männern an rationaler Distanz gegenüber emotionaler
Unmittelbarkeit überlegen seien.
Auch für andere Bereiche der Lebensführung lassen sich seit dem
späten 17. Jahrhundert vergleichbare Muster protestantisch
fundierter Rationalisierung nachweisen. Zum besonderen
Erscheinungsbild protestantischer Frömmigkeit gehörten, vor allem
im 19. und frühen 20. Jahrhundert, der Kampf gegen Suchtgefahren
und Alkoholkonsum und, zumal in den Freikirchen Großbritanniens
und der USA, die Propagierung der entschlossenen Abstinenz von
allen alkoholischen Genüssen. In Deutschland übernahmen auf
diesem Feld neben den sozialkonservativen Vereinen der «Inneren
Mission» die seit dem späten 19. Jahrhundert aus Großbritannien
kommenden neuen protestantischen Gemeinschaften (Methodisten,
Neuapostolische Kirche, Heilsarmee) sowie nach der
Jahrhundertwende die P ngstbewegung eine Vorreiterrolle. Mit
ihrer «erregten Religion» (Christoph Ribbat) wie mit der Botschaft
der Mäßigkeit und Enthaltsamkeit fanden sie in kleinbürgerlichen,
proletarischen und bäuerlichen Sozialgruppen bemerkenswerte
Resonanz. Ihrer kleinbürgerlich spießigen Sozialmoral entsprach
auch die Agitation gegen Luxus, Mode, Glücksspiel und Lotterien,
die im Protestantismus schon seit der frühneuzeitlichen
Religionspolizei und den Predigten gegen sexualitätsbetonte,
unehrenhafte Kleidung, übertriebene Festkultur und demonstrativ
zur Schau gestellten Reichtum betrieben wurde. Die um des
Glaubens willen geforderte Versittlichung war dabei nicht zu
trennen von einer starken Sozialdisziplinierung durch die (kleine)
religiöse Gemeinschaft.
Seit Max Webers 1904/05 verö entlichter Studie Die
protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus fand die Frage
nach möglichen Zusammenhängen zwischen der «innerweltlichen
Askese» der puritanisch Glaubensstarken und der Genese bzw.
Durchsetzung des modernen okzidentalen Betriebskapitalismus in
den Sozial- und Kulturwissenschaften weltweit große
Aufmerksamkeit. Ausgehend von der um 1900 noch evidenten
Erfahrung, dass die römisch-katholisch geprägten Länder Europas
und die katholischen Territorien des deutschen Reiches ökonomisch
gegenüber den protestantischen Gebieten deutlich zurückgeblieben
waren, hatte Weber in Aufnahme von Argumentations guren
Schneckenburgers und Hundeshagens die Ausbildung eines
kapitalismusfördernden asketischen Habitus auf die – mit der
reformierten Lehre von der doppelten Prädestination gegebene –
Erwählungsunsicherheit des puritanischen Frommen zurückgeführt:
Ökonomischer Erfolg, wie er durch kapitalistische Rationalisierung
erzeugt werden konnte, galt den Puritanern als ein Zeichen
de nitiven Erwähltseins. Die «Weber-These», von den Zeitgenossen
häu g auch «Troeltsch-Weber-These» genannt, provozierte eine
Grundlagendebatte über «Kapitalismus und Protestantismus», an der
sich prominente Vertreter aller historischen Kulturwissenschaften
beteiligten. Diese Kontroversen dauern bis in die unmittelbare
Gegenwart und können wohl nur durch eine konsequente
Historisierung von Webers Argumentationsmustern produktiv
bearbeitet werden. Bei allem Streit über die historisch-empirische
Plausibilität von Webers Deutungsmodell, in dem der einzelne
Fromme gegenüber der Gemeinde unhistorisch isoliert wurde,
betonten auch Weber-Kritiker ökonomisch relevante
Rationalisierungsleistungen protestantischer Frömmigkeit. Die
Steigerung äußerer Disziplin förderte die Produktivität der Arbeit.
Bescheidenheit, Konsumverzicht und Sparsamkeit galten ebenso als
gottwohlgefällig wie eine ziel- und zweckgerichtete, langfristige
Lebensplanung. Die religiöse Höchstschätzung innerweltlicher
Askese trug dazu bei, ein Ethos der Sachlichkeit und ökonomischen
E zienz auszubilden. Wer unsolide lebte, unzuverlässig war, sich
verschuldete und Bankrott machte, wurde nicht nur als ökonomisch
gescheitert wahrgenommen, sondern zugleich als ein Sünder
ausgegrenzt, der seinen Misserfolg und sozialen Abstieg selbst
verschuldet habe. Der durch Genügsamkeit, Sparsamkeit, Leistung,
Rationalität und E zienz erreichte ökonomisch-soziale Erfolg
beglaubigte im protestantischen Frömmigkeitskosmos zeichenhaft
die gnädige Annahme durch Gott. Entsprechendes gilt für den stark
protestantisch geprägten Kanon an Wertorientierungen, der seit dem
18. Jahrhundert als spezi sch «preußisches P ichtbewusstsein»
etikettiert wird: Begri e wie Treue, Ehre, Verlässlichkeit,
Aufrichtigkeit, Sachlichkeit, Diensteifer und Selbstzucht wurden
durch protestantische Tradition legitimiert und verstärkt. Sie
gewannen so einen religiösen Verp ichtungscharakter. Immer blieb
das religiös erworbene Erfolgskapital, sowohl das symbolische von
Ehre, Anerkennung und Prestige als auch das harte ökonomische
von Eigentum, Reichtum und Scha enskraft, rückgebunden an die
soziale Basisinstitution der Familie und das konkrete Gemeinwesen.
Der protestantische Unternehmer sollte nicht für sich, sondern für
sein Unternehmen, für seine Familie leben. Sein asketischer
Lebensstil brachte es mit sich, dass ihm mehr Geld für Investitionen
im Unternehmen und für die Unterstützung seiner Kirche zur
Verfügung stand. Protestantisches Familienethos folgte einer
spezi schen intergenerationellen Temporallogik: Die Kinder sollten
es einmal besser haben – in der Erwartung, dass auch diese
berufsaktivistisch und genussasketisch ihre Lebensführung dann
wieder an der besseren Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder
orientieren würden.
Die hohe Bedeutung, die protestantischer Berufstreue für die
Durchsetzung eines bürgerlichen Leistungsethos zukam, spiegelt sich
auch in protestantismuskritischen Diskursen. Gegenläu g zu den
Selbstdeutungen vieler Protestanten, die Avantgarde des kulturellen
Fortschritts zu repräsentieren, wurden die Protestanten hier für alle
Übel der modernen Welt verantwortlich gemacht. Je mehr die
Schattenseiten der kapitalistischen Ökonomie sichtbar wurden,
desto stärker betonten modernitätsmüde Intellektuelle aller Couleur
die unheilvolle Rolle der Protestanten. Friedrich Gundolf und
Friedrich Wolters, zwei intellektuelle Wortführer der «ästhetischen
Fundamentalisten» (Stefan Breuer) um Stefan George, erklärten
1912: «Unsre ablehnung des protestantismus hat darin ihren grund,
dass er die voraussetzung bildet zur liberalen, zur bürgerlichen, zur
utilitären entwicklung. Dass ein enger zusammenhang besteht
zwischen der protestantischen und der kapitalistischen welt ist […]
durch die klassische schrift Max Webers unwiderleglich begründet
worden. Überall wo der katholizismus herrschte war er ein bollwerk
gegen diese welt […] Überall wo die protestantische form des
christentums eingang ndet kapitalisiert, industrialisiert sie die
völker […] Bis in die fernsten winkel wird alles urmässige,
substanzhafte, wertvoll vitale verdrängt, und so kann die alte
weissagung […] fast zur mathematischen gewissheit erhoben
werden: ‹dass das ende der tage gekommen sei, wenn der Letzte
mensch christ geworden sei› (protestantisch-angloamerikanischer
christ).»

Die Moralisierung des Politischen

Sowohl in den lutherischen Territorien Mittel-, Ost- und


Nordeuropas als auch in den westeuropäischen reformierten
Ländern und in den USA übten protestantische Eliten einen
tiefgreifenden Ein uss auf die Gestaltung des politischen Systems
aus. Religiöse Überzeugungen und theologische Leitvorstellungen
waren für die moralische Kultur und die politischen Einstellungen
dieser Eliten von großem Gewicht. Insbesondere bei der Begründung
oder der Begrenzung politischer Macht sowie bei der Konstruktion
politischer Institutionen spielten protestantische Theologoumena
eine wichtige Rolle. Auch nach der tendenziellen
Entkonfessionalisierung des Politischen in der Aufklärung blieben
Theologie und politische Ethik der Protestanten zentrale Medien
fundamentalpolitischer Diskurse. Kontroversen über das Verhältnis
von Reformation und Politik oder den «politischen Protestantismus»
– diese Formel scheint in den konfessionellen Deutungskämpfen um
die Französische Revolution geprägt worden zu sein – dienten bis in
die unmittelbare Gegenwart der Selbstverständigung der
Protestanten und ihrer Abgrenzung vom Katholizismus.
Altgläubige Theologen und Juristen hatten im 16. Jahrhundert
darauf hingewiesen, dass der reformatorische Gewissensprotest
gegen Papst und Kirche auch die Autorität des Kaisers bedrohe und
dazu führe, die Legitimität der Reichsverfassung in Frage zu stellen.
Indem sie neben der theologischen auch die juristische und
politische Legitimität des reformatorischen Protests bestritten,
erklärten sie die «acatholici» zu Feinden der Rechtsordnung. Immer
wieder hieß es in der altgläubigen Konfessionspolemik, dass die
Protestanten die Herrschaft von Kaiser und Fürsten unterminierten.
Dies zwang die Theologen und Juristen der lutherischen und
reformierten Religionsparteien dazu, ihre politische Zuverlässigkeit
zu erweisen und den wiederentdeckten evangelischen Glauben als
Quelle wahrer politischer Autorität darzustellen.
Die Rechtsgelehrten des ius publicum unterschieden zunächst
zwischen der politischen Ethik der Lutheraner und derjenigen der
Calvinisten. Die von ihnen entwickelten Unterscheidungs guren
wurden bis in die neueren Auseinandersetzungen um den
«politischen Sonderweg» der Deutschen tradiert. Repräsentativ für
die Unterscheidung von lutherischer und calvinistischer politischer
Ethik ist Samuel Pufendorfs 1667 unter Pseudonym verö entlichte
Schrift De statu imperii Germanici. Die Frage, «waß ein jede der
Dreyen in teutschland freygelassenen Religionen gleichsam vor ein
sonderbahres an sich habe», bezog Pufendorf auch auf das
Politische. Gegenüber der römisch-katholischen Polemik habe er «in
warheit bey der Lutherischen Religion nichts anmerkken können
dass denen Gründen der Civil Lehr zu wider liefe». Der besondere
Vorzug der «lutherischen Religion» sei die Stärkung der Treue der
Untertanen zur Obrigkeit: «Wie dahero kein religion um die
Teutschen Fürsten sich besser verdient machen kunte; also
bedunkket mich das einige kaum ins gemein dem Monarchischen
Staat bequemer falle als eben diese.» Für Pufendorf lag das
Spezi kum der politischen Mentalität der Lutheraner in der religiös
verinnerlichten Obrigkeitstreue, die er zum Teil auf das
landesherrliche Kirchenregiment zurückführte. Demgegenüber
schrieb er der «Calvinischen Religion» eine A nität zu
Volksherrschaft und Republik zu und kritisierte die katholische
Frömmigkeitspraxis als eine Priesterherrschaft, die auch im
Politischen nur Unfreiheit erzeuge.
Diese Distinktionen wurden bis in die Konfessionskontroversen
von Restaurationszeit und Vormärz hinein tradiert:
Staatsfrömmigkeit avancierte in Zustimmung oder Kritik zum
politisch-ethischen Markenzeichen der Lutheraner, demokratische
Freiheitsliebe zur Leitformel für die Calvinisten, autoritäre
Priesterherrschaft zur kritischen Stereotype für die Katholiken.
Obgleich für die Aufklärer die Unterschiede zwischen Lutheranern
und Reformierten hinter einen allgemeinen Begri des
Protestantismus als der Religion der «Denk- und Gewissensfreiheit»
zurücktraten, ging das Wissen um politisch-ethische und
sozialmoralische Di erenzen zwischen den beiden protestantischen
Hauptkonfessionen nicht verloren. Lutherische Tradition wurde
vorrangig mit sozialpaternalistischen Idealen des «gemeinen Wohls
aller» und der umfassenden obrigkeitlichen Fürsorge für den
beglückungsbedürftigen Bürger verbunden, reformierte Tradition
primär mit Formen partizipatorischer Selbstregierung mündiger
Bürger, die ihre Freiheitsrechte als Kirchenälteste in gemeindlicher
Selbstregierung, in Presbyterien und Synoden entdeckt hatten.
Mit der Fundamentalpolitisierung ethischer Re exion infolge der
Französischen Revolution und der stärkeren Europäisierung der
Konfessionsdiskurse wandelten sich auch die Deutungsmuster der
politischen Folgen der Reformation. Die Meinungsführerschaft ging
zunächst an die Franzosen über. In der Sitzung des 15. Germinal im
Jahr X (Anfang April 1802) hatte die Académie Française einen
Preis zur Beantwortung der Frage ausgesetzt: «Welches ist der
Ein uss der Reformation Luthers auf die politische Lage der
verschiedenen Staaten und den Fortschritt der Wissenschaften
gewesen?» Ausgezeichnet wurde eine Abhandlung des O ziers,
Reiseschriftstellers und Privatgelehrten Charles François Dominique
de Villers (1765–1815), die auch deutsche Übersetzer fand (Versuch
über den Geist und den Ein uss der Reformation Luthers).
Reformationsdeutung betrieb er als Revolutionstheodizee. Indem die
Reformation den menschlichen Geist von der Vorherrschaft der
Kleriker befreit, den Theologen die Denkfreiheit erkämpft und das
Eigenrecht der Wissenschaften gegenüber einer sie begrenzenden
Kirchenscholastik begründet habe, habe sie dem «neuern Geist» der
Freiheit zur Durchsetzung verholfen und «die Völker des Nordens zu
Republikanern» gemacht. «Die Reformation, welche anfangs nichts
als eine Rückkehr zur Freyheit in Religionssachen war, wurde also
[…] auch eine Rückkehr zur Freyheit in Absicht auf Politik», «eine
Rückkehr zu den Grundsätzen von Liberalität und Humanität». So
war die Gründung der République Française «ein entferntes aber
notwendiges Corollar der Reformation». Villers verlangte deshalb,
den Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus primär in
politischen Begri en zu de nieren: Seit der Reformation könne es
als «eine durch Erfahrung bestätigte Grundmaxime [gelten], dass
der Catholicism die beste Stütze der unumschränkten Gewalt sey, so
wie der Protestantism […] den republikanischen Geist begünstige».
Einen inneren Zusammenhang von Protestantismus und
bürgerlicher Freiheit sahen auch deutsche Frühliberale und
theologische Rationalisten. Um den Vorwurf konservativer
Katholiken zu entkräften, dass die Revolution ein Produkt
protestantischen Autonomiewahns sei, konstruierten Heinrich
Gottlieb Tzschirner (1778–1828), Karl Gottlieb Bretschneider
(1776–1848) und Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) ein
Geschichtsbild, demzufolge Anarchie und Despotismus der
Jakobiner nicht auf die reformatorische Freiheit zurückzuführen
seien, sondern als notwendige Folge katholisch klerikaler Repression
verstanden werden müssten. Mit Blick auf wachsende politische
Unterdrückung und Restauration betonten theologische
Rationalisten und politische Frühliberale gemeinsam Die Aehnlichkeit
des Kampfes um bürgerliche und politische Freiheit in unserem Zeitalter
mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der
Reformation (Karl Heinrich Ludwig Poelitz). Zum
Reformationsjubiläum 1817 beschrieb Wilhelm Martin Leberecht de
Wette (1780–1849) die politische Aktualität des «sittlichen Geistes
der Reformation»: «Der Geist des Protestantismus bringt nothwendig
einen Geist der Freiheit und Selbstständigkeit unter das Volk; die
evangelische Freiheit wird nothwendig zur politischen. Wenn der
Christ in Glaubenssachen keinen Richter über sich erkennt, wieviel
weniger in Sachen der Vernunft, die ein jeglicher zu begreifen sich
zutraut?»
Für die gegenläu ge Auslegung des Protestantismusbegri s wurde
vor allem der lutherisch-konservative Rechtsphilosoph Friedrich
Julius Stahl ein ussreich. In Vorlesungen Der Protestantismus als
politisches Prinzip und Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche
suchte er gegen katholische Restaurationstheoretiker einerseits und
protestantische Liberale andererseits zu zeigen, dass die «Analogie
[…] zwischen Reformation und Revolution, zwischen der Stellung
des Protestantismus auf kirchlichem und dem Liberalismus auf
politischem Gebiete» falsch sei. Dazu rekurrierte er auf eine
Unterscheidung von wahrer christlicher und falscher politischer
Freiheit, die seit den Revolutionsdebatten des Jahrhundertbeginns
vielfältig variiert worden war: «Wohl vertritt der Protestantismus
die Freiheit, eben so wie Rationalismus und die Revolution die
Freiheit vertreten, aber der Protestantismus vertritt die ächte
Freiheit, der Rationalismus und die Revolution vertreten die falsche
Freiheit und die falsche Freiheit ist nimmermehr eine Konsequenz
und eine Analogie zur ächten.» Auch Stahl sah im Protestantismus
«das Princip der neuen Weltepoche».
Da die innerprotestantischen Kontroversen um das Verhältnis von
protestantischer (bzw. evangelischer) Freiheit und liberaler
Bewegung die Desintegrationstendenzen innerhalb der
evangelischen Landeskirchen fortwährend verstärkten, wurde die
Frage nach dem aktuellen politischen Gehalt der reformatorischen
Überlieferung bzw. nach dem «politischen Protestantismus» zu
einem zentralen Thema einer neuen kulturhistorischen
Selbstthematisierung protestantischer Theologie. Repräsentativ
dafür sind, neben den Arbeiten Schneckenburgers, diverse Studien
Karl Bernhard Hundeshagens über das Staatsverständnis des
Protestantismus und seine Konzeption bürgerlicher Freiheit. In
Vorwegnahme der Sonderwegstheorien des 20. Jahrhunderts vertrat
Hundeshagen die These, dass «an die calvinistische Form des
Protestantismus ursprünglich allein die Erzeugung jenes ganzen
Vorrathes freierer staatsrechtlicher Doctrinen sich knüpft, mit deren
Verarbeitung noch unsre Zeit so vielseitig sich beschäftigt». Indem
Hundeshagen zwischen «bloß formeller» und «sittlicher Freiheit»
unterschied und gegen den äußeren Rechtsstaat einen protestantisch
fundierten «sittlichen Staat» forderte, formulierte er politisch-
ethische Deutungsmuster, die die Debatten um den politischen
Gehalt protestantischer Freiheit bis in die Gegenwart bestimmen.
Auch förderte er jene stereotype Entgegensetzung von lutherischer
Staatsfrömmigkeit und calvinistischem Freiheitsdenken, die von
kulturliberalen Protestanten wie Weber, Troeltsch und im Rückblick
auch Thomas Mann für die Kritik der autoritären Strukturen des
Kaiserreichs funktionalisiert wurde. Webers und Troeltschs Kritik
des deutschen Luthertums war hart und scharf. In einem Brief an
den prominenten Berliner Kirchenhistoriker Adolf Harnack lobte
Weber zwar Luther als religiöses Genie, machte aber das Luthertum
für alle politischen Fehlentwicklungen der autoritäts xierten
deutschen politischen Kultur verantwortlich: «So turmhoch Luther
über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es
nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste
der Schrecken. […] Es ist eine innerlich schwierige und tragische
Situation: Niemand von uns könnte selbst ‹Sekten›-Mensch, Quäker,
Baptist etc. sein, Jeder von uns muß die Überlegenheit des – im
Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nicht-ethischen
und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. […]
Aber daß unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in
keiner Form, durchgemacht hat» – im Unterschied zu den
reformierten Kirchen und Denominationen der angelsächsischen
Welt – ist «der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir
selbst) hassenswerth nde». Troeltsch bescheinigt dem Luthertum
«einen besonderen konservativ-autoritären Zug» und eine
staatsfromme antidemokratische Ethik.
Die neuere Forschung über den «politischen Protestantismus»
betont vor allem die politische Mehrdeutigkeit protestantischer
Tradition. In allen Protestantismen, besonders stark im Luthertum,
führte die Suche nach einem sittlichen Staatsverständnis dazu, dem
Staat eine übergesellschaftliche Autorität zuzuerkennen und ihn als
Garanten des gemeinen Wohls aller anzusehen. In allen
Protestantismen wurde die reformatorische libertas christiana aber
auch in der Forderung nach elementaren Freiheitsrechten des
Einzelnen gegenüber den staatlichen Instanzen konkretisiert. In der
neueren Debatte über Konfessionalisierung ist die alte Vorstellung,
dass die politisch relevanten Unterschiede zwischen Reformierten
und Lutheranern «essentieller Art» gewesen seien, vielfältig kritisiert
worden. Lutherische Theologen und Juristen entwickelten nicht nur
Theorien eines regimen christianum, die fürstlichen Absolutismus und
starken Sittenstaat legitimierten, sondern zugleich Theorien der
libertas conscientiae und autonomia, die trotz aller Vorordnung des
bonum commune vor individuelle Religionsfreiheit modernem
Menschenrechtsdenken den Weg bereiteten. Auch hat sich die These
von Obrigkeitsgehorsam und Staatsfrömmigkeit der alt-lutherischen
Geistlichen als ein liberaler Mythos des 19. Jahrhunderts erwiesen.
Umgekehrt gab es bei den Reformierten neben Traditionslinien, die,
im Sinne der alten These des mit Weber und Troeltsch eng
befreundeten Heidelberger Staatsrechtslehrers Georg Jellinek
(1851–1911), auf das individualistische Menschenrechtskonzept der
amerikanischen Revolution bzw. das naturrechtlich-liberale Modell
einer politisch unverfügbaren, vorstaatlichen Würde des
Individuums vorausweisen, starke A nitäten zu Theorien des
Politischen, die auch in religiösen Fragen die Autorität der
politischen Obrigkeiten gegenüber dissentierenden Gruppen
betonten. Hier wie dort führte die Relativierung der «sichtbaren
Kirche» dazu, dass sich religiöse Energien auf den Staat richteten,
der mehr als nur Garant von Recht und Ordnung, etwa auch ein
Agent von kultureller Sinnstiftung, sozialer Integration, Beförderung
des allgemeinen Bürgerglücks und rechten Glaubens sein sollte.
Auch im 19. und 20. Jahrhundert waren die Frontlinien in den
innerprotestantischen Kulturkämpfen zwischen Liberalen und
Konservativen keineswegs mit den konfessionellen Grenzen
zwischen Reformierten und Lutheranern identisch. Die autoritären
Politikkonzepte konservativer Kulturlutheraner wurden mit
theozentrischem Pathos von reformierten Theologen und Politikern
wie dem Niederländer Abraham Kuyper (1837–1920) noch
verstärkt, und umgekehrt entwickelten nichtkonfessionalistische
Lutheraner zahlreiche politische Ethiken, die auf die Stärkung von
Bürgerrechten und politischer Partizipation hinausliefen.
Trotz der extrem großen Spannweite des «politischen
Protestantismus» lässt sich ein spezi sches Strukturmuster
«protestantischer Politik» erkennen. Nachdem die Protestanten die
kirchliche Institution theologisch abgewertet hatten, neigten sie zu
einer religiös-moralischen Überlegitimierung des Politischen.
Entklerikalisierung setzte Energien zur religiösen Au adung des
Politischen frei. Politische Interessenkon ikte wurden dann primär
in moralischer Semantik gedeutet und pragmatischer Ausgleich als
«falscher Kompromiss» denunziert. Nachdem sie die starke Kirche
zerstört hatten, standen Protestanten in der Gefahr, nun den Staat
zur Kirche zu machen, ihn jedenfalls mit extrem hohen «sittlichen»
Erwartungen zu verbinden. Politisches Handeln sollte primär
Handeln aus Überzeugung, Gesinnung und individueller Moralität
sein. Dieser protestantische Vorrang der «Gesinnungsethik» vor
institutionenorientierter «Verantwortungsethik» bestimmte auch die
O enheit vieler Protestanten gegenüber dem modernen
Nationalismus, der wichtigsten Integrationsideologie der
bürgerlichen Gesellschaft, sowie den totalitären
Vergemeinschaftungsutopien des 20. Jahrhunderts. Protestantische
Frömmigkeit birgt in allem Gewissensernst spezi sche
Gefährdungspotentiale: Indem der Protestant stärker als der
Katholik auf sich selbst gestellt ist, ist er auch gefährdeter, labiler.
Ihm fehlen die rituellen, sakramentalen Entlastungen durch eine
starke Institution. Sofern sich überhaupt der Idealtyp eines
«protestantischen Menschen» beschreiben lässt, muss dieses
Zurückgeworfensein auf die eigene Subjektivität ein zentrales
Element bilden. Die protestantische Persönlichkeit ist in sich
widersprüchlicher, zerrissener als die des institutionende nierten
Katholiken: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, beides eng
miteinander verknüpft, aber immer geprägt von einem extrem
hohen religiös-moralischen Anspruch.
Protestanten standen deshalb fortwährend in der Gefahr, einer
weltlichen Autorität jenen religiösen Kredit zu geben, den sie dem
Papst einst verweigert hatten. Weil sie auf der Suche nach neuer
Evidenz waren, waren sie zeitgeisto ener. Ungleich stärker als
katholische Theologen waren protestantische Intellektuelle bereit,
reformatorische Überlieferung mit allen möglichen modernen
Ideologien zu verbinden. Vor allem die deutschen Nationalismen
wurden primär mit protestantischen Integrationsmustern
konstruiert, die, so die Ho nung, langfristig auch die Katholiken in
die deutsch-protestantische Gemeinschaft einbinden könnten. Der
deutsche Nationalismus gewann so die Gestalt einer «politischen
Religion», die wegen ihrer starken Prägung durch Ideen und
Repräsentationsmuster der eigenen Tradition gerade in den
protestantischen Milieus vielfältige Resonanz fand.
Diese «politische Religion» wird im historischen Diskurs
inzwischen als «Nationalprotestantismus» bezeichnet, der
entscheidend zur religiösen Legitimation der kleindeutschen
Reichsgründung von 1870/71 beitrug, dann aber auch Elemente
aller möglichen völkischen Ideologien aufsog und schon vor dem
Ersten Weltkrieg die «deutsche Nation» sakralisierte. In der
Glaubensbewegung der «Deutschen Christen», die, stark geprägt von
der Fixierung auf die «Reinheit» von «Volk» und «Rasse», ein
«arteigenes Christentum» verkündete, 1933 begeistert die «Deutsche
Revolution» der Nationalsozialisten unterstützte und für eine von
einem Reichsbischof geleitete Reichskirche kämpfte, aus der
getaufte Juden ausgeschlossen und in eine eigene judenchristliche
Kirche überführt werden sollten, gewann dieser vor allem von
Männern getragene «Nationalprotestantismus» in der NS-Zeit starken
kirchenpolitischen Ein uss, nicht zuletzt dank seiner
Faszinationskraft für jüngere, zumeist lutherische und radikal
antibürgerliche Pfarrer. Die kirchenpolitische Gegenbewegung der
«Bekennenden Kirche» wurde vor allem von dem aus der Schweiz
stammenden reformierten Theologen Karl Barth (1886–1968)
geprägt, der auch die im Mai 1934 verabschiedete «Theologische
Erklärung» der Bekenntnissynode von (Wuppertal-)Barmen
maßgeblich beein usste. In dieser «Barmer Erklärung», in der Jesus
Christus als «das eine Wort Gottes» bezeugt (These 1) und dem Staat
«nach göttlicher Anordnung» allein die Aufgabe zuerkannt wird,
«nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen
Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht
und Frieden zu sorgen», also «die falsche Lehre» verworfen wird,
«als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag
hinaus die Einzige und totale Ordnung des menschlichen Lebens
werden» (These 5), wurde dem völkischen Glauben der Deutschen
Christen und der Kirchenpolitik des NS-Staates, nicht aber dem
Nationalsozialismus als politischer Bewegung, Widerstand
entgegengesetzt. Viele Vertreter der Bekennenden Kirche
unterstützten zunächst die nationalsozialistische Revolution, und
Traditionen des «Nationalprotestantismus» blieben für prominente
BK-Theologen wie etwa Hans Asmussen, Wilhelm Niemöller und
seinen Bruder Martin Niemöller bestimmend. In Kaiserreich,
Weimarer Republik und NS-Diktatur war der deutsche
Protestantismus politisch vielfältig fragmentiert, plural. Auch die
diversen Programme eines «Religiösen Sozialismus», die um 1900
Schweizerische reformierte Theologen wie Hermann Kutter und
Leonhard Ragaz sowie Intellektuelle in der Weimarer Republik im
Umkreis des charismatischen Salonsozialisten Paul Tillich
entwarfen, lassen sich als Ideensynthesen überkommener
protestantischer Glaubensho nungen mit modernen politischen
Heilserwartungen verstehen.
Der Protestantismus als Bildungsmacht

Luthers reformatorischer Protest entstand im akademischen Milieu.


Er war zunächst ein universitätsgeschichtliches Ereignis. Durch die
Bildungsreformen Philipp Melanchthons bestimmte die
reformatorische Bewegung dann ganz entscheidend die weitere
Entwicklung des Schulwesens und der Universität. Denn die
Entdeckung einer christlichen Eigenwürde des Weltlichen führte
auch zur Anerkennung einer aus der Vormundschaft kirchlicher
Autoritäten entlassenen, darin tendenziell freien Wissenschaft und
zu einer neuen Hochschätzung der Bildung des Menschen. Der
Jenaer kulturprotestantische Pädagoge Wilhelm Rein (1847–1929)
erklärte in einem der weitverbreiteten populären Geschichtswerke,
mit denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts protestantische
Kulturleistungen erinnert und erneuert werden sollten: «Die
Reformation bedeutet den Geist innerer Freiheit für den
Christenmenschen. Freiheit setzt Bildung voraus. So lag in der
Reformation der Antrieb für alle, die sich zur Freiheit eines
Christenmenschen erheben wollten, ihrer inneren Bildung
nachzugehen.»
Selbstbilder der besonderen Bildungsnähe des evangelischen
Christentums haben vor allem in Deutschland eine lange Tradition.
Sie waren häu g durch Selbststilisierungen, Kulturarroganz,
geistesaristokratisches Elitedenken und eine utopische
Fortschrittssemantik geprägt, in der den Katholiken nur die
Vergangenheit und den Protestanten allein die Zukunft gehört.
Selbst in ihren ideologischen Elementen spiegeln diese Stereotypen
aber ein für die deutsche Kulturgeschichte grundlegendes
Phänomen: die Entstehung und kulturelle Durchsetzung eines
«Bildungsbürgertums», das sich stark durch protestantische
Traditionen de nierte und seine kulturellen Hegemonieansprüche
gegenüber anderen Gruppen durch eine konfessionsspezi sche
Semantik rechtfertigte. In den akademischen Eliten des
protestantischen Deutschland nahm die Frömmigkeit seit Pietismus
und Aufklärung die Gestalt einer kirchendistanzierten
«Bildungsreligion» an, in der Rationalisierung der Lebensführung,
Pathos der Sachlichkeit und Herzensbildung eng miteinander
verknüpft waren. Als «profane Religion» (Aleida Assmann)
beinhaltete Bildung «entsprechend der Gottesebenbildlichkeit des
Menschen die genaue Beobachtung der eigenen Person wie die
Entfaltung der ihr durch den Schöpfer gegebenen Anlagen» (Georg
Bollenbeck). Altes kirchendogmatisch de niertes Heilswissen wurde
in ein Bildungswissen transformiert, welches das Postulat der
Selbstbildung des Individuums zur «Persönlichkeit» bzw. die
religiös-sittliche Verp ichtung einschärfte, sich in der individuellen
Lebensführung an Kulturwerten höchsten Ranges und allgemeiner
Geltung zu orientieren.
Normative Selbstdeutungen protestantischer Bildungskultur
wurden schon im Reformationsjahrhundert entwickelt. Sie
entstanden als Antwort auf die Kritik von Humanisten und
Altgläubigen, dass die Reformation den Niedergang von Schulen und
Universitäten bewirke. Erasmus von Rotterdam hatte im März 1528
verkündet: «Ubicunque regnat Luteranismus, ibi litterarum est
interitus» («wo der Lutheranismus herrscht, da ist der Untergang der
Wissenschaften»). Die gelehrten Verteidiger der Reformation
reagierten auf solche Angri e, indem sie ihre Wiederentdeckung des
ursprünglichen Christenglaubens zur unverzichtbaren Grundlage
wahrer Bildung und Wissenschaft erklärten. Zwar waren die neu
gegründeten protestantischen Universitäten im Barockzeitalter weit
davon entfernt, den hier Lehrenden ein prinzipielles Recht auf Lehr-
und Forschungsfreiheit zuzugestehen. Die Auseinandersetzungen um
Johannes Kepler galten schon im späten 17. und 18. Jahrhundert als
das klassische Beispiel dafür, dass unter den Bedingungen der alt-
protestantischen Orthodoxie die Kon ikte zwischen «Wissen» und
«Glauben», Gelehrten und kirchlich-politischen Obrigkeiten genauso
repressiv zu lösen versucht wurden wie in den altgläubigen
Territorien.
Gleichwohl wurden langfristig gegenläu ge Tendenzen
bestimmend. Trotz der engen Einbindung der Universitäten und
sonstigen Bildungsinstitutionen in die Konfessionalisierungspolitik
des frühabsolutistischen, territorialen Fürstenstaates hatten die
calvinistischen und lutherischen Gemeinwesen in Universität und
Schulen immer einen erkennbaren Entwicklungsvorsprung
gegenüber den katholischen Territorien. Zur «Erhaltung und
Ausbreitung der protestantischen Religion» waren sie, wie der
Göttinger Theologe, Orientalist und Wissenschaftsorganisator
Johann David Michaelis (1717–1791) 1768 betonte, auf die P ege
der Wissenschaften und die Gründung «neuer Universitäten»
angewiesen. Um gegenüber ausländischen und katholischen
Universitäten ein höheres Ausbildungsniveau erkämpfen und
wahren zu können, mussten sie «die Freiheit der Lehre» fördern und
selbst den vielen Privatgelehrten im Umkreis der Universitäten mehr
«Denkfreiheit» gewähren. Der reformatorischen Entdeckung einer
Eigenwürde des Weltlichen entsprach es, dass die kirchliche
Obrigkeit nicht mehr als die normative Instanz zur Beurteilung
gelehrten Wissens galt. So konnten die Universitäten zu Orten
institutionalisierter Kritik werden. Die Reformatoren hatten die
fundamentale Kritik der kirchlichen Überlieferung gerechtfertigt,
indem sie auf die ursprünglichen, normativen Texte des
Christentums zurückgingen. Sie hatten ein Eigenrecht subjektiver
Wahrheitsgewissheit gegen die Deutungsmonopole kirchlicher
Autoritäten durchgesetzt. Dies führte im protestantischen
Deutschland immer wieder dazu, dass einzelne Gelehrte oder
reformorientierte Gruppen an den reformatorischen Protest
erinnerten, um gegen Erstarrungen der kirchlichen Lehre und
Einschränkungen der Freiheit des Forschens zu protestieren.
Protestantische Gelehrte habitualisierten deutlich stärker als ihre
Kollegen in katholischen Territorien ein Rollenund
Wissenschaftsverständnis, das an Traditionsbruch, Kritik,
Innovation, Rationalisierung und individueller Wahrheitssuche
orientiert war. Wissenschaftliche Einsicht musste sich nicht mehr an
einer äußeren, kirchlichen Autorität messen. Sie sollte sich im Streit
der gelehrten Meinungen allein an der Sachautorität des jeweiligen
Erkenntnisgegenstandes verantworten. Dies förderte seit der Mitte
des 17. Jahrhunderts die O enheit für ein streng sachbezogenes,
stärker empirisch orientiertes Verständnis der Wissenschaften.
Überkommene metaphysische, in der reformierten wie lutherischen
Orthodoxie tradierte Deutungen der Wissenschaft wurden durch
Wissenschaftskonzeptionen abgelöst, die stärker an Einzelforschung,
Infragestellung herrschender Deutungsmuster und Suche nach neuen
Lösungen orientiert waren. Für die religionskulturellen
Selbstdeutungen vieler protestantischer Gelehrter wurde
entscheidend: Die neuen Rationalitätsstandards und
Wissenschaftsideale wirkten verhaltensprägend. Da sie als religiös
legitim, dem reformatorischen Protest entsprechend galten, konnten
Kritik, Innovationsbereitschaft und Experimentierfreudigkeit zu
Kräften der Selbstbildung und Rationalisierung der Lebensführung
werden.
Die Vorzüge einer protestantischen, für Kritik o enen
Re exivitätskultur gegenüber den stärker traditionsorientierten, auf
Bewahrung des Althergebrachten zielenden Wissenschaftsidealen
der katholischen Gelehrten waren schon im 18. Jahrhundert heftig
umstritten. Als Johann David Michaelis – zunächst anonym – sein
Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland (4
Bände, 1768–1772) verö entlichte, provozierte er einen heftigen
Streit über die Standortvorteile der protestantischen gegenüber den
katholischen Universitäten. Der Bildungsvorsprung des
«protestantischen Deutschland» wurde gleichwohl spätestens seit der
Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem festen, selbst von vielen
Katholiken a rmierten Topos der Konfessionsdiskurse. So enthielt
Johann Adam von Ickstatts Traktat von den religiösen Grundlagen
größerer protestantischer Wohlfahrt 1772 einen eigenen
Paragraphen über «Der Protestanten Freyheit zu denken und Mittel
sich zu unterrichten»: «Die größte Sorgfalt wenden sie auf ihre
Schulen. Ihre Lehrer lehren ihre Leute denken, alles selbst
erforschen und selbst beurtheilen. Tausend Er ndungen haben
daher ihren Ursprung. Alle Bücher, wenn auch gleich das cum
permissu superiorum nicht darauf stehet, dürfen sie lesen: dadurch
werden ihre Kenntnisse ungemein erweitert.» Einer seiner
katholischen Kritiker, der Geistliche Rat Sebastian Wochinger, wies
ihn zwar auf die gefährlichen kulturellen Folgewirkungen der
protestantischen «Glaubensfreiheit» und «Denkfreiheit» hin: Sie
führe zur Beliebigkeit und «Abgötterey». Doch die Kulturdebatten
des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurden durch eine
Semantik dominiert, in der «freie Bildung» mit «protestantischem
Geist» und Katholizismus mit «Unbildung» und
«Geistesknechtschaft» verknüpft war.
Solche Typologien prägten nicht nur akademische
Expertendiskurse, sondern auch die Alltagskommunikation der
lesefähigen Bevölkerung. In den moralischen Wochenschriften, den
neuen Bildungsromanen und der viel gelesenen Reiseliteratur wurde
protestantischer Bildungsstolz popularisiert. So wollte der Berliner
Aufklärer Friedrich Nicolai (1733–1811) die Erfahrungen seiner
berühmten Reise durch Deutschland und die Schweiz wissenschaftlich
verarbeiten, indem er neben der komparativen geschichtlichen
Erforschung von Nationalkulturen auch eine vergleichende Analyse
konfessioneller Habitus forderte. In den katholischen Ländern habe
er «außer der Nationalphysiognomie eine katholische
Religionsphysiognomie» wahrnehmen können. «Sie besteht
hauptsächlich in transitorischen Zeichen oder in Geberden, und in
der Falte der Muskeln, welche diese Geberden bey beständiger
Wiederholung hinterlassen.» Der durchschnittliche Protestant wirke
in Auftreten, Benehmen, Blick und Sprache ungleich geistiger,
gebildeter als ein Katholik. Dafür berief er sich auch auf katholische
Zeugen. Zustimmend zitierte Nicolai den italienischen Schriftsteller
und Universalgelehrten Giovanni Ludovico Bianconi (1717–1781),
der 1771 über einen Besuch im bikonfessionellen Augsburg berichtet
hatte: «In Augspurg sieht man am Gesichte, und an den Manieren
den Augenblick, von welcher Religion ein Bürger ist. Der Protestant
ist von viel gesetzterm und artigerm Wesen. Soviel vermag bey
einem Menschen der Unterschied der Erziehung.» Diese
Einschätzung wurde um 1800 selbst von vielen katholischen
Aufklärern geteilt. Als der bayerische Historiker und Schriftsteller
Lorenz Westenrieder (1748–1829) 1807 den zweiten Band seiner
berühmten Geschichte der baierischen Akademie verö entlichte, stellte
er fest, dass es «gerade izt wieder, mehr als jemals […] an solchen
Leuten nicht [fehlt], welche behaupten, man habe schon darum,
weil man ein Protestant ist, ein besseres Vorurtheil für sich, und
Protestanten seien schon als solche, für jede Art von Wissenschaft,
und Geschickklichkeiten empfänglicher und fähiger, als
Katholicken».
Protestantische Bildungsbürger feierten die prinzipielle
Überlegenheit protestantischer Kultur nicht nur mit Blick auf
Universitäten und Schulen, sondern stilisierten auch die neue
deutsche Nationalliteratur sowie die höchste, weil unsinnlichste
Kunst, die Musik, zu Objektivationen protestantischen Geistes. Der
Katholizismus lasse sich in Kultur und institutioneller
Repräsentation als eine Religion des Auges, der sinnlichen
Anschauungen charakterisieren. Der Protestantismus sei
demgegenüber eine Religion des Ohres. Ihn kennzeichne ein
prinzipieller Vorrang des Wortes vor dem Bild. Diese robust
polarisierende Selbstrepräsentation, deren Suggestivkraft schon
allein durch den kulturwissenschaftlich orientierten Blick auf
«evangelische Andachtsbilder» (Martin Scharfe) und lutherische
Bildtafeln zur Visualisierung von «Gesetz und Evangelium» (Heimo
Reinitzer) gebrochen wird, brachte es mit sich, dass Sprachkultur
und Dichtung sowie die Musik im kulturprotestantischen
Bildungskanon eine ungleich größere Bedeutung gewannen als die
«bildenden Künste». Indem Luthers Bibelübersetzung als normativer
Ursprung einer deutschen Nationalsprache erinnert wurde, war die
Verbindung von reformatorischer Wortverkündigung und neuer,
klassischer Nationalliteratur naheliegend. Dem protestantischen
Vorrang des Ohres vor dem Auge entsprechend wurde die Musik zur
protestantischsten Kunst verklärt. Mit Blick auf Kirchenlieder und
Choräle hat der Philosoph Peter Sloterdijk im Herbst 2016
behauptet, dass der musikalische Protestantismus «beim Mut
spendenden Gemeindegesang einsetzt, um beim verinnerlichten Lied
des Einzelnen zu enden».
Konstruktionen einer Einheit von Protestantismus und deutscher
Nationalliteratur entwickelten im 19. Jahrhundert sowohl
kulturprotestantische Theologen als auch die Vertreter der neuen
Kulturwissenschaft Germanistik. Der Jenaer Kirchenhistoriker Karl
August Hase stellte in seinem in hohen Au agen verbreiteten
Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römischkatholische
Kirche 1872 fest: «Ja die deutsche Literatur ist seit Lessing
wesentlich protestantisch, wenn auch einige ächte Dichterstimmen,
zumal aus Östreich erklungen, durch ihre Geburt der katholischen
Kirche angehören. Das Geborenwerden in einem bestimmten
Lebenskreise, der seine Überlieferungen dem jungen Gemüth tief
einprägt und von einem edlen Geist nicht ohne Schmerzen
durchbrochen wird, ist ein Geschick und Geheimniß, das Gott sich
vorbehalten hat. Aber wer könnte Göthe und Schiller anders denken,
als aus protestantischer Bildung aufgewachsen!» Trotz der Kämpfe,
die Calvinisten und Lutheraner im 16. und 17. Jahrhundert gegen
das Theater und eine unterhaltsam erzählende, nicht primär
geistlich motivierte Literatur geführt hatten, avancierte «der
literarische Protestantismus» (als Begri 1835 geprägt) zu einem
Deutungsschema, das auch auf die englische Literaturgeschichte
Anwendung fand. In der romantisierenden Verklärung des
«evangelischen Pfarrhauses», das in Deutschland wie in England
zahlreiche bedeutende Dichter, Künstler, Philosophen und
Wissenschaftler hervorgebracht hatte, fand die These vom
protestantischen Ursprung der modernen Literatur ihre symbolische
Verdichtung.
Die Repräsentationen protestantischer Kulturüberlegenheit waren
stets verbunden mit kulturhegemonialen Herrschaftsprogrammen. In
genau dem Maße, in dem protestantische Tradition zum normativen
Fundament der deutschen (oder analog: der britischen,
niederländischen, dänischen, schwedischen oder US-
amerikanischen) Nationalkultur erklärt wurde, wurden Katholiken
und Juden als Bürger zweiter Kulturklasse ausgegrenzt. Trotz aller
ideologischen Elemente re ektieren die Konzepte protestantischer
Superiorität aber immer auch den großen Ein uss, den
protestantische Eliten bei der Formierung distinkter
Nationalkulturen in Großbritannien, Deutschland, den
Niederlanden, den USA, den skandinavischen Ländern und der
Schweiz auszuüben vermochten. Gerade in Deutschland war der
Vorsprung der Protestanten im höheren Bildungswesen,
insbesondere in den Universitäten, und auf den literarischen wie
künstlerischen Märkten unübersehbar. «Katholische Inferiorität»
(Martin Baumeister) war nicht bloß konfessionspolemische
Ideologie, sondern auch eine alltagspraktisch erfahrbare
Grundstruktur der deutschen Gesellschaft. Katholiken waren in den
Institutionen des höheren Bildungswesens sowie in den kulturellen
Eliten gegenüber Protestanten und Juden deutlich
unterrepräsentiert. Gerade in gemischtkonfessionellen Städten und
in Regionen, die besonders stark vom Konfessionsgegensatz geprägt
waren, erzeugte der religiöse Glaube bei den Protestanten ein Pathos
der Selbstbildung: Die «Religion des Buches» (Etienne François)
förderte Alphabetisierung und Lesekultur.
So eng der protestantische Bildungsglaube mit der Formierung des
deutschen Bildungsbürgertums verbunden war, so sehr wurde er
auch durch die seit 1890 zu beobachtenden Prozesse der
«kulturellen Enteignung» bildungsbürgerlicher Eliten tangiert. Die
Verkirchlichung des Protestantismus, die in Deutschland
entscheidend durch die Auseinandersetzungen mit dem
nationalsozialistischen Herrschaftssystem wie auch durch die
forcierte Dechristianisierungspolitik des SED-Staates befördert
wurde, brachte es mit sich, dass im o ziellen
«Amtsprotestantismus» die bildungsreligiösen Elemente
protestantischer Identität in den Hintergrund traten. Die
ökumenischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ließen es zudem
als obsolet erscheinen, «protestantische Identität» weiter durch die
Abgrenzung vom Katholizismus zu bestimmen. Je eifriger sich die
vielen Protestantismen intern in heterogene religionskulturelle und
politische Kleinmilieus di erenzierten, desto mehr waren sie für die
Konstruktion des Gemeinsamen auf starke, identitätsstiftende
Ausschließungsprozeduren angewiesen. Diese sollten um
ökumenischer Konsensbildung willen aber nicht mehr vollzogen
werden. So drohten die Protestantismen in Situationen von
«Au ösung», «Versickerung» und sektiererischer Abkapselung zu
geraten. Auch solche Niedergangsanalysen bilden aber ein wichtiges
Element protestantischer Selbstverständigung. Untergangsformeln
lassen sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie
spiegeln eine Paradoxie, die seit der Transformation der
altprotestantischen Gemeinwesen und ihrer Au ösung in vielfältigen
Pluralisierungsprozessen das kulturelle Erscheinungsbild der
Protestantismen bestimmt: Wo protestantische «Gewissensreligion»
und protestantischer «Bildungsglaube» in der Kirche
institutionalisiert werden, drohen die institutionenkritischen
Grundeinsichten der Reformation verloren zu gehen. Wird jedoch
auf die kirchliche Institutionalisierung «protestantischen Geistes»
verzichtet, bleiben seine kulturelle Darstellung und Tradierung
dauernd prekär. Auch durch eine konfessionell homogenisierte
Kultur kann das Protestantische keine angemessene Gestalt
gewinnen. Der politisch wie theologisch liberale Heidelberger
Neutestamentier Martin Dibelius brachte dieses spezi sch
protestantische Grunddilemma bereits 1925 auf eine prägnante
Formel: «Der Protestantismus […] kann Kulturfaktor, darf aber nicht
Kulturbasis sein, weil jede partikular protestantische Kultur seinem
eigenen Weltverhältnis widersprechen würde.»
5. Die Zukunft des Protestantischen

Schon seit 250 Jahren werden in Europa, speziell in Deutschland,


Trauergesänge über den baldigen Untergang des Protestantismus
angestimmt. Immer wieder klagten Religionsgelehrte aus ganz
unterschiedlichen akademischen Disziplinen darüber, dass die
evangelischen Kirchen institutionell deutlich schwächer als die so
stark und machtvoll sich inszenierende römische Papstkirche seien.
Viel Niedergangsrhetorik prägt auch derzeit allerlei protestantische
Selbstverständigungsdebatten. Jean Bauberot, ein reformierter
Religionssoziologe an der Sorbonne, fragte 1988: «Muss der
Protestantismus sterben?» Dies dürfte nicht der Fall sein. Auch liegt
der Protestantismus noch nicht «im Abklingbecken der Geschichte»
(gegen Peter Sloterdijk). Denn man muss genauer hinsehen: Die
religionskulturelle Lage der diversen Protestantismen stellt sich
höchst unterschiedlich dar. In der deutschen Perspektive erscheinen
die evangelischen Kirchen als vergleichsweise labile Organisationen,
die von vielfältigen Prozessen der Auszehrung betro en sind. Ende
2015 gehörten in Deutschland 22,272 Millionen Menschen den
Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an
(27,1 Prozent). In den traditionell protestantischen Gebieten der
alten Bundesländer betrug der Anteil der Protestanten an der
Gesamtbevölkerung bis zu 50,3 Prozent, in klassisch katholisch
dominierten Regionen wie dem Rheinland oder weiten Gebieten
Bayerns lag er unter 30 Prozent, in einigen neuen Bundesländern,
einstmals die Stammlande der Reformation, gar unter 20 Prozent.
Für die Bundesrepublik insgesamt gilt: Nahezu jeder dritte Deutsche
ist Mitglied einer evangelischen Landeskirche, und auch der Anteil
der Katholiken liegt bei knapp einem Drittel der Bevölkerung
(28,9 Prozent). Rund zwei Millionen Deutsche, eine Minderheit von
knapp 2 Prozent der Bevölkerung, bekennen sich zu anderen
christlichen Gemeinschaften, etwa zu einer orthodoxen Kirche oder
zu einer evangelischen Freikirche. In den 23 Gliedkirchen der EKD
sind 2006 2148 Theologinnen und Theologen im aktiven Dienst
tätig, die Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer betreuen im
Durchschnitt jeweils rund 1300 Gemeindeglieder. Bei den
sogenannten Kasualien oder Amtshandlungen wie Taufe, Trauung
und Bestattung lässt sich ein kontinuierlicher Rückgang beobachten
– bei den Taufen im Zeitraum von 1991 bis 2003 lag er über
25 Prozent. Unter 100 Paaren mit einem oder zwei evangelischen
Ehepartnern ließen sich 2001 nur 33 kirchlich trauen, zwischen
1991 und 2003 betrug der Rückgang 45 Prozent. Vergleichsweise
stabil, wenngleich ebenfalls rückläu g sind die Zahlen für die
kirchliche Trauerfeier und Bestattung. 2001 wurden 86,2 Prozent
aller verstorbenen Protestanten von einem evangelischen Pfarrer
bzw. einer Pfarrerin zur letzten Ruhe begleitet. Sonntag für Sonntag
besuchen rund 1 Million evangelische Christen einen Gottesdienst.
Bei den Metten und Christvespern am Heiligen Abend waren es
2012 knapp 5,8 Millionen Menschen, das sind gut 32 Prozent aller
protestantischen Kirchenmitglieder. In den letzten Jahren nahm die
Zahl derer, die am Heiligen Abend in die Kirche gehen,
kontinuierlich zu.
Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kirchliche
Protestantismus fortwährend erodiert. Neben dem West-Ost-Gefälle
zeigt sich ein deutliches Nord-Süd-Gefälle: Gerade in den früher so
demonstrativ protestantischen Stadtstaaten lassen sich massive
Entkirchlichungsprozesse beobachten. In Hamburg etwa gehören
nicht einmal mehr 40 Prozent der Bevölkerung einer der beiden
großen christlichen Kirchen an. Frauen p egen in der
Bundesrepublik eine stärkere Kirchenbindung als Männer, die
austrittsbereiter sind. Die Erosionsprozesse werden sich noch
beschleunigen, weil protestantische Kirchenmitglieder in den älteren
Altersgruppen, von 50 Jahren an aufwärts, deutlich
überrepräsentiert sind. Zwar konnten die evangelischen
Landeskirchen seit 2005 melden, dass die Zahl der Kirchenaustritte
bisweilen zurückgeht; in der Württembergischen Landeskirche etwa
lag die Austrittszahl zwischen 1996 und 2003 bei durchschnittlich
12.000 pro Jahr, nachdem 1995 über 17.000 Menschen die
Landeskirche verlassen hatten. 2004 sank die Zahl der Austretenden
dann auf 11.524. Dennoch bleiben Kirchenaustritte für die
evangelische Kirche ein zentrales Thema. Sie hatten in der alten
Bundesrepublik 1970 und 1974 erste Höhepunkte erreicht, waren
bis 1979 rückläu g und bewegten sich dann auf einem relativ hohen
Niveau: Zwischen 1983 und 2003 verließen 3,4 Millionen Menschen
in Westdeutschland die evangelische Kirche. Nach dem Beitritt der
ostdeutschen Landeskirchen zur EKD war 1992 zunächst ein Anstieg
der Kirchenaustritte von 321.000 (1991) auf 361.000 zu
verzeichnen. Seitdem hat sich die Zahl mehr als halbiert, auf
172.000 im Jahre 2001. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete
im Juni 2006, dass die Westfälische Landeskirche in den
vergangenen 25 Jahren durch Kirchenaustritte Getaufter circa
400.000 Mitglieder verloren habe; von 1980 bis 2005 hat jeder
fünfte westfälische Protestant seine Kirche verlassen. In den letzten
Jahren haben die Zahlen wieder zugenommen: 2014 haben 207.003
Protestanten ihre Kirche verlassen, 2015 210.000.
Die steigende Bereitschaft von Menschen, aus der evangelischen
Kirche auszutreten, gilt ebenso als Zeichen einer tiefen Kirchenkrise
wie die nachlassende Attraktivität der klassischen
Sonntagsgottesdienste oder der Rückgang der Kasualfrömmigkeit.
Viele westdeutsche Protestanten haben ein sehr viel distanzierteres
Verhältnis zu ihrer Kirche als die Katholiken. Im Osten
Deutschlands, dessen Religionslandschaften durch die in zwei
Diktaturen forcierte staatliche Dechristianisierungspolitik verwüstet
wurden, in den Stammlanden der lutherischen Reformation, sind die
Protestanten zu einer Minderheit geworden; dazu trug auch bei, dass
bis zum Mauerbau 1961 gerade alte protestantische Eliten – Adelige,
Großbauern und verschiedene bürgerliche Sozialgruppen – die DDR
verließen und gen Westen wanderten.
Die sogenannten fünf Kirchenmitgliedschaftsstudien, mit denen
die EKD religionssoziologisch hochprofessionell seit 1974 die
Erwartungen ihrer Mitglieder an die evangelische Kirche erkundete,
spiegeln höchst komplexe, widersprüchliche religiöse Mentalitäten
und religionskulturelle Lebensstile. Die religiösen Landschaften des
protestantischen Deutschland sind bunter, vielfältiger,
fragmentierter, als klare Distinktionen zwischen hochengagierten
Kirchenmitgliedern, Indi erenten und Ausgetretenen nahelegen. Die
Kirchenmitgliedschaftsstudien lassen aber auch erkennen, dass die
evangelische Kirche von elementarer Milieuverengung bedroht ist.
Indem gerade leistungsorientierte protestantische Funktionseliten
abwandern, die Gebildeteren, Aktiveren, Wohlhabenderen, drohen
die Kirchenmilieus zunehmend kleinbürgerlicher, sozial homogener
zu werden. Nicht wenige der Austretenden deuten ihren Austritt
denn auch gar nicht als eine Entscheidung gegen den christlichen
Glauben oder das protestantische Christentum, sondern als Abkehr
von einer Organisation, die ihnen intellektuell und religiös nichts
mehr zu bieten hat. Selbst der demonstrative Austritt aus der
evangelischen Kirche muss keineswegs die Preisgabe der
individuellen protestantischen Identität bedeuten. Auch wer seine
Kirche verlässt, bleibt häu g doch subjektiv «irgendwie» ein
Protestant, und sei es nur darin, dass er die Papstkirche für eine
Institution der Unterdrückung von Meinungsfreiheit oder der
Frauendiskriminierung und lehramtlich forcierten Homophobie hält.
Nicht selten sind es gerade Enttäuschungen über die schlechte
Qualität religiöser Dienstleistungen, etwa den Verfall der
Predigtkultur oder die mangelnde theologische Bildung vieler
Pfarrer und Pfarrerinnen, die die Abkehr von der Kirche als
Organisation beschleunigen; bei anderen sind es Verärgerung über
die politischen Indoktrinationsversuche autoritär allwissend
auftretender Kleinpäpste, das Leiden unter einer wenig e zienten,
skierotisierten Kirchenbürokratie und eine elementare kognitive
Dissonanz zur Eigenwelt eines hoch narzisstischen, in
Selbstbeschäftigungsrituale verliebten Kirchenghettos, dessen
Binnenidiom man nicht versteht. Die massiven
Klerikalisierungstendenzen, die in den deutschen evangelischen
Landeskirchen seit Ende des Ersten Weltkriegs zu beobachten sind
und die sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verstärkt haben,
unterminieren protestantische Identität; suchen evangelische
Bischöfe in selbstentworfener klerikaler Phantasiekleidung, von
weißen «clerical collars» bis hin zu violetten Leibchen,
Amtscharisma zu visualisieren, wirken sie nur religionsästhetisch
stillos und traditionsvergessen. Das verstärkt bei vielen Protestanten
eine innere Distanz zur kirchlichen Organisation, die durch die
Neigung mancher medien xierter protestantischer Bischöfe und
Bischö nnen, sich zu allen möglichen politischen Themen mit
hohem moralischem Pathos ungefragt zu Wort zu melden, nur
verstärkt wird. Nicht bloß bei denen, die ihrer Kirche mehr oder
minder treu bleiben, sondern auch bei den Austretenden ist viel
Ambivalenz, eine im Einzelnen schwer zu analysierende hohe
Vieldeutigkeit der Einstellungen zu beobachten. Man tritt aus der
evangelischen Kirche aus, nimmt aber im Jahreszyklus an den
großen Festen teil, indem man beispielsweise am Heiligen Abend
zum Gottesdienst geht. Man zahlt keine Kirchensteuern mehr, ist
aber durchaus bereit, bestimmte diakonische Projekte oder
kirchliche Aktivitäten nanziell zu unterstützen, wenn sie subjektiv
einleuchten. Loyalität stellt sich ein, wo die Arbeit der
evangelischen Kirche als sinnvoll, e zient wahrgenommen wird.
Dies mag erklären, dass in allen relevanten Umfragen der Diakonie
ein deutlich höheres Ansehen bescheinigt wird als den
evangelischen Landeskirchen. Die eng mit der EKD und ihren
Landeskirchen verknüpfte Sozialholding «Diakonisches Werk», die
mit 464.000 Mitarbeitern und rund 700.000 Ehrenamtlichen in
31.000 Einrichtungen eine wichtige Säule des deutschen
Sozialstaatskorporatismus bildet, ndet in der Bevölkerung
jedenfalls, ebenso wie das katholische Pendant «Caritas», eine
bemerkenswert starke Akzeptanz.
Hinter den Zahlen von Kirchenmitgliedern, Gottesdienstbesuchern
und Ausgetretenen verbirgt sich eine extrem vielgestaltige
Alltagswirklichkeit individuell gelebter Glaubensvorstellungen, ein
breites Spektrum von höchst unterschiedlichen Stilen mehr oder
minder religiöser Lebensführung. Die bei Kirchenfunktionären
bisweilen zu beobachtende Denunziationssemantik,
Kirchendistanziertere als bloße Sonntagschristen, Taufscheinchristen
oder Feiertagschristen zu bezeichnen, wird den komplexen
protestantischen Glaubensrealitäten daher nicht gerecht. Schon mit
Pietismus und Aufklärung hat sich ein «Christentum außerhalb der
Kirche» (Trutz Rendtor ) gebildet, getragen von Christen, die sich
weder ihre Frömmigkeitspraxis noch den Grad ihrer Kirchlichkeit,
etwa der Teilnahme an Gottesdiensten, von der «Amtskirche» und
ihren «Amtsträgern» vorschreiben lassen wollten.
Die entscheidende Frage für die relative Stabilität der
evangelischen Kirche als Organisation dürfte darin liegen, wie sie
den sehr heterogenen Erwartungen der vielen Christen am Rande
oder außerhalb der Kirche gerecht zu werden vermag. Unter den
Bedingungen des modernen religiösen Pluralismus agieren Kirchen
(und ihre Funktionsträger) nun einmal auf einem
konkurrenzbestimmten religiösen Markt, der, wie alle anderen
Märkte auch, nach dem Mechanismen von Angebot und Nachfrage
funktioniert. Gerade in ihrer staatsanalogen Sozialverfassung und
vor dem Hintergrund der ö entlich-rechtlichen Dimension des
Pfarrerberufs haben es aber zumal deutsche Kirchenvertreter –
anders als ihre nordamerikanischen Berufskollegen – bislang kaum
gelernt, Marktrealitäten zu erkennen und wahrnehmungssensibel auf
die religiösen Bedürfnisse derjenigen zu reagieren, die die Kirchen
nanziell tragen. Dass die große Organisationsreform und
«Qualitätso ensive», die die EKD im Juli 2006 unter dem Titel
Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im
21. Jahrhundert angekündigt hatte, den erho ten «Paradigmen- und
Mentalitätswechsel» bewirken konnte, lässt sich noch nicht sagen.
Nur durch eine hohe Qualität ihrer religiösen Dienstleistungen
und Sinnangebote, die behutsame P ege der überkommenen
Religions- und speziell Gottesdienstkultur, die argumentativ
begründete Treue zu den theologischen Grundeinsichten der
Reformation sowie die Schärfung eines klaren protestantischen
Pro ls wird die evangelische Kirche in Deutschland über die engen
Grenzen schrumpfender Kirchenmilieus hinaus ihre
religionskulturelle Prägekraft bewahren können. Solche
identitätsstärkende Treue zur eigenen Herkunftsgeschichte ist nicht
nur mit Blick auf die römisch-katholische Kirche geboten, mit der
die EKD in politischen Arenen zur Durchsetzung gemeinsamer
Interessen zu beiderseitigem Nutzen fortwährend eng kooperiert.
Die P ege des überkommenen protestantischen Pro ls ist vielmehr
auch deshalb angesagt, weil in der Bundesrepublik infolge vielfältig
verstärkter Einwanderung das Spektrum des Christlichen immer
bunter wird. Nicht nur aus Lateinamerika kommende prominente
Spieler der Fußballbundesliga und andere Migranten aus Afrika,
Asien und Lateinamerika, sondern auch jüngere Deutsche werben
nun verstärkt für die neuen, p ngstlerischen Formen des
protestantischen Christentums. Die kleinen protestantischen
Freikirchen können ihre Mitglieder häu g viel e zienter an sich
binden, als das der o enen Großorganisation «Volkskirche» möglich
ist. Für die evangelischen Landeskirchen erwächst daraus die
Aufgabe, auch mit Blick auf diesen neuen protestantischen
Religionspluralismus protestantische Identität zu markieren.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts denken viele Europäer noch
immer eurozentrisch. Ihr Bild der gegenwärtigen Welt ist primär von
Europa her entworfen. In eurozentrischen Perspektiven lassen sich
das gegenwärtige Christentum und die Vielfalt der Protestantismen
aber nur äußerst unzureichend erkennen. Zwar nahm die
Reformation in einer kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt ihren
Ausgang. Die deutschen Protestanten und die Protestanten Europas
stellen global gesehen heute jedoch nur noch eine vom Nutzen und
Nachteil halbtausendjähriger Historie zeugende Minderheit des
«Weltprotestantismus» dar. Seit den frühneuzeitlichen Anfängen der
Selbstglobalisierung der europäischen Protestantismen sind die
protestantischen Lebenswelten außerhalb Europas kontinuierlich
und zum Teil sehr schnell gewachsen. Auch in der
Gegenwartsmoderne des frühen 21. Jahrhunderts, unter den
Bedingungen von kapitalistischer Globalisierung und weltweit
intensivierter medialer Kommunikation, wird die
Entwicklungsdynamik des Protestantismus gerade von den vielen
außereuropäischen Protestantismen getragen. Drei Tendenzen
verdienen besondere Beachtung.
Erstens: Auf dem pluralistischen Religionsmarkt der USA lassen
sich gerade mit Blick auf die etablierten protestantischen Kirchen
signi kante Veränderungen beobachten. Die klassischen main line
churches verlieren hier kontinuierlich an Mitgliedern, wohl auch
deshalb, weil sie trotz ihrer betonten volkskirchlichen O enheit für
ganz unterschiedliche Sozialgruppen der hohen Vielfalt sehr
widersprüchlicher, heterogener Erwartungen nicht mehr gerecht zu
werden vermögen. In den fortwährend durch Kulturkampfrhetorik
verschärften ö entlichen Kontroversen zwischen einem liberalen
Amerika der rainbow coalition und einem entschieden restaurativen
Amerika der Christian Right vermögen sie kaum noch
Integrationskraft zu entfalten. Davon pro tieren all jene
protestantischen Kirchen, Denominationen und Gruppen, die in
kritischen Außenperspektiven gern als «fundamentalistisch»
etikettiert werden. Gerade die harten, in Lehre und Lebensführung
stark bindenden Protestantismen sind auf dem
konkurrenzbestimmten Religionsmarkt der USA seit den 1970er
Jahren besonders erfolgreich gewesen. Harte Religionen fordern
viel, etwa nanzielles Engagement, starke Sozialdisziplin innerhalb
der religiösen Gemeinschaft, Solidarität insbesondere mit den
eigenen Glaubensgenossen, strikte Habitus-Treue gegenüber den
heiligen Normen gottgewollter Lebensführung sowie aktive
Aneignung und Kommunikation der Lehre und des mit ihr
verbundenen Weltbildes. Aber so viel sie den Frommen auch
abverlangen, sie schütten hohe Renditen auf die investierten
Symbolkapitalien von Glaubensstrenge, Schrifttreue, sittlichem Ernst
und heiliger Lebensführung aus: In einer Welt des radikalen
Pluralismus, in der viele Menschen unter neuer Unübersichtlichkeit,
mangelnder Orientierungssicherheit und relativistischer
Infragestellung aller überkommenen Verbindlichkeiten leiden,
bieten harte Religionen den in ihnen vergemeinschafteten Frommen
etwa ein stabiles, krisenresistentes Weltbild mit prägnanten Innen-
Außen-Unterscheidungen (zum Beispiel zwischen den Sündern und
den Erretteten), klare Muster gottgewollter guter Lebensführung,
feste Gut-Böse-Unterscheidungen, einen heiligen Ordnungsrahmen
für das politische Gemeinwesen in Gestalt des göttlichen Gesetzes,
etwa der Zehn Gebote, die durch dichte religiöse Kommunikation
fortwährend erneuerte Erwartungssicherheit jenseitiger
Himmelsgüter, dichte Sozialkontakte unter Gleichgesinnten und die
sozialen Halt gewährende Geborgenheit in einer solidarischen
Glaubensgruppe mit hoche zienten Assistenz-Netzwerken für alle
Krisenfälle des Lebens. Auch wer aus individuellen moralpolitischen
oder religionsästhetischen Motiven die verschiedenen
fundamentalistischen Protestantismen der USA nicht mag oder
aggressiv ablehnt, wird doch die spezi sche religionskulturelle
Leistungskraft dieser Formen des Protestantischen nicht leugnen
können: Gerade das Fundamentalistische an ihnen, die harten
dogmatischen wie moralischen Absolutismen und der Ausschluss
alles kritischen Raisonnements und Glaubenszweifels, macht sie so
erfolgreich. Zwar sind Religionsprognosen methodisch ebenso
problematisch wie alle sonstige Zukunftsvorausschau auch. Aber es
lassen sich einige starke Indizien für die Vermutung anführen, dass
gerade die äußerst e zient organisierten protestantischen Gruppen
der Christian Right in den USA weiter auf Kosten der eher liberalen
alten main line churches wachsen und ihre Glaubensmarktanteile
weiter ausbauen werden.
Zweitens: Schon Max Weber hatte im Schlussteil seiner
Protestantischen Ethik betont, dass der moderne okzidentale
Betriebskapitalismus der puritanischen Askeseenergien nicht mehr
bedürfe, die einst ursprüngliche Akkumulation und
Kapitalvermehrung befördert hätten. Mit Blick auf die
kon iktreichen Prozesse kapitalistischer Globalisierung in der
Gegenwart lässt sich diese These Webers empirisch
problematisieren. Religionssoziologen wie Peter L. Berger und David
Martin haben die protestantische Glaubensrevolution in
Lateinamerika als eine implizite Bestätigung von Grundelementen
der «Weber-These», wissenschaftsgeschichtlich präziser wohl: der
«Weber-Troeltsch-These», interpretiert. Jedenfalls deuten hier viele
Fromme ihren Übergang aus der römisch-katholischen Kirche in
eine protestantische P ngstgemeinde selbst in Konzepten einer
moralischen Ökonomie, die langfristige Gewinne durch starke
innerweltliche Askese verspricht. Die strenge asketische
Selbstdisziplin, die in den p ngstlerischen Gemeinden
Lateinamerikas erfolgreich institutionalisiert ist, die Bereitschaft,
mehr und härter zu arbeiten und weniger in den Tag hinein zu
leben, führt auch dazu, dass viele der P ngstchristen ihren neuen
Gottesglauben durch wirtschaftliche Erfolge bestätigt sehen. Ihr
sozialer Aufstieg, von anderen häu g als ein Zeichen wunderbarer
Errettung durch Gott gedeutet, wird so zum Vehikel erfolgreicher
Mission. Erneut gilt: Religionsprognostik ist – methodologisch
bedingt – äußerst schwierig. Aber viele Indikatoren nähren die
Vermutung, dass die P ngstler ihre missionarische Anziehungskraft
in Entwicklungs- und Schwellenländern noch steigern werden
können. Durch sie werden die außereuropäischen Protestantismen
weiter an Bedeutung gewinnen, und dies wird auch in globaler
religiöser Symbolosmose und Ritentransfer auf die europäischen
Protestantismen zurückwirken.
Drittens: Protestantismus ist, wie gezeigt, ursprünglich ein
Rechtsterminus, der in komplizierten Überlieferungsprozessen zu
einem christentumshistorischen und konfessionskundlichen
Oberbegri für alle Formen des Christentums avancierte, die sich
auf die reformatorischen Protestbewegungen des 16. Jahrhunderts
zurückführen und sich als dritte Sozial- und Glaubensgestalt des
Christlichen neben den orthodoxen Kirchen und der römisch-
katholischen Kirche verstehen. Das Protestantische wurde dabei
immer assoziiert mit der niemals abgeschlossenen Erneuerung der
Religion durch den Rekurs auf ihre normativen Grundlagen, im Fall
des Christentums auf die Bibel, mit der Vertiefung des religiösen
Lebensernstes durch Verinnerlichung, Vergeistigung,
Individualisierung, mit der Unmittelbarkeit des einzelnen Frommen
zu Gott, mit der Ablehnung von Herrschaftsansprüchen der Kleriker,
mit der Aufwertung des innerweltlichen Berufs und aktiver
Weltgestaltung. In diesem Sinne hat das Protestantische in den
Religionsgeschichten der Neuzeit weit über die Grenzen des
Christentums hinaus eine starke religionskulturelle Prägekraft zu
entfalten vermocht. Schon im 19. Jahrhundert hatte das
deutschsprachige Reformjudentum seine Religionssynthese von
jüdischer Überlieferung und aufklärerisch-liberaler Bürgerlichkeit
stark nach dem Vorbild des liberalen Kulturprotestantismus
modelliert. Die Selbstglobalisierung des Protestantismus brachte es
mit sich, dass auch außerhalb Europas indigene protestantische
Frömmigkeitsmuster und Habitusformen in die nichtchristlichen
Religionskulturen ihrer jeweiligen Gesellschaften einwanderten.
Schon in den 1930er Jahren sprachen nordamerikanische
Religionssoziologen von der «protestantization» der römisch-
katholischen Kirche in den USA. Angesichts des massiven
kulturellen Drucks der protestantischen Mehrheit, der
protestantischen Grundierung der nationalen «civil religion» und des
mit dem hohen religiösen Pluralismus verbundenen
Denominationalismus wandle sich das Selbstverständnis der
katholischen Amtskirche zunehmend von der «Heilsanstalt» hin zur
«Freikirche» und «Freiwilligkeitsgemeinde». Da die vielen
katholischen Einwanderer in die USA aus ganz unterschiedlichen
Nationalkatholizismen und katholischen Lebenswelten kämen, sich
aber, wie bei allen Immigranten, im Prozess der Integration in die
amerikanische Gesellschaft ihre religiöse Identität deutlich
verstärke, werde der US-Katholizismus in sich immer bunter,
vielfältiger, auch individualistischer; er nehme die Sozialgestalt und
ekklesiologische Selbstdeutung der protestantischen Freikirchen an.
Buddhistische Mönche in Sri Lanka forderten in den 1950er
Jahren etwa eine Erneuerung des Buddhismus im Sinne eines
«buddhistischen Protestantismus», so dass immer wieder eine genuin
buddhistische «Reformation» postuliert oder nach einem
buddhistischen Luther gerufen wurde. Ähnliches lässt sich in der
globalisierten Gegenwartsmoderne nun in höchst unterschiedlichen
Religionskulturen beobachten. In den Selbstverständigungsdebatten
islamischer Gelehrter ist, unter dem Eindruck der modern-
antimodernen islamistischen Bewegungen, in den letzten vierzig
Jahren immer wieder die Rede davon gewesen, dass der Islam einer
unmittelbar aus den eigenen heiligen Texten schöpfenden
theologischen «Reformation» bedürfe, und andere muslimische
Intellektuelle weisen darauf hin, dass die konfessionelle
Pluralisierung des lateinischen Christentums im 16. Jahrhundert
dieses langfristig gerade nicht geschwächt, sondern gestärkt habe.
Der 1946 im Sudan geborene, nun an der Emory University in den
USA lehrende muslimische Jurist und Religionsgelehrte Abdullahi
Ahmed An-Na’im will durch eine «Islamic Reformation» die Ö nung
des Islams für demokratiekompatible Konzepte des «säkularen
Staates» und die Akzeptanz moderner Menschenrechte befördern.
Wieder andere Gegenwartsexegeten deuten theologische und
religiöse Reformströmungen innerhalb der verschiedenen
islamischen Lebenswelten als eine «Islamic Reformation», die auf
einen «Protestant Islam» hinauslaufen soll. Dessen Protagonisten
nehmen gern zum Teil ausdrücklich Luther als über alle
Religionsgrenzen hinweg wirkende religiöse Autorität in Anspruch.
Allerdings: Auch der moderne Sala smus hat in seiner regressiven
Fixierung auf die Rückkehr zum einzig wahren Ur-Islam stark
protestantische Züge und wird vom Wiener Religionswissenschaftler
und Islam-Experten Rüdiger Lohlker deshalb mit dem klassischen
Pietismus und den diversen Erweckungsbewegungen des 18. und
19. Jahrhunderts verglichen. Wie auch immer die religionskulturelle
Prägekraft solcher Reformdiskurse und die Plausibilität des von
Lohlker entfalteten Deutungsmusters langfristig zu beurteilen sein
wird – sie zeigen, dass sich das Protestantische über seine originären
konfessionschristlichen Schranken hinaus entgrenzt hat zu einem
vielfältig wirkmächtigen theologischen und religionskulturellen
Ideenkomplex, der in den Symbolsprachen höchst unterschiedlicher
Religionen und Glaubensrichtungen jeweils mit eigenen Elementen
verschmolzen werden kann. In reformatorischer Perspektive ist dies
allerdings keine überraschende Entwicklung. Denn der freie
Gottesgeist lässt sich eben nicht institutionell xieren, und er wirkt,
wo er will. Das protestantische Prinzip, alle Gestalten des Endlichen,
Partikularen, die sich mit dem Unendlichen, Absoluten
gleichschalten, mit prophetischer Radikalität zu kritisieren, richtet
sich nicht nur gegen die christlichen, gerade auch protestantischen
Ausdrucksgestalten solcher religiösen Ideologie, sondern auch gegen
alle sonstigen Glaubensversuche, Gott und seinen Geist zu
vereinnahmen.
Nachweis der Zitate

S. 12: Peter [Pierre] Bayle: Historisch-kritisches Wörterbuch im Auszuge neu geordnet und
übersezt. Erster Theil für Theologen, Lübeck 1779, S. 311; Leopold Alois Ho mann:
Achtzehn Paragraphen über Katholizismus, Protestantismus, Jesuitismus, geheime Orden
und moderne Aufklärung in Deutschland. Eine Denkschrift an deutsche Regenten und das
deutsche Publikum, [o.O.] 1787, S. 117. – S. 13: Protestation der evangelischen
Reichsstände, 20. April 1529, in: Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe, Bd. 7,2:
Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., bearb. von Johannes Kühn [1935],
Göttingen 21963, S. 1277. – S. 14/15. D. Siegmund Baumgartens Geschichte der
Religionspartheyen, hg. von Johann Salomon Semler, Halle 1766, S. 813f. – S. 15/16:
Johann Joachim Spalding: Vertraute Briefe, die Religion betre end [1784], in: ders.,
Kritische Ausgabe I, Bd. 4, hg. von Albrecht Beutel, Dennis Prause, Tübingen 2004, S. 230;
Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer
Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Bd. 2, Braunschweig 1801, S. 555f. –
S. 16/17: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie, Bd. 3, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 19, Stuttgart 1959, S. 253–262; ders.:
Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart
1960, S. 36; Karl Rudolf Hagenbach: Zur Beantwortung der Frage ueber das Princip des
Protestantismus, in: Theologische Studien und Kritiken 27 (1854), S. 21. – S. 32/33: Martin
Luther: Der kleine Katechismus [1529], in: D.Martin Luthers Werke. Kritische
Gesamtausgabe, Bd. 30/1, Weimar 1910, S. 239–425, hier: S. 270a–272a. – S. 35/36:
Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen [1520], in: D. Martin Luthers
Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Weimar 1897, S. 20–38, hier: S. 21. – S. 67:
Michael Stolleis: Glaubensspaltung und ö entliches Recht in Deutschland, in: ders., Staat
und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurta.M. 1990,S. 268–297, hier: S. 268, 272. –
S. 68: Zit. nach Notker Hammerstein (Hg.): Staatslehre der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M.
1995, S. 244, 899; Christoph Matthäus Pfa : Nöthiger Unterricht von denen zwischen der
Römischen und den Protestantischen Kirchen obschwebenden Religions-Strittigkeiten,
Tübingen 1722, S. 563, 589. – S. 69/70: Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Die Kirche
in dieser Zeit, Heidelberg 1814, S. 46; Friedrich Ho mann: Der Protestantismus in seiner
geschichtlichen Begründung, in seinem Ein usse und in seinen Hauptlehren dargestellt für
gebildete, evangelische Christen, Stuttgart 1827, S. 96. – S. 70: Heinrich Laube: Das neue
Jahrhundert. I. Polen, Fürth 1833, S. 16; Alfons Paquet: Der Kaisergedanke, Frankfurt a. M.
1915, S. 110f., 132. – S. 70/71: Paul Tillich: Protestantisches Prinzip und proletarische
Situation, Bonn 1931, in: ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur
Theologie I (Gesammelte Werke, Band VII), Stuttgart 1962, S. 84–104, 85f. – S. 71/72: Zit.
nach Christian Friedrich Koch (Hg.): Kommentar zum Allgemeinen Landrecht für die
Preußischen Staaten, IV, Berlin 51876, S. 152. – S. 72/73: Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im
Zusammenhange dargestellt [1821/22], in: ders., Kritische Gesamtausgabe I, Bd. 7,1, hg.
von Hermann Peiter, Berlin, New York 1980, S. 99. – S. 74: Zit. nach Bernhard Rogge: Die
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Friedrich III., in: Carl Werckshagen (Hg.): Der Protestantismus am Ende des XIX.
Jahrhunderts in Wort und Bild, Bd. 1, Berlin 1901, S. 461–480, hier: S. 472. – S. 75: Karl
Holl: Was verstand Luther unter Religion? [1917], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur
Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 61932, S. 1–110, hier: S. 35; Kurt Leese: Die
Religion des protestantischen Menschen, München 21948, S. 164; Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Sämtliche Werke,
Bd. 11, Stuttgart 1961, S. 548 u. ö. – S. 76/77: Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des
Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München, Berlin [1906/1911], in:
ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die
moderne Welt, hg. von Trutz Rendtor , Berlin, New York 2001, S. 223. – S. 78: Ernst
Troeltsch (wie S. 76/77), S. 289, 223. – S. 79/80: Werner Hofmann: Vorwort, in: ders.
(Hg.), Köpfe der Lutherzeit. Katalog der Ausstellung in der Kunsthalle Hamburg, München
1983, S. 17–19, hier: S. 17; Josef Rauch: Heinrich Schreiber, in: Zeitschrift der Gesellschaft
für Förderung der Geschichts-, Alterthums- und Volkskultur von Freiburg, dem Breisgau
und den angrenzenden Landschaften 3 (1873/74), S. 209–265, hier: S. 214. – S. 80/81:
Bernhard Josef Hilgers: Symbolische Theologie, oder die Lehrgegensätze des Katholicismus
und Protestantismus, Bonn 1841, S. 57. – S. 81: Gottfried Traub: Vom Jungprotestantismus,
in: Der Protestantismus. Kriegshefte der Süddeutschen Monatshefte, Leipzig, München
1917, S. 44–46, hier: S. 44. – S. 82: Helmuth Plessner: Die verspätete Nation, Stuttgart
1959, S. 58–64. – S. 83/84: [Johann Adam von Ickstatt]: Untersuchung der Frage: Warum
ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer, als der catholischen?,
Salzburg 1772, S. 7–9; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des
Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [1821], in: ders., Sämtliche
Werke, Bd. 7, Stuttgart 41964, S. 127; Carl Gustav Jochmann: Betrachtungen über den
Protestantismus, Heidelberg 1826, S. 106. – S. 87: Craig Koslofsky: Die Trennung der
Lebenden von den Toten. Friedhofsverlegungen und die Reformation in Leipzig, in: Otto
Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 335–386, hier: S. 345. – S. 92:
Friedrich Gundolf/Friedrich Wolters: Einleitung der Herausgeber, in: Jahrbuch für die
geistige Bewegung 3 (1912), S. III–VIII, hier: S. III. – S. 93/94: Zit. nach Hammerstein (wie
S. 68), S. 899–905. – S. 95: Charles François Dominique de Villers: Versuch über den Geist
und den Ein uss der Reformation Luthers, Hamburg 21828, S. 151, 163f., 258. – S. 95/96:
Karl Heinrich Ludwig Poelitz: Die Aehnlichkeit des Kampfes um bürgerliche und politische
Freiheit in unserem Zeitalter, mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im
Zeitalter der Reformation, in: Reformations-Almanach auf das Jahr 1819, Erfurt 1819,
S. 123–156; Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Ueber den sittlichen Geist der
Reformation in Beziehung auf unsere Zeit, in: ebd., Erfurt 1819, S. 211–234. – S. 96:
Friedrich Julius Stahl: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Berlin 1863, S. 381,
387.– S. 96: Karl Bernhard Hundeshagen: Der deutsche Protestantismus, seine
Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen, beleuchtet im Zusammenhang der
gesammten Nationalentwicklung, Frankfurt a. M. 31860, S. 38. – S. 97: Max Weber: Briefe
1906–1908, hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zu