des no zu entschärfen und es mit "something more readily acceptable to the Western
ear" 165 zu ersetzen wird durch die historische Situation und Brittens Grundhaltung
zweifellos teilweise erklärbar, erscheint aber dennoch letztlich als kleinmütig. Das
Zurückscheuen vor den Konsequenzen einer stärkeren Identifikation mit den japani-
schen Modellen zeigt sich in Brittens letztlich äußerst selektiver Form der Rezeption,
die mit einem Ausblenden des kulturbedingten Kontextes einhergeht. Japanische
Kultur bildet hier nicht wie bei emen zum westlichen Gesell-
schafts- und Kunstdiskurs, sondern muss letztlich sogar zu einer Repräsentation we-
sentlicher Stützen dieses Diskurses des westlich-christlichen Weltbildes) her-
halten und erfüllt so höchstens die Funktion einer leichten Irritation. Darin äußert
sich in Brittens Rezeption auch das lastende Erbe des Exotismus. So bemerkenswert
Brittens Auseinandersetzung mit japanischer Kultur in Curlew River im Detail auch
ist, so wenig schafft sie es doch grundsätzlich über den von Musik und
Weltbild des 19. Jahrhunderts vorgegebenen Machtdiskurs hinauszugehen.
J 65 Ebda., 250.
II.3 . Karlheinz Stockhausen 1966-1977 137
Es ist hier nicht mehr notwendig, Entstehung und Entwicklung der New Age-
Bewegung in den USA und Europa, insbesondere in Deutschland, im Detail nach-
zuzeichnen. 167 Es ist aber auf die Problematiken aufmerksam zu machen, die der
sich in ihr äußernde regressive und oft simplifizierende Musikbegriff mit sich brach-
te. Dieser ist arn umfassendsten von Peter Michael Harnel in seinem 1976 erschie-
166 Karlheinz Stockhausen, Weltmusik, in: Texte zur Musik 1970-1977, Band IV, Köln 1978,468-
476.
167 Eine ausfuhrliche, tendenziell positive Darstellung der deutschen Ausformungen der New Age
Musik gibt Stroh 1994. Für eine kritische Sicht vgl. Peter Niklas Wilson, Die Ratio des Irratio-
nalismus, in: Ekkehard Jost, Die Musik der achtziger Jahre [=Veröffentlichungen des Instituts
fur Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 31], Mainz 1990,62-77 und ders.: Die
verordnete Harmonie. Musik und Musikphilosophie im Zeichen des New Age, in: NZfM 1986/9,
5-8.
138 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
nenen Buch Durch Musik zum Selbst und von Joachim-Emst Berendt in Nada
Brahma - die Welt ist Klang (1983) und Das dritte Ohr (1985) formuliert wor-
den. 168 Die deutsche New Age-Bewegung wurzelt zweifellos in den gesellschaft-
lichen Umwälzungen, die mit dem Jahr 1968 assoziiert werden und die mit dem
Kreis um das Institut für Traditionelle Musik in Berlin und den zahlreichen "multi-
kulturellen" Aktivitäten im Rahmen der Olympischen Spiele 1972 in München (na-
mentlich der Ausstellung "Weltkulturen und modeme Kunst") begannen, auch in der
Welt der deutschen neuen Musik verstärkt zum Thema zu werden. Dieter Schnebel
gab im Münchener Ausstellungskatalog einen Überblick über die "Begegnungen"
der Musik der Modeme mit außereuropäischen Kulturen. 169
In der Klassifikation Strohs lassen sich mindestens fünf unterschiedliche "Di-
mensionen" der New Age Musik ausmachen, nämlich die "schamanistische", die
"harmonikale", die "fraktale", die "mediale" und die "transkulturelle", wobei letztere
hier für uns am meisten Relevanz besitzt. Wichtiger \Vortgeber war der schweizer
Philosoph lean Gebser, der mit seiner Formulierung der "diaphanen Gleichzeitig-
keit" kultureller Überlieferungen als Kennzeichen der integralen Bewusstseinsstufe
(der magische, mythische und mentale Stufen vorangehen) die Verbindung von ver-
einheitlichender Integration und buntem Nebeneinander bereits vorgab, die den Mu-
sikbegriff des New Age ausmachte. Eine Reihe von Topoi, die zu diesem Zweck in
das Repertoire der New Age Musik eingingen, führt Stroh auf:
" ... die Lehre von den Archetypen, das Konzept der integralen Musik, die Hoffnung der Verbin-
dung von innerer und äußerer Reise, die Begegnung tieferer Schichten des Unterbewusstseins in
musikalischer Spiegelung, den Versuch, auf die Welt, die Natur und den Kosmos voraus-
setzungslos zu hören und schließlich die praktische Aneignung des Fremden in intuitiver Spon-
taneität (HameI) oder schlicht die Hingabe an den 'Klang aus Bronze' in einer Gruppe."170
168 Peter Michael HameI, Durch Musik zum Selbst, München 1976; Joachim-Ernst Berendt, Nada
Brahma. Die Welt ist Klang, Reinbeck 1983; ders. : Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt, Rein-
beck 1985. Vgl. auch Dane Rudhyar, Die Magie der Töne. Musik als Spiegel des Bewusstseins,
München 1988.
169 Dieter Schnebel, Neue Weltmusik, in: Weltkulturen und moderne Kunst. Ausstellungskatalog rur
die Spiele der XX. Olympiade, München 1972,586-588.
170 Stroh 1994, 344.
II.3. Karlheinz Stockhausen 1966--1977 139
ren in den Klängen von Natur und Kosmos, die sich in den konkreten Ausformun-
gen der Weltkulturen nur je in anderer Weise weiterentwickelt hätten und zu denen
es zwecks einer völkerverbindenden Musik wieder zuriickzufinden gelte. So hatten
kosmologische Musikkonzepte von Pythagoras über Kepler bis hin zu der neueren
pseudo-wissenschaftlichen Disziplin der "Harmonikalen Grundlagenforschung"
ebenso Hochkonjunktur wie etwa popularisierte Formen der fraktalen Geometrie.
Die New Age Bewegung war also im Wesentlichen regressiv, sie hoffte kulturellen
Ballast zugunsten eines "vor-kulturellen", vermeintlich "intuitives" Bewusstsein
ermöglichenden Freiraums loszuwerden, in welchem der "Natürlichkeit" der Ober-
tonreihe eine Schlüsselrolle zugesprochen wurde. Eine prototypische Haltung artiku-
liert Berendt:
"Was Musiken unterscheidet, sind eigentlich nur Beigaben, was sie verbindet, ist ihr eigentliches
Wesen. [... ] Überall sind es die gleichen Proportionen, die der Musik aller Völker und aller Kul-
turen zugrundeliegen, Proportionen, die letztlich durch die Ganzzahligkeit der Obertonreihe
konditioniert werden: durch physikalische Befunde, an denen kein Musiker der Welt etwas än-
dern kann.,,171
Bezeichnend für die New Age-Bewegung war ihr konsequentes Ignorieren der
politischen oder sozialen Wirklichkeit in den Regionen, auf deren kulturelle Über-
lieferung ein guter Teil ihrer Musiksynthese abzielte wie beispielsweise Indien, so
dass sich ein tatsächlicher Aufenthalt in den angepeilten Regionen schlicht erübrigte:
"Die Reise in die Weltmusik ist in Wirklichkeit nicht eine Reise nach Indien oder in
irgendein anderes fremdes Land, sondern 'a trip into your inner-self."172
Peter-Michael Harnel hatte mit seiner Improvisationsgruppe Between versucht,
exemplarische Beispiele einer New Age-Musik zu verwirklichen, die er nach Gebser
"integrale Musik" nannte. Die ästhetischen Zielsetzungen waren dabei
"aus allen Musiktraditionen zu lernen, vergessenen Hintergründe aufzuspüren und die ursprüng-
liche Funktion der Musik, ihre Bindung an tiefste menschliche Erfahrungen, wieder ins Licht zu
rücken, ohne dabei einem naiven Eklektizismus zu erliegen.,,173
Neue und wiederentdeckte alte Formen der Improvisation wurden zu den wich-
tigsten Mitteln der praktischen Umsetzung:
"Eine integrale Weltmusik benötigt als Voraussetzung die intuitive Spontaneität [... ] Um eine
'Musik zwischen den Welten' spielen zu können, die diese Welten auch [... ] zu vereinen mag,
müssen neben den uralten, wiederzuentdeckenden Methoden des Zusarnmenspielens auch ganz
neue Musizierrnodelle entwickelt werden [... ] Dann würde eine Begegnung einen Ausweg zeigen
aus dem Dilemma des Kategorien- und Kästchendenkens und damit die Möglichkeit zu einer
Selbsterkenntnis durch Musik.,,174
171 Joachim-Ernst Berendt, Über Weltmusik, Jazz Podium, März 1985, 8ff.
172 Ebda., 12.
173 Hamel 1976, 9-10.
174 Ebda., 161. Wie begrenzt sich solche Utopien in ihrer praktischen Anwendung zeigten, lassen
nicht nur die rasch ernüchternden Erfahrungen der damaligen Protagonisten erkennen, sondern
vor allem ihre sofortige Vereinnahmung durch den globalen Markt, der mit "World Music",
140 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
ES
Denke NICHTS
Warte bis es absolut still in Dir ist
Wenn du das erreicht hast
beginne zu spielen
"Crossover" oder "Ethno Beat" bis heute kommerziell höchst erfolgreiche Submärkte aufgebaut
hat, die die Utopie der New Age Musik unschwer in eine höchst praktikable Selbstinszenierung
der Medien umgesetzt hat. Bis heute sind dadurch die von der New Age-Bewegung mitverbreite-
ten neo-exotistischen Klischees zu einern wichtigen Marktfaktor geworden, wie wir es im 1. Ka-
pitel anhand des Enigma-Beispiels sehen konnten (vgl. 1.2.4.).
I1.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 141
"It is really a very decisive turningpoint in the development of a musician, to break out of his
whole environment, training, and technical mechanics. So a very conscious being is needed: he
must know the music of the world. He must already be a world-wide inforn1ed mind, who has
travelled in many countries, or heard records of the music of all other cultures, in order to avoid
it all."m
Stockhausens Gruppe l76 befand sich natürlich vor dem unauflösbaren Paradox,
dass jede Interpretation von Stockhausens Textkompositionen wiederum eine Art
von "Stil" generierte, der im selben Moment bereits zu vermeiden war - ein Para-
dox, das die im ersten Teil des Kapitels dargestellten Zusammenhänge zwischen
Originalität, Authentizität, Fälschung und Tradition treffend illustriert. Das Gegen-
stück zur durch den Text "ES" symbolisierten "Leere" an Musiktraditionen repräsen-
tieren die nur kurze Zeit zuvor entstandenen elektronischen Kompositionen Telemu-
sik (1966) und Hymnen (1965-67), die auf einer großen Fülle an Ausgangsmateri-
alien basieren und so dieser "Synthese aus Nichts" eine "Synthese aus Allem" an die
Seite stellen. Peter Revers bemerkt in diesem Zusammenhang:
"Das scheinbar paradoxe Verhältnis zwischen der Ästhetik einer vom Komponisten bewusst ein-
gerichteten Symbiose verschiedener Musikkulturen und der Aufhebung des Individuellen in der
Aufdeckung universeller Archetypen ist keineswegs zufällig. Das Abtauchen ins Unbewusste
[... ] bildet vielmehr den eigentlichen Schlüssel zur integrativen Wahrnehmung."m
175 Questions and Answers on Intuitive Music. 15.11. 1971, Institute of Contemporary Arts in Lon-
don (unter http://www.stockhausen.org); auf Deutsch in: Stockhausen, Texte zur Musik 1963-
1970, Band IV, Köln 1971. .
176 Stockhausen arbeitete seit Anfang der 1960er Jahre mit einem ständig wechselnden Stab an Mu-
sikern, mit denen er zeitweise jährliche Tourneen unternahm und die auch seine Konzepte der
"Intuitiven Musik" realisierten. Dazu gehörten u.a. Carlos R. Alsina, Jean-Franyois Jenny-Clark,
Jean-Pierre Drouet, Michel Portal, Vinko Globokar, Harald Boje, Aloys Kontarsky, Johannes
G.Fritsch, Alfred Alings, RolfGehlhaar, David Johnson, Peter Eötvös, Joachim Krist, später Su-
zanne Stephens, Michael Svoboda, Andreas Boettger, Kathinka Pasveer sowie Stockhausens
Söhne Markus und Simon. Globokar gründete 1972 gemeinsam mit Michel Portal, Jean-Pierre
Drouet seine viel beachtete Gruppe New Phonic Art.
177 Revers 1998.
178 Einführungstext Telemusik (CD-Booklet), Stockhausen-Verlag.
179 Vgl. dazu die Beiträge zum Kölner Stockhausen-Symposion 1998 unter dem Motto "Weltbild",
in: Misch/Blumröder 1999,9-56.
142 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
in den Menschen weckt"180 und der Komponist betont, "dass ich nicht meine Musik
mache, sondern die Schwingungen übertrage, die ich auffange; dass ich wie ein
Übersetzer funktioniere, ein Radioapparat bin."181 Diese Darstellung des Komponis-
ten als "Mediums" zwischen göttlicher und menschlicher Welt ist nicht nur von der
mittelalterlichen Musikauffassung und dem "Unitas"-Denken her vertraut, sondern
ebenso von der deutschen Kunst-Religion des 19. Jahrhunderts. Mahlers Auffassung,
er sei nur ein Medium durch das eine höhere Stimme spreche, setzt sich fort in Ste-
fan Georges Worten "Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer/ Ich bin ein dröhnen
nur der heiligen stimme", die Schönberg im 4. Satz seines 2. Streichquartetts verton-
te - und damit gewissermaßen dieses Prinzip in die musikalische Modeme hin-
überrettete. Zu dem Wunsch die "Musik der ganzen Erde, aller Länder und Ras-
sen"182 zu schaffen, den Stockhausen sich mit Telemusik zu erfüllen meint, ist es da
nur noch ein kleiner Schritt. Stockhausens Ziel, "den ganzen Menschen zu wecken
und zu kultivieren" 183 - ganz im Einklang mit dem auf "Ganzheitlichkeit"
ausgerichteten New Age - kann im selben Zusammenhang gesehen werden.
Stockhausens Universalismus ist also in erster Linie ein westlich-(christlich)-
mystischer, auch wenn er in der Folge in New Age-typischer Weise ein Reihe unter-
schiedlichster kultureller Versatzstücke "integriert" haben mag. Dies äußert sich
allein darin, dass er unbeirrt an der Hervorbringung "origineller eigener Formen" als
letzter Stufe einer "Weltmusik" festhält, der ein "Vermischungs- und Integrations-
prozess aller Musikkulturen dieser Erde" vorangehen wird, während dem so viel
Musiktradition wie möglich konserviert werden soll.184 Die so entstehende umfas-
sende Verfiigbarkeit soll also nicht der Imitation durch ein "live-elektronisches Uni-
versalinstrument" dienen, sondern den Komponisten dazu befähigen, "die spezifi-
schen Schwingungsverhältnisse in jeder einzelnen Form bewusst machen zu können
und als eine der möglichen Kräfte zur Verfiigung zu haben, wenn man einen neuen
Organismus komponieren wi11."185 Der Maßstab bleibt also der Komponist westli-
cher Prägung und sein "Ergriffensein" von der Musik der Welt, seine Haltung, die
"ganze Welt von oben zu sehen" und die "Simultaneität aller Kulturstufen" zu er-
kennen l86 , wobei er freilich nur die "Schwingungen" der anderen Musik aufnehmen
und keineswegs ein tieferes philologisches Verständnis (das in der hier angepeilten
Breite auch kaum zu erlangen wäre) aufbringen muss. Diese "Annahme, im eigenen
Unterbewussten den immensen Fundus an kulturellen Leistungen der Menschheits-
geschichte aktivieren zu können"187 legt den Einspruch der Musikethnologie nahe:
180 In: Stockhausen, Texte zur Musik 1970-1977, Band IV, Köln 1978,615.
181 Partitur Aus den Sieben Tagen, Wien 1968,24.
182 EinfUhrungstext Telemusik, a.a.O.
183 Weltmusik, a.a.O., 476.
184 Ebda., 469.
185 Ebda., 473. Es sollte beachtet werden, dass Stockhausens teleologisches Weltmusikmodell nicht
zuletzt dazu dient, die eigenen Kompositionen als Vorwegnahme der anzustrebenden zweiten
Phase, d.h. als konkret gewordene Utopie, zu zeichnen.
186 Ebda., 472.
187 Revers 1998.
IU. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 143
"Unmittelbares Ergriffenwerden von der Musik einer fremden Kultur öffuet gewiss erste Türen,
auf die allerdings so manch weitere Tür oft mühsamen Lemens geöffuet und durchschritten wer-
den muss, bis man zu einem wie immer auch gearteten adäquaten Verstehen vorzudringen
mag."188
"In der Tat scheint der Gegensatz zwischen dem Prinzip der Rationalität, das die frühere Ent-
wicklung einer integral seriellen Musik gezeitigt hat, und dem der Intuition, das für sein späteres
Schaffen, insbesondere für die Ensemble-Improvisationen um 1970, Bedeutung erlangte, von
nahezu kontradiktorischer Schärfe zu sein.,,194
Dagegen filhrt Shimizu in einer aufschlussreichen, wenn auch m.E. oft zu weit
getriebenen Parallelsetzung von Stockhausens "Pluramon"-Denken und Leibniz'
Monadologie an, dass sich die serielle, d.h. in Kontinuitätsstufen zwischen Extre-
men erfolgende Organisation des Tonmaterials, die Prinzipien der elektronischen
Musik (mit der Kontinuität zwischen Sinuston und weißem Rauschen), das abge-
stufte Spektrum zwischen Klang und Stille und ein nicht-atomistischer Kulturbegriff
alle auf ein "distributives" Weltbild zurückfUhren ließen. Kulturen wie musikali-
sches Material zeichnen sich in Shimizus Darstellung filr Stockhausen durch ein
projektives Verhältnis des Teils zum Ganzen aus, d.h. "es gibt unendlich viele Funk-
tionen, durch die das Ganze in jedem Teilelement projiziert und ausgedrückt
wird."195 Damit ist auch der Hintergrund zu Stockhausens Figur des "Pluramon"
geschaffen, der die Symbiose einer vereinheitlichenden, monistischen und einer plu-
ralistischen Tendenz darstellt.
Freilich kann Shimizus äußerst wohlwollende Interpretation nicht den grund-
sätzlichen Widerspruch auflösen, der durch Stockhausens Denken und Kompo-
nieren thematisiert wird: Weder ist die schön klingende These ''jede Musiktradition
entfaltet in ihrer Eigenschaft die ganze Weltmusik"196 durch musikethnologische
Fakten zu belegen, noch lässt sich eine bruchlose Kontinuität zwischen unterschied-
lichen Kulturen (die schließlich auch deren stufenweise Verknüpfung denkbar und
möglich machen würde) tatsächlich herstellen. Auch kann sie nicht die letztlich eben
doch atomistisch bleibende Verwendung isolierten kulturgebundenen Materials in
Stockhausens collageartigen Werken erklären (s.u.). Wie Revers' Analyse zeigt, ge-
hen Stockhausens Universalien vielmehr aus einer mangelnden Kenntnis der Grund-
lagen nicht-westlicher Musikkulturen hervor und können so ihren universellen An-
spruch kaum kompetent einlösen. Nicht nur das teilt Stockhausen mit anderen
Protagonisten der New Age-Bewegung.
Die Form der Collage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat ursprünglich eine
provozierende und kontexterweiternde Funktion; die gezielte Kontextversetzung all-
täglicher Materialien oder Gebrauchsgegenstände ist weder Historismus noch Sym-
bolismus, sondern Rebellion gegen die Integrität des organischen Kunstwerks und
gegen den Mythos vom genialen Schöpfer. 197 Damit stehen in den 1920er und
1930er Jahren häufig bewusster Zeitbezug und Politisierung in Zusammenhang. Wie
in unserer Analyse des Prozesses der "Rekontextualisierung" anhand des "Ready-
Made" beschrieben (1.2.1.), so wird allerdings auch die "Collage" schnell zum neuen
Stil oder zum Element des Dekor, wie es sich schon früh in manchen Werken des
Denken zugrunde, das die Kategorie der Intuition als Moment einer höheren Rationalität ent-
hielt." (Ebda. 315).
195 Shimizu 1999/2,122.
196 Ebda., 123.
197 Vgl. dazu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974,98-111.
I I.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 145
"Man kann sich zum Beispiel vorstellen, einen afrikanischen Stil mit einem japanischen Stil zu
modulieren, indem man nicht etwa die Stile beseitigt, um zu einem Überstil oder zu einem inter-
nationalen Einheitsstil zu kommen - was meines Erachtens sinnlos wäre ,sondern indem
man das Originelle, Verschiedene geradezu bekräftigt und dazu Transformation des Einen ins
Andere und vor allem zweier Gegebenheiten in Bezug auf einer dritte komponiert."20o
"zum Anfang einer neuen Entwicklung geworden [... ], in der die Situation der 'Collage' der ersten
Jahrhunderthälfte allmählich überwunden wird: Telemusik ist keine Collag): mehr. Vielmehr
wird - durch Intermodulationen zwischen alten, gefundenen Objekten und neuen, von mir mit
modemen elektronischen Mitteln geschaffenen Klangereignissen - eine höhere Einheit erreicht:
Eine Universalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von weit entfernten Ländern und
Räumen : Tele-Musik.,,202
"Integriert man bekannte Musik (wie Nationalhymnen) in eine Komposition unbekannter, neuer
Musik, so kann man besonders gut hören, wie sie integriert wurde: untransformiert, mehr oder
weniger transformiert, transponiert, moduliert und so weiter. Je selbstverständlicher das WAS,
um so aufinerksamer wird man fur das WIE. ,,204
mit - wenn auch wahllosen - Zitaten der entsprechenden Umwelt karikiert, aber nicht in den
subtilen Gegensatz zu einer utopischen Harmonie gebracht. ,,205
"Die Menschen rucken näher zusammen. Und dadurch kommen Bewusstseinsschichten hoch, die
einfach geschlafen haben. Das ist der Anfang des Universalismus. Die integrierende Kraft druckt
sich aus in den technischen Mitteln, die wir verwenden.,,2Q7
"Was geschieht, besteht nur noch aus dem, was JETZT in der Welt gesendet wird; [... ] Die frühe-
ren Gegensätze von Alt und Neu, von Fern und Nah, von Bekannt und Unbekannt lösen sich auf
ALLES ist das GANZE und GLEICHZEITIG.,,209
Die Kurzwellen-Ästhetik hat auch rur die Verzerrung der Musikquellen in Te-
lemusik und Hymnen weitreichende Folgen. Teilweise ist diese, wie im ersten Ab-
schnitt der Hymnen direkt der Situation bei der Suche eines Kurzwellen-Senders
nachempfunden. 2IO Schon hierbei ist die Gleichsetzung einer ganzen kulturellen
Überlieferung mit einer über Radio übermittelten zufälligen Botschaft auffallig; das
ändert sich wenig, wenn Tonkonserven wie in Telemusik und Hymnen dazu dienen,
"Weltkulturen" zu repräsentieren. Einerseits verheisst die Konserve eine Form der
"Authentizität", die vorher kein anderes Medium gewährleisten hätte können - die
ungenauen Transkriptionen nicht-westlicher Musik des späten 19. und frühen 20.
Jahrhunderts machen dies mehr als deutlich andererseits ersetzen sie natürlich
nicht eine genauere Auseinandersetzung mit einer kulturellen Tradition und können
rur sich allein genommen niemals "repräsentativ" sein.
Wie kaum ein anderer Aspekt der hier skizzierten zeitgeschichtlichen Einflüsse
auf Stockhausens kompositorischen Ansatz scheint heute seine Haltung gegenüber
dem technologischen Apparat besonders rasch gealtert und zwar nicht deshalb, weil
die heutigen Technologien denen der 1960er Jahre überlegen wären, sondern weil
diese optimistisch-naive Haltung gegenüber der vermeintlich "multikulturellen"
Funktion der Technologie die durch diese symbolisierten Machtverhältnisse und
kulturellen Gefälle nicht wahrnimmt.
Stockhausen fasste 1989 rückblickend die rur ihn wesentlichen und prägenden Mo-
mente japanischer KuItur, Musik und Weitsicht folgendermaßen zusammen:
"I was fascinated - and I'm still fascinated by the timing of Japanese music, in particular of
gagaku music and of Nah music. My fascination with Eastern music has ne ver had anything to
do with improvisation, but with timing, which you can also find in sumo fighting or in the tea ce-
remony. It is the wide scale between the extremely fast and the extremely slow, and in addition
there is the concept of instant change without transition. This is so important in the Japanese way
of living and in particular, in their best music. I mean the extremes of almost no change and then
instant change; and then again no change for a while. So there is the sudden changing of directi-
on, which is different from the speeding up and slowing down like in all European languages.
European rhythm is based on our way of speaking. But the Japanese have, in certain disciplines,
a way oftiming which is extra-lingual. It is something else. It has nothing to do with the way of
speaking. I have described this in a text, 'Memories of Japan'. These experiences remain impor-
tant forever as an enlargement ofthe musical time scale and ofthe concept ofform.,,2II
Entscheidend ist dabei, dass Stockhausen hier etwas entdeckte, zu dem er auf-
grund seiner eigenen vor dem Japanaufenthalt gemachten Erfahrungen und formu-
lierten Theorien eine starke Affinität spürte. Bereits 1961 las Stockhausen die Wer-
ke Suzukis "Der westliche und der östliche Weg"212 und daneben dürften Cage und
Tudor, deren Konzerte in Donaueschingen 1954 und Darmstadt 1958 teils durch
Stockhausens Vermittlung zustande gekommen waren, ihn mit ostasiatischem Den-
ken konfrontiert haben. Stockhausens Version der offenen Form, die "Momentform",
lässt sich bis zu dem unter Cages Einfluss entstandenen Klavierstück XI (1956) zu-
rückfuhren und beruhte auf eben dieser Dialektik des Jetzt, des Augenblicks und der
Zeitlosigkeit, der Unendlichkeit (bzw. deren "gegenseitiger Durchdringung"), die
Stockhausen später als japanische Charakteristika zu beobachten meint. So suchte
Stockhausen Formen,
"die immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weiter gehen könnten; in denen entweder
jedes Gegenwärtige zählt oder gar nichts; in denen nicht rastlos einjedes Jetzt als bloßes Resultat
des Voraufgegangenen und als Auftakt zum Kommenden, auf das man hofft, angesehen wird,
sondern als ein Persönliches, Selbständiges, Zentriertes, das fLir sich bestehen kann; Formen, in
denen die Konzentration auf das Jetzt - auf jedes Jetzt - gleichsam vertikale Schnitte macht,
die eine horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen bis in die Zeitlosigkeit, die ich Ewigkeit
nenne: eine Ewigkeit, die nicht am Ende der Zeit beginnt, sondern in jedem Moment erreichbar
ist. ,,213
2 j 6 Vgl. Ebda.
217 Interview I: Gespräch mit holländischem Kunstkreis, in: Texte zur Musik 1970-1977, Band IV,
Köln 1978, 482. Stockhausen beklagt hier die zunehmende Entfremdung der neuen japanischen
Musik von den religiösen Wurzeln traditioneller Musik in Japan.
218 Einftihrungstext Telemusik a.a.O.
219 Ebda.
I1.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 151
zu betrachten und Stockhausen hier in erster Linie als Komponist und weniger als
"Theoretiker' zu diskutieren. Dennoch sind diese Äußerungen als Zeitdokument
!
220 Vgl. Hazrat Inayat Khan, The Music ofLife, New Lebanon 1967/1988 und The Sufi-Message of
Hazrat Inayat Khan, London 1960/1970. Wie Stockhausen später klarstellt, hat im Gegensatz
zur japanischen die indische Musik nie eine große Rolle fur ihn gespielt. Im Gegenteil kritisiert
er sie scharf: "Unfortunately the art of improvisation of the Indians - they are the only musi-
cians who really improvise - is overestimated, because it's very academic" (Dufallo 1989). Die
vom indischen Philosophen Sri Aurobindo vermittelte "mantrische WeItsicht" fuhrte zur erstmals
in Mantra (1970) angewandten "Formel-Komposition", die den Gedanken an den Ursprung alles
Seins in einer Silbe oder einem Klang (OM oder HU) mit dem westlichen "Urzellen"-Prinzip
verbindet.
152 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
221 Das japanische Instrumentarium kann durch ein westliches aus 3 Harmonien/3 Piccolos, Am-
boss/3 Sopransaxofonen, Bongo/Elektrisches Cembalo, E-Gitarre und Basstrommel ersetzt wer-
den.
222 Zum Hintergrund von Stockhausens Licht-Zyklus vgl. u.a. Maconie 197611990,261-294, Frisius
1996 und Misch/Blumröder 1999,225-285.
11.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 153
ständnis gestoßen war, verursachte die Uraufführung des Jahreslaufin Tokyo einen
regelrechten Skandal, der bei der im allgemeinen beherrschten und toleranten Hal-
tung des japanischen Publikums besonders bemerkenswert war. 223 Die "gemein in-
fantilen Inszenierungen" und die "mangelnde Kreativität" der vier "Versuchungen"
boten dabei offensichtlich mehr Angriffsfläche als die Musik für das gagaku-
Ensemble, die allerdings auch als "anspruchliehe, verkünstelte Instrumentalmusik"
polemisch kritisiert wurde. 224 Die insgesamt bis dahin wohlwollende und respekt-
volle Stockhausen-Rezeption in Japan fand dadurch ein abruptes Ende.
Es soll hier offen gelassen werden, wie die Verbindung der gewiss auf Kenntnis
der originalen gagaku-Musik basierenden musikalischen Komposition Stockhausens
und deren Einbettung in einen befremdend-naiven szenischen Kontext im Detail zu
bewerten ist. Von größerer Tragweite und historisch gewiss folgenreicher und auf-
schlussreicher erweisen sich die interkulturellen Rezeptionsprozesse in Telemusik,
das deshalb hier genauer aufgeschlüsselt werden soll.
Demnach basieren sowohl die Anzahl der (insgesamt 32) Momente mit einem
bestimmten Instrument (1-2-3-5-8-13), als auch die Ordnungszahlen (und damit die
Reihenfolge) der Momente (durch die Divisionsreihe 2-3-5-8-11 [8+3] und 31) auf
der einfachen Fibonacci-Reihe (Primzahlen mit einem p bezeichnet):
(gesamt 32 Momente)
225 Buddhistische Zeremonien (hoe) in Japan bestehen je nach Sekte und Zweck der Zeremonie aus
unterschiedlichen Riten (hoyo oder koshikz), die drei- oder vierteilig sein können. Vgl. Arai 1986,
23f.
II.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 155
- 2 Bandmaschinen
- 6- Kanal-Bandmaschine
Neben den Generatoren wurde eine Reihe von Aufnahmen mit "gefundener
Musik" vetwendet; diese Aufnahmen umfassten Musik aus folgenden Ländern (in
Klammem die Momente, in denen die jeweilige Musik vetwendet wird):
-Japan:
• gagaku: Etenraku (3,6,20,31)
• Tempelgesang aus der Zeremonie "Senbotsusha irei heiwa kigan dai hoyoh" (Kohyasan
Tempel, Nara) (7,22)
• kabuki: Yatai Aikata (Matsuri Bayashi) und Daidai Kagura (Aoi Matsuri) (11,14,15,24)
• "Muschel-Musik" der Omizutori-Zeremonie (Todaiji-Tempel, Nara) (17,18,19,22,23,31)
• Tempelgesänge aus der Zeremonie "Shingon-Shu" (Kohyasan-Tempel, Nara) (22)
• Tempelgesänge "Jion-E", Gyodoh-Prozession (Yakushiji-Tempel, Nara) (30,31)
• nö- Theater "Ho sho riu": Stimme eines Schlagzeugers (32)
-China:
• "Keihosao"; chinesisches Orchester mit Solo-Flöte (21)
-Vietnam:
• "Chant de Petes d'amour" (24,25)
• "Concerts de Sifflets" (24,25,27,28)
"Air de Gongs" (26,27,28)
-Bali:
• Baris Bapan (Gamelan-Orchester) (5,6,15,20,32)
-Afrika:
Ibani Sansa-Lied (Südliche Sahara) (5,6,20)
-Südamerika:
• Musik der Shipibo-Indianer vom oberen Amazonas ("Dance for adolescent girls") (13,14,15,20)
• Musik der Javahe-Indianer (Amazonas) "Wiegenlied" (22,24)
• Musik der Suyai-Indianer (Männerchor, Amazonas) (22)
-Spanien
• SeviIJanas (Flamenco) (6,9)
-Ungarn
"Pista Bacsi, Janos Bacsi" (Violine und Begleitung) (9,12,14)
Es fällt also auf, dass nach der Hälfte der Momente (ab 17) kein rein elektro-
nisch generierter Moment mehr zu finden ist (Moment 29 verwendet zwar keine
"gefundene Musik", aber eine auffällige Vielzahl an Tempelinstrumenten auch wäh-
rend des Moments und nicht nur, wie sonst, als Anfangssignal). Dagegen verzichten
6 der ersten 16 Momente ganz auf "gefundene Musik". Weiterhin ist auffällig, dass
sich bestimmte Musikquellen über eine Reihe von Momenten fortsetzen und diese
so mit einer Art Klammer versehen, so die Musik der Shipibo-Indianer in den Mo-
menten 13-15, die japanische "Muschel-Musik" in den Momenten 17-23 oder die
Vietnamesische Musik in den Momenten 24-28.
Stockhausens erklärtes Ziel war es, diese Musikquellen mit den rein elektro-
nisch generierten Klängen in Beziehung zu setzen und rur diesen Vorgang prägte er
den etwas vagen Begriff der "Intermodulation" . Unser Blick auf Telemusik soll nun
in erster Linie die Techniken, die Stockhausen als "Intermodulation" zusammenfasst,
erhellen und dabei überprüfen, inwiefern der sich beim Hören zweifellos aufdrän-
gende "Nivellierungseffekt" tatsächlich auch auf technisch-kompositorischer Ebene
geplant ist. Anders gefragt: Folgen die von Stockhausen ausgewählten Musikquellen,
wie Robert Maconie meint, tatsächlich einem bestimmten elektroakustischen Prin-
zip, oder genügt die bloße Tatsache, dass sie in diesem Zusammenhang eine der
Weltkulturen repräsentieren kÖIll1en, bereits rur ihre Einbeziehung? Maconie argu-
mentiert:
"It is worth remembering, however, that the 'ready-made' material that animates so much ofTeIe-
musik was not chosen simply for ornament. Each source illustrates an acoustic process des-
cribable in purely abstract terms, which suggests that Stockhausen's selection was originally mo-
tivated as much by scientific curiosity as by the search for an international style. ,,226
Maconie bekräftigt diese These durch Beispiele aus den Momenten 22 und 9. In
22 seien die Tempelgesänge (Spur I) den Resonanzen der Tempelglocke keisu (Spur
V) angenähert, in Moment 9 sei die Verwandlung eines Fragments der ungarischen
Musik (Spur IV) in eine beschleunigende Interferenz von Sinustönen (Spur II)
zugleich als eine AIll1äherung an dieselbe accelerierende Rhythmik der Mokukyo,
deren Klangfarbe diesen Moment eröffnet, zu hören.
Ich möchte in meiner Analyse zwei zentrale Stellen aus Telemusik herausgreifen,
zum einen Moment 3, in dem die im Laufe der Komposition häufig verwendete
"Gagaku-Schaltung" erstmals eingesetzt ist und die Momente 17-23, in denen eine
besondere Vielzahl an "gefundenen" Musikquellen herangezogen wurde, die zum
Teil hier auch im Hörresultat unterscheidbar sind. 227
11000 H~ und
'1E,86(-20 dB)/10800 Hz. wi~ I
@ 11000H,und
11950/11670 HL wie I
~~~m'-HK
@
• • • • • • • • ~h.. 48 SthLc.,9e. -
11000 Hz. G~GA:.UA~:~:l:n NE TEN RAKU"'~ Go.9o.ku- 5(..ho.llU;~), mit 'V 11000 Hz. Ri"9":,";/ und S .
CD~
Der fünfspurige Moment 3 besteht aus vier Spuren (I-IV) von Sinustongruppen,
die teils in additiver Synthese, teils durch Ringmodulation miteinander verknüpft
werden und einer Spur (V) eines teils einfach, teils doppelt ringmodulierten Ab-
schnitts des bekanntesten gagaku-Stücks Etenraku. Die Dauer des verwendeten ga-
gaku-Abschnittes entspricht mit 34 Sekunden genau der Dauer des ganzen Moments.
Wie das Frequenzspektrum von Telemusik insgesamt, so bewegt sich auch hier
der Tonhöhenbereich nahe des höchsten hörbaren Frequenzbereichs um die zentrale
Frequenz von 12000 Hz. Die insgesamt 12 unterschiedlichen Basistöne der Spuren I
- IV liegen zwischen 9500 und 12000 Hz. Die Additive Synthese ergibt folgendes
die ganze Zeit über hörbares Klangspektrum:
Das Ergebnis ist ein achtstimmiger Akkord aus Differenztönen, der bei Sekunde
8 und Sekunde 21 als Impuls hörbar wird, allerdings in einer durch die Ungenauig-
keit der Stoppuhrmessung bedingten arpeggierten Weise. In konventionelle Notation
übertragen ergibt das folgende Akkorde:
8- - --- ------------------------,
~~~~3100
312
Die oberen Frequenzen zentrieren sich also zunächst um die Töne dis und e,
nach Sekunde 21 dann auch um a, gis und g. Der Bassbereich bringt durchgehend
ein zwischen GI und Gisl liegenden Ton und ein A. Diese Tonauswahl scheint ei-
nen bewussten Bezug zur gagaku-Musik herzustellen, deren Zentralton das e3/e4 ist.
Betrachten wir deshalb jetzt Spur V.
Die V. Spur verwendet einen 34-sekündigen Ausschnitt des Etenraku, der dop-
pelt ringmoduliert wird. 229 Dabei kommt folgende in der Partitur angegebene Schal-
228 Es kann hier nicht ausfiihrlich auf die technischen Grundlagen der Ringmodulation eingegangen
werden. Kurz gefasst, liefert die Ringmodulation einer Trägemequenz A mit einer Modulator-
frequenz B die beiden Differenztöne A+B und A-B. Bei komplexen Klangspektren wie der Ga-
gaku-Musik sind die Ergebnisse nur teilweise vorhersehbar. Stockhausen verwendet in der "Ga-
gaku-Schaltung" den Ringmodulator quasi als Transponiergerät wie unsere Analyse zeigt (s.u.).
Zur Ringmodulation vgl. Dobrian 1998,67-73, Ruschkowski 1998, 171f. und Hall 1997, 153-
155.
229 Bei der Rekonstruktion des von Stockhausen tatsächlich verwendeten Ausschnitts bietet die Par-
titur einen Widerspruch: In der Anmerkung zu Moment 3 findet sich der Hinweis "Beginn Flöte
11.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 159
8 = Sinusgcllcr;l!or; 0 Ringmodutalor:
VI
r< = Drucktaslcnschallcr:
l
~ = Magnclopho",
Modell "Gagaku-Schaltung"
Durch einen Tiefpass-Filter werden also zunächst alle oberhalb von 6000 Hz
ll
liegenden Frequenzen abgeschnitten. Dies vermeidet das sogenannte "Aliasing oder
den "Foldover-Effekt" bei der darauffolgenden Ringmodulation, d.h. das Entstehen
von ungewollten Seitenbändem oder Interferenzen, die durch die Spiegelung von
Frequenzen oberhalb der halben Sampling-Rate (Nyquist-Rate) entstehen. 230 Bei der
ersten Ringmodulation wird das gefilterter Etenraku mit einem Sinuston von 12000
Hz moduliert. Der Effekt ist eine Transformation des Etenraku-Spektrums (A) in
den Frequenzbereich des Sinustons (B) nach folgendem Schema:
Ringmodulation 1 Ringmodulation 1
Spektrum/Input Spektrum/Resultat
Das Resultat ist also den auf den Spuren I-IV generierten Sinuston-Frequenzen
angenähert; von dem nur sehr leise hörbaren (-10 dB abgedämpften) gagaku-
Material ist außer den Rhythmen der kakko-Trommel dabei kaum mehr etwas zu
allein, dann Trommel accel. dazu; ab s 5 Einsatz der anderen Instrumente). Dagegen zeigt das
von Stockhausen gegebene Notenbeispie! (in der Anmerkung zu Moment 617) eine Passage an,
die sich erst vier Takte nach dem Tutti-Beginn findet (in der Transkription von Sukehiro Shiba,
Gosen-fu ni yoru Gagaku so-fu, Tokyo 1972, reproduziert in Cooke 1998, 178-179). Die Passa-
ge vor dem Tutti-Beginn umfasst in dieser Transkription 6 Takte und dauert ca. 48 Sekunden. Es
ist hörend nicht zu entscheiden, welche Passage Stockhausen nun wirklich verwendet hat, da das
Gagaku-Original in Moment 3 nur stark verfremdet hörbar wird.
230 Bei der im heutigen digitalen Bgereich standardisierten Sampling-Rate von 44100 Hz beträgt die
Nyquist-Rate, also die höchste reproduzierbare Frequenz, 22050 Hz. Eine Frequenz von 22100
Hz würde an der Nyquist-Rate gespiegelt und als 22000 Hz hörbar werden. Ebenso werden die
bei der Ringmodulation entstehenden negativen Werte an der Null-Achse gespiegelt. Ein Seiten-
band von -100 Hz wird also als Frequenz von 100 Hz hörbar.
160 11. Westl iche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
vernehmen. Dieses Klangband bleibt die ganzen 34 Sekunden über unverändert hör-
bar. Die zweite Ringmodulation dagegen, in der das Etenraku-Material wieder in
den ursprünglichen Frequenzbereich rücktransponiert wird, wird nur an zwei Stellen
gezielt eingesetzt. Beide Male erscheint das Originalmaterial als Resonanz oder als
Ausschwingvorgang der beiden Impulse bei Sekunde 8 und Sekunde 21 in den Spu-
ren I-IV. In dieser zweiten Ringmodulation wird der Foldover-Effekt dazu benutzt,
die hohen Frequenzen durch Spiegelung wieder in den ursprünglichen Frequenz-
bereich zurückzufiihren:
Durch ·den auf die Ringmodulation 2 folgenden Tiefpassfilter werden die ent-
standenen Seitenbänder in den hohen Bereichen weggefiltert. In der Tat ist das so
entstehende Resultat nichts anderes als das Original selbst, allerdings oberhalb von
5500 Hz abgeschnitten.
Bei der zweiten Ringmodulation ändert Stockhausen zwischen Sekunde 22,6
und 31,4 die Modulatorfrequenz kontinuierlich zwischen 12000 Hz und 11950 Hz
und wieder zurück zu 12000 Hz. Die so entstehenden Tremolo- und Glissando-
effekte entsprechen exakt einer Ringmodulation des (gefilterten) Originals mit einer
Modulatorfrequenz zwischen 0 Hz und -50 Hz (oder +50 Hz,; das Resultat ist iden-
tisch!). Im Bereich zwischen 0 und 16 Hz überwiegt der Eindruck eines Tremolos,
da die entstehenden Differenztöne zu nahe beieinanderliegen, um als eigenständige
Tonhöhen identifiziert werden zu können. Darüber werden Intervalle deutlicher hör-
bar und es resultiert die vernehmbare fächerartige Glissandowirkung. Nehmen wird
etwa eine Frequenz von 1318 Hz (=e4 der Zentralton des verwendeten gagaku-
Ausschnitts) als Ausgangsmaterial an (die Grundtöne des Etenraku-Ausschnitts lie-
gen zwischen d2 und a3, also zwischen 587 Hz und 1760 Hz), so wird diese konti-
nuierlich und synchron in die Frequenzen 1268 Hz und 1368 Hz und wieder zurück
geführt. Der gesamte Prozess der doppelten Ringmodulation sieht also folgender-
maßen aus:
Ringmodulation ]
T*M == Fa== 10682 Hz und Fb == 13318 Hz
Ringmodulation 2
Fa*M == Fl == 22682 Hz und F2 == -1318 Hz -+ Resultat 1318 Hz
H.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 161
Wird nun M geändert von 12000 auf 11950 Hz (M') so ergibt dies zwei Frequenzen im Abstand von
etwa einer großen Sekunde:
Fa*M' = Fl = 22632 Hz und F2 = -1268 Hz ~ Resultat 1268 Hz
Fb*M' = F3 = 25368 Hz und F4 = 1368 Hz ~ Resultat 1368 Hz
Die Stufen zwischen 12000 und ca. 11980 Hz erzeugen eine Tremolowirkung;
z.B. hört man im Falle von M'=11999 Hz die beiden Frequenzen 1317 und 1319 Hz,
was einer Tremolowirkung von 2 Schwingungen pro Sekunde entspricht (d.h. die
Amplitude des resultierenden Tons erreicht während einer Sekunde zweimal den
Wert 0). Es ergeben sich insgesamt zwei Parallelglissandi von ca. einem Halbton
aufwärts (und zurück) und um ca. einen Halbton abwärts (und zurück). Das Resultat
sieht also so aus:
glissando glissando
~ ~
EJ
1368 Hz (ca.f4)
1318 Hz
(e4) Sek. 22,6 - 27 Sek. 27 - 31,4
Das Klangergebnis ist durch die geringe Lautstärke und den Verzerrungseffekt
stark verfremdet; aber Stockhausen hat mit diesem Glissandieren zweifellos ein
Hauptcharakteristikum der Etenraku-Passage erfasst und nachgezeichnet, nämlich
das schleifende Gleiten zwischen den Tonhöhen, genannt embai, in den hichiriki.
Das fächerartige Glissandieren erscheint zudem als Fortsetzung der vier Parallelglis-
sandi bei Sekunde 21 in den Spuren I-IV und erhält so eine Art Echo- oder Nach-
hallwirkung.
Spur V enthält als Signalinstrument die Fischkopf-Holztrommel mokukyo, deren
für einen Teil der buddhistischen Tempelmusik charakteristische accelerierende
Rhythmen einen Querbezug zu den accelerierenden kakko- Rhythmen des gagaku
herstellen, wie sie sich auch am Beginn des Etenraku finden (im Zusammenhang
mit Britten bereits angesprochen). Stockhausen simuliert hier diesen Rhythmus
durch das mehrfache Aneinanderkopieren eines mokukyo-Schlags, wobei er durch
das Diminuendo einen Verfremdungseffekt erzeugt (der im Gegensatz zu den eher
crescendierenden originalen Rhythmen steht).
Was können wir aus dieser notwendigerweise sehr technisch ausgefallenen Be-
schreibung schließen? Die Simulation von Stockhausens doppelter Ringmodulation
zeigt, dass die Verwendung anderer Musikquellen keine wesentliche Änderung der
Gesamtcharakteristik des Abschnittes bewirkt. Die elektroakustischen Spezifika des
162 i I. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
Etenraku-Ausschnittes sind also gewiss rur die hier angewendeten Prozesse nicht
entscheidend gewesen. Wohl aber zeigte die technische Analyse einen bewussten
Bezug zwischen den angewandten Techniken und Charakteristika der gagaku-
Musik, insbesondere in drei Bereichen:
iIII gezielter Bezug der synthetisch erzeugten Tonhöhenbereiche zu den Zentraltö-
nen des verwendeten gagaku-Ausschnittes (um e3/e4)
iII Nachvollzug der embai-Technik durch mittels Ringmodulationen erzeugte Glis-
sandi.
111 Bezug des konstruierten mokukyo-Accelerandos zu den Rhythmen der kakko im
gagaku- Ausschnitt.
Eine offene Frage dabei bleibt, ob die offensichtliche Unwichtigkeit der Be-
schaffenheit des Klangmaterials und dessen bis zur Unkenntlichkeit gehende Ver-
zerrung nun als Respektlosigkeit gegenüber diesem Material zu interpretieren sei
oder ob im Gegenteil die Hinweise auf eine bewusste Einbeziehung von Charakte-
ristika des gagaku bei gleichzeitiger "Abstraktion" dessen klanglicher Oberfläche als
besonders sensibler und gehaltvoller Umgang mit diesem Material gesehen werden
könnten. Diese Frage wollen wir hier zunächst offen lassen (vgl. 3.6.) und zuerst
noch einen weiteren Abschnitt untersuchen, hier allerdings nicht im technischen
Detail, sondern in Hinblick auf die Bedeutung der verwendeten Musikquellen und
deren Zusammenhang mit anderen Materialien.
In den Momenten 17-23 kommen folgende Musikquellen vor:
Momente 17-19
• "Muschel-Music" der Omizutori-Zeremonie (Todaiji-Tempel, Nara)
Moment 20
• Baris Bapan (Gamelan-Orchester)
• gagaklt: Etenraku
• Ibani Sansa-Lied (Südliche Sahara)
• Musik der Shipibo-Indianer vom oberen Amazonas ("Dance for adolescent girls")
Moment 21
• "Keihosao"; chinesisches Orchester mit Solo-Flöte
Moment 22
• Muschel-Music" der Omizutori-Zeremonie
• Tempelgesang aus der Zeremonie "Senbotsusha irei heiwa kigan dai hoyoh" (Kohyasan Tempel,
Nara)
• Tempelgesänge aus der Zeremonie "Shingon-Shu" (Kohyasan Tempel, Nara)
• Musik der Javahe-Indianer (Amazonas) "Wiegenlied"
• Musik der Suyai-Indianer (Amazonas)
Moment 23
• Muschel-Music" der Omizutori-Zeremonie
Die Passage besitzt durch die Einheitlichkeit der verwendeten Materialien und
Techniken sowie durch die abschließende starke Signalwirkung der rin-Glocke zu
Beginn des Moments 24 einen relativ großen Zusammenhalt. In jedem der Momente
finden sich Verweise aus einzelne Spuren des vorangegangenen Moments, so dass
I1.3 . Karlheinz Stockhausen 1966-1977 163
hier die Akzente der Tempelinstrumente die einzige deutliche Gliederung bieten.
Die Momente 20 und 22 fallen zudem durch die besondere Heterogenität ihrer Aus-
gangsmaterialien auf, was allerdings auf die Gesamtklangwirkung nur bedingt Aus-
wirkungen hat.
Die Momente 17-19 bilden eine Einheit, zum einen aufgrund ihrer Verwendung
der "Muschel-Musik" der Omizutori-Zeremonie, dem Höhepunkt des sechswöchi-
gen Festes der Wasserweihe, an der Stockhausen angeblich drei und Nächte
lang teilnahm. Stockhausen charakterisiert diese auf Muschelhörnern geblasene Mu-
sik durch "sehr unregelmäßge Glissandi, Mischungen von Tönen und lauten Blas-
geräuschen" sowie "zerbrechende Töne" oder das "fauchende Geräusch", die die
Spieler erzeugen. Das wiederum durch die gagaku-Schaltung modulierte Original
(Spur I) ist in Moment 17 (22 Sekunden) nahezu vollständig unhörbar, obwohl auch
der zweite Ringmodulator durchgehend geöffnet ist (über den das Original zu hören
ist, hier allerdings mit einer durch die Schwebung von ±30 Hz (12000 - 12030 Hz)
bedingten starken Verzerrung). Dieses verzerrte Original wird an ftinf Stellen durch
kurze Glissandi der Modulatorfrequenz zu kurzwellenartigen Impulsen moduliert.
Die Spuren II-V bringen rückwärts abgespielte Elemente aus Moment 15, in dem ei-
ne komplexe Überlagerung von insgesamt 11 Schichten stattgefunden hatte, die alle
aus vorangegangenen Momenten gewOIlnen waren. Die charakteristische Technik
dieser Spuren ist ein imitatorisch sich verdichtendes, durch Spur I-IV gehendes
Glissando (Spur II: Sekunde 6-11, Spur III: 12-15, Spur IV: 16-21, Spur V: 18-19).
In Moment 18 (13 Sekunden) wird die über die Gagaku-Schaltung modulierte
Muschel-Musik dann in vierfacher Überlagerung gebracht (Spuren I-IV), wobei in
den Spuren II-IV die Ausgänge der beiden Ringmodulatoren alternieren. Spur I
bringt eine ständige Variation der 1. Modulatorfrequenz und somit ein oszillierend
verfremdetes Klangbild. Das Original ist auch hier nicht zu erkennen; die Impulse
des vorangegangenen Moments setzten sich in den 13 echo artigen, teils durch
Ringmodulation gefärbten Echoimpulsen des taku (Spur V) fort.
Diese bilden die Verbindung zu Moment 19 (27 Sekunden), wo der taku-Schlag
mittels des Transponier-Magnetophons rückgekoppelt wird. Spuren I und II setzten
Moment 18 fort, während Spuren III und IV auf komplexe Weise erzeugte syntheti-
sche Klänge bringen. Das Klangbild ändert sich jedoch dadurch kaum.
Erst Moment 20 (23 Sekunden) bringt entscheidend andere Klangqualitäten,
wobei die durch Rückkopplung entstehende perkussive Schicht aus Moment 19/
Spur V beibehalten wird (und bis Sekunde 6 ganz regelmäßig bleibt, der genaue
Arbeitsvorgang ist in der Anmerkung zu Moment 19 beschrieben). Darüber findet
sich in den Spuren I-IV eine Schlüsselstelle: Vier unterschiedliche Musikquellen
sind mittels der Gagaku-SchaltunglRingmodulator 1 in den Bereich um 12000 Hz
transponiert und somit klanglich einander angenähert. Das hier wieder imitatorische
und sich verdichtende Öffnen des 2. Ringmodulators (Spur I: Sekunde 5-6; Spur II:
9-10; Spur III: 12-13; Spur IV: 13-15), lässt die Originale stark verzerrt hörbar wer-
den. Die Verzerrung resultiert aus den abweichenden Modulatorfrequenzen des 2.
Ringmodulators (11000 Hz, 10100 Hz, 12010 Hz, 11900 Hz). Besonders bei den
beiden Vokalmusikquellen (Spuren III, IV) wird so ein grotesker "Micky-Mouse-
Effekt" erzeugt, ein durch die Transposition bewirktes "Quaken" der Stimmen.
II.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 165
"In Telemusik hypostasiert Stockhausen den Begriff der Welt als 'Völkerfamilie' zu einer Ideolo-
gie, welche auch bei ihm verbergen soll, dass in dieser 'Familie' alleine der kapitalkräftige, auto-
ritäre Vater das Sagen hat und darüber bestimmt, wieweit die dritte und vierte Welt stets noch
weiter ausgehungert werden darf. Dass solche 'Weltmusik' gar noch in einem deutschen Natio-
nalpavillon auf einer fernöstlichen Weltausstellung präsentiert wird, ist von kaum mehr überbiet-
barem Zynismus.,,23I
Stenzl erhebt hier den grundlegenden Vorwurf des Kontextverlusts der Musik-
quellen in Telemusik, der in der Folge noch häufig von unterschiedlichen Kritikern
artikuliert wird. Diese Musikquellen würden "hier rücksichtslos aus ihrem Kontext
herausgebrochen, ihr spezifischer Charakter, der durch ihre Funktionalität all eine
bestimmt wird, wird ihnen ausgetrieben."232 Der Kontextverlust verbindet sich mit
der "Nivellierung der dem einzelnen Material innewohnenden Bedeutung."233
Stockhausens (scheinbare) Beschränkung auf die "klingende Außenseite des Vorge-
fundenen" macht sein Vorgehen aus ethnologischer Sicht auch im Rahmen von ins-
gesamt wohlwollenden Untersuchungen unhaltbar:
"So wird man dem Einwand, ein solches Vorgehen bedeutete gleichzeitig unausweichlich den
substanzändernden Verlust von Kontext, Herkunft, Bedeutung und Eigenheit des 'Quellmaterials'
kaum ernsthaft widersprechen können.,,234
231 Jürg Stenzl, Orientfahrten, in: Zwischen den Grenzen. Zum Aspekt des Nationalen in der Musik,
Mainz 1979 (= Frankfurter Studien III), 122-127, hier 124f.
232 Ebda., 125.
233 Gruber 1999, 107.
234 Schumacher 1999,61.
II.3. Karlheinz Stockhausen 1966-1977 167
"Schon die Voraussetzung, dass es das Fremde und das Eigene gibt, wird von Stockhausen nicht
vertreten, denn das atomare Fremde, also einen harten Kern, das Immobile, Eigentliche gibt es
rur Stockhausen nicht. Deswegen stellt sich die Frage rur Stockhausen nicht, ob das Fremde in
der Telemusik oder den Hymnen seine Eigentlichkeit noch behält oder nicht. Die Voraussetzung
ist anders, weil die Wissenschaftler und Kritiker davon ausgehen, dass jede Musikkultur ihre Ei-
genschaft rein behalten sollte. Stockhausen sieht alle Kulturen in einem Prozess begriffen, so
dass die Frage nach Fremdem oder Eigenem bei ihm nicht auftaucht.,,235
"Jedenfalls entzieht sich Stockhausens Musik gerade durch die Artifizialität der Materialbehand-
lung einer Auffassung, sie beraube die vorgegebenen Materialien ihres kulturellen Kontextes.
Hochgereizte Rationalität, Phantasie und die Reduktion der Auffalligkeit verwandeln sie zu et-
was Anderem, zu einer spielerischen Weitung einer Repräsentation von Weltanschauung. ,,236
"Stockhausen's music demonstrates structural and functional affinties between widely separated
forms of musical expression and certain fundamental acoustic processes. In Telemusik he seems
to have stumbled unexpectedly upon one or two rules of musical Iinguistics, suddenly recogni-
zing, in music remote from his own age and culture, intuitive models of musical processes which
he had previously considered exclusively his own.,,239
Maconie argumentiert, die Bedeutung anderer Kulturen würde sich auch schon
in früheren Werken Stockhausens nachweisen lassen, aber erst ab 1966 werde die
affirmative Behauptung solcher Parallelen durch Stockhausen selbst auffällig, und
zwar "as proof that his personal intuitions are in tune with universal forms of musi-
cal expression. "240
Als weiterer Aspekt sei hier noch Stockhausens Haltung gegenüber der neuen
Musik in Ostasien bzw. Japan angesprochen. In seinem "Weltmusik"-Text bezieht
er die zunehmende Besinnung japanischer Komponisten auf die traditionelle Musik
Japans seit Mitte der 1960er Jahre auf den vermeintlich durch seine Telemusik aus-
geübten Einfluss:
"Interessant ist zum Beispiel in diesem Zusammenhang die Reaktion einiger zeitgenössischer ja-
panischer Komponisten auf ein Werk wie Telemusik [... ] Es wurden nämlich im Anschluss an die
Aufführung von Telemusik in Japan mehrere Werke komponiert, in denen Komponisten, die bis
dahin ausschließlich die sogenannte avantgardistische europäische Musik der fünfziger Jahre
imitiert und verarbeitet hatten, europäische und japanische Musikinstrumente miteinander ver-
knüpften und stilistische Symbiosen zwischen der modernen europäischen Musik und der alten
japanischen Musik versuchten. ,,24 I
- eine Darstellung, die prompt von Shimizu gestützt wird, der einen Zusam-
menhang von Telemusik mit Takemitsus November Steps (1967) herstellen will,
obschon er einräumen muss, dass dafür keine Belege vorhanden sind. 242 An anderer
Stelle wird die sich in der obigen Äußerung bereits andeutende Geringschätzung der
neuen (ost-)asiatischen Musik noch deutlicher, wenn Stockhausen in der schlichten
(und hier durchaus ernst gemeinten) Feststellung "I think in the East there are no
composers"243 seine offensichtliche Uninformiertheit ungeschminkt zur Schau stellt
und somit ein weiteres Mal bestätigt, wie sehr sein vermeintlicher Universalismus
nur die Maske einer gewiss eurozentrischen und in vieler Hinsicht wohl auch ego-
zentrischen musikalisch-kulturellen Wahrnehmung ist.
sik". Zudem erhält Stockhausen mit seiner religiös bestimmten und "universell-
individualistischen" Schaffenskonzeption zentrale aus dem 19. Jahrhundert stam-
mende ästhetische Prinzipien aufrecht, wie sie sich in dieser Form nur im "abend-
ländischen Sonderweg" finden.
• Wie Maconie zeigt, ist Telemusik in mehrfacher Hinsicht als logische Entwick-
lung innerhalb von Stockhausens CEuvre zu betrachten, und die interkulturelle Re-
zeption in Japan selbst hat, wie wir gesehen haben, nur sehr bedingt Auswirkungen
auf die Musik. Andererseits konnten wir feststellen, dass insbesondere in der Kon-
zeption der Momentform eine Spur indirekter interkultureller Rezeption zu erken-
nen ist und auch die konkrete Anwendung der Momentform in Telemusik durch die
Parallelsetzung zu japanischen Tempelzeremonien bedeutsam sein könnte. Zudem
ist die konkrete Anwendung der - auf älteren Werken basierenden -
technologischen Problemstellungen möglicherweise in manchen Momenten von der
zu verarbeitenden Musik beeinflusst. Dennoch bleibt das alleinige Maß die indivi-
duelle Entscheidung des Komponisten, der "gemeinsame Nenner" des Werkes heisst
Karlheinz Stockhausen. 244 Insofern bleibt die Bedeutung der interkulturellen Rezep-
tion hier - im Gegensatz zum vorgetragenen universalistischen Programm - akzi-
dentell oder unterstützend, keinesfalls aber wesentlich oder grundlegend.
• Bei der Fülle der in Telemusik verwendeten Materialien ist eine wie auch immer
geartete "authentische" Behandlung ohne umfangreiche ethnologische Kenntnisse,
die Stockhausen zweifellos nicht hatte, gar nicht denkbar. Im speziellen Fall des
gagaku ist aber durch die Häufigkeit, in der sich Verweise in Stockhausens Werk
finden und durch die teilweise recht große "Originaltreue" der Nachbildun-
genlNeuformungen doch eine ausführlichere Beschäftigung zu vermuten. Man muss
die Frage nach der Authentizität also am Einzelfall beantworten. Es ist jedenfalls
klar, dass es Stockhausen nie um ein bloßes Nachzeichnen oder um Stilimitation
geht, auch nicht wenn er, wie im Jahreslauf, das originale gagaku-Instrumentarium
an dessen traditionelle Funktionen annähert. Das bedeutet zwar nicht, dass die au-
thentische Form des gagaku und mit Abstrichen auch anderer Genres für Stockhau-
sen völlig bedeutungslos wäre, auf die New Age-geprägte Gesamtkonzeption seiner
Musik aber hat sie letztlich nur einen untergeordneten Einfluss. Im holistischen
Synkretismus des New Age wird ethnologische Authentizität, d.h. die Differenz ei-
ner kulturellen Manifestation zu anderen, tendenziell ignoriert.
• Stockhausens Verständnis anderer Kulturen ist entgegen seiner universalisti-
schen Theorie grundsätzlich stark eurozentrisch geprägt. Allein die Grundlegung
seiner Musik durch einen New Age-beeinflussten Eklektizismus, die Collage-
Methode und die idealisierende Auffassung von der "integrativen Kraft" westlicher
Technologie bieten dafür hinreichende Belege. Sein mystisch-religiöser komposito-
rischer Grundansatz, der vertraute Schaffenskonzepte von Wagner oder Mahler fort-
setzt, ist eine direkte Ableitung aus westlicher Musiktradition und christlich-
katholischer Mystik, wobei die "Unitas"-Prinzipien des Mittelalters und die "Kunst-
Religion" des 19. Jahrhunderts gleichermaßen als Modelle dienen können. Beson-
ders plastisch wird die kulturelle Prägung, ja Voreingenommenheit, wenn Stockhau-
sen über die "Intervalle" als globale musikalische "Grundmaße" sinniert oder dem
gesamten "Osten" schlicht Komponisten abspricht. Solche "Weltfremdheit" könnte
in ihrer Konsequenz schon fast wieder erheiternd sein, wäre da nicht die stets im
Hintergrund stehende Apologie und Glorifizierung der eigenen Musik, die sogar
eine vermeintlich positive Rezeption durch japanische Komponisten zum eigenen
V orteil zu instrumentalisieren weiß.
Auch bei Stockhausen dient die interkulturelle Rezeption nicht wie bei Cage ei-
ner Hinterfragung ästhetischer und ideologischer Grundlagen des westlichen Dis-
kurses, sondern sie muss, darin analog zu Brittens Vorgehen, teils sogar dabei helfen,
dessen Grundlagen zu untermauern. Genie-Prinzip, Kunst-Religion, Technologie-
Optimismus tragen scheinbar zur Legitimierung dieses Vorgehens bei, eine Legiti-
mierung, die von der Stockhausen-Forschung auch prompt gestützt wird: "'die Idee
des Komponisten ist souverän, als Material kann er sich wählen, was er gerade
wilL., sei es noch so vollständig vorgefunden als Nationalhymnen', als Folklore und
Ritualgesänge oder - wie im Fall der Kurzwellen - als global ausgestrahlte Rund-
funkereignisse" 245 - gewissermaßen ein Freibrief zur musikalischen Welterobe-
rung von Kürten aus, die sich aus der Genie-Tradition allein ableitet.
Immerhin ist zu veranschlagen, dass die Phase der "Intuitiven Musik" und die
vorübergehende Bedeutung von Gruppenprozessen zumindest die Ahnung von einer
Krise dieser Prinzipien vermittelten und rur einige Jahre kompositorische Egozent-
rik balanciert haben mögen. Aber auch hier konnten wir sehen, wie mit dem gewis-
sermaßen ins Extrem getriebenen Originalitätspostulat wiederum ein spezifisch
westliches Vorgehen das Zurücktreten des Individuellen kompensierte.
Nicht-westliche kulturelle Überlieferung und Musik hat im Schaffen Stockhau-
sens die Funktion eines "Katalysators" fiir persönliche, individuelle, aber keinesfalls
"universell" gültige musikalisch-weltanschauliche Auffassungen, die ohne diesen
Katalysator gewiss anders Gestalt angenommen hätten. Insofern darf man zumindest
im Falle der japanischen Kultur einen echten "Einfluss" auf die Substanz seiner Mu-
sik annehmen, der sich in einigen zentralen "Momenten" seiner hier diskutierten
Werke auch nachweisen ließ. Geht der Komponist so über das vom 19. Jahrhundert
bereitgestellte "Oberflächen"-Modell hinaus, so perpetuiert er doch zugleich dessen
Grundprinzipien. Im Gegensatz zu ihrem universellen Anspruch ist die Musik
Stockhausens hochgradig kulturell geprägt und determiniert. Ihr Beitrag zu einem
wirklichen kulturellen musikalischen Dialog ist tendenziell überschätzt und durch
die Fixierung auf die eigene Person und das eigene Schaffen blockiert. Eben der von
Peter Niklas Wilson geforderte Abschied "vom Selbst- und Sendungsbewusstsein
des westlichen Komponisten, der sich im Zentrum des musikalischen Weltgesche-
hens begreift und meint, von dort aus die Zeichen rur die Zukunft der globalen Mu-
sik-Geschicke setzen zu können"246, ist bei Karlheinz Stockhausen am allerwenigs-
ten vollzogen.
247 Über die Entstehungszeit des Stückes gibt es widersprüchliche Angaben: Die Partitur vermerkt
1971/72 als Entstehungszeit, während auf der Neueinspielung (Koch/Schwann 3-1391-2, 1993)
die Jahreszahl 1970/71 angegeben ist. Da die Urauffiihrung 1972 stattfand und die Realisation
von Exotica ein wesentlicher Teil der Komposition ist, ist die erste Angabe aber gewiss korrekter.
248 Mauricio Kagel, Einfiihrungstext zu "Exotica" (1992); CD-Booklet Koch/Schwann 3-1391-2,
1993.
174 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
"Die Tatsache, dass Exotica meist Musiker vortragen werden, die durch Hautfarbe und Gestik im
Gegensatz zu außereuropäischen Spielern stehen, dient dem Kerngedanken des Stückes: der
Bloßlegung der recht relativen Begriffs 'Exotik'. Eine banale Imitation exotischer Musik würde
dann der Qualität der Interpretation eher schaden als die Intention des Stückes verschleiern.,,252
Kagel scheint damit sagen zu wollen, dass seine relativ offene Form der Notati-
on eine IIbanale Imitation exotischer Musik ll nicht ausschließt und eine solche
grundsätzlich mit der Intention des Stückes vereinbar sei. Die Intention scheint sich
im Aufzeigen der Relativität des "Exotik"-Begriffs zu zentrieren. Das "Exotische",
das Außerhalb-Seiende also, scheint Kagel zu sagen, kann in verschiedenen Graden
der Annäherung mit dem "Eigenen", dem nicht-Exotischen, verknüpft werden und
selbst "banale Imitation" scheint ein Mittel innerhalb dieses Spektrums zu sein. Aber
ist gerade "banale Imitation" dazu geeignet, die Relativität des Begriffs "Exotik" zu
belegen? Wird sie nicht vielmehr das Fremde weiterhin als sehr fremd erscheinen
lassen, da ihr die Möglichkeit zu einem Erfassen von dessen Grundlagen fehlen?
Und verhindert nicht die VoraussetzW1g des weitgehenden Unwissens über die the-
matisierten Musikkulturen seitens der Ausführenden die angestrebte RelativiefW1g
des "Exotik"-Begriffs? "RelativiefW1g" könnte doch nur durch ein erweitertes Wis-
sen über und durch intensive Auseinandersetzung mit diesem noch-Exotischen ent-
stehen, die im besten Fall als Resultat eben dann ein nur noch "relativ"-Exotisches,
aber auch relativ-Vertrautes entstehen lassen würden. Gerade das scheint Kagel
durch die Vorgabe des Nicht-Wissens seitens der Musiker aber nicht zu beabsichti-
gen. Vielmehr hofft er auf deren hörend-spielende Sensibilität, die "banale Komik"
ausschließen - und doch zweifellos Momente einer "tiefergehenden" Komik bei-
behalten soll.
Die fiinf Abschnitte A-E von Exotica können in beliebiger Reihenfolge gespielt
werden, wobei einzig der Abschnitt A gespielt werden muss, alle anderen Abschnit-
te sind optional. Die Abschnitte B-E sind W1te11eilt (B, C und E in sechs Unter-
abschnitte, D in sieben Unterabschnitte). Die Unterabschnitte können ebenfalls in
beliebiger Auswahl W1d Reihenfolge erscheinen, die D-Abschnitte auch simultan zu
anderen musikalischen Verläufen. Die Rekonstruktion einer eingespielten Version
anhand der Partitur ist daher teilweise sehr schwierig. 253 Die Vorgaben weisen zu-
nächst auf die zentrale Stellung des A-Abschnitts hin, der als einziger ungeteilt, oh-
ne Wiederholungen und Brüche durchkomponiert und somit als einziger in seinem
Klangresultat einigermaßen vorhersehbar ist (auch wenn dieses immer noch ent-
scheidend von der Instrumentenwahl abhängt).
Für die in den Abschnitten Bund E verwendeten Tonbandzuspielungen können
drei unterschiedliche Arten von Musik verwendet werden:
• Archivaufnahmen nicht-westlicher traditioneller Musik
• die NachahmW1g nicht-westlicher traditioneller Musik durch die Ausführenden,
aufgenommen vor der Aufführung
• während der Aufführung gemachte live-Mitschnitte, die zu einem späteren Zeit-
punkt der Aufführung wiedergegeben werden
253 Bislang liegen meines Wissens zwei Einspielungen des Werkes vor; die erste in der Besetzung
der Uraufführung unter Kagels Leitung mit Wilhelm Bruck, Christoph Caskel, Vinko Globokar,
Siegfried Palm, Michel Portal und Theodor Ross (1972), die zweite ebenfalls unter Leitung des
Komponisten mit dem Ensemble Modem (KochlSchwann Aulos 3-1391-2).
254 Vermerk in der Partitur.
176 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
"Es entspräche [... ] der Idee des Stückes, wenn Festlegung des Instrumentariums und Auswahl
der Originalmusik in enger Beziehung stünden. Ethnomusikologische und musikgeografische
Ähnlichkeiten und Gegensätze könnten dann bewusst berücksichtigt werden (z.B. Musik des
Vorderen Orients mit Instrumenten des Hinteren Orients nachahmen; eine typische Instrumental-
besetzung des Nahost fernöstlich einfarben, uSW.).,,255
darin auch eine spezifische Spannung des Werkes. Zum einen werden Musiker wie
Publikum zu einer maximalen Aufmerksamkeit gegenüber den musikalischen Cha-
rakteristika der eingespielten Musiken genötigt - wobei sie gleichzeitig in der ver-
fahrenen Situation sind, möglicherweise einer "Fälschung" zu lauschen, ein Hinweis
auch auf die Problematik des Mediums Tonband (bzw. "Phonograph"), das die Fäl-
schung von Authentizität so leicht ermöglicht wie kein zweites. Die Musiker entwi-
ckeln dabei zweifellos einen sportlichen Ehrgeiz (verweisend auf die Situation von
Match, 1965), trotz ihrer Unkenntnisse die Instrumente so "gut" wie möglich zu
handhaben (selbst im Falle einer "schlechten" Imitation). Zum anderen wird der Hö-
rer gezielt an die Grenzen seiner musikalischen und kulturellen Kenntnisse gestoßen,
die er, selbst im Falle eines Spezialisten, hier unschwer finden dürfte. Grenzer-
kenntnis mehr als Grenzüberschreitung ist die didaktische Intention der B- und E-
Abschnitte.
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Maurixio Kagel: Exotica, Abschnitt BI, Beginn (Universal Edition Wien UE 15195 LW)
mochten, dass Kagel der Möglichkeit einer kreativen Form solcher Rezeption insge-
samt skeptisch gegenübersteht, so zeigen die anderen drei Abschnitte, dass er durch-
aus eine Position einnimmt, die sich dieser Herausforderung stellt und sie nicht bloß
"von außen" betrachtet.
In Abschnitt C geschieht diese Rezeption auf einer denkbar abstrakten Ebene
und mit einer direkten Referenz auf die teilweise auf indischen täla-Rhythmen be-
ruhende Rhythmustheorie Messiaens (5.1.; I.3.4.). In der modalen Rhythmik offen-
bart sich eine Sicht Kagels auf das Problem der "Universalien". Aus Konkretion (B-
Abschnitte) und eng am Original orientierter Stilisierung (E-Abschnitte) wird nun
ein extremer Grad an Abstraktion, der sich auf den vermeintlichen "kleinsten ge-
meinsamen Nenner" zwischen außereuropäischen und europäischen Musiktraditio-
nen stützt. Damit korreliert das Modellhafte und Kreisformige der Unterabschnitte
CI-C7; die Musiker können, mit Ausnahme von CS, einzelne Takte und/oder den
ganzen Unterabschnitt wiederholen. Die Klangfarbe der Instrumente und die Ex-
zentrik der vokalen Stimmgebung tritt zurück zugunsten einer sachlichen, nüchter-
nen Ausführung rhythmischer Punkte, wobei die Wahl klangfarblich divergierender
Instrumente die Sachlichkeit der Struktur kompensieren kann. Die Rhythmen sind
durchgehend seriell organisiert und basieren auf Dauemreihen und daraus abgeleite-
ten rhythmischen Zellen.260 Als mögliche Modelle dieses Verfahrens wurden die
indischen tabs, die arabisch-islamischen maqamat, das Gamelan sowie Hoquetus-
Techniken in afrikanischer und südamerikanischer Musik genanne 61 Gleichgültig
ob Kagel hier auf bestimmte Modelle anspielt oder mehr einen anonymen, gemein-
samen Hintergrund unterschiedlicher Traditionen sucht, so bezeichnen diese
"rhythmischen Etüden" jedenfalls eine kompositorische Haltung, die hier noch ver-
sucht, so distanziert wie möglich zu bleiben. Die Suggestion musikalischer Univer-
salien aber bleibt auch in der von Kagel artikulierten Form fragwürdig. Zu selektiv
wäre die Auswahl von nicht-europäischen Musikgattungen, aus denen sich eine
solche Modalrhythmik, wenn überhaupt, ableiten ließe. Und auch die Wiederholung
kleiner Modelle, die Kagel hier als musikalischen Archetypus zu zeichnen scheint,
wäre wohl nur an wenigen spezifischen Musiktraditionen wirklich als hervortreten-
des Charakteristikum auszumachen. Immerhin lässt die komplexere Form rhythmi-
scher Notation des eS-Abschnittes einen möglichen direkten Einfluss konkreter
außereuropäischer Modelle erahnen. Hier findet der Übergang von abstrakten
Universalien zu konkreteren Formen kompositorischer Modellierung statt, die die
D-Abschnitte und vor allem der A-Abschnitt repräsentieren.
Im Gegensatz zu der kompositorischen Strenge der C-Abschnitte haben die D-
Abschnitte einen improvisatorischen, teils theatralischen Charakter, der sie als Soli
auch gezielt von kollektiven Kontexten abzuheben vermag. Denn die sieben D-
Abschnitte können als Soli entweder einzeln, in einer Auswahl oder alle simultan
gespielt werden, aber auch parallel zu anderen Abschnitten verlaufen. Sie verknüp-
fen in feiner, verwobener Weise oft schwer isolierbare und identifizierbare Fundstü-
262 Eine deutliche Referenz auf die in der Musik Ostasiens häufig auftretenden accelerierenden
Rhythmen macht Kagel beispielsweise in Dl nach 1 und vor 5.
263 Vgl. Raab 1981,307. Er will hier die "Physiognomien anonymer Musiker" ausmachen und zwar:
den Rhapsoden, den Sänger, den Rhythmiker, den Espressiven, den Erotischen, den Introvertier-
ten und den Despoten.
264 Ebda., 308.
265 Obwohl in der Partitur keine entsprechende Anmerkung zu finden ist, unterbrechen Kagel und
das Ensemble Modem den A-Abschnitt in ihrer Neueinspielung von 1992 an zwei Stellen (Takt
169 und Takt 189) durch andere Abschnitte. Darin zeigt sich, dass die Geschlossenheit des A-
Abschnitts auch nur sehr relativ ist, zudem er ebenfalls mittels eines oder mehrer D-Abschnitte
"gestört" werden könnte.
180 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
homo- oder polyphoner Weise ergänzen. Ein zentraler Moment ist T 135 ff., wo sich
im Stimmpart von Spieler UI eine absteigende Viertonfigur herausschält, die bis T
155 weitergefUhrt in tiefste Register fUhrt. Diese Viertonfigur ist die Vorform der
bereits im ersten Teil angedeuteten Abwärtsglissandi, die den dritten Teil (T 169-
303) bestimmen. Es steht außer Zweifel, dass Kagel die westlich-semantische Ko-
dierung dieser Figur als Lamento-Bass oder "Seufzermotiv" hier gezielt einsetzt-
worauf sich diese Klage allerdings genau bezieht, darüber darf spekuliert werden.
Der Interpretation von Raab, die sich vor allem auf Kagels (freilich nur ftir Spieler II
auf T 169-186 bezogene) AusfUhrungsanweisung "klagend (wie ein Klageweib, je-
doch nicht übertriebent stützt, ist jedenfalls nur bedingt zuzustimmen:
"Der zunehmende Verlust von authentischer Musik ist zwar zu bedauern, persönlich gesehen
auch zu beklagen; doch zur Übertreibung bestehe nicht Anlass, da ein authentischer Rest in in-
strumentaler Eigenart zu überdauern vermag. Dieser leistet der völligen Vereinnahmung Wider-
stand und ist als musikalischer (Klangfarben-)Reichtum in anderem Kontext durchaus nutz-
bar. ,,266
Ob Kagel das "Klagen" hier wirklich so wörtlich meint, möchte ich offen lassen.
Zumindest auf den vorliegenden Einspielungen erweist sich die Stelle, auf die sich
Raabs Interpretation bezieht, eher als ironisch gebrochen. In der ironischen Distanz
gegenüber seinem Thema, das im musikalischen Detail nicht nur die "Versuchsan-
ordnungen" der B- und E-Abschnitte, sondern auch alle übrigen Abschnitte umfasst,
findet sich zweifellos der Haupt-"ton" des musikalischen Resultats von Exotica.
Denn auch ohne groteske Gesichtbemalung und Kostümierung ist die Grenze zwi-
schen dem Lächerlich-Machen der außereuropäischen Musiktraditionen und dem
konstruktiven In-Frage-Stellen der europäischen Aneignungsprozesse auffallend
dünn.
In welche Richtung schlägt nun das Kagelsche Pendel aus? Die Interpreten finden
darauf unterschiedliche, tendenziell aber (im Gegensatz zum Fall Stockhausen) auf-
fallend wohlwollende Antworten. Die eingangs erwähnte, ohne Frage konzeptionell
bewusste Antithetik zu Stockhausen, stellt auch Raab in den Mittelpunkt:
"Doch hat Kagel im A-Abschnitt keine subjektive Synthese verschiedener Musiken zu bewälti-
gen versucht, wie es einigermaßen vage, unverbindlich und allzu technisch in Stockhausens Te-
lemusik anklingt, sondern er hat einen Essay über das komponiert, was in den anderen Abschnit-
ten von Exotica momentan und historisch sich ereignete, einen in distanziertem Ausdruck sehr
persönlich gefassten Essay. [... ] In Exotica wird eine mögliche Synthese grundsätzlich verschie-
dener Musik verneint; die falsche, versöhnende Geste fehlt, da eine Synthese doch immer nur auf
das Gegenteil von Versöhnung, auf Gewaltsamkeit hinausliefe. ,,267
Und auch die gewiss prekäre Grundkonzeption, die es gestattet, dass Instrumen-
te wahllos zusammengestellt werden können, deren Gemeinsamkeit in ihrer Diffe-
renz zur westlichen Musiktradition allein liegt, wird von Raab verteidigt:
"Ich würde es rur verfehlt halten, diesen Gebrauch exotischer Instrumente umstandslos als Aus-
beutung, Neokolonialismus, Imperialismus oder ähnliches zu deuten. Vielmehr wäre darin eine
Haltung zu sehen, die, indem sie ein großes musikalisches Potenzial musikalisch nutzt, sich kont-
rär zu einer Wirklichkeit stellt, in der noch immer das riesenhafte geistige und ökonomische Po-
tenzial der Dritten und Vierten Welt ignoriert wird.,,268
"Indem Kagel sich aber darauf beschränkt, die Relationen von Exotik-Komposition zur außereu-
ropäischen Musik darzustellen, vernachlässigt er einen wesentlichen Aspekt, der geschichtliche
Tatsache ist: dass nämlich spätestens um die Jahrhundertwende eine Tradition des Exotismus
vorhanden war, in deren Bezugsfeld Exotik in abendländischer Musik ebenfalls zu sehen ist. ,,269
Durch die Einspielungen und die verwendeten Instrumente wird dieser direkte
Bezug auf das "Original" zu ungunsten ihrer bis dahin reichenden westlichen An-
eignungen am deutlichsten. Die Einspielungen zeigen die "Übermacht des techni-
schen Mediums auf, welche oraler Tradition keine Chance lässt"270 und verweisen
auf die Problematik einer bloßen Archivierung:
"Archivierte Phonogramme außereuropäischer Musik sind das Pendant zu den in Museen ausge-
stellten exotischen Instrumenten. Beider Schweigsamkeit flir den Moment einer Aufruhrung zu
brechen, wurde Exotica komponiert.,,27l
Die teils sehr komplexe Form der Notation und die Eigenarten der Instrumente
bringt Kagel in einen bewusst widersprüchlichen Zusammenhang, wobei eine Kon-
sequenz der Grundkonzeption in dem völligen Verzicht auf die Berücksichtigung
instrumentaler Idiomatik liegen muss:
"Das Notierte in Exotica zeugt bisweilen ebensosehr von rücksichtsloser Willkür und Beliebig-
keit dem exotischen Instrumentarium und dessen europäischen Spielern gegenüber, wie es (in
Maßen) Freiheit lässt, obwohl oder weil es unkundige Spieler verwenden. ,,272
Grundkonzeption. Deren Problematik lässt sich vor allem in vier Punkten zusam-
menfassen:
• Die thematisierten Musikkulturen werden pauschal als "außereuropäische" und
ihre Spezifika hinter einem Schleier als vom Westen verschieden zusammengefasst.
Diese Konzeption zielt zwar gegen derartige Pauschalisierungen durch westliche
Komponisten und das westliche Publikum, scheitert aber schließlich selbst an dieser
Anonymisierung des "Exotischen", da es ihr außer teils ironischer, teils aktiv kom-
positorischer Abbildung nur wenig entgegensetzt.
• Durch die Forderung, die Musiker dürften die Instrumente nicht beherrschen,
wird eine konstruktive Auseinandersetzung mit den thematisierten nicht-
europäischen Musikkulturen von vornherein ausgeschlossen. Diese Konzeption zielt
ebenfalls auf eine Kritik an "falschen Synthesen", die auf solchen vermeintlich
"konstruktiven" Auseinadersetzungen aufbauen, in Wirklichkeit aber nur die Domi-
nanz der westlichen Musik befestigen. Kagel verharrt aber auch hier in der Negation,
deren unweigerliche Konsequenz innerhalb des von ihm aufgestellten Kontextes das
Karikaturhafte ist.
• Die vom Komponisten anvisierte dünne Grenze zwischen einer - tendenziell
originalnahen - Nachahmung außereuropäischer Musikstile (Abschnitte B, E) und
deren kompositorischer Anverwandlung (Abschnitte C, D, A) macht die Musik von
Exotica zum Opfer ihres selbstgeschaffenen Kontextes. Denn gerade dadurch, dass
die Distanz zwischen Musikern und Stilen nicht aufgelöst wird, eine wirkliche Aus-
einandersetzung mit konkreten Stilen aber nicht auszumachen ist, geraten Nachah-
mung wie Anverwandlung großenteils zu Karikaturen oder Parodien. Die Ironie
trifft nicht wie beabsichtigt westliches Publikum und westliche Komponisten, son-
dern in erster Linie die außereuropäischen Musikstile selbst.
• Kagel bewegt sich bewusst zwischen einer Identifikation mit außereuropäischer
"authentischer" Musik und seiner Rolle als westlicher Komponist. Letztlich aber
schlägt die Konzeption doch in Richtung Komponist aus, denn das gesamte Vorha-
ben ist nur vor dem Hintergrund westlicher traditioneller und in erster Linie neuer
Musik begreifbar und richtet sich so konsequenterweise auch nur an ein westliches
Publikum. Gerade hierin aber scheitert die Identifikation mit dem Nicht-
Europäischen als Gegenthese zum Europäischen. Denn jenes bleibt eine anonyme
Masse, die sich erst vor diesem entfalten darf.
viele der von ihm kritisch anvisierten Mechanismen sich in die Gegenwart hinein
fortgesetzt haben mögen, so muss sein Ansatz doch heute als historisch gelten. Viel
Konstruktives ist dazu von anderen seither beigetragen worden. Dies soll im folgen-
den überblicksartig zusammengefasst werden.
5. GEGENWART 1959-2000
Wie schon einleitend angedeutet, kann hier nicht ein lückenloser Überblick über die
Phänomene interkultureller Rezeption in der westlichen neuen Musik seit den
1950er Jahren geboten werden. Dennoch soll deren Facettenreichtum nicht durch
die Darstellung von vier vermeintlich "paradigmatischen" Ansätzen nivelliert wer-
den und es ist so notwendig, abschließend in einem Querschnitt durch die unter-
schiedlichen interkulturellen Zugänge in der Musik der jüngeren Vergangenheit und
Gegenwart einen Eindruck dieser Vielfalt zu geben. Das sollte allerdings nicht dar-
über hinwegtäuschen, dass in der westlichen neuen Musik, insbesondere in Europa,
seit den 1980er Jahren, den Thesen der "Globalisierung" zum Trotz, eine starke
Rückorientierung auf inner-kulturelle Rezeptionsvorgänge stattfindet. Nicht zuletzt
in Opposition zu den kommerziell-sedativen Folgen von New Age, Minimal-Music
und verwandter "falscher Synthesen" der frühen 1970er Jahre und nach einer neo-
romantischen Wende in den 1980er Jahren bewahrt heute die "Szene" der europä-
isch-amerikanischen neuen Musik zu großen Teilen ein geradezu "aseptisches" Bild
der westlichen Musiktradition auf. "Multi-Kulti" ist zu einem Schimpfwort gewor-
den, auch wenn allseits kulturelle "Toleranz" gepredigt wird. Aber auf die Frage,
wie diese innerhalb des konkreten Kompositionsvorgangs zu artikulieren sei, gibt es
nur wenige konstruktive Antworten; der Großteil zieht es vor, sich auf den "gesi-
cherten Stand" der westlichen Überlieferung zurückzuziehen.
Und doch gibt es Komponisten, die es nachhaltig verstanden haben, diese "asep-
tische Sphäre" kreativ zu verunsichern. Die Haltungen, die sie gegenüber den nicht-
westlichen, konkret ostasiatischen Kulturen einnehmen ist dabei aber weiterhin äu-
ßerst breit gefächert. Es lässt sich Schatts These einer Kontinuität von Hauptmecha-
nismen des Exotismus bis in das (späte) 20. Jahrhundert hinein damit ebenso bele-
gen wie der vorsichtige Optimismus, dass dessen naivere Formen endgültig der Ver-
gangenheit angehören könnten. Natürlich wirken die bisher dargestellten vier An-
sätze, wenn nicht direkt, so doch in ihrer prinzipiellen Herangehensweise bis in die
Gegenwart hinein. Es wäre aber wie angedeutet irreführend, in ihnen unausweich-
liche Paradigmen zu sehen, die bereits das gesamte Spektrum abdecken würden.
Wir haben gesehen, dass dort, wo überhaupt eine präzise geografische Differen-
zierung der nicht-westlichen Einflüsse und Orientierungspunkte vorgenommen wur-
de, eindeutig Japan sowie die hier nur gestreiften Regionen JavaJBali und Indien
überwiegen. Tatsächlich setzt sich aus diesen drei Regionen auch bis heute der weit-
aus größte Anteil nicht-westlicher Einflüsse auf westliche Komponisten zusammen.
Dafür ist eine Reihe von Gründen verantwortlich. In Japan sind dies vor allem die
seit der Meiji-Restauration betriebene aktive Modernisierung der eigenen Gesell-
schaft nach westlichem Muster (vgl. IU.l.I.), die nach 1945 bekanntermaßen in
IJ..5. Gegenwart 1959-2000 187
Außer Cage und Stockhausen besitzen noch zwei weitere Komponisten für die Aus-
einandersetzung mit nicht-westlichen Kulturen in der neuen Musik eine prägende
Funktion. Olivier Messiaen (1908-1992), in seiner Rolle als Lehrer ebenso wie
durch seine kompositorische Umsetzung indischer, balinesischer und japanischer
Traditionen sowie der seit den späten 1970er Jahren "entdeckte" Giacinto Scelsi
278 Freilich gibt es Ausnahmen, im Fall der arabischen (hier syrischen) Musik beispielsweise Klaus
Hubers wegweisendes Projekt Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Ochsen (1992-1994),
das in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Al-Kindi aus Damaskus entstand, ein Ensemble rur
traditionelle arabische Musik, geleitet von dem Sufi-Sänger Sheik Hamza Chakour. Ähnliche
Kooperation mit persischen Musikern verfolgt der in Wien lebende persische Komponist Nader
Mashayekhi (* 1958). Friedrich Cerhas 2. Streichquartett (1989/90) bezieht sich auf die Musik
papuanischer Völker am Sepik in Neuguinea, Robert HP Platz in einzelnen Werken auf koreani-
sche Hofmusik (s.u.).
188 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
In dieser Hinsicht bildet Giacinto Scelsi den freilich erst viel später "entdeckten"
und Einfluss ausübenden Antipoden Messiaens. 282 Denn seine Musik verrät einen
"This is Rome. Rome is the boundary between East and West. South of Rome, the East starts,
and north of Rome, the West starts. This borderline now runs exactly over the Forum Romanum.
There's my house, this explains my life and my music.,,283
fand erst in den 1980er Jahren statt. Seine Musik ist u.a. diskutiert in Klaus Angermann (Hg.),
Giacinto See/si. Im Innern des Tons. Symposion "Giacinto Scelsi" Hamburg 1992, Hofheim
1993.
283 Giacinto Scelsi, (Ohne Tite!), in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.), Giacinto See/si.
Musik-Konzepte 31, München 1983, 111.
284 Giacinto Scelsi, Sinn der Musik, in: Metzger/Riehn, a.a.O., 3-9. Vgl. dazu auch Kirchert 1998,
84-86.
190 H. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
Gesang und dem gidayü (Gesangsstil des Puppentheaters bunraku) noch auffallen-
der. Die fortlaufenden Mikroglissandi in tiefer Lage und die Zentrierung auf wenige
Zentraltöne sowie die charakteristischen Akzente bieten direkte Entsprechungen
zum nÖ-Gesang. Zudem war die Interpretin aufgefordert, die notierten Phoneme
"according to her own linguistic feeling"285 zu interpretieren. Die Kombination mit
den unregelmäßigen Akzenten des chinesischen Gongs mag auf ritualistische Praxis
verweisen. 286 Auch im nö aber bildet die "Kontrapunktik" der Schlagzeug-Akzente
mit den Gesanglinien ein entscheidendes Moment der resultierenden musikalischen
Struktur.
Zweifellos waren für Scelsi nicht nur die musikalischen Traditionen asiatischer
Kulturen, sondern auch deren spirituelle Hintergrunde von entscheidender Bedeu-
tung. Seine (allerdings mit Vorsicht zu lesende) Autobiografie führt einen Auf-
enthalt in Indien an und anstatt seines Fotos ließ er stets einen leeren Kreis veröf-
fentlichen, verweisend auf das vorletzte Bild der beIiihmten Zen-Geschichte "Der
Ochse und sein Hirte". Neben eines bislang eher zu vermutenden denn nachgewie-
senen Einflusses asiatischer Spiritualität auf Scelsis Musik wird das Zen-Denken
vielleicht in der heiteren Desorientierung manifest, die den Interpreten Scelsis leicht
befallen kann. Scelsis Hang zum Irreführen und Verschleiern wird wohl am Explizi-
testen in der Diskussion über die "Echtheit" von Scelsis Kompositionen, die in den
1990er Jahren nach Scelsis Tod vorübergehend aufkam. Auch das mag eine der
Konsequenzen aus seinem Aufbrechen westlicher vermeintlicher Gewissheiten sein.
In jedem Fall bietet seine Musik ein vorrangiges Beispiel für die Möglichkeit einer
wesentlich kontexterweiternden Funktion interkultureller Rezeptionsprozesse, die
Scelsi, darin ähnlich John Cage, mit einer besonderen Konsequenz und dabei zwei-
fellos durch eine letztlich eurozentrische, stark individuelle Interpretation gefiltert
umzusetzen wusste. In den Canti del Capricorno (1984) (wie möglicherweise auch
in einigen anderen Werken) wurde diese Interpretation allerdings durch die Zusam-
menarbeit mit einer "außereuropäischen", hier japanischen Interpretin stark relati-
viert bzw. erweitert und erreichte so eine Ebene, die in Momenten nahezu außerhalb
des Kontextes "westliche Musik" insgesamt steht; hier geht Scelsi so weit wie bisher
nur wenige vor und nach ihm.
Einer der engagiertesten Interpreten Scelsis ist der Dirigent und Komponist Hans
Zender (* 1936) und diese Affinität kommt nicht von ungefähr. Zender stellt sich
kompositorisch als einer der wenigen den Herausforderungen, die eine zunehmende
Präsenz und Differenziertheit von kulturellen Überlieferungen außerhalb der westli-
chen Tradition kompositorisch mit sich bringen. Auch bei ihm geht dieses Bewusst-
sein auf mehrere Japan-Aufenthalte zurück, der erste zu Beginn der 1970er Jahre, in
dessen Folge Muji no Kyö (Gesang der leeren Schrift, 1975) für Singstimme und
variables Ensemble entstand. Darüber äußert der Komponist:
"Das Stück ist sicherlich nicht denkbar ohne den tiefen Eindruck, den ich auf meiner ersten Ja-
panreise von der alten japanischen Kultur empfing. Der Intellektualismus Europas, Technologie,
die Hektik und Lärmentfaltung des heutigen Daseins: All das erschien mir so fragwürdig wie
nie.,,28?
Bemerkenswert ist in Muji no Kyö zum einen die Verwendung des japanischen
Originals eines mittelalterlichen Gedichts; der Sprechgesang ist behutsam konzipiert
und venneidet jede "ausdrucksmäßige Charakterisierung", sondern folgt vielmehr
der durch die Sprache selbst vorgegebenen phonetischen Struktur. Zweifellos zeugt
solcher Umgang mit der japanischen Sprache bereits von einer sensibilisierten Hal-
tung. Für den Komponisten war zudem die Konfrontation des in Japan erfahrenen
"kreisend-statischen" Zeitkonzepts mit dem europäisch vorwärtsgerichteten für die
Konzeption des Werkes von Bedeutung.
Interkulturelle Rezeption ist bei Zender jedenfalls kaum linear zu denken, son-
dern komplex wuchernd, ausgreifend und von den inner-kulturellen und histo-
rischen Querbezügen nicht zu trennen. Zender nimmt hier eine distinkt "post-
moderne" Position ein und scheint dabei eine kreative Mitte zwischen einer kritisch-
distanzierten und einer identifikatorischen Haltung gegenüber dem "musee imagi-
naire" der Postmoderne gefunden zu haben. Und nur so kann Zenders Programm
eines "Dialogs mit der Geschichte ohne Nostalgie und Historismus", eines "mehr-
fach gepoltes Bezugssystems" und der "Tiefendimension", die ein "Aufblitzen-
lassen" geschichtlicher Fonnen einhergehend mit einer "Neudefinition von Zeichen"
schaffen kann, aufgehen. 288 Wichtige Konstanten der innerkulturellen Rezeption bei
Zender lassen sich mit Cage, Messiaen, Scelsi und Bernd Alois Zimmennann be-
nennen, in der westlichen Tradition mit Haydn (Dialog mit Haydn, 1982), Schubert
(Schubert-Chäre 1986, Winterreise 1993) und Debussy (5 Preludes 1991). Dass
letztgenannte zwischen Instrumentation und "Kommentar" schwankenden Werke
sich an der dünnen Grenze zwischen Zugeständnis an den Zender wohlbekannten
Konzertbetrieb und kreativer Konfrontation von Gegenwart und Tradition bewegen,
macht sie den interkulturellen Rezeptionsprozessen allerdings nur bedingt ver-
gleichbar.
Diese zentrieren sich, darin zweifellos orientiert an Cage und Scelsi, in der Be-
schäftigung Zenders mit der Philosophie des Zen-Buddhismus und den mit ihm ein-
hergehenden Musik- und Kunstfonnen, der Haikudichtung, der Kalligrafie, dem nö-
Theater und dem shakuhachi-Spiel. Es sei aber auch darauf verwiesen, dass Zender
sich zumindest vorübergehend auch ausführlicher mit chinesischem Denken und
chinesischer Musiktheorie befasste, wovon sein Artikel "Betrachtung der Zwölfton-
leiter des alten China"289 (1981) Zeugnis ablegt. Er fordert darin eine Übertragung
287 Zen der, Einführungstext zu Muji no Kyö, in: Wien Modern Katalog 1996, Wien 1996, 169.
288 Aus Zender, Vortrag beim Münchener Symposion "Dialog der Kulturen" (unveröffentlicht),
München, 20. 4. 1998.
289 In: NZfM 1981/4,353-357.
192 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
290 Ebda. 356-357. Auch die in mikrotonalen Systemen gestimmten Instrumente Harry Partchs ba-
sierten auf außereuropäischen Tonsystemen.
291 Zender, Vortrag beim Münchener Symposion 1998.
292 Z.B. in Hans Zen der, Zu Fürin no Kyö, in: Wolfgang Gratzer, Nähe und Distanz. Nachgedachte
Musik der Gegenwart I, Hofheim 1996,211-212 und Zen der 1991, 44f.
293 Zender, Vortrag beim Münchener Symposion 1998.
294 Zender 1998,150.
11.5. Gegenwart 1959-2000 193
"Kulturen bilden sich als konkurrierende Systeme aus, und die Gesetzrnäßigkeiten im ästheti-
schen Bewusstsein sind aufs engste verbunden mit den anderen Zeichensystemen der jeweiligen
Kultur. In dem Maße, als die Weltkulturen begannen, voneinander Notiz zu nehmen, wurde die
Vorstellung einer absoluten Wahrheit des jeweils eigenen Zeichensystems untergraben; im Zeit-
alter der Durchdringung aller Kulturen, in das wir gerade eintreten, verschwinden diese Vorstel-
lungen mehr und mehr.,,295
Und diese "Situation, in welcher die Welt zum ersten Mal in der Geschichte als
Einheit aller Völker, Kulturen und historischen Zeiten erscheint"296 scheint die The-
se zu rechtfertigen, dass "alle klanglichen Mittel, Geräusche und Musiken aller Epo-
chen [...] heute mögliches Baumaterial für neu entstehende Musik"297 sein können.
An anderer Stelle aber differenziert Zender diesen Universalismus deutlich, wenn er
den Hörer auffordert, "jeden der ihm begegnenden Klänge in seiner Individualität
ernst zu nehmen und aus seinem eigenen Wesen heraus zu verstehen." Die Musiken
unterschiedlicher Kulturen würden so "nicht mehr zu in ihrer Unverbindlichkeit
gleichwertigen Objekten, sondern zu grundverschiedenen, widersprüchlichen Bot-
schaften. "298
Etwas von dieser Polyvalenz ist in der Musik von Fürin no Kyö zweifellos zu
spüren. Auf oberflächlicher Ebene deutet sich das zunächst im Einbezug von vier
Sprachen an, Japanisch, Englisch, Deutsch, Chinesisch. Das zugrundeliegende vier-
zeilige Gedicht des japanischen Zen-Mönchs Ikkyu (1394-1481) wird nacheinander
in den ersten drei genannten Sprachen und schließlich in einer Mischung aus allen
vier Sprachen vorgetragen. Zender hebt auch hier die Bedeutung unterschiedlicher
Zeitkonzepte für jeden der insgesamt fünf Abschnitte hervor:
teile und durch ihr dichtes Bezugsnetz, das Inner- und Interkulturelles teilweise un-
unterscheidbar ineinander verwebt (es ist unmöglich zu sagen, wo bei Zender die
Rezeption von Cage oder Sce1si aufhört und die des Zen-Buddhismus aber
auch erfolgreich kulturelle Differenz zu artikulieren vermag (wie im letzten Teil von
Fürin no Kyo). Dies setzt freilich ein Maß an Beschäftigung und Eindringen in die
thematisierten Kulturen, insbesondere in deren Sprachen voraus, die sonst nur weni-
ge Komponisten wirklich bereit waren oder bereit sind zu leisten.
304 Bei Peter Eötvös zieht sich der Bezug auf Ostasien als Kontinuität von Harakiri (1973) filr japa-
nische Sprecherin, 2 Flöten (auch 2 shakuhachi) und Holzhacker über Chinese Opera (1990) filr
Ensemble bis hin zu den nö-Theater-Bezügen in seiner Oper Drei Schwestern (1998) und der
szenisch-medialen Komposition As I crossed a bridge 0/ dreams (1999), die auf einem Text der
japanischen Hofdame Sarashina aus dem Jahr 1008 beruht. Eötvös hat dabei die (westliche)
Komponisten-Position nie wirklich in Frage gestellt und seine Rezeption nimmt bisweilen Mo-
mente des Dekorativen an, das sich in szenischer Umsetzung, Titeln oder dramaturgischen Ein-
fallen eher äußert als in der musikalischen Faktur. Vgl. auch Stefan Fricke, Über Peter Eötvös
und ein komponiertes Harakiri, in: Zwischen Volks- und Kunstmusik. Aspekte der ungarischen
Musik, Saarbrücken 1999.
305 Die differenzierten Klangfarben in Platz' Flötenstücken (1983) orientieren sich am spezifischen
Klang der japanischen shakuhachi. In charm filr Violine und shö findet dann eine immer noch
sehr vorsichtige Annäherung an eine vom Komponisten selbst als mehr "japanisch" empfundene
Idiomatik statt und in dem 1992 in Japan entstandenen Rezital filr Flöte schließlich bildet, analog
zu Takemitsus Verfahren (vgl. III.4.2.), die Architektur japanischer Gärten den Hintergrund ei-
ner 11-teiligen Struktur. Platz bleibt in all diesen Prozessen in plastischer Weise dem Integrati-
onsmodell treu. Dies wird vielleicht nirgends so deutlich, wie anhand des von ihm angefilhrten
196 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
Beispiels von Beethovens "türkischem Marsch" aus dem Schluss-Satz der 9. Sinfonie, mit dem er
seine eigene Rezeptionshaltung veranschaulicht. Platz räumt ein, dass Beethoven keine Kenntnis
von türkischer Musik gehabt haben mag, aber, so fragt er, "hätte es ihm überhaupt genutzt, wenn
er sie richtig gekannt und verstanden hätte?" Darum aber sei es ihm nicht gegangen, sondern
"einzig darum, das Repertoire der eigenen Sprache zu erweitern." Platz blendet hier genau jenen
inhärenten Machtdiskurs aus, der sich in der Aneignung und Verzerrung der türkischen Musik
durch Beethoven findet und seine gesunde Skepsis, ob ein "vollständiges Verstehen einer
fremden Kultur möglich sein kann" beruhigt er damit, dass ein solches auch gar nicht förderlich
sei - "damit wäre ich selbst ein anderer Komponist geworden." Der Unwille, das Gewohnte zu
verlassen, artikuliert sich selten so direkt. Vgl. Robert HP Platz, Der Komponist als Amöbe, in:
Bergmeier 1999, 69-92.
306 An dieser Stelle muss eine Komponistin erwähnt werden, die allein wegen ihres Bezugs auf Chi-
na (und nicht Japan) in diesem Zusammenhang eigentlich nicht fehlen dürfte, über die ich aber
zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine ausreichenden Unterlagen besitze: Tona Scherchen (* 1938),
die Tochter von Hermann Scherchen und der Komponistin Hsiao Shu-sein. Geboren in Neuchä-
tel, lebte sie von 1950-1960 in China, studierte an den Konservatorien in Shanghai und Beijing
und setzte in den 1960er Jahren ihre Studien bei Henze, Messiaen, Schaeffer und Ligeti fort. Seit
1967 wird ihre Musik international beachtet und aufgefuhrt und sie wurde mit zahlreichen Prei-
sen ausgezeichnet. Es scheint, dass ihre Werke zumindest bis in die 1970er Jahre zahlreiche Be-
züge zur chinesischen Tradition aufweisen. Vgl. Mittler 1997, 162.
307 Die folgende Darstellung basiert vor ailem auf: Jean-Claude Eloy, L'autre versant des sons (vers
de nouvelles frontieres des territoires de la musique?), in: Internationale de l'imaginaire 4, "La
musique et le monde", Babel 1995, 193-230.
n.5 . Gegenwart 1959-2000 197
Einzelton des Anfangs bis zur maximalen Dichte lilld Komplexität der drei im Laufe
des Stückes unabhängig voneinander werdenden Orchester. Das Werk fand die Be-
wunderung Messiaens, aber auch scharfe Kritik, die in den Vorwürfen eines "exo-
tisme colonial" gipfelten.
Die Beschäftigung mit elektronischer Musik dann löste bei Eloy eine noch weit-
aus universalere Orientierung aus. Anhand von Sonogramm-Analysen von Vokal-
musik aus Spanien, Bulgarien, Marokko, der Türkei, Ägypten, dem Iran, Indien,
Tibet, China und Japan im Jahr 1972 erkannte Eloy die hohe Bedeutung der ständi-
gen Tonhöhen- und Klangfarbenvariation in diesen Traditionen und war von der
Vielfalt dieser Stimmtechniken fasziniert. Dabei spielten die japanischen Gesangs-
techniken des nö und des Puppenspiels bunraku (genannt gidayü) eine Hauptrolle. 308
Bis heute zählt der "kosmopolitische" Umgang mit der menschlichen Stimme zu
den Hauptkonstanten in Eloys Musik, die durch die Zusammenarbeit mit japani-
schen und spanischen Sängerinnen (Yumi Nara, Fatima Miranda, Junko Ueda) wäh-
rend der 1990er Jahre eine entscheidende Vertiefung erfuhr. 309
Aber zunächst stand die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der elektro-
nischen Musik im Vordergrund, teilweise durchaus im Geist eines Stockhausen-
sehen Optimismus, der Technologie als "synthetisierende Kraft" begriff. Mit Stock-
hausen teilt Eloy zudem seit Anfang der 1970er Jahre die Vorliebe fur extensive
Längen und die Kombination von synthetischen und konkreten Klangmaterialien.
Die drei in dieser Phase entstandenen Hauptwerke sind Shänti (1972/73) - Medita-
tive Musik fur elektronische und konkrete Klänge (l05 Minuten), realisiert im
WDR-Studio Köln, Gaku no michi (Die Stimmen der Musik, 1977/78) - Film ohne
Bilder fur elektronische und konkrete Klänge, wie Stockhausens Telemusik realisiert
im NHK-Studio Tokyo (4 Stunden), und fo-In (Echos, 1980) - Musik fur ein ima-
ginäres Ritual, realisiert im Studio fur Sonologie in Utrecht (3 Stunden 40 Minuten).
Diese elektronischen "Epen" zeigen einerseits in der Vielzahl ihrer Materialien
Affinitäten zu Stockhausens weiter oben behandelten collagehaften Werken, gehen
aber in ihrer "Zeitdehnung" und ihrem "weiten Atem", der analog der indischen rä-
ga-Musik versucht, eine Balance zwischen dem Variativen und dem Repetitiven
herzustellen, deutlich darüber hinaus. In Shänti vermischen sich Worte Mao Ze-
dongs und des indischen Philosophen Sri Aurobindo (dem wir schon bei Stockhau-
sen begegnet sind) mit einem Spektrum an Klängen, das zwischen dem rein Synthe-
tischen und dem puren, unbearbeiteten Konkreten eine Vielzahl an Zwischenstufen
findet, geleitet von dem in Sonogramm-Analysen gefundenen Prinzip der "ständigen
Variation". In den vier Sätzen von Gaku no michi ist diese Vielzahl an Materialien
beibehalten, allerdings hier fast ausschließlich auf den japanischen Kontext begrenzt.
308 Zum Bunraku, dem Puppentheater Japans, vgl. Heinz-Dieter Reese, Bunraku - Puppenspiel als
dramatisches Musiktheater in Japan, in: Bergmeier J 999, 135-154. Das gidayü des von der
shamisen begleiteten Rezitators umfasst eine Vielzahl theatralisch eingesetzter erweiterter
Stimmtechniken, vgl. 1II.4.3.
309 V gl. dazu Kim Sae-Jung, Le langage musical dans fes ceuvres vocafes de Jean-Claude Eloy.
DEA Musicologie, Universite Paris-Sorbonne/Paris IV, Paris 1994, und Florence Nicolle, La
musique vocale de Jean-Claude Eloy (la recherche d'ime nouvelle oralite pour une musique
planetaire). Universite Paris VIII/Saint Denis, Paris 1995.
198 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
nen des shömyö, dem Gesangsstil der balinesischen Gamelanmusik und der westli-
chen Musiktradition (sie studierte Klavier sowie Komposition bei Yuasa Jöji) glei-
chermaßen zu Hause ist. Ihre Stimme Lmd ihr biwa-Spiel sind in der elektroakusti-
schen Musik von Erkos teilweise zu Klangmassen von bis zu 150 Simultanschichten
aufgespalten. In Galaxies (1996), das auf den elektroakustischen Teilen von Andha-
ta basiert, komponierte Eloy dann ein ausgedehntes Gesangssolo tur Ueda unter
Verwendung japanischer Texte von Izumi Shikibu und Chiyojo.
Aber auch mit westlichen Interpretinnen zeigte die intensivierte Auseinander-
setzung mit der traditionellen Musik Asiens Konsequenzen. In Liberations (1989),
besonders im Teil Butsomyoe bringen die (ursprünglich westlich ausgebildeten)
Sängerinnen Yumi Nara und Fatima Miranda ihre Kenntnisse in Vokalgattungen
unterschiedlicher Kulturen (beispielsweise des indischen dhrupad) mit ein. Als Text
verwendet Eloy den klassischen erotischen japanischen Roman Koshoku ichidai
onna (Leben einer Freundin der Lust) von Ihara Saikaku im altjapanischen Original.
I-lier geht es nicht um den Prozess einer Einbindung traditioneller nicht-westlicher
Musik in ein individuelles kompositorisches Konzept, sondern vielmehr um dessen
gezielte "Extension" hin in andere kulturelle Bereiche.
Eloy selbst charakterisiert seine Rezeption traditioneller Materialien asiatischer
Musik mit den Worten "recrees, transposes, transsubstanties, fortement presents ce-
pendant, et ne dependant d'aucune imitation plus ou moins directe, d'aucun emprunt
de nature quelconque."310 Er stellt sich zugleich auf eine Ebene mit Cage, Stockhau-
sen, Ligeti, Xenakis oder Reich, deren Interesse fur asiatische und afrikanische Mu-
sik sie nicht daran gehindert habe "sie selbst" zu bleiben. Freilich kommt diese Aus-
sage einer Verharmlosung gleich; denn auch wenn er seine Distanz zu einer
"materiellen" Form "exotisierender" Rezeption, zumindest in Bezug auf seine rein
elektroakustischen Werke, hervorhebt ("Aucune citation, aucun emprunt cl des theo-
ries, des mo des, des themes, des rhythmes. Seulement des timbres et des objets, ser-
vant de materiaux cl une recreation totalement autonome et libre fl311 ), so ist es doch
evident, dass zumindest seit den 1980er Jahren interkulturelle Rezeption zum be-
stimmenden Parameter seiner Musik wurde. Obgleich er wie die genannten Kolle-
gen das Prinzip der individualisierten, originären Erfindung nicht aufgibt, scheint es,
dass das umfangreiche Studium anderer Kulturen, die deren Sprachen (Sanskrit,
Japanisch) selbstverständlich mit einschloss, mehr noch aber die Zusammenarbeit
mit namentlich japanischen Musikern seine Musik in einer Weise affizierte, tur die
das Konzept der "Integration" als Beschreibung kaum mehr ausreicht. Eloy erkennt
zudem die gemeinsame soziokulturelle Funktion von traditioneller nicht-westlicher
und neuer westlicher Musik als Gegendiskurs zum "Museum der klassischen Mu-
sik" und zum "musikalischen Massenkonsum";
"Die kommerzielle Entwicklung um das Museum der klassischen Musik herum und der rein
wirtschaftlichen Aspekten unterworfene musikalische Massenkonsum haben eine noch größere
Mauer gegenüber der Neuen, gegenüber jeglicher Musik außerhalb der etablierten Normen ge-
schaffen. Daher haben Komponisten, die wie ich zur abendländischen Moderne gehören, immer
mehr Interesse an einer Arbeit mit Musikern, die aus den entferntesten und ältesten Traditionen
stammen; denn in diesem Fall treffen sich beide Extreme in der Ablehnung der Dominanz etab-
lierter Normen."312
Im Falle des Franco-Kanadiers Claude Vivier geht diese Identifikation nicht so weit,
wobei hier gewiss der frühe Tod des Komponisten, der 1983 in Paris ermordet wur-
de, mögliche weitere Stufen der Rezeption abrupt unterbunden hat. Auch Vivier
empfing durch das Studium bei Stockhausen (1972-1974) entscheidende Einflüsse,
die sich nach einer umfangreichen Asienreise 1976/77 intensivierten, die ihn in den
Iran, nach Japan, Thailand, Java und vor allem Bali geführt hatte. Dort hatte Vivier
drei Monate gelebt und sich (auch spielpraktisch) mit dem Gamelan auseinanderge-
setzt. Diese Reise bezeichnete er als "eine Reise in sein Innerstes" und tatsächlich ist
in seiner Musik die Präsenz asiatischer Kultur oft mehr "imaginiert" oder "geträumt"
als analytisch oder strukturell dingfest zu machen. In dieser Form eines bewusst ver-
schwommenen Blicks auf andere Kulturen sind freilich unschwer Relikte der Exo-
tismus-Tradition zu erkennen, die aus einem unscharf verallgemeinerten "Anderen"
Projektion von Sehnsüchten und abschreckendes Gegenbild zugleich machen konnte.
312 Jean-Claude Eloy, Die Komponisten von heute weigern sich zu sterben, in: Programmheft Do-
naueschingen Festival 1996.
11.5. Gegenwart 1959-2000 201
Bei Vivier vermischt sich dieser Hintergrund aber mit originellen, in den späteren
Werken nach 1980 sich dann deutlich fokussierenden Ansätzen. 313
Vivier setzt bei einern üppigen, klangfarbiich hoch differenzierten Stil an, der an
Messiaen und Skrijabin orientiert ist; in den früheren Werken wie Siddharta (1976)
für Orchester ist ein "geträumter Folklorismus" (Ligeti) denn auch eher auszu-
machen, als eine wirkliche Relevanz der Strukturen nicht-westlicher traditioneller
Musik. Er entwickelte in der Folge eine eigene "Gesangssprache", die sich aus ein-
zelnen Silben des Niederländischen, des Italienischen und des Balinesischen zu-
sammensetzte und die Textgrundlage seiner relativ großen Zahl an Vokalkompositi-
onen bildete ein Hinweis auf "Unschärfe" und Universalismus gleichermaßen.
Zusammen mit einern auf wenige ostinate Grundmodelle reduzierten melodischen
Verlauf (der sich allerdings frei chromatisch im Tonraurn bewegt) und einern weit-
gehenden Verzicht auf Polyphonie bilden sich so die Konstanten von Viviers späte-
rem Stil. Dieser hat in Werken wie Lonely Child (1980) bisweilen Verwandtschaft
mit einer flächigen und quasi tonalen Stilistik, die aus dem New Age hervorgegan-
gen ist und in Werken wie Arvo Pärts Fratres oder Henrick Goreckis 3. Sinfonie
ihre bekanntesten Beispiele gefunden hat. Aber in anderen Momenten, arn profilier-
testen vielleicht in Zipangu (1981) rur 13 Streicher, wird dieser sentimentalische
Ton zugunsten eines gezielt um Geräuschanteile und klangliche "Reinheit" kreisen-
den Klangfarbenspektrums überwunden. "Zipangu" ist in Marco Polos Reisebericht
11 Milione die Bezeichnung für Japan, das hier in verklärender Darstellung zugleich
unermesslich reich und ewig unerreichbar erscheint - ein treffendes Symbol für das,
was bei Victor Sengalen "Exotismusgefühl" hieß. Im Kontext seines "opera fleuve"-
Projekts über die Figur Marco Polos, einer "Oper über Entdecker und Träumer",
wird "Zipangu" zugleich zum widersprüchlichen Symbol für Viviers eigenes Be-
dürfnis nach Entgrenzung (er kritisierte "die Bedeutungslosigkeit derer, die nicht
gewillt sind, neue Gebiete zu entdecken, die Zipangus ihrer inneren Planeten"J14).
Dieses Bedürfnis war gewiss mehr als bloße Projektion von Sehnsüchten, sie be-
stimmte Struktur und Gehalt seiner Musik entscheidend mit. Dennoch kann in sei-
nem Fall nicht von einer grundsätzlich kontexterweitemden Funktion interkulturel-
ler Rezeption gesprochen werden. Die Schlüsselrolle, die die Klangfarbe in seiner
Musik einnimmt, kann zwar, vor allem in Zipangu, das Feld gelungener Innovation
sein, rückt aber auch oft in die Nähe der von der Musik des 19. Jahrhunderts vormo-
dellierten "pittoresken Klangreize" . Die genaue Relevanz konkreter nicht-westlicher
Modelle für Viviers Komponieren ist bisher noch nicht in ausreichendem Maße un-
tersucht worden. Will man nicht in bloßen Spekulationen stecken bleiben315 , so sind
solche Untersuchungen dringend gefordert. Erst dann kann eine genauere Einschät-
zung von Viviers interkulturellen Rezeptionsprozessen vorgenommen werden.
313 Zu Vivier vgl. Gerald Resch, Die längste Reise ist die zu sich selbst. Claude Viviers Ränder
innerer Landschaften, in: Wiener Konzerthaus (Hg.), Wien Modern Katalog 1999, Wien 1999,
91-93.
314 Ebda., 93.
315 So wie es beispielsweise großenteils György Ligeti in seiner Wertschätzung Viviers tut. Vgl.
György Ligeti, Verführer durch die Klangfarbe. Über die Musik Claude Viviers, in: Wiener
Konzerthaus (Hg.), Wien Modern Katalog 1996, Wien 1996,58-60.
202 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?
Auch in Europa mag die zunehmende Präsenz von komponierenden Emigranten seit
den 1960er Jahren wie Yun Isang, Pagh-Paan Younghi, Hosokawa Toshio, Kubo
Mayako (vgl. III.2., III.6.) zu einem Bewusstsein beigetragen haben, dass sich einem
kompositorischen Pragmatismus wie einer Fernweh-geprägten Sicht von außen glei-
chermaßen verweigert. Die junge europäische Generation artikuliert dieses Span-
nungsfeld dennoch allzu selten; einer der wenigen ist Heiner Goebbels (* 1952), der
mit seiner radiophon geprägten szenischen Konstellation Ou bien les debarquement
desastreux - Oder die glücklose Landung (1993) nach Texten von Joseph Conrad,
Heiner Müller und Francis Ponge ein komplexes Bild des kolonialen Traumas
316 Martin Erdmann, Minimalistische Zeitenwende, in: Wiener Konzerthaus (Hg.), Wien Modern
Katalog 1996, Wien 1996, 56f.
317 Vgl. David Loeb, Eastern Technique for Western Music, New York 1974.
11.6. "Falsche Synthesen" und Dialogbereitschaft 203
Wir konnten in dieser Darstellung von Positionen westlicher Komponisten bei der
Rezeption von nicht-westlicher Musik und Kultur Kontinuitäten und Differenzen
zwischen den in vieler Hinsicht zeittypisch erscheinenden Ansätzen Cages, Brittens,
Stockhausens und Kagels und denen der näheren Gegenwart ausmachen.
Die hier zusammengefasst dargestellten interkulturellen Konzepte westlicher
Komponisten nach 1959 zeigen ein Spektrum von Möglichkeiten auch jenseits einer
bloßen Fortsetzung des Integrationsmodells auf (das dagegen bei vielen kaum ange-
tastet wird). Dieses Spektrum umfasst deutliche Relikte des verschleierten Blicks
204 11. Westliche Musik über Ostasien seit 1950: Dialog oder Monolog?