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Die Lieder des Prinzen Vogelfrei, 1887 als Anhang zur zweiten Ausgabe
der Fröhlichen Wissenschaft erschienen, enden mit einem „Tanzlied", das den
Titel trägt: „An den Mistral". Etwa in der Mitte dieses Liedes finden sich
folgende Verse:
<·
Tanzen wir in tausend Weisen,
Frei — sei uns r e Kunst geheissen,
Fröhlich — unsre Wissenschaft!
t...]
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz!
* Eine erste Version dieses. Textes wurde am 5. Juni 1989 auf dem ersten Symposium der
Academie du Midi in der Abbaye Samte-Marie d'Orbieu in Lagrasse (Corbieres) vorgetragen.
Sie wurde für die vorliegende Fassung überarbeitet und ergänzt. — Die Bedeutung der
Fröhlichen Wissenschaft im Werk Nietzsches selbst ist das Thema eines Vortrags, der unter
dem Titel „Fröhliche Wissenschaft freier Geister — eine Philosophie der Zukunft?" am
11. Aprü 1989 auf einer Nietzsche-Tagung-in Dubrovnik gehalten wurde; erschienen in:
Nietzsches Begriff der Philosophie, hg. M. Djuric, Würzbürg, 1990, S. 53—72. Vorliegender
Text ist eine Ausarbeitung: der in jenem Vortrag nur flüchtig berührten Frage nach der
historischen Dimension des Begriffe einer Fröhlichen Wissenschaft.
176 Titroan Borschc
Weniges deutet darauf hin, daß die Troubadours getanzt hätten» Ritter waren
sie und Sänger-Dichter. Was also hat die Fröhliche Wissenschaft freier
Geister mit den Troubadours zu tun, auf die Nietzsche sich nicht nur in
diesem Gedicht beruft? Und was verbindet die Fröhliche Wissenschaft mit
dem Tanz, dem für Nietzsche archaische Bedeutung zukommt, da aus ihm
die Tragödie und aus dieser die Philosbphie hervorgegangen ist?
Die Quellen, aus denen Nietzsche seine Kenntnis der Troubadourdich-
tung schöpfte, sind, soweit ich weiß, noch nicht erforscht. Vermutlich
gehören sie in jenen trüben Strom mythisierender und zugleich mystifizie-
render Mittel altersehnsuch t, der den „Widerwillen" und den „Widerspruch
gegen" die eigene Zeit charakterisiert, die Nietzsche mit vielen Intellektuellen
des 19. Jahrhunderts teilt und die er rückblickend „sein Leiden an dieser
Zeit, seine Zeit-Ungemässheit, seine Romantik" (FW 380) nennt.
Deutlicher läßt sich sagen, in welchem Sinne Nietzsche sich den Sänger-
Dichtern des europäischen Frühlings verbunden fühlte. Ich zitiere zu diesem
Zweck aus einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft. Sein Titel „Wir
Heimatlosen" erinnert an die — nostalgisch stilisierte r- Institution der
,irrenden Ritter', die ohne Besitz und folglich frei von herrschaftlichen
Verpflichtungen und Rücksichten von Hof zu Hof reisten und nur von
ihren und für ihre Ideale, von ihren und für ihre Damen dichteten und
lebten1: „Esx fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die~
ein Recht haben, sich in. einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose
zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza
ausdrücklich an's Herz gelegt! [...] Wir Kinder der Zukunft [,..] Wir sind,
mit Einem Worte — und es soll unser Ehrenwort sein! — gute Europäer,
die Erben Europa's [...]: als solche auch dem Christenthum entwachsen
und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre
Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums
waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Väterland zum
Opfer gebracht haben. Wir — thun desgleichen" (FW 377). — Die „Christen
von rücksichtsloser Rechtschaffenheit", als deren Erbe Nietzsche sich hier
Vgl. Claude-Charles Fauriel: Histoire de la Poesie provenfate, 3 Bde., Paris, 1846 "JND Geneve,
1969), Bd. l, S. 533 ff. ~ Bekannt ist die Karikatur dieser Institution bei Cervantes, durch
dessen Don Quichote das Bild der irrenden Ritter4 für die Nachwelt sicherlich stärker
geprägt wurde als durch diese selbst. Denn weder waren die Irrenden immer auch Dichter,
noch die Troubadours ständig unterwegs, -r Bei Verweisen auf Literatur zu den Trou-
badours muß hier und im folgenden stets' unterschieden werden, wie einerseits der von
romantischen Vorstellungen 'geprägte Geist des 19. Jahrhunderts (und mit ihm Nietzsche)
die Dinge sah (hierbei können die ebenso beeindruckenden wie einflußreichen Schriften
Fauriels zur ersten Orientierung dienen) und wie andererseits die eher sozialhistorisch
ausgerichtete und jedenfalls umfassender informierte romanistische Wissenschaft unseres
Jahrhunderts diese Ansichten modifiziert hat.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 177
2
Vgl. bes. die Ausführungen von Fauriel, a. a. O., Bd. l, Kap. 8; ferner auch die allgemeine
Darstellung der Entstehung und der Besonderheiten okzitanischer Zivilisation und Sprache
von Charles Camproux: Histoire de la Litterature occitane, Paris, (1953) 21971, S. 9—22.
3
Vgl. Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, bes. I, 17.
4
Ohne Zweifel ist die Lieddichtung der Trobadors etwas Neues in der Geschichte des
europäischen Geistes. Ihr vieldiskutiertes Ursprungsproblem wird jedoch durch die Be-
hauptung einer mysteriösen Entstehung aus dem Nichts am wenigsten glaubhaft gelöst.
Beziehungen zur arabischen Liedkultur in Spanien sind schwer zu bestreiten, konkrete
Einflüsse aber ebenso schwer zu belegen. Daß den (überlieferten) Kunstliedern eine (nicht
überlieferte) Volkspoesie in der Landessprache vorausging, ist sehr wahrscheinlich (vgl.
Camproux, a. a. O., S. 24), und mit Sicherheit ist anzunehmen, daß den ersten Trobadors
die mittellateinische Musik und Dichtung der Kleriker, und zwar ihre volkstümlichen sowie
ihre gelehrten Weisen, vertraut waren. — Eine kurze Übersicht und historische Würdigung
verschiedener Ursprungshypothescn findet sich in Henri-Ircnee Marrou: Les Troubadours,
Paris, (1961) 21971, S. 113-143.
178 Tilman Borsche
löst sich vom Stand seiner Geburt, er singt sich gewissermaßen über die
bestehenden sozialen Schranken hinweg — in die höfische Welt hinein5'
Die Schranken innerhalb der feudalen Gesellschaft, die er durch seine Kunst
zu überwinden trachtet, gelten im übrigen als sehr strenge Schranken, waren
aber im okzitanischen Bereich nie so stark verwurzelt wie im französischen
Norden. Der Freie hat seinen festen PJatz in der sozialen Hierarchie. Man
ist Herr bzw. Gefolgsmann von Haus aus oder durch Krieg. Diesem Zwang
kann sich in'der Regel nur entziehen, wer zugleich der Welt entsagt: dem
Kleriker stehen die Reiche der Gelehrsamkeit, der Seelsorge und anderer
geistlicher Berufe offen. Doch wird seine professionelle Freiheit durch das
Gelübde erkauft, das von neuem bindet. Der Trobador hingegen ist frei
und bleibt in der Welt. Ohne jede Nötigung von außen bindet er sich
selbst; er bekennt und bestätigt diese freiwillige Bindung nur durch seine
Haltung, seine Taten und natürlich durch seine Lieder. An die Stelle von
Geburt oder Gewalt bzw. Entsagung und Gehorsam tritt ein anderes Band,
das die Verhältnisse des neuen Lebens regelt, die Liebe. Auch sie hat ihre
Gesetze, doch kennt sie keinen Zwang außer dem der Ehre und des Rufes.
Sie lebt aus der Macht der Worte und entfaltet sich in einer hohen Kultur
kunstvoll gebundener Rede.
Ähnliches gilt für die Ritterschaft, so wie sie von den Trobadors
besungen wird. Ursprünglich waren die Ritter nichts weiter als die Krieger
der feudalen Gesellschaft, die sich nach der Völkerwanderung über ganz
Europa verbreitet hatte; wenig zivilisiert und nur durch die Pflichten ihrer
Lehensverhältnisse sowie die Grenzen ihrer Macht gebunden. Erst später
begann der Klerus, in dessen Reihen der letzte Rest antiker Bildung
überwintert hatte, die Samen einer neuen Zivilisation zu pflanzen, indem
er die Investitur der jungen Krieger an sich zog. Seither schwor, wer zum
Ritter geschlagen wurde, vor einem Priester, den christlichen Glauben zu
schützen und sich einzusetzen für die Armen und Unterdrückten, Erst durch
diese neuen Aufgaben wurde der feudale Krieger zum Ritter der Ritter-
lichkeit, wie wir ihn kennen6.
5
Die soziale Bedeutung des Künstlerberufs der Trobadors ist so auffallend, daß moderne
Historiker das Phänomen der neuen Liedkultur vornehmlich aus der Aufstiegsideologie
der niederen, d.h. besitzlosen Ritterschaft zu erklären versuchen. Richtüngweisend sind
hier die Studien von Erich Köhler aus den fünfziger und sechziger Jahren, zusammengefaßt
in Trobadorfyrik und höfischer Roman. Aufsätze %ur französischen und proven^alischen Literatur
des Mittelalters, Berlin, 1962, S. 9—204, und in Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus
der Welt der Romania, Frankfurt a. M., 1972, S. 9-82; vgl. auch Dietmar Rieger: „Die
altprovenzalische Lyrik", in: Lyrik des Mittelalters I. Problerne und Interpretationen Stuttgart,
1983, S. 197-390, bes. S. 212-223, 235 ff.
6
Zur Rolle des Klerus bei der Zivilisierung des feudalen Kriegerstandes durch die Institution
der Ritterschaft vgl. Fauriel, a.a.O., Bd. l, S. 478—482. Zur allmählichen Au>einander-
entwicklung von Feudalität als erblich gewordenem Adel »und'.Ritterschaft als neuem
,moralischen* Adel vgl. Camproux, a.a.O., S. 29ff.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 179
Diese spezielle Rolle des Ritters ist nur aus der Not der Zeit heraus
verständlich: Es gab keine rechtliche Macht, die das Recht der Machtlosen
hätte sichern und verteidigen können. Die Schwachen, und zu diesen zählten
in gewissem Sinn auch die Repräsentanten der Kirche, konnten gegen die
Willkür der Mächtigen nur den Schutz anderer Mächte anrufen. Die neuen
ritterlichen Tugenden setzten also erstens eigene Macht voraus und zweitens
den Willen, diese ohne eigene Not für andere, die Not leiden, einzusetzen.
Ihr Grundprinzip ist die Opferbereitschaft: Tugend als ein Luxus des
Mächtigen, der ohne Aussicht auf persönlichen Gewinn seine persönlichen
Ressourcen für die ,gute Sache* aufs Spiel setzt. Charakteristisch für den
Ritter und in späterer Zeit häufig genug karikiert sind denn auch seine
Kampfeslust ohne politisches und seine Freigebigkeit ohne ökonomisches
Kalkül.
Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, um deutlich zu machen,
daß die Ritterlichkeit, wenn auch zunächst einem bestimmten sozialen Stand
angesonnen, doch weder in diesem Stand allgemein praktiziert wird noch
auf ihn beschränkt bleibt. Sie charakterisiert vielmehr ein kompliziertes
System von normativen Vorstellungen als ein Ideal moralischer Vollkom-
menheit für solche, die persönliche Macht auszuüben in der Lage sind. Weit
davon entfernt, die allgemeine Lebensform des Ritterstandes oder gar der
feudalen Adelsgesellschaft insgesamt zu beschreiben, wird dieses Ideal auf-
gestellt, gerade weil es der allgemeinen Praxis nicht entspricht.
Wie aber kann ein solches Ideal wirklich werden? Was kann einen
Krieger dazu bewegen, einem solchen Ideal nachzustreben, sich ,ritterlich*
zu verhalten? — Anfangs ist es der Dienst für den Herrn aller Herren.
Glaubenseifer motiviert den Schutz der Kirche, der Gläubigen und in einem
spezifisch christlichen Sinn der Schwachen. Ganz ohne ein solches Motiv
wären die Ritterheere der Kreuzfahrer wohLiaum zu verstehen. Das ent-
scheidende und überaus charakteristische Motiv ritterlicher Tugend ist je-
doch, wie jedermann weiß, die ,Liebe*. Was aber bedeutet und was bewirkt
die ,ritterlichec bzw. jhöfische* Liebe7, diese ,Erfindung des 12. Jahrhun-
Einig ist man sich in der Forschung, daß im okzitanischen Kulturbereich Feudalität und
Ritterschaft nicht zusammenfallen. Doch wie steht es mit der Liebe im Blick auf diese
beiden Ordnungen? Fauriel spricht von Famour cbtvakresque (a.a.O., Bd. l, S. 499), Marrou
von Famotcr courtois (a.a.O., bes. S. 151—.163); beide wissen, daß dieses Ideal in sich-
vielgestaltig ist. Wenn demgegenüber der Liebesforscher der Trobadors, Rene Nclli, in
einer subtil differenzierenden Untersuchung auf dem Unterschied zwischen Famour cheva-
leresque und Famour courtois besteht, dann bezieht er sich damit auf Erscheinungsformen
und Entwicklungsstadien, die in einer ganzheitlichen Charakterskizze dieser Konzeption
übergangen werden können und müssen; vgl. Rene Nelli: JJerotique des troubadours, Toulouse,
1963, pass., bes. S. 63-77.
180 Tilman ßorsche
derts'8? — Ich werde nicht versuchen, die Frage zu beantworten. Ich mochte
nur diejenigen allgemeinen Merkmale der ebenso vielschichtigen und wech-
selvollen wie kontrovers diskutierten Theorie der höfischen Liebe kurz
erwähneil, die mir zum Verständnis der Geschichte der Fröhlichen Wissen-
schaft erforderlich erscheinen.
III
Die Liebe gilt als das Prinzip der tugendhaften, verdienstvollen, glor-
reichen Tat. Sie ist der Beweggrund und die Legitimation alles Guten (,fons
de bondat', nach Marcabru9)10. Gerade in dieser Bestimmung kann die
Konzeption der Liebe sehr leicht an den religiösen Ursprung der Ritter-
lichkeit anknüpfen. So finden sich bei den Liebes-Theoretikern unter den
Trobadors starke Anklänge an die Schule des Platonismus von Chartres11.
Auch die paulinische und aügustinische Verherrlichung der Liebe Gottes,
durch die alles erst ist, was es ist, und ohne die kein Werk des Menschen
gut genannt werden kann, wirkt offenkundig in die Konzeption der ritter-
8
Henri-Irenee* Marrou, der große Kenner der antiken und mittelalterlichen Tradition, gibt
einem Kapitel seines Troubadour-Büchleins den Titel „Uamour, cette invention du
siecle", und er erinnert -seine französischen Leser daran, daß „le mot, et la chose, nous
viennent du pays dOc"· (a. a. O., S. 99). Als Historiker vom Fach protestiert er gleichwohl
entschieden gegen kulturgeschichtliche Generalisierungen des amour courtois aus dem Geist
der deutschen Romantik, wie sie Denis de Rougemont in seinem suggestiven Werk über
,Die Liebe und das Abendland* (LAmour et FOccident, Paris, 1939, erweiterte Ausgabe
Paris, 1956, dt.: Zürich 1987) entwickelt hat. Denn er sieht hier einen „fureur dialectique"
(a. a. O., S. 147) am Werk, der fundamentale Unterschiede in mystischer Nacht verschwinden
läßt, um auf diese Weise Heterogenes in den Dienst einer historischen Anamnese des
amour-passion (nach Stendhal) zu zwingen, durch welche der Autor die Tiefenstruktur
unseres heutigen Bewußtseins erhellen möchte.
9
Vgl. Köhler (1972), S. 15, der auch auf die sehr viel spätere Formulierung des Andreas
Capellanus (vgl. unten IV) verweist: „fons et origo omnium bonprum".
10
Als Beispiel seien zwei Verse von Arnaut de Mareuil angeführt:
Car de vo sai, domna, que'm ve
Tot quant ieu fatz ni die de be, ' >·*
die zitiert und kommentiert werden von Marrou, a.a.O., S. 158f. Vgl. zu diesem Grund-
gedanken der höfisch-ritterlichen Liebeskonzeption u. a. auch Fauriel, a. a. O., Bd. l, S. 499;
Bd. 3, S. 274 f.; Nelli, a. a. O., S. 178f.
11
Diese Zusammenhänge werden näher erörtert von Charles Camproüx: „Philosophie et Joy
d'Amor" (1962), in: Berits sur /es troubadours et la civilisation occitane -du moyen &ge> Bd. 2,
Chastelnau-le-Lez, 1985, S. 5—22. Marrou,'a. a. .O., S. 169, betont die „parente indeniable
entre l'atmosphere spirituelle ou s'epanouit la poesie des troubadours et celle des grands
rnystiques" der Kirche und nennt Bernhard von Clairvaux und die Viktoriner. -Insbesondere
aber verweist er auf die von D. Zorzi näher belegte Bedeutung der trinitarischen 'Theologie
für die „conception* fondamentale de l'amour, extatiqüe et pefsotinaliste a la fois, que
retrouve chez le Victorin [Richard] et chez nos troubadours" (ebd.).
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 181
liehen Liebe hinein. Einflußreich ist außerdem die Tradition der weltlichen
Sänger und Spielleute. — Der natürliche Lohn der Liebe ist die Freude,
,joy d'amor*. Dieser zentrale Terminus der Trobador-Lyrik ist nicht weniger
problematisch als der der Liebe selbst12. Fauriel beschreibt das ritterliche
Hochgefühl, das durch ihn charakterisiert werden soll, als „un enthousiasme
continu, qui cree les occasions de se montrer quand elles lui manquent
accidentellement"13.
Die ritterliche Liebe als das treibende Motiv aller tugendhaften Hand-
lungen hat drei Bedingungen: Sie muß beiderseits absolut freiwillig sein,
sie darf sich keinem Gesetz unterwerfen, das sie sich nicht selbst gegeben
hat, und sie schließt beiderseits weitere (gleichzeitige) Liebesverhältnisse
aus. Es ist offensichtlich, daß diese moralische Institution der Liebe als eine
Gegenkraft zur rechtlichen Institution der Ehe konzipiert — und praktiziert
— wurde, zu jener feudalen Einrichtung also, durch welche die adlige Frau,
obwohl oder gerade weil sie mit Erbrecht und anderen feudalen Privilegien
ausgestattet war, zu einem Instrument männlicher Mächtpolitik degradiert
zu werden pflegte14. Die höfische oder ritterliche Form der Liebe verschafft
den Liebenden moralische Macht. Daß dies auch so empfunden und, oft
wohl nur zähneknirschend, respektiert wurde, läßt eine eindrucksvolle Epi-
sode ahnen, die auch deshalb kurz erzählt werden soll, weil sie in die
Gründungslegende des Klosters von Lagrasse verwoben ist.
Der anonyme Autor des Textes15 berichtet vom Sarazenenkönig Matran,
der Narbonne besetzt hatte, sowie von König Karl, der mit den Seinen
herbeigeeilt war, um die Stadt zu befreien. Matrans Frau Oriunde, Tochter
des Almassors von Cordöba, verliebte sich in den Helden Roland, den sie
beim Kampf beobachtet hatte. Eines Tages konnte sie es nicht unterlassen,
12
Nicht nur seine Bedeutung, sogar seine Etymologie jst umstritten. Camproux argumentiert
mit überzeugenden Belegen, daß das Wort sich nicht von lat. gaudium^ sondern von lat.
joculum herleite, seine Bedeutung dann aber bald mit franz. jote verbunden habe. Jedenfalls
dürfe das Element des Spiels neben dem der Freude nicht vernachlässigt werden: Charles
Camproux: Le Joy tf Amor des Troubadours, Montpellier, 1965, bes. S. 121 —133. Vgl. dazu
auch Nelli, a.a.O., pass. und bes. S. 169—174, Marrou, a.a.O., S. 159£, ferner aus
psychologischer Sicht Jean-Charles Huchet: L'amour discourtois. La ,Fitt Amors' che% les
Premiers troubadours, Toulouse, 1987, S. 209—216.
13
Fauriel, a.a.O., Bd. l, S. 499f. — Diese Formulierung entspricht nicht mehr dem heutigen
Forschungsstand, bringt aber treffend das zum Ausdruck, was für Nietzsche an dieser
Tugend interessant werden sollte.
14
Zur sozialen Stellung der Frau ,en terre-dOc', die aufgrund vorfeudaler Traditionen*
größere Rechte und Freiheiten besaß als ihre Schwestern im französischen Norden, vgl.
Camproux (1965), S. 95-100.
15
Es handelt sich um den sog. Roman de Filffmina, einen der ältesten narrativen Texte in
okzitanischer Sprache, die uns überliefert sind; nach Camproux (1971), S. 39, Ende des 12.
Jahrhunderts verfaßt, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nach Roben Lafont und
Christian Anatoie: Nowelk Histoire de la Uttiratttre ofatane, Paris, 1970, S. 198 f.
182 Tilman Botschc
16
Vgl. Gesta Karoll Magni ad Carcassonam et Narbonam, Lateinischer Text und provenzalische
Übersetzung mit Einleitung von F. E. Schneegans, Halle, 1898, S. 138 (Z. 1832—49). Zum
gleichen Thema, dem „Konflikt zwischen höfisch-gesellschaftlicher Liebeskonzeption und
ehelicher Interessengemeinschaft", vgl. das Streitgespräch von Raimbaut Jfid Gaucelm
Faidit, das von Köhler (1962), S. 96 f. referiert und kommentiert wird.
17
Zur »Spiritualisierung* des lehensrechtlichen Treueverhältnisses in der höfischen Liebe und
zur sozialgeschichtlichen Bedeutung dieses Vorgangs vgl. Köhler (1972), S. 9—27. — Die
strukturellen Bedingungen dieser komplexen Form einer »Sublimierung* der Liebe, dar-
gestellt am Modell einer Vierecksbeziehüng. zwischen
Troubadour ^- 7· Dame
>vs.
x
Autre-Femme ' Mari,
diskutiert Huchet, a.a.O., S. 34-51.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 183
18
Die Hypothese vom Ursprung der höfischen Liebeskonzeption .aus dem Gedankengut der
Katharer, von Rougemont zumindest nahegelegt, von Marrou mit Argumenten des Histo-·
rikers zurückgewiesen, laßt sich wohl weder aus den Dokumenten belegen noch aus den
Umstanden wahrscheinlich machen. Unbestreitbar aber dürfte sein, daß das geistige Klima
des 12. Jahrhunderts so stark von den unorthodoxen Ansichten der Katharer einerseits
und der Trobadors andererseits (mitbestimmt wurde, daß eine Osmose zwischen beiden
Seiten vorausgesetzt werden darf. Camproux (1965), S. 66 ff. zeigt einige gemeinsame Züge
auf.
184 Tilman Borsche
IV
19
Die Inquisition ist hier als Symbol für eine neue Lebensform zu verstehen. Auch die
langen und grausamen Albigenserkriege können das Ende der Ritterkultur selbstverständlich
nicht »erklären*. Der neue Geist des 13. Jahrhunderts und seine ,Herkunft* sind, wie alles
,Neue' in der Geschichte, vielfältig interpretiert worden. Vgl. z.B. Carnproux (1971),
S. 40 f., 58 ff.
20
Belege bei .Camproux (1971), S. 42 f£ · ' . . " " '
21
Andreas Capellanus: De amore libri tres (1174/1186?), hg. R Trojel, Havniae, 1892, ND
München, 1964.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 185
durch das Verdikt des Pariser Bischofs Etienne Tempier von 1277 anheim-
fielen, enthüllt bei genauerer Betrachtung ein tiefes Mißtrauen gegen den
bedingungslosen Kult der Liebe, der nur insofern toleriert werden kann,
als er sich den Zwecken der kirchlichen Moral — und d.h. vor allem
überhaupt einer geregelten Moral — unterwirft22.
Jedenfalls zerstören der Kreuzzug und seine Folgen die physische Exi-
stenz großenteils und vollständig die materielle Basis des okzitanischen
Adels. Sogar die provenzalische Sprache, Keimstätte der modernen Litera-
turen Europas, wird 1245 von Papst Innozenz IV. als häretisch qualifiziert
und ihr Gebrauch den Professoren und Studenten der Theologie an der
neuen Universität Toulouse (gegr. 1229), die sich als geistiger Wächter der
Rechtgläubigkeit'versteht, verboten23. Die Trobadors (oder auch nur ihre
Interpreten, die joglars) ziehen sich ins Ausland zurück, nach Italien und
Spanien vor allem. Dort singen sie unter anderen Bedingungen weiter, sie
besingen nun eine verlorene und rasch verklärte — die eigene Vergangenheit.
Der Untergang der Trobador-Kultur verschafft der erzählenden Dichtung
neuen dramatischen Stoff: Neben den vidas und ra%os24 entstehen historische
Romane der jüngsten Zeit25. Der Charakter der lyrischen Dichtung, die als
:
Ausdruck persönlicher Stimmungen, Gefühle und Erlebnisse naturgemäß
' eher der Gegenwart verbunden bleibt, wandelt sich stark: Sie wird mora-
! listisch und religiös (beides war sie auch früher schon, aber nicht exklusiv).
; Die angebetete Dame wird mehr und mehr von der göttlichen Jungfrau
\ verdrängt (besonders seit Moritanhagol, tätig 1233—1258). Statt kriegerischer
werden bürgerliche Tugenden und Freuden gepriesen. Der alte Kampfgeist
verlegt sich vornehmlich auf bittere Satiren über die Immoralität der fremden
Machthaber, Klerus wie Adel (besonders bei Peire Cardenal, 1180-1278).
22
Vgl. die ausführliche Kritik dieser Schrift durch Ch. Camproux: Berits II, 1985, S. 246-61.
— Schon das okzitanische Gegenstück zu Andreas Capellanus, das 1288—1290 verfaßte
Breviari tfAmor des Bruders Matfre Ermengaud (34597 Verse lang), ist nichts weiter als
eine christliche Enzyklopädie im Namen der Liebe, die sich der Liebe der Trobadors nur
noch in Form einer scharfen Satire erinnert (V. 27791—34597).
23
Vgl. Fauriel, Bd. l, S. 24; J. Anglade, in: Las Leys #Amors (- Leys), hg. Joseph Anglade,
4 Bde., Toulouse, 1919/20, Bd. 4, S. 40. - Insbesondere die Katharer hatten religiöse
Literatur in der Landessprache verfaßt: die Bibel wurde übersetzt, ferner sind eine Liturgie,
Heiligenleben und andere religiöse Texte überliefert. Vgl. dazu Camproux (1971), S. 52 ff.,
der berichtet, daß der Gebrauch des Okzitanischen in religiösen Texten schon lange· vor
dem genannten Edikt den kirchlichen Autoritäten suspekt erschien.
24
Zur Erläuterung dieser beiden neuen Gattungen — Kurzbiographien der Dichter bzw.
Kurzkommentare ihrer Gedichte, beides geht häutig ineinander über — vgl. Robert Lafont
und Christian Anatole, a.a.O., S. 185f., 199f.
25
Unter diesen ist besonders hervorzuheben die episch angelegte Chanson de Croisade,
unvollendet, ca. 9500 Verse lang, um 1228 verfaßt; dazu Lafont/Anatole, a. a. O., S. 156—
173; Camproux (1971), S? 50 f.
186 Tilman Bor$chc
So verstreicht das Jahr 1300. Doch die Geschichte ist noch nicht zu
Ende. FroKer Bürgergeist, mit Bildungsfleiß und kapitaler Muße gesegnet,
treibt nostalgische — -und künstliche — Bluten im Geist der neuen Zeit:
goldene Veilchen sowie Ringelblumen und Heckenrosen aus feinem Silber.
Sieben ehrbare Bürger der durch Anpassung befriedeten französischen Fro-
vinzhauptstadt Toulouse, die meisten von ihnen erfolgreiche Geschäftsleute,
gründen einen vaterländischen Verein. Auf solche Weise entsteht im Jahre
1323, dem Jahr der Kanonisierung des hl. Thomas, das Konsistorium der
Fröhlichen Wissenschaft. Die wackeren Sieben sind zwar selbst keine Troba-
dors, auch wenn sie sich einmal überschwenglich als solche bezeichnen27,
wohl aber sind sie die neuen Mäzene von deren bürgerlichen Nachkommen,
die sich offiziell „los mantenedors del Gai Saber" nennen28. Sie stellen sich
die Aufgabe, die Reinheit ihrer Heimatsprache und -dichtung zu bewahren,
sie gegen Überfremdung zu schützen und die literarisch-poetiböhen Tradi-
tionen der ,bons troubadoufs des anciens temps* sowie ihre ,bonnes doctrines
26
Vgl. Lafont/Anatole, a.a.O., S. 141. — Diesen späten Übergang zum selbstbewußten
Schreiben findet die lacaneske Analyse Hüchets von „Genese et strücture de la ßn'atnors"
bereits in d.er Kunst der Liebesdichtung selbst angelegt: „II n'est pas surprenant que
Phabilete technique, l'excellence dans l'art de faire un ,vers* [...] vienne signifier Thabilete
sexuelle. Equation oü ecrire equivaut ä aimer et reciproquement" (a. a. O., S. 26,f.).
27
„La sobregaya cornpanhia/Dels VII, trobadors de Tholoza"', zit. nach Leys, Bd. l, S. 9.
28
Leys, Bd. l, S. 15 u. pass.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 187
approuvees* zu pflegen*9. Zu· diesem Zweck laden sie alle Dichter <}er langue
d'oc zu einem Wettbewerb ein, der fortan jährlich in den ersten Tagen des
Monats Mai stattfindet. Eine Jury hat in verschiedenen Disziplinen über
die jeweils vortrefflichsten Vorträge zu entscheiden, deren Autoren mit einer
goldenen Blume für den besten vers (oder chanso} und mit silbernen Blumen
für die beste dansa bzw. den besten sirvmtes (oder pastorela oder vergiera)
ausgezeichnet werden30 — daher der spätere Name dieser Veranstaltung,
Jeux F/oreauxy der sich bis heute gehalten hat.
1356 veröffentlicht der Kanzler der Fröhlichen Wissenschaft, Guilhem
Molinier, im Auftrag des Konsistoriums die Vereinsstatuten, die in zwei
Versionen überliefert sind: Las Leys d'Amors bzw. Las Flors del Gay Saher.
Der Hauptteil der beiden fast gleichlautenden, sehr umfangreichen Texte
enthält (a) eine Phonetik, Metrik und Kompositionslehre der Trobador-
Dichtung sowie (b) eine Grammatik der romanischen Sprache, die relativ
eigenständig nach den Modellen des Priscian, Donat und Isidor. kompiliert
ist31. Mit anderen Worten: Amor ist endgültig zum Fachterminus einer
Kunstlehre des guten Dichtens geworden (der sciensa de trobar\ eine aus-
führlich-pedantische Regel-Poetik schmückt sich mit dem Namen der Lie-
be32.
Aufschlußreich für das Verständnis der Fröhlichen Wissenschaft sind die
einleitenden Bemerkungen beider Schriften33. Der Text spricht am besten
für sich selbst:
Au temps passe, il y eut dans la royale et noble cite de Toulouse, sept
seigneurs distingues, savants, subtils et discrets, qui eurent bon desir et
grande affection de trouver cette noble, excellente, merveilleuse et vertueuse
dame Science, pour qu'elle leur donnät et leur fournit le gai savoir d'ecrire
29
Las Flors del Gay Saher (= Flors), hg. M. Gatien-^rnoult, 2 Bde. (Text mit französischer
Übersetzung), Toulouse, 1841/43 (ND Geneve, 1977), Bd. l, S. 3; Original, S. 2: „los bös
anticz trobadors", „lors bonas opinios: et aproadas".
30
Vgl. Leys, Bd. l, S. 42; zur Erläuterung der Gattungen, a.a.O., II S. 175ff.; zu den
Auszeichnungen auch Fraqc.ois de Gelis: Histoire critique des Jeux Floraux depuis leur origine
jusqu'ä leur transformation en Acadtmie (1323—1694), Toulouse, 1912 (ND Geneve, 1981),
S. 28.
31
Eine ausführliche, philologisch aber nicht sehr tiefgehende Analyse dieser Texte gibt
Anglade in Leys, Bd. 4, S. 71 -91. Camproux (1971), S. 61 ff. schildert und belegt die
didaktisch-scholastische Wende der okzitanischen Literatur im 13. Jh.
32
Von weit mehr als regionaler Bedeutung und von symbolischem Wert für den Untergang
der Lebensform der Trobadors ist das schon erwähnte .Breviari d*Amor des Franziskaners*
Matfre Ermengaud, „ouvrage qui eut un immense succes a la fin du siecle et au
siecle suivant" (Camproux (1971), S. 56). Es handelt sich hier um eine christliche Enzy-
klopädie des Wissens (in Nachahmung des Speculum naturale des Vincent von Beauvais,
Mitte 12. Jh.) — im Namen der Liebe.
35
Zitiert aus dem Anfang der Lejr, Bd. l, S. 8, nach der französischen Übersetzung von
Anglade: Leys, Bd. 4, S. 15 f.
188 Tiimao Borschc
en vers, pour savoir faire bons poernes en roman avec Icsquels ils pourraient
dire et raciter bonncs et rcmarquablcs parolcs, pour donner de bonnes
doctrines et de bons enseignements, a la louangc et honneur de Dicu,
Notrc Scigneur, et de sä glorieuse Mere, et de tous les Saints du Paradis
et pour Pinstruction des ignorants, pour retenir les amants fous et sots,
pour vivre avec la joie et Tallegresse dessus dites, et pour futr Tenriui et
la tristesse, ennemies du Gai Savoir.
Dieser erbaulichen Selbstdarstellung läßt sich folgendes entnehmen:
a. Die Wissenschaft (sciensa) ist hier zu verstehen als ein Können, das
ein Wissen voraussetzt, im Sinn des französischen savoir-faire; eine Praxis
also, aber eine solche, die vom Wissen um das Wahre und das Falsche, das
Gute und das Böse geleitet ist.
b. Die Gesetze der Liebe (las leys d'amors) der Fröhlichen Wissenschaft
stehen voll und ganz im Dienst des rechten Glaubens und seiner Hüterin,
der Kirche. Ihr erklärtes Ziel liegt (u. a.) darin, ,die blinden Leidenschaften
und die unschicklichen Handlungen der Verliebten zu unterdrücken und zu
lehren, welcher Liebe man sich zu bedienen habe434.
Wenn die Liebe ein Gedicht ist, dann bedarf auch sie eines decorum —
oder nicht? — Dante hatte die Trobadordichter dadurch charakterisiert, daß
sie, im Gegensatz zu den „magni poetae" der klassischen Antike, „cäsu
poetati sunjt", jene Vorbilder aber „arte regulari"35. Es ist der Geist der
neuen Zeit, der die strenge Regel verlangt,/in der Dichtung wie in der
Liebe.
c. Fröhlich (gay) ist die Wissenschaft des Trobadors, weil sie Freude
bringt, wie die Liebe. Diese Verbindung wird durch zwei Autoritäten belegt:
zum einen durch den Psalmisten: „Cantatz et alegratz vos en Dieu"36, zum
anderen durch die Philosophie, genauer durch Berufung auf eine philoso-
phische scala scientiae^ die feiner nuanciert ist, als man es in irgendeiner der
uns vertrauten philosophischen Sprachen wiedergeben kann. Ich versuche
zu übersetzen und belasse die Termini im Original: „Nach dem, was die
Philosophen sagen", beginnt der Autor vorsichtig, „haben alle Menschen
der Welt den Wunsch nadi sciensa (science); daraus entsteht saber (savoir);
daraus conoyssensa (connaissance); daraus sen (sens); daraus be far (bien faire);
daraus valor (valeur); daraus lau^pr (louange); daraus onor (honnetir); daraus
(priz); daraus planer (plaisir); daraus gaug et alegrier (joie et allegresse)"37.
34
Flors, Bd. l, S. 4: „per reffenar los avols deziriers eis dezonestz movemens dels enamoratz.
e per essenhar de quäl amor devon amar".
35
Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, II 4.
36
Leys, Bd. l, S. 8; vgl. z. B. PS. 97, 4: „lübilate Deo omnis terta; Cantate et exsidtate, et
psallite". , . .
37
Leys, Bd. l, S. 7. — Anglade, der den einzelnen Stufen dieser Skala eine sinnvolle
französische Übersetzung zu geben versucht: science — savoir — connaissance — intelli-
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 189
— Fröhliche Wissenschaft verweist also auf die Lust der wahren Erkenntnis
im Sinne einer rechtmäßigen und wohltätigen Weisheit. Von dieser Lust
leitet sich auch der Name des Preises für den Sieger des Dichterwettbewerbs
her.joya defin aur (bzvt.joie d'or finf* — eben die genannte Goldene Blume.
Doch nicht genug mit dem Wettbewerb; das Konsistorium beschließt
ferner, akademische Grade zu verleihen. Es werden Prüfungsordnungen für
den Baccalaureus und den Doctor der Fröhlichen Wissenschaft erlassen39.
Von Anfang an gewinnt damit die sobregaya companhia einen quasi-offiziellen
Status. Daher zieht es der Kanzler vor, die Verantwortung für die Redaktion
der Leys cfamors nicht allein zu übernehmen. Er sucht und erhält den Rat
und zuletzt auch die gewünschte Approbation seines Textes durch einige
illustre Zeitgenossen, unter denen nur einer erwähnt werden soll, der
(namentlich nicht genannte) ,tres puissant et reverend Inquisiteur de la foi,
juge des crimes d'heresie et tres excellent maitre en theologie'40.
Die Kosten, folglich auch die Protektion und die Kontrolle über die
Veranstaltungen des Vereins übernimmt sehr früh schon die Stadt Toulouse.
Durch zwei Maßnahmen, durch die Statuten sowie durch die Aufsicht, ist
die Gefahr von Gesetzlosigkeiten der dichtenden und singenden Bürgerrunde
von Anfang an gebannt, die Gefahr der Verflachung nicht41.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wandelt sich das Fröhliche
Konsistorium zu einem College de lä Science et Art de Rhetoriquey später College
de poesie genannt. Die Sprache des nicht mehr fröhlichen Kollegs aber ist
die des Nordens42. — 1694 schließlich verfügt der allergnädigste König
eine neuerliche Aufwertung der traditionsreichen Einrichtung. Die neue
Academie des Jeux Floraux erhält eine angemessene Ausstattung und lebt
auch heute noch, oder wieder. In der Präambel der Gründungsurkunde
werden die Ursprünge einer regulären Schule der Poesie, genannt die
VI
43
Vgl. Gelis, a. a. O., S. 154; zu den vielfaltigten Parallelen und anfanglichen Rivalitäten von
Konsistorium und Universität vgl. Anglade: Lejs, Bd. 4, S. 33—37f
44
Dante Alighieri: De Vitlgari Eloquentia II 2: „illustres viros invenimus vulgariter poetasse,
scilicet Bertramum de Bornio arma, Arnaldum Danielem amorem, Gerardum de Bornello
rectitudinem".
45
Francesco Petrarca: Triumphm cupidinis IV S. 40^55.
46
Vgl. Mario Equicola: Libro di Natura d'Amore, Venezia, 1525. — An anderer Stelle, berichtet
derselbe Autor von einer früheren Reise nach Narbonne, die er.in der Begleitung seiner
Fürstin unternahm. Dort erwarb er Schriften mit provenzaHscher Dichtung, die er für sein
Buch über die Liebe benutzen konnte.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 191
*7 Les vies des plvs celebres et ändern poetes provensavx, qui ont floury du temps des Comtes de
Prottence, recueillies [...] par Jehan de nostre Dame Procureur en la Cour de Parlemerit de Prouencet
Lyon, 1575, Nouv. edition de C Chabaneau et J. Anglade, Paris, 1913 (ND Geneye,
1970).
48
Hierin ist sein Verhalten wohl gar nicht so ungewöhnlich für die Zeit und jedenfalls dem
der ,Keltomanen', die die Artus-Sagen in einer nostalgisch-stilisierten Version für die
Bretagne zu reklamieren versuchten, durchaus vergleichbar. Vgl. dazu bereits mit kritischem
Durchblick A. W. Schlegel: De forigine des Romans de Cbevalerie (1833/34), in: OSuvres de M.
Auguste-Guillaume de Schlegel, ecrites en Franfais, ed. E. Böcking, 2. Bd., Leipzig, 1846,
S. 251-306.
49
Vgl. Chabaneau/Anglade: „Introduction" zu Nostradamus, Vies, a.a.O., (98)—(113), zit.
(101).
192 Tilman Borschc
VII
50
Nicht nur die Encyclopaidie, deren Autoren mit dieser unaufgeklärten Zeit ohnedies nicht
viel anzufangen wußten, sondern auch noch die offiziöse Histoire litteraire de (a France aus
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts (Bde. 21—24) vertrauten Nostradamus und seinen
fragwürdigen Quellen; dagegen wurden schon bei Crescimbeni 1724 und Bastero 1724
Zweifel geäußert, die von Diez, Meyer und später dann auch von prove^aüschen Pro-
vengalisten systematisch überprüft und erhärtet wurden. Vgi. insbesondere die ausführliche
Einleitung von Chabaneau/Anglade zu Nostradamus: Vies, a. a. O,, (15)—(176).
51
Vgl. zum ganzen Komplex dieser Legende in aller Ausführlichkeit Gelis, a.a.O., S. 171 —
269.
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 193
52
Nostradamus: Vits, Proesme au Lecteut, a.a.O., S. 8.
53
Antonio Bastero: La Crusca Provence, Roma, 1724, zit. S. 20, 23, 88, 97. — Camproux
greift diese Bezeichnung auf. Er gliedert den ersten Teil seiner Historie de la litterature
occitane von 1971 in die vier Kapitel: „Les origines — Le siecle ou Tage d'or —
L'age de fer: le siecle - L'ere scolastique: XIVC et XVe siecles". Man sieht also,
Basteros etä d'oro erstreckt sich bis tief in die scholastische Periode des jüngeren Historikers!
54
So z.B. der Abbe Mülot in seinem Discours preliminaire zu der von ihm 1774 herausge-
gebenen Histoire Klteraire des Troubadours des La Curne de Saintc-Palaye, auf den auch
Herder als auf eine Quelle seiner provenzalischen Studien verweist.
194 Tilman Dorsche
55
Johann Gottfried Herder: Briefe %u Beförderung der Humanität^ Siebente Sammlung, 84. Brief,
Riga, 1796: SW, hg. B. Suphan, Bd. 18, 1883, S. 35; vgl. Ideen %ur Philosophie der Geschichte
der Menschheit IV, Buch 19, Kap. 5,3; und. Buch 20* Kap. 2,1. Der Kommentar zur neu
erschienenen kritischen Edition der Briefe von Hans Dietrich Irmscher gibt keine zusätz-
lichen Informationen; vgl. Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main,
1991, S. 1034 f.
56
Herder, a.a.O., 86. Brief, SW Bd. 18, S. 46. .
57
Herder, a. a. O., 85. Brief, S. 37. — Zu der Vision eines Zusammenhangs der Morgenröte
des europäischen Geistes und der Fröhlichen Wissenschaft der provenzalischen Dichtkunst
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 195
VIII
bemerkt der Historiker Marrou, a.a.O., S. 13: „Si Part des troubadours apparait comme
le printemps precoce de lOccident moderne, ce fut un printemps fragile et menace [...]
la bourgoisie toulousaine s'efforca en vain de pren«ke le relais de la veine chevaleresque
epuisee, par la fondation du Consistoire du Gai Savoir (1323) et ^Institution des Jeux
Floraux (1324), unissant la plus touchante bonne vplonte a la plus totale impuissance".
58
Gianni Vattimo schreibt in der Einleitung zu seiner italienischen Ausgabe der Fröhlichen
. Wissenschaft (La gaia jf/fÄ^-Torino, 1979, S. XXVIII): „La gala scien^a. Con questo termine
avevano indicato la propria arte poetica i trovatori provenzali del XIV secolo; Nietzsche
l'assunse come titolo del proprio libro probabilmente piü per il significato letterale
dell'espressione ehe per il suo significato storico". Bislang ist nichts bekannt, das gegen
diese Vermutung spräche.
59
Vgl. zu dieser Frage auch Mario Mancini: „La gaia scienza: da Stendhal a Nietzsche", in:
ders.: La gaia scienza dei trovatori^ Parma, 1984, S. 77—136. In diesem ebenso gelehrten wie
geistvollen Essay entdeckt Mancini eine erstaunliche Nähe im Ausdruck und Verwandtschaft
in der Absicht zwischen Nietzsches »großer Metapher' der Fröhlichen Wissenschaft und
Stendhals aus dem Geist der Galanterie des 18. Jahrhunderts inspirierter Vision der höfischen
Liebe des 12. Jahrhunderts. Denn nach Stendhal (bes. De famour, chap. LI) sei die »gaicte*
geradezu als ein .Leitmotiv* der ,civilta provenzale* zu verstehen (a. a. O., S. 101 f.). —
über den vielfältigen Aufweis der Wertschätzung Nietzsches für Stendhal hinaus (a. a. O.,
S. 112 ff.) werden allerdings keine historischen Bezüge zwischen beiden hergestellt.
196 Tilraan Borsdie
60
Dazu Neili, a.a.O., S. 169f. mit Belegen aus Arnaut de Mareuil, Vgl. auch die berühmt
gewordene Fern-Liebe des Jaufre Rudel,
Vom romantischen Traum einer Fröhlichen Wissenschaft 197
dieses Zitat von Goethe die dichterische Aneignung eines Satzes von Spinoza
über die göttliche Liebe61.
c. Die Fröhliche Wissenschaft der Liebe ist nicht jedermanns Sache; sie ist
eine Kunst, ein savoir-faire, das gelernt sein will. Erkennen — ertragen —
gewöhnen sind die notwendigen Vorstufen, durch welche allein der „Zwang
und Zauber" des geliebten Objekts Macht über uns gewinnen und uns zu
„demüthigen und entzückten Liebhaber[n]" machen kann, indem es „langsam
seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt"
(FW 334).
d. Die Fröhliche Wissenschaft der Liebe setzt Stärke voraus und ist ver-
schwenderisch. — Verschwenderische Großzügigkeit (largueza) galt so sehr
als ritterliche Kärdinaltugend, daß auch der Raub gerechtfertigt erschien,
um sie üben zu können62.
e. Die ritterlich-philosophische Liebe ist schließlich und vor allem schöp-
ferisch, ihr eignet die „Transfigurationskraft des Rausches".
Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt
in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie als größtes
Stimulans des Lebens, — Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch
darin, daß sie lügt ... Aber [...] sie thut mehr als bloß imaginiren, sie
verschiebt selbst die Werthe. [...] Der Liebende ist mehr werth, ist stärker.
[...] Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt
jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld [...]
Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes inte-
stinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig? ... Uart
pour Part vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in
ihrem Sumpfe desperieren ... Den ganzen Rest schuf die Liebe (KSA 13,
61
Philine spricht den Satz in Wilhelm Meisters Lehrjahre, IV 9. Goethe reflektiert über seine
Bedeutung und über seine Herkunft aus „jenem wunderlichen Wort [Spinozas]: ,Wer Gott
recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe*" in Dichtung und Wahrheit 14
(Gedenkausgabe, hg. Beutler, Bd. 10, S. 684); angespielt ist hier auf Spinoza, Ethica, pars
V, propositio XIX: „Qui Dcum amat, conari non potcst, ut Deus ipsum contra amet."
62
Vgi. z.B. Fauriel, a.a.O., Bd. l, S. 492-495 mit dem Bericht von einer entsprechenden
Antwort des Albert de Malaspina auf Vorwürfe von Raimbaut de Vaqueiras, die in einem
ienson (Streitgedicht) überliefert sind. — Für eine ausführliche Darstellung und Deutung
der largueza vgi. Kohler'(1962), S. 45-72.
198 Tilman Borsche