Sie sind auf Seite 1von 17

Allgemeine Krankheitszeichen 1211

Geberden. So abspringend und zusammenhanglos aber auch dieses


Treiben ist, setzt es sich doch immer aus Bruchstücken von Hand-
lungen zusammen, die in irgendeiner Beziehung zu Zweckvor-
stellungen oder Gemütsbewegungen stehen; es handelt sich um Aus-
drucksbewegungen, übermütige Scherze, Angriffe, Zeitvertreib, Lie-
beswerbungen u. dgl.

Fig. 212. Manische Kranke mit zahlreichen Zöpfchen.

Nur bei ganz schwerer Erregung können sich diese Beziehungen


bisweilen bis zur Unkenntlichkeit verwischen. Die Kranken rollen
die Augen, drehen den Kopf, wälzen sich am Boden, hüpfen, brüllen,
schlagen Purzelbäume, klopfen taktmäßig auf die Matratze, strampeln,
trommeln, zucken und zappeln, fletschen die Zähne, spucken und
beißen um sich. Die Bewegungen können dann unter Umständen
sehr einförmig und sinnlos sein und bisweilen ganz den Eindruck des
Kraepelin, Psychiatrie III. 8. Aufl. 35
1212 XI. Das manisch-depressive Irresein.

Zwangsmäßigen machen; eine Kranke gab mir an, sie müsse immer
mit Armen und Kopf eigentümliche Bewegungen ausführen und be-
stimmte Worte sagen: "Laissez moi-laissez-moi travailler"; eine

Fig. 213. Aufgeputzte manische Kranke.

andere erklärte, sie müsse immer mit der Faust an die Wand schlagen,
eine dritte, sie sei "auf Kommando" aus dem Bette gegangen.
Eine gewisse Vorstellung von dem manischen Treiben mögen
zunächst die Bilder 212 und 213 gewähren. Das erste zeigt eine
Kranke, die sich das Haar zum Scherz in eine Menge von kleinen
Allgemeine Krankheitszeichen. 1213

Zöpfchen geflochten hat; das zweite stellt eine Kranke dar, die sich
aus zerrissenen Kleidern, Tüchern und Wolldecken eine malerische
Tracht zusammengestellt hat und auf einem Pappdeckel eine An-

Fig. 214. Wechselnde Stellungen einer manischen Kranken.


zahl papierner Kunstwerke darreicht. Weiterhin gebe ich einige
Ausschnitte aus einer größeren Reihe von Weiler aufgenommener
Bilder wieder, die eine Kranke mit lebhaftem Geberdenspiel in
35*
1214 XI. Das manisch-depressive Irresein.

verschiedenen, eindrucksvollen, rasch einander abwechselnden


Stellungen zeigt (Fig. 214).
Außer der Erregung besteht bei unseren Kranken regelmäßig
auch eine Steigerung der Erregbarkeit. Vielleicht ist diese
sogar als die wesentliche Grunderscheinung zu betrachten. Oft sind
die Kranken ziemlich ruhig, solange man alle äußeren Reize nach
Möglichkeit abschließt; eine Anrede, ein Besuch, das Schreien der
Mitkranken führt aber ungemein leicht zu rasch wachsender Er-
regung. Je mehr man sie reden und gewähren läßt, desto stärker
pflegt der Betätigungsdrang zu werden, eine für die Behandlung
sehr wichtige Erfahrung.
Trotz der hochgradigsten motorischen Erregung, die bisweilen
Wochen, ja viele Monate lang mit geringen Unterbrechungen in
vollster Stärke fortdauert, fehlt dem Kranken das Ermüdungs-
gefühl vollständig. Er ist nicht matt und abgespannt; der Ver-
brauch des Muskelgewebes erzeugt keine Unlustempfindung, zum
Teil vielleicht wegen der früher besprochenen Abstumpfung seiner
Empfindlichkeit, namentlich aber wohl wegen der Leichtigkeit, mit
der die Auslösung seiner Handlungen vonstatten geht. Bei ihm
genügt schon der leiseste Antrieb, um ausgiebige Bewegungsäuße-
rungen hervorzurufen, während der Gesunde zur Erzielung des-
selben Erfolges eines unvergleichlich größeren Aufwandes von
zentraler Arbeitsleistung bedürfen würde. Darum muß auch jeder
Versuch der Nachahmung dieses Zustandes notwendig nach sehr
kurzer Zeit an der Unmöglichkeit scheitern, das lähmende Er-
müdungsgefühl durch die bloße Willensanstrengung zu überwinden.
Dieser Umstand wie die Rücksichtslosigkeit, mit der die Kranken
ihre Glieder gebrauchen, hat zu der verbreiteten, unrichtigen An-
schauung geführt, daß sie über außergewöhnliche Körperkräfte
verfügen. Im Gegenteil erweist sich die Leistungsfähigkeit der
Muskeln bei Ergographenversuchen regelmäßig erheblich herab-
gesetzt. Dagegen werden die Bewegungen schneller ausgeführt, als
bei Gesunden, namentlich dann, wenn sich eine Reihe derselben
aneinanderknüpft und die Kranken in rasch wachsende Erregung
geraten.
Der Umgebung gegenüber verhalten sich die Kranken sehr wech-
selnd. In der Regel sind sie beeinflußbar, zugänglich, oft zudring-
lich, erotisch. Zeitweise werden sie gereizt, drohend und gewalt-
Allgemeine Krankheitszeichen. 1215

tätig, sind aber auch dann durch freundliches oder scherzhaftes


Zureden meist rasch zu besänftigen. Manche Kranke sind ab-
lehnend, schnippisch, kurz angebunden, unzugänglich; hier und da
beobachtet man wächserne Biegsamkeit und Echolalie oder Echo-
praxie.
Eine Teilerscheinung des allgemeinen Betätigungsdranges ist der
oft sehr ausgeprägte Rededrangder Kranken. Auch die Umsetzung
von Wortvorstellungen in Sprachbewegungen ist krankhaft er-
leichtert. Isserlin konnte nachweisen, daß die Zahl der in einer
Minute gesprochenen Silben bei einer manischen Kranken 180-200
betrug, während die gesunden Vergleichspersonen nicht mehr als
122-150 lieferten. Wie wir schon früher ausgeführt haben, dürfte
gerade dieser Umstand bei der besonderen Gestaltung der manischen
Ideenflucht eine gewisse Rolle spielen. Die leicht angeregten Sprach-
bewegungsvorstellungen gewinnen einen unverhältnismäßig star-
ken Einfluß auf den Ablauf des Gedankenganges, während die
inhaltlichen Beziehungen der Vorstellungen mehr in den Hinter-
grund treten. So kommt es, daß in den höheren Graden der Ideen-
flucht, ganz wie unter dem Einflusse des Alkohols, an die Stelle
des sachlichen Bandes der Vorstellungen mehr und mehr sprach-
lich eingelernte Redensarten, Wortzusammensetzungen, Anklänge
und Reime treten. Namentlich gewinnen, wie schon aus dem oben
mitgeteilten Beispiele erkennbar, mehr und mehr die reinen Klang-
assoziationen die Oberhand, bei denen jede Spur einer inneren
Beziehung der Vorstellungen verschwunden ist, die Gleichklänge
und Reime, sogar ganz sinnlose. Welchen Umfang die Störung
gewinnen kann, lehrt die Figur 215 , in der nach Aschaffenburgs
Untersuchungen der Prozentsatz der Klangassoziationen bei je 5 Ge-
sunden und manischen Kranken wiedergegeben ist. Die Zahlen
für die Gesunden schwanken hier zwischen 2 und 4%; sie können
übrigens bei besonderer persönlicher Veranlagung auch einmal er-
heblich höher werden. Dagegen erreichen sie niemals die bei den
manischen Kranken erhobenen Werte, die hier von 32-100%
hinaufgehen. Eine Kranke schrieb auf ein Blatt: Nelke - welke -
Helge - Hilde - Tilde - Milde - Hand -Wand - Sand.
In den sprachlichen Äußerungen des Kranken macht sich
die Ideenflucht und der Rededrang gleichzeitig geltend. Er kann
nicht lange stillschweigen, schwatzt und schreit mit erhobener
1216 XI. Das manisch-depressive Irresein.

Stimme, lärmt, brüllt, johlt, pfeift, überstürzt sich im Reden, reiht


zusammenhangslose Sätze, Worte, Silben aneinander, mengt ver-
schiedene Sprachen durcheinander, predigt mit feierlicher Betonung
und leidenschaftlichen Gebärden, vom Hochtrabenden ganz unver-
mittelt ins Humoristisch-Gemütliche, Drohende, Weinerliche, Un-
flätige verfallend oder plötzlich in ausgelassenem Lachen endigend.
Bisweilen kommt es zu lispelnder oder eigentümlich verschnörkelter,
gezierter Sprechweise, auch wohl zum Reden in selbsterfundenen
Sprachen, die zum Teil aus sinnlosen Silben, zum Teil aus fremd-
ländisch zurechtgestutzten und verstümmelten Wörtern bestehen.
Dazwischen schieben sich Zitate, Wortspielereien, poetische Wen-

-- Gesunde Manische Kranke


Fig. 215. Häufigkeit der Klangassoziationen
bei Gesunden und manischen Kranken.
dungen, kräftige Schimpfworte. Manche Kranke sprechen wie Kin-
der, im Telegrammstil, in Infinitiven. Eine Probe manischer Reden
gibt die folgende Nachschrift:
"Notieren Sie genau, es scheint mir alles so grau; die Uhr (wurde der
Kranken vorgehalten) bedeutet den Kreislauf der Zeit; Herr N. hat einen
Chronometer bereit. Mein Magen tut mir weh, immer hipp, hipp, hurrah!
Der Geibel ist der Dichter, der Genius der Zeit gewesen, été, der Sommer
muß kommen, die Bäume schlagen aus, und du bist nicht zu Haus. Rös-
lein, so hold am Haag, mich doch niemand holen mag. Les extremes se tou-
chent; Zeiten fliehen so manches Jahr, mich doch niemand holen mag,
(Zur Wärterin) Du Luder, du unverschämtes Saumensch, kannst du darüber
lachen, daß die guter Hoffnung ist, von Rose gesprochen, drum bist du Esel
so grau. Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Stern, Blume so gern. Der
Großherzog soll leben hoch, Leberecht Hühnchen" usw.
Allgemeine Krankheitszeichen. 1217

Die Zusammenhangslosigkeit ist hier keineswegs durch einen


sprudelnden Reichtum an Gedanken, sondern durch die mangelnde
Ausbildung richtunggebender Zielvorstellungen bedingt. Auch der
Gesunde kann ganz ähnliche Reihen liefern, wenn er seinem Den-
ken die Zügel schießen läßt und wahllos alles ausspricht, was ihm
in den Sinn kommt. Immerhin scheint bei Gesunden, wie die
Untersuchungen S t r a n s k y s gelehrt haben, wohl infolge des un-
willkürlichen Haftens von Zielvorstellungen und der dadurch be-
dingten geringeren Ablenkbarkeit, die Mannigfaltigkeit der zu-
fließenden Einfälle erheblich geringer zu sein; an ihre Stelle treten
mehr Aufzählungen sowie Abwandlungen und Wiederholungen der-
selben Gedanken. Auch die Kranken bringen öfters Aufzählungen;
eine Kranke rief aus: "Straubing, Osterhofen, Vilshofen, Passau"
und später: "Leben, Licht, Tod, Hölle, Ewigkeit".
In der Regel werden die Reden der Kranken durch äußere Ein-
wirkungen erheblich beeinflußt. Sie flechten gehörte Worte ein,
knüpfen an zufällige Eindrücke an, machen sie zum Ausgangs-
punkt ideenflüchtig fortgesponnener Äußerungen. Bisweilen aber
weichen sie in scherzhafter Weise den von außen gegebenen Anregun-
gen geradezu aus, bringen auf jede Frage nur ein Lachen vor,
wiederholen sie neckend, geben absichtlich falsche oder witzig ab-
lehnende Antworten. Eine Kranke erwiderte auf alle Anreden unter
ausgelassenem Lachen immer nur "Nixen" (nichts); eine andere
antwortete auf die Frage nach ihrem Alter: "Bin gar nicht ge-
boren", auf die Rechenaufgabe 7 x 7: "man zählt nicht mehr;
man wägt; man mißt." Endlich aber kommt es auch vor, daß die
Kranken nicht nur von selbst einzelne Worte und unvollkommene
Sätze ohne Zusammenhang aneinanderreihen, sondern daß sie auch
auf die an sie gerichteten Fragen inhaltlich gar nicht eingehen,
vielmehr völlig beziehungslose, unsinnige Äußerungen vorbringen.
Manche Kranke bleiben stumm, verständigen sich aber mit der
Umgebung durch eine sehr ausdrucksvolle, launige Geberdensprache.
In den Schriftstücken der Kranken zeigt sich die Neigung,
Fremdwörter zu gebrauchen, verschiedene Sprachen durcheinander-
zuwerfen. Der Einfluß des Sprachklanges auf die Folge der Vor-
stellungen ist hier aus naheliegenden Gründen weit geringer, als
beim Sprechen, namentlich bei Kranken, deren innere Sprache sich
nicht ganz vorzugsweise in Sprachantrieben oder Klangbildern ab-
1218 XI. Das manisch-depressive Irresein.

spielt. Dafür kommt es dann oft zu den von A s c h a f f e n b u r g


genauer geschilderten Aufzählungen gleichartiger Vorstellungen, in-
dem die Assoziation nach äußerer Ähnlichkeit oder nach Koexistenz
an die Stelle des fortschreitenden Gedankenganges tritt. Die Ab-
Ienkbarkeit und Erregbarkeitssteigerung pflegt sich in dem Um-
stande kundzugeben, daß die ersten Worte oder Zeilen meist ganz
zusammenhängend geschrieben sind, während sich der weitere In-
halt in eine wirre Folge von Aufzählungen, Reminiszenzen, Vers-
bruchstücken, Anklängen und Reimen auflöst. Solche Entgleisungen
enthält das folgende Bruchstück eines Beileidschreibens:
"Ach! gnädigste Frau! Komm' ich auch spät zu Ihnen, meine innigste,
wirklich aus meinem Herzen fließende Teilnahme zu dem Heimgange à
Fidelio Ihres teuren Florestan auszudrücken - niemals kommt man dann
zu spät, wenn man sich frägt: Ach, wie ist's denn möglich wohl, daß mir
so viele Schmerzen Dein Tod, Du treuer, lieber Seladon und Romeo Mir,
Deiner einzigen ach! der teuren Gattin naht die... J a die Tränen! ecc.
Pamela Questenberg Neumann Gordon à la Vitzthum Magdalenao Terzky
Struve Carola auch Du Graf von Lula o Leonore o Sollschwitz o Gitschin
Generalmajor von Schmieden aussi bientot Hauptmann qu'est que la par-
donnez..."

Hier begegnet uns zunächst die Reihe Fidelio-Florestan-Seladon-


Romeo, die den ursprünglichen Gedankengang unterbricht, sodann
die wohl durch die Wendung "spät komm ich" ausgelöste
Reihe Questenberg-Neumann-Gordon-Terzky, an die sich eine An-
zahl anderer Namen anschließen. Zum Schlusse erfolgt die Ab-
schwenkung ins Französische, der sich im weiteren Verlaufe des
Briefes noch englische, lateinische und griechische Bruchstücke und
eine Reihe von klingenden Versen anschlossen.
Die Schriftzüge der Kranken können im Beginne völlig tadellos
und regelmäßig sein. Infolge der Erregbarkeit pflegen sie jedoch
allmählich immer größer, anspruchsvoller und unregelmäßiger zu
werden. Sie nehmen keine Rücksicht mehr auf den Leser, laufen
durcheinander, werden verschmiert; die Unterstreichungen, Aus-
rufungszeichen, kühnen Schnörkeleien nehmen zu. Alle diese Stö-
rungen, die inhaltlichen wie die formalen, treten an der beigegebenen
Schriftprobe 35in ausgezeichneter Weise hervor. Die Menge der von
manischen Kranken erzeugten Schriftstücke ist bisweilen eine er-
staunliche; freilich rechnen sie selbst nicht darauf, daß sie gelesen
werden; nur das Vergnügen des Schreibens selbst ist der Beweggrund.
Allgemeine Krankheitszeichen. 1219

In den Depressionszuständen tritt anStelle des Betätigungsdranges


gewöhnlich sein völliges Gegenstück, die Willenshemmung. Die Aus-
lösung von Handlungen ist hier erschwert, selbst bis zur Unmöglich-

Schriftprobe 35. Manie.


keit. Die leichteren Grade der Störung zeigen sich in der E n t s c h l u ß -
unfähigkeit der Kranken. Die auftauchenden Antriebe gewinnen
nicht die Macht, die entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden;
1220 XI. Das manisch-depressive Irresein.

trotz der klaren Erkenntnis der Notwendigkeit, obgleich alle wirklichen


Gegengründe oder Bedenken fehlen, vermag sich der Kranke doch
nicht zu den einfachsten Handlungen aufzuraffen. Er "hat keinen
Willen mehr", "weiß nicht, wie er alles machen soll", muß immer
um Rat fragen, was er tun soll, kann nichts mehr recht machen,
da er niemals die Sicherheit hat, daß es das Richtige ist; ein Kranker
meinte: "Ich bin ein schwacher Mensch, der nicht weiß, was er
will." Auch die endlich nach vielem Zögern begonnene Tätigkeit
bleibt jeden Augenblick stecken, da ihr der Nachdruck des kräftigen
Entschlusses fehlt. Der Kranke bringt nichts mehr fertig; macht alles
verkehrt, kommt trotz aller Arbeit, die er mit allergrößter Anstrengung
verrichtet, doch nicht weiter; er hat keinen rechten Trieb; die
Schwere lastet auf ihm. Eine Kranke berichtete, sie habe sich
früh angezogen, wenn sie ausgehen wollte, und war nachmittags
doch noch zu Hause. Alle einzelnen Bewegungen, soweit sie einen
Willensantrieb erfordern, sind mehr oder weniger verlangsamt und
geschehen ohne Kraft; Hände und Füße gehorchen nicht mehr.
Der Kranke kann nichts mehr anfassen und halten; bleischwer liegt
es auf Mund und Zunge. Die Körperhaltung ist schlaff, müde,
das Benehmen unfrei und gebunden, der Gesichtsausdruck starr
und unbeweglich. In den Ergographenkurven konnten Gregor und
H änse1 ein plötzliches, frühes Sinken der Hubhöhen feststellen, an
das sich niedrige, gestreckte Kurven anschlossen, ein Zeichen für
rasches Versagen der Willensantriebe bei erhaltener Leistungsfähig-
keit der Muskeln. Äußere Einwirkung und namentlich gemütliche Er-
regung kann die Hemmung verringern. Unter stetem Zureden oder in
der Gefahr vermag der Kranke noch Leistungen zu vollbringen, die
ihm sonst unmöglich sind. Auf Nadelstiche erfolgt oft gar keine Ab-
wehrbewegung oder nur beim Treffen sehr empfindlicher Stellen;
wächserne Biegsamkeit und Echoerscheinungen sind nicht selten.
Bei den schwersten, stuporösen Formen kann jede Willens-
äußerung des Kranken aufgehoben sein, so daß er nur liegen
und kaum die Augen zu öffnen vermag. Er ist außerstande, die
Zunge zu zeigen, die Mahlzeiten einzunehmen, die Hand zu geben
oder gar das Bett zu verlassen und seine Bedürfnisse zu verrichten.
Obgleich er die an ihn gerichteten Aufforderungen vielleicht gut
versteht, erfolgen doch höchstens einige schwache, zitternde An-
sätze zu den verlangten Bewegungen. Unbequeme Stellungen be-
Allgemeine Krankheitszeichen. 1221

hält der Kranke bei, weil er nicht die Möglichkeit findet, sich besser
zurechtzulegen; Gegenstände, die man ihm der Reihe nach in die
Hand gibt, sucht er krampfhaft alle festzuhalten, da er unfähig ist,
sich ihrer wieder zu entledigen.
Sehr deutlich tritt die schwere Behinderung schon ganz einfacher
Willenshandlungen in der beigefügten Kurve Fig. 216 einer Reaktions-
bewegung hervor, die Isserlin von einer deprimierten Kranken ge-
wonnen hat. Sie ist unmittelbar den früher mitgeteilten Kurven
von Gesunden und Katatonikern zu vergleichen und zeigt ohne
weiteres die überaus langsame Beugung und Streckung des Fingers
wie die geringe Ausgiebigkeit der Bewegung.
Die Willenshemmung pflegt von den Kranken überaus peinlich
empfunden zu werden. Das Gefühl der "Insuffizienz", der Unfähig-
keit, stellt sich vielfach schon ein, wo die äußere Beobachtung von

Fig. 216. Einfache Beug- und Streckbewegung des Fingers


bei einer gehemmten Kranken.

einer Erschwerung der Willenshandlungen noch gar nichts erkennen


läßt. Offenbar vermögen die Kranken die innere Behinderung zu-
nächst noch durch erhöhte Willensanstrengung einigermaßen wieder
auszugleichen. Sehr gewöhnlich wird das Nachlassen der Leistungen
von den Kranken im Sinne der sittlichen Verschuldung verarbeitet.
Sie machen sich die bittersten Vorwürfe über ihre Untätigkeit,
wollen nicht im Bett bleiben, um nicht für faul zu gelten. Manche
Kranke entwickeln geradezu eine krampfhafte Arbeitswut, gönnen
sich keine Rast und keine Ruhe, um diesen Selbstvorwürfen zu
begegnen; "man mußte ihm die Schaufel aus der Hand nehmen,
weil er sonst nicht aufhörte", berichteten die Angehörigen eines
Kranken. Möglicherweise spielt jedoch in solchen Fällen eine psycho-
motorische Erregung mit.
Die Erschwerung der Willensauslösung führt naturgemäß zu
einer mehr oder weniger erheblichen Einschränkung des Handelns.
Wenn auch das Notwendigste zunächst noch geleistet wird, unter-
1222 XI. Das manisch-depressive Irresein.

bleibt doch jede freiwillige Tätigkeit. Die Kranken verzichten auf


Liebhabereien und Ehrenämter, ziehen sich vom Verkehr zurück,
haben dauernd das Bedürfnis, sich auszuruhen. Weiterhin vernach-
lässigen sie ihre Körperpflege, lassen sich verwahrlosen; schließ-
lich geben sie jede Tätigkeit auf und nehmen ihre Zuflucht zum
Bett, in dem sie regungslos liegen bleiben, unter Umständen sogar
unter sich gehen lassen. Praktisch wichtig ist der Umstand, daß
die Entschlußunfähigkeit der Kranken wenigstens auf der Höhe
des Leidens die Selbstmordgefahr einigermaßen herabmindert. Ob-
gleich sie den lebhaften Wunsch hegen, ihrem Leben ein Ende zu
machen, haben sie doch nicht die Kraft, dieses Vorhaben auszu-
führen. Einer meiner Kranken stand bereits im Wasser, hatte aber
nicht "den Mut", vollends hineinzuspringen.
Die einzelnen Gebiete der Willensäußerungen können durch die
Willenshemmung in sehr verschiedenem Grade beeinflußt werden.
Da in erster Linie die Auslösung von Willensentschlüssen
erschwert zu sein scheint, gehen solche Handlungen, die sich
rein gewohnheitsmäßig, ohne besonderes Eingreifen der Willkür
abspielen, oft noch ungehindert vonstatten, während sich die Hem-
mung auf anderen Gebieten sehr stark geltend macht. Die Kranken
vermögen sich ohne Schwierigkeit anzukleiden, zu beschäftigen,
während sie doch außerstande sind, irgend einen selbständigen Ent-
schluß zu fassen; sie erledigen vielleicht noch ohne besondere
Schwierigkeit glatt und gewohnheitsmäßig ihre Tagesgeschäfte,
schrecken aber vor jedem neuen Unternehmen, vor jeder besonderen
Verantwortung zurück.
Die Ausdrucksbewegungen , soweit sie seelische Regungen
wiedergeben sollen, pflegen durch die Hemmung besonders stark
betroffen zu werden; auch die mimischen Gebärden und die
Bewegungen büßen gewöhnlich an Lebhaftigkeit ein. Die Kran-
ken sprechen leise, langsam, zögernd, eintönig, bisweilen stot-
ternd, flüsternd, setzen mehrmals an, bevor sie ein Wort her-
ausbringen, verstummen im Satze. Sie werden still, einsilbig,
können sich nicht mehr unterhalten, obgleich sie mit gewöhnlicher
Geschwindigkeit zu zählen oder vorzulesen vermögen; manchmal
sprechen sie aus eigenem Antriebe kein Wort, geben aber auf
Fragen geläufig Auskunft, oder sie sprechen im Flüstertone, aber
heftig, mit lebhaften Gebärden. Pfersdorff hat darauf aufmerk-
Allgemeine Krankheitszeichen. 1223

sam gemacht, daß manche Kranke beim Buchstabieren grobe Fehler


begehen, Auslassungen, Verdoppelungen, Verwechselungen von
Buchstaben; dabei 1äßt sich bisweilen erkennen, daß assoziierte
Klangbilder die Auffassung des Gesichtsbildes beeinflussen (k statt
a oder h). Das Abschreiben geht unter Umständen ungehindert
vonstatten, während die Kranken stundenlang vor einem ange-
fangenen Briefe sitzen, ohne ihn zu Ende zu führen. Die Störung
erstreckt sich indessen auf Sprache und Schrift durchaus nicht
immer in gleichem Maße. Es gibt Kranke, die ganz geläufig reden,
aber kaum einige Zeilen fertig bringen, und umgekehrt schreiben
andere lange, leidenschaftliche Briefe, während sie verstummen,
sobald man sich mit ihnen unterhalten will.
An die Stelle der Willenshemmung tritt nicht ganz selten die
ängstliche Erregung. Die Kranken zeigen eine mehr oder weniger
lebhafte Unruhe, können nicht stillsitzen, bleiben nicht im Bette,
laufen herum, verkriechen sich, suchen zu entfliehen. Sie wim-
mern, stöhnen, ächzen, schreien, ringen die Hände, raufen sich die
Haare, schlagen sich an den Kopf, zerzupfen und zerkratzen sich,
klammern sich an, beten, knien, rutschen auf dem Boden herum,
bitten um Gnade, um Verzeihung. In schweren Fällen kommt es zu
sinnlosem Schreien, Jammern, Kreischen, Herumwälzen, Fuchteln,
Schnappen, drehenden, zuckenden Bewegungen der Hände und des
Rumpfes, Reiben und Schlottern. Vielfach macht sich einförmige,
rhythmische Wiederholung bemerkbar.
Specht, Thalbitzer und auch Dreyfus sind geneigt, derartige
ängstliche Erregungen unter dem Gesichtspunkte der Mischzustände
zu deuten; es soll sich hier um eine Verbindung von Depression mit
dem manischen Krankheitszeichen der Willenserregung handeln.
Demgegenüber haben Westph al und K ö l p i n darauf hingewiesen,
daß die Erregung einen unmittelbaren Ausfluß der Angst darstelle und
somit nicht als ein manischer Bestandteil des Krankheitsbildes ange-
sehen werden könne. Darauf läßt sich erwidern, daß die Angst an sich
ebensowohl Hemmung wie Erregung des Willens erzeugen kann; es
wäre daher möglich, daß die Umsetzung der inneren Spannung, wie wir
sie bei manchen depressiven Stuporzuständen antreffen, in ängstliche
Erregung durch das Einsetzen einer Willenserregung im Sinne der
Manie erleichtert oder erst bedingt werde. Es erscheint mir jedoch
mißlich, mit so einfachen Vorstellungen an die gewiß sehr verwickel-
1224 XI. Das manisch-depressive Irresein.

ten Verhältnisse heranzutreten. Wir werden späterhin Erfahrungen


kennen lernen, die dafür sprechen, daß die besondere ängstliche
Färbung der Depressionszustände, die von denen der manischen
Zustände völlig abweicht, in einer gewissen Beziehung zumLebens-
alter steht, ein Umstand, den allerdings S p e c h t gerade in seinem
Sinne verwertet hat. Ich halte es jedoch vorderhand für sehr zweifel-
haft, ob diejenige ängstliche Erregung, die sich lediglich in der
Form von Ausdrucksbewegungen abspielt, seien sie auch sehr hef-
tiger und unsinniger Art, schon ohne weiteres als Mischung von
ängstlicher Stimmung mit manischem Betätigungsdrang aufgefaßt
werden darf. Auf der anderen Seite gibt es aber, wie wir später sehen
werden, zweifellos Zustände, die in diesem Sinne zu deuten sind, und
es ist zuzugeben, daß unter Umständen die Unterscheidung schwierig
sein wird, ja daß vielleicht auch Übergangsformen zur Beobachtung
kommen.
Einen guten Einblick in die Eigentümlichkeiten der psychomoto-
rischen Störungen beim manisch-depressiven Irresein dürfte die beilie-
gende Kurventafel Figur 217 gewähren. Sie stellt die Druckschwan-
kungen beim Schreiben der 1 und der 10 aus einer fortlaufenden
Zahlenreihe vor, wie sie mit Hilfe der Schriftwage gewonnen werden.
Die Abstände auf den wagerechten Linien geben einen Begriff von
der während des Schreibens verflossenen Zeit; die Höhe der Kurven
dagegen stellt in vergrößertem Maßstabe den in jedem Augenblicke
auf die Schreibunterlage ausgeübten Druck dar. Unter den einzelnen
Kurven befinden sich getreue Nachbildungen der Schriftzüge selbst,
die bei den Versuchen geliefert wurden. Fig. A stammt von einer
gesunden Wärterin. Man erkennt bei der ersten, noch besser bei
der zweiten 1 das Nachlassen des Druckes während der Umkehr der
Schreibbewegung sowie das Ansteigen im Grundstriche; auch in
der o entspricht der Umbiegung eine kleine Druckschwankung. Die
Zacken am Schlusse der Kurven entstehen durch Nachschwingungen
der Feder bei raschem Absetzen des Stiftes.
Fig. C wurde von einer manischen Kranken geliefert. Die
psychomotorische Erregung tritt hier schon in den mächtigen, an-
spruchsvollen Schriftzeichen hervor. Der Druck ist erheblich ge-
steigert, ebenso die Schreibgeschwindigkeit, wenn wir die verschie-
dene Länge des zurückgelegten Schreibweges berücksichtigen. In
der zweiten 1 sind sowohl Druck wie Geschwindigkeit sehr bedeu-
Allgemeine Krankheitszeichen. 1225

Fig. 217.
Schriftdruckkurven beim manisch-depressiven Irresein.
1226 XI. Das manisch-depressive Irresein.

tend gestiegen, eine Erscheinung, die sich auch bei Gesunden überall
findet, nur in ungleich schwächerer Ausprägung. Da sie uns die
wachsende Erleichterung der Leistung während der Arbeit anzeigt,
darf sie als Ausdruck der gesteigerten psychomotorischen Erregbar-
keit angesehen werden. Die im Laufe des Schreibens rasch zuneh-
mende Ausgiebigkeit der Nachschwingungen deutet auf die größere
Plötzlichkeit der Druckschwankungen bei den heftigen Schreib-
bewegungen hin.
Ein vollkommen anderes Bild bietet die Fig. B dar, die von
einer Kranken im Depressionszustande gewonnen wurde. Die
Schriftzüge sind auffallend klein; trotzdem nahmen sie erheblich
längere Zeit in Anspruch, als Fig. A, waren also stark verlangsamt.
Zugleich ist der Druck außerordentlich niedrig; er beträgt noch
nicht 50 g und zeigt sehr wenig ausgeprägte Schwankungen. Nach-
Schwingungen fehlen; der Schreibdruck hörte also nicht plötzlich,
sondern ganz allmählich auf. Auch hier ist übrigens eine geringe
Zunahme der Geschwindigkeit bei der zweite 1 nachzuweisen.
Zwischen ihr und der folgenden o liegt eine unverhältnismäßig lange
Pause. Fanden wir demnach bei der manischen Kranken heftige,
sehr beschleunigte Bewegungen mit rascher, erheblicher Zunahme
der Erregbarkeit so begegnet uns hier zögerndes Ein- und Aus-
schleichen, geringer Nachdruck und bedeutende Verlangsamung
des Schreibens, Zeichen, die in klarer Weise auf das Bestehen einer
psychomotorischen Hemmung hindeuten.
Allein die beiden, hier auseinandergehaltenen Zustände des
Werkzeuges unseres Willens sind schwerlich solche Gegensätze,
wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir sehen sie wenigstens
im Verlaufe der Krankheit häufig genug unvermittelt ineinander
übergehen. Hemmung und Erleichterung der Willensantriebe
können demnach nur nahe verwandte Erscheinungsformen einer
gemeinsamen Grundstörung sein. Noch deutlicher wird das, wenn
wir sehen, daß sich die Zeichen der beiden krankhaften Veränderun-
gen gar nicht selten m i t e i n a n d e r mischen. Die besonderen kli-
nischen Gestaltungen dieser Mischung werden wir späterhin genauer
ins Auge zu fassen haben. Hier möchte ich nur auf die Fig. D der
Kurventafel hinweisen. Sie wurde von der gleichen Kranken ge-
schrieben wie Fig. C; nur befand sich jene damals in einem Zu-
stande, in dem während einer schweren Manie einige Tage lang der
Allgemeine Krankheitszeichen. 1227

Betätigungsdrang vollständig geschwunden war. Die Druckkurve


der Schrift zeigt uns bei kleiner gewordenen Schriftzügen eine ge-
ringe Abnahme des Druckes, langsames Ansteigen und Erlöschen
desselben und sehr erhebliche Verlangsamung des Schreibens, also
eine höchst eigenartige Mischung der Veränderungen, die wir oben
bei der manischen Erregung und bei der Hemmung kennen gelernt
haben.
Allerdings finden wir so ausgeprägte Veränderungen der Druck-
linien beim Schreiben durchaus nicht überall. Insbesondere haben
die bisher in etwas größerem Umfange bei Depressionszuständen
durchgeführten Untersuchungen gelehrt, daß wir hier die mannig-
fachsten Abstufungen von den Formen der Fig. B zu annähernd
normalen Gestaltungen vorfinden. Kraft, Schnelligkeit und Aus-
giebigkeit der Schreibbewegung kann wesentlich ungestört sein,
während die Kranken sonst die Zeichen einer Willenshemmung
deutlich darbieten. Es muß zur Zeit unentschieden gelassen wer-
den, ob die schwereren Schreibstörungen besonders gekennzeichneten
Zuständen eigentümlich, ob sie von dem Inhalte des Geschriebenen
oder von der größeren oder geringeren Bedeutung der Willkür-
antriebe für den Ablauf der Schreibbewegung bei den einzelnen
Personen abhängig sind.
Die Anfälle des manisch-depressiven Irreseins sind regelmäßig auch
von allerlei körperlichen Veränderungen begleitet. Bei weitem
am auffallendsten sind die Störungen des Schlafes und des allge-
meinen Ernährungszustandes. In der Manie ist der Schlaf bei
stärkerer Erregung stets erheblich beeinträchtigt; bisweilen besteht so-
gar fast völlige, höchstens auf wenige Stunden unterbrochene Schlaf-
losigkeit, die Wochen, selbst Monate andauern kann. Auch in den
leichteren Erregungszuständen kommen die Kranken spät zur Ruhe
und sind schon sehr früh wieder munter, scheinen aber außerordent-
lich tief zu schlafen. In den Depressionszuständen ist der Schlaf
trotz starken Schlafbedürfnisses meist empfindlich beeinträchtig;
die Kranken liegen stundenlang, von peinigenden Vorstellungen ge-
quält, schlaflos im Bette, um nach wirren, ängstlichen Träumen
am anderen Morgen mit wüstem Kopfe, abgeschlagen und ermattet
zu erwachen. Sie stehen meist sehr spät auf, bleiben auch wohl
tage- oder wochenlang ganz liegen, obgleich sie auch im Bette
keine Erholung finden.
Kraepelin, Psychiatrie III. 8. Aufl. 36

Das könnte Ihnen auch gefallen