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Nrcorr ScuwrNor

Was ist das polyphone deutsche Lied?


Versuch einer Positionsbestimmung

ontologische Erkundungen, Fragen nach dem wesen einer sache sind. immer ge-
fährlich, ja sie sind immer auch vermessen. Auch die Frage
,,was ist das d.eutsche
polyphone Lied?" ist es. Die Hybris kann auch der abschwlchend,e zusatz,,versuch
einer Positionsbestimmung" nicht tilgen. \7enn ein solcher versuch hier doch
unternommen werden soll, dann auch im Sinne einer Danksagung an die Veran-
stalter, dass sie dem Phänomen des spätmittelalterlichen und Reäaislance-Liedes ein
gedankliches und klingendes Forum geboten haben. Das ist durchaus nicht selbsr-
verständlich. Denn das Thema ,,deutschsprachiges Lied des 15. und 16,
Jahrhun-
derts" ist ein problematisches - schon allein durch die Bedeutungsschichten, die
ihm durch seine Rezeption angelagert wurden. und insofern ist dä, was aus dem
Lied geworden ist, indem man sich mit ihm beschäftigte, auch ein Teil dessen, was
das Lied letztlich ist: ein literarisch-musikalischer Gaitungskomplex, d.er in wech-
selnden Konstellationen auch kulturpolitischen Zwecken rl di.,rär, hrtr..
Diese vereinnahmung, die prinzipiell jeder Musik widerfahren kann, aber nicht
jeder tatsächlich widerfährt, zeichnete sich beim Lied schon sehr früh
ab. Bereits zu
Beginn des 16. Jahrhunderts errvies es sich als durchaus taugliches Instrument in der
anhaltend und auf vielen Feldern gefiihrten Diskussion Ä.r deutschen Nations-
bildung und einer Herausbildung .i.r.r deutschen Nationsbewussrseins.l Den An-
fang setzte Kaiser Maximilian I., indem er es lttrderte, dass seine Haus- und Hof-
komponisten Heinrich Isaac und Paul Hofhaimer, später auch Adam Rener und
Ludwig senfl kunswolle Lieder komponierten, die sich am frankoflämischen stil
und Anspruch orientierten. Mit diesem stil galt es auf eine Augenhöhe zu kom-
men' um die Lieder dann in ein zukunftsorieniiertes nationales PÄgramm zu integ-
li:r:lr zu dess-en Eckpfeilern technologische überlegenheit geh<;ite. sie wurdÄ
folglich - wie ftir Maximilia,ns Kulturkonzept charakäristisch"- in exemplarischen
Sammlungen gedruckt, wofür das 1512 erichienene Liederbuch des Äg.brr.g.,
Druckers Erhart öglin ein Kronzeuge ist.
Dem hochgespannren Kunstprogramm folgte die verbreiterung zwar mit einer
gewissen ve^rzögerung, ab_er dafür um so pointierrer. In der person" Georg Forsters
und seinen funf Liedkollektionen kristallisiert sich das Moment des um eine Facette
ergänzten Identifikationsmediums Lied: In programmatischen vorworten 1539
und 1540 differenziert Forster seine Sammlu^g.., ir die Dichotomie des kunswollen

vgl. dazu auch Nicole schwindt, \Yahrnehmung des Fremden und Konstruktion des Eigenen im
deutschen poll,phonen Lied, in: Detlef Altenburg (ürsg.), Mwib und kulrurelle ldzntität. Bericht über
d:: Internationalen Kongress der Gesell"sJaiifiii Musikforschung, rveimar, 16.-21.
Y!!.
2004,Kassel u. a. (Druck in Vorbereitung).
september
222 Nicole Sch,,vindt

Liedes der ma-ximilianischen Tradition (für die ,,so auff dem gesang ein verstandt
haben") auf der einen Seite und das schlichte, mit ,,einfeltig lieblichkeit" auf ,,Lie-
derische art"2 gemachte Lied (ftir die ,gemeinen teutsche[n] Singer",3 die er in der
Bürgerschaft ortete) auf der anderen Seite. Die Schnittmenge aus beidem ergibt
einen autoritativen Traditionsbestand. Die Ausdehnung des sozialen Radius von
den ,,dapffern [d. h. kunswollen]" auf die ,,schlechten [d. h. schlichten] singer"4 war
die notwendige Bedingung für einen die ganze, in den Reformationswirren so sehr
nach einem Identifikationsmoment lechzende natio. Die Gattung erfuhr zu dieser
Zeit (genau genommen seit 1536 im besonders patriotischen Elsass5) und im Kon-
text dieses prononciert nationalen Diskurses eine terminologische Markierung, wie
sie ihresgleichen sucht. Das - auch von Forster - so oft bemühte \7ort ,,teutsch"
wird Element einer festen Gattungsbezeichnung, so dass die Hundertschaften von
Lieddrucken in den folgenden Jahrzehnten mit ganz wenigen Ausnahmen im Titel
,,teutsche Lieder" ankündigen. Kein Franzose hätte sich bemüßigt gefuhlt, von der
,,chanson frangaise", kein Italiener, vom ,,madrigale italiano" zu sprechen.
Der nationale Aspekt wird zum konstitutiven Bestandteil der Sache. Und er
bildete den Humus fur eine nationsorientierte Perspektive, die Jahrhunderte später
unter ganz anderen Vorzeichen auf das Lied zurückgriff. Indem Johann Gottfried
Herder im 18. Jahrhundert das Lied-,,Gut" zum Kern einer nationalen Identität
erklärte und das Lied mit einer Idee des Volkes verband, wurde das Junktim erneuert.
'Wenngleich sich die Auseinandersetzung mit dem alten deutschen Lied im 19. Jahr-
hundert ausdifferenzierte und Gegenstand nicht nur romantischer Inspiration etwa
in Des Knaben tYunderhorn, sondern auch der neu erstarkenden germanischen Phi-
lologien in der Nachfolge Hoffrnanns von Fallersleben und Rochus von Liliencrons
und schließlich der sich wissenschaftlich formierenden Volksliedforschung im Um-
kreis von John Meier wurde, konnte die musikwissenschaftliche Forschung, die sich
am Ende des 19. Jahrhunderts des mehrstimmigen Liedes des 15. und 16. Jahr-
hunderts gezielt und bereits sehr umfassend zuwandte (allen voran Robert Eitner),
der nationalen und zunehmend nationalistischen Instrumentalisierung nicht mehr
ganz entziehen. Das gesamte Repertoire vom Mönch von Salzburg und Oswald von
Wolkenstein bis zu Johann Hermann Schein wurde als privilegierter Materialfun-
dus angesehen, über dessen Erforschung man der Spezifik des deutschen National-
charakters habhaft zu werden gedachte.
Die Zuspitzungen der Zeit des Nationalsozialismus waren dabei fast ein - dann
vollends aus der Tonart geratendes * Postludium zu einer argumentativen Grund-
legung, die vorrangig in den 1910er und 1920er Jahren vollzogen worden war. Die
Spurensuche nach dem deutschen Geist in der Musik, an der sich zahlreiche For-

Kurt Gudewill (Hrsg.), Georg Forster: Frirche Tzutsche Lirdlein (1539-1556). Erster Teil: Ein Aufzug
-Wolfenbtittel 1942, S.)C(X (Das Erbe dzutscher
guter alter und neuer teutscher Lied.bin (1539),
Musik,Bd.20).
3 Kurt Gudewill, Horst Brunner (Hrsg.), GeorgForster: Frische Teutsche Liedlein (1539'1556). Ft;nfin
Teil (1556), 'Wolfenbüttel 1997, S.){/II (Das Erbe deutscher Musih, Bd. 63).
4 Kurt Gudewill, Hinrich Siuts (Hrsg.), Georg Forster: Frische Teutsche Liedlein (1539-1556). Zweiter
'§(l'olfenbtittel
Teil (1540), 1969, S. X7Y (Das Erbe deutscher Musib, Bd. 60).
5 FlinffVnd Sechzig Teutscher Liedrr, Straßburg 1536.
3> ist das polyphone deutsche Lied? Versuch einer Positionsbestimmung 223

scher auch auf dem Felde des Liedes beteiligten, Iief einerseits auf eine Abgrenzung
zu den Hervorbringungen anderer Völker und Nationen hinaus, andererseits auf
die Identifizierung einer sich musikalisch niederschlagenden ,,Gesinnung"' Für das
Lied des späteren 15. Jahrhunderts konstatierte'§Tilibald Gurlitt 1.924:

,,die deutsche Liedkunst ist gegenüber der gleichsam lückenlosen formalen


Abgeschlossenheit, überlegenen Eleganz und kühlen Künstlichkeit der bur-
gundischen Chanson auch von einer ganz neuen seelischen Stimmung, ge-
fühlsmäßigen \7ärme, von einer allen Formenrationalismus überflutenden
Macht der Phantasie und des Gemüts erfullt."6

Und als Begründung fUr die noch 1575 dokumentierte Verehrung der Senflschen
Lieder in Nürnberg hatte Bertha Antonie §7a1lner l9t2 die Vermutung angeführt,
man habe ,,schlichte deutsche \Teisen den glänzend fremden vorfgezogen]".7
Das beiden gemeinsame, auf einer breiten Communis opinio beruhende fugu-
mentationsmuster, nämlich die Akzentuierung der auß Gemüt zielenden (und diese
implizit moralisch und ideologisch bewertenden), die formale Intellektualität zurück-
weisende Haltung des deutschen Liedes, war prädestiniert, um mit der Singbewegung
der l92Oer Jahre zu fusionieren. Ganz auf die Bedtirfnisse der Praxis ausgerichtete
Spiel- und Singbücher8 und Auswahl-Ausgabene sowie praktisch eingerichtete Teil-
und Gesamtausgabenlo des aus der Singbewegung hervorgegangenen Bärenreiter-
Verlagsll sind ebenso Zeugen dieser Annäherung wie die neue staatliche Denk-

\Tilibald Gurlitt, Burgundische Chanson- und deutsche Liedhunst dts 15. Jahrhunderts, in: Bericht
über den Musikwissenschafilichen Kongref in Basel[...J uom 26.-29. September 1924'Letpzig1925,
S.153-175, hier S. 173 f.
7 Bertha Antonie'Wa1lner, Musikalische Denkmäler drr Steinritzkunst des 16. und 17. Jahrhunderts
nebst Beiträgen zur Musiffiege dieser Zeit,Mld;nchen 1912, S. 58.
'§Talther
8 Die Kernpublikation war Lipphardt (Hrsg.), Gesellige Zeit. Chorbuch fiir gemischten Chor,
Bd. 1, Kassel 1933;8d.2: Meisterruerke des 16. und 17. Jahrhunderts, Kassel 1935, die,,erlesene
Originalsätze aus dem 1 5. und 16. Jahrhundert - der auch von Hensel so verehrten Hoch-Zeit des
deutschen Liedes - zusammenfaßte" fMilhelm Ehmann, Volhslied und Singbeuegung, in: Richard
Baum [Hrsg.], Musik und Wrkg. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag, Kassel 1968, S.51-63, hier
-Walther Hensel war musikalischer Spiritus rector der
S. 5B). Der unter Pseudonym firmierende
von Vötterle publikatorisch in Gang gebrachten Liedbewegung.
Z. B. Hella-Augusta Fehlbehr (Hrsg.), Ernste und heitere deutsche Liederfiir drei gemischte Stimmen
gesetzt uon Leonhard Lechner, Otto Siegfried Hamisch und Heinrich Albert, Kxsel 7932 (Kleines Bären-

reiterhejl 38).
10 Z. B. Eduard Bernouilli und Hans Joachim Moser (Hrsg,.), Das Liedrrbuch tles Arnt uon Aich (Köln
um 1510). Erste Partitur-Ausgabe der 75 uierstimmigen Tonsitze, Kassel 1930; Deutsche Liedsätze
(Hrsg.),
des fiinfzehnten Jahrhunelerts fiir Singstimmen und Melod.ieinstrumente, Bd. 1: Konrad Ameln
Das Locheimer Liederbuch. Die mehrstimmigen Sätze, Augsburg 1925; Bd. 2: Heribert Ringmann
(Hrcg.), Ausgewählte Sätze aus dem Glogauer Lied.erbuch, Kassel 1927; Bd.3: Herbert Rosenberg
(Hrsg.), Das Schedebche Liederbuch [...J Awgewähbe Sätze, Kassel 1933. Auch der Möseler-Verlag,
'§(l'olfenbüttel,
der Moeck-Verlag, Celle, und der Nagel-Verlag, Hannover, beteiligten sich in den
1930er Jahren an den praktischen Ausgaben von Liedern des 15. und 16. Jahrhunderts.
11 Aus jüngerer Zeit siehe dazu Friedhelm Brusniak, Zu drnAnJiingen des Bärenreiter-Wrlaga 192j/
1924, in: Bärenreiter-Almanach. Musik-Kulrur heute. Positionen - Prof.le - PerEektiuen,Kassel1998,
'22.4
Nicole Schrvindl

mälerreihe des (das rassische Erbgut bewahrenden) Erbes deutscher Musih, womit
das ältere, weniger ,,gemüt-volle" und mehr am ardfiziellen Produkt interessierte
Konzept der Denkmäler d.ewtscher Tonleunst abgelöst werden sollte.12
In Übereinstimmung mit dieser am praktischen Tun weiter IGeise interessier-
ten Ideologisierung des Liedes bildete sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr-
hunderts eine Forschungsrichtung heraus, deren Hauptinteresse die Konstruktion
einer ,,Tenorgesinnung" war. Die - auch heute noch unbezweifelt - prominente
Rolle, die der Cantus-firmus-Satz, insbesondere der traditionelle Tenor-Cantus-
firmus-Satz fur die Gattung spielt, wurde unter dem Telos einer Liedweise gesehen,
die in ihrer ursprünglichsten Form die Idee eines unverbildet aus dem Gemüt sin-
genden Volkes darstellte. In diesem Zusammenhang ist die über das Technische
hinausgehende Deutung des Prinzips von Herbert Rosenberg zu sehen:

,,Man kann vielmehr das Dogma außtellen, [...] dass im polyphonen deut-
schen Lied zwischen 1450 und 1550 der Tenor Träger der Melodie ist.
Das will sagen, dass seine Bedeutung über die einer blossen Gerüststimme,
eines kontrapunktischen fundamentum relationis hinausgeht, dass der Tenor
des deutschen Liedes zugleich Sinnträger des musikalischen Inhalts ist."13

Erklärt wird die satztechnische Beschaffenheit durch eine volksgenetische Disposition:

,,Richtig interpretiert ergeben die englischen Sätze eine schlagende Analogie


zu dem deutschen begleiteten Tenorlied. Es ist aber die Frage, ob hier
wirklich direkter Einfluss angenommen werden darl oder ob man an eine
parallele Entwicklung zu denken hat, die unter gleichen gegebenen Voraus-
setzungen und bei rassenmässiger Verwandtschaft an verschiedenen Stellen
notwendig zu gleichen Ergebnissen führte."1a

Eine eigene, teils hochkomplizierte Dekolorierungsmethode, wie sie Arnold Sche-


ring und seine Schüler praktizierten, sollte bei Lied-Tenores jeweils den Nachweis
einer ,,ehemals gesungenen Kernmelodie"l5 erbringen, auch wenn diese in der über-
lieferten Komposition nur mehr über Umwegen als Substanz nachvollziehbar ist.

S. 157-160; Sven Hiemke, ,,Folgerichtiges Weiterschreiten". Der Bärenreiter-Wrlag int ,,Dritten Reich",
in: ebenda, S. 161-170.
12 Vgl. dazu Martin Kirnbau er, Hartznann Schedel und sein ,,Liederbuch". Studien zu einer spätmittel-
alterlichen Musihhan*chrijl (Bayerische Staatsbibliothek München, Cgrn 810) uwl ihrem Kontext,
Bern 2001, Kapitel SCHE als ,,Erbe deutscher Musik",5.33-41 (Publikationen der Schweizeischen
Musikforschendtn Geselkcha/i, Serie II, Bd. 42).
13 Herbert Rosenberg, Untersucltungen über die deutsche Liedweise im 15. Jahrhunderr, rMolfenbüttel
1931, S. 9 f.
14 Ebenda, S.26.
15 Arnold Schering, Geschichte der Musik in Beispielen. Dreihundertfil.nfzig Tonsätze aus neun Jahr-
hunderten, Leipzig 1931, S. 41 (zitiert nach: Kirnbauer, Hartmann Schedel und sein ,,Liederbuch
[wie Anm. l2), S. 29; siehe dort auch das Kapitel ,,Elend du hast Vmbfangen mich" (SCHE I 1) al.s
Beispiel einer forschungsgeschichtlichen Kontrouerse, 5.26-32, mit einer Darstellung des Dekolorie-
rungsverfahrens).
\Vas isl das polyphone deutsche Liedl Vr:rsuch einer Posilionsirestinrmuirg 22'

Damit aber war es auch auf technischem \Vege, mit analytischem Ztgrif{, auf
scheinbar objektive \7eise möglich, die Wesensverschiedenheit des deutschen Lieds
etwa von einer französischen Chanson mit ihrem eher funktional kontrapunktisch
gedachten, konstruktiven Tenor zu demonstrieren.
Es ist bezeichnend, dass die Liedforschung bis nach dem zweiten Weltkrieg und
über Schüler- und Enkelschüler-Generationen, die sich von der platten Ideologisie-
rung distanzierten und sehr wohl material- und erkenntnisreiche Sudien hewor-
brachten, noch immer von der Tenor-Frage geprägt war. Ersr als dieses Thema
seine Anziehungskraft eingebüßt hatte, es aber gleichzeitig sehr still um das Lied
geworden war, scheint ein aus einem relativen Vakuum erstehender Neuansatz
möglich geworden zu sein. Ganz schlaglichtartig ließe sich dies mir den Herangehens-
weisen zweier Disserrarionen illustrieren, die sich beide mit dem Spätstadium des
polyphonen Liedes, also dem Lied in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderrs und
den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts befassen. 1970 schloss der Gude-
will-Schüler Rolf Caspari in Kiel seine Arbeit .über Lied*adition im Stihtandel um
1600. Das Nachleben des deutschen Tenorlietles in den gedruchten Liedersammlungen
uon Le Maistre t...1 bh Schein [.../ ab. Ihre Abhandlung unter dem Titel Das deut-
sche Lied uon [. . .] Lasso bis [. . .J Schein, in der das §7ort Tenorlied allenfalls einmal
am Rande {ä.llt, reichte Katharina Müller im Frühjahr 2005 in Z,Ü;rich ein. Der
Hiatus von 35 Jahren ist kein Z$aIl, er ist vielmehr bezeichnend fur die For-
schungsgeschichte, die - um es in eine Metapher zu fassen - eine Erholungspause
brauchte, um die In-Dienst-Nahme der Gattung Lied zu überwinden.
Diese miniaturisierte Skizze der Rezeption sollte aber nicht nur begründen, warum
die Liedforschung über Jahrzehnte großenteils in einer Lethargie verharrte - ein
Halbschlaf, in dem sich, wenig überraschend, auch die klingende Realisierung von
Liedern befand - oder anders gesagt: warum der intellektuellen und musikalischen
Auseinandersetzung mit deutschen Liedern srers er\,vas Geringschätziges anhaftete,
ohne dass man sich immer der Ursachen der Kontaminierung bewusst war; sie
sollte auch bereits einige kritische Punkte andeuren, die die Frage nach dem \7esen
j enes Gattungsbereichs betreffen.
Ein solch kritischer Punkt der Gattung ist der Aspekt des Singens - ein Aspekt,
dem man im Zusammenhang mit jeglicher Liedgattung doch elementaren Starus
zusprechen möchte. Er wird aber auch durch die mythische und archetypische
Vorstellung einer Ur-Einheit von ,,Singen und Sagen" gerade vor dem Hintergrund
der Entwicklung der komponierten Mehrstimmigkeit (als Spezifikum der europä-
ischen Musik) zu einer problematischen, alles andere als selbswerständlichen Größe.
Bereits die ersten schriftlich greifbaren Zeugnisse des mehrstimmigen deutsihen
Liedes, einige Lieder des Mönchs von Salzburg aus der Zeit bis etwa 1400, die
während fast des galzerT 15. Jahrhunderts vielfach tradiert wurden, sind in dieser
Hinsicht symptomatisch. Sie präsentieren weltliche Texte im Kontext einer Melo-
die, die als Zentrum angesehen wurde und die mit Stegreiftechniken (wie Parallelen
und einfachem Kontrapunkt oder Bordun) in die Zwei- bzw. sogar Dreistimmig-
keit erweiten, gespreizt werden konnte. Die Schlüsselbegriffe fur den melodischen
Kern und seine usuelle Einkleidung liefert die Mondsee-Wiener-Liederbandschrifibei
dem Lied des Mönchs hh bW dir ffaut gesell selbst. Dort heißt es: ,,Ain tenor von
hübscher melodey als sy ez gern gemacht haben darauf nicht yglicher kund übersin-
^!icole SchrvinCt

8en".16 Der Tenor ist einerseits fur sich ein Gebilde von äsrherischer Präsenz und
Prägnanz, andererseits Ausgangspunkt eines in diesem Fall improvisierten
- - mehr-
stimmigen Satzes. und bereits durch den knappen Kommentar wird angedeutet,
dass das Verhdltnis zwischen dem einen und dem anderen alles andere als einfach,
vielmehr dialektisch ist: Die schöne Melodie kann sich der polyphonisierung auch
widersetzen.
Die spannung zwischen der Anmutung der einsrimmigen Linie und ihrer In-
tensivierung oder auch verhullung, ja sogar Destruktion im pollphonen Gewebe
bleibt eine zentrale kompositorische Aufgabe des so genan.t..r iG.n*.isen- oder
Tenorlieds. Bis ins 16. Jahrhundert hinein gibt es deursche
euellen, die einstimmige
und mehrstimmige Lieder zusammen überliefern. Eines der wichtigsten Dokumenie
fur diese Parallelität, das Lochamer-Liederbuch (1452-1460), liefert mit dem Lied
Mein trawt gesellel7 ein Indiz dafur, dass der Tenor nicht unbedingt eine hervortre-
tende kantable Stimme sein muss, der dann irgendwie geartere Sekundärstimmen
beigefügt wurden. Das Verhältnis zwischen Tenor und Diskant kann sich durchaus
verkehren. David Fallows hat dieses Lied danach beschrieben, wie die Oberstimme
gesanglich konzipiert ist - ganz im Gegensatz zum Tenor: ,,That line has none of
the.melodic fluidiry of patterning that we associare with a received melody. It gives
no hints of being independently composed or borrowed. In fact from bari t o-i 5 it
is downright ugly."1s
Doch genau diese immer wieder auftretende Umkehrung der Verhältnisse muss
_
nicht notwendig als Aufforderung verstanden werden, ,r.rt., d.- Schutt der un-
sanglichkeit die Urschicht des imaginierren, womöglich volksnahen Liedduktus
hervorzugraben. Bereits Fdlle beim Mönch von salzburg (etwa sein Lied mit der
Uberschrift Das hch.ühorn,,Untarn slaf, tut den sumer wol";u und solche in der
verbrannten Straßburger Handschrift (etwa die Tuba gatlicali)2o demonsrrieren die
ganz charakteristische Ambivalenz: Nicht nur die Erweiterungssrimmen haben oft
instrumentales Gepräge (etwa Bläser-Idiomatik), sondern auch der Tenor selbst.
§Tenngleich die Herkunft des polyphonen Liedes aus dem einstimmigen Singen,
speziell aus dem Vortragsmodell des einstimmigen Minnesangs unb..tritten- irt
- ebenso wie dass dieses sich im Meistergesang foit.etrt -, gehöri es von Anfang an
16 Hedwig Heger (Hrsg.), Mondsee-\Wiener-Liederhand:chrift aus Codex Vindobonensis 2856 Falsimiie,
Gru21968, fol. 190v (Codices selecti, Bd. 19).
17 siehe \Talter salmen, christoph Petzsch (Hrsg.), Das Lochamer-Lied.erbuch, wiesbaden 1972, s. 110 f.
(Denbmdler der Tonhunst in Bayern,Neue Folge, Sonderbd. 2).
18 David Fallows, The Early Histoty of the Tenorlied and lts Ensembl.es, in:
Jean-Michel Vaccaro (Hrsg.),
Le concert des uoix et d,es instruments ä la Renaissance, paris 1995, 5.199)11, hier S. 205 (mit einer
IX/iedergabe der Partitur
aufS. 204).
t9 Heger, Mondsee-viener-Liederhandschrirt (wie Anm. 16), fol. 187. ygl. auch die Eintragungen
zum,,nachthorn" (fo1. 185v) und zum,,taghorn" (fol. 1B6v), die,,gut zu blasen.,sind.
In Edmond de coussemakers Abschrift (Brüssel, Conservatoire Royal: Ms. 56.2g6, fol. B 1v); siehe
Lorenz \7elker, Musib am Oberrhein itn späten Mittelalter. Die Hand^schrifi Strasbourg, olim Biblio-
tlzly de la uille' c 22, ungedruckte Habilitationsschrift, Basel 1993, s.j61, ,,A,,.h"hi". gemahnt
der Tenor an Lieder des Mönchs, bläserische Motivik ist vor allem im Contratenor, aber auch im
Tenor ausgeprägt. Der sonderbare Titel dürfte nicht auf eine französische Trompete, ,Tuba galli-
cana', sondern vielmehr auf eine ,Tuba gallicinalis', ein Horn, das im Morgeng.rr..,
nlnweßen. ".kingt,
\\'as ist das poiyphone deutsche l-ied? Versuch einer pcsitionsbesfimnruna
?27

zu seinen substanziellen Potenzialen, sich vom Singen zu lösen, die


mythische Kop-
pelung von Singen und Sagen zu sprengen und iniin artifizielles Gebilde zu
trans-
formieren, zu dem nicht nur die eventuel'ie instrumentale Einkleidung gehört,
sond.ern
auch die Möglichkeit.des intellektuellen spiels, den Gesang od., ää Gesangspart
zu,,insrrumenrisieren".
Dass diese option eine so beachtliche Rolle spielt, so dass ,,Tenori tod.eschi,.21
von deutschen Piffari an den Hof nach Ferrara exportiert werden konnten, hängt
mit der instrumentalen Kultur in deutschen Landän zusammen. Man muss nicht
die..geschichtsphilosophisch weitreichende These wagen, die Deutschen seien ein
volk von Instrumentalisten und nicht von vokalistei, für den konkreten zusam-
menhang reicht es aus, eine höchst entwickelte deutsche Kultur des Instrumenten-
spiels schon-im.15. Jahrhundert zu konstatieren (man braucht nur ein paar
Reiz-
worte wie Fundamentum organisandi oder Buxheimer orgelbuch in den Raum zu
stellen). Dieser Tatbestand steht in enger Verbindung mit äem sozialgeschichtlichen
ort des Liedes im 15. Jahrhundert. Einen dem fran"zösischen K<;nigihof oder dem
burgundischen Herzogshof vergleichbaren Hof mit kulturellem AnSruch,
der sich
u. a' in einem code des Amour courrois abbildet, gab es im deutschsprachigen
Bereich nicht. Alle Quellen fur deutsche Lieder des t5.
Jahrhunderts weisen in ein
intellektuell-klerika.les Milieu. Das im schlesischen Klo.i., Sagan entsta nd,ene
Glo-
gauer Liederbuch enrhält ein bedeutsames
euantum an Instiumentalstücken, die
Lieder in den Trienter codices standen den orgel, clavichord, cembalo, Eche-
g:i._r- T.aute spielenden Mitgliedern des Trienier Domkapitels zur y erfigung,zz
"1d
die verbindung von conrad Paumanns Fundamentum orgaiisandi mit dem\tiin-
berger Lochamer-Liederbuch ist sogar kodikologisch, ak üucheinheit,
greifbar. §7o
das Lied in einer so instrumentJfreundlich.i, umg.bung gedeihi, verwundern
Instrumentalismen in der stimmenfakur ebenso wenlg *i."dl sympathie
ftir das
Tenorprinzip, bildet es doch die Basis für eine klavieiistisch. Kolo.i...,rrgspraxis,
die der rechren Hand Freiraum fur eine nicht-kantabre Diskanrsrimme
nauso wenig very.undert in diesem umfeld die doch sehr häufige üb.r'ii.f.ro.rg
du,. c.-
ohne Text - etwas, wozu es vielleicht eine Parallele in der überlilf..,rng französi]
scher Chansons in Italien gibt, nicht aber im Land d.er Muttersprache
selb-st. Instru-
mentale Ausführung ist für das deutsche Lied von Anfang .räh, nur eine option,
sondern eine Existenzform nicht nur Akzidens, ,ond..i ".,
- substanz.
Diese frühen Bedingungen stellten die weichen auch fur das Lied des 16.
Jahr-
hunderts. Von den fünf erhaltenen frühen Liederd.rucken hat nur eines,
das Lieder-
buch des Arnt von Aich,zz einen Titel, und dieses rautet promp t:
Jn dissem buecltlyn
fint ma[nJ .Lxxu. hubscher lieder m)/t Discant. Ah. Bas. ,"7a] r)nor. lustich zü rl"sr"

2l Siehe Reiniard Strohm, The Rise of European Music 13s0-l500,Cambridge


1993, S. 34Bf und 568.
22 Siehe Nicole Schwindt, Die weltlichen d.eutschen Lietler der Trienter-Cotlices
Experiment?, in: Neues Musikwissenschafiliches
- ein ,französisches'
Jahrbuch g (1999), S. 33_92,hier S. 71.
23 Es handelt sich um den undatierten, in Köln vermutlich ca. l5l4lt5 hergestellten
Nachdruck
eines verschollenen Urdrucks, der aller \Mahrscheinlichkeit nach in
Augsbu"rg, mutmaß1ich zwi-
schen 1512 und 1514 erschienen war; vgl. Nicole Schwindt, Das Liederiuch
är, Arrt uon Aich im
Kontext tlrr frühen Liecldrucke, in: Klaus Pietschmann (Hrsg.), Das Erzbistam
Köln in der Musik-
geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Bericht über tlie
Jihortagrrg der Arbeitsgemeinschajl fiir
Rheinische Musihgeschichte Köln 2005, Kassel (Druck in V-b.r.it.irgf
228 Nicoir: Schrt,inrjt

Auch etlich züfleiten, schwegelen, un[d.J anderen Musicalisch Instrumenten atlichen zü


gebrauchen. Derartige Titelformulierungen, die auf die Gleichwertigkeit der vokalen
und instrumentalen Ausfuhrungsmöglichkeiten hindeuten, werden das Gros des
16. Jahrhunderts ausmachen. Bei Publikationen im Ausland muss man auf einen
derartigen Passus bis 1539 warten.2a Und auch wenn Georg Forster in seiner
Sammlungsserie der Frischen teutsclten Liedlein eine retrospektive Klassifikation des
überkommenen Repertoires yornimmt - ftir den ersten Band 1539 wählt er die aus,
die,,auf die Instrument tüglich" sind, für den zweiten 1540 diejenigen,,die zum
singen zum füglichstefl"25 *, handelt es sich dabei lediglich um eine an Zielgruppen
ausgerichtete, ..rrrktrt.at.gische Sortierung eines Bestandes, für den gerade die
Pollwalenz kennzeichnend ist. Auch wenn es scheinen will, dass das Tenorlied des
frühen 16. Jahrhunderrs von einem gesungenen Vortrag des Tenors (und - in
hypothetisch-argumentativer Fortspinnung - instrumentaler Realisierung der übrigen
Stimmen) ausgeht, weil sich Texte in der Regel nur im Tenorstimmbuch finden
(diese allerdings nicht unterlegt, sondern separat), wird diese Annahme schon allein
durch das zweite Schöffer-Liederbuch von 1577 desavouiert, wo sämtliche (erhalte-
nen) Stimmen mit Text unterlegt sind.26
Es gehört zu den folgenreichen Verzerrungen im Umgang mit dem Lied, dass
aus einem Konstruktionsprinzip, dem auf den Tenor bezogenen Satz' den die aller-
meisten Lieder bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts aufiveisen, auf dieArt derAus-
führung geschlossen wurde. Dabei gehört es zu den bemerkenswerten Tatbestän-
den, dass bis heute m. W. kein wirklich positiver Beleg daftir beigebracht werden
konnte, dass es die Aufftihrungsweise ,,vokale Tenorstimme plus instrumentale
Umgebungssrimmen" gegeben hat. Genauso wenig gibt es ein Indiz dafür, dass es
auszuschließen wäre. Die Unentschiedenheit der dokumentarischen Quellenlage
hinsichtlich der klingenden lJmsetzung ist vielmehr symptomatisch für das Phä-
nomen Tenorlied: So wie sich seine kompositorische Realisierung in hundertächer
Abstufung erstreckt zwischen Reduktion eines Cantus prius factus auf die pure
konstruktive Materialebene auf der einen Seite der Skala und einer die Kernweise
ins liedhafte Profil setzenden mehrstimmigen Einkleidung am anderen Pol, zwischen
artifizieller Annäherung an das Prinzip der Tenormotette hie und unkomplizierter
Direktwirkung einer mehrstimmig gesetzten Melodie da, zwischen Demontage
eines Liedverlaufs durch Isolierung seiner Bestandteile und der Inszenierung seiner
linearen Integrität, die ins Klangliche überhöht wird, so wenig es eine kompositori-
sche Norm gab, so wenig gab es eine ideale Darstellungs- und Aufführungsweise.
Vielleicht war die nicht festgelegte Beziehung zwischen abstraktem musikalischem
Konstruktionsprinzip und konkreter Besetzung der Stimmen auch die Vorausset-
zung dafur, dass in der zweiten Hdlfte des 16. Jahrhunderts, also in der Etappe der

24 Canzoni fancese a due uoci di Ant. Gardane, et di alti autori, buone da cdntdre et sondre,Yenedig 1 539.
25 Gudewill,siuts(Hrsg'), GeorgForster:FischeTeutsche Liedlein(15j9-1556)'ZweiterTeil(wieAnm'4)'
26 Vg1. Stephen Keyl, ,,Tenorlied", ,,Discantlied", polyphonic lied: uoices and instruments in German
seiukr polyphory of the Renaissance, in: Earllt Music 20 (1992), S. 434445; zur Neudatierung durch
den paitiefen 'Wiederfund des Tenorstimmbuchs siehe Robert Münster, Neues zum zweiten Lieder'
buch des Peter Schffir jun., in: Stephan Hörner und Bernhold Schmid (Hrsg.), Fe*schrifi f.ir Hor*
Leuchtmann zum 65. Geburtstag, Tutzing 1993, S. 303-310.
\{hs ist das pclvphr:ne deutsr:he LierJ? Versuch einer Pcsitionsbesliffintung 229

Liedgeschichte, die wir mit Orlando di Lasso und seinen mehr oder weniger dezi-
dierten Nachfolgern verbinden, die friedliche Koexistenz des Tenor-basierten und
des freien Liedes möglich war, dass madrigalische, chansoneske, villanellische und
kanzonettenhafte Setzweisen leicht akzeptiert wurden.
Auf einen spezifischen Umstand des deutschen Liedes sei indes hingewiesen,
der die anhaltende Sympathie ftir die kompositorische Sonderbehandlung der Tenor-
stimme möglicherweise unterstützte. Nach wie vor fehlen überzeugende Gegen-
beweise zu der Annahme, dass die Kultur des polyphonen deutschen Liedes eine
männliche war, während Frauen das einstimmige Singen von Liedern tradierten
und vielleichr sogar intensivierten.2T Diese sich abzeichnende Polarisierung wirkt
fast konSequent angesichts der historischen Voraussetzungen: Bereits die Frühzeit
des mehrstimmigen Liedes im intellektuell-klerikalen Umfeld des 15. Jahrhunderts
gab dafur die Richtung vor, die abgelöst wurde von einer Ausdifferenzierung in ver-
schiedene soziale Domänen. Eine unentbehrliche Trägerschicht wurden im 16. Jahr-
hundert die Studenten - auch Georg Forster begann so. Aus ihren informellen
Zusammenkünften enrsranden die vielen formellen, teils betont formellen, mitunter
streng reglementierten Zirkel, die sich meist Musik-Kränzchen oder, bei höherem
humanistischem Anspruch, Sodalitium musicum nannten. Hier gingen in unter-
schiedlichen Zusammensetzungen und Hierarchisierungen Kaufleute, Beamte, Arzte
und Vertreter von Lehrberufen ihrer musikalischen Passion nach, wobei das Lied,
wie verschiedenen Widmungen von Liedpublikationen28 zu entnehmen ist, zu
einem Zenrralpunkt ihrer Beschäftigung gehörte - fast immer mit instrumentaler
Ausrüstung. Dass das Spielen eines Instruments bürgerlicher Ausdruck musikali-
scher Kompetenz und finanzieller Solvenz in einem war, formuliert Lasso im be-
merkenswerten Untertitel seines zweiten Liederbands: ,,nit allein zum singen, sonder
auch aller handt Instrumenten (wer deren genugsam bericht ist) wol und artlich
zugebrauchen ."29 Der Instrumenten ,,bericht" zu sein bedeutet aber zweierlei: ,,darin
unterwiesen" und ,,damit ausgerüstet". Man besaß Instrumente und konnte sie dann
auch noch spielen.
Neben diesem primär städtischen Ambiente der Bildungselite, in dem das Lied
einen wichtigen Ansatzpunkt fur die aktive Auseinandersetzung mit Musik bildete,
war es auch der höfische Kontext, der die Liedkultur trug. Hier war das Lied immer
auch die volkssprachliche Variante repräsentativer Kultur, also Musik zum Vorfüh-
ren, zum Vortragen-Lassen, zum Objekt des professionellen Musikers. Vom starken
und innovativen Impuls, den Maximilian um 1500 gab, indem er das Lied fur
seinen Wanderhof, der einen erhöhten kulturellen Identifikationsbedarf hatte, und
im Rahmen der Idee des Kaisertums in sein integrales Kulturprogramm aufnahm,
war bereits die Rede. Quantitativ große Liedkorpora von bestimmten Komponisten
entstanden im unmittelbaren Radius von herzoglichen oder kurfurstlichen Höfen:
Das war bei Ludwig Senfl in München nicht anders als ebendort fast zwei Genera-

)7 Zt letzterem vgl. Linda Maria Koldau, Frauen - Musik - Kubur. Ein Handbuch zum deutschen
Sprachgebiet der Frühen Neuzeit, Köln und'Veimar 2005.
28 Z. B. lvo de Vento, Schöne außerlesene neue teutsche Lieder mit 4. stimmen, München 7572; Leon'
hard Lechner, Newe teutsche Lied.er zu dre1, Stimmen, Nürnberg 1576.
29 Orlando di Lasso, Der andtr Theil Teutscher Lieder, mitf)nffstimmen, München 1572.
Nicole Schwindt

tionen später und unter gewandelten politischen Verhältnissen bei Lasso und Ivo de
Vento, wie bei Christian Hollander, Alexander Utendal und Jacob Regnart in
Innsbruck, Leonhard Lechner unter anderem in Stuttgart, Antonio Scandello und
Giovanni Battista Pinello in Dresden. lViewohl die offizielle Sprachregelung in
\Tidmungen der Funktion einer ,,Fürstlichen recreation" das \7ort redet, wenn
,,über disch", also im Rahmen der Tafelmusik, auch Lieder musiziert wurden,3o darf
diese nicht als private Hintergrundsmusik missdeutet, sondern muss im Zusam'
menhang mit der stets zeremoniellen Handlung des Tafelns gesehen werden.
Diese Verbindung von Musik gewordener Landessprache und Repräsentation
war jedoch im hier interessierenden Zeitralum nie selbswerständlich. Im Falle Ma-
ximilians ist die Programmatik mit Händen zu greifen: Die Orientierungsmarke
war um 1500 der internationalisierte frankoflämische Chansonstil, dem sich der
Liedstil assimilierte. Fünfzig bis hundert Jahre später hatten diese Rolle Madrigal
und Villanella übernommen, die als Gattungen in ihren italienischen Versionen an
den Höfen - sehr viel weniger in den Städten - präsent waren (schon allein fur die
vielen italienischen Adligen, die sich an den Höfen nördlich der Alpen aufhielten).
Dass diese ,,höffliche[n] Lieder", wie Thomas Mancinus sie nannte,31 stets in dop-
pelter Konkurrert.- standen, was ihre Repräsentationsbefähigung betraf, nämlich
zum Traditionsbestand der lateinisch-geistlichen Musik einerseits, andererseits zu
den zu internationalen Leitsternen aufgestiegenen Madrigalgattungen, und dass
dieser \Tettbewerb unterschiedliche Phasen durchlief, macht Michael Praetorius
deutlich, wenn er 1619 in seinem Verlagskatalog ,,Teutsche \Weltliche / meisten-
theils hiebevor im Druck nicht ausgegangene Lieder" anbietet, ,,so von etlichen vor
grosser HErren Taffeln jetziger zeir I allen andern Italianischen vnd Lateinischen
Herrlichen Concerten (non malä sanö, si Diis placet) vorgezogen werden".32
Die Positionierung des Liedes im Konzert der nationalsprachlichen Genres war
ein Punkt, der die Gattung zu allen Zeiten begleitete und prägte. Die anhaltende
Auseinandersetzung ist an immer wieder anderen, größeren oder kleineren stilisti-
schen und kompositionstechnischen Merkmalen nachzuvollziehen: sei es das Bestre-
ben im 15. Jahrhundert, das melodische Profil von Kantilenendiskant und kontra-
punktischem Tenor von der burgundischen Chanson zu übernehmen, sei es die
Infiltration französisch-eleganter Motivbildung in der maximilianischen Epoche,
seien es bei Lasso und Nachfolgern der Verzicht auf Tenorachse und Schichtungs-
prinzip und der damit einhergehende konzeptionelle Umschwung zum madrigali-
sierten Lied mit seinem reihenden, textgezeugte Abschnittsprofile gegeneinander
steilenden Ablauf, sei es das gelegentliche Bestreben, die \7orte madrigalisch auszu-
deuten, sei es die Kultivierung des dreistimmigen engen Villanellensatzes mit seiner

30 Siehe dazu Katharina M,J.ller, Das deutsche Lied uon Orlando di Lasso bis Johann Hettnann Schein,
Disp. Universität Ziich 2005, im Interner abrufbar unter: www.dissertationen.unizh.chl2006l
bruns/diss.pdf, Kapitel 2.2.1: ,,Vor Herren Trffrk" und ,,in Königlichen und Fürstlichen Säälen",
s.24-32.
31 Thomas Mancinus, Das Erste Buch Newer Lustiger, und hffiicher rX/eblicher Lieder, mit uier und
fiinff Stimmen, Helmstedt 1 5 88.
32 Michael Praetorius, Slmtagma musicum,Bd.IIl: Tetmini musici,Wolfenbünel 1619, Reprint Kassel
1954,5.22t.
rs ist das polyphone deutsche LiecJ? Versuch einer positionsbestimrnung 231

flexiblen Dek-lamationspraxis, sei es der ein neutrales Metrum pulsierend


auskom-
ponierende Kanzonetrenduktus.
Die Crux dieser stilistischen Assimilationsvorgänge war ihre primär musikali-
sche Natur, der keine oder,nur bedingt eine literaiiscf,. Errtfrlt.rrrg
zur seite stand
- eine Dimension, die in den anderen Ländern, in Frankreich üä i., Italien, stets
ausschlaggebender Stimulus fiir die Enrwicklung d.er volkssprachlichen
Gattungen
war. Bezeichnend ist, dass immer wieder nah.ru ge*rltsam l4aximen
der ausländi-
lch11 .Lrrik_adaptiert wurden: am eklatantesten b"ei Jacob Regnarr, dessen villanel-
lendichter den romanischen Elfsilbler eins zu eins auf den gärmanischen
Takmers
übertrugen. Dieser Handstreich ermöglichte es Regnart, in seä.m ersten Villanellen-
band33 seine zündend nelen Rhythmln gegen diä stereorypie
der alten Taktrhyth-
zy komponieren, beispielsweise den Rhy,thmus: .r'- ., _ u u u _ u. Doch
1ik -..,
die Inkongruenz von flexibler und dynamiscirer Silbendeklamation im Italienischen
und gewichtiger, auch schwerfilliger deutscher Silbenbildung ließ ihn die Neuerung
bald einschränken und aufgeben. Der Text lautet nämlichi,,Kannst
du g.. -i, ,ä
große falschheit üben". Damit erhdlt jeder italienische Sch*urg einen
Dinpfer.
unproblematisch war auch der versuch um r500, dle gedanklich. spitr-
^ _Nicht und die Reim-Raffinessen
findigkeit der späten französischen Rhd'toriqu.u.. ftii d",
Tenorlied zu nvtzen, wofiir aber in der deutschen Lyrik schon lange L.in
prob"t.,
stoffliches Modell nach Art eines Amour courtois *.h. ,rr. verfugurig
st"nd. Eb..rso
wenig wurden die italienische Ars amatoria eines Pietro Bembo",rnä der petrarkis-
mus rezipiert. Daftir dominierten die neulateinischen Gedichte der Humanisten
die
deutsche ,,Lyrikszene". Es fehlte dem deutschen Lied schlichnveg der potente
Dich-
ter oder gar mehrere, wodurch die literarische Dimension ,,J.r*.i..r. gewesen
wäre. A'ls Konsequenz wird ein vergleichsweise stabiler Fundus an Texren
mit stän-
digen.Anreicherungen srers auß .r..r. u.rto.rt nicht jedoch im sinne einer renais-
-
sancehaften Aemulatio und gegenseitigen überbi.t,rng der Komponisten
wie im
Madriga-I, sondern im Sinne eines Text-steinbruchs. IÄruktiv ri.rä
d"b.i einerseits
die langen Listen, die zeigen können, wie bestimmte Liedtexte von den frühesten
gedruckten Liederbüchern über die prominenten Multiplikaroren wie Forster
und
Johann ott weitergereicht wurden (io findet sich d.as..stmds 1513 von schöffer
abgedruckte Lied So wünscb ich ibr ein gute Nacbt bei der ich war
alleine bis zu Ni-
kolaus Zangius l62o3a allein in ,ehn üerto.rungen), andererseits verblüfft
die of-
fe_nbar auch ganz direkte Konsultation von archaiichen
euellen: I 61 0 greift Andreas
Hakenberger35 auf die ein Jahrhundert alte satirisch-anzülliche Klage
üier Impotenz
Icb traw keim ahen stechzeug mehr aus dem Liederbuch däs Arnt.,roä ru.h
zurück.J6
Eine derartige Textkonsistenz oder eher Textanhänglichkeit verband sich mit
.
einer großen Nonchalance der konkreten Textfassung gägentiber. Das mangelnde
Prestige der Liedliteratur Dichternamen sind grundJaällch ,rie
- überliefert - steht

33 lacob Regnart, Kurtzweilige uutscbe Lieder zu dreyen Stimmen. Nach Art der Neapolitanen oder
Welschen Villanellen, Nürnberg 1 574.
34 Nikolaus Zangius, Lustige Neue Deutsche
|X/eltliche Lieder
und euodlibeten, Berljn 1620.
35 Andreas Hakenberger, Neae Deutsche Gesänge mit Fünffstimmen
ud Eins mit Achten nach Art der
I[/e kch en Madrigalen, Danzig I 61 0.

36 vergleiche dazu die materialreiche Arbeit von Mi'ller, Das deutsche Lied (wie
Anm. 30).
2,1) Llir:ole Schwindt

in engstem Zusammenhang mit dem ganz geringen Textstatus der Gedichte. Das
konnte nicht nur teils in Form und Inhalt stark korrumpierende Texteingriffe und
frohliche Textkompilationen nach sich ziehen, es bedeutete auch die Lizenz zur F-li-
minierung ursprünglicher Texte oder die ungenierte Neudichrung. Forster spricht
dies mit entwafrnender Ungerührtheit zu Beginn seiner ersten Sammlung aus:

,,Das auch der recht Text nicht in allen Liedlin vorhanden, kan ich nit für,
dann ich wol weiß, wie grossen fleis ich lange zeit gehabt, das ich die rech-
ten text der Liedlin bekommen möchte, hat aber nicht sein wöllen. Dieweil
wir aber nicht der Text, sonder der Composition halben, die Liedlin in
truck gegeben, haben wir in die Liedlein, darunter wir kein text gehabt
(damit sie nicht on text weren), andere text gemacht, Wiewol wir auch et-
lich text mit fleis, als die fast ser vngereumbt gewest, hinweg gethon, vnd
andere darfür gemacht, welchs, dieweil's kein todtsünd ist, achten wir, man
werdt's vns nicht Yerargen."37

Diese Haltung dem schwachen und daher auf verlorenem Posten stehenden literari-
schen Partner gegenüber prägt die gesamte Geschichte des polyphonen deutschen
Liedes. Es ist daher kein Zufall, sondern vielmehr bezeichnend, dass sie ihren ersten
Höhepunkt bei Oswald von \Tolkenstein mit Kontrafakturen französischer Chan-
sons erlebt, dass so viele Lieder aus der Zeit vor der Druck-Ara bis auf den heutigen
Tag mit nicht mehr als einer Textmarke existieren, dass musikalische Textausdeu-
tung selbst im Lied der Lasso-Zeit eher eine Randerscheinung bleibt, dass Töne,
also Gedicht- und Versformen, auf die man alle möglichen Texte singen kann (,,im
Tone von ... zu singen"), nicht nur im einstimmigen und Flugblatt-Lied eine so
große Rolle spielten, sondern auch in den mehrstimmigen Sätzen. 'il/ir finden die
alte Hildebrandsstrophe, wie sie z. B. dem Lied-Inbild lch stund an einem morgen
zugrunde liegt, noch in Lechners Liedmadrigal Ach lieb wie süf und bitter, in dem
sogar Petrarca als Kronzeuge der romanischen Liebesauffassung herbeizitiert wird.3S
Textinhalt und Textgestalt dtirfen ebenso auseinanderklaffen wie textliche und musi-
kalische Form.3e
Der Text des deutschen Liedes ist Stichwortgeber, er transportiert einen Stoff,
der selbst den Instrumentalisten interessieren kann. Und das Korpus deutscher

37 Gudewill (Hrsg.), Georg Forster: Frische Teutsche Lied.lein (1539-1556). Erster Teil (wie Anm. 2),
S. )OflX. - oft grnz bewusst nicht mit abgeschrieben wurden, geht aus der Anmer-
Dass Texte
kung in der Handschrift F X 1-4 der Universitätsbibliothek Basel (Musiksammlung) am Ende des
Tenors von Nr. 76 hervor: ,,Text such in Mentzer Truck", gemeint ist Schöffers zweiter Lieder-
druckvon 1517; siehe]ohn Kmetz, The Sixteenth-Century Bnel Songbooks. Origins, Contents and
Clntexts, Bern 1995, 5.248 (Publihationen der Schueizerischen Musikforschenden Gesellschafi, Serie
rr, Bd. 35).
38 Leonhard Lechner, Newe Teutsche Lieder mit uier und fiinffStimmen, Nirnberg 1577; siehe die
Gedichtsynopse bei Nicole Schwindt, Musikalische Lyrih in d.er Renaissance, in: Hermtnn Danuser
(Hrsg.), Musikalische Qrik, Lraber 2004, S. 137-254, hter 5.247 (Handbuch der musikalischen
Ganungen 8\.
39 Zur ,,fehlenden Kongruenz von lyrischer und musikalischer Form" vgl. auch Müller, Dar deutsche
Lied lwie Anm. 30), S. I ls.
Was ist das polyphone Ceutschr: i-ierJ? Versuch einer Positicnsbestimrrung 233

Lieder in dieser Zeit ist charakterisiert von einer immensen Stofffülle. Man ist ver-
sucht zu sagen, dass es für alle Lebenslagen, Befindlichkeiten, Milieus und Geistes-
haltungen Lieder gab, auch wenn bestimmte Redaktionsinteressen die Vielfalt
punktuell einschränkten (erwa in den Hofweisen der frühen Liederbücher, in Lassos
Auswahl unsentimentaler Texte). Aber fast alle Liedsammlungen bis ca. 1570180
sind charakterisiert durch die Vermischung der in der Literaturwissenschaft ,,Register"
genannten Stoff- und Inhaltsebenen. Eine Hierarchisierung in ein Genus sublime,
medium und humile, wie sie ftir die italienischen Gattungen des Madrigal-Orbits
sinnvoll war, konnte sich beim deutschen Lied nicht durchsetzen. Die Gattung
definiert sich geradezu über eine gewisse Text-Indifferenz, die nicht zuletzt in der
instrumentalen Kultur verwurzelt ist. Sprache wirkt in ihr zuerst einmal als Identi-
fikationsfaktor (nämlich als musikalisch-sprachliches Handeln in der Muttersprache)
und insofern als eminent kulturpolitischer Kitt fur die natio, erstweit nachgeordnet
als dichterische Herausforderung. Die so labile Position des Textelements verlangt
indes nach einer anderen, ausgleichenden Stabilisierung der §Terkstruktur. Sie ist auf
musikalischer Seite zu finden: in der - historisch gesehen - äst unbegreiflich langen
Konjunktur des Tenor-Cantus-firmus-Prinzips als Konstruktionsbasis, das seine Über-
zeugungskraft über Jahrhunderte nicht oder nur partiell einbüßte. (Eine gewisse Ana-
logie kann man darin sehen, dass die Ausbildung der textlosen Instrumentalmusik im
16. Jahrhundert von der Entwicklung von Modellen, vor allem Bassmodellen flan-
kiert wird.) Auch das Lied um 1500 demonstriert eine große Neigung zu Modell-
haftigkeit. Villanella, Kanzonette, Balletto bzw. Tanzlied waren zwar auch in ihrer
Eigenschaft als moderne Importe attraktiv, sie boten aber auch Sicherheit durch
ihre klaren formalen, metrischen und Bewegungsstrukturen, mit denen sie die un-
übersichtlichen \7ogen der reinen Textabhängigkeit zu kompensieren vermochten.

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