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Universität Basel – Filmreihe „Jüdisches Leben im russischen Film”

„Geschenk an Stalin”/”Podarok Stalinu”, Kasachstan/Russland/Israel/Polen, 97 min., 2008

Regisseur: Rustem Abdrašev

Text von: Esther Krais-Gutmann

Der kleine Saška (Dalen Šintemirov); Quelle: www.kinoglaz.fr

Der 2008 gedrehte Film Geschenk an Stalin / Podarok Stalinu von Rustem
Abdrašev handelt von dem Waisenjungen Saša Pozner, kurz Saška, (gespielt
von Dalen Šintemirov), dessen Leben durch die Fürsorge seiner Mitmenschen
mehrere Male gerettet wird. Der Film widmet sich dem Lebensabschnitt, in
dem Saška Jahr 1949 in einem Dorf in Kasachstan in der Nähe des
Atomtestgebiet Semipalatinsk ankommt; nur zu Beginn, in der Mitte und am
Ende des Films wird in Saškas gegenwärtiges Leben als älterer Mann im
Jerusalem der Neuzeit eingeblendet. Gleich zu Beginn oszilliert der Film
zwischen Gegenwart und Vergangenheit: Kinder, die neben einem Zug
herlaufen, um Soldaten Wasser zu verkaufen – dabei Saška in
Großaufnahme – werden abgelöst von einem kleinen verlorenen Geißlein,
das sich in den Straßen des modernen Jerusalems verirrt hat. Aus dem Off
hören die Zuschauer die Stimme des älteren Saškas, der sich durch das
verlorene Tier an seine Vergangenheit erinnert fühlt. Im Laufe des Films
kommentiert dieser Erzähler an ausgewählten Stellen seine eigenen
Kindheitserlebnisse.
Nach den einleitenden Szenen befinden sich die Zuschauer im Jahr 1949 und
sehen den Kleinen mit seinem schwerkranken Großvater in einem
Deportationszug nach Kasachstan. Als der Großvater stirbt, wird der
inzwischen selbst erkrankte Saška mit dessen Leichnam und anderen
Verstorbenen in einem kasachischen Dorf abgeladen. Der alte muslimische
Kasache Kasym (Nurzhuman Ikhtimbaev) sieht, dass der kleine Junge lebt,
rettet ihm das Leben und nimmt sich seiner liebevoll an, unter anderem
dadurch, dass er ihn von einem kasachischen Schamanen heilen lässt.
Obwohl Kasym den kleinen Saška in Sabyr (arabisch für „demütiges Herz”)
umbenennt, lässt er Saškas jüdische Identität unangetastet. Mit vielen
anderen Waisenkindern lebt sich der nun genesene Saška in die
Dorfgemeinschaft ein und freundet sich mit einer Gruppe von Jungen an,
deren Eltern in Gefangenschaft oder tot sind. Mit diesen heckt Saška
allerhand Streiche aus und wird dabei von der Polizei erwischt. Doch auch
hier gewinnt die Toleranz und das Verständnis Kasyms die Oberhand.
So kontrastieren im Film die Tyrannei des Sowjetregimes und die
Vorbereitungen des ersten Atomversuchs nicht nur mit der Toleranz von
Saškas Ziehvater Kasym, sondern auch mit der Mitmenschlichkeit der
Bewohner des multikulturellen Dorfes. Besonders die ebenfalls deportierte
Vera (Jekaterina Rednikova) schützt den Kleinen mit allen Mitteln gegen die
Omnipräsenz sowjetischer Beamter. Der Einfluss des sowjetischen
Parteiapparates verdeutlicht besonders der kasachische Beamten Bulgabai,
der dem Dorf selbstherrliche Besuche abstattet, bei denen er entweder Vera
oder ein kasachisches Mädchen des Dorfes vergewaltigt. Jedoch steht auch
er in einer Szene auf der Seite seiner kasachischen Landsleute, als ein
sowjetischer Offizier Kasym Vieh für Stalins Geburtstag abnehmen möchte.
Zum Schluss nimmt er jedoch wieder die Rolle des Bösewichts ein, als er
Veras Bräutigam während der Hochzeitsfeier aus Eifersucht in einem
Zweikampf tötet.
Erst nach 45 Minuten Laufzeit erfahren die Zuschauer den Grund für den Titel
des Films: Saška liest in einem Zeitungsartikel, dass das Kind, welches das
beste Geschenk zu Stalins 70. Geburtstag macht, diesen treffen darf. Von
nun an träumt Saška davon, diese Gelegenheit zu haben und so die
Freilassung seiner Eltern aus einem Strafgefangenenlager in Sibirien zu
erwirken und sie wieder zu sehen. Deswegen gibt er sogar sein Lamm an die
Beamten, die die Geschenke einsammeln. Hier fallen die Anfangsszene des
verlorenen Geißleins in den Straßen Jerusalems, in denen Saška in der
Gegenwart als älterer Mann lebt, mit der Verlorenheit des kleinen Jungen und
der symbolischen Rolle des Opferlamms zusammen. Lämmer spielen in
vielen Religionen eine Rolle im Gottesdienst, unter anderem Beispiel um
Vergebung von Sünden oder/und die Gunst Gottes zu erlangen. Das
'Geschenk', das der 'Gott' Stalin sich jedoch wirklich wünscht, ist die erste
Atombombe, die in der nordkasachischen Steppe gezündet wird. Durch
dieses 'Geschenk' wird das Dorf am Ende des Films zerstört werden. Saška
überlebt nur, weil Kasym ihn kurz davor in einen Zug nach Odessa setzt,
damit der Kleine dort seine Verwandten sucht. Anlass für die Entscheidung
Kasyms ist die Ermordung des tyrannischen Bulgabai. Dieser 'Streich' wird
der Gruppe der halbwüchsigen Jungen angelastet, mit denen Saška
zusammen ist – dass Kasym Saška wegschickt, lässt mutmaßen, dass dieser
die Tat begangen hat, um sich an dem tyrannischen Beamten dafür zu
rächen, dass er auf einer Hochzeit den Bräutigam Veras ermordete. Dieser
Rachemord wird im Film bereits symbolisch in einer Szene gezeigt, in der
Saška mit seinen Freunden Schießübungen macht. Saška ist der einzige, der
in dem Moment das Ziel, eine durchsichtige Flasche, trifft, in dem Bulgabei im
Hintergrund mit seinem Motorrad vorbeifährt. In weiser Voraussicht rettet also
Kasym Saška so zum zweiten Mal das Leben. Gegen Ende des Film sehen
wir Saška als alten Mann an der Klagemauer in Jerusalem. Trotzdem fragt die
Filmfigur des alten Saška: „Wer bist du im Land deines Gottes, wenn ein Teil
deiner Seele zurückgelassen wurde?”
Der Film erinnert unter anderem an Werke wie den Roman Ein Tag länger als
das Leben, der in Deutsch 1982 erschien, geschrieben von dem kirgisisch-
kasachischen Autor Tschingis Aitmatov. Der Roman spielt hauptsächlich in
Sary-Ozek, Südkasachstan, wo auch Geschenk an Stalin gedreht wurde.
Der Darsteller des erwachsenen, alten Saškas, der im Film inzwischen in
Israel lebt, wird vom russisch-israelischen Buchautor David Markiš gespielt,
dessen Vater Peretz 1952 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. So ist sein
Besuch des verlassenen kasachischen Dorffriedhofs am Ende des Films nicht
nur für die Filmfigur bedeutsam: Als der alte Saška am Ende des Films seines
kasachischen Ziehvaters an dessen Grab in Kasachstan gedenkt und an der
Klagemauer in Jerusalem für ihn betet, vermischt sich Film und persönliche
Realität des Darstellers der Hauptfigur.
Der Film behandelt einige wichtige Phänomene des Stalinismus, wie zum
Beispiel den Umgang mit den verschiedenen Ethnien des Vielvölkerstaates.
Diaspora-Ethnien wie Juden, Koreaner, Deutsche, besonders wenn sie in
Grenzregionen wohnten, galten zur Zeit Stalins und insbesondere im Krieg als
Feinde des Volkes. Aber auch nach dem Krieg, bereits ab 1948, begann ein
verstärkter judenfeindlicher Kurs Stalins mit Verhaftungen, Deportationen und
Hinrichtungen. Die Zahl der Menschen, die in Straflagern, Gefängnissen oder
in der Verbannung festgehalten wurden, erreichte Anfang der 1950er Jahre
mit über fünf Millionen (rund 3 % der Bevölkerung) einen Höhepunkt. In
diesen Zusammenhang ist der Film einzuordnen, der Ereignisse im Jahr 1949
darstellt. Viele Menschen verloren bereits bei den gewaltsamen Aktionen ihr
Leben, noch viel mehr starben während des Transports, wie das im Film bei
Saškas Grossvater zu sehen ist.
Deportationen gab es jedoch bereits in grossem Stil vor, in und direkt nach
den Kriegsjahren: So wurden beispielsweise bis 1941 1,3 Millionen Polen und
Juden aus den Westgebieten der UdSSR deportiert. Es gab Pläne bis 1953
die gesamte jüdische Bevölkerung in die eigens für sie geschaffene Region
Birobidschan zu deportieren. In der gesamten sowjetischen Presse wurde das
Thema der Deportationen jedoch nie erwähnt, obwohl zum Beispiel bei den
großen Deportationen aus der nordkaukasischen Völker Anfang der 1940er
Jahre insgesamt für diese Transporte hunderttausende Mann Personal und
40'200 Zugwaggons benötigt wurden.
Der Kalte Krieg dient als weiterer Hintergrund dieses Films. Der erste
russische Nukleartest wurde am 29. August 1949 in der Nähe von
Semipalatinsk in Nordkasachstan, etwa 800 km nördlich von Almaty gemacht
– er war das Geschenk, das Stalin wirklich wollte. Der Abwurf der Bombe und
die Zerstörung des Dorfes sind am Ende des Films zu sehen. Es folgten vom
29. August 1949 bis zur Stilllegung am 29. August 1991 496 weitere Tests.
Dies entspricht etwa der Sprengkraft von 2'500 Hiroshima-Bomben. Die
Strahlung misst heute, 20 Jahre nach der letzten Sprengung, einen Wert, der
ungefähr 400-mal höher als der empfohlene Maximalwert ist. In den
anliegenden Wohnorten leiden die meisten Bewohner an diversen
Krankheiten, hauptsächlich an Krebs. Da es aufwändig und teuer ist, den von
den Behörden für jeden Einzelfall geforderten Nachweis zu erbringen, dass
die Atomtests in ursächlichem Zusammenhang mit den Krankheiten stehen,
werden die meisten Betroffenen nicht als Opfer anerkannt und leben unter
ärmsten Bedingungen.
Der Titel könnte somit auch zynisch verdreht werden von Geschenk an Stalin
– Podarok Stalinu in Stalins Geschenk - Podarok Staliny. Manche
Rezensenten des Films sehen als das wahre Geschenk an Stalin jedoch
weder den zu seinem Geburtstag durchgeführten Atomtest noch die
Geschenke, die ihm Millionen sowjetischer Kinder zukommen ließen, sondern
die Handlung eines alten kasachischen Muslimen: die Rettung eines
jüdischen Jungen nach der Schoa und vor der antisemitischen Paranoia des
stalinistischen Regimes.
Kritiker bemängeln, dass außer der großartig von Nurzhuman Ikhtimbaev
gespielten Figur des Kasym, die Charaktere zu flach seien, was nicht allein an
ihren schauspielerischen Fähigkeiten, sondern auch am Skript liege. Der Film
sei so sehr mit der eben ausgeführten Thematik beschäftigt, dass er
versäume Raum für Charaktertiefe zu lassen. Die kinematographischen
Aspekte werden jedoch oft gelobt und sind bestimmt auch Grund für die
Preise, die der Film erworben hat: Großartige Aufnahmen der weiten
kasachischen Steppe untermalen die dörfliche Idylle und stellen gleichzeitig
die Verlorenheit der Exilierten dar. Mit diesen wunderschönen
Landschaftsbildern wird der sowjetische Apparat kontrastiert:
wissenschaftliches und militärisches Personal in Gasmasken, die die letzten
Vorbereitungen für den Atomtest durchführen. Die Invasion der Sowjetmacht
an diesem friedlichen Ort wird durch sowjetische Radiosendungen und die
Hymne der Sowjetunion über Lautsprecher noch verstärkt.
Somit oszilliert der Film nicht nur, wie anfangs erwähnt, zwischen Gegenwart
und Vergangenheit, sondern auch zwischen den Kontrasten Tyrannei der
Sowjetmacht und Menschlichkeit auf persönlicher Ebene. Dadurch wird eine
Botschaft der Hoffnung vermittelt: Wenn auch das kasachische Dorf durch die
Zündung der Atombombe zerstört wurde, so gelang es Kasym doch, den
kleinen Sascha zu retten – ein Sieg der Menschlichkeit über die
unbarmherzige Diktatur des Staates. Am Ende des Films denkt man: Möge es
noch mehr 'Kasyms' in dieser Welt geben.
Geschenk an Stalin, Kasachstan/Russland/Israel/Polen, 97 min.; Regisseur: Rustem
Abdrašev; Drehbuch: Pavel Finn; Kinematographie: Khasan Kidiraliev; Produktionsdesign:
Aleksandr Rorokin; Musik: Kuat Šildebaev; Produzent: Boris Cherdabaev; Produktion:
Aldongar Productions; Saška (als Erwachsener): David Markiš; Saška (als Junge): Dalen
Šintemirov; Kasym: Nurzhuman Ikhtimbaev; Vera: Yekaterina Rednikova u. a.

Preise: The Sarmat Golden Lion des Festivals West and East in Orenburg (Russland) 2008;
1. Preis des internationalen Filmfestivals The East and the West Classics and Avantgarde,
Russland, 2008; 1. Preis des Belgrader Filmfestivals, Serbien, 2009.
Der Regisseur Rustem Abdrašev (Quelle: www.sfjff.org/film/biography)

Auswahl der Quellen:

http://www.kinokultura.com/2009/24r-podarok.shtml. Zugriff am 07.10.2010

http://www.sfjff.org/film/biography?id=4541&last=Abdrashov&first=Ruste&role=Director.
Zugriff am 07.10.2010

http://www.russia-ic.com/news/show/7521/. Zugriff am 03.11.2010

Haumann, Heiko (2010). Geschichte Russlands. Chronos: Zürich.

Nekrich, Aleksandr M. (1982). Les peuples punis: la déportation et le sort des minorités
soviétiques à la fin de la seconde guerre mondiale. Francois Maspero: Paris.

Pohl, J. Otto (1999). Ethnic cleansing in the USSR, 1937-1949. Greenwood Press: Westport.

Shrayer, Maxim D. The Gift to Stalin. Essay.

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