Herausgegeben von
Ernesto Grassi
unter Mitarbeit von
WalterHess
Griechische Literatur
Band :10
ARISTOTELES
Metaphysik
Obersetzt
von Hermann Bonitz
(ed. Wellmann)
Mit Gliederungen
Registern und Bibliographie
herausgegeben von
Hector Carvallo
und Ernesto Grassi
ROWOHLT
1.055 a ZEHNTES BUCH • 4 221.
1. Vgl. V 22.
224 ZEHNTES BUCH ' 5 1056 a
Teil oder- durchaus. Darum gibt es bei manchen privativen Ge-
gensätzen ein Mittleres, z. B. einen Menschen, der weder gut
noch schlecht ist, bei anderen nicht, wie z. B. etwas notwendig
25 gerade oder ungerade sein muß, weil 1 nämlich der eine ein be-
stimmtes Substrat hat, der andere nicht.
Demnach ist offenbar, daß immer das eine Glied des konträren
Gegensatzes eine Privation bezeichnet; es genügt aber schon, wenn
dies von den ersten konträren Gegensätzen und den Gattungen
der-selben gilt, wie z. B. von Einen und dem Vielen; denn die
andem werden auf diese zur-ückgeführt.
1.Ist das Gleiche (to ison) dem Großen (to mega) und dem Kleinen (tö
mikr6n) als Konträres entgegengesetzt? Die disjunktive Frageform (to
p6teron).- 2. Die Entgegensetzung des Gleichen zum Großen und Klei-
nen kann kein konträrer Gegensatz sein.- 3· Sie ist privative Negation.
- 4· Zwei Sonderfälle von privativer Negation.- 5· Nähere Bestimmung
der privativen Negation.
1 <Weil> (hoti) für <ferner> (eti) nach Alexander; vgl. Komm. S. 434·
[Anders J. u. R.]
2 Vgl. zu dieser Obersetzung Komm. S. 435·
Jo
1056 a ZEHNTES BUCH • 5 225
1. These. - 2. Gleidlheit der Gattung (genos) des Mittleren und der zu-
gehörigen Konträren.- 3· Jedes Mittlere ist ein soldies von Entgegenge-
setzten (antikeimena).- 4· Sdllußfolgerung: Das Mittlere muß aus den
Konträren zUsammengesetzt sein (synkeisthai ex enantiön).
gensatz, dessen eines Glied jedem zukommt, ohne daß ein Mittle- 35
res stattfände. Die übrigen Arten des Gegensatzes sind Relation,
Privation und konträrer Gegensatz. Unter dem Relativen nun hat
dasjenige, das nicht zueinander in konträrem Gegensatz steht,
nichts Mittleres, weil es nicht in derselben Gattung begriffen ist.
Denn was sollte denn das Mittlere sein zwischen Wissenschaft
und Wißbarem? Wohl aber gibt es zwischen groß und klein ein 1057 b
Mittleres.
(4.) Ist aber das Mittlere, wie erwiesen, in derselben Gattung
(genas) und ein von konträr Entgegengesetztem (enan-
tla), so muß es notwendig selbst aus diesem Konträren zusam-
mengesetzt sein. Entweder nämlich wird es für dasselbe eine Gat-
tung geben oder nicht. Und wenn sich nun eine Gattung findet,
so daß sie etwas Früheres ist als das Konträre, so werden die Un-
terschiede (diaphoraf) als früher konträr entgegengesetzt sein, 5
welche das Konträre, als Arten (eldi) der Gattung, bilden; denn
die Arten bestehen aus der Gattung und den Unterschieden. Z. B.
wenn das Weiße und das Schwarze einander konträr entgegenge-
setzt sind, und das eine trennende Farbe ist, das andere verbin-
dende Farbe, so werden diese Unterschiede, trennend und verbin-
dend, früher, mithin wird auch dieser konträre Gegensatz früher 10
sein. Nun sind aber doch die konträr entgegengesetzten Unter-
schiede früher 1 , und das übrige und das Mittlere muß aus der
Gattung und den Unterschieden bestehen. Z; B. alle Farben, welche
etwas Mittleres zwischen weiß und schwarz sind, müssen bezeich-
net werden als aus der Gattung, nämlich der Farbe, und gewissen 15
Unterschieden bestehend. Diese Unterschiede können nicht das
erste Konträre sein, sonst müßte jedes weiß oder schwarz sein.
Also müssen es andere sein, und diese Unterschiede müssen also
zwischen dem ersten Konträren liegen. Die ersten Unterschiede
aber sind das Trennende und das Verbindende. Man muß also bei
denjenigen ersten Konträren, welche nicht in der Gattung enthal-
ten sind, untersuchen, woraus ihr Mittleres entsteht. Denn not-
wendig muß das in derselben Gattung Begriffene aus solchem, 2o
was mit der Gattung unzusammengesetzt (asyntheta) ist, zusam-
mengesetzt sein, oder es muß selbst unzusammengesetzt sein.
Das Konträre nun ist nicht aus einander zusammengesetzt, also
ist es Prinzip (archai); das Mittlere aber ist entweder alles unzu-
sammengesetzt oder nichts davon. Nun wird aber etwas aus
Konträrem so, daß ein Obergang in dasselbe früher stattfinden
muß als in das Konträre selbst, da es mehr als das eine, weniger 25
35 (1.) Das der Art nach Verschiedene ist von etwas in etwas ver-
sdtieden, und dieses muß beiden zukommen; z. B. wenn ein Tier
der Art nach verschieden von einem anderen ist, so sind beide
Tiere. Das Artverschiedene muß sich also notwendig in demsel-
ben Geschlecht befinden. Idt nenne nämlidt dasjenige Gesdtlecht
1058 a (genas), was von beiden als eins und dasselbe ausgesagt wird und
das sich nicht bloß in akzidenteller Weise unterscheidet, mag es
nun als Stoff existieren oder auf eine andere Weise. Es muß näm-
lich nidtt nur das Gemeinsame sich in beiden finden, daß z. B. bei-
5 de Tiere sind, sondern eben dies selbst, Tier, muß für jedes von
beiden ein anderes sein, z. B. Mensdt und Pferd. Deshalb ist das
Gemeinsame (koin6n) untereinander der Art nach ein anderes. Es
muß also an sich das eine ein solches Tier sein, das andere ein sol-
ches, z. B. das eine Pferd, das andere Mensdt. Dieser Unterschied
muß also ein Anderssein des Geschlechtes sein. Ich nenne nämlidt
den Untersmied des Gesdtledttes ein Anderssein, welcher dies
selbst, das Gesdtledtt, zu einem andem macht. (2.) Es wird dies
also eine Entgegensetzung sein. Das erhellt audt aus der Induk-
tion. Denn alles wird durch Gegensätze eingeteilt, und daß das
10 konträr Entgegengesetzte sidt in demselben Geschlecht findet, ist
1058 a ZEHNTES BUCH • 9 2J:l
:l.(a) Warum ist das Weib vom Manne nidtt der Art nadt versdtieden?
(b) Weldter Gegensatz (enantiösis) bringt Artversdtiedenheit (td eidei
hetera) hervor?- z. Die begrifflidten Gegensätze (hai en td logo enan-
tiotetes) bringen Artversdtiedenheit hervor. - .3· Anwendung auf das
Beispiel von Weib und Mann.
S. o. Kap. 4·
:l
z <der - zukommenden> (proshekontön) nadt Ab; proshekontös <nadt
Gebühr> E. und Christ. [J. und R.: proshek6ntos.]
.3 Das kaloumenon, wofür im Kommentar S. 447 kategoroumenon
oder kath6lou 6n vorgesdtlagen wird, ist in der Ubersetzung nidtt be-
rüdtsidttigt.
232 ZEHNTES BUCH ' 9 1058 b
(1.. a) Man könnte aber fragen, weshalb denn das Weib vom
Manne nicht der Art nach verschieden ist, da domdas Weibliche
30 zum Männlichen im Gegensatz steht, der Untersmied aber ein
Gegensatz ist, und weshalb ebenso das weibliche und das männ-
liche Tier nicht der Art nam untersmieden sind, da dies dom ein
Unterschied des Tieres an sim ist, und nimt so wie weiße und
schwarze Farbe, sondern weiblim und männlim dem Tier zu-
kommt, insofern es Tier ist. (b) Diese Frage fällt ungefähr zu-
sammen mit dieser, weshalb denn einige Gegensätze Artversdtie-
35 denheit hervorbringen, andere nicht; z. B. befußt und geflügelt
bringt Artverschiedenheit hervor, weiße und smwarze Farbe da-
gegen nicht. (2.) Vielleimt liegt der Grund darin, daß jenes eigen-
tümliche Affektionen (path€) der Gattung sind, dieses aber we-
1o58 b niger. Und indem nun etwas teils Begriff (l6gos) ist, teils Stoff
(hyl€), so bringen die den Begriff treffenden Gegensätze Art-
untersdtiedenheit (diaphora eidei) hervor, die mit dem Stoff zu-
sammengefaßten dagegen nicht. Daher bringt weiße und schwar-
ze Farbe keine Artverschiedenheit hervor, und der weiße Mensdt
5 steht zu dem schwarzen nimt in einer Untersdtiedenheit der Art
nadt, auch dann nimt, wenn man für jeden einen Namen setzt.
Denn der Mensch ist hier nur als Stoff genommen, der Stoff aber
bewirkt keinen Unterschied; deshalb sind ja auch die einzelnen
Mensdten nicht Arten des Menschen, obwohl das Fleisch und die
Knomen, aus denen dieser besteht, andere sind als die; aus denen
jener besteht; sondern das Konkrete (synholon) ist zwar ein Ande-
res, aber nicht ein der Art nach Anderes, weil in dem Begriff kein
Gegensatz stattfindet; diese Art aber ist das letzte Unteilbare.
10 Kallias nun ist der mit dem Stoff zusammengefa:ßte Begriff, also
ist auch der weiße Mensch ein solcher, weil i<allias weiß ist; also
ist der Mensch nur in akzidentellem Sinne weiß. Auch der eherne
Kreis und das hölzerne Dreietk % oder das eherne Dreiedc: und der
hölzerne Kreis sind nicht um des Stoffes willen der An nach ver-
schieden; sondern weil sich im Begriff eine Entgegensetzung
15 findet.
Bringt aber der Stoff nicht Artverschiedenheit hervor, wenn er
in gewisser Weise ein anderer ist, oder bewirkt er auf gewisse
Weise Artverschiedenheit? Denn warum ist denn dieser einzelne
Mensch von diesem einzelnen Pferd der Art nach verschieden, da
doch ihre Begriffe mit dem Stoff zusammengefaßt sind 7 Doch
wohl, weil im Begriff die Entgegensetzung (enantiosis) liegt.