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Rowohlts Klassiker der

Literatur und der


Wissenschaft

Herausgegeben von
Ernesto Grassi
unter Mitarbeit von
WalterHess

Griechische Literatur
Band :10
ARISTOTELES

Metaphysik

Obersetzt
von Hermann Bonitz
(ed. Wellmann)
Mit Gliederungen
Registern und Bibliographie
herausgegeben von
Hector Carvallo
und Ernesto Grassi

ROWOHLT
1.055 a ZEHNTES BUCH • 4 221.

etwas unterschieden sein; es muß also für beide etwas Identisches


(taut6 ti) geben, wodurch sie sich unterscheiden. Dieses Identische
ist entweder Gattung oder Art 1 ; denn alles Unterschiedene un-
terscheidet sich entweder der Gattung oder der Art nach, der Gat-
tung nach nämlich, wenn es keinen gemeinsamen Stoff hat und..
kein Übergang aus dem einen ins andere möglich ist, z. B. alles,
was verschiedenen Kategorien angehört; der Art nach, was sich in
derselben Gattung befindet. Gattung heißt das, was identisch von .30
beiden Unterschiedenen der Wesenheit nach ausgesagt wfrd. (b)
Das Konträre (ta enantfa) ist unterschieden, und der konträre Ge-
gensatz eine Art von Unterschied. Daß wir dies mit Recht so auf-
stellen, ergibt sich durch Induktion. Denn von allem in etwas
Verschiedenen zeigt sich, daß es auch Selbiges a und nicht bloß
Anderes ist, sondern dies ist, was dem Geschlechte nach anderes .35
ist, jenes, was sich in derselben Reihe der Aussage findet, also in 1.055 a
demselben Geschlecht und dasselbige dem Geschlecht nach. Wel-
cherlei Dinge aber dem Geschlecht nach die selbigen oder andere
sind, ist anderwärts 3 unterschieden.

4· DIE KONTRÄRE ENTGEGENSETZUNG


(enantfösis, enanti6tes)

Der größte Untersmied (megiste diaphora) als der konträre Gegensatz


(enantiösis). - 2. Der konträre Gegensatz (enanti6tes) als die vollen-
dete Untersdtiedenheit (teleia diaphora).- .3· Eines kann nidtt mehrere
konträre Gegensätze haben.- 4· der vorangehenden Be-
stimmungen. - 5· Der erste konträre Gegensatz (prifte enantiösis) ist
Haben (hexis) und Privation (steresis he teleia). - 6. Wi-
dersprudt (antiphasis) und konträrer Gegensatz. (a) Sie sind nidtt das-
selbe. (b) Die Privation ist eine bestimmte Art des Widersprudts. - 7·
(a) Nidtt jede Privation (steresis) ist ein konträrer Gegensatz, äber je-
der konträre Gegensatz ist eine Privation. (b) Erläuterung durdt Bei-
spiele.

(1.) Da sich aber das Unterschiedene mehr und weniger vonein-


ander unterscheiden kann, so gibt es auch einen größten Unter-
schied, und diesen nenne ich konträren Gegensatz (enant{ösis).
e e
1. <Dieses- Art• (totito de tauto genos etdos) nadt J\).exander; vgl.
Komm. S. 428. rA.hnlidt J. und R.]
2 <Denn - Selbiges• (panta gar ta diapheronta phainetai kai tauta);
vgl. Komm. S. 429. [J. und R.: tauta.]
.3 Vgl. V9.
2 22 ZEHNTES BUCH • 4 1055 a
5 Daß dieser die größte Unterschiedenheit ist, erhellt aus der In-
duktion. Denn dasjenige, was dem Geschlecht nach unterschieden
ist, gestattet keinen Obergang ineinander, sondern ist weiter von-
einander entfernt und unvergleichbar; bei dem der Art nach Un-
terschiedenen aber findet Entstehung aus dem Konträren als dem
Äußersten statt. Das Äußerste hat den größten Abstand, also hat
10 auch das Konträre den größten Abstand. (2.) Das Größte aber in
jeder Gattung ist vollendet. Denn das Größte ist dasjenige, das
nicht übertroffen werden kann, vollendet das, außerhalb dessen
sich nichts finden läßt; denn der vollendete Unterschied (teleia
diaphora) hat sein Ende erreicht, so wie auch alles übrige darum
vollendet heißt, weil es zum Ende gelangt ist. Außerhalb des En-
des aber liegt nichts; denn dies ist das Äußerste in allem und um-
schließt das Ganze. Deshalb liegt also nichts jenseits des Endes,
15 und das Vollendete bedarf keines weiteren Zuwachses.
(3.) Daß also der konträre Gegensatz (enanti6tes) vollendete
Unterschiedenheit ist, erhellt hieraus; indem aber konträr in ver-
schiedenen Bedeutungen gebraucht wird, so wird den verschiede-
nen Arten desselben Vollendung in eben dem Sinne zukommen,
wie ihnen der konträre Gegensatz zukommt. Ist dem also, so ist
offenbar, daß eines nicht mehrere konträre Gegensätze habe;n
kann; denn nichts kann noch mehr äußerstes sein als das Äußer-
ste, und der eine Abstand kann nicht mehr als zwei Endpunkte
20 haben. Und überhaupt, wenn der konträre Cegensatz ein Unter-
schied ist, der Unterschied aber zwischen zwei Dingen besteht, so
muß auch der vollendete Unterschied zwischen zwei Dingen statt-
finden.
(4.) Auch die anderen Bestimmungen über das Konträre müs-
sen notwendig gelten. Der vollendete Unterschied ist nämlich der
größte. Denn außerhalb des Gebietes dessen, was sich der Gat-
tung oder der Art nach unterscheidet, darf man nichts nehmen
25 (denn es ist erwiesen, daß zu dem außerhalb der Gattung Liegen-
den kein Unterschied stattfindet), unter diesen aber ist der vollen-
dete Unterschied der größte. Auch das in derselben Gattung am
meisten Unterschiedene ist konträr; denn der vollendete Unter-
schied derselben ist der größte. Auch das in demselben empfängli-
chen Stoff am meisten Unterschiedene ist konträr; denn der Stoff
für das Konträre ist derselbe. Ebenso ist auch das am meisten Un-
30 terschiedene unter demjenigen, was demselben Vermögen ange-
hört, konträr; denn eine einzige Wissenschaft geht auf eine
Gattung, in welcher dann der vollendete Unterschied der größte
ist.
(5.) Der erste konträre Gegensatz ist Haben (hexis) und Pri-
1.055 b ZEHNTES BUCH • 4 223

vation (steresis), aber nicht jede Privation, da dieses Wort in meh-


reren Bedeutungen gebraucht wird, sondern nur vollendete Pri-
vation. Alles übrige Konträre wird nur nach diesem ersten Kon-
trären so benannt, entweder weil es dasselbe hat, oder hervor- 35
bringt oder hervorzubringen fähig ist, oder dies oder anderes Kon-
träre annimmt oder ablegt.- (6. a) Wenn nun Gegensätze sind der
Widerspruch (antiphasis), die Privation, der konträre Gegensatz
und die Relation, worunter der Widerspruch das Erste ist, und 1.055 b
wenn es ferner beim Widerspruch kein Mittleres gibt, während
beim Konträren ein solches stattfinden kann: so erhellt, daß Wi-
derspruch und konträrer Gegensatz nicht dasselbe ist. (b) Die Pri-
vation ist aber ein bestimmter Widerspruch; denn teils dem, was
überhaupt unvermögend ist, etwas zu haben, teils dem, was, von 5
Natur befähigt, etwas zu haben, es nicht hat, schreibt man Priva-
tion zu, und dies entweder überhaupt oder mit irgend näherer Be-
stimmung; denn es wird, wie wir dies anderweitig erörtert ha-
ben x, in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Es ist also die
Privation eine bestimmte Art des Widerspruchs, nämlich ein ent-
weder geschiedenes oder mit dem empfänglichen Stoffe zusam-
menbegriffenes Unvermögen (adynamia). Daher gibt es für den
Widerspruch nichts Mittleres, wohl aber für manche Privationen;
denn gleich oder nicht gleich muß jedes sein, gleich oder ungleich 1.0
aber nicht jedes, sondern nur das für die Gleichheit Empfängliche.
(7. a) Wenn nun die Entstehungen (geneseis) für den Stoff von
dem Konträren ausgehen, und wenn sie ferner entweder von der
Form (eidos) und dem Haben der Form oder von der Privation
der Form und der Gestalt ausgehen, so ist offenbar jeder konträre
Gegensatz eine Privation, aber wohl nicht jede Privation ein kon-
trärer Gegensatz. Der Grund liegt darin, daß Privation demjeni-
gen, dem sie beigelegt wird, auf verschiedene Weise zukommen 1.5
kann, während nur das konträr ist, von welchem als dem Äußer-
sten die Veränderungen ausgehen. - (b) Es erhellt dies auch aus
Induktion. Jeder konträre Gegensatz nämlich enthält die Priva-
tion des einen von den beiden konträr entgegengesetzten Glie-
dern, aber nicht bei allem auf gleiche Weise, Ungleichheit näm-
lich die Privation der Gleichheit, Unähnlichkeit die der Ähnlich-
keit, Schlechtigkeit die der Tugend. Es tritt hierbei der besproche- 20
ne Unterschied ein; manchem nämlich legt man Privation bei,
wenn sie nur überhaupt stattfindet, anderem, wenn sie zu be-
stimmter Zeit oder an einem bestimmten Teile stattfindet, z. B.
in einem gewissen Lebensalter, oder an dem dazu bestimmten

1. Vgl. V 22.
224 ZEHNTES BUCH ' 5 1056 a
Teil oder- durchaus. Darum gibt es bei manchen privativen Ge-
gensätzen ein Mittleres, z. B. einen Menschen, der weder gut
noch schlecht ist, bei anderen nicht, wie z. B. etwas notwendig
25 gerade oder ungerade sein muß, weil 1 nämlich der eine ein be-
stimmtes Substrat hat, der andere nicht.
Demnach ist offenbar, daß immer das eine Glied des konträren
Gegensatzes eine Privation bezeichnet; es genügt aber schon, wenn
dies von den ersten konträren Gegensätzen und den Gattungen
der-selben gilt, wie z. B. von Einen und dem Vielen; denn die
andem werden auf diese zur-ückgeführt.

5· DIE PRIVATIVE NEGATION (apophasis steretiki!J

1.Ist das Gleiche (to ison) dem Großen (to mega) und dem Kleinen (tö
mikr6n) als Konträres entgegengesetzt? Die disjunktive Frageform (to
p6teron).- 2. Die Entgegensetzung des Gleichen zum Großen und Klei-
nen kann kein konträrer Gegensatz sein.- 3· Sie ist privative Negation.
- 4· Zwei Sonderfälle von privativer Negation.- 5· Nähere Bestimmung
der privativen Negation.

30 (1.) Da zu einem immer nur eins der konträre Gegensatz ist, so


könnte man fragen, wie Eins und Viele und wie das Gleiche dem
Großen und dem Kleinen entgegengesetzt ist. Die Frageform näm-
lich ob oder (to p6teron) wird immer nur beim Gegensatz ange-
wendet, z. B. ob etwas weiß oder schwar-z und ob es weiß oder
nicht weiß ist; dagegen sagen wir nicht: ob ein Mensch oder weiß,
35 außer unter einer bestimmten Voraussetzung und so, wie wenn
wir z. B. fragen, ob Kleon oder Sokrates kam. Denn eine Notwen-
digkeit dazu, daß nur eins von beiden der Fall ist, liegt in keiner
Art vor 2 • Aber auch dies ist von jenem abgeleitet; denn nur bei
dem Entgegengesetzten ist es unmöglich, daß es zugleich statt-
finde, und dies wendet man auch an, wenn man fragt, ob der eine
1056 a oder der andere kam; denn wäre beides zugleich möglich, so wäre
die Frage lächerlich. Doch auch in diesem Falle fällt es auf ähnliche
Weise unter den Gegensatz, nämlich unter den Gegensatz Eins
und Viele, z. B. ob beide kamen oder der eine. - (2.) Wenn also
die Frage mit oder immer bei dem Entgegengesetzten stattfindet,
und man doch sagt <ist dies größer oder kleiner oder gleich?>, so

1 <Weil> (hoti) für <ferner> (eti) nach Alexander; vgl. Komm. S. 434·
[Anders J. u. R.]
2 Vgl. zu dieser Obersetzung Komm. S. 435·

Jo
1056 a ZEHNTES BUCH • 5 225

fragt sich: in welchem Gegensatz steht das Gleiche zu diesen bei- 5


den? Denn es ist ja weder für das eine von beiden noch für beide
das Konträre; denn warum sollte es dies für das Größere mehr
sein als für das Kleinere? Ferner ist das Gleidte das Konträre zu
dem Ungleichen; also wäre es zu mehr als einem das Konträre.
Wenn aber das Ungleidte dasselbe zugleich für beides bezeichnet,
so wäre es doch beiden entgegengesetzt. Und diese Erwägung ist
denen günstig, welche das Ungleiche für eine Zweiheit erklären; :10
aber es ergibt sich doch, daß eins zweien konträr entgegengesetzt
sein müßte, was unmöglich ist. Ferner zeigt sich, daß das Gleiche
zwischen dem Großen und Kleinen liegt; nichts Konträres aber
erscheint als ein Mittleres (metaxy) und kann es auch nach der
Begriffsbestimmung nicht; denn es würde keinen vollendeten Ge-
gensatz enthalten, wenn es ein Mittleres wäre, vielmehr enthält
es anderes als Mittleres zwischen sich. (3.) Es bleibt also nur noch
übrig, daß es als Negation oder als Privation entgegengesetzt sei. 15
Als Negation oder als Privation nun des einen von beiden kann
es nicht entgegengesetzt sein; denn warum sollte es mehr dem
Großen als dem Kleinen entgegengesetzt sein? Es ist also privati-
ve Negation (ap6phasis steretiki) von beiden. Darum gebraucht
man das oder auch nur in Beziehung auf beides, aber nicht auf
eins von beiden, z. B. <ist etwas größer oder gleich?> oder <ist es
gleich oder kleiner?>, sondern man verbindet immer die drei. Es 20
ist aber nicht eine notwendige Privation; denn nicht jedes, was
weder größer noch kleiner ist, ist darum gleich, sondern nur das,
wobei jene Begriffe von Natur sta.tthaben.
Es ist also das Gleiche dasjenige, was weder groß noch klein ist,
während es von Natur befähigt ist groß oder klein zu sein; es ist
beiden als privative Negation entgegengesetzt und liegt deshalb
auch zwischen beiden.- (4.) Audt dasjenige, was weder gut nodt 25
böse ist, ist beiden entgegengesetzt, nur hat es darum keine be-
sondere Benennung, weil beides, gut und böse, in versdtiedenen
Bedeutungen gebraucht wird und nicht einen einzigen Stoff hat.
Eher findet dies statt bei dem, was weder weiß noch schwarz ist;
doch hat auch dies nicht eine einzige Benennung, sondern man
führt die irgendwie bestimmten Farben an, von welchen diese Ne-
gation im privativen Sinne prädiziert wird; denn notwendig muß
etwas grau oder blaß sein oder sonst etwas der Art. (5.) Unge- 30
recht ist also der Tadel derer, welche meinen, es müsse dies von
allem auf gleiche Weise ausgesagt werden, und es müsse als zwi-
schen Schuh und Hand dasjenige ein Mittleres sein, was weder
Schuh noch Hand ist, sofern ja dasjenige, was weder gut noch bö-
se ist, ein Mittleres ist zwischen dem Guten und dem Bösen, gleich
ZEHNTES BUCH • 6
als müsse es bei allem ein Mittleres geben. Aber diese Folgerung
.35 ist gar nicht notwendig. Die Negation nämlich der beiden Glieder
des Gegensatzes zugleich findet nur da statt, wo es ein Mittleres
1056 b und eine bestimmte Entfernung der Natur der Sache nach gibt; in
jenem Falle aber gibt es keinen Unterschied, weil das zugleich Ne-
gierte nicht derselben Gattung angehört, also das Substrat nicht
dasselbe ist.

6. DER GEGENSATZ ZWISCHEN DEM EINS (to hen) UND


DEN VIELEN (ta polla)

1. Sind die Vielen dem Eins sdtledtthin entgegengesetzt (haplßs anti-


keitai), so ergeben sidt unmöglidte Folgerungen. - 2. Nähere Bestim-
mung von <Viele> (polla). (a) Vieles (poly) und Viele (polla). (b) Nur
in seiner Bedeutung als Zahl steht <Viele> dem Eins gegenüber. (c) Be-
stätigung.- .3· Lösung der Sdtwierigkeiten. (a) Die Zahl als eine dunh
Eins meßbare Menge. (b) Das Verhältnis der Wissensdtaft (epistbne)
zum Wißbaren (epistet6n). (c) Menge (plethos) - das Wenige (to oli-
gon)- das Viele (to poly). Menge- Eins.

(1..) Ähnliche Fragen könnte man auch in betreff des Gegensatzes


Eins und Viele aufwerfen. Denn wenn Eins und Viele einander
schlechthin entgegengesetzt sind, so ergeben sich daraus einige
5 unmögliche Folgerungen. Denn das Eins müßte dann Weniges
oder Wenige sein, weil auch Wenige einen Gegensatz zu Vielen
bildet. Ferner Zwei müßte Viele sein, sofern ja das Zweifache, das
nach der Zwei benannt ist, ein Vielfaches ist. Das Eins also wäre
Weniges; denn womit sonst verglichen sollte denn Zwei Viele
sein, außer mit dem Eins und dem Wenigen, da es nichts Geringe-
10 res gibt? Ferner, wie sich bei der Länge das Lange und Kurze fin-
den, so bei der Menge das Viele und Wenige, und was Vieles (poly)
ist, das ist zugleich Viele (p6lla), was Viele zugleich Vieles. Also
wenn nicht bei dem leicht begrenzbaren Kontinuum ein Unter-
schied stattfindet, so muß das Wenige eine Menge sein. Also ist
das Eins eine Menge (plethos), sofern es ja Weniges ist; dies aber
ergibt sich notwendig, wenn Zwei Viele ist. (2. a) Doch vielleicht
15 nennt man die Vielen in gewisser Weise auch Vieles, aber mit
einem Unterschied, z. B. Wasser nennt man Vieles, aber nicht
Viele. (b) Man gebraucht vielmehr Viele nur von alledem, was
geteilt ist, in der einen Bedeutung, so daß es eine Menge bezeich-
net, die ein Obermaß enthält, entweder schlechthin oder in Be-
ziehung auf etwas Bestimmtes, so wie man ebenso Weniges von
1057 a ZEHNTES BUCH • 6 227

einer Menge aussagt, die einen Mangel enthält; in der anderen


Bedeutung als Zahl, und in dieser allein steht es dem Eins gegen-
über. (c) Denn wenn wir sagen Eins oder Viele, so ist das gerade- 20
so, als wenn man sagt Einheit und Einheiten oder Weißes und
Weiße oder Maß und Gemessenes 1 • In derselben Bedeutung ge-
braucht man auch Vielfaches; jede Zahl nämlich ist Viele, weil je-
de Einheiten enthält und durch Eins meßbar ist, und als entgegen-
gesetzt dem Eins, nicht dem Wenigen. In diesem Sinne ist also
aum Zwei Viele, nicht als eine Menge, die smlechthin oder in Be- 25
ziehung auf ein bestimmtes ein Übermaß enthielte, sondern als
erste Menge. Wenige dagegen ist die Zwei sdtlemthin; denn sie
ist die erste Menge, 4ie einen Mangel enthält. Deshalb war Ana-
xagoras im Unrecht mit seiner abweichenden Behauptung: «Alle
Dinge waren zusammen, unbegrenzt an Menge und an Kleinheit.»
Er hätte statt «und an Kleinheit» sagen müssen «und an Wenig-
keit». Denn sie sind nicht unbegrenzt, da das Wenige nicht von 30
dem Eins, wie einige annehmen, sondern von der Zwei herrührt.1
(3• a) Eins und Viele in den Zahlenstehenalso einander gegen-
über wie das Maß (metron) dem Meßbaren, d. h. wie dasjenige
Relative, welches nicht an sich zu dem Relativen gehört. Schon
andern Ortes 2 haben wir erörtert, daß das Relative (ta pr6s ti)
in zwei versmiedenen Bedeutungen gebraucht wird, einmal als 35
das Entgegengesetzte, dann in der Weise, wie die Wissensmaft
dem Gewußten insofern gegenübersteht, als etwas anderes auf 1057 a
dasselbe bezogen wird. Daß das Eins kleiner ist als etwas, z. B. als
zwei, smadet nichts; denn wenn es auch kleiner ist, so ist es dar-
um nimt Weniges. Die Menge aber ist gleichsam der Gattungs-
begriff (genos) der Zahl, indem die Zahl eine durch Eins meßbare 5
Menge ist. Und es steht sich in gewisser Weise gegenüber Eins
und Zahl, nicht als Konträres, sondern, wie gesagt, so wie einiges
von dem Relativen, nämlich insofern, als das eine Maß, die ande-
re meßbar ist. Darum ist auch nicht alles, was Eins ist, zugleim
Zahl, z. B. alles, was unteilbar ist. (b) Das Verhältnis der Wis-
sensmaft (episteme) zum Wißbaren (epistet6n) wird zwar in 10
gleicher Weise bezeichnet, doch ist es nimt gleich; denn es könnte
wohl scheinen, als sei die Wissenschaft das Maß, das Wißbare
das Gemessene, es ergibt sich aber vielmehr, daß zwar jede Wis-
sensmaft wißbar, aber nicht jedes Wißbare Wissensmatt ist, weil
in gewissem Sinne die Wissenschaft durch das Wißbare gemessen
1 So übersetzt B. nadt Konjektur; im Komm. S. 440 empfiehlt er, statt
des Oberli.eferten zu lesen ta memetremena kal to metreton pros to
metron <das Gemessene und das Meßbare gegenüber dem Maß>.
2 Vgl. V15.
228 ZEHNTES BUCH • 7 1057 a
wird. (c) Die Menge aber ist weder zu Wenig der konträre Ge-
gensatz, sondern diesem steht vielmehr Viel gegenüber als über-
15 treffende Menge der übertroffenen, noch auch zu Eins in jeder
Weise, sondern einmal, wie gesagt, als Teilbares (dihaireton) zu
dem Unteilbaren (adihaireton), zweitens in der Weise der Rela-
tion, wie die Wissenschaft dem Wißbaren entgegensteht, wenn
die Menge Zahl, das Eins aber Maß ist 1 •

7• DAS MITTLERE (to metaxY) BESTEHT AUS DEN


KoNTRÄREN (enantia)

1. These. - 2. Gleidlheit der Gattung (genos) des Mittleren und der zu-
gehörigen Konträren.- 3· Jedes Mittlere ist ein soldies von Entgegenge-
setzten (antikeimena).- 4· Sdllußfolgerung: Das Mittlere muß aus den
Konträren zUsammengesetzt sein (synkeisthai ex enantiön).

(1.) Da bei Konträrem ein Mittleres stattfinden kann und bei


manchem wirklich stattfindet, so muß das Mittlere notwendig
20 aus dem Konträren bestehen. (2.) Alles Mittlere nämlich ist mit
dem, dessen Mittleres es ist, in derselben Gattung. Denn Mitt-
leres nennen wir das, in welches das sich Verändernde sich frü-
her verändern muß; z. B. wenn man von der untersten Saite zur
höchsten durch die kleinsten Untersd!iede fortsd!reitet, so muß
man früher zu den mittleren Tönen gelangen, und wenn man in
25 den Farben vom Weißen zum Schwarzen gelangen will, so muß
man früher zum Roten und zum Grauen kommen als zum Schwar-
zen, und in gleicher Weise verhält es sich bei allem anderen. Ein
Obergang aber aus einer Gattung in eine andere, z. B. aus Farbe
in Figur, ist nicht möglich außer im akzidentellen Sinne. Also muß
notwendig das Mittlere (ta metaxy) untereinander und mit
dem, dessen Mittleres es ist, in derselben Gattung sein.
30 (3) Nun ist aber alles Mittlere mittleres von Entgegengesetz-
tem (antikeimena); denn aus diesem allein kann Veränderung an
sich (metaballein kath' hauta) statthaben. Also ist es unmöglich,
daß etwas ein Mittleres sei von Nichtentgegengesetztem, weil es
sonst eine Veränderung geben müßte, die nicht von Entgegenge-
setztem ausginge. Unter den Entgegensetzungen aber hat der
Widerspruch kein Mittleres; denn Widerspruch ist ja eben ein Ge-
1 In dem Komm. S. 441 liest B. mit Alexander am Sdlluß to d'hen
kai metron und erklärt: cwenn jene (die Wissensdlaft) Zahl, dieses (das
Wißbare) Eins und Maß ist». [Anders J. u. R.; vgl. Ross o. c. II 298 zu
1057 a 14-17.]
1057 b ZEHNTES BUCH • 7 2.29

gensatz, dessen eines Glied jedem zukommt, ohne daß ein Mittle- 35
res stattfände. Die übrigen Arten des Gegensatzes sind Relation,
Privation und konträrer Gegensatz. Unter dem Relativen nun hat
dasjenige, das nicht zueinander in konträrem Gegensatz steht,
nichts Mittleres, weil es nicht in derselben Gattung begriffen ist.
Denn was sollte denn das Mittlere sein zwischen Wissenschaft
und Wißbarem? Wohl aber gibt es zwischen groß und klein ein 1057 b
Mittleres.
(4.) Ist aber das Mittlere, wie erwiesen, in derselben Gattung
(genas) und ein von konträr Entgegengesetztem (enan-
tla), so muß es notwendig selbst aus diesem Konträren zusam-
mengesetzt sein. Entweder nämlich wird es für dasselbe eine Gat-
tung geben oder nicht. Und wenn sich nun eine Gattung findet,
so daß sie etwas Früheres ist als das Konträre, so werden die Un-
terschiede (diaphoraf) als früher konträr entgegengesetzt sein, 5
welche das Konträre, als Arten (eldi) der Gattung, bilden; denn
die Arten bestehen aus der Gattung und den Unterschieden. Z. B.
wenn das Weiße und das Schwarze einander konträr entgegenge-
setzt sind, und das eine trennende Farbe ist, das andere verbin-
dende Farbe, so werden diese Unterschiede, trennend und verbin-
dend, früher, mithin wird auch dieser konträre Gegensatz früher 10
sein. Nun sind aber doch die konträr entgegengesetzten Unter-
schiede früher 1 , und das übrige und das Mittlere muß aus der
Gattung und den Unterschieden bestehen. Z; B. alle Farben, welche
etwas Mittleres zwischen weiß und schwarz sind, müssen bezeich-
net werden als aus der Gattung, nämlich der Farbe, und gewissen 15
Unterschieden bestehend. Diese Unterschiede können nicht das
erste Konträre sein, sonst müßte jedes weiß oder schwarz sein.
Also müssen es andere sein, und diese Unterschiede müssen also
zwischen dem ersten Konträren liegen. Die ersten Unterschiede
aber sind das Trennende und das Verbindende. Man muß also bei
denjenigen ersten Konträren, welche nicht in der Gattung enthal-
ten sind, untersuchen, woraus ihr Mittleres entsteht. Denn not-
wendig muß das in derselben Gattung Begriffene aus solchem, 2o
was mit der Gattung unzusammengesetzt (asyntheta) ist, zusam-
mengesetzt sein, oder es muß selbst unzusammengesetzt sein.
Das Konträre nun ist nicht aus einander zusammengesetzt, also
ist es Prinzip (archai); das Mittlere aber ist entweder alles unzu-
sammengesetzt oder nichts davon. Nun wird aber etwas aus
Konträrem so, daß ein Obergang in dasselbe früher stattfinden
muß als in das Konträre selbst, da es mehr als das eine, weniger 25

1 mtillon enantia, d. i. in strengerem Sinne entgegengesetzt.


230 ZEHNTES BUCH • 8 1058 a
als das andere sein muß. Also muß dies ein Mittleres für das
Konträre sein. Also ist auch alles übrige Mittlere zusammenge-
setzt (syntheta); denn was mehr ist als das eine, weniger das
andere, das ist irgendwie aus dem mit dem
verglichen ihm ein Mehr und Weniger Da
nun aber nichts anderes der Gattung nach Gleiches gibt, das fru-
her wäre als das Konträre, so muß alles Mittlere aus dem Kon-
JO trären bestehen. Also auch alles Niedere, Konträres sowohl wie
Mittleres, muß aus dem ersten Konträren zusammengesetzt
sein.
Daß also alles Mittlere in derselben Gattung enthalten und ein
Mittleres von Konträrem ist und aus dem Konträren zusammen-
gesetzt ist, das ist hieraus offenbar.

8. DAS DER ART NACH VERSCHIEDENE


(to heteron to eldei)

1.Versdtiedenheit der Art (eldos) im gleidten Gesdtledtt (genos). - 2.


Diese Versdtiedenheit (heter6tes) ist eine Entgegensetzung (enantiosis).
- 3· <Dasselbe> und <das Versdtiedene> der Art nadt.- 4· Der Art nadt
versmieden können nur Glieder des gleidten Gesdtledttes sein.

35 (1.) Das der Art nach Verschiedene ist von etwas in etwas ver-
sdtieden, und dieses muß beiden zukommen; z. B. wenn ein Tier
der Art nach verschieden von einem anderen ist, so sind beide
Tiere. Das Artverschiedene muß sich also notwendig in demsel-
ben Geschlecht befinden. Idt nenne nämlidt dasjenige Gesdtlecht
1058 a (genas), was von beiden als eins und dasselbe ausgesagt wird und
das sich nicht bloß in akzidenteller Weise unterscheidet, mag es
nun als Stoff existieren oder auf eine andere Weise. Es muß näm-
lich nidtt nur das Gemeinsame sich in beiden finden, daß z. B. bei-
5 de Tiere sind, sondern eben dies selbst, Tier, muß für jedes von
beiden ein anderes sein, z. B. Mensdt und Pferd. Deshalb ist das
Gemeinsame (koin6n) untereinander der Art nach ein anderes. Es
muß also an sich das eine ein solches Tier sein, das andere ein sol-
ches, z. B. das eine Pferd, das andere Mensdt. Dieser Unterschied
muß also ein Anderssein des Geschlechtes sein. Ich nenne nämlidt
den Untersmied des Gesdtledttes ein Anderssein, welcher dies
selbst, das Gesdtledtt, zu einem andem macht. (2.) Es wird dies
also eine Entgegensetzung sein. Das erhellt audt aus der Induk-
tion. Denn alles wird durch Gegensätze eingeteilt, und daß das
10 konträr Entgegengesetzte sidt in demselben Geschlecht findet, ist
1058 a ZEHNTES BUCH • 9 2J:l

erwiesen denn der konträre Gegensatz war vollendete Unter-


1;

schiedenheit (diaphortl teleia). Der Artunterschied aber findet


immer statt gegen etwas in etwas; dies wird also dasselbe und
das Geschlecht für beides sein. Darum ist auch alles Konträre, das
sich der Art und nicht dem Geschledtt nach untersdteidet, in der-
selben Reihe der Kategorie, und voneinander am meisten ver- 15
schieden; denn der Unterschied desselben ist vollendet, und es
findet nicht zugleich miteinander statt. Der Unterschied ist also
eine Entgegensetzung. (3.) Der Art nach verschieden sein heißt
also in demselben Geschlecht befindlich als Unteilbares entge-
gengesetzt sein. Der Art nadt identisch ist dagegen, was als Un-
teilbares keinen Gegensatz hat. Denn bei der Teilung und in dem
Mittleren treten Gegensätze ein, bevor man zu dem Unteilbaren 20
gelangt.
(4.) Daraus ergibt sich, daß keine der dem Geschlecht zukom-
menden2 Arten (eide) im Vergleich mit ihrem3 Geschlecht der
Art nach identisch oder verschieden ist. Denn der Stoff (hyle)
wird durch Negation bezeichnet, das Geschlecht aber ist Stoff für
das, dessen Geschlecht es heißt, nicht in dem Sinne, wie man von
dem Geschledtt der Herakliden, sondern wie man von Geschlech-
tern in der Natur redet. Ebensowenig sind die Arten gegen das
nicht in demselben Geschlecht Befindliche der Art nach verschie- 25
den, sondern von diesem müssen sie sich dem Geschlecht nach,
von dem in demselben Geschledtt Befindlichen aber der Art nach
unterscheiden. Denn der Unterschied muß ein Gegensatz gegen
das sein, wovon sich etwas der Ar_t nach unterscheidet; dieser fin-
det sich aber nur bei dem in demselben Geschlecht Enthaltenen.

9· URSPRUNG DER ARTVERSCHIEDENHEIT


(eidei diaphora)

:l.(a) Warum ist das Weib vom Manne nidtt der Art nadt versdtieden?
(b) Weldter Gegensatz (enantiösis) bringt Artversdtiedenheit (td eidei
hetera) hervor?- z. Die begrifflidten Gegensätze (hai en td logo enan-
tiotetes) bringen Artversdtiedenheit hervor. - .3· Anwendung auf das
Beispiel von Weib und Mann.

S. o. Kap. 4·
:l
z <der - zukommenden> (proshekontön) nadt Ab; proshekontös <nadt
Gebühr> E. und Christ. [J. und R.: proshek6ntos.]
.3 Das kaloumenon, wofür im Kommentar S. 447 kategoroumenon
oder kath6lou 6n vorgesdtlagen wird, ist in der Ubersetzung nidtt be-
rüdtsidttigt.
232 ZEHNTES BUCH ' 9 1058 b
(1.. a) Man könnte aber fragen, weshalb denn das Weib vom
Manne nicht der Art nach verschieden ist, da domdas Weibliche
30 zum Männlichen im Gegensatz steht, der Untersmied aber ein
Gegensatz ist, und weshalb ebenso das weibliche und das männ-
liche Tier nicht der Art nam untersmieden sind, da dies dom ein
Unterschied des Tieres an sim ist, und nimt so wie weiße und
schwarze Farbe, sondern weiblim und männlim dem Tier zu-
kommt, insofern es Tier ist. (b) Diese Frage fällt ungefähr zu-
sammen mit dieser, weshalb denn einige Gegensätze Artversdtie-
35 denheit hervorbringen, andere nicht; z. B. befußt und geflügelt
bringt Artverschiedenheit hervor, weiße und smwarze Farbe da-
gegen nicht. (2.) Vielleimt liegt der Grund darin, daß jenes eigen-
tümliche Affektionen (path€) der Gattung sind, dieses aber we-
1o58 b niger. Und indem nun etwas teils Begriff (l6gos) ist, teils Stoff
(hyl€), so bringen die den Begriff treffenden Gegensätze Art-
untersdtiedenheit (diaphora eidei) hervor, die mit dem Stoff zu-
sammengefaßten dagegen nicht. Daher bringt weiße und schwar-
ze Farbe keine Artverschiedenheit hervor, und der weiße Mensdt
5 steht zu dem schwarzen nimt in einer Untersdtiedenheit der Art
nadt, auch dann nimt, wenn man für jeden einen Namen setzt.
Denn der Mensch ist hier nur als Stoff genommen, der Stoff aber
bewirkt keinen Unterschied; deshalb sind ja auch die einzelnen
Mensdten nicht Arten des Menschen, obwohl das Fleisch und die
Knomen, aus denen dieser besteht, andere sind als die; aus denen
jener besteht; sondern das Konkrete (synholon) ist zwar ein Ande-
res, aber nicht ein der Art nach Anderes, weil in dem Begriff kein
Gegensatz stattfindet; diese Art aber ist das letzte Unteilbare.
10 Kallias nun ist der mit dem Stoff zusammengefa:ßte Begriff, also
ist auch der weiße Mensch ein solcher, weil i<allias weiß ist; also
ist der Mensch nur in akzidentellem Sinne weiß. Auch der eherne
Kreis und das hölzerne Dreietk % oder das eherne Dreiedc: und der
hölzerne Kreis sind nicht um des Stoffes willen der An nach ver-
schieden; sondern weil sich im Begriff eine Entgegensetzung
15 findet.
Bringt aber der Stoff nicht Artverschiedenheit hervor, wenn er
in gewisser Weise ein anderer ist, oder bewirkt er auf gewisse
Weise Artverschiedenheit? Denn warum ist denn dieser einzelne
Mensch von diesem einzelnen Pferd der Art nach verschieden, da
doch ihre Begriffe mit dem Stoff zusammengefaßt sind 7 Doch
wohl, weil im Begriff die Entgegensetzung (enantiosis) liegt.

1 <das hölzerne Dreieck> X!}linon tr{gönon für <der hölzerne> (xylinos);


vgl. Komm. S. 449· [J. und R.: X!}linos.J
1059 a ZEHNTES BUCH • 10 233

Denn auch zwischen dem weißen Menschen und dem schwarzen


·Pferd besteht eine Verschiedenheit, und zwar eine Artverschie- 20
denheit, aber nicht insofern, als der eine weiß, das andere schwarz
ist; denn sie würden ebensogut der Art nach verschieden sein,
wenn beide weiß wären.- (J.) Das Männliche und Weibliche nun
sind zwar eigentümliche Affektionen des Tieres, aber nicht an der
Wesenheit, sondern in dem Stoff und dem Körper. Darum wird
aus demselben Samen, je nachdem er eine bestimmte Affektion
erleidet, etwas Männliches oder etwas Weibliches.
Was also Artverschiedenheit bedeutet, und warum sich einiges
der Art nach unterscheidet, anderes nicht, ist hiermit erklärt. 25

10. DAS DER GATTUNG NACH VERSCHIEDENE


(to heteron to genei)

1. Das Vergänglidte (phthart6n) und das Unvergänglidte (aphtharton)


sind der Gattung nadt versdtieden. - 2. Ein möglidter Einwand. - 3·
Widerlegung. - 4· Folgerung: Kritik an der Existenz der Ideen (eide).

(1..) Da das Konträre der Art nach verschieden, das Vergängliche


und Unvergänglidte aber konträr entgegengesetzt ist (denn die
Privation ist ein bestimmtes Unvermögen), so muß notwendig
das Vergängliche und das Unvergängliche der Gattung nach x ver-
schieden sein.
(2.) Jetzt haben wir diesen Satz nur über diese allgemeinen Be-
nennungen ausgesprochen, so daß man noch glauben könnte, es
seien nicht notwendig das Vergängliche und das Unvergängliche 30
artverschieden, wie ja auch schwarz und weiß nicht artverschieden
sind; denn dasselbe Ding, z. B. Mensch, kann, und zwar wenn es
ein allgemeines ist, zugleich weiß und schwarz sein, und auch,
wenn es ein einzelnes ist, kann es weiß und schwarz sein, nur
nicht zugleich. Und doch ist ja das Weiße dem Schwarzen konträr
entgegengesetzt. (3.) Aber von dem Konträren kommt einiges 35
manchem in akzidenteller Weise zu, wie z. B. das eben Genannte
und vieles andere, bei anderem dagegen ist dies nicht möglich, 1059 a
und zu diesem gehört auch das Vergängliche und Unvergängliche.
Denn für kein Ding ist die Vergänglichkeit ein Akzidens (symbe-
bek6s), weil es bei dem Akzidens möglich ist, daß es auch nicht
vorhanden sei, das Vergängliche aber zu demjenigen gehört, das,

1 Im Komm. 449 wird für das überlieferte <der Gattung nadt>


(genei) gefordert etdei <der Art nadt> zu lesen.
234 ZEHNTES BVCH • :10 :1059 a
wo es sich findet, mit Notwendigkeit (ex anankes) statthat. Denn
sonst müßte ein und dasselbe Ding vergänglich und unvergäng-
5 lieh sein, wenn es möglich wäre, daß ihm das Vergängliche auch
nicht zukomme. Also die Wesenheit selbst oder in der Wesenheit
muß die Vergänglichkeit bei jedem Vergänglichen sein. Dasselbe
gilt auch von dem Unvergänglichen; beides gehört zu dem mit
Notwendigkeit Stattfindenden. Dasjenige also, wodurch und wo-
nach als Prinzip das eine Ding vergänglich, das andere unvergäng-
lich ist, enthält einen Gegensatz; daher müssen beide Dinge der
:10 Gattung nach verschieden sein.%
(4.) Hieraus ist denn offenbar, daß nicht Ideen (eide) in der
Weise, wie einige es behaupten, existieren können; denn sonst
würde es einen vergänglichen und einen unvergänglichen Men-
schen geben, und dabei sollen doch die Ideen den Einzeldingen der
Art nach und nicht bloß dem Namen nach gleich sein. Aber was
der Gattung nach verschieden ist, ist voneinander weiter entfernt
:15 als das Artverschiedene.

:1 Zur Obersetzung dieses von B. ausgelassenen Satzes vgl. Komm.


5. 450·

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