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Stephan Herzberg

Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles


Quellen und Studien
zur Philosophie
Herausgegeben von
Jens Halfwassen, Dominik Perler,
Michael Quante

Band 97

De Gruyter
Wahrnehmung und Wissen
bei Aristoteles
Zur epistemologischen Funktion
der Wahrnehmung
von
Stephan Herzberg

De Gruyter
ISBN 978-3-11-021236-5
e-ISBN 978-3-11-021237-2
ISSN 0344-8142

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data

Herzberg, Stephan.
Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles : zur epistemologischen
Funktion der Wahrnehmung / von Stephan Herzberg.
p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ;
Bd. 97)
Revision of the author’s thesis − Universität Tübingen, 2008.
Includes bibliographical references (p. ) and index.
ISBN 978-3-11-021236-5 (hardcover : alk. paper)
1. Aristotle. 2. Perception (Philosophy) 3. Knowledge, Theory of.
I. Title.
B491.P38H47 2010
121−dc22
2010036355

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York


Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorbemerkung

Die vorliegende Untersuchung ist die berarbeitete Fassung meiner


Dissertation, die im Wintersemester 2007/08 von der Fakultt fr Philo-
sophie und Geschichte der Eberhard Karls Universitt Tbingen ange-
nommen wurde. Sie ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft gefçrderten Projekts „Aristoteles’ Epistemologie im
Zusammenhang seiner theoretischen Hauptschriften“ entstanden. Dem
Projektleiter und meinem Doktorvater Prof. Dr. Drs. h.c. Otfried Hçffe
mçchte ich fr zahlreiche Verbesserungsvorschlge und stete Ermutigung
herzlich danken. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Anton Friedrich Koch
(Heidelberg) verdanke ich entscheidende Klrungen und Einsichten wh-
rend der Zeit meiner Promotion. Beide gaben mir immer wieder die Ge-
legenheit, Teile der vorliegenden Untersuchung in ihren Oberseminaren zur
Diskussion vorzustellen. Herrn Prof. Dr. Johannes Brachtendorf danke ich
fr die Mçglichkeit, an seinem Lehrstuhl zu arbeiten und in diesem Rahmen
mein Studium des Aristoteles fortzusetzen. Wichtige einzelne Hinweise
erhielt ich von Jun.-Prof. Dr. Klaus Corcilius (Hamburg) und Prof. Lloyd P.
Gerson Ph.D. (Toronto), denen ich hiermit herzlich danke. Klaus Corcilius
und Tim Wagner mçchte ich fr das berlassen einer bisher unpublizierten
De Anima-bersetzung danken.

Tbingen, im September 2010 Stephan Herzberg


Abkrzungen der Aristotelischen Werke

An. Post. Analytica posteriora


An. Pr. Analytica priora
Cael. De caelo
Cat. Categoriae
De an. De anima
Div. De divinatione per somnum
EE Ethica Eudemia
EN Ethica Nicomachea
Gen. an. De generatione animalium
Gen. corr. De generatione et corruptione
Hist. an. Historia animalium
Insomn. De insomniis
Int. De interpretatione
Juv. De juventute et senectute
Mot. an. De motu animalium
Mem. De memoria et reminiscentia
Met. Metaphysica
Meteo. Meteorologica
Part. an. De partibus animalium
Phys. Physica
Pol. Politica
Probl. Problemata physica
Protr. Protreptikos
Rhet. Ars rhetorica
Sens. De sensu et sensibilibus
Somn. De somno et vigilia
Top. Topica

Soweit nicht anders angegeben, stammen die bersetzungen vom Verfasser.


Inhalt
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen . . . . . . . . . . 18


1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze . . . . . . . . . 40
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos . . . . . . . . 47

2. Weltzugang und Sinnestuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57


2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand . . . . . . . . . . . . . 57
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung . . 79
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? . . . . . . . . . 89
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ . . . . . . . . . . . . 100

3. Der Gehalt der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109


3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet . . . . . . . . . . . 109
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs . . . . . . 121
3.3 Die idia und koina aisthÞta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
3.4 Das aisthetische Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

4. Wahrnehmung und Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137


4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 137
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung . . . . 155
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung . . . . . . . . . . . 164
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs . . 182


5.1 Wahrnehmung und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 . . 195
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ . . . . . 204
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus . . . . . . . . . . 218


X Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
I. Primrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
I.1 Textausgaben, bersetzungen und Kommentare . . . . . . 222
I.2 Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
II. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
III. Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230


Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Index rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

Wenn wir uns fragen, welche Rolle die Wahrnehmung im Wissenserwerb


spielt, scheinen sich zwei Funktionen unterscheiden zu lassen: Zum einen
versorgt die Wahrnehmung unser Denken mit basalen Informationen, ohne
die wir nicht zu einem sachhaltigen Wissen ber die Welt kommen kçnnten.
Zum anderen fhren wir die Wahrnehmung auch als rechtfertigenden
Grund fr eine bestimmte Meinung an, etwa wenn wir uns fr die Meinung,
daß ein bestimmter Gegenstand rot ist, darauf berufen, daß wir gesehen
haben, daß dieser Gegenstand rot ist. Whrend die Wahrnehmung im ersten
Fall in einer kausalen Beziehung zu unseren kognitiven Zustnden steht, geht
es im zweiten Fall um eine begrndende Beziehung zu einer bestimmten
Meinung ber die Welt. Den Empirismus kann man nun erst einmal als eine
epistemologische Position bestimmen, in welcher der Wahrnehmung beide
Funktionen in einem eminenten Sinn zugesprochen werden: Die Wahr-
nehmung ist zum einen der Ursprung unseres gesamten Wissens, indem sie
unsere kognitiven Aktivitten mit Informationen ber die Welt ,nhrt’
(gewissermaßen der ,Stoff‘), zum anderen stellt sie in der Form extern ver-
ursachter Sinneseindrcke das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige
Fundament dar, auf das sich alle unsere Meinungen begrndend zurck-
fhren lassen mssen, wenn sie als Wissensansprche auftreten wollen
(gewissermaßen der ,Boden‘).1
Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs wird immer wieder gerne als
empiristisch charakterisiert.2 Dafr scheinen nicht nur einige program-
matische Passagen zu sprechen, in denen Aristoteles die zentrale Bedeutung
der Wahrnehmung fr den Erwerb demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) be-
tont.3 Auch die grundstzliche Annahme, daß der Intellekt (nous) ber keine

1 Das Problem an dieser empiristischen Konzeption ist, daß wir anscheinend beides
zugleich nicht haben kçnnen: Entweder die Wahrnehmung ist als bloß ,kausales
Zwischenstck‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen aufgrund ihrer feh-
lenden begrifflichen Struktur nicht rechtfertigungsfhig, oder sie ist schon immer
begrifflich verfaßt und kann andere Meinungen begrnden, was sie dann aber selbst
wiederum rechtfertigungsbedrftig macht. Hierzu Sellars 1963.
2 So etwa Barnes 1975, 259; Barnes 1982, 92; Modrak 1987, 123, 157 – 179; Lesher
1973, 65.
3 Vgl. An. Post. I 18, 81a38 f.; I 31, 88a13 f.; De an. III 8, 432a7 f.; Sens. 437a1 – 3.
2 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

angeborenen und unbewußt vorliegenden Wissensinhalte verfgt, scheint


auf eine empiristische Epistemologie hinauszulaufen: Die fr das demon-
strative Wissen konstitutive Kenntnis der Prinzipien wird nach Aristoteles
allein auf der Basis der Wahrnehmung als einem angeborenen und unter-
scheidungsfhigen Vermçgen erworben.4 Das Problem ist, wie diese Aus-
sagen interpretatorisch einzulçsen sind und was sich daraus fr Aristoteles’
Epistemologie im ganzen ergibt.
Man kçnnte nun der Meinung sein, daß Aristoteles bloß die These
vertreten will, daß unser gesamtes Wissen seine kausale Herkunft in der
Wahrnehmung hat und es keine angeborenen oder apriorischen Wissens-
inhalte gibt. In diesem auf die Genese des Wissens bezogenen Sinn kann man
Aristoteles ohne weiteres als einen Empiristen bezeichnen; dieser schwchere
Sinn ist fr die vorliegende Untersuchung nicht von Interesse. Einige der
einschlgigen Passagen zum Wert der Wahrnehmung scheinen es aber na-
hezulegen, daß Aristoteles einen Empirismus im starken Sinn vertritt, und
zwar in genau jenen beiden Spielarten, die gegenwrtig als ,Begriffsempi-
rismus‘ und ,Urteilsempirismus‘ unterschieden werden.5 Nach dem ,Be-
griffsempirismus‘ gibt es Beobachtungsbegriffe, die sich durch eine
psychologische Theorie der Abstraktion unmittelbar aus dem Wahrge-
nommenen gewinnen lassen, ohne daß dabei der Intellekt eigene, apriori-
sche Inhalte beitrgt. Diese Beobachtungsbegriffe sind basal und auf sie
mssen sich alle anderen Begriffe definitorisch zurckfhren lassen.6 Nach
dem ,Urteilsempirismus‘ lassen sich alle synthetischen Urteile ausschließlich
durch Bezugnahme auf Wahrnehmungen begrnden. Das bedeutet, daß all
unsere Wissensansprche auf Wahrnehmungsmeinungen begrndend zu-
rckgefhrt werden mssen, die selbst durch Sinneseindrcke gerechtfertigt
werden. Diese stellen als ein ,unmittelbar Gegebenes‘ die Rechtfertigungs-
basis fr unser gesamtes Wissen ber die Welt dar. Wesentlich fr diese
Spielart des Empirismus ist, daß hier die Wahrnehmung eine rechtfertigende
Rolle im Wissenserwerb spielt: Als ein Grund kann sie unmittelbar aus einer
bestimmten Meinung ein ,empirisches Wissen‘ machen und mittelbar
weitergehende Wissensansprche sttzen, etwa in der Weise, daß man seinen
Anspruch, die Prinzipien einer Sache erfaßt zu haben, durch Rckgang auf
eine bestimmte Klasse von Beobachtungen rechtfertigt.

4 An. Post. II 19, 99b26 – 35, 100a10 f.


5 Fr diese Unterscheidung vgl. Kutschera 1982, 438 f.; Sellars 1989, 165 – 228;
Wolterstorff 1995, 262 f.
6 Hierzu genauer Kambartel 1968, 21 ff.; Kutschera 1982, 435 – 455.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 3

Einige Passagen scheinen es nun nahezulegen, Aristoteles einen Empi-


rismus in genau diesen beiden Spielarten zuzuschreiben.7 Fr einen ,Be-
griffsempirismus‘ wird immer wieder die Passage De an. III 8, 432a3 – 9
angefhrt8 :
„Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren
Grçßen getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahr-
nehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und
Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne
etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen,
und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung
betrachten (ja· di± toOto oute lμ aQshamºlemor lgh³m oqh³m #m l²hoi oqd³
nume¸g, ftam te heyq0, !m²cjg ûla v²mtasl² ti9 heyqe?m)“ (De an. III 8,
432a3 – 9).
Hier scheint der intelligible Gegenstand (noÞton) irgendwie potentiell in den
wahrnehmbaren Formen enthalten zu sein (als Teil in einem literalen Sinn)
und nur noch – im Sinne des ,leave out and retain‘10 – von den individuellen
Eigenschaften abstrahiert werden zu mssen, ohne daß dabei der Intellekt
etwas ,Neues macht‘, d. h. apriorische Inhalte hervorbringt. Fr einen
,Urteilsempirismus‘ kçnnte An. Post. I 18 angefhrt werden:
„Es ist auch einleuchtend, daß wenn eine bestimmte Wahrnehmung ausbleibt,
notwendig auch ein bestimmtes Wissen ausbleibt, welches unmçglich zu er-
werben ist, wenn wir wirklich Wissen erwerben entweder durch Induktion oder
durch Demonstration und die Demonstration vom Allgemeinen abhngt (1j
t_m jahºkou), die Induktion dagegen vom Speziellen (1j t_m jat± l´qor), und
es unmçglich ist, das Allgemeine zu betrachten außer durch Induktion […] und

7 Vgl. Barnes 1982, 92: „The ultimate source of knowledge, in Aristotle’s view, is
perception. Aristotle was a thoroughgoing ,empiricist‘ in two senses of that slippery
term. First, he held that the notions or concepts in terms of which we seek to grasp and
explain reality are all ultimately derived from perception […] Secondly, he thought
that all science or knowledge is ultimately grounded on perceptual observations.“
Vgl. auch Barnes 1975, 259.
Vgl. Modrak 1987, 123; 161: „In short, noetic activity of all sorts, including the
exercise of knowledge, depends on perception; this psychological dependence has an
epistemological counterpart. According to the Posterior Analytics, knowledge is
dependent upon perception in that perception is the ultimate source of universal
concepts and indemonstrable first principles.“
8 Auch die Passagen De an. III 7, 431a16 f. und 431b2 kçnnten in diesem Sinn
verstanden werden, wenn man das noÞton als eine ,verallgemeinerte Reprsentation‘
des wahrgenommenen partikularen Gegenstands auffaßt, der im einhergehenden
phantasma prsentiert wird (Modrak 1987, 172).
9 Die mçglichen Lesarten dieser Stelle werden in Kap. 5.1 diskutiert.
10 Vgl. Locke, An Essay Concerning Human Understanding III 3, § 7.
4 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

eine Induktion durchzufhren ohne Wahrnehmung zu haben unmçglich ist.


Die Wahrnehmung richtet sich nmlich auf das Einzelne (jah’ 6jastom), denn
man kann davon kein Wissen erwerben – weder nmlich aus dem Allgemeinen
ohne Induktion noch durch Induktion ohne die Wahrnehmung“ (An. Post. I
18; bers. Detel).11
Jedes Wissen im Sinne der epistÞmÞ kommt durch einen Beweis (apodeixis)12
zustande, der von obersten Prmissen, den Prinzipien (An. Post. I 2, 71b16 –
23), abhngt, die sich auf universelle und notwendige Tatsachen13 beziehen
(katholou: I 4, 73b26 ff.; I 31, 87b32 f.). Dieses katholou kann aber nur
durch Induktion erkannt werden, die wiederum beim Einzelnen (kath’ he-
kaston) ansetzt, wofr die Wahrnehmung zustndig ist.14 Das vorliegende
Kapitel kçnnte man nun so verstehen, daß das Erkennen dieser obersten
Prmissen durch ein induktives Schließen zustandekommt. Auf dieses in-
duktive Verfahren, das bei der Wahrnehmung ansetzt, kçnnte man sich dann
berufen, um seinen Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, zu rechtfertigen.
Letztlich wrde somit alles Wissen auf der Wahrnehmung beruhen und
durch sie legitimiert werden. Auch die ,Genetische Epistemologie‘ (Ham-
lyn) von An. Post. II 19 (99b36 – 100b5) kçnnte in diesem empiristischen
Sinn verstanden werden: Die Frage, wie wir mit den Prinzipien bekannt
werden (99b18), wird einige Zeilen spter in der ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶-
seiem %m tir) aufgenommen, ob die kognitiven Zustnde als ganze erst
entstehen oder unbewußt schon immer in uns vorliegen. Da letzteres nicht

11 Vgl. auch EN VI 3, 1139b26 – 31.


12 Ein Beweis zielt darauf, die urschlich-essentiellen Strukturen eines bestimmten
Phnomens aufzudecken und es dadurch zu erklren. Hierzu Kap. 2.1
13 Wenn in dieser Untersuchung in Bezug auf Aristoteles von ,Tatsachen‘ die Rede ist,
dann sind damit immer akzidentelle oder essentielle Verhltnisse des Zukommens
gemeint. Fr Aristoteles besteht die Welt aus individuellen Substanzen und nicht aus
Tatsachen. Die Zugehçrigkeit zu einer bestimmten Gattung und Art gewinnen die
individuellen Substanzen durch essentielle Eigenschaften. Sie werden in ,essentiellen
Prdikationen‘ (An. Post. I 22, 83a39 f.; I 4, 73a34 – 37) als Tatsachen dargestellt
und fungieren in Beweisen als unvermittelte und erklrungskrftige Prmissen. Den
Substanzen kommen bestimmte Akzidentien entweder notwendig (sog. per se-Ak-
zidentien: z. B. dem Dreieck die Winkelsumme von 1808; vgl. Met. V 1025a30 – 34)
oder bloß zufllig zu (z. B. dem Sokrates eine bestimmte Farbe). Diese akzidentellen
Verhltnisse des Zukommens lassen sich in ,akzidentellen Prdikationen‘ (An. Post. I
22, 83a25 – 29) als Tatsachen darstellen. Ontologisch betrachtet bilden essentielle
und akzidentelle Verhltnisse jeweils eine ,substantielle‘ bzw. ,akzidentelle Einheit‘
(vgl. Met. V 6; Met. X 1, 1052a22 – 25).
14 Das kath’ hekaston kann hier so aufgefaßt werden, daß es eine singulre Tatsache und
nicht bloß eine singulre Qualitt bezeichnet (vgl. auch An. Post. I 31, 87b37 – 88a2;
EN III 5, 1112b34 – 1113a2; VII 5, 1147a25 – 34; Top. V 3, 131b22 – 27).
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 5

mçglich ist, mssen sie erworben werden, was aber ex nihilo, also ohne ir-
gendein Vorwissen, nicht mçglich ist (99b25 – 32). Hier kommt nun die
Wahrnehmung als ein ,angeborenes unterscheidungsfhiges Vermçgen‘
(d¼malim s¼lvutom jqitij¶m : 99b35), das wir mit den anderen Lebewesen
gemeinsam haben, ins Spiel. Als ein solches Vermçgen kann sie jene
,Kenntnis‘ (gnsis) gewhren, welche die Grundlage fr den Erwerb des
Prinzipienwissens darstellt und dabei hinsichtlich ihrer Rangs an Genau-
igkeit unterhalb des gesuchten Prinzipienwissens bleibt (99b33 f.;
100a10 f.). Aristoteles skizziert, wie ausgehend von der Wahrnehmung ber
das Gedchtnis und die Erfahrung die Kenntnis der Prinzipien zustande-
kommt und schließt diese Beschreibung mit dem Satz ab: „Es ist also klar,
daß uns die ursprnglichen Dinge (ta prta) notwendig durch Induktion
bekannt werden; denn auch die Wahrnehmung bringt auf diese Weise das
Allgemeine hinein“ (100b3 ff.; bers. Detel mit nderungen). Auch das
kçnnte man so verstehen, daß die Kenntnis der Prinzipien durch ein in-
duktives Verfahren, das auf wahrgenommenen Tatsachen basiert, erworben
wird und auf das man sich dann als Rechtfertigung des Wissensanspruchs,
die Prinzipien erfaßt zu haben, berufen kann.
Entgegen dieses ersten Eindrucks in Richtung eines Empirismus betont
Aristoteles aber auch die Grenzen der Wahrnehmung hinsichtlich des
Wissenserwerbs. In An. Post. I 31 sagt Aristoteles dezidiert, daß wir „durch
Wahrnehmung nicht wissen kçnnen“:
„Auch durch Wahrnehmung ist es nicht mçglich zu wissen (oqd³ di’ aQsh¶seyr
5stim 1p¸stashai). Auch wenn nmlich die Wahrnehmung sich auf das Quale
und nicht auf ein Dieses richtet (B aUshgsir toO toioOde ja· lμ toOd´ timor) –
wahrgenommen wird doch jedenfalls notwendigerweise ein Dieses, und zwar
irgendwo und jetzt (aQsh²mesha¸ ce !macja?om tºde ti ja· po» ja· mOm). Das
Allgemeine und auf alles Zutreffende (1p· p÷sim) dagegen kann nicht wahrge-
nommen werden, denn es ist kein Dieses und auch nicht jetzt; sonst wre es nicht
allgemein, denn was immer und berall (t¹ c±q !eì ja· pamtawoO) ist, nennen wir
allgemein. Da nun die Demonstrationen allgemein sind, dieses aber nicht
wahrgenommen werden kann, ist es einleuchtend, daß man durch Wahrneh-
mung auch nicht wissen kann (oqd’ 1p¸stashai di’ aQsh¶seyr 5stim); vielmehr ist
klar, daß selbst wenn man wahrnehmen kçnnte, daß das Dreieck Winkel gleich
zwei Rechten hat, wir nach einer Demonstration suchen und nicht, wie einige
behaupten, wissen wrden. Wahrgenommen nmlich wird notwendig das
Einzelne, das Wissen dagegen ist das Kennen des Allgemeinen“ (87b28 – 39;
bers. Detel).
Daß man ,durch Wahrnehmung nicht wissen kann‘ (oqd³ di’ aQsh¶seyr
5stim 1p¸stashai), darf nicht so verstanden werden, als ob Aristoteles hier im
Gegensatz zu anderen Aussagen die Relevanz der Wahrnehmung fr den
6 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

Wissenserwerb gnzlich bestreiten wrde. Aristoteles verneint vielmehr, daß


ein Wahrnehmungsinhalt als Prmisse eines Beweises verwendet werden
kann, durch den man eine Tatsache im strikten Sinn weiß (epistasthai hapls).
Whrend sich der Akt des Wahrnehmens nmlich immer auf einen einzelnen
Gegenstand an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle bezieht (tºde ti ja· po»
ja· mOm)15, basiert Wissen im Sinn der epistÞmÞ immer auf Prmissen, die
allgemein im strikten Sinn sind, d. h. sich auf universelle und ewige Tatsa-
chen beziehen (!e· ja· pamtawoO ; vgl. auch I 4, 73a28 – 34, b26 f.):
„Wahrgenommen nmlich wird notwendig das Einzelne, das Wissen da-
gegen ist das Kennen des Allgemeinen“ (87b37 ff.).16 Da universelle Tat-
sachen kein Inhalt der Wahrnehmung sein kçnnen, kann durch Wahr-
nehmung auch kein Wissen zustande kommen. Aristoteles sagt damit also
nichts anderes, als daß man sich fr die wissenschaftliche Begrndung eines
Phnomens nicht einfach und allein auf eine Wahrnehmung berufen kann.
Dennoch mildert er diese Empirismus-Kritik dahin gehend ab, indem er in
Bezug auf die Untersuchung eines natrlichen Ereignisses wie der Mond-
finsternis sagt, daß „wir aus dem Beobachten, daß dies oft geschieht, das
Allgemeine erjagend, einen Beweis gewinnen wrden: Denn aus mehreren
einzelnen Tatsachen wird das Allgemeine klar“ (88a3 ff. und a13 f.).
Aus dieser ersten Durchsicht der einschlgigen ußerungen des
Aristoteles zur Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb ergibt sich, daß
die Wahrnehmung zumindest eine notwendige Bedingung fr den Erwerb

15 Wie Detel (1993 II, 493 f.) zu Recht bemerkt, ist das, was Gegenstand der Wahr-
nehmung (aUshgsir) ist, genau das, was nicht Gegenstand des Wahrnehmens
(aQsh²meshai) ist, nmlich das toiºmde (vgl. An. Post. II 19, 100a17: hier jahºkou).
Andererseits ist das, was Gegenstand des Wahrnehmens ist, genau das, was nicht
Gegenstand der Wahrnehmung ist, das tºde ti. Wir werden auf diese Unterschei-
dung noch eingehen.
16 Es zeichnet sich schon hier ab, daß es bei Aristoteles keine ,empirische 1pist¶lg’
geben kann, die sich auf singulre, wahrnehmbare Tatsachen bezieht – in dem Sinn,
wie in der gegenwrtigen Epistemologie vom ,empirischen Wissen‘ gesprochen wird
(z. B. Kern 2006, 77): Hier fungieren Wahrnehmungsinhalte als Grnde, durch die
ein ,Wahrnehmungswissen‘ hervorgebracht wird (vgl. etwa Audi 2003, 28 f.). Bei
Aristoteles dagegen bilden Wahrnehmbares und Wißbares zwei verschiedene ,Be-
reiche‘ der Wirklichkeit (vgl. De an. III 8, 431b21 f.), denen verschiedene kognitive
Vermçgen und Dispositionen entsprechen (vgl. An. Post. I 33; Met. VII 15,
1039b27 – 1040a7; EN VI 2, 1139a6 – 14; VI 3, 1139b19 - 24). Was Gegenstand
der epistÞmÞ ist, kann nicht Gegenstand der Wahrnehmung und der doxa sein und
was Gegenstand von Wahrnehmung und doxa ist, kann nicht im Sinne der epistÞmÞ
gewußt werden (hierzu Gerson 2009, 67 – 70). Wir werden im Kap. 5.3 noch sehen,
daß Aristoteles die sog. platonische ,Zwei-Welten-Epistemologie‘ nicht einfach
bernimmt, sondern entscheidende Verfeinerungen an dieser Lehre vornimmt.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 7

demonstrativen Wissens darstellt; sie hat eine zentrale epistemologische


Funktion. Darin unterscheidet sich Aristoteles von Positionen, die der
Wahrnehmung bloß die Kompetenz zugestehen, uns ber das Angenehme
und Unangenehme zu informieren.17 Aristoteles betont in De sensu, daß die
Sinne nicht nur der bloßen Erhaltung (sytgq¸ar 6mejem) dienen, indem mit
ihnen das Empfinden des Lustvollen bzw. des Schmerzvollen einhergeht, das
fr die elementaren Reaktionen des Fliehens und Verfolgens (ve¼ceim –
di¾jeim) verantwortlich ist. In Lebewesen, die auch ber Verstand verfgen,
sind die Fernsinne auch ,um des Guten willen‘ (toO ew 6meja) da: „Denn sie
zeigen uns viele Unterschiede an, aus denen sowohl das Wissen der Ge-
genstnde des Denkens als auch der Gegenstnde des Handelns hervorgeht“
(Sens. 437a2 f.).18 Was bedeutet das aber genauer? Was trgt die Wahr-
nehmung zum Wissenserwerb bei? Wie ist ihr Gehalt zu bestimmen? Bildet
die Wahrnehmung die rechtfertigende Basis, auf die sich unser ganzes
Wissen zurckfhren lßt? Oder hat sie eine bloß kausale Funktion als
sensorischer Informationslieferant? Was muß noch hinzukommen, um die
fr das demonstrative Wissen konstitutiven Prinzipien zu erkennen?
Diese Fragen wurden in der Vergangenheit fast ausschließlich anhand
des Schlußkapitels der Zweiten Analytiken diskutiert: In der Tat ist es wichtig,
wie der hier skizzierte aisthetisch-epagogische Vorgang (99b36 – 100b5)
und der nous (100b5 – 17) jeweils verstanden und im Hinblick auf die Er-
kenntnis der Prinzipien zueinander gewichtet werden.19 Je nachdem, wie
diese beiden Gewichte verteilt werden, scheint Aristoteles eher einen Em-

17 So betont etwa Descartes am Ende seiner Meditationes, daß uns die Sinne von der
Natur nur deshalb gegeben wurden, „um dem Geist anzuzeigen, was fr das
Kompositum, von dem er ein Teil ist, gnstig oder ungnstig ist, und die insofern
klar und deutlich genug sind“ (AT VII, 83).
18 pokk±r c±q eQsacc´kkousi diavoq²r, 1n ¨m F te t_m mogt_m 1cc¸metai vqºmgsir ja· B
t_m pqajt_m. Der Terminus phronÞsis wird hier nicht im engen, technischen Sinn
von EN VI 5 verwendet, sondern in einem weiten Sinn, der auch ein theoretisches
Wissen bezeichnen kann (vgl. hierfr auch Sens. 437a11; Protr. B 71, B 77, B 103;
Met. I 2, 982b24). Wir werden auf diese Stelle und auf den Terminus phronÞsis
genauer in Kap. 4.2 eingehen.
Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden der Protreptikos nach der
Einteilung von Dring zitiert. Ich bin mir der Mngel seiner Fragmentsammlung
bewußt (vgl. Flashar 2006, 172 f.). Fr die vorliegenden Zwecke sind diese Mngel
aber unerheblich.
19 Fr einen genauen berblick ber die verschiedenen Interpretationsmçglichkeiten
vgl. Detel 1993 II, 839 – 844; Horn/Rapp 2005, 27 – 45.
8 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

pirismus oder Rationalismus zu vertreten.20 In der Vergangenheit wurde


dieses Kapitel von vielen Interpreten so gelesen, daß der im letzten Abschnitt
(100b5 – 17) eingefhrte nous als ein spezifisch auf die Erkenntnis der
Prinzipien ausgerichtetes Vermçgen das vorher skizzierte aisthetisch-epago-
gische Verfahren abschließt. Da durch die Induktion nur ein ,empirisches
Allgemeines‘ und gerade nicht das katholou im strikten Sinn gewonnen
werden kann, scheint nur ein intuitives Vermçgen in der Lage zu sein, eine im
hçchsten Maß gewisse Kenntnis der Prinzipien zu gewhrleisten.21 Nun
sprechen aber gute Grnde dafr, eine solche intuitionistische Interpretation
abzulehnen22 – vor allem der exegetische Grund, daß der Abschnitt ber den
nous uns gerade nicht darber informieren will, wie wir die Prinzipien er-
kennen (p_r te c¸momtai cm¾qiloi : 99b18), sondern bloß eine Antwort auf
die zweite Frage darstellt, welches die kognitive Haltung oder Verfassung ist
(t¸r cmyq¸fousa 6nir)23, in der wir uns befinden, wenn wir die Prinzipien mit
Hilfe der ,Induktion‘ (epaggÞ) erkannt haben.24 Wenn also der Terminus
nous in II 19 kein besonderes intuitives Vermçgen der Prinzipienerkenntnis
bezeichnet, wrde ihre Erkenntnis allein auf der Wahrnehmung und dem
darauf aufbauenden induktiven Vorgang ,basieren‘ (was auch immer das
heißen mag). Also mßte man Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als

20 Vgl. Barnes 1975, 248 f.: „B 19 is Janus-faced, looking in one direction towards
empiricism, and in the other towards rationalism. The principles are apprehended by
‘induction’ (epaggÞ) in an honest empiricist way; but they are also grasped by nous, or
‘intuition’ as it is normally translated, in the easy rationalist fashion. It is a classic
problem in Aristotelian scholarship to explain or reconcile these two apparently
opposing aspects of Aristotle’s thought.“
21 Vgl. etwa Ross 1949, 86: „Aristotle is thus neither an empiricist nor a rationalist, but
recognizes that sense and intellect are mutually complementary.“
22 Hierzu genauer Horn/Rapp 2005, 27 – 45.
23 Solche kognitiven Haltungen, die die ,Teile‘ des vernnftigen Seelenvermçgens
qualitativ charakterisieren – die hexis gehçrt zur Kategorie der Qualitt und zeichnet
sich gegenber der diathesis durch ihre grçßere Bestndigkeit aus (Cat. 8, 8b25 – 28)
–, kommen durch eine bestimmte kognitive Ttigkeit zustande und befhigen ihren
Besitzer dazu, eine bestimmte kognitive Leistung zu vollbringen.
24 Vgl. Barnes 1975, 257: „It is Aristotle’s first question, not his second, which asks
about the process or method by which we gain knowledge of the principles; and the
method is, in a word, inductive. Nous, which answers the second question, is not
intended to pick out some faculty or method of acquiring knowledge: nous, the state
or disposition, stands to induction as understanding (epistÞmÞ) stands to demon-
stration. Understanding is not a means of acquiring knowledge. Nor, then, is nous.“
Vgl. auch Kosman 1973, 385.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 9

empiristisch charakterisieren.25 Doch damit sind die Fragen, welche Rolle


genau die Wahrnehmung im Wissenserwerb spielt und in welchem Sinn hier
von einem Empirismus gesprochen werden muß, noch nicht beantwortet
und sie kçnnen, wie sich noch zeigen wird, allein auf der Grundlage von An.
Post. II 19 auch nicht beantwortet werden: Die Diskussionen um dieses
Kapitel konzentrieren sich vor allem auf den bergang von der Erfahrung
(empeiria) zur Erkenntnis der Prinzipien.26 Wer hier eine intuitionistische
Interpretation des nous als eines speziell auf die Prinzipien ausgerichteten,
intuitiven Erkenntnisvermçgens ablehnt, scheint quasi automatisch eine
empiristische Interpretation zu vertreten, ohne daß damit schon hinreichend
klar wre, welche epistemologische Funktion der Wahrnehmung hier genau
zugeschrieben muß und welche Art von Empirismus hier vorliegt. Die
isolierte Konzentration auf An. Post. II 19 greift zu kurz, um diese Fragen
einer befriedigenden Klrung zuzufhren. Auch neuere Interpretationen,
die sich gegen einen fundamentalistischen Empirismus wenden, beant-
worten die Frage nach der epistemischen Rolle der Wahrnehmung nur in der
Weise, daß sie Aristoteles’ Epistemologie in ihrem theoretischen Anspruch
fr wenig ambitioniert erklren und somit fr nur gering explikationsfhig
halten: Wenn der Wissenserwerb bloß in einer ,Vertiefung‘ oder grçßeren
intellektuellen Vertrautheit mit schon erworbenen Kenntnissen besteht27
oder sich auf die bloße Konsistenzprfung und richtige Anordnung tieferer
und weniger tiefer phainomena beschrnkt28 oder einen bloß kausalen
Prozeß darstellt, in dem sich die Kenntnis der Prinzipien auf natrliche
Weise aus dem diskriminativen Vermçgen der Wahrnehmung und dem
Gedchtnis entwickelt29, dann muß man zur Rolle der Wahrnehmung im
Wissenserwerb nicht mehr viel sagen. Es ist dann ausreichend darauf hin-

25 Barnes 1975, 259: „the answer Aristotle gives to the first question is whole-heartedly
empiricist“.
26 Dieser bergang ist der ,blinde Fleck‘ in der ,Genetischen Epistemologie‘ von An.
Post. II 19: In 100a6 – 9 geht Aristoteles unmittelbar von der Erfahrung – wenn man
das C in 100a6 epexegetisch versteht, so daß das Folgende (100a6 ff.) den Inhalt der
Erfahrungserkenntnis beschreibt – zum ,Prinzip der technÞ und epistÞmÞ’ ber –
wenn man archÞ hier im terminologisch engen Sinn als Prinzip und nicht bloß in
einem wçrtlichen Sinn als ,Anfang‘ (Phys. VI 5, 236a14 f.; Mot. an. 702b1) ver-
steht. Lediglich 100a14 – b3 kçnnte man als eine sehr allgemeine Skizze dieses
bergangs ansehen. Aus Met. I 1, 981a5 f. erfahren wir bloß, daß eine Vielzahl von
Erfahrungsinhalten fr die Kunst bzw. fr das Wissen notwendig sind.
27 Burnyeat 1981, 130 – 133.
28 Nussbaum 1986, 251, 257.
29 Frede 1996, 170 f. Wir werden auf die gerade angesprochenen anti-fundamenta-
listischen Interpretationen im Kap. 1.3 noch genauer eingehen.
10 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

zuweisen, daß die Wahrnehmung uns eine bestimmte Art von Kenntnis
(gnsis tis) gewhrt, indem sie Gegenstnde voneinander unterscheiden und
vorlufig identifizieren kann, oder irgendwie zur Etablierung allgemein
anerkannter Tatsachen einen Beitrag leistet.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Rolle der Wahrnehmung
in Aristoteles’ Theorie des Erwerbs demonstrativen Wissens (epistÞmÞ)
przise herauszuarbeiten und damit zu einem besseren Verstndnis von
Aristoteles’ Epistemologie30 beizutragen.
Wir werden in folgender Weise vorgehen: In Kap. 1 werden wir zunchst
die beiden Begriffe ,Wahrnehmung’ (aisthÞsis) und ,Wissen’ (epistÞmÞ) in-
nerhalb des Aristotelischen Theorierahmens einer begrifflichen Klrung
unterziehen. Auf der Grundlage von De an. III 3, 427a17-b29 lßt sich
zeigen, daß fr Aristoteles die Wahrnehmung einen genuinen Typ des Er-
kennens (gnrizein, gnsis) bildet, whrend das demonstrative Wissen
(epistÞmÞ) eine spezifische Form des anderen Typs des Erkennens darstellt,
nmlich des diskursiven Denkens (dianoeisthai), das auf eine Annahme oder
ein Urteil (hypolÞpsis) ber einen bestimmten Bereich des Seienden abzielt.
Als ein diskriminatorisches Vermçgen gewhrt uns die Wahrnehmung eine
bestimmte Art der Kenntnis (gnsis tis); sie erschließt uns in einer nicht-
begrifflichen Weise die sinnliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit
(Kap. 1.1). Im Anschluß daran wird Aristoteles’ Konzeption des demon-
strativen Wissens (epistÞmÞ) dargestellt, das von sich aus auf eine andere Art

30 Wenn in dieser Untersuchung von ,Aristoteles’ Epistemologie‘ die Rede ist, dann
immer im Bewußtsein der Tatsache, daß sich bei Aristoteles weder eine spezifische
philosophische Disziplin mit diesem Namen noch eine Pragmatie finden lßt, die
sich in einer zusammenhngenden Weise mit der Natur, den Quellen und Grenzen
unseres Wissens beschftigt und fr die die Frage nach der Rechtfertigung unserer
Wissensansprche zentral ist. Auch wenn Aristoteles, wie wir noch genauer sehen
werden, skeptische Fragestellungen und Argumente kennt und sich mit ihnen in
einem bestimmten Maß auseinandersetzt (Met. IV 4 – 6), geht diese Auseinander-
setzung nicht so weit, daß diese Fragestellungen ihn zu einer grundlegenden Re-
flexion ber die Mçglichkeit, die Quellen und Grenzen unseres Wissens motiviert
und somit eine eigenstndige ,Erkenntnistheorie‘ hervorbringt. Dennoch finden wir
ber das ganze Werk verstreut einzelne Stcke, die man fr eine ,Theorie des
Wissens‘ heranziehen kann: (i) die Lehre von den dianoetischen Tugenden im
sechsten Buch der Nikomachischen Ethik als eine Untersuchung der verschiedenen
Formen des Vernunftvermçgens und seinem ergon, die Wahrheit; (ii) die Zweiten
Analytiken als eine Theorie einer besonderen Form des Wissens, des Wissens aus
Beweis (epistÞmÞ), und den Bedingungen seines Zustandekommens; (iii) eine
Theorie der Erkenntnis der fr die epistÞmÞ konstitutiven Prinzipien (An. Post. II 19;
Met. I 1); (iv) eine Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten (Met. IV
4 – 6); (v) eine Theorie des Denkens (De an. III 4 – 8).
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 11

des Wissens verweist: Wenn die epistÞmÞ nur durch Beweis zustandekommt
und dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erklrungskrftigen
Prmissen, ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipien irgendeine Art
von Wissen haben, und zwar ein nicht-demonstratives. Die Spannung
zwischen den Anforderungen, die Aristoteles an dieses Wissen der Prinzipien
stellt, und den drftigen Aussagen darber, wie wir dieses besondere Wissen
erwerben, hat Interpreten immer wieder dazu bewogen, den nous zu einem
spezifisch auf die Prinzipien ausgerichteten, intuitiven Erkenntnisvermçgen
zu machen, der das in An. Post. II 19 skizzierte induktive Verfahren ab-
schließt. Interpreten, die einen solchen Intuitionismus ablehnen, erklren
meist allein die Induktion fr hinreichend; der Anspruch, die Prinzipien
erfaßt zu haben, wird dann durch Rckgang auf unmittelbar gegebene
Sinneseindrcke gerechtfertigt (Kap. 1.2). Gegen diese beiden traditionel-
len Interpretationen, die rationalistische wie die empiristische, wurde in der
jngeren Vergangenheit immer wieder der grundstzliche Einwand vorge-
bracht, daß Aristoteles das Interesse an so etwas wie Evidenz, Gewißheit und
Rechtfertigung und berhaupt die damit verbundene ,Idee eines Funda-
ments‘ fehle. Dieser ,anti-fundamentalistische Konsens‘ hat sich in der
Aristoteles-Exegese in ganz unterschiedlichen Interpretationen niederge-
schlagen, wie etwa darin, daß Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als
eine bloße Vertiefung schon erworbener Kenntnisse beschrieben wird oder
als ein Kohrentismus, ein Fallibilismus oder eine kausale Theorie charak-
terisiert wird (Kap. 1.3). Was das ,Vertiefungsmodell‘ betrifft, so lßt sich
zeigen, daß sich fr Aristoteles durchaus ein solches herausarbeiten lßt; es
handelt sich hier aber bloß um ein protreptisches Modell (Kap. 1.4), das nicht
Aristoteles’ letztes Wort in Bezug auf eine Theorie der Wissensgewinnung ist.
Auch wenn neuere Interpretationen auf je andere Weise einen ,Mythos des
Gegebenen‘ (Sellars) vermeiden, insofern also als systematisch attraktiv
angesehen werden kçnnen, besteht doch ihr interpretatorischer Mangel
darin, daß sie (i) die epistemische Rolle der Wahrnehmung nicht genauer
klren und (ii) Aristoteles entweder keine theoretisch anspruchsvolle und
interpretatorisch explikationsfhige Theorie des Wissenserwerbs zubilli-
gen31 oder ihn in einen letztlich ihm fremden Kontext stellen.32 Die vor-
liegende Untersuchung versucht, diese beiden Mngel zu beheben.

31 Das trifft auf das ,Vertiefungsmodell‘ Burnyeats (Burnyeat 1981) und die kausale
Interpretation Fredes (Frede 1996) zu.
32 Diese Kritik kann gegen die kohrentistische Interpretation von Nussbaum
(Nussbaum 1986) und die fallibilistische von Detel (Detel 1993) vorgebracht
werden.
12 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

Um nun die Rolle der Wahrnehmung im Erwerb demonstrativen


Wissens genauer bestimmen zu kçnnen und um die Frage zu entscheiden, ob
Aristoteles’ Epistemologie als empiristisch charakterisiert werden sollte,
muß zuerst geklrt werden, ob die Wahrnehmung gegenber skeptischen
Argumenten als ein absolut sicheres Fundament aufgewiesen wird und was
sie berhaupt zum Wissenserwerb beitragen kann, wie also ihr Gehalt be-
stimmt werden muß. Diese Fragen kçnnen nun aber nicht auf der Grundlage
der Zweiten Analytiken beantwortet werden, da Aristoteles hier weder die
Wahrnehmung als solche thematisiert, noch den Wahrnehmungsbegriff in
einem einheitlichen Sinn verwendet.33 Wir werden daher so vorgehen, daß
wir zuerst fragen, ob die Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell in der Lage
ist, jene Anforderungen zu erfllen, die fr einen Empirismus konstitutiv
sind. Hierfr wenden wir uns in Kap. 2 – 4 zentralen Passagen aus De anima
und aus den Parva naturalia zu. Wenn wir fragen, wie der Gehalt der
Wahrnehmung bestimmt werden muß, setzt das voraus, daß man Aristoteles
berhaupt so etwas wie einen ,Gehalt der Wahrnehmung‘ oder ein ,Ge-
richtetsein auf etwas‘ zuschreiben darf. In Kap. 2.1 wird sich zeigen, daß
Aristoteles durchaus das Spezifikum der Wahrnehmung, einen kognitiven
Zugang zu einer bestimmten Art von Objekten zu haben, anerkennt. Dieses
Merkmal kann aber nicht mit einem anspruchsvollen Begriff der Intentio-
nalitt, gemß dem intentionale Zustnde bestimmte Wahrheits- und Er-
fllungsbedingungen besitzen, interpretiert werden. Der Aristotelischen
Wahrnehmungstheorie liegt ein Kausalmodell zugrunde, in dem sich ein
bestimmter Wahrnehmungsgehalt immer durch seine externe Ursache, also
durch das aisthetische eidos, festgelegt wird. Somit setzt das Vorliegen eines
bestimmten Gehalts notwendig das Vorliegen eines externen Gegenstands
voraus, der diese Wahrnehmung verursacht hat (Kap. 2.1). Gegen dieses
Kausalmodell lßt sich einwenden, daß hier nicht mehr erklrt werden kann,
wie Sinnestuschungen zustande kommen kçnnen; Aristoteles spricht ja der
Wahrnehmung im Hinblick auf alle drei Arten wahrnehmbarer Objekte
verschiedene Grade von Fallibilitt zu (Kap. 2.2). Es wird diskutiert, ob
Aristoteles zur Erklrung der Mçglichkeit von Sinnestuschungen sein
Kausalmodell verlassen muß und zu einer bestimmten Form des Repr-

33 In An. Post. II 19 spricht er zum einen von einem „angeborenen unterschei-


dungsfhigen Vermçgen“, das auch die Tiere besitzen (99b34 f.), zum anderen
scheint er der Wahrnehmung auch irgendeine Art von katholou zuzusprechen
(100a17-b5). Nach I 18 ist Ausgangspunkt der Induktion die Wahrnehmung, die
,das Einzelne‘ (kath’ hekaston) zum Inhalt hat (81b6). Es ist nicht klar, ob hier ein
einzelner Gegenstand oder eine singulre Tatsache gemeint ist (vgl. fr das kath’
hekaston als eine singulre Tatsache: I 31, 88b37 - 88a2).
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 13

sentationalismus gezwungen ist. Wir werden uns mit einer besonders ela-
borierten reprsentationalistischen Interpretation auseinandersetzen und
fr einen Direkten Realismus argumentieren. Zu diesem Zweck werden wir
die verschiedenen Arten von Sinnestuschungen bei Aristoteles herausar-
beiten und daraufhin befragen, ob bei ihnen die phantasia im Sinne eines der
veridischen Wahrnehmung und der Tuschung gemeinsamen Faktors in-
volviert ist (Kap. 2.3). In diesem Zusammenhang werden wir uns auch mit
Aristoteles’ Replik auf das ,argument from illusion‘ beschftigen. Es wird
sich zeigen, daß Aristoteles von einer teleologisch begrndeten Zuverls-
sigkeit der Sinne ausgeht; die jeweiligen Normalzustnde, in denen die Sinne
korrekte Informationen liefern, sind bestimmbar. Wer hier noch weitere
Begrndungen verlangt, sucht einen Beweis fr dasjenige, fr das es keinen
Beweis mehr gibt (Kap. 2.4). Nachdem die Frage nach dem sinnlichen
Weltzugang bei Aristoteles geklrt ist, wendet sich die Untersuchung der
Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts zu. Die Frage nach
dem Gehalt und dem epistemologischen Status der Wahrnehmung war fr
Aristoteles nicht neu, vielmehr hatte schon Platon am Ende des ersten Teils
seines Theaitet eine anti-empiristische Analyse der Wahrnehmung vorge-
nommen: Die Wahrnehmung wird hier auf die Aufnahme der spezifischen
Qualitten beschrnkt; ihr wird ein Urteilen sowie ein genuiner Weltzugang
abgesprochen, der in einem bewußten Unterscheiden verschiedener sinn-
licher Qualitten bestehen wrde. Wir werden Platons Analyse darstellen
(Kap. 3.1) und im Anschluß daran kurz aufzeigen, in welchen Punkten
Aristoteles gegenber Platon den Kompetenzbereich der Wahrnehmung
erweitert. Hier wird sich zeigen, daß fr Aristoteles die Wahrnehmung nicht
bloß die (kausale) Rolle eines sensorischen Informationslieferanten fr das
Denken spielt. Vielmehr handelt es sich bei der Wahrnehmung um ein zur
Diskrimination und zum Bewußtsein der eigenen Ttigkeit fhiges Ver-
mçgen, das uns schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene einen
genuin aisthetischen Weltzugang gewhrt (Kap. 3.2 – 3.4). Umstritten ist
nun allerdings, ob der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles nur auf das ,an
sich Wahrnehmbare‘, also auf die idia und koina aisthÞta, beschrnkt werden
muß oder ob dieser nicht auch um bestimmte Objekte aus der Klasse des
,akzidentell Wahrnehmbaren‘, nmlich um gedankliche Gehalte (noÞmata),
erweitert werden kann. Durch solche noÞmata kçnnte das ,an sich Wahr-
genommene‘, also der bloß in seinen perzeptuellen Qualitten wahrge-
nommene Gegenstand, begrifflich spezifiziert werden. Aristoteles kçnnte
dann aus heutiger Sicht ein begrifflich-propositionaler Wahrnehmungsge-
halt zugeschrieben werden, was fr unsere Ausgangsfrage nach der episte-
mischen Rolle der Wahrnehmung und dem Charakter seiner Epistemologie
14 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

im ganzen von entscheidender Bedeutung wre. Hier mßte allerdings eine


interpretatorisch haltbare Erklrung dafr gefunden werden, wie etwas zu
einem Teil des Gehalts werden kann, was prinzipiell nicht in der Lage ist,
einen Wahrnehmungssinn zu affizieren. Diese Frage wird anhand zweier
Interpretationsmodelle der ,akzidentellen Wahrnehmung‘ diskutiert
(Kap. 4.1). Es wird gezeigt, daß sich gewichtige Argumente gegen die An-
nahme vorbringen lassen, daß das Wahrnehmungsvermçgen selbst dazu in
der Lage ist, auf gedankliche Inhalte (noÞmata) zurckzugreifen, diese mit
dem ,an sich Wahrgenommenen‘ zu kombinieren und auf diese Weise einen
komplexen Gehalt hervorzubringen, der dann aus einer sinnlichen und einer
begrifflichen Komponente bestehen wrde. Nicht betroffen von dieser
Kritik ist die Mçglichkeit, daß sich die ,perzeptuelle Kombination‘ auf
Gehalte bezieht, die einen perzeptuellen Ursprung haben (Kap. 4.2). An-
schließend wird dann ein Interpretationsmodell genauer ausgearbeitet, das
fr die begriffliche Spezifikation des Wahrgenommenen den Intellekt ein-
fhrt: Der in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Gegenstand
wird innerhalb einer Wahrnehmungsmeinung (doxa), die eine Art des dis-
kursiven Denkens (dianoeisthai) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) darstellt,
begrifflich charakterisiert. Wahrnehmung und Intellekt sind in einer engen
Kooperation ttig; die aktuale Wahrnehmung ist das perzeptuelle Antezedens
fr die Bildung einer Wahrnehmungsmeinung. Es wird aufgezeigt, daß
dieses ,noetische Interpretationsmodell‘ die grçßere Konsistenz besitzt und
sich in Aristoteles’ Psychologie als ganze besser integrieren lßt (Kap. 4.3).
Hinsichtlich des epistemischen Status der Wahrnehmung wird schließlich
anhand von De insomniis gezeigt, daß das Bilden einer Wahrnehmungs-
meinung einer Beurteilung bzw. Korrektur durch ein bergeordnetes Ver-
mçgen unterliegt (Kap. 4.4).
Damit gewinnen wir ein erstes Zwischenergebnis: Die Frage, ob die
Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell dazu in der Lage ist, jene Anfor-
derungen zu erfllen, die fr einen Urteilsempirismus konstitutiv sind, kann
mit einem klaren Nein beantwortet werden. Aristoteles kann keine Position
zugeschrieben werden, in welcher der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu
haben, durch Rckfhrung auf bestimmte Beobachtungen legitimiert wird,
so daß die Wahrnehmung das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige
Fundament des gesamten Wissens bilden wrde: Weder hat die Wahr-
nehmung einen propositional-begrifflichen Gehalt, so daß sie eine ausrei-
chend ,breite‘ sinnliche Belegbasis fr andere Meinungen darstellen kçnnte,
noch ist sie als solche schon ,selbst-rechtfertigend‘, vielmehr unterliegt sie der
Beurteilung bzw. der Korrektur bergeordneter seelischer Vermçgen.
Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 15

Aristoteles liefert uns auch keinen anti-skeptischen Aufweis dafr, daß es sich
bei der Wahrnehmung um ein absolut sicheres Fundament handelt.
Auf dieser Grundlage34 kann dann die Frage in Angriff genommen
werden, in welcher Weise die Wahrnehmung am Wissenserwerb beteiligt ist
und wie man Aristoteles’ Epistemologie im ganzen charakterisieren sollte.
Gegenber den jngeren anti-fundamentalistischen Interpretationen soll
gezeigt werden, wie auf der Grundlage von An. Post. II 19 und im Zu-
sammenhang mit anderen Passagen eine differenzierte Interpretation der
Aristotelischen Theorie des Wissenserwerbs rekonstruiert werden kann
(Kap. 5). Hier ist zunchst auf die Frage einzugehen, woher die fr jeden
Wissenserwerb notwendigen Begriffe stammen, durch die der wahrge-
nommene Gegenstand eindeutig identifiziert werden kann, um an diesem
wissenschaftsrelevante Beobachtungen zu machen. Die Untersuchung wird
sich kritisch mit der einflußreichen Lehre auseinandersetzen, nach der die
Begriffe bzw. noetischen Gehalte in einem literalen Sinn in den phantasmata
enthalten sind und – im Sinne eines ,Empirismus der Begriffe‘ – aus diesen
nur abstrahiert oder ,freigelegt‘ werden mssen. Wir werden eine Inter-
pretation entwickeln, die sowohl einen Begriffsempirismus als auch einen
Apriorismus vermeidet (Kap. 5.1). In einem zweiten Schritt werden wir
dann die ußerst knappen und umstrittenen Aussagen von An. Post. II 19

34 Wenn hier eine zusammenhngende Interpretation von Aristoteles’ Theorie des


Wissenserwerbs versucht wird und dafr De anima herangezogen wird, so bedeutet
das nicht automatisch, Aristoteles’ Theorie der Seele zu ,epistemologisieren‘, wie das
in der Vergangenheit oft geschah. Wenn man das Kapitel An. Post. II 19 unter der
Fragestellung liest, wie man darin gerechtfertigt sein kann, die Prinzipien erfaßt zu
haben, oder woher unsere grundlegenden Begriffe stammen, dann scheinen sich
einige Passagen aus De an. III 4 – 8 als Antworten anzubieten. Wie sich allerdings
noch zeigen wird, werden solche Fragen irrtmlicher Weise Aristoteles als seine
eigenen Fragen unterstellt; die ,Noetik‘ von De anima ist ihrem Anspruch nach viel
bescheidener. Es geht um eine allgemeine Theorie des Denkens, in der Fragen nach
Kriterien oder bestimmten Verfahrensweisen der Wissensgewinnung keine Rolle
spielen. Daß Aristoteles in De an. III 4 – 8 die (nicht-diskursive) Erkenntnis des to ti
Þn einai (430b28) bzw. die epistÞt (431b23) anfhrt, entspringt keinem spezifisch
epistemologischen Problem (etwa: ,Wie kçnnen wir jemals sicher sein, die
grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit erfaßt zu haben?’), sondern ist einfach
der Tatsache geschuldet, daß diese Gegenstnde unter die Klasse der noÞta fallen – wie
eben auch die epistÞmÞ eine Art der dianoia bzw. hypolÞpsis ist – und somit zu den
Gegenstnden des Denkvermçgens gehçren, das durch jene individuiert und be-
stimmt ist. Wenn man das im Blick behlt, kann man ohne weiteres De anima fr eine
Interpretation von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs heranziehen, um (i) den
Status und den Inhalt der Wahrnehmung genauer zu bestimmen und (ii) die ver-
schiedenen Arten der Kognition (De an. III 3) genauer herauszuarbeiten.
16 Einleitung: Aristoteles – ein Empirist?

unter Rckgriff auf Ergebnisse frherer Kapitel einer Interpretation un-


terziehen. Dabei werden wir uns zunchst auf den Weg von der Wahrneh-
mung zur Erfahrung (empeiria) konzentrieren. Wir werden einen Deu-
tungsvorschlag vorlegen, demgemß aus diesem Kapitel nicht die
Konsequenz gezogen werden muß, daß sich der Wissenserwerb bei Aristo-
teles auf einen rein kausalen Vorgang beschrnkt. In II 19 werden vielmehr
nur die seelischen Vorgnge und Zustnde (mit ihren jeweiligen Gehalten)
notiert, ohne daß dabei auf die zugehçrigen methodisch geregelten ,epis-
temischen Handlungen‘genauer eingegangen wird (Kap. 5.2). Im Anschluß
daran wird die fr An. Post. II 19 vorgelegte Interpretation in den grçßeren
Rahmen seiner Metaphysik gestellt: Der fr Aristoteles zentrale Grundsatz,
daß sich der Wissenserwerb von dem „fr uns Bekannteren“ zu dem „an sich
Bekannteren“ vollzieht, wird hinsichtlich seiner metaphysischen und ko-
gnitiven Implikationen genauer interpretiert. Von den hier gewonnenen
Ergebnissen aus zeigt sich, daß das auf der Wahrnehmung basierende in-
duktive Verfahren nicht als Legitimationsgrund dafr fungieren kann, eine
bestimmte Meinung als Wissen zu deklarieren. Es ist eher im Sinne eines
Hilfsmittels zu verstehen, um in den kognitiven Zustand der Kenntnis der
Prinzipien zu gelangen (Kap. 5.3). In einem letzten Schritt werden wir kurz
auf den bergang von der Erfahrung zur Prinzipienerkenntnis eingehen
(Kap. 5.4). Abschließend soll dann auf der Grundlage des Erarbeiteten
versucht werden, die vorgelegte Interpretation vor dem Hintergrund ge-
genwrtiger Debatten zu positionieren (Kap. 6).
Am Ende dieser Arbeit wird sich zeigen: Gegenber den in den letzten
Jahrzehnten entwickelten anti-fundamentalistischen Interpretationsanst-
zen ist eine differenziertere Interpretation der Aristotelischen Theorie des
Wissenserwerbs mçglich, die die bliche Klassifizierung von epistemolo-
gischen Fundamentalismus und Kohrentismus unterluft: Die Wahr-
nehmung ist weder das letzte, selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige
Fundament all unseres Wissens, noch ist die Beziehung zwischen Wahr-
nehmung und Denken35 wie im Kohrentismus eine bloß kausale, in welcher
der Wahrnehmung bloß die Rolle eines ,kausalen Zwischenstcks‘ zwischen
der Welt und unseren Meinungen ber sie zukommen wrde. Vielmehr ist
das Wahrnehmen ein Unterscheiden (krinein), das sich in einer rein sinn-
lichen Weise seiner selbst bewußt ist. Als solche gewhrt uns schon das
Wahrnehmen eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis), von der aus dann
durch die Beteiligung des Intellekts innerhalb methodisch geleiteter epis-
temischer Handlungen komplexere Arten von Kenntnissen entstehen, die

35 Im generischen Sinn von De an. III 3, 427b15, b25.


Einleitung: Aristoteles – ein Empirist? 17

andere Bereiche der Wirklichkeit, nmlich das Allgemeine und Notwendige,


zum Gegenstand haben. Aristoteles reduziert die Wahrnehmung weder auf
einen rein sensorischen Informationslieferanten, noch macht er sie zum
letzten Rechtfertigungssttzpunkt. Vielmehr spricht er ihr einen genuin
eigenen Weltzugang zu, der mit Hilfe des Intellekts durch Begriffe ange-
reichert werden und in hçhere Arten von Kenntnissen berfhrt werden
kann.
1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis
Fr Aristoteles bilden Wahrnehmen (aisthanesthai) und Denken (noein) die
beiden Typen des Erkennens (gnrizein); beide Ttigkeiten kommen darin
berein, daß wir hier auf je unterschiedliche Weise etwas von etwas anderem
unterscheiden (krinein) und einen bestimmten Bereich vom Seienden
kennenlernen.1 Der Terminus ,Denken‘ (noein) wird hier in einem weiten,
generischen Sinn verwendet (De an. III 3, 427b9, b27), nmlich als Be-
zeichnung fr die diskursiven Ttigkeiten des menschlichen Intellekts
(nous), den Aristoteles allgemein als das Vermçgen bestimmt, „mit dem die
Seele denkt und Annahmen macht“ (De an. III 4, 429a23). Das diskursive
Denken (dianoeisthai) vollzieht sich im Verbinden und Trennen einfacher
gedanklicher Gehalte (noÞmata) bzw. Begriffe und resultiert in einer An-
nahme oder einem Urteil (hypolÞpsis), in dem etwas von etwas anderem
ausgesagt wird.2 Das diskursive Denken ist also der Prozeß, dessen Ergebnis
eine bestimmte Annahme ist.3 Innerhalb der dianoia bzw. der hypolÞpsis 4 als

1 Vgl. De an. III 3, 427a19 ff.: doje? d³ ja· t¹ moe?m ja· t¹ vqome?m ¦speq aQsh²mesha¸
ti eWmai (1m !lvot´qoir c±q to¼toir jq¸mei ti B xuwμ ja· cmyq¸fei t_m emtym); De an. III
9, 432a16: t` te jqitij`, d diamo¸ar 5qcom 1st· ja· aQsh¶seyr ; Insomn. 458b2 f.:
to¼toir c±q lºmoir t_m 1m Bl?m cmyq¸fol´m ti ; Mot. an. 700b20 f.: jqitij± c±q p²mta.
Das Seiende ist nach Aristoteles entweder wahrnehmbar oder denkbar (De an. III 8,
431b22: C c±q aQshgt± t± emta C mogt²).
2 De an. III 6, 430a26-b6; Met. VI 4, 1027b29 f. Die durch den Intellekt gestifteten
gedanklichen Einheiten (430b5 f.) aus Unverbundenem (ta asyntheta: Met. IX 10,
1051b17) bilden das ,dianoetische Korrelat’ einer Aussage (Int. 16a10 f.) bzw. einer
Schlußfolgerung (Mot. an. 701a10 f.). Fr Aristoteles ist die gedankliche Ebene
gegenber der sprachlichen primr: Die schriftlichen ußerungen sind ,Symbole’
(symbola) unserer sprachlichen ußerungen, diese sind wiederum ,Symbole’ der
,Widerfahrnisse unserer Seele’. Letztere sind ,Abbilder’ (homoimata) der Dinge
(Int. 16a3 – 8). Man kann mit Weidemann (2002, 135 ff.) davon ausgehen, daß es
sich bei diesen seelischen pathÞmata um Inhalte der Denkseele, also um Gedanken
(noÞmata) handelt, die das noetische Korrelat der Begriffe bilden (z. B. ,Mensch’:
Int. 16a14 f.). Einem Allgemeinbegriff liegt also ein noÞma zugrunde und diesem
entspricht – in einem Universalienrealismus – das ,Eine im Vielen’.
3 Hicks 1907, 457; Gerson 2009, 77.
4 Dieser weite, generische Sinn (vgl. Siwek 1964, 322 Anm. 604) ist von dem engen zu
unterscheiden, wie er etwa in EN VI 3, 1139b17 vorliegt.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 19

ihrem Ergebnis lassen sich je nach Bereich des Seienden verschiedene Arten
unterscheiden: Im Idealfall resultiert das diskursiv-begriffliche Denken ber
das Allgemeine und Notwendige im demonstrativen Wissen (epistÞmÞ)5,
dasjenige Denken aber, das sich auf das bezieht, was sich auch anders ver-
halten kann, resultiert im Idealfall in der praktischen Einsicht (phronÞsis)6
bzw. der wahren Meinung (doxa alÞthÞs; De an. III 3, 427b10, b25; EN VI 5,
1140b27 f.). Whrend das Urteil der phronÞsis den Prozeß des ,praktischen
Denkens’ abschließt (EN VI 2, 1139a26 f.), das sich auf dasjenige bezieht,
was dem guten Leben des Menschen berhaupt zutrglich ist (VI 5,
1140a28, b5 f.), geht es der doxa bloß um die Feststellung von kontingenten
Tatsachen (EN III 4, 1111b33; An. Post. I 33).7 Da nach Aristoteles gilt, daß
die menschliche Seele niemals ohne Vorstellungsgehalt (phantasma) denkt
(De an. III 7, 431a16 f.), jede Episode des Denkens also von phantasmata
begleitet sein muß, kann Aristoteles auch sagen, daß neben der hypolÞpsis (mit
ihren verschiedenen Arten) die phantasia eine ,Komponente‘8 des Denkens
(noein) ist (De an. III 3, 427b27 f.).9 Darin zeigt sich die grundstzliche

5 Vgl. EN VI 6, 1140b31 f.: 1pe· d’ B 1pist¶lg peq· t_m jahºkou 1st·m rpºkgxir ja·
t_m 1n !m²cjgr emtym.
6 Ich verstehe hier phronÞsis nicht in einem weiten Sinn (Sens. 437a1 – 3; Met. I 2,
982b24; Protr. B 71, B 77), sondern in dem engen, technischen Sinn von EN VI 5.
7 An dieser Stelle muß kurz darauf hingewiesen werden, daß der vorliegende Abschnitt
De an. III 3, 427a17-b29 nur eine ,Landkarte’der beiden kognitiven Vermçgen und
ihrer verschiedenen Arten skizziert und keinen epistemologischen Charakter im
engen Sinn hat: Es wird nicht gesagt, daß es das Ziel unseres diskursiven Denkens sei,
zu wahren Urteilen ber einen bestimmten Bereich Wirklichkeit zu kommen,
sondern nur, daß es innerhalb des Denkens sowohl Richtiges als auch Nicht-
Richtiges gibt (427b9 ff.). Dagegen wird in der Lehre von den dianoetischen Tu-
genden der Vernunft besitzende Seelenteil mit seinen beiden Vollzgen, dem
epistÞmonikon und dem logistikon (EN VI 2, 1139a12), im Hinblick auf sein ergon,
die Wahrheit (1139b12), untersucht. Es geht um die jeweils ,bestmçgliche Dis-
position’ (B bekt¸stg 6nir : 1139a16), also Tugend, durch die dieses Ziel, das
alÞtheuein, erreicht wird. Solche dianoetischen Tugenden sind wahrheitsgarantie-
rend (VI 6, 1141a3 f.: oXr !kghe¼olem ja· lgd´pote diaxeudºleha).
8 Wedin 1988, 73.
9 Peq· d³ toO moe?m, 1pe· 6teqom toO aQsh²meshai, to¼tou d³ t¹ l³m vamtas¸a doje? eWmai
t¹ d³ rpºkgxir… Diese Unterscheidung kann man m. E. als Aristoteles’ eigene
ansehen. Der Einwand, die phantasia komme auch einigen nicht-vernunftbegabten
Lebewesen zu (De an. III 3, 428a24), so daß jene nicht eine Komponente des
Denkens sein kçnne, lßt sich dadurch entkrften, daß hier eine spezifische Art der
phantasia gemeint ist. In der besonderen Weise, wie der Mensch von den phantas-
mata Gebrauch macht (vgl. De an. III 11, 434a9 f.; Mem. 449b30 – 450a9), wird
die phantasia zu einer Komponente des Denkens. Hierauf werden wir in Kap. 5.1
genauer eingehen.
20 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

Abhngigkeit des menschlichen Denkens vom Wahrnehmungsvermçgen


(vgl. 427b15 f.).10 Von diesem dianoetischen Denken (dianoeisthai), dem
noein im weiten Sinn, unterscheidet Aristoteles an anderer Stelle ein nicht-
diskursives Denken, das noein im engen Sinn, das im Erfassen der einzelnen
intelligiblen Gegenstnde (noÞta) besteht (De an. III 6, 430a26 ff.). Das liegt
zuerst einmal ganz im Rahmen von Aristoteles’ Theorie: So wie die ver-
schiedenen Wahrnehmungssinne auf die ihnen jeweils eigentmlichen
Gegenstnde (idia aisthÞta) bezogen sind, durch die sie individuiert und
bestimmt werden, so ist ebenfalls das Denkvermçgen auf die intelligiblen
Gegenstnde als die ihm eigentmlichen Gegenstnde bezogen (De an. III 4,
429a17 f.). Sachlich legt sich diese nicht-diskursive Form des Denkens in-
sofern nahe, als der Intellekt mit den noÞta nicht in der Weise des Verbindens
und Trennens operieren kann, solange er diese nicht vorher in ihrem Gehalt
erfaßt hat. Die Schwierigkeiten eines epistemologischen Intuitionismus
ergeben sich erst dadurch, daß zur Klasse der noÞta auch die Essenzen oder
substantiellen Formen der Dinge gehçren (De an. III 4, 430b27 f.)11, die das
Ziel unserer Erkenntnisbemhungen darstellen (vgl. Met. VII 6, 1031b6 f.).
In diesem Fall ist es umstritten, ob wir hier einen nous im Sinne eines spe-
zifisch auf die Essenzen bzw. Prinzipien ausgerichteten Erkenntnisvermçgens
annehmen drfen oder den nous bloß als Bezeichnung der kognitiven
Haltung (hexis), in der wir sind, wenn wir die Prinzipien schon erkannt
haben, verstehen sollten.12
Innerhalb der unterschiedlichen Arten des diskursiven Denkens er-
kennen wir also die Wirklichkeit in der Weise, daß wir etwas von etwas
anderem begrifflich unterscheiden und schließlich zu einem Urteil ber
einen notwendigen oder kontingenten Sachverhalt kommen, dem eine
Verbindung gedanklicher Inhalte zugrundeliegt. Dieses begrifflich-urtei-
lende Denken bildet nun den einen Typ des Erkennens, von dem Aristoteles
das Wahrnehmen als den anderen Typ unterscheidet (De an. III 3,

10 Daraus folgt, daß sich das Denken des Menschen nicht vom Kçrper abtrennen kann
(De an. I 1, 403a8 ff.) im Unterschied zum Denken Gottes, der nichts anderes als ein
ewiges, nicht-prozessuales und nicht an Vorstellungsgehalte gebundenes Denken
seiner selbst ist.
11 Oehler (1985, 182 – 186) unterscheidet innerhalb Met. IX 10 zwischen den t±
!s¼mheta (1051b17) und den lμ sumheta· oqs¸ai (b27): Whrend erstere die Ge-
genstnde oder Inhalte der isolierten Begriffe sind, die sich ber alle Kategorien
erstrecken, handelt es sich bei letzteren um die reinen Formen oder das wesentliche
Sein (t¹ t¸ Gm eWmai) der Dinge, das in der Wesensdefinition (bqislºr) expliziert wird
(vgl. Met. VII 5, 1031a11 – 14).
12 Darauf werden wir noch im nchsten Abschnitt dieses Kapitels eingehen.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 21

427a19 ff., b27).13 Auch hier unterscheiden wir etwas von etwas anderem14,
beziehen uns also diskriminatorisch auf die Wirklichkeit – und zwar auf
kontingent Seiendes (EN VI 3, 1139b21 f.; An. Post. I 31). Auch hier
prsentiert sich uns etwas Wahres oder Falsches.15 Im Unterschied zum
diskursiven Denken vollzieht sich hier aber das Unterscheiden nicht mit
Hilfe von Gedanken bzw. Begriffen. Das Wahrnehmen geht auch nicht mit
dem Bilden einer Annahme oder eines Urteils einher (was logos voraussetzt:
De an. III 3, 428a22 ff.): Die Sonne kann ein Fuß breit aussehen, ohne daß
man gleichzeitig der berzeugung sein muß, daß sie ein Fuß breit ist (vgl. De
an. III 3, 428b2 ff.). Dennoch handelt es sich fr Aristoteles bei der
Wahrnehmung um einen genuinen Typ des Erkennens (gnrizein); auch sie
gewhrt uns eine bestimmte Art von Kenntnis (gnsis tis): In Gen. an. I 23
findet sich die Aussage, daß alle Lebewesen in einem unterschiedlichem Maß
Anteil an einer gnsis tis haben und die Wahrnehmung diese gnsis tis sei
(731a32 ff.16 ; Protr. B 76). Bevor wir diesen Punkt anhand mehrerer Stellen
noch etwas weiter verdeutlichen, wollen wir drei wichtige Beobachtungen
festhalten: (1) Der Raum des Kognitiven ist bei Aristoteles weiter als der
Raum des begrifflich-diskursiven Denkens. Der Bereich unterhalb der
dianoia ist nicht ,blind‘ oder rein sensorisch; vielmehr kommt schon auf der
Ebene der Wahrnehmung, insofern es sich bei ihr um ein angeborenes und
unterscheidungsfhiges Vermçgen handelt, ein genuiner Weltzugang zu-

13 Im Unterschied zum Denken ist das Wahrnehmen an ein Organ gebunden (De an.
III 4, 429a13 – 18). In beiden Fllen handelt es sich um eine rezeptive Beziehung. Vgl.
Oehler 1985, 188, 191; Burnyeat 2002, 71 f.
14 Vgl. An. Post. II 19, 99b35; De an. III 2, 426b8 – 427a14; III 4, 429b14 f. Zum
Terminus krinein innerhalb der Aristotelischen Psychologie vgl. die eingehende
Untersuchung von Ebert 1983, der nachweist, daß krinein hier bis auf wenige
Ausnahmen ,unterscheiden’ (discern, discriminate) und nicht ,urteilen’ bedeutet.
Das krinein der verschiedenen, einem bestimmten Sinn zugeordneten Qualitten ist
somit schon eine basale kognitive Ttigkeit (Ebert 1983, 184, 195).
15 Vgl. De an. III 3, 428a3 f. (d¼malir C 6nir jah’ $r jq¸molem ja· !kghe¼olem C xeu-
dºleha); EN VI 2, 1139a18 (tq¸a d¶ 1stim 1m t0 xuw0 t± j¼qia pq²neyr ja· !kghe¸ar,
aUshgsir moOr eqenir).
16 !kk± ja· cm¾se¾r timor p²mta let´wousi, t± l³m pke¸omor, t± d’ 1k²ttomor, t± d³
p²lpam lijq÷r. aUshgsim c±q 5wousim, B d’ aUshgsir cm_s¸r tir. In Gen. an. I
23 mçchte Aristoteles zeigen, daß die Fortpflanzung nicht das einzige ergon der
Lebewesen ist, sondern daß sie auch an einer bestimmten Art gnsis Anteil haben. Der
Rang dieser gnsis ist je nach Perspektive unterschiedlich: Im Hinblick auf die
phronÞsis (hier im weiten Sinn vgl. Sens. 437a11) scheint der Besitz der Sinne fast
nichts zu sein, hinsichtlich einem Leben ohne Wahrnehmung aber das beste. Einem
Zustand des Todes oder der Nicht-Existenz ist das Erlangen dieser gnsis vorzu-
ziehen.
22 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

stande.17 (2) Im Idealfall gewhren uns die verschiedenen kognitiven T-


tigkeiten verschiedene Arten von Kenntnissen (gnseis), die jeweils unter-
schiedliche Bereiche der Wirklichkeit in unterschiedlichen Graden von
Genauigkeit18 zum Inhalt haben. Hier zeigt sich eine fr Aristoteles’ Theorie
des Wissens wichtige Konsequenz: Der Begriff der Kenntnis (gnsis) ist fr
Aristoteles weiter19 als der Begriff des ,bewiesenen Wissens‘ (epistÞmÞ), das
nur eine besondere Art von Kenntnis unter anderen ist und durch eine
besondere Art von diskursiver Ttigkeit, nmlich durch den Beweis her-
vorgebracht wird.20 (Schon hier deutet sich die Vielfalt der Wissensformen
an, die Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik entfaltet.) Bei
allen anderen Resultaten intellektueller Ttigkeiten, die nicht mit einem
Beweis verknpft sind, spricht Aristoteles schlicht von ,Kenntnissen‘ (gn-
seis): Das reicht von dem fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorwissen21,
das sich auf die Bedeutung grundlegender Termini, die Existenz bestimmter
Gegenstnde und das Vertrautsein mit wissenschaftsbergreifenden
Grundstzen (Axiomen) bezieht, ber das durch die Induktion22 und durch
Dihairese hervorgebrachte Wissen23, bis hin zur Kenntnis der fr das de-
monstrative Wissen konstitutiven Prinzipien, also der ersten, unvermittelten
und urschlichen Prmissen eines Beweises.24 Hier kann Aristoteles durch
den weiten Begriff des gnrizein (wie auch gignskein) eine Zirkularitt in der
Bestimmung des demonstrativen Wissens vermeiden25 : „Zu wissen nun
glauben wir eine jede Sache schlechthin, und nicht auf die sophistische, die
zufllige Weise, wann immer wir von der Ursache glauben Kenntnis zu
besitzen (cim¾sjeim), aufgrund derer die Sache besteht“ (An. Post. I 2,

17 Auf diesen genuin aisthetischen Weltzugang werden wir in Kap. 2 – 3 genauer


eingehen.
18 Zu den unterschiedlichen Kriterien von ,genau’ und dementsprechend den ver-
schiedenen Arten von Genauigkeit vgl. Aristoteles’ ußerungen in An. Post. I 27;
Met. I 2, 982a25 – 28; EN I 1; Part. an. I 5; Met. II 3.
19 Hier handelt es sich um einen basalen oder grundlegenden Begriff, fr den es keine
Definition im herkçmmlichen Sinn gibt. Man kçnnte hier an jene Bestimmung
denken, die am Anfang von Platons Theaitet von Sokrates beilufig in das Gesprch
eingebracht wird: Danach besitzt das Wissen zumindest die beiden Merkmale
„immer vom Seienden und untrglich“ (toO emtor !e¸ ja· !xeud´r : Tht. 152c5) zu
sein.
20 Vgl. Burnyeat 1981, 100 ff.
21 Vgl. An. Post. I 1, 71a1 - 17 und II 19, 99b29 f.; EN VI 3, 1139b26.
22 Vgl. An. Post. I 1, 71a21; I 3, 72b29 f. und I 18, 81b3 f.
23 Vgl. An. Post. II 5, 91b34.
24 Vgl. An. Post. II 19, 99b22.
25 Vgl. Barnes 1975, 97; Detel 1993 II, 53.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 23

71b9 ff.; bers. Detel); „Denn dann behaupten wir, einen Gegenstand zu
wissen (eQd´mai26), wenn wir glauben, die erste Ursache zu kennen (cmyq¸-
feim)“ (Met. I 3, 983a25 f.).27 (3) Interessanterweise sind die beiden Typen
des Erkennens, Wahrnehmung und Denken (mit den verschiedenen Arten
der doxa, phronÞsis und epistÞmÞ), gerade nicht mit zwei strikt voneinander
getrennten Gegenstandsbereichen, dem Singulren und Kontingenten ei-
nerseits und dem Allgemeinen und Notwendigen andererseits, korreliert,
vielmehr gibt es hier berschneidungen. Im Modus der doxa und der
phronÞsis kann sich der Intellekt auch auf das Kontingente beziehen, indem er
diese Gegenstnde begrifflich charakterisiert und ber diese zu einer An-
nahme kommt. Das wird fr den Wissenserwerb von entscheidender Be-
deutung sein.
Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Formen des Erkennens
(gnrizein) und der daraus resultierenden Kenntnisse (gnseis), die Aristo-
teles gemß ihrer Genauigkeit und des Rangs ihrer Gegenstnde in eine
Hierarchie bringt, wollen wir jetzt anhand einiger Stellen herausarbeiten, wie
Aristoteles die von der Wahrnehmung gewhrte Art von Kenntnis genauer
charakterisiert: (1) An mehreren Stellen spricht Aristoteles davon, daß uns
der Sehsinn, der uns von den einzelnen Sinnen am meisten ein Erkennen
gewhrt (poie?m cmyq¸feim : Met. I 1, 980a26 f.28), die vielfltigen phno-
menalen Unterschiede der Wirklichkeit ,deutlich macht‘ (dgkoOm : 980a27;
Protr. B 5129) oder ,anzeigt‘ (eQsacc´kkeim : Sens. 437a230, a5 f.31). Grund-
stzlich stellen uns die Sinne die ,maßgeblichsten Kenntnisse‘ (juqi¾tatai

26 Fr eQd´mai an dieser Stelle vgl. auch Met. II 2, 996b14 ff.


27 Fr diese sich auf die Ursachen und Prinzipien beziehende Verwendung von
gnrizein vgl. Phys. I 1, 184a10 – 14; An. Post. I 2, 72a38 f.; I 3, 72b24 f.; II 19,
100b4; Met. I 1, 981b6; II 2, 994b29 f.; III 2, 996a21; auch An. Post. I 31, 87b38 f.;
II 19, 99b18, b22; Met. I 1, 981a30; Part.an. I 5, 645a10. Fr gignskein in derselben
Verwendung vgl. An. Post. I 2, 71b9 – 12; 72a28; II 19, 99b21; Met. V 1,
1013a18 f.; VII 1, 1028a36 f. Ausnahmen davon sind: I 3, 72b21; II 11, 94a20.
28 Vgl. Ross (Oxford-bersetzung, 1552): „this, most of all the senses, makes us know
and brings to light many differences between things.“ Vgl. auch der LSJ (355) zu
gnrizein: make known, point out, become known, gain knowledge, become ac-
quainted with, discover. Auf die Eingangspassage von Met. I 1 werden wir in
Kap. 1.4 genauer eingehen.
29 „Wie nmlich die Sehkraft nichts schafft oder hervorbringt, denn ihre Aufgabe ist
allein, jedes einzelne der sichtbaren Dinge zu unterscheiden und deutlich zu machen
(t¹ jq¸meim ja· dgkoOm), uns aber ermçglicht, mit ihrer Hilfe etwas zu tun“ (bers.
Dring).
30 pokk±r c±q eQsacc´kkousi diavoq²r
31 diavoq±r l³m c±q pokk±r ja· pamtodap±r B t/r exeyr eQsacc´kkei d¼malir
24 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

cm¾seir) ber die einzelnen Dinge zur Verfgung, etwa „daß es (das Feuer)
warm ist“ (Met. I 1, 981b11 ff.). Hier stellt sich natrlich die Frage, ob die
Wahrnehmung bzw. die mit ihr verbundene Kenntnis nur die Qualitt
,warm‘ zum Inhalt hat oder auch die Tatsache ,daß das Feuer warm ist‘.
Manche Stellen legen es in der Tat nahe, daß uns in der Wahrnehmung eine
bestimmte singulre Tatsache offenbar wird (EN VI 3, 1139b21 f.32 ; Top. V
3, 131b2333, b27).34 Wir werden auf diese Frage noch spter eingehen. An
dieser Stelle bleibt erst einmal festzuhalten, daß uns die Wahrnehmung mit
der Wirklichkeit in ihrer phnomenalen Mannigfaltigkeit bekannt macht.
(2) Die von der Wahrnehmung gewhrte Kenntnis spielt im Wissenserwerb
eine grundlegende Rolle: Das Wahrgenommene ist das ,fr uns Bekanntere‘
(An. Post. I 2, 72a2 f.; Phys. I 5, 189a5), von dem der Wissenserwerb, der
zum ,an sich‘ oder ,der Natur nach Bekannteren‘ fhrt (An. Post. I 2, 72a3;
Phys. I 1, 184a16 – 21), ausgehen muß.35 Die Induktion im Sinne einer
,Heranfhrung‘ macht nichts anderes, als einen allgemeinen Gesichtspunkt
an mehreren Einzelfllen zu verdeutlichen36, die ihrerseits fr uns ,deutlich‘
oder,bekannt’sind (An. Post. I 1, 71a8 f.; Phys. I 2, 185a13 f.). In An. Post. II
19, wo Aristoteles die Entstehung der verschiedenen kognitiven Zustnde
bzw. Kenntnisse von der Wahrnehmung aus bis zur Prinzipienkenntnis
beschreibt, sagt Aristoteles, daß es bei Lebewesen, bei denen sich neben der
Wahrnehmung kein Bleiben des Wahrnehmungsinhalts findet, keine gnsis
außerhalb des Wahrnehmens gibt: „Fr diejenigen nun, in denen es nicht
zustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustande-

32 „Von dem, was anders sein kann, wissen wir, wenn es außerhalb unserer Beobachtung
geschieht, nicht (kamh²mei), ob es der Fall ist oder nicht“ (bers. Wolf ).
33 „Denn alles Wahrnehmbare ist, wenn es sich der Wahrnehmung entzieht, ungewiss
(%dgkom). Unklar (!vam´r) ist nmlich, ob es noch zukommt, weil es nur durch die
Wahrnehmung erkannt wird“ (bers. Rapp/Wagner).
34 Diese Frage kann natrlich nicht bloß durch Hinweis auf Aristoteles’ Formulierung
mit einer propositionalen Konstruktion entschieden werden (vgl. Graeser 1978, 92
Anm. 2). Hierzu ausfhrlich Kap. 3 – 4.
35 Wieland (1992, 71 Anm. 2) hat berzeugend nachgewiesen, daß cm¾qilom hier nicht
,erkennbar’, sondern schon ,bekannt’ bedeuten muß; wir setzen in jeder Untersu-
chung schon immer bei einer Kenntnis an. Er fhrt hier das Regreßproblem an:
Wenn wir bei jedem Wissenserwerb von etwas Erkennbarem ausgehen wrden, das
wir erst noch erkennen mßten, kçnnten wir wieder fragen, wie wir das erkennen.
Dafr, daß es sich hier schon um ein Bekanntes handeln muß, spricht das Bl?m
cm¾qilom in EN I 2, 1095b4: Man muß schon immer sittlich gebildet sein, um die
Vorlesung ber Ethik zu hçren.
36 Die Induktion macht das Allgemeine ,bekannt’ (cm¾qilom poie?m : I 3, 72b29 f.; I 18,
81b3) oder ,deutlich’ (dgkoOm : An. Post. II 5, 91b35; Met. VI 1, 1025b15 f.). Vgl.
Wieland 1992, 95.
1.1 Die Wahrnehmung als gnsis tis 25

kommt, gibt es keine Kenntnis außerhalb des Wahrnehmens (oqj 5sti


to¼toir cm_sir 5ny toO aQsh²meshai)“ (99b37 ff.; bers. Detel). In der
,Genetischen Epistemologie‘ (Hamlyn) dieses Kapitels geht es Aristoteles in
erster Linie um die Beantwortung der Frage, wie wir mit den Prinzipien
bekannt werden (99b18), in zweiter Linie um die Frage, welches der ko-
gnitive Zustand ist, in dem wir uns befinden, wenn wir sie kennen. Die erste
Frage wird anschließend in folgender ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶seiem %m tir)
wieder aufgenommen und genauer expliziert37: „ob die Zustnde nicht in
uns sind, sondern zustande kommen oder in uns sind, aber verborgen
bleiben“ (99b25 f.; bers. Detel). Einerseits kçnnen wir diese Kenntnisse
nicht schon immer in uns haben, da wir dann Kenntnisse besitzen wrden,
die dem Rang nach hçher wren als die daraus resultierenden Beweise, ohne
daß uns das bewußt wre. Wenn wir sie andererseits erwerben, ohne sie schon
zu besitzen, stellt sich das Problem, wie das mçglich ist, wenn wir berhaupt
keine Kenntnisse besitzen. Daraus folgt, daß es weder mçglich ist, die
Prinzipien immer schon zu besitzen, noch daß wir sie ex nihilo, ohne ir-
gendeine vorangehende Kenntnis, erwerben. Dieses aus Platons Menon
bekannte Problem lçst Aristoteles mit der Einfhrung der Wahrnehmung als
einem angeborenen und unterscheidungsfhigen Vermçgen (d¼malim s¼l-
vutom jqitij¶m : 99b25 – 35).38 Als ein solches Vermçgen kann die Wahr-
nehmung zwei Bedingungen erfllen: Sie stellt zum einen ohne eine vor-
herige Belehrung die fr jeden Wissenserwerb notwendigen Vorkenntnisse
(pqoup²qwousa cm_sir : 99b29) bereit, ohne die wir sonst keine weiteren
Kenntnisse gewinnen kçnnten. Die Kenntnisse, die sie gewhrt, sind zum
anderen nicht ,ranghçher gemß der Genauigkeit‘ (tiliyt´qa jat’ !jq¸-
beiam : 99b33 f.)39 als die zu erwerbenden Kenntnisse. Die kognitiven Zu-
stnde des Wissens liegen somit nicht schon immer in uns vor, noch ent-
stehen sie aus solchen, die ,an sich bekannter‘ wren (cmystij¾teqom),
sondern sie entstehen ,im Ausgang von der Wahrnehmung‘ (!p¹ aQsh¶seyr :
100a10 f.).40 Insofern die Wahrnehmung als ein angeborenes Vermçgen

37 Die zweite Frage nach dem kognitiven Zustand wird zuvor in zwei Problemen re-
formuliert (hierzu Detel 1993 II, 858 f.).
38 Vgl. auch De an. III 3, 428a3 f., wo Aristoteles bezglich aisthÞsis, doxa, epistÞmÞ und
nous von Vermçgen oder Haltungen spricht, „durch die wir unterscheiden und
Wahres oder Falsches sagen“.
39 Der Grad an Genauigkeit bemißt sich hier an der Nhe zu den hçchsten Prinzipien
vgl. An. Post. I 27, 87a34 f.; I 24, 86a14 – 17; Met. I 2, 982a25 ff.
40 Aristoteles unterscheidet noch nicht wie Kant (Kritik der reinen Vernunft B 1)
zwischen einem ,mit der Erfahrung anheben’ und ,aus der Erfahrung entspringen’,
weshalb ich in epistemologischen Zusammenhngen keinen Unterschied dem Sinn
26 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

schon ,unterscheidungsfhig‘ und damit ,kognitiv‘ ist, kann sie uns mit der
sinnlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in einer nicht-begrifflichen
Weise bekannt machen. Auf diese Weise kann sie einen Teil des fr jeden
Wissenserwerb notwendigen Vorwissens bereitstellen41, von dem ausgehend
dann die hçherrangigen Kenntnisse entstehen (An. Post. II 19, 100a10 f.;
Sens. 437a2 f.).

1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ


Im letzten Abschnitt haben wir schon gesehen, daß es sich bei der epistÞmÞ um
eine bestimmte Art von hypolÞpsis handelt, nmlich um eine solche, die aus
der Ttigkeit des Beweisens resultiert und sich auf das Allgemeine und
Notwendige bezieht (De an. III 3, 427b25; EN VI 6, 1140b31 f.42). Nach
Aristoteles wissen wir dann etwas schlechthin (epistasthai hapls), wenn wir
die Ursache kennen, durch die eine Sache43 ist, daß es die Ursache jener Sache
ist und daß sich diese Sache nicht anders verhalten kann (An. Post. I 2, 71b9 –
12). Aristoteles entfaltet diese Art des Wissens mit Hilfe einer bestimmten
Art des Schlusses, nmlich des ,wissenschaftlichen Schlusses‘ (syllogismos
epistÞmonikos), den er,Beweis‘ (apodeixis) nennt; durch einen Beweis kommt
Wissen im Sinne der epistÞmÞ zustande (jah’ dm t` 5weim aqt¹m 1pist²leha :

nach zwischen 1n/1j c.gen. (99b29, 100a6; Sens. 437a2) und !pº c.gen. (100a10 f.)
mache.
41 Die Wahrnehmung liegt nach De an. II 5 von Geburt an schon auf der Stufe der
,ersten Entelechie’ vor (wie ein erworbenes Wissen: 417b16 – 19). Welsch (1987,
117 – 122) spricht hier von einem ,aisthetischen Vorwissen’ oder ,Elementarwissen’,
auf deren Grundlage die Wahrnehmung unterscheiden kann. Man kann fragen, wie
sich die durch die Wahrnehmung gewhrten Kenntnisse zu dem in An. Post. I 1
erwhnten Vorwissen verhalten. Wir darauf in Kap. 5.1 eingehen.
42 Demonstratives Wissen (epistÞmÞ) bezieht sich grundstzlich auf das Allgemeine und
Notwendige (An. Post. I 6, 74b6; I 33, 88b31 f.; hierzu Kosman 1973, 377 f.;
Burnyeat 1981, 109 f.). ,Allgemein’ (jahºkou) wird hier im strikten Sinn von An.
Post. I 4 (jat± pamtºr ja· jah’ art¹ ja· Ø aqtº: 73b26 f.) verstanden. Aristoteles lßt
aber auch das, was in der Regel geschieht (¢r 1p· t¹ pok¼), als Gegenstand der epistÞmÞ
zu (Met. VI 2, 1027a20 f.; An. Post. I 30).
43 Da sich nach Aristoteles die Frage nach der Ursache (t¹ di± t¸) immer auf ein Ver-
hltnis des Zukommens beziehen muß (Met. VII 17, 1041a10 f., a23: t· %qa jat²
timor fgte? di± t¸ rp²qwei), d. h. warum einem Gegenstand als Mitglied einer be-
stimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen (die sog. per se-
Akzidentien: An. Post. I 7, 75b1; I 10, 76b4), kçnnen wir hier pq÷cla auch als
,Tatsache’ auffassen.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 27

71b19).44 Ein Beweis unterscheidet sich darin von einer herkçmmlichen


Deduktion, daß seine Prmissen wahr, ursprnglich, unvermittelt und in
Bezug auf die Konklusion ,an sich bekannter und frher‘und urschlich sind
(71b21 f.). Solche unvermittelten und erklrungskrftigen Prmissen, die
Aristoteles auch als ,Prinzipien des Beweises‘ (72a7)45 bezeichnet, verweisen
auf einen in der Wirklichkeit vorliegenden allgemeinen und notwendigen
Zusammenhang, der fr andere urschlich ist. Wenn wir einen solchen
Zusammenhang, also das Prinzip in seiner internen Struktur, ,durchschaut‘
haben, wissen wir, warum bestimmten Gegenstnden, insofern sie einer
bestimmten Art angehçren, bestimmte Merkmale notwendig zukommen
und sind dann imstande, solche allgemeinen Tatsachen oder Phnomene aus
unvermittelten und urschlichen Prmissen – d. h. der Mittelbegriff verweist
auf eine Aristotelische Ursache, die ,an sich bekannter‘ ist – zu erklren. So
kçnnen wir durch Kenntnis der Form-Ursache oder des Wesens46 einer
bestimmten Art aufzeigen, warum die Angehçrigen dieser bestimmten Art
bestimmte Eigenschaften notwendig besitzen. Diese notwendigen Eigen-

44 Bei Aristoteles’ epistÞmÞ handelt es sich um eine besondere Art von Wissen, das nicht
mit dem Wissensbegriff der Standardanalyse im Sinne ,gerechtfertigter wahrer
Meinung’ gleichgesetzt werden darf (wie es sich prima facie von EN VI 3, 1139b33 f.
nahelegen kçnnte). Wie Burnyeat (1981, 100 – 115) gezeigt hat, handelt es sich hier
um ein Expertenwissen, das viel restriktivere Bedingungen erfllen muß als der
Wissensbegriff der Standardanalyse: Die epistÞmÞ im strikten Sinn bezieht sich nur
auf das Allgemeine und Notwendige und kommt nur durch Beweis zustande. Dabei
mssen die Prmissen eines Beweises die in An. Post. I 2 aufgestellten Bedingungen
erfllen. Sind einem etwa die Prmissen nicht ,bekannter’ als die zu erklrenden
Tatsachen, dann hat man die 1pist¶lg nur in einem akzidentellen Sinn (EN VI 3,
1139b34 f.). Daraus folgt aber gerade nicht, wie Burnyeat zu Recht hervorhebt, daß
man dann bloß ber ,Meinung’ verfgen wrde. Vielmehr gibt es bei Aristoteles
innerhalb der epistÞmÞ verschiedene Abstufungen (etwa An. Post. I 13; I 24).
45 Hier wird ,Prinzip’ in einem engen Sinn verwendet. In einem weiten Sinn werden
innerhalb der Apodeiktik die Hypothesen, Definitionen und die Axiome Prinzipien
genannt (An. Post. I 2, 72a14 – 24; I 10; Met. III 2, 996b26 ff.). In der vorliegenden
Untersuchung verwenden wir die Begriffe des Prinzips und der Ursache der Ein-
fachheit halber gleichbedeutend, wohl wissend, daß alle Ursachen Prinzipien, aber
nicht alle Prinzipien Ursachen sind.
46 Innerhalb der vier verschiedenen Typen von Ursachen (Phys. II 3; Met. V 2) bildet
die Form-Ursache den primren Bezugspunkt (vgl. Owens 1963, 178 f., 234). Sie
koinzidiert mit der ousia im primren Sinn, der Seinsursache eines selbstndig
existierenden Gegenstands (Met. V 8, 1017b14 ff.). Als prtÞ ousia ist diese ver-
antwortlich fr die Selbstndigkeit und Bestimmtheit der Einzelsubstanz und als
solche die primre Antwort auf die Was-ist-Frage, enthlt also das definitorische
Sein.
28 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

schaften oder ,per se-Akzidentien‘ (t± jah’ art± sulbebgjºta)47, die im


Unterschied zu den zuflligen Akzidentien (An. Post. I 6, 74b12.; Met. VI 2)
jedem Exemplar einer bestimmten Art notwendig zukommen, im Unter-
schied zu den essentiellen Eigenschaften aber nicht zum Wesen (ousia) bzw.
zur Definition (horismos) selbst gehçren (Met. V 30, 1025a30 – 34), spielen
innerhalb der Aristotelischen Konzeption der epistÞmÞ eine entscheidende
Rolle: Sie beschreiben das Feld der demonstranda 48 einer Wissenschaft, mit
denen der Forscher in der Form eines ,Wissen des Daß‘ (eQd´mai t¹ fti) schon
vertraut sein muß, bevor er mit der eigentlichen Ursachenforschung be-
ginnen kann (An. Post. II 1 – 2; vgl. auch De an. I 1, 402b21 – 25).49 Wissen

47 Bei Aristoteles finden sich auch die Ausdrcke t± jah’ art± p²hg oder t± jah’ art±
rp²qwomta. Hufig spricht man von „notwendigen, nichtdefinitorischen Attribu-
te[n]“ (Kullmann 1998, 63, 94 f.) oder auch von den aus dem Wesen der Sache
,abgeleiteten’, notwendigen Eigenschaften (vgl. Ross 1924, 349: „which yet flows
from the nature of the subject“; zu der Redeweise eines ,Ausstrçmens’ der per se-
Akzidentien aus dem Subjekt oder den Prinzipien der Substanz vgl. Thomas von
Aquin, etwa S.Th. q. 77 a. 6 ad tertium [hier emanatio]). Aristoteles unterscheidet
diese notwendigen und nicht-definitorischen Prdikate von den notwendigen und
definitorischen Prdikaten anhand zweier Verwendungsweisen von jah’ artº:
Whrend bei Letzteren das Prdikat in der Definition des Subjekts vorkommt (als
essentielles Merkmal, d. h. als generisches oder spezifisches), kommt bei Ersteren das
Subjekt in der Definition des Prdikats vor (An. Post. I 4, 73a34-b4; I 22, 84a11 –
17). Zur Frage, ob das sulbebgj¹r jah’ artº mit dem Udiom oder Proprium
gleichgesetzt werden kann, vgl. Tugendhat 1958, 59 Anm. 26. Ontologisch bilden
die notwendigen Akzidentien den „Zwischenbereich, in dem sich sulbebgjºr und
jah’ artº durchdringen“ (Tugendhat 1958, 50) – wir werden auf die ontologischen
und epistemologischen Implikationen dieses sulbebgjºr-Begriffs in Kap. 5.3 noch
eingehen. Hier wollen wir erst einmal mit Tugendhat (1958, 37) festhalten: „Indem
das sulbebgjºr das jah’ artº in sich aufnimmt, das ursprnglich die Prsenz als
solche im Gegensatz zum sulbebgj´mai auszeichnet, wird durch das sich daraus
ergebende sulbebgj¹r jah’ artº der Boden gelegt fr die in den Zweiten Analytiken
entwickelte neue Form von Wissenschaft, deren Wesen nicht mehr darin besteht, das
Einfache bloß als solches definitorisch zu schauen, sondern in seiner Zwiefltigkeit
und d. h. seinem Vorliegen zu begrnden“.
48 Vgl. An. Post. I 7, 75a40-b2; I 10, 76b3 f., b13; I 22, 84a11 f.; Met. III 2, 997a19 ff.;
VI 1, 1025b12 f.; Part an. I 5, 645b1 f.
49 Hierzu Detel 2005b, Detel 2005c und Kullmann 1998, Kap. II. Wie Detel zu Recht
betont, ist das Gewinnen eines solchen nicht-demonstrativen Wissens allgemeiner
Tatsachen durch Wahrnehmung, Induktion und andere Methoden alles andere als
trivial. Aristoteles schreibt außerdem der Kenntnis solcher allgemeiner Tatsachen,
die das Zukommen der per se-Akzidentien zum Inhalt haben, auch einen Nutzen fr
den Erwerb der Kenntnis des Wesens einer Sache zu (De an. I 1, 402b21 – 25). Sie
weisen gewissermaßen den Weg zum Wesen einer Sache, insofern bei ihnen die
urschliche Analyse ansetzt. Wir werden darauf in Kap. 5 eingehen.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 29

im Sinne der epistÞmÞ beschrnkt sich dann nicht mehr auf ein bloß defi-
nitorisches Wissen – d. h. auf die Kenntnis der essentiellen Eigenschaften
einer Sache, wie sie in der unvermittelten Prmisse eines Beweises logisch
entfaltet werden –, sondern bezieht sich auf ein komplexes ontologisches Feld,
in dem bestimmte notwendige Merkmale, die schon in der Erfahrung
(empeiria) erfaßt werden kçnnen, aus ihren essentiell-urschlichen Struk-
turen erklrt werden. Konkret zeigt sich dieses demonstrative Wissen in
einem System tief gestaffelter Demonstrationen, das eine ganze wissen-
schaftliche Theorie oder Disziplin bildet.50
Wenn nun das Wissen im Sinne der epistÞmÞ nur durch Beweis zu-
standekommt, und dieser von Prinzipien, also unvermittelten und erkl-
rungskrftigen Prmissen ausgeht, mssen wir auch von diesen Prinzipien
irgendeine bestimmte Art der Kenntnis haben. Nach Aristoteles ist es fr das
epistasthai hapls sogar erforderlich, die Prinzipien des Beweises in einem
hçheren Maße als die Konklusionen zu kennen und daher auch von ihnen in
einem hçheren Grad berzeugt zu sein (l÷kkom cmyq¸feim ja· l÷kkom
piste¼eim : An. Post. I 2, 72a30 ff., a38 f.). Das folgt fr Aristoteles aus dem
allgemeinen Prinzip, daß eine bestimmte, an einem Gegenstand verursachte
Eigenschaft dem Verursachenden im hçheren Grad zukommen muß: „stets
nmlich trifft dasjenige, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, jenem gegenber
in hçherem Grade zu (l÷kkom rp²qwei), wie etwa: aufgrund dessen wir
lieben, das ist liebenswert in hçherem Grade. Daher, wenn wir wirklich
wissen aufgrund der ursprnglichen Dinge, und berzeugt sind, dann wissen
wir auch jene Dinge, und sind berzeugt, in hçherem Grade, weil aufgrund
jener auch die spteren Dinge zutreffen“ (An. Post. I 2, 72a29 – 32; bers.
Detel).51 Das, was also Grund fr das Wissen einer bestimmten Sache ist,
muß nach Aristoteles selbst in einem hçheren Grade gewußt werden (vgl. I
25, 86a38 f., b27 ff.). Doch was heißt hier, etwas in einem hçheren Grad zu
wissen? Aristoteles’ Redeweise von verschiedenen Graden des Wissens und
des berzeugtseins darf nicht im Sinne einer hçheren subjektiven ,Evidenz‘
oder ,Gewißheit‘ verstanden werden.52 Hinter diesen verschiedenen Graden
steht eine ontologische Rangordnung, in der das Fundierende an der Spitze
steht, also ein essentiell-urschlicher Zusammenhang, aus dem sich er-

50 Vgl. Detel 2005b, 201.


51 Fr dieses Kausalverstndnis vgl. Met. II 1, 993b24 ff. Hierzu weiterfhrend Gerson
2005, 180 – 188. Fr den Fall des Wissens der Prinzipien vgl. auch Met. I 2,
982b2 ff.: „Am meisten wißbar sind aber die Prinzipien und Ursachen: Denn durch
diese und aus diesen wird das brige erkannt, nicht aber diese durch das Unterge-
ordnete“.
52 Vgl. Burnyeat 1981, 127 f.
30 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

schließt, warum einer bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften not-


wendig zukommen. Dieses ontologisch Primre oder Vorrangige bildet das
Ziel unserer Erkenntnisbemhungen (Met. VII 6, 1031b6 f.53). Die Er-
kenntnis dieses ontologisch Primren, das am weitesten von der Wahr-
nehmung entfernt ist, ist fr uns schwierig – Aristoteles illustriert unsere
epistemische Situation mit dem berhmten Nachtvçgel-Gleichnis (Met. II
1, 993b7 – 11) – und nur auf die Weise zu erreichen, daß man von der
Wahrnehmung, welche die zuflligen Eigenschaften zum Gegenstand hat,
ausgeht und sich schrittweise zu den Ursachen und Prinzipien vorarbeitet.54
Diesen Weg des Wissenserwerbs beschreibt Aristoteles an vielen Stellen als
das Voranschreiten oder den bergang vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an
sich Bekannteren‘55, wobei hier nicht vergessen werden darf, daß ontologisch
gesehen das ,fr uns Bekanntere‘ gleichzeitig das ,an sich‘ oder ,der Natur
nach Unklarere‘ oder ,weniger Bekannte‘ ist.56 Wenn Aristoteles also davon
spricht, daß fr das epistasthai hapls die Prinzipien der Beweise in einem
hçheren Grad bekannt sein mssen als die Schlußstze, kçnnen wir das so
verstehen, daß wir hierfr schon das ontologisch Primre erkannt haben
mssen und eine ,ousiale Perspektive‘ einnehmen kçnnen, in der wir die
Prinzipien als ,an sich bekannter‘ und als ,an sich berzeugender‘ ansehen,
weil nurdurch sie alles andere hinreichend begrndet werden kann. Dagegen
sind in der gegenlufigen, ,symbebekotischen Perspektive‘ die Prinzipien im
Unterschied zu singulren, beobachtbaren Tatsachen oder bloßen Sym-
ptomen ,weniger bekannt‘ oder ,weniger klar‘. Genau dieser Unterschied
kommt in Aristoteles’ Lehre vom ,Beweis des Warum‘ und vom ,Beweis des
Daß‘ in An. Post. I 13 zum Ausdruck, aus der sich zwei Formen der epistÞmÞ,
das t¹ fti 1p¸stashai und das t¹ diºti 1p¸stashai, ergeben. Whrend im
,Beweis des Warum‘ der Mittelbegriff auf eine ,an sich bekanntere‘ Ursache

53 1pist¶lg te c±q 2j²stou 5stim ftam t¹ t¸ Gm 1je¸m\ eWmai cm_lem


54 Eine treffende Beschreibung gibt Gerson 2005, 140: „The governing idea of
Aristotle’s account of embodied human cognition deserves to be acknowledged as
one of the most elegant ideas in the history of philosophy. Roughly, the idea is that
cognition is the mirror image of reality. Or, to change the metaphor, the stages of
cognition unpack the packaged real world in reverse order.“
55 Vgl. Phys. I 1, 184a16 – 23; Met. VII 3, 1029b3 – 12; An. Post. I 2, 71b33 – 72a5;
De an. II 2, 413a11 f.; EN I 4, 1095b2 ff.; Top. VI 4, 141b5 – 19. Wir werden auf
diesen Grundsatz in Kap. 5.3 noch genauer eingehen.
56 Vgl. Phys. I 1, 184a19 f.; De an. II 2, 413a11. Der ontologisch niedere Rang des ,fr
uns Bekannteren’ kommt besonders in Met. VII 3 zum Ausdruck, wo Aristoteles
sagt, daß das fr jeden Einzelnen Bekannte und Erste oft nur „schwach (an sich)
erkennbar ist (Aq´la 1st· cm¾qila) und wenig oder nichts vom Seienden besitzt (ja·
lijq¹m C oqh³m 5wei toO emtor)“ (1029b9 f.).
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 31

verweist57, ein bestimmtes Phnomen also aus einem allgemein-urschli-


chen Zusammenhang bewiesen wird und dafr dieser Zusammenhang selbst
verstanden sein muß58, wird im ,Beweis des Daß‘, wo der Mittelbegriff auf
eine ,fr uns bekanntere‘ Wirkung verweist, aus einer Wirkung auf die
Ursache zurckgeschlossen.59 Die Ursache selbst wird bloß in ihrer Existenz,
in ihrem ,Daß‘, aufgewiesen, nicht aber in ihrer Verflechtung mit dem
Verursachten verstanden, so daß man auch nicht weiß, wie genau ein Ph-
nomen in dieser Ursache fundiert ist und was sich sonst noch aus dieser
Ursache ergibt.
Wenn nun fr die epistÞmÞ die Prinzipien ,an sich bekannter‘ sein
mssen, also in der ,ousialen Perspektive‘ gewußt werden mssen, und
Wissen ausschließlich demonstratives, d. h. durch Beweis hervorgebrachtes,
Wissen wre, dann wrde das einen infiniten Begrndungsregreß zur Folge
haben, wodurch demonstratives Wissen unmçglich wird. Diese Konsequenz
scheint sich nur dadurch vermeiden zu lassen, daß man eine zirkulre Be-
grndungsstruktur zulßt (An. Post. I 3, 72b5 ff.). Diese beiden von Ari-
stoteles angefhrten Positionen60 basieren auf der Annahme, daß es nur eine
Art von Wissen gibt, nmlich demonstratives (72b8, b13, b16). Sie geben
Aristoteles die Gelegenheit, auf zwei Annahmen aufmerksam zu machen, die
fr die Konsistenz seiner Konzeption von epistÞmÞ unverzichtbar sind. (i) Aus
dem infiniten Regreß ergibt sich folgende Konsequenz61: Das Unendliche,

57 In An. Post. II 16, 98b19 f. spricht Aristoteles auch vom ,Beweis aus der Ursache’.
Auch fr die Begriffsbestimmung gilt, daß wir das ,an sich Sptere’durch das ,an sich
Frhere’ oder ,an sich Bekanntere’ definieren sollten (Top. VI 4).
58 Hat man das Wesen einer Sache erkannt, kann diese Einsicht in einer ,essentiellen
Prdikation’ expliziert werden.
59 Aristoteles’ Beispiel in An. Post. I 13, 78a31 – 36 ist: Die Planeten flimmern nicht;
was nicht flimmert, ist nahe; also mssen die Planeten nahe sein. In einem solchen
,Beweis des Daß’ steht im Obersatz ein ,fr uns bekannteres’ Phnomen, im Un-
tersatz ein durch Induktion aufgefundener Zusammenhang (die beiden Prmissen
werden hier umgestellt). In der Konklusion steht die ,an sich bekanntere’ Ursache,
auf die zurckgeschlossen wurde.
60 Wer diese beiden Positionen vertreten hat, ist umstritten. Hierzu Detel 1993 II, 86 –
98.
61 Es muß betont werden, daß es sich hier nicht wie spter im ,Agrippa-Trilemma’ um
ein skeptisches Argument gegen die Mçglichkeit von Wissen berhaupt handelt, was
dann eine grundstzliche Reflexion ber die Mçglichkeit von Wissensansprchen
endlicher Vernunftwesen zur Folge htte (vgl. etwa Kern 2006, 58). Vielmehr sieht
Aristoteles hier nur die Mçglichkeit einer bestimmten Art von Wissen gefhrdet,
nmlich das demonstrative Wissen (72b5 f.: oq doje? 1pist¶lg eWmai). Er sieht sich
dadurch nicht veranlaßt, den Wissensbegriff als solchen nher zu untersuchen,
32 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

d. h. eine unendliche Reihe von Begrndungen, kann nicht durchgegangen


werden (72b10 f.) und wenn man doch in der Beweiskette irgendwo ste-
henbleibt, htte das zur Folge, daß diese ,Prinzipien‘ unerkennbar wren
(!cm¾stour : b12), da diese ja nicht aus anderem bewiesen werden kçnnten.
Wenn aber die Prinzipien nicht gewußt werden, dann kann auch das aus
ihnen Gefolgerte nicht ,schlechthin‘ oder ,eigentlich‘ gewußt werden, da es
dann von bloßen Hypothesen (1n rpoh´seyr) abhngen wrde (72b11 –
15). Demonstratives Wissen wre somit unmçglich. Um diese Konsequenz
zu vermeiden, muß Aristoteles neben dem Wissen aus Beweis noch eine
andere Art des Wissens annehmen, das sich auf die Prinzipien bezieht und
das nicht-demonstrativ ist: „Wir aber behaupten, daß nicht jedes Wissen
demonstrierbar, sondern das der unvermittelten Dinge undemonstrierbar
(!mapºdeijtom) ist“ (72b18 ff.; bers. Detel).62 (ii) Gegen das Beweisen im
Zirkel fhrt Aristoteles an, daß ein Beweis stets von Prinzipien ausgeht, die
gegenber dem Begrndeten ,an sich frher‘ und ,an sich bekannter‘ sind,
also auf allgemeine und notwendige Tatsachen verweisen. Daher ist es un-
mçglich, daß dasselbe denselben Dingen gegenber zugleich und in der-
selben Hinsicht vorrangig und nachrangig ist (72b25 – 30), was der Fall wre,
wenn man zirkulres Beweisen zuließe. Aristoteles geht von einer asymme-
trischen Begrndungsstruktur aus, die in einer ontologischen Rangordnung
fundiert ist. Aristoteles’ Konzeption demonstrativen Wissens impliziert also
zwei Annahmen:
(1) Auch die Prinzipien mssen in ihrer internen Struktur gewußt werden
und drfen nicht bloß hypothetisch angesetzt werden (vgl. I 3, 72b21; II
19, 99b20 ff.). Die Prinzipien mssen sogar in einem hçheren Grad als
das Bewiesene gewußt werden (I 2, 72a28 – 37). Nur dadurch ist es
mçglich, etwas schlechthin, nmlich aus Prinzipien, zu wissen.63

sondern begegnet dieser Schwierigkeit einfach durch die Einfhrung einer anderen
Art des Wissens, nmlich eines nicht-demonstrativen (72b18 ff.).
62 Vgl. auch schon die Bemerkung in I 2, 71b16 f., wo Aristoteles von einem 6teqor toO
1p¸stashai tqºpor spricht. Kosman (1973, 382) weist hier mit Recht darauf hin, daß
man darunter entweder eine andere Weise des 1p¸stashai oder eine andere Weise als
das 1p¸stashai verstehen kann (zu dieser Schwierigkeit vgl. auch II 19, 99b23 ff.).
Wirft man einen Blick auf die Zweiten Analytiken insgesamt, dann zeigt sich, daß es
sich bei dem nicht-demonstrativen Wissen der Prinzipien um eine andere Gattung als
die epistÞmÞ handelt, um den nous (II 19, 100b5 – 17; er ist das ,Prinzip des de-
monstrativen Wissen’), und es innerhalb der epistÞmÞ verschiedene Abstufungen gibt
(etwa I 13; EN VI 3, 1139b34 f.).
63 Es handelt sich hier um eine komplexe Kenntnis der Prinzipien, die beinhaltet, wie
die Prinzipien mit dem Prinzipiierten kausal verflochten sind, und die Kosman
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 33

(2) Diese besondere Art des Wissens darf nicht durch einen Beweis zustande
kommen, um den Regreß zu vermeiden (I 2, 72b18 – 25). Dieses
Wissen stellt eine andere Gattung als die epistÞmÞ dar und ist ihr Prinzip
(72b24; I 33, 88b36; II 19, 100b15).64
Auf diese besondere Art des Wissens kommt Aristoteles in An. Post. II 19
zurck. Hier mçchte er klren, „wie wir mit den Prinzipien bekannt werden
(c¸momtai cm¾qiloi) und welches die kognitive Haltung (cmyq¸fousa 6nir)
ist“, in der wir uns befinden, wenn wir dieses Wissen besitzen (99b18). Die
erste Frage nach der Weise des Erwerbs der Prinzipienkenntnis beantwortet
er so, daß wir diese nicht schon immer unbewußt besitzen und auch nicht ex
nihilo erwerben kçnnen, sondern sie auf der Grundlage des diskriminato-
rischen Vermçgens der Wahrnehmung gewinnen. Am Ende des hier be-
schriebenen kognitiven Vorgangs65, der von der Wahrnehmung ber das
Gedchtnis und die Erfahrung bis zum „Prinzip der Kunst und des Wissens“
verluft, sagt er, daß uns die Prinzipien notwendig durch Induktion bekannt
werden (100b466). Die zweite Frage wird so beantwortet, daß fr die ko-
gnitive Haltung oder Verfassung, in der wir uns befinden, wenn wir die
Prinzipien erkannt haben, keine ,andere Gattung‘ neben der epistÞmÞ als
allein der nous zustndig sein kann. Nur dieser ist unter den kognitiven
Haltungen genauer67 und wahrer68 als die epistÞmÞ und kommt daher als

(1973, 384) durch folgende Analogie treffend zum Ausdruck bringt: „We under-
stand the principles, that is, have a grasp of them which stands in the same relation to
simply knowing them to be true as scientifically understanding a phenomenon
stands to simply knowing it to be the case.“
64 Das kommt terminologisch dadurch zum Ausdruck, daß Aristoteles, wenn er von
diesem nicht-demonstrativen Wissen der Prinzipien spricht, in der Regel die Verben
gnrizein oder ginskein verwendet: Wir wissen eine Tatsache, wenn wir ihre Ursache
kennen (vgl. An. Post. I 2, 71b9 ff.; II 19, 99b20 ff.; Met. I 3, 983a25 f.). Dadurch
wird eine Zirkularitt vermieden (vgl. Barnes 1975, 97). Der Begriff der Kenntnis im
Sinne des gnrizein/gnsis ist der weitere Begriff.
65 Ich verwende vorlufig den Ausdruck ,Vorgang’ und nicht ,Verfahren’, weil Ari-
stoteles in II 19 so etwas wie eine genetische Erklrung des Erwerbs der Prinzipi-
enkenntnis anzudeuten scheint, also uns darber informiert, was passiert, wenn wir
dabei sind, die Prinzipienkenntnis zu erwerben und weniger uns darber informiert,
was wir tun sollen, um eine solche Kenntnis zu erwerben. Das zeigt sich besonders an
der hufigen Verwendung von (1c)c¸cmeshai und der Bemerkung, daß die Seele von
solcher Beschaffenheit sei, daß sie einen solchen Prozeß erleiden kann (100a13 f.).
Was fr eine Art von Vorgang hier beschrieben wird und was dieser zum Inhalt hat,
werden wir in Kap. 5 untersuchen.
66 d/kom dμ fti Bl?m t± pq_ta 1pacyc0 cmyq¸feim !macja?om
67 ,Genauer’ kann hier mit Met. I 1, 982a25 f. so verstanden werden, daß sich dieses
Wissen im hçchsten Maß auf die Prinzipien bezieht.
34 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

einziger dafr in Frage. Damit scheint das Kapitel II 19 das in Kapitel I 3 fr
die Konsistenz des demonstrativen Wissens geforderte nicht-demonstrative
Wissen der Prinzipien erlutert zu haben.
Das Problem ist nun, daß es eine offensichtliche Spannung gibt zwischen
den Anforderungen an dieses besondere Wissen der Prinzipien und Aristo-
teles’ Aussagen darber, wie wir in diese kognitive Haltung, den nous, ge-
langen: Hier finden wir in An. Post. II 19 (mit Met. I 1) nur eine grobe Skizze,
die so etwas wie eine sukzessive Entstehung verschiedener Arten von
Kenntnis (gnsis), beginnend bei der Wahrnehmung bis hin zum nous, be-
schreibt und der Aristoteles den Namen ,Induktion‘ gibt (epaggÞ: 100b4).69
Aristoteles geht davon aus, daß es nicht-demonstrative Wege oder Verfah-
rensweisen (methodoi) fr die Erkenntnis der Prinzipien gibt, die auf je
verschiedene Weise von Wahrnehmung, Gewçhnung (EN I 7, 1098b4;
Met. VI 1, 1025b11 – 16), dem Verdeutlichen eines allgemeinen Ge-
sichtspunkts an einzelnen Fllen (An. Post. I 1, 71a8 f.)70 oder der Dialektik
(Top. I 2, 101a36-b4)71 Gebrauch machen. Alle diese methodischen An-
satzpunkte sind nun aber nicht hinreichend, um in die von Aristoteles als
nous bezeichnete Haltung zu kommen, in der wir die Prinzipien in einem
hçheren Grad kennen und von ihnen in einem hçheren Grad berzeugt sind:
Die Dialektik im Sinne einer berprfung der Prinzipienkandidaten auf
ihre Konsistenz spielt nur eine vorbereitende Rolle.72 Und auch wenn man

68 Vgl. Met. II 1, 993b27 ff.


69 Dieser Terminus ist bei Aristoteles in einem weiten Sinn zu verstehen; er bezieht sich
auf eine ganze Familie von Vorgehensweisen, denen gemeinsam ist, ,vom Einzelnen
zum Allgemeinen’ aufzusteigen (Top. I 12). Vgl. Ross 1949, 48; Kosman 1973, 386;
Barnes 1975, 256.
70 Dieses ,Aufzeigen des Allgemeinen durch das Klarsein des Einzelnen’, d. h. die
Verdeutlichung eines allgemeinen Gesichtspunktes an einem einzelnen Sachverhalt
(vgl. Wieland 1992, 95 – 100; Detel 1993 I, 259 – 262) kann als eine Form von
,Induktion’ angesehen werden (vgl. Met. VI 1, 1025b11 – 16). Eine andere, am-
bitioniertere Form von Induktion liegt dem ,Beweis des Daß’ zugrunde (An. Post. I
13, 78a33 ff.).
71 „Ferner ist sie aber fr die ersten (Stze) einer jeden Wissenschaft ntzlich: Denn es
ist unmçglich, ausgehend von den eigentmlichen Prinzipien einer vorliegenden
Wissenschaft irgend etwas ber diese (Prinzipien) zu sagen, da die Prinzipien ge-
genber allen (anderen Stzen) vorrangig sind; es ist dagegen notwendig, sie mit
Hilfe der ber sie bestehenden anerkannten Meinungen durchzugehen. Dies aber ist
das Eigentmliche oder im hçchsten Maße Eigene der Dialektik: Da sie ein Pr-
fungsverfahren ist, erçffnet sie einen Weg zu den Prinzipien von allen Disziplinen“
(bers. Rapp/Wagner). Zu den verschiedenen Interpretationsmçglichkeiten vgl.
Rapp/Wagner 2004, 274.
72 Vgl. Horn/Rapp 2005, 42 ff.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 35

die Induktion in einem anspruchsvolleren Sinn interpretiert (vgl. An. Post. I


13, 78a33 ff.), liefert sie immer nur eine ,komparative Allgemeinheit‘, die
sich auf eine begrenzte Anzahl beobachteter Einzelflle sttzt, und nicht das
fr die epistÞmÞ geforderte katholou im strengen Sinn (An. Post. I 4, 73b26 f.;
I 31, 87b32).
Diese begrenzte Reichweite des von Aristoteles angedeuteten aisthe-
tisch-induktiven Verfahrens hat nun Interpreten immer wieder dazu be-
wogen, den nous nicht nur als angezielte kognitive Haltung zu verstehen,
sondern zu einem Teil des Wegs zu den Prinzipien selbst zu machen: Als ein
spezifisch auf die Prinzipien ausgerichtetes, intuitives Erkenntnisvermçgen
wrde der nous auf der Grundlage des vorausgegangenen induktiven Ver-
fahrens eine besondere Form von infallibler Erkenntnis hervorbringen,
welche die von Aristoteles aufgestellten Anforderungen erfllt und damit die
problematische epistemische Lcke schließt. Aristoteles wrde demnach
eine Art Verbindung zwischen Empirismus und Rationalismus vertreten,
insofern fr das Erkennen der Prinzipien sowohl Induktion als auch noe-
tische Intuition als sich ergnzende kognitive Ttigkeiten beteiligt wren.73
Hier liegt es nahe, auf einige Passagen aus De an. III 4 – 8 und Met. IX 10
zurckzugreifen und diese in einem streng epistemologischen Sinn zu ver-
stehen: Der nous wre demnach nicht bloß das Vermçgen des Denkens (im
weiten Sinn von De an. III 4, 429a2374), das auf die intelligiblen Gegen-
stnde (noÞta) bzw. die erworbenen gedanklichen Inhalte (noÞmata) im
allgemeinen bezogen ist (429a17 f.75), mit diesen operiert und durch Ver-
binden oder Trennen wahre oder falsche Urteile bildet (III 6, 430a26-b6).
Vielmehr wrde der nous in einem engen Sinn (vgl. De an. III 4, 430b27 f.: b
d³ moOr oq p÷r) auf eine besondere Klasse von intelligiblen Gegenstnden
bezogen sein, nmlich auf das wesentliche Sein von Gegenstnden oder ihre
substantielle Form, die von ihm in einem besonderen, intuitiven Akt in-
fallibel erfaßt wird. So wie es innerhalb der wahrnehmbaren Gegenstnde die

73 Vgl. Ross 1949, 86: „Sense-perception supplies the particular information without
which general principles could never be reached; but it does not explain our reaching
them; for that a distinct capacity possessed by man alone among the animals is
needed, the power of intuitive induction which sees the general principle of which
the particular fact is but one exemplification. Aristotle is thus neither an empiricist
nor a rationalist, but recognizes that sense and intellect are mutually complemen-
tary.“ Vgl. Lee 1935, 122: „final act of insight whereby after the experience of
particular instances […] we finally see the general principles involved“. Fr einen
genaueren berblick vgl. Horn/Rapp 2005, 30 – 35.
74 k´cy d³ moOm è diamoe?tai ja· rpokalb²mei B xuw¶.
75 ¦speq t¹ aQshgtij¹m pq¹r t± aQshgt², ovty t¹m moOm pq¹r t± mogt²
36 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

,eigentmlichen Gegenstnde‘ (idia aisthÞta) gibt, auf die das Wesen des
jeweiligen Sinnes von Natur aus ausgerichtet und ber die kein Irrtum
mçglich ist (De an. II 6), so gibt es dann auch innerhalb der denkbaren
Gegenstnde eine Klasse infallibel erfaßbarer einfacher Wesenheiten (III 6,
430b27 – 30).76 Diese intuitive Einsicht in das Wesen einer Sache kann dann
in einem zweiten Schritt in Form einer essentiellen Prdikation entfaltet
werden und als unvermittelte und erklrungskrftige Prmisse das Prinzip
eines Beweises bilden; innerhalb der Aristotelischen Epistemologie wre
somit die Intuitivitt der Diskursivitt vorgeordnet.77 Mit der Annahme
dieses intuitiven Erkenntnisvermçgens, das den bei der Wahrnehmung
ansetzenden induktiven Weg abschließt, kann ein Hçchstmaß an Sicherheit
und Gewißheit garantiert werden. Wenn man dagegen eine solche intui-
tionistische Interpretation des nous ablehnt, d. h. die Aussagen ber den nous
in II 19 bloß als Antwort auf die zweite Frage nach der kognitiven Haltung
(99b18) versteht78, und nach wie vor Aristoteles’ beide Annahmen beherzigt,
daß die Prinzipien in einem starken Sinn gewußt werden mssen und dieses
Wissen auf eine nicht-demonstrative Weise zustande kommen muß, muß
man den aisthetisch-induktiven Prozeß aufwerten; er allein muß dann ir-
gendwie zur Kenntnis der Prinzipien fhren.79 Der Wahrnehmung als
Ausgangspunkt kme dann eine entscheidende epistemologische Bedeutung
zu, etwa im Sinne des ,Urteilsempirismus‘ als eine rechtfertigende Basis, die
alle anderen Meinungen sttzt: Der Anspruch, die Prinzipien einer Sache
erfaßt zu haben, also im Zustand des nous zu sein, wre dann durch Rckgang
auf eine bestimmte Klasse von ,gegebenen‘ Wahrnehmungseindrcken le-
gitimiert.
Die beiden skizzierten Interpretationsrichtungen verbinden sich mit
einer bestimmten These ber die Struktur der Rechtfertigung oder Be-
grndung von Wissensansprchen; sie implizieren in je unterschiedlicher

76 Vgl. Oehler 1985, 182 – 186.


77 Vgl. Oehler 1985, 161, 251. Es liegt dann nahe, die Forschung mit dieser intuitiven
Einsicht in die Prinzipien beginnen zu lassen, aus der dann alle anderen Tatsachen
,top down’ bewiesen werden kçnnen. Zu dieser ,AFE-Auslegung’ vgl. Detel 1993 I,
263 – 279.
78 Vgl. Barnes 1975, 257. Auf dieser Linie sind auch jene Interpretationen anzusiedeln,
fr die der moOr das Vermçgen bezeichnet, das Allgemeine in einzelnen Fllen zu
erfassen und innerhalb der Induktion aktiv zu sein (Lesher 1973, 52, 58).
79 Vgl. Barnes 1975, 259: „the answer Aristotle gives to the first question is whole-
heartedly empiricist“.
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 37

Weise einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. Dieser lßt sich


durch zwei Annahmen charakterisieren80 :
(1) Es gibt zwei Klassen von berzeugungen: berzeugungen, die durch
andere gerechtfertigt werden, und berzeugungen, die sich selbst
rechtfertigen, also ,selbst-evident‘ sind.
(2) Letztere bilden das Fundament fr alle anderen berzeugungen.
Diejenige Interpretationsrichtung, die den nous als ein spezifisch auf die
Prinzipien ausgerichtetes, intuitionistisches Vermçgen in den Erkenntnis-
weg miteinbezieht, ist insofern als fundamentalistisch im epistemologischen
Sinn zu bezeichnen, als die Wahrheit dieses Aktes, nmlich die Prinzipien
erfaßt zu haben, durch den noetischen Akt selbst garantiert wird. In Analogie
zum Modell visueller Wahrnehmung wird dieser noetische Akt als eine
zweistellige Relation zwischen dem Vermçgen und bestimmten Gegen-
stnden verstanden und ein besonderes Evidenzerlebnis angenommen: Im
intuitiven Akt ,sehen‘ wir die Prinzipien in derselben Weise, wie sich in der
Wahrnehmung die (eigentmlichen) Gegenstnde einfach aufdrngen.81
Dadurch wird es berflssig, nach einer weiteren Begrndung oder
Rechtfertigung zu fragen, da uns bestimmte Dinge die Wahrheit der Auf-
fassungen ber sie aufnçtigen82 ; der drohende Begrndungsregreß wird
durch selbst-evidente Prinzipien gestoppt. Diese intuitionistische Inter-
pretation scheint sich aus folgendem Grund nahezulegen: Wenn fr
Aristoteles die Unabhngigkeit der Wirklichkeit von den Meinungen und
Wissensansprchen ber sie gilt83 – wir also in unseren Urteilen (und
Wissensansprchen) die Objektivitt bestimmter Sachverhalte unterstellen
– und daraus die prinzipielle Irrtumsanflligkeit unserer Urteile folgt84, nun
aber Aristoteles gerade betont, daß der Gegenstand des Wissens im Sinne der
epistÞmÞ von der Wahrnehmung ,am weitesten entfernt‘ (poqqyt²ty l²ki-
sta) und am schwierigsten zu erkennen ist (An. Post. I 2, 72a3 f.; Met. I 2,

80 Vgl. Dancy 1985, 53 ff.


81 In Entsprechung zum nous im engen Sinn (De an. III 4, 430b27 f.) und zum on-
tologisch Einfachen im engen Sinn, den reinen Formen (Met. IX 10, 1051b26 f.),
kann hier von einem nicht-propositionalen oder prlogischen Wahrheitsbegriff
gesprochen werden. Hier ist keine Tuschung mçglich, sondern lediglich ein ,Be-
rhren’ oder vollstndiges Verfehlen des Gegenstands. Hierzu Oehler 1985, Teil II,
4.Abschnitt; Tugendhat 1992.
82 Vgl. Rorty 1981, 176 ff.
83 Vgl. Met. IX 10, 1051b6 – 9: „Nicht darum nmlich, weil unsere Meinung, du seiest
weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die
Wahrheit, indem wir dies behaupten“ (bers. Bonitz).
84 Vgl. Koch 2006b, 51 – 58.
38 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

982a24 f.)85, wobei er die Fallibilitt des Menschen mit Nachdruck unter-
streicht (De an. III 3, 427a29-b286 ; An. Post. I 9, 76a26 ff.87), so kçnnte das
die skeptische Frage evozieren, wie wir jemals sicher sein kçnnen, daß unser
fallibles Denken die objektive Wirklichkeit erfaßt hat. Es scheint kein
Kriterium zu geben, um die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils, die sich
auf diese subjektunabhngige Wirklichkeit bezieht, endgltig festzustellen.
Aufgrund der hervorgehobenen epistemischen Ferne einerseits und der
menschlichen Fallibilitt andererseits scheint die Wahrheit im Sinne des
metaphysischen Realismus „radikal nicht-kognitiv“88 zu sein. Genau diese
skeptische Konsequenz kçnnte die intuitionistische Interpretation ver-
meiden: Die Wahrnehmung, die die idia aisthÞta zum Gegenstand hat, und
der nous als ein besonderes Vermçgen, das auf das wesentliche Sein der
Gegenstnde bezogen ist, wrden dann jeweils die beiden ,a-logischen
Grenzflchen‘89 oder Quellen des diskursiven Denkens (dianoia) bilden,
indem sie dieses mit aisthetischen bzw. noetischen Elementar-Gehalten
versorgen und somit den ,Kontakt‘ zur objektiven Wirklichkeit garantieren.
Auch die empiristische Interpretationsrichtung, die fr das Erkennen
der Prinzipien allein ein aisthetisch-induktives Verfahren ansetzt, enthlt
eine fundamentalistische Annahme: Fr den Anspruch, die Prinzipien er-
kannt zu haben, beruft man sich im Sinne einer Legitimation auf ein in-
duktives Verfahren, das auf bestimmten Wahrnehmungsmeinungen basiert,
die ihrerseits durch unmittelbar gegebene Sinneseindrcke begrndet
werden. Letztere sind als extern verursachte Eindrcke selbst nicht mehr
rechtfertigungsbedrftig; als unmittelbar Gegebenes ist die Wahrnehmung
somit der Rechtfertigungssttzpunkt all unserer Meinungen ber die Welt.90
Neben dem aus sachlichen Grnden zu kritisierenden ,Mythos des Gege-

85 Es handelt sich ja hier um die ontologisch grundlegendsten Dinge (vgl. Met. VII 6,
1031b6 f.; VII 15, 1039b31 ff.).
86 „Und doch htten sie zugleich auch ber den Irrtum sprechen mssen, denn er ist den
Lebewesen eigentmlicher und die Seele verbringt mehr Zeit in diesem Zustand“.
87 „Es ist freilich schwer, Kenntnis darber zu gewinnen, ob man weiß oder nicht.
Schwer nmlich ist es, Kenntnis darber zu gewinnen, ob wir aufgrund der Prin-
zipien einer jeden Sache wissen oder nicht – was das Wissen wirklich ist“ (bers.
Detel). Das ist eine Schlsselstelle fr Detels fallibilistische Interpretation der
Zweiten Analytiken.
88 Koch 2006b, 55.
89 Vgl. Welsch 1987, 42 – 45.
90 Treffend wird das von McDowell (1994, 6) beschrieben: „The putatively reassuring
idea is that empirical justifications have an ultimate foundation in impingements on
the conceptual realm from outside. So the space of reasons is made out to be more
extensive than the space of concepts.“
1.2 Aristoteles’ Begriff der epistÞmÞ 39

benen‘ (Sellars) wird hier die Induktion als ein Schlußverfahren bzw. ein
Verfahren der Rechtfertigung verstanden, was an Aristoteles’ Verstndnis
von epaggÞ vorbeigeht.91 Außerdem kann gegen diese Interpretation an-
gefhrt werden, daß die einzige Art von Wahrnehmungsgegenstnden, bei
denen unter Standardbedingungen eine Tuschung ausgeschlossen ist, die
,eigentmlichen Gegenstnde‘ (idia aisthÞta) sind (De an. II 6, 418a12; III 3,
427b12; 428b19). Diese Inhalte sind aber offensichtlich kognitiv zu
,schmal‘92, als daß auf ihrer Grundlage alle unsere Meinungen ber die Welt
gerechtfertigt werden kçnnten.
Grundstzlich kann gegen solche Interpretationen, in denen das Re-
kurrieren auf eine noetische Intuition oder ein aisthetisch-induktives Ver-
fahren im Sinne einer Rechtfertigungsbasis durch ein ,Problem der Ge-
wißheit‘ motiviert ist, Aristoteles’ ,epistemischer Optimismus‘ angefhrt
werden93 : Seine grundstzlichen Aussagen zur Erreichbarkeit der Wahr-
heit94, sein teleologisch begrndetes Vertrauen in die Zuverlssigkeit unserer
kognitiven Vermçgen95, in die endoxa und in die Autoritten des theoreti-
schen und praktischen Wissens lassen so etwas wie das ,Problem des Wissens‘
– also die Frage, wie es mçglich ist, daß endliche, fallible Wesen dennoch
Wissen besitzen kçnnen96 – gar nicht erst aufkommen. Strkstes Indiz fr die
Realisierbarkeit des Wissensideals ist Aristoteles’ Lehre von den
dianoetischen Tugenden, die er als wahrheitsgarantierend ansieht: Aristo-
teles sieht es als mçglich an, daß sich das Denkvermçgen, dessen Werk die
(theoretische bzw. praktische) Wahrheit ist (EN VI 2, 1139b12), in eine
solche Disposition oder Verfassung bringen lßt, durch die man die
Wahrheit erfaßt (alÞtheuein) und Irrtum ausgeschlossen ist (VI 6, 1141a3 f.).

91 Wie schon oben bemerkt, fallen unter diesen Begriff eine Vielfalt von Vorgehens-
weisen, denen gemeinsam ist, ,vom Einzelnen zum Allgemeinen’ aufzusteigen (Top.
I 12). Warum es fr Aristoteles verfehlt ist, die ,Induktion’ berhaupt mit der Frage
nach der Rechtfertigung von Wissensansprchen in Verbindung zu bringen, werden wir
in Kap. 5 noch genauer sehen.
92 Vgl. Taylor 1990, 142; Vasiliou 1996, 117.
93 Vgl. die treffende Formulierung von Hçffe 2006, 103: „Getragen ist das ganze
Vorgehen von einer Zuversicht in die Erkennbarkeit der Welt und zugleich einer
Skepsis gegen den ersten Anschein.“
94 Vgl. Met. II 1; Rhet. I 1, 1355a14 – 17; EE I 6, 1216b30 f.; Protr. B 32 – 37.
95 Fr die Wahrnehmung vgl. De an. II 6, 418a24 f.; De an. III 12 – 13; fr die na-
trliche Beziehung zwischen verschiedenen Gattungen von Seiendem und ihren
kognitiven Vermçgen vgl. EN VI 2, 1139a8 – 11.
96 Vgl. Kern 2006, 9, 56.
40 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze


Gegen die beiden skizzierten Interpretationsrichtungen wurde in der Ver-
gangenheit immer wieder der grundstzliche Einwand vorgebracht, daß
Aristoteles das Interesse an so etwas wie Evidenz, Gewißheit und Recht-
fertigung und berhaupt die damit verbundene ,Idee eines Fundaments‘
fehle und seine Auffassung davon, was die Natur des Wissens ist, eine andere
sei als diejenige, die der Standardanalyse zugrundeliegt. Im Folgenden sollen
einflußreiche nicht-fundamentalistische Interpretationsanstze der Aristo-
telischen Epistemologie vorgestellt werden, die jeweils in unterschiedlicher
Weise diesem grundstzlichen Einwand Rechnung tragen:
(1) Nach Burnyeat darf die epistÞmÞ, wie sie in den Zweiten Analytiken
behandelt wird, nicht im Sinne des Wissensbegriffs der Standardanalyse –
also als gerechtfertigte, wahre Meinung – verstanden werden, als ob hier eine
Meinung durch einen Beweis, der von selbst-evidenten Prinzip ausgeht, zu
Wissen erhoben wird.97 Vielmehr ginge es bei der epistÞmÞ um eine besondere
Art des Wissens, nmlich um ein Expertenwissen, das sich auf das Allge-
meine und Notwendige bezieht; dieses besondere Wissen sei von einem eher
herkçmmlichen Wissen zu unterscheiden und setze dieses voraus.98 Die
Zweiten Analytiken drften also nicht so gelesen werden, als ob Aristoteles
hier den Wissensbegriffs als solchen analysiert. Dieses Expertenwissen werde
analog zur moralischen Gewçhnung durch zunehmende intellektuelle
Gewçhnung und Vertrautheit auf der Grundlage schon erworbener
Kenntnisse erreicht; die bestehenden Kenntnisse werden immer weiter
vertieft.99 Im kognitiven Zustand des nous zu sein, bedeute nichts anderes als
vollkommen mit den Prinzipien und dem Netz, in dem sie stehen, vertraut zu
sein.100 Mit dieser Interpretation wird Aristoteles’ Theorie des Wissenser-

97 Burnyeat 1981, 101, 132.


98 Burnyeat 1981, 100 ff.
99 Burnyeat 1981, 130: „If so, then the passage suggests that what is needed to complete
the process may not be more evidence […] but intellectual practice and familiarity.
There is such a thing as intellectual habituation as well as moral habituation, and in
Aristotle’s view both take us beyond mere knowing to types of contemplative and
practical activity which are possible only when something is so internalized as to have
become one’s second nature.“
100 Burnyeat 1981, 131 f.: „Faced with propositions which one has come to know
perfectly well on inductive grounds and which are convincing and, moreover,
knowable in themselves, all one needs to do is: become fully and completely familiar
and convinced. That conviction and understanding is moOr, the cmyq¸fousa 6nir
which grasps the things which are most knowable and familiar in themselves“.
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze 41

werbs jedoch in ihrem theoretischen Anspruch fr wenig ambitioniert er-


klrt und daher auch fr wenig explikationsfhig gehalten.101
(2) Burnyeats Kritik an einer fundamentalistischen Interpretation wird
von Nussbaum aufgegriffen und in Richtung eines ,internen Realismus‘
weiterentwickelt: Demnach bewege sich Aristoteles immer nur innerhalb
der endoxa 102, d. h. innerhalb der Sprache und ihrer begrifflichen Strukturen,
und lehne einen außersprachlichen Zugang zur Wirklichkeit ab, durch den
wir so etwas wie selbst-evidente Prinzipien erkennen kçnnten, welche dann
die Basis fr eine asymmetrische Rechtfertigungskette bilden wrden.103
Vielmehr bestehe das Ziel des Philosophen in nichts anderem, als die endoxa
einer Konsistenzprfung zu unterziehen und so viele wie mçglich von ihnen
zu bewahren. In der Prinzipienforschung gehe es lediglich darum, die endoxa
in die richtige Ordnung zu bringen, d. h. zwischen solchen, die ,tiefer‘ in
unserer epistemischen Praxis verwurzelt sind, und ,abgeleiteten‘ zu unter-
scheiden104 ; in der kognitiven Haltung des nous zu sein, bedeute nichts
anderes, als die grundlegende Rolle von bestimmten Meinungen, die wir
schon immer in unserer wissenschaftlichen Praxis in einer vor-reflexiven
Weise benutzen, einzusehen und darber Rechenschaft ablegen zu kçn-

101 Burnyeat 1981, 133: „His treatment of this process in B 19 and its companion, the
first chapter of the Metaphysics, is by our standards perfunctory in the extreme. It is
natural, therefore, but mistaken – a mistake encouraged by the translation of
1pist¶lg as ,knowledge’ – to try to get less perfunctory answers to our epistemo-
logical questions out of the body of the Posterior Analytics. That is bound to give a
distorted picture of what Aristotle is doing. Of course, epistemological matters are
raised here and there […] But they are not central. Aristotle’s thought is concentrated
on the t´kor, the achieved state of understanding which is the end and completion of
the epistemological process.“
102 Nussbaum spricht hier von den phainomena (im Sinne von EN VII 1, 1145b3) im
Sinne von „what we ordinarily say and believe“ (240) oder „our shared interpreta-
tions“ (243), also den weithin akzeptierten Meinungen oder endoxa (Top. I 1,
100b21 – 23). Im Unterschied zu Owen (1961) nimmt sie keine Ambiguitt dieses
Terminus (einerseits ,akzeptierte Meinungen’, andererseits ,Beobachtungen’) an,
sondern argumentiert fr eine radikal-sprachimmanente Auffassung unseres
Weltzugangs.
103 Nussbaum 1986, 243, 257: „Appearances and truth are not opposed, as Plato be-
lieved they were. We can have truth only inside the circle of the appearances, because
only there can we communicate, even refer, at all.“
104 Nussbaum 1986, 257: „Appearances come at different levels of depth: by which we
mean that the cost of doing without one will vary with the case, and must be in-
dividually scrutinized.“
42 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

nen.105 Hier werden keine neuen Bereiche der Wirklichkeit ,jenseits der
Meinungen oder der Sprache‘ entdeckt, sondern die endoxa werden in die
richtige Hierarchie gebracht, in welcher die besonders festen als ,Wissen‘
bezeichnet werden kçnnen. Bei aller systematischen Attraktivitt dieser
Interpretation stellt sich die Frage, ob Aristoteles hier nicht in einen ihm
vollkommen fremden Theorierahmen gestellt wird.
(3) Detel wendet sich gegen die intuitionistische Interpretation, nach
welcher der nous ein spezifisches Vermçgen des infalliblen Erfassens der
Prinzipien darstellt. Der in An. Post. II 19 beschriebene aisthetisch-in-
duktive Vorgang fhre nicht zu den Prinzipien im Sinne oberster wahrer und
erklrungskrftiger Prmissen, sondern nur zu allgemeinen, wahren und
unvermittelten Stzen.106 Erst in der konkreten Praxis des Beweisens, also des
immer weiter gehenden Verdichtens des Mittelterms auf das ,Unteilbare und
Eine‘ hin (I 23, 84b35 f.)107, ließen sich diese Prmissen durch ihre Erkl-
rungskraft als Prinzipien etablieren.108 In der Aristotelischen Forschungs-
praxis stehe somit nicht die infallible Einsicht in die Prinzipien am Anfang,
aus denen dann ,top down‘ alles andere abgeleitet wird. Vielmehr werde auf
der Basis der Induktion ein allgemeiner, unvermittelter Satz fixiert, der als
Prinzipien-Kandidat in die kreative Theorie-Konstruktion eingehe und sich
erst dort aufgrund seiner explanatorischen Fruchtbarkeit als Prinzip erweisen
kçnne. Grundstzlich geht Detel von einem Fallibilismus aus, d. h. wir
kçnnen nie endgltig sicher sein, ob wir wirklich die essentiellen Strukturen

105 Nussbaum 1986, 251: „To have nous, or insight, concerning first principles is to
come to see the fundamental role that principles we have been using all along play in
the structure of a science. What is needed is not to grasp the first principles – we grasp
them and use them already, inside our experience […] We move from the confused
mass of the appearances to a perspicuous ordering, from the grasp that goes with use
to the ability to give accounts.“ Vgl. Wieland 1992, 69 – 85.
106 Detel 1993 II, 829, 858, 886: „daß II 19 sich zwar mit dem Weg zu den Prinzipien
beschftigt, aber nur zu den Prinzipien als allgemeinen, wahren, unvermittelten
Stzen, nicht zu den Prinzipien als Prinzipien.“ Zu diesem wichtigen Unterschied
zwischen der Erkenntnis, daß die Prinzipien wahr sind (also eine bestimmte Ursache
existiert), und der Erkenntnis des Prinzips als Prinzip, also wie dieses Prinzip mit dem
von ihm Abhngigen kausal verflochten ist (vgl. An. Post. I 2, 71b11 [fti 1je¸mou
aQt¸a 1st¸], b23 [oQje?ai]), vgl. Kosman 1973, 383 f.
107 Vgl. auch Lesher 1973, 56 f.
108 Zu dieser Relationalitt der Prinzipien im Hinblick auf das Begrndete vgl. auch
Wieland 1992, 63: „da jedes Prinzip immer Prinzip von etwas ist, lßt sich ein
Prinzipsein nur daraus erkennen, daß es die von ihm verlangte Begrndung des
Prinzipiierten faktisch leistet.“ Vgl. auch Kosman 1973, 387.
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze 43

der Wirklichkeit erfaßt haben, wie wir es beanspruchen (I 9, 76a26 ff.)109 ;


skeptische Konsequenzen kçnnen allerdings durch Aristoteles’teleologische
Annahmen ausgeschlossen werden.110 Der Fallibilismus wir von Detel da-
hingehend abgemildert, daß sich mit der Zeit eine ,methodisch geregelte
epistemische Praxis’111 herausbildet, in der wir durch das Beachten logischer
und methodischer Regeln und das Entwickeln explanatorisch fruchtbarer
Theorien unsere Wissensansprche so gut wie mçglich begrnden kçnnen.
(Hierbei handelt es sich natrlich nicht um ,wahrheitsgarantierende
Grnde’.) Insofern sind nach Detel Fragen der Rechtfertigung nicht voll-
kommen abwesend.112 Die Anforderung, daß die Prinzipien in einem
starken Sinn gewußt werden mssen, um das epistasthai hapls zu garan-
tieren, wird von Detel relational interpretiert: „Der Grad unseres Wissens
von X hngt ab von der demonstrativen und explanatorischen Kapazitt von

109 Vgl. Detel 1993 II, 883: „Aber es ist von entscheidender Wichtigkeit, zu beachten,
daß diese Beschreibung der Einsicht damit vereinbar sein muß, daß dieser Sprung,
also die Annahme allgemeiner Strukturen und ihrer allgemeinen Beziehungen,
zuweilen nicht korrekt ist – oder daß zumindest offen bleibt, ob sie korrekt ist. Denn
sowohl die Annahme einfacher allgemeiner Strukturen als auch die Annahme all-
gemeiner Beziehungen zwischen ihnen ist fr Aristoteles stets fallibel.“ Ebd. 884:
„aber ob wir wirklich eine wahre Kenntnis von ewigen Gegenstnden besitzen,
kçnnen wir niemals mit Sicherheit wissen.“ Detel 1993 I, 301: „aber damit ist nicht
notwendigerweise etwas darber gesagt, daß oder wie wir wissen kçnnen, ob unser
Anspruch auf Einsicht oder Wissen auch berechtigt ist“.
110 Vgl. Detel 1993 II, 836: „Vielleicht ist es am angemessensten, mit Rcksicht auf An.
III 12-III 13 Aristoteles’ Position so zu beschreiben, daß die in II 19 aufgefhrten
Differenzierungen auf der Stufe der Erfahrung und der Einsicht nicht smtlich oder
berwiegend falsch sein kçnnen, daß wir aber bei keiner einzigen von ihnen die
methodologischen Mittel besitzen, um sie als endgltig wahr und erfolgreich zu
erweisen.“
111 Detel (2005, 33 f.) unterscheidet zwischen einer „Wissenskultur“ als einer „me-
thodisch geregelten epistemischen Praxis“ und einem „Wissensideal“: „Gerade auf
der Grundlage eines Konzepts perfekten Wissens und perfekter Wissenschaft
kçnnen wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen
stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wis-
sensansprche niemals endgltig auszuschließen gestattet. Unsere konkrete epis-
temische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken struk-
turiert, die dafr sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprche mçglichst gut
begrnden und eventuelle Fehler mçglichst schnell entdecken kçnnen. Wir kçnnen
den Bereich dieser methodisch geregelten epistemischen Praxis Wissenskultur nen-
nen.“
112 Vgl. Detel 2004, 3: „in general questions of justification are by no means completely
absent from the Analytics […] as immediate explanatory premises they must be
justified by showing that they sit at the top of actually constructed analyses and sets of
demonstrations making up a whole scientific theory.“
44 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

X im Rahmen bestimmter Theorien“.113 Detels fallibilistische Interpretation


rckt Aristoteles wieder sehr nahe an jenes Modell von Epistemologie heran,
in dem es um die Rechfertigung von Wissensansprchen und dann auch um
das Problem der Vereinbarkeit von Fallibilitt und Wissenszuschreibung114
geht: Die Erklrungskraft ist das Mittel, um Wissensansprche als solche zu
etablieren, aber letztendlich kann sich auch ein explanatorisch fruchtbares
und bewhrtes Prinzip als bloß vermittelt oder auch falsch herausstellen.
(4) Eine anders gelagerte nicht-fundamentalistische Interpretation legt
Michael Frede vor. Auch Frede wendet sich gegen die Auffassung, der nous sei
ein besonderes, intuitives Vermçgen der Prinzipienerkenntnis; vielmehr
handelt es sich nach Frede beim nous um eine mit der Zeit erworbene
Disposition, durch die wir, wenn wir diese besitzen, die richtigen Begriffe der
relevanten Eigenschaften der Dinge innehaben und dadurch die notwen-
digen Zusammenhnge zwischen diesen Eigenschaften durchschauen.115
Diese Disposition entwickelt sich nach Frede allein aus dem unterschei-
dungsfhigen Wahrnehmungsvermçgen und dem Gedchtnis und diesem
Erwerb liegt gerade nicht zustzlich noch der nous auf der Stufe der ,ersten
Potenz‘zugrunde. Wenn wir berhaupt von so etwas wie einem ,potentiellen
nous‘ sprechen wollen, dann immer nur in dem Sinn, daß damit nichts
anderes gemeint ist als die besonders kraftvolle Weise, wie sich beim
Menschen die Wahrnehmungs- und Gedchtnisleistungen vollziehen, auf
deren Grundlage sich normalerweise die richtigen Begriffe entwickeln.116
Bei diesem Prozeß, in dem der nous erworben wird, handelt es sich nach
Frede um einen grundlegend natrlichen Mechanismus, der ohne unser
Zutun abluft, nicht von bestimmten methodischen Erwgungen abhngig

113 Detel 1993 II, 83.


114 Hierzu Kern 2006.
115 Frede 1996, 168: „It is assumed that to be rational in itself already is to have the right
notions of things, of their crucial features, and thereby to be aware of the necessary
relations between these features and, thereby, the relations between the things
characterized by these features“.
116 Frede 1996, 170: „His view quite definitely is not that it takes the ability to perceive,
the ability to remember, and, in addition, potential reason. The view rather is that
reason develops out of our ability to discriminate perceptually and to remember […]
Hence it seems that, if we want to talk about potential reason at all, it is not an ability
which we have innately in addition to the specifically human forms of the abilities to
perceive and to remember; to be potentially rational seems to consist in nothing else
but the particular powerful way in which human beings can perceive and remember,
which, in the course of an ordinary development, gives rise to concepts and ulti-
mately to the right kind of concepts.“
1.3 Anti-fundamentalistische Interpretationsanstze 45

ist und auf dessen Zuverlssigkeit wir uns einfach verlassen mssen.117 Die
Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wissen sei daher eine rein natr-
lich-kausale und keine epistemisch-rechtfertigende118 : Auch wenn fr die-
sen natrlichen Prozeß eine Menge spezifischer Beobachtungen notwendig
seien, so gewnne das Prinzipien-Wissen seinen epistemischen Status nicht
dadurch, daß man sich auf diese Beobachtungen im Sinne einer Legitima-
tion beruft.119 Daher spricht Frede auch von einem ,Rationalismus‘. Der
Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, wird also nicht dadurch ge-
rechtfertigt, daß man ein bestimmtes aisthetisch-induktives Verfahren an-
fhrt; das Kapitel II 19 sagt uns nicht, was wir tun sollen, um die Disposition
des nous zu erwerben, sondern lediglich was passiert, wenn wir diese er-
werben.
(5) Gegen eine Interpretation, die Aristoteles einen ,Kontext der
Rechtfertigung‘ unterstellt, wird auch eingewandt, daß Aristoteles hin-
sichtlich der Natur des Wissens mit anderen Philosophen der Antike die
Auffassung teile, daß es sich bei Wissen im Sinne der epistÞmÞ nicht um eine
bestimmte Art von Meinung (doxa) handelt – nmlich um eine solche
Meinung, die bestimmte, in einer epistemischen Gemeinschaft festgelegte
Kriterien erfllt –, sondern um einen ,natrlichen Zustand‘ sui generis. 120 Im
klassischen Standardmodell unterscheidet sich derjenige, der ,weiß, daß p‘,
von demjenigen, der bloß ,meint, daß p‘, darin, daß der erste eine bestimmte
Rechtfertigungsbedingung erfllt, die ihn darin legitimiert, seine Meinung
als Wissen (oder zumindest als Wissensanspruch) zu deklarieren. Der
Wissende bleibt aber nach wie vor in dem Glaubens- oder Meinungszustand,
in dem er vorher war; zwischen Wissen und Meinung besteht ein bloß
begrifflicher Unterschied.121 Dagegen stellen nach Gerson epistÞmÞ und doxa
zwei kognitive Zustnde dar, die jeweils ein distinktes Wesen besitzen und
die sich auf jeweils verschiedene Bereiche der Wirklichkeit, das Notwendige

117 Frede 1996, 171.


118 Frede 1996, 172.
119 Frede 1996, 172.
120 Nach Gerson (2009) stellt diese Auffassung von der Natur des Wissens einen
Mittelweg zwischen einem ,kriteriologischen’ und einem ,naturalistischen’ Zugang
dar: „Knowledge is as real as a fever or a pregnancy, but it is not an object of scientific
investigation in the same way these are“ (1 f.); „knowledge is a natural state that is in
essence not reducible to the subject matter of empirical science“ (9).
121 Gerson 2009, 4: „we might properly conclude that the only real or objective thing is
the belief; the knowledge is just the belief considered in terms of these other factors.
There is, in short, only a conceptual difference between a belief and that same belief
considered as knowledge.“
46 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

bzw. das Kontingente, beziehen. Daraus folgt zum einen, daß es fr Aristo-
teles kein ,empirisches Wissen‘ im Sinne von empirischer epistÞmÞ geben
kann.122 Eine weitere Konsequenz aus dieser Auffassung ber die Natur des
Wissens ist, daß die Rechtfertigungsbedingung nicht konstitutiv fr Wissen
ist: Whrend im Standardmodell das Erfllen einer bestimmten Begrn-
dungs- oder Rechtfertigungsauflage berhaupt erst eine Meinung zu Wissen
erhebt, ist in dieser Konzeption die Rechtfertigungsfhigkeit lediglich eine
Konsequenz daraus, im Zustand der epistÞmÞ zu sein.123 Ganz allgemein
gesprochen, geht es Aristoteles nicht um die Legitimation von Wissensan-
sprchen und das Etablieren von Wissen gegenber bloßer Meinung, son-
dern eher darum, wie man aus den kognitiven Zustnden der Wahrnehmung
und der doxa in die Zustnde der epistÞmÞ und des nous gelangt.
Die skizzierten Interpretationsanstze teilen ein anti-fundamentalisti-
sches Anliegen: Die Prinzipien werden weder in einem intuitiv-infalliblen
und von der Wahrnehmung unabhngigen Akt geschaut, noch wird der
Anspruch, die Prinzipien erkannt zu haben, durch Berufung auf die
Wahrnehmung legitimiert. Aristoteles’ Epistemologie wird von dem Be-
drfnis nach einem ,Fundament des Wissens‘ freigesprochen. Diese syste-
matische Attraktivitt wird aber dadurch erkauft, daß – zumindest in (1) und
(4) – von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs nicht mehr viel brig
bleibt. Man kann sich darauf beschrnken, den Wissenserwerb als eine in-
tellektuelle Gewçhnung oder Vertiefung bereits vorhandener Kenntnisse
oder als einen bloß kausalen Prozeß zu beschreiben. Damit wird Aristoteles’
Theorie des Wissenserwerbs – und in diesem die Rolle der Wahrnehmung –
in ihrem theoretischen Anspruch stark reduziert und fr wenig explikati-
onsfhig gehalten; fr die gegenwrtige Epistemologie wre Aristoteles von
geringem Interesse.124 Ich halte die grundstzliche Kritik von Burnyeat und
Gerson an Interpretationen, die fr Aristoteles’ Theorie des Wissens den
Begriff der Rechtfertigung als zentral ansehen, fr zutreffend. Gegenber
Burnyeat mçchte ich aber folgendes zeigen: Fr Aristoteles lßt sich tat-
schlich das Modell einer ,Vertiefung‘ oder einer ,immer grçßer werdenden
Bekanntschaft‘ mit der Wirklichkeit herausarbeiten, es stellt aber nicht das
einzige und endgltige Modell des Wissenserwerbs dar. Jenes Modell im-
pliziert eine epistemische Relation zur Wirklichkeit, die in einem ,mehr oder
weniger‘ (l÷kkom ja· Httom), also in Graden vorliegt: In diesem Modell
bleibt die Wahrnehmung, indem sie bloß die zuflligen Eigenschaften einer

122 Gerson 2009, 2, 67.


123 Gerson 2009, 6.
124 Vgl. Burnyeat 1981, 133.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos 47

Sache erfaßt, an der ,Oberflche‘, whrend die Weisheit (sophia), die eine
Kombination von epistÞmÞ und nous darstellt, also auch die Prinzipien in
einer qualifizierten Weise kennt, den ,Grund‘ der Wirklichkeit erreicht. Wie
sich im nchsten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, handelt es sich hier
um ein protreptisches Modell. Neben diesem Modell lßt sich aber m. E. eine
differenziertere und theoretisch anspruchsvollere Theorie des Wissenser-
werbs bei Aristoteles rekonstruieren, in der wir uns innerhalb der ver-
schiedenen kognitiven Zustnde in einer Weise auf die Wirklichkeit be-
ziehen, die durch Wahr- und Falschsein gekennzeichnet ist.125 Wir werden in
Kap. 5 genauer sehen, wie die einzelnen Schritte zwischen Wahrnehmung
und Prinzipienkenntnis differenzierter beschrieben werden kçnnen und
welche Rolle dabei die Wahrnehmung spielt.

1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos


Aus den Anfangsstzen von Met. I 1 lßt sich ein Argument rekonstruieren,
das einen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Wissen im Sinne
eines immer tiefer gehenden Bekanntwerdens mit der Wirklichkeit herstellt.
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. [a] Indiz (sgle?om) dafr ist
die Liebe (!c²pgsir) zu den Wahrnehmungen: [b] Denn auch ohne den Nutzen
werden sie um ihrer selbst willen geliebt und am meisten von den anderen die
durch die Augen. [c] Denn nicht allein damit wir handeln, sondern auch wenn
wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen allen anderen sozu-
sagen vor. [d] Ursache aber ist, daß dieser von den Sinnen uns am meisten ein
Erkennen gewhrt (l²kista poie? cmyq¸feim) und viele Unterschiede offenbart
(pokk±r dgko? diavoq²r)“ (Met. I 1, 980a21 – 27).
Aristoteles geht es in dieser Eingangspassage darum, die in Met. I 1 – 2
entfaltete hçchste Form des Wissens, die Weisheit als Wissen der ersten
Ursachen und Prinzipien (I 1, 981b28 f.), anthropologisch zu fundieren.
Hierfr beruft er sich auf das Streben nach Wissen, das jedem Menschen von
Natur aus zukommt. Die gerade zitierten Eingangsstze enthalten eine
differenzierte Argumentation, die allerdings, wie sich im Folgenden zeigen
wird, nur vor dem Hintergrund der parallelen Passage im Protreptikos ver-
standen werden kann.
Die allquantifizierte Aussage, daß allen Menschen von Natur aus das
Verlangen nach Wissen zukommt, wird durch ein Indiz oder Anzeichen

125 Vgl. die kurze Beschreibung des Wissenserwerbs in De an. II 5, 417a31 f. als eines
oftmaligen Wechsels in kontrre Zustnde.
48 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

(sÞmeion) begrndet, nmlich durch die Liebe (agapÞsis) und die damit
verbundene Freude126 der Menschen an der Wahrnehmung. Damit macht
Aristoteles auf ein spezifisch menschliches Phnomen aufmerksam: Auch
ohne den Nutzen lieben wir die Wahrnehmungen rein um ihrer selbst willen,
und zwar am meisten das Sehen; wir haben z. B. Freude am bloßen Be-
trachten des gegliederten Astwerks eines Baums, ohne daß damit irgendein
Nutzen verbunden wre. Das Tier hat dagegen keine Freude am Sehen oder
Hçren bestimmter Dinge als solchen, sondern lediglich akzidentell: Es freut
sich an den Dingen nur insofern, als diese eine bestimmte Begierde erfllen
(vgl. EN III 13, 1118a16 – 20)127; man kçnnte von einem ,haptischen Blick‘
im Unterschied zu einem ,kontemplativen Blick‘ sprechen. Auch wenn das
Sehen aufgrund der Tatsache, daß es mehr als alle anderen Sinne die
Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit erschließt, fr die praktischen Not-
wendigkeiten des Lebens (z. B. Nahrungsaufnahme) eine große Relevanz
besitzt (vgl. Sens. 437a3 – 9), ziehen wir es auch ohne diese praktische Be-
deutung allen anderen Sinnen vor und lieben es am meisten. Der Grund fr
die Liebe zum Sehen liegt nun nach Aristoteles darin, daß dieser Sinn uns am
meisten ein Erkennen gewhrt (l²kista poie? cmyq¸feim) und viele Unter-
schiede offenbar macht (pokk±r dgko? diavoq²r).128 Das Sehen ermçglicht
uns die grçßte und differenzierteste Bekanntschaft mit Wirklichkeit, inso-
fern mit diesem Sinn auch alle koina aisthÞta wahrgenommen werden
(Sens. 437a8 f.), und darum lieben wir es am meisten von allen Sinnen.
Diese Eigenschaft, nmlich das gnrizein, scheint somit allen Sinnen in
verschiedenen Graden zuzukommen. Aristoteles fhrt nun die Liebe zur
Wahrnehmung als ein Indiz (sÞmeion) fr unser natrliches Wissensver-

126 Generell gilt fr Aristoteles: Mit der Liebe ist die Freude verbunden; man hat Freude
an dem, was man liebt. Vgl. EN I 9, 1099a8 f.; III 13, 1117b29 f.: „Denn jeder
Mensch, der eines von diesen beiden Dingen liebt, freut sich an dem, wovon er ein
Liebhaber ist“ (bers. Wolf ). Daher ist die bersetzung von Bonitz an dieser Stelle
zu korrigieren.
127 „Auch bei den anderen Tieren gibt es keine Lust, die mit den Sinnen verbunden ist, es
sei denn nebenher. Denn fr die Hunde ist nicht der Geruch der Hasen lustvoll,
sondern deren Verzehr, der Geruch aber bewirkt, daß sie sie bemerken. Ebenso ist fr
den Lçwen nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr“ (bers.
Wolf ).
128 Das widerspricht dann nicht Sens. 437a3 – 12, wo Aristoteles dem Hçren und nicht
dem Sehen ,akzidentell’den ,grçßten Beitrag’ zum Wissenserwerb zuspricht (437a5,
a11 f.), wenn zwischen dem Beitrag zum Wissen (epistÞmÞ) – als einer bestimmten Art
von Kenntnis, die an das Hçren bedeutungsvoller Stze gebunden ist – und dem
Beitrag zum Bekanntwerden mit der Wirklichkeit berhaupt, dem gnrizein bzw.
der gnsis, unterschieden wird.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos 49

langen an. In einem terminologisch strikten Sinn ist ein Indiz nach An. Pr. II
27, 70a6 f. ein beweisender Satz, der nach Rhet. I 2, 1357b1 – 25 im Un-
terschied zu den notwendigen oder zwingenden Indizien (tekmÞrion) einen
Sachverhalt in fallibler Weise anzeigt129, z. B. die rauhe Beschaffenheit der
Zunge den Fiebernden (Div. 462b31). In welcher Weise zeigt nun aber das
bloße Betrachten eines Gegenstands ohne einen bestimmten praktischen
Nutzen das grundlegende Verlangen des Menschen nach Wissen, nach der
Kenntnis der ersten Prinzipien und Ursachen an? Aristoteles begrndet
unsere Liebe zum Sehen mit der Eigenschaft, daß dieser Sinn uns im Ver-
gleich zu den anderen Sinnen das grçßtmçgliche und differenzierteste Er-
kennen der Wirklichkeit ermçglicht. Wenn nun unsere Liebe zur Wahr-
nehmung, und am meisten die zum Sehen, ein Indiz fr unser natrliches
Verlangen nach Wissen sein soll, dann – so kann man annehmen – aus dem
Grund, daß das Wissen noch mehr jene Eigenschaft verwirklicht, die das
Sehen innerhalb der Sinne am meisten verwirklicht. Die beiden Weisen des
Erkennens, das Wahrnehmen und das Denken in seinen unterschiedlichen
Arten, wrden dann in einem unterschiedlichen Grad unser Verlangen nach
einer mçglichst umfassenden und differenzierten Bekanntschaft mit der
Wirklichkeit erfllen. An ihrer Spitze wrde der kognitive Zustand des nous
stehen, in dem der in der Wahrnehmung gewonnene Zugang zur Wirk-
lichkeit seine Vollendung findet, da hier die Wirklichkeit in ihren letzten
urschlichen Zusammenhngen erkannt wird. Im Sinne einer solchen
Kontinuitt kçnnten wir dann die Liebe zur Wahrnehmung als ein Indiz
dafr verstehen, daß es uns als Menschen letztlich um das Wissen im Sinne
der Weisheit gehen muß; das Wissen setzt den in der Wahrnehmung be-
gonnenen Weg des Bekanntwerdens mit der Wirklichkeit fort und bringt ihn
zur Vollendung.
Es lßt sich nun zeigen, daß die hier angenommene Interpretation von
Met. I 1, 980a21 – 27 durch einen Abschnitt im Protreptikos besttigt wird.
Diese exoterische Schrift ist leider verloren und uns nur noch im gleich-
namigen Werk des Neuplatonikers Jamblich zugnglich.130 Hier findet sich

129 In Rhet. I 2, 1357b1 – 25 unterscheidet Aristoteles von den Zeichen im allgemeinen


die notwendigen, die er tejl¶qia nennt; hier handelt es sich um zwingende An-
zeichen, die den entsprechenden Sachverhalt untrglich anzeigen. Die Art, wie sich
das Zeichen im allgemeinen zum Angezeigten verhalten kann, gliedert er disjunktiv
(b1 f.) in das Verhltnis vom Einzelnen zum Allgemeinen und das vom Allgemeinen
zum Einzelnen.
130 Flashar (2006, 171 ff.) weist zu Recht darauf hin, daß fr Aristoteles’ Protreptikos
lediglich ein Testimonium und ein Fragment wirklich bezeugt sind. Alle anderen
Textpassagen, wie sie sich etwa in der Sammlung bei Dring finden, sind – wohl in
50 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

eine Passage (B 71 – 77 Dring; 43.27 – 45.3 Pistelli), die sprachliche und


sachliche bereinstimmungen zu Met. I 1, 980a21 – 27 aufweist; der in
Met. I 1 skizzierte Gedanke scheint in den von Jamblich zusammengestellten
Exzerpten genauer ausgefhrt zu werden.131 Aus einem Vergleich der beiden
Passagen hat Werner Jaeger den Schluß gezogen, daß „der berhmte Eingang
der Metaphysik im wesentlichen nur eine verkrzte Wiedergabe der klas-
sischen Darstellung im Protreptikos ist“, wo derselbe Gedankengang „nur in
einem grçßerem Anlauf und mit einer mehr ins Einzelne gehenden Logik
entwickelt“ wrde.132 Der Eingang der Metaphysik sei „ein zum aktuellen
Zweck des Lehrvortrags aus der Vorlage zusammengerafftes Material […]
das nicht einmal ganz fest verkittet worden ist“; demgegenber sei die
Passage im Protreptikos inhaltlich reicher und argumentativ stringenter.133
Daß nun der Abschnitt Met. I 1, 980a21 – 27 nicht bloß ein „aus der Vorlage
zusammengerafftes Material“darstellt, sondern aus diesem eine konsistente,
wenn auch sehr gedrngte Argumentation herausgearbeitet werden kann,
deutete sich schon an.134 Ich werde im Folgenden die Passage des Protreptikos
in einer Anordnung prsentieren, die mir von der Argumentation her am
sinnvollsten erscheint.135
[a] „Wenn wir das Sehen um seiner selbst willen lieben, dann bezeugt dies
hinreichend (Rjam_r laqtuqe? ), daß alle (Menschen) in hçchstem Maß das

den meisten Fllen – Exzerpte aus dem Protreptikos, wie Bywater nachwies. Sie
stimmen in Wortschatz, Stil und Inhalt mit den berlieferten Schriften des Aristo-
teles berein, sind aber von Jamblich fr seine eigenen Zwecke berarbeitet, gekrzt
und anders zusammengestellt worden (Dring 1993, 10). Daher ist es weniger
ratsam, von ,Fragmenten’ zu sprechen. Auf die philologischen Probleme, die sich
daraus fr eine Rekonstruktion des Aristotelischen Protreptikos ergeben, brauche ich
hier nicht einzugehen, wie etwa: Stand dem Jamblich berhaupt der Aristotelische
Protreptikos oder nur eine Mittelquelle zur Verfgung? Wenn er ihn direkt kannte,
hat er ihn zuverlssig exzerpiert? Ist der Aristotelische Protreptikos die einzige Quelle
fr den Abschnitt bei Jamblich oder sind noch andere exoterische Schriften zu
vermuten? In welchem Maß lßt sich der ursprngliche Aufbau des Aristotelischen
Protreptikos berhaupt rekonstruieren? Zumindest fr den im Folgenden zu un-
tersuchenden Abschnitt ist sowohl eine direkte Bekanntschaft mit der Aristoteli-
schen Vorlage als auch die Zuverlssigkeit des Aufbaus einigermaßen sicher.
131 Bis auf die Hinweise bei Jaeger (1955) und Ross (1924, 115) ist mir keine genauere
Interpretation dieser Passage bekannt.
132 Jaeger 1955, 69.
133 Jaeger 1955, 69 f.
134 In diesem Sinne wrde ich eher mit Dring (1993, 101) von „Parallelfassungen“
sprechen.
135 In der bersetzung orientiere ich mich an Dring (1993) und Flashar (2006).
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos 51

Wissen und das Erkennen lieben (t¹ vqome?m ja· t¹ cicm¾sjeim 1sw²tyr
!cap_sim)“ (B 72).
[b] „Wenn jemand etwas liebt aufgrund der Tatsache, daß ihm etwas anderes
zukommt, dann ist es klar, daß dieser eher (l÷kkom) das wnschen wird, dem
diese (Eigenschaft) in hçherem Maß zukommt (l÷kkom rp²qwei): Wie z. B.
wenn jemand das Spazierengehen whlt, weil es gesund ist, das Laufen aber fr
ihn noch (l÷kkom) gesnder wre und er dazu fhig wre, dann wrde er dieses
eher (l÷kkom) whlen, und er htte es schon getan, wenn er es frher gewußt
htte.
Wenn nun eine wahre Meinung (!kghμr dºna) dem Wissen (vqºmgsir136)
hnlich ist, und wenn das wahre Meinen whlenswert ist, insofern und insoweit
es dem Wissen wegen des Wahrheitsgehalts hnlich ist, wenn dieser (nun aber)
dem Wissen in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt, dann wird das Wissen
whlenswerter sein als das wahre Meinen“ (B 71).
[c] „Nun unterscheidet sich das Leben vom Nicht-Leben durch das Wahr-
nehmen, und durch die Anwesenheit und das Vermçgen von dieser wird das
Leben definiert, und dieser beraubt, lohnt es sich nicht zu leben, als ob das Leben
selbst durch die Wahrnehmung aufgehoben wre“ (B 74).
„Das Vermçgen des Sehens unterscheidet sich aber von den Wahrnehmungs-
rumen dadurch, daß es am schrfsten ist (savest²tg), und daher whlen wir es
auch am meisten. Jede Wahrnehmung aber ist ein erkennendes Vermçgen
(d¼malir cmyqistij¶) mittels des Kçrpers, wie das Gehçr den Ton mittels der
Ohren wahrnimmt“ (B 75).
„Denn indem sie das Leben lieben, lieben sie das Wissen und das Erkennen (t¹
vqome?m ja· t¹ cmyq¸feim). Denn aus keinem anderen Grund ehren sie es als
wegen der Wahrnehmung und am meisten wegen des Gesichtssinns: Denn
offensichtlich lieben sie dieses Vermçgen ber alle Maßen. Denn dieses ist im
Vergleich zu den anderen Wahrnehmungen einfach wie eine Art Wissen (¦speq
1pist¶lg tir)“ (B 73).
[d] „Wenn das Leben (also) whlenswert ist wegen der Wahrnehmung, die
Wahrnehmung aber eine Art von Kenntnis ist (cm_s¸r tir), und wir das Leben
deshalb vorziehen, weil die Seele mit ihr erkennen (cmyq¸feim) kann“ (B 76)
[e] (ferner) sagten wir frher, daß von zwei Dingen immer dasjenige wh-
lenswerter ist, dem dieselbe (Eigenschaft) in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt:
Dann ist es notwendig, daß von den Wahrnehmungssinnen der Gesichtssinn am
meisten whlenswert und ehrwrdig ist, noch whlenswerter aber als dieser und
als alle anderen Sinne und als das Leben selbst das Wissen (vqºmgsir), weil es
noch autoritativer fr die Wahrheit ist (juqiyt´qa t/r !kghe¸ar). Daher

136 Der Terminus phronÞsis wird hier in einem weiten, untechnischen Sinn verwendet,
der nicht von epistÞmÞ und sophia unterschieden ist (vgl. Ross 1924, 123 zu Met. I 2,
982b24). Vgl. auch Met. XIII 4, 1078b15, Sens. 437a3, a11. Hierzu Schneeweiß
2005, 46 f.
52 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

erstreben alle Menschen am meisten das Wissen (p²mter %mhqypoi t¹ vqome?m


l²kista di¾jousi)“ (B 77).

Satz [a], der dem Eingangssatz der Metaphysik sehr nahe steht, kann als
Ausgangsbehauptung angesehen werden137; genauso markiert der letzte Satz
des Abschnitts [e] das Erreichen des Argumentationsziels. Sieht man von
einigen in ihrer Einordnung umstrittenen Exzerpten ab (B 70, B 73)138, so
lßt sich doch in dieser Passage folgender argumentativer Kern herausar-
beiten, der fr unsere Interpretation von Met. I 1, 980a21 – 27 entscheidend
ist: Mit dem ersten Satz [a] ist die These verbunden, daß unsere Liebe zum
Sehen um seiner selbst willen ein ,hinreichendes Zeugnis‘ (Rjam_r laqtu-
qe? )139 ist fr die Behauptung, daß alle Menschen in hçchstem Maß
(1sw²tyr) das Wissen lieben. Begrndet wird dieser Zusammenhang durch
Einfhrung eines „topischen Prinzips“140 oder einfach nur eines topos [b],
den man als ,l÷kkom-topos‘ bezeichnen kçnnte: „Wenn jemand etwas liebt
aufgrund der Tatsache, daß ihm etwas anderes zukommt, dann ist es klar, daß
dieser in hçherem Maß (l÷kkom) das wnschen wird, dem diese (Eigen-

137 Vgl. auch Flashar 2006, 61; im Unterschied zu Dring (1993, 67), der diesen Satz
hinter B 71 anordnet, und Schneeweiß (2005, 98), der B 72 als Konklusion der
Argumentation ansieht.
138 B 70 scheint nicht zum vorliegenden Abschnitt zugehçren: In der Fragment-
Sammlung von Walzer/Ross wird B 70 dem vorangehenden Abschnitt zugeordnet;
dem folgt auch Schneeweiß (2005, 128). Schwierig ist auch die Einordnung von B
73: Schneeweiß (2005, 98) [im Unterschied zu Schneeweiß 1966, 84 f.] und Flashar
(2006, 62) schließen diesen Abschnitt nach B 77 an wie auch schon bei Jamblich.
Dagegen spricht, daß B 76 – 77 das in B 74 – 75 Gesagte (Leben-Wahrnehmen-
Erkennen) aufnimmt und darauf den l÷kkom-topos aus B 71 anwendet; im letzten
Satz von B 77 wird das Argumentationsziel erreicht: „Daher erstreben alle Menschen
am meisten das Wissen“. Gegenber diesem Ergebnis fllt B 73 zurck. Gegen eine
Einordnung von B 73 vor B 74 – 75 scheint zu sprechen, daß in B 74 – 75 der Zu-
sammenhang zwischen Leben-Wahrnehmen-Sehen-Erkennen von Grund auf
entwickelt wird, whrend B 73 damit beginnt, daß die Liebe zum Leben eigentlich
eine Liebe zum Denken und Erkennen ist.
139 So bersetzt Schneeweiß 2005, 99. Diese bersetzung ist der m. E. zu starken
bersetzung von Dring (1993, 67: ,hinlnglicher Beweis’) und Flashar (2006, 61:
,hinreichender Beweis’) vorzuziehen. Der Terminus laqtuqe?m (LSJ 1082: bear
witness, give evidence) wird bei Aristoteles meist im Sinne einer nachtrglichen
Besttigung verwendet: So bezeugen die Vorgnger nachtrglich eine bestimmte von
Aristoteles aufgestellte Theorie (vgl. Met. I 7, 988b16 f., XII 6, 1072a4 ff.), die
Theorie bezeugt die Phnomene und die Phnomene die Theorie (Cael. 270b5 f.;
vgl. auch Insomn. 460a26 ff.; Met. I 2, 982b22; EN II 1, 1103b2 f.).
140 Jaeger 1955, 70 ohne nhere Erluterung. Dieses ,Prinzip’ steht den vier Topoi ber
das l÷kkom ja· Httom sehr nahe (Top. II 10).
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos 53

schaft) in hçherem Maß (l÷kkom) zukommt“ (B 71). Dieser topos wird am


Beispiel des Spazierengehens und der wahren Meinung verdeutlicht: Wenn
jemand das Spazierengehen liebt, weil es fr ihn gesundheitsfçrdernd ist,
dann kann man daraus schließen, daß er das Joggen, wenn es noch mehr
gesundheitsfçrdernd ist und unter der Voraussetzung, daß er es als solches
kennt und vollziehen kann, dem Spazierengehen vorziehen wrde. Wenn
eine wahre Meinung whlenswert ist, insofern sie in ihrem Wahrheitsgehalt
dem Wissen hnlich ist, dann kann man daraus schließen, daß das Wissen
whlenswerter ist, weil diesem das Wahrsein mehr zukommt (l÷kkom
rp²qwei). Nun wird die Wahrnehmung von den Menschen ohne irgendeinen
Nutzen geliebt und sie stellt fr ihn einen hohen Wert dar [c]; das Leben ist
ohne die Wahrnehmung (mit der ja das Wachsein verbunden ist: Somn.
454a1 – 7) nicht lebenswert. Von den verschiedenen Wahrnehmungssinnen
ist das Sehen am genauesten und daher lieben wir es auch am meisten; es
verhlt sich zu den anderen Sinnen schon wie eine Art von Wissen [c]. Wenn
also das Leben whlenswert ist wegen der Wahrnehmung, d. h. wir hier ei-
gentlich das Wahrnehmen lieben, das Wahrnehmen nun aber eine gnsis tis
ist, wir also das Leben lieben, weil die Seele mit der Wahrnehmung erkennen
kann [d], nun aber dem Sehen unter den Sinnen am meisten die Eigenschaft,
etwas zu erkennen, zukommt, dann ist unter der Voraussetzung des l÷kkom-
topos (daß von zwei Dingen, denen dieselbe Eigenschaft zukommt, dasjenige
whlenswerter ist, dem diese Eigenschaft in grçßerem Maß zukommt) das
Sehen innerhalb der verschiedenen Arten von Wahrnehmung am wh-
lenswertesten. Wenn nun von allen kognitiven Krften dem Wissen die
Eigenschaft des Erkennens in hçchstem Maße zukommt – da es die
Wirklichkeit bis auf ihre letzten Ursachen und Prinzipien durchdringt und
somit noch maßgeblicher fr die Wahrheit ist (juqiyt´qa t/r !kghe¸ar : B
77) –, dann ist dieses von allem am whlenswertesten. Durch die Einfhrung
des ,l÷kkom-topos‘ ist gezeigt, warum die Liebe zum Sehen das noch grçßere
Verlangen nach Wissen anzeigt, daß also alle Menschen letztlich und am
meisten das Wissen im Sinne der Weisheit erstreben.
An dieser Argumentation sind zwei Punkte hervorzuheben: (1) Das
Erkennen muß in einem komparativischen Sinn verstanden werden; es
kommt den verschiedenen kognitiven Vermçgen in einem unterschiedlichen
Grad zu (l÷kkom, l²kista). Dieses graduelle Verstndnis setzt voraus, daß
dieser Terminus hier so etwas wie ein Bekanntwerden mit der Wirklichkeit
meint; in diesem kommen Wahrnehmen und Denken berein, und zwar in
einer jeweils unterschiedlichen Tiefe: Die Wahrnehmung macht die
Wirklichkeit in ihren mannigfaltigen akzidentellen Eigenschaften offenbar,
das Denken bersteigt diesen Zugang in Richtung auf ihre letzten essentiell-
54 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

urschlichen Zusammenhnge. Beide Vermçgen stehen in einem kontinu-


ierlichen Zusammenhang. (2) Aristoteles stellt im vorliegenden Protreptikos-
Abschnitt nicht nur einen Zusammenhang her zwischen der Liebe zur
Wahrnehmung und der Eigenschaft, die Wirklichkeit zu erschließen, son-
dern er bringt auch die Liebe zum Leben ins Spiel, womit eine anthropolo-
gische Relevanz dieser kognitiven Vermçgen deutlich wird: Das Leben ist aus
keinem anderen Grund lebenswert als aufgrund der Wahrnehmung; ohne
die Wahrnehmung ist das Leben nicht wert, gelebt zu werden (B 74). Das
Wahrnehmen ist aber ein Erkennen oder ein Bekanntwerden mit der
Wirklichkeit. Wir lieben also das Leben, weil die Seele mit der Wahrneh-
mung erkennen kann (B 76).141 Unsere Liebe zum Leben ist eigentlich eine
Liebe zum Erkennen. Demgemß besteht fr den Protreptikos das ergon des
Menschen in nichts anderem als dem alÞtheuein, dem Besitz der ,genauesten
Wahrheit‘, also der ,Wahrheit ber das, was ist‘142 : „ein besseres Werk des
Denkens oder des denkenden Teils unserer Seele kçnnen wir nicht nennen als
die Wahrheit. Die Wahrheit ist also das maßgeblichste Werk dieses See-
lenteils“143 (B 65). Dieses ergon hat eine motivationale Grundlage im
Menschen; auf dieses luft das natrliche Verlangen des Menschen nach
einer mçglichst umfassenden und differenzierten Durchdringung der
Wirklichkeit zu. Dieses Verlangen zeigt sich in Phnomenen wie dem, daß
wir das Wachsein dem Schlafen auch dann vorziehen wrden, wenn wir im
Schlafen alle mçglichen Freuden genießen kçnnten (B 101). Grund hierfr
ist, daß die Vorstellungen im Schlaf immer falsch sind, die im Wachsein aber
meistens wahr sind.144 Daß der Trumende sich immer im Irrtum befindet,
ist so zu verstehen, daß er keinerlei Kontakt mit der Realitt hat (diaxeú-
deshai vs. !kghe¼eim). Ein anderes Phnomen ist unsere Angst vor dem Tod;
auch diese zeigt die Lern- oder Wißbegier der Seele an145 : Wir fliehen das
Dunkle und Unbekannte und suchen von Natur aus das Klare und Bekannte

141 …di± t¹ cmyq¸feim aqt0 d¼mashai tμm xuwμm <t¹ f/m> aRqo¼leha…
142 oqj %kko 1st·m aqtoO 5qcom C lºmg B !jqibest²tg !k¶heia ja· t¹ peq· t_m emtym
!kghe¼eim
143 b´ktiom d’ oqd³m 5wolem k´ceim 5qcom t/r diamo¸ar C toO diamooul´mou t/r xuw/r Bl_m
!kghe¸ar. !k¶heia %qa t¹ juqi¾tatom 5qcom 1st· toO loq¸ou to¼tou t/r xuw/r.
144 …tºte l³m pokk²jir !kghe¼eim, jahe¼domtor d’ !e· diexeOshai. t¹ c±q t_m 1mupm¸ym
eUdykºm 1sti ja· xeOdor ûpam. Dieser Begriff von Falschheit kçnnte im Sinne von
Met. V 29 als ein ontologischer Begriff des Falschen bezeichnet werden; er kommt
nicht Aussagen, sondern den Dingen selbst zu (1024b17, b23). Die Trume re-
prsentieren etwas, das es nicht gibt: „Denn diese sind zwar etwas, aber nicht das,
dessen Erscheinung sie hervorbringen“ (b23 f.).
145 …de¸jmusi tμm vikol²heiam t/r xuw/r.
1.4 Wahrnehmung und Wissen nach dem Protreptikos 55

(t¹ vameq¹m ja· t¹ cmystºm : B 102). Diese Phnomene zeigen nach


Aristoteles, daß wir das Bekannte, Deutliche und Offenbare lieben (t¹
cmyst¹m ja· t¹ vameqºm ja· t¹ d/kom) und wenn wir das lieben, dann lieben
wir auch das Erkennen und Wissen (t¹ cicm¾sjeim ja· t¹ vqome?m : B 102).
Dieses natrliche Verlangen nach Wissen zeigt sich schließlich auch im
haul²feim, dem (kognitiven) Sich-Wundern ber eine bestimmte Tatsa-
che 146, deren Ursachen man noch nicht oder noch nicht hinreichend kennt:
„Denn weil sie staunen, beginnen die Menschen jetzt und begannen sie
anfnglich zu philosophieren, wobei sie zu Beginn ber die naheliegenden
Merkwrdigkeiten staunten, dann allmhlich so voranschritten und bei den
bedeutenden Dingen Schwierigkeiten sahen (diapoq¶samter), z. B. bei dem,
was dem Mond widerfhrt und was mit der Sonne geschieht und den Sternen
und hinsichtlich der Entstehung des Alls. Wer aber in Schwierigkeiten steckt
und sich wundert, der ist der Meinung, daß er nicht weiß (oUetai !cmoe?m)
[…] so daß es klar ist – wenn sie doch Philosophie betrieben, um der Un-
wissenheit zu entgehen –, daß sie das Verstehen um des Wissens willen
verfolgten und nicht wegen eines Nutzens“ (Met. I 2, 982b12 – 21; bers.
Szlezk). Das Staunen ber eine bestimmte Tatsache impliziert also das
Bewußtsein einer Unkenntnis und das Eingestehen einer Schwierigkeit oder
kognitiven Verlegenheit, was die Suche nach den Ursachen und Prinzipien
evoziert, worin sich nichts anderes als das Verlangen nach Wissen um seiner
selbst willen zeigt.147
Die Wahrnehmung des Menschen erfllt nun dieses natrliche Ver-
langen nach dem Klaren und Bekannten, d. h. nach dem Erkennen, auf einer
ersten Stufe und hier besonders das Sehen aufgrund seiner großen wirk-
lichkeitserschließenden Kraft (Met. I 1, 980a26 f.; Protr. B 75, B 77). Die
Liebe zum Leben ist eigentlich eine Liebe zum Erkennen und diese Liebe
wird in einem ersten Schritt durch das Sehen erfllt. Insofern kommt dem
Wahrnehmen und besonders dem Sehen als einem Erkennen eine genuine

146 Dieses ,Staunen darber, daß p’ ist zu unterscheiden vom ,stummen Bestaunen’ eines
Gegenstands oder einer Person. Zu haul²feim in diesem zweiten Sinn vgl. EN I 2,
1095a26.
147 Bei Aristoteles impliziert das ,Staunen darber, daß p’ die bewußte Unkenntnis der
Ursachen einer bestimmten Tatsache (oUetai !cmoe?m). Diese Unklarheit ber die
Ursachen ist aber vom grundlegenden Vertrauen getragen, irgendwann, wenn man
auf dem Weg der Ursachenforschung weiter voranschreitet, die Weisheit als die
hçchste Form des Wissens zu erlangen. Aristoteles beginnt also nicht damit,
berhaupt an der Zuverlssigkeit unserer kognitiven Vermçgen zu zweifeln und
diese einer grundlegenden Prfung zu unterziehen, um am Ende die Zuverlssigkeit
und Reichweite unserer Wissensquellen prziser und sicherer bestimmen zu kçnnen.
56 1. Wahrnehmung und Wissen: Begriffliche Klrungen

Glcksrelevanz zu: Die spezifisch menschliche Sinnesfreude, die sich auf das
aisthÞton als solches, also auf seine aisthetische Bestimmtheit bezieht und
dieses nicht bloß im Hinblick auf die Befriedigung einer bestimmten Be-
gierde als lustvoll empfindet (EN III 13; Sens. 443b18 ff.), zeigt sich schon
eingebunden in das ergon des Menschen, der Bettigung des hçchsten see-
lischen Vermçgens (nous) im alÞtheuein, und damit schon auf den bios
therÞtikos hingeordnet. Außerdem wird schon an dieser Stelle deutlich, daß
die Wahrnehmung nicht bloß als Mittel oder Instrument fr die hçheren
Verstandesttigkeiten fungiert, also als ,blinder‘ Informationslieferant, der
das Denken mit dem nçtigen ,Material‘ versorgt.148 Vielmehr bildet die
Wahrnehmung eine erste Stufe der Durchdringung der Wirklichkeit im
Hinblick auf ihre reichhaltigen phnomenalen Unterschiede, die im intel-
lektuellen Erfassen der letzten Ursachen und Prinzipien, also der essentiellen
Zusammenhnge, seine Vollendung findet.

148 Vgl. Welsch 1987, 43: „Die aUshgsir ist der unentbehrliche Material-Requisiteur,
der das Einfache beibringen muß, das der kºcor nicht hat und nicht haben kann, aber
unbedingt braucht“.
2. Weltzugang und Sinnestuschungen
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand
Um die Frage beantworten zu kçnnen, welche Rolle die Wahrnehmung im
Wissenserwerb spielt, muß vor allem geklrt werden, was wir berhaupt
wahrnehmen kçnnen, d. h. wie der ,Gehalt‘ der Wahrnehmung bestimmt
werden muß. Bevor aber diese Frage angegangen werden kann, muß vorher
geklrt sein, in welchem Sinn man bei Aristoteles berhaupt von so etwas wie
einem ,Gehalt der Wahrnehmung‘ sprechen kann.1 Man kçnnte mit
Brentano den Terminus ,Gehalt‘ so verstehen, daß es sich hier um das allen
psychischen Phnomenen zukommende Merkmal handelt, auf etwas be-
zogen zu sein, also „die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein
Objekt […] oder die immanente Gegenstndlichkeit“.2 Dieses fr mentale
Zustnde zumindest ,kritische‘ Merkmal bezeichnet man als ,Intentiona-
litt‘. Die eher metaphorische Beschreibung im Sinne einer ,Beziehung auf
etwas‘ (,aboutness‘) kann so przisiert werden, daß alle intentionalen Zu-
stnde Wahrheits- bzw. Erfllungsbedingungen besitzen: Mit dem jewei-
ligen Gehalt dieser Zustnde werden Bedingungen darber festgelegt, wie
die Welt aussehen wrde, wenn der Zustand wahr (im Fall des Wahrnehmens
oder Wissens) bzw. erfllt (im Fall des Wnschens oder Hoffens) wre.3 Die
Zustnde kçnnen also hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit bzw. ihres
Erflltseins oder Nichterflltseins beurteilt werden.4 Das setzt voraus, daß
diese Gehalte von der jeweils vorliegenden externen Ursache bzw. dem aktual

1 Bei Aristoteles findet sich an einigen Stellen der Terminus aUshgla (z. B. An. Post. II
19, 99b37; De an. III 8, 432a9; Mem. 450a31 f.; Insomn. 461b22), der die dem
Wahrnehmenden zugngliche Sinnesaffektion meint. Der Sache nach drfte aber
auch an anderen Stellen der Gehalt der Wahrnehmung thematisiert werden, wie etwa
im Kapitel De an. II 6 und An. Post. I 31, 87b28 ff., II 19, 100a16-b1.
2 Brentano 1924, 124 f. Es zeigt sich schon hier ein erster Unterschied zu Aristoteles:
Whrend Brentano diese „intentionale Inexistenz“ als Eigenschaft aller psychischen
Phnomene auffaßt, die diesen „ausschließlich eigentmlich“ sei (125), sind fr
Aristoteles auch Ernhrung, Wachstum und Fortpflanzung psychische Phnomene.
Hierzu genauer Frede 1992.
3 Vgl. Beckermann 2001, 270 f.; Gunther 2001, 5 f.: „intrinsic to its content is a set of
conditions that prescribes what the world would be like if the belief were true“. Hier
kann man auch von „semantic normativity“ sprechen.
4 Beckermann 2001, 270 f.
58 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

vorliegenden Weltzustand abweichen kçnnen mssen, was auch Flle ein-


schließt, in denen gar kein externer Gegenstand vorliegt (z. B. das Vorstellen
von Abwesendem oder die Halluzination). Diesen im Ausgang von Brentano
skizzierten Begriff von Intentionalitt werde ich im Folgenden als den an-
spruchsvollen Begriff von Intentionalitt bezeichnen. Wenn bei Aristoteles die
Wahrnehmung als intentional in diesem anspruchsvollen Sinn angesehen
werden soll, mßte sich nachweisen lassen, daß sie die gerade genannte
,Abweichungsbedingung‘ erfllt; sie mßte wie im Fall der Halluzination
auch ,leerlaufend‘ sein kçnnen. Im Folgenden soll erst einmal am Text selbst
herausgearbeitet werden, (a) an welchem Merkmal Aristoteles den Unter-
schied der Wahrnehmung gegenber anderen seelischen Vermçgen fest-
macht und (b) ob er fr dieses unterscheidende Merkmal irgendeine Art von
Erklrung skizziert. Auf dieser Grundlage kçnnen wir dann sehen, ob der
Begriff der Intentionalitt in seiner oben skizzierten anspruchsvollen Be-
deutung berhaupt auf Aristoteles’ Wahrnehmungslehre interpretatorisch
anwendbar ist.
Wahrnehmen und Denken5 bilden die beiden Typen des Erkennens
(gnrizein). Beide Vermçgen kommen darin berein, daß sie jeweils in
unterschiedlicher Weise unterscheidungsfhig sind und wir durch sie jeweils
etwas anderes vom Seienden kennenlernen (De an. III 3, 427a19 – 21). Als
eine prgnante Beschreibung dessen, was Wahrnehmung und Denken als
kognitive Vermçgen von anderen seelischen Vermçgen unterscheidet, kann
das Kapitel De an. III 8 angefhrt werden, wo Aristoteles das bisher ber
Wahrnehmung und Denken Gesagte zusammenfaßt:
„Nun aber, indem wir die Hauptpunkte des ber die Seele Gesagten zusam-
menfassen (sucjevakai¾samter), wollen wir wiederum sagen, daß die Seele in
gewisser Weise alles Seiende ist (B xuwμ t± emta p¾r 1sti p²mta): Denn das
Seiende ist entweder wahrnehmbar oder denkbar, es ist aber das Wissen in
gewisser Weise (pyr) das Wißbare, die Wahrnehmung aber das Wahrnehmbare:
Wie dies aber mçglich ist (p_r d³ toOto), muß man untersuchen. Das Wissen
und die Wahrnehmung also werden unterteilt entsprechend zu den Dingen (eQr
t± pq²clata6), die dem Vermçgen nach in Entsprechung zu denen, die dem
Vermçgen nach sind, die der Aktualitt in Entsprechung zu denen, die aktual
sind: Das Wahrnehmungsvermçgen und das Wissensvermçgen der Seele sind
dem Vermçgen nach diese Dinge, das eine das Wißbare, das andere das

5 Im weiten Sinn von De an. III 3, 427b9, b27 verstanden als eine Ttigkeit des In-
tellekts, die sich im Verbinden und Trennen von Gedankeninhalten (noÞmata)
vollzieht, auf phantasmata angewiesen ist (De an. III 7, 431a16 f.) und sich in einem
wahren oder falschen Urteil ber einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit nie-
derschlgt (diamoe?tai ja· rpokalb²mei : vgl. III 4, 429a23).
6 Zu dieser bersetzung vgl. Ross 1961, 309 und Movia 2001, 227.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 59

Wahrnehmbare. Notwendig aber ist, daß sie entweder diese Dinge selbst sind
oder ihre Formen. Die Dinge selbst nun sind sie nicht: Denn nicht der Stein ist
in der Seele, sondern die Form: Daher ist die Seele wie die Hand: Denn auch die
Hand ist das Werkzeug der Werkzeuge, und der Intellekt ist die Form der
Formen und die Wahrnehmung die Form der wahrnehmbaren Dinge“ (De an.
III 8, 431b20 – 432a3).
Wahrnehmungs- und Denkvermçgen kommen darin berein, daß sie im
jeweiligen Akt auf eine bestimmte Weise mit ihren spezifischen Gegen-
stnden, dem Wahrnehmbaren (aisthÞton) bzw. dem Intelligiblen (noÞton),
identisch werden. Unter der Annahme, daß das Seiende im Sinne einer
vollstndigen Disjunktion entweder wahrnehmbar oder denkbar ist, ergibt
sich daraus, daß die Seele als aisthetische und noetische alles Seiende ist, dies
aber in einer gewissen Weise (pyr). Diese besondere Weise der Identitt wird
dann mit dem Begriff der Form (eidos) erlutert: Man hat nicht den
wahrnehmbaren oder denkbaren Gegenstand selbst in der Seele, sondern
seine jeweilige Form. Mittels der Form im Sinne eines ,kognitiven Instru-
ments‘7 ist es mçglich, sich auf den Gegenstand selbst zu beziehen; man wird
mit dem jeweiligen Gegenstand formal identisch. 8 Daß die aisthetische und
noetische Seele ,in gewisser Weise alles‘ ist, kçnnen wir also erst einmal so
verstehen, daß kognitive Wesen ,ber sich hinausgreifen‘ kçnnen oder ,bei
allem‘ sein kçnnen, ohne gleichzeitig ihre physische Basis in der Weise zu
verndern, daß sie dies alles selbst ,sein‘ mssen: Sie haben, wie Thomas von
Aquin sagt, nicht nur „ihre eigene Form“, die ihre Identitt konstituiert,
sondern kçnnen auf eine andere Weise „auch die Form eines anderen Ge-
genstands haben“; sie sind damit nicht nur auf sich beschrnkt, sondern
haben „eine grçßere Weite und Ausdehnung“.9 Der Mensch kann sich im

7 Vgl. Owens 1980, 24; Owens 1981, 78 f. So wie die Hand als Werkzeug ihrerseits
verschiedene Werkzeuge gebrauchen kann, so sind Intellekt und Wahrnehmung
Instrumente der Seele, die ihrerseits durch Gebrauch intelligibler bzw. wahr-
nehmbarer Formen die Wirklichkeit erkennen (De an. III 8, 432a1 – 3).
8 Im Bereich des Denkbaren gilt diese formale Identitt nur fr die ,zusammenge-
setzten Substanzen‘ (z. B. der Stein), die also Materie besitzen und insofern nicht
vollstndig intelligibel sind. Bei den ,reinen Formen‘ dagegen wird der Denkende in
der intellektuellen Bezugnahme mit seinem Objekt im genuinen Sinn identisch
(Met. XII 9, 1075a1 – 5; De an. III 4, 430a3 f.). Hierzu Gerson 2009, 87.
9 Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. q. 14 a. 1 corpus: „…cognoscentia a non co-
gnoscentibus in hoc distinguuntur, quia non cognoscentia nihil habent nisi formam
suam tantum; sed cognoscens natum est habere formam etiam rei alterius, nam
species cogniti est in cognoscente. Unde manifestum est quod natura rei non co-
gnoscentis est magis coarctata et limitata: natura autem rerum cognoscentium habet
60 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Wahrnehmen und Denken die gesamte Wirklichkeit ,zu Eigen machen’.


Dieses ,Haben der Form eines anderen Gegenstands‘ heißt nicht, daß diese
Form in derselben Weise besessen wird wie die fr das eigene Sein konsti-
tutive Form: Ich kann die Form des Hauses in meinem Intellekt ,haben‘,
ohne selbst zu einem Haus zu werden, oder die Form des Grnen in meinem
Wahrnehmungsvermçgen haben, ohne selbst grn zu werden.10 Aristoteles
zeigt diese besondere Weise von Identitt mit pyr an (431b23). Auf die
Frage, ob und, wenn ja, wie das Zustandekommen einer solchen kognitiven
oder formalen Identitt im Wahrnehmen und Denken nach Aristoteles
erklrt werden kann, werden wir gleich zu sprechen kommen. Hier ist erst
einmal nur festzuhalten, daß Aristoteles das Spezifikum kognitiver Ver-
mçgen daran festmacht, daß wir uns mittels der Form auf den vorliegenden
Gegenstand selbst beziehen kçnnen; in der Wahrnehmung wird uns die
individuelle Substanz durch und in ihren wahrnehmbaren Eigenschaften
prsent.11 Die aisthetische Form darf hier nicht als ein ,inneres Bild‘ auf-
gefaßt werden, sondern fungiert lediglich als kognitives Instrument dieser
Bezugnahme.12 Aristoteles’ Epistemologie basiert auf den wahrnehmbaren

maiorem amplitudinem et extensionem. Propter quod dicit Philosophus 3 de Anima


quod ,anima est quodammodo omnia‘.“ Vgl. auch S.Th. q. 80 a. 1 corpus.
10 Vgl. Owens 1981, 76: „But in the actuality of cognition, through the causal influence
of another agent acting upon him, as well as through his own activity, the cognitive
agent becomes and is an object that is other than himself, without ceasing physically
to be his own self.“ Im Folgenden wird sich noch zeigen, daß mit dieser besonderen
Weise des Besitzes aisthetischer Formen durch kognitive Wesen nicht notwendig
jede Art von organischer Vernderung ausgeschlossen ist.
11 Das zeigt sich auch sprachlich darin, daß wir mit ,weiß‘sowohl das Akzidens selbst als
auch seinen Trger bezeichnen kçnnen (Met. VII 6, 1031b24 f.).
12 Aristoteles’ Direkter Realismus wird betont von Owens 1981, 79 f. Fr eine re-
prsentationalistische Interpretation der aisthetischen eidÞ im Sinne mentaler Bilder
vgl. Thomas Reid, Essays on the Intellectual Powers of Man II, § 8: „This theory in
general is, that we perceive external objects only by certain images which are in our
minds, or in the sensorium to which the mind is immediately present. Philosophers,
in different ages, have differed both in the names they have given to those images, and
in their notions concerning them […] By Aristotle and the Peripatetics, the images
presented to our senses were called sensible species or forms; those presented to the
memory or imagination were called phantasms; and those presented to the intellect
were called intelligible species; and they thought, that there can be no perception, no
imagination, no intellection, without species or phantasms. What the ancient
philosophers called species, sensible and intelligible, and phantasms, in later times,
and especially since the time of Des Cartes, came to be called by the common name of
ideas.“
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 61

Gegenstnden selbst samt ihrer intelligiblen Struktur (432a5) und nicht auf
so etwas wie ,Ideen‘ oder ,Impressionen‘ von diesen Gegenstnden.
Eine andere Passage, in der Aristoteles das unterscheidende Merkmal der
Wahrnehmung gegenber Vernderungen unbeseelter Entitten beschreibt,
findet sich in Phys. VII 2:
„In wie vielen Weisen also das Unbeseelte qualitativ verndert wird, in diesen
auch das Beseelte, in wie vielen Weisen aber das Beseelte, nicht hinsichtlich dieser
aller das Unbeseelte; denn es erfhrt keine qualitative Vernderung in Bezug auf
die Wahrnehmungssinne. Auch bleibt es dem einen verborgen, dem anderen
aber nicht (oq kamh²mei), wenn ein Erleiden stattfindet. Nichts aber hindert, daß
es auch dem Beseelten verborgen bleibt, wenn die qualitative Vernderung nicht
in Bezug auf die Wahrnehmungssinne (jat± t±r aQsh¶seir) geschieht“ (Phys.
VII 2, 244b12 – 245a2).
Das Spezifikum der Wahrnehmung wird hier so beschrieben, daß ihr be-
stimmte qualitative Vernderungen, insofern sie im Bereich der Wahrneh-
mungssinne geschehen, nicht verborgen bleiben (oq kamh²mei), also ,ko-
gnitiv zugnglich‘ sind. Im Hinblick auf den allgemeinen Begriff der
Bewegung kçnnen wir dieses Spezifikum so erlutern: Nach Phys. III 2,
202a9 ff. bringt jedes Bewegende ein bestimmtes eidos mit, was Prinzip und
Ursache der Bewegung ist und eine Bewegung zu einer kategorial be-
stimmten, einer substantiellen oder qualitativen oder quantitativen macht.13
Das Wahrnehmen unterscheidet sich von den herkçmmlichen qualitativen
Vernderungen darin, daß der Wahrnehmende sich der jeweiligen perzep-
tuellen Qualitt, die eine bestimmte Art von Vernderung in seinem Sin-
nesorgan verursacht, bewußt ist.14

13 eWdor d³ !e· oUseta¸ ti t¹ jimoOm, Etoi tºde C toiºmde C tosºmde, d 5stai !qwμ ja· aUtiom
t/r jim¶seyr, ftam jim0, oXom b 1mtekewe¸ô %mhqypor poie? 1j toO dum²lei emtor
!mhq¾pou %mhqypom.
14 An dieser Stelle muß noch kurz auf eine Passage eingegangen werden, in der auf den
ersten Blick von so etwas wie Intentionalitt im Sinne einer universalen Eigenschaft
kognitiver Vermçgen die Rede zu sein scheint. Innerhalb von Met. XII 9 bringt
Aristoteles einen Einwand gegen die Formulierung B mo¶sir mo¶seyr mºgsir
(1074b34 f.) vor: „Es scheint aber so zu sein, daß das Wissen und die Wahrnehmung
und die Meinung und das Denken immer auf etwas anderes (!e· %kkou) bezogen
sind, auf sich selbst aber nur nebenbei“ (Met. XII 9, 1074b35 f.). Mit dem !e· %kkou
wird hier nun nicht so etwas wie das ,mentale Spezifikum‘ des intentionalen Bezugs
angezeigt, sondern lediglich herausgestellt, daß die genannten Arten von Erkenntnis
auf einen externen Gegenstand bezogen sind. Von diesen ist jenes Denken zu un-
terscheiden, daß nach dem Erwerb intelligibler Formen, d. h. nach dem lamh²meim,
im Besitz jener ist, mit diesen identisch geworden ist und auf der Stufe einer ,ersten
Entelechie‘die erworbenen Inhalte betrachten (heyqe?m) kann, wann immer es dieses
62 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Schon hier zeichnet sich ab, daß der oben skizzierte anspruchsvolle
Begriff von Intentionalitt nicht angemessen ist, um das, was Aristoteles als
Spezifikum der Wahrnehmung ansieht, interpretatorisch adquat zu er-
fassen: Aristoteles stellt in den angefhrten Passagen lediglich den kogni-
tiven Zugang zum externen Gegenstand heraus und fhrt nicht schon so
etwas wie Wahrheitsbedingungen oder semantische Normativitt ein. Das
wird noch deutlicher, wenn wir einen Schritt weitergehen und uns kurz der
Debatte darber zuwenden, wie Aristoteles dieses unterscheidende Merkmal
der Wahrnehmung zu erklren versucht. (Das unterscheidet ihn von einem
naiven Direkten Realismus.) Aristoteles belßt es ja in De an. III 8 nicht bei
der Aussage, daß die Seele ,irgendwie alles‘ ist, sondern stellt auch die Frage,
wie dies mçglich ist (p_r d³ toOto). Fr die aisthetische Bezugnahme scheint
Aristoteles in De an. II 12 mit der berchtigten Formel von der ,Aufnahme
der wahrnehmbaren Formen ohne die Materie‘, mit der er das Wahrneh-
mungsvermçgen definiert, irgendeine Art von Erklrung zu skizzieren.15
Diese Formel wird noch an anderen Stellen erklrend eingesetzt (III 2,
425b23 f.; III 12, 434a29 f.) und markiert den Unterschied zu den nicht-
kognitiven Wesen, die „zusammen mit der Materie erleiden“ (II 12,
424b1 ff.). Die Formel wird gegenwrtig im Rahmen einer Debatte um
Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie diskutiert, in der es darum geht, ob sich

will, sofern nicht ußere Umstnde hindern (De an. II 5, 417a29, b5, b23 f.). Auch
dieses heyqe?m hat einen bestimmten Gehalt: Aktualisiert es sich auf dieser Stufe,
dann denkt es nach Aristoteles „sich selbst“ (art¹m : III 4, 429b9; gegen die Lesart von
Bywater und Ross). Das kann man mit Gerson (2009, 79) so interpretieren, daß sich
der Denkende der in seinem Intellekt prsenten Formen bewußt wird und diese Prsenz
beruht im Fall der,Formen ohne Materie‘auf einer realen Identitt zwischen Denken
und Gedachtem, im Fall der ,Formen in Materie’ nur auf einer formalen Identitt.
Wenn der Denkende die noetischen Formen kennt, dann ist er mit den intelligiblen
Gegenstnden auf eine bestimmte Weise identisch; der Intellekt ist ja vor dem
Wissenserwerb nichts anderes als reine Potenz, er hat keine eigene Bestimmtheit.
Denkt er sich selbst, dann denkt er damit die von ihm aufgenommenen intelligiblen
Gehalte. Dagegen ist das Sich-selbst-Denken Gottes nicht an eine vorherige Auf-
nahme intelligibler Gehalte gebunden; es denkt in exklusiver Weise sich selbst (Met.
XII 9, 1074b38 – 1075a5). Das !e· %kkou bringt also nicht das spezifische Merkmal
aller kognitiven Vermçgen zum Ausdruck, berhaupt auf etwas bezogen zu sein oder
einen bestimmten Gehalt zu haben, sondern nur den externen Gegenstandsbezug, in
dem sich Wahrnehmung, Meinung und empirisches Wissen vom Betrachten der
noetischen Formen unterscheiden. In beiden Fllen haben wir es mit gehaltvollen
Ttigkeiten zu tun.
15 Dagegen zieht Putnam (2000, 8) die Mçglichkeit in Betracht, daß es sich hier le-
diglich um eine vor-theoretische Redeweise handelt, die ausdrckt, daß wir uns in
der Wahrnehmung der Eigenschaften externer Gegenstnde bewußt sind.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 63

fr Aristoteles berhaupt die Frage nach einer Erklrungsbedrftigkeit und


Erklrbarkeit der Wahrnehmung als einer gehaltvollen und bewußten see-
lischen Ttigkeit stellt und, wenn ja, welche Art von Erklrung er entwickelt
und ob diese systematisch akzeptabel ist. Interessant ist diese Frage vor allem
vor dem Hintergrund der gegenwrtigen Philosophie des Geistes, in der es
hauptschlich um die Integrierbarkeit mentaler Phnomene in ein natur-
wissenschaftliches Weltbild geht.16 Bevor ich im Folgenden genauer auf die
Formel von II 12 eingehe, skizziere ich kurz die Debatte um Aristoteles’
Theorie des Wahrnehmungsvorgangs.17
Aristoteles behandelt den Wahrnehmungsvorgang innerhalb von De an.
II 5 – III 2 mit dem begrifflichen Instrumentarium seiner Physik (Phys. III
1 – 3; Gen. corr. I 4 und I 7): Das Wahrnehmen vollzieht sich „im Be-
wegtwerden und Erleiden“ (1m t` jime?sha¸ te ja· p²sweim sulba¸mei : De an.
II 5, 416b33 f.), das genauer als „eine Art von qualitativer Vernderung“
bestimmt wird (alloisis tis: 416b34 f.; II 4, 415b24). Zentral fr Aristoteles’
allgemein-strukturelle Beschreibung des Wahrnehmungsvorgangs ist der
Gedanke, daß sich der Wahrnehmende in irgendeiner Weise dem Gegen-
stand der Wahrnehmung angleicht. Das wird mit Hilfe folgender Formeln
erlutert, die der allgemeinen Lehre vom Wirken und Leiden entnommen
sind: (i) Das, was wahrnehmen kann18, ist potentiell das, was der wahr-
nehmbare Gegenstand schon aktual ist (II 5, 418a3 f.). (ii) Wird es von
einem Wahrnehmbaren affiziert, ist es nach dem Erleiden dem Gegenstand
„angeglichen und wie jener“ (¢lo¸ytai ja· 5stim oXom 1je?mo : II 5, 418a5 f.),
also dem Gegenstand in irgendeiner Weise assimiliert.19 (iii) Das Erleiden
(paschein), auf dem diese Angleichung an den Gegenstand beruht, ist von
besonderer Art: Hier liegt nicht der herkçmmliche Fall von qualitativer
Vernderung vor, wo eine bestimmte Qualitt verloren geht und durch eine
andere ersetzt wird. Vielmehr handelt es sich eher um „eine Bewahrung
(sytgq¸a) des dem Vermçgen nach Seienden durch das der Wirklichkeit
nach Seiende“ oder eine „Steigerung in sich selbst und in eine Wirklichkeit“

16 Vgl. Beckermann 2001, Kap.1


17 Vgl. hierzu den exzellenten berblick in Caston 2005.
18 Es ist unter den Interpreten umstritten, ob aQshgtijºm hier das beseelte Organ oder
bloß das seelische Vermçgen meint. Ich mçchte mich hier nicht festlegen und whle
eine neutrale bersetzung (vgl. auch Burnyeat 2002, 44 Fn. 41).
19 Aristoteles nimmt hier Bezug auf seine allgemeine Analyse des Wirkens und Leidens
in Gen. corr. I 7: Nur solche Dinge kçnnen aufeinander eine Wirkung ausben, die
der Gattung nach gleich, der Art nach aber verschieden sind (323b32 ff.). Das
Leidende wird dem Wirkenden angeglichen und diese Angleichung ist eine Ent-
stehung zum jeweiligen kontrren Zustand (324a10 ff.).
64 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

(II 5, 417b2 – 7): So wie jemand, der schon ein bestimmtes Wissen besitzt
und dieses fr die Betrachtung bloß abrufen muß, so wird beim Wahr-
nehmenden unter Einfluß des externen Gegenstands das angeborene Ver-
mçgen nur noch aktualisiert, ohne daß dieses dabei verlorenginge; es wird
vielmehr bewahrt. Derjenige, der wahrnehmen kann, befindet sich wie der
schon Wissen Besitzende auf der Stufe der ,ersten Entelechie‘: Das aktuale
Wahrnehmen wird „auf gleiche Weise ausgesagt wie das Betrachten“ (II 5,
417b18 f.). Fr diese zweite Art von Vernderung ist der Begriff ,Vern-
derung‘ nicht mehr angemessen; da aber ein geeigneter Terminus fehlt,
mssen die herkçmmlichen Begriffe ,Erleiden‘ und ,Vernderung‘ in einer
anderen Bedeutung weitergebraucht werden, als ob sie eigentlichen Be-
zeichnungen wren (II 5, 418a3). Diese besondere Art des Erleidens fhrt zur
Angleichung des Vermçgens an den Gegenstand. (iv) Schließlich definiert
Aristoteles die Wahrnehmung als dasjenige, was ,die wahrnehmbaren For-
men ohne die Materie aufnehmen kann‘ im Unterschied zu den Pflanzen, die
„zusammen mit der Materie erleiden“ (II 12, 424a17-b3). Wie wir schon
gesehen haben, fungiert die Form bei den kognitiven Vermçgen als In-
strument der Angleichung an den Gegenstand. Der Zusatz „ohne die Ma-
terie“ scheint einen Erklrungswert zu besitzen, wie eine bewußte Bezug-
nahme auf den externen Gegenstand mçglich ist. Auf diese Formeln kann
hier im einzelnen nicht weiter eingegangen werden, entscheidend ist hier
nur, daß Aristoteles das allgemeine Modell der Vernderung, wie er es in der
Physik entfaltet, fr die Wahrnehmung modifiziert und damit ihrem Spe-
zifikum – Bewußtwerdung einer externen Qualitt – auch auf einer ex-
planatorischen Ebene Rechnung trgt.20 Interpretatorisch umstritten ist
nun, in welchem Maß das allgemeine Modell der Vernderung in Bezug auf
die Wahrnehmung als einer bewußten und gehaltvollen Ttigkeit modifi-
ziert wird.
Nach Burnyeat handelt es sich bei der alloisis tis von II 5 um eine
vollkommen andere Art von Vernderung21, in welcher der Wahrnehmende
dem Gegenstand bloß in einem kognitiven Sinn assimiliert wird. Hier
passiert nichts anderes, als daß sich der Wahrnehmende einer bestimmten
wahrnehmbaren Qualitt bewußt wird, ohne daß dabei irgendwelche ma-
teriellen Prozesse im Organ ablaufen, die dem Wahrnehmungsvorgang

20 Die beiden Kapitel II 5 und II 12, in denen sich diese Formeln finden, sind fr die
Wahrnehmungsabhandlung von De anima von grundlegender Bedeutung: In
beiden soll „allgemein“ (joim0 ; jahºkou) „ber jede Wahrnehmung“ (peq· p²sgr
aQsh¶seyr) etwas gesagt werden (417a32 f.; 424a17).
21 Burnyeat 2002, 36 f., 46.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 65

zugrundeliegen und durch die er erklrt werden kçnnte; wir kçnnen ihn nur
in phnomenalen Begriffen beschreiben.22 Mit dem herkçmmlichen Begriff
der Vernderung23 hat diese alloisis tis nur noch den rezeptiven Bezug auf
den externen Gegenstand gemeinsam.24 Wenn das Kapitel II 5 mit den
Formeln der Potentialitt (i) und der Assimilation (ii) abgeschlossen wird
(418a3 – 6), dann liegt hier ein gegenber der Analyse des Wirkens und
Leidens in Gen. corr. I 7, 324a10 – 13 vollkommen anderer Sinn vor.25
Burnyeat sttzt sich fr diese Interpretation zum einen auf die mit der Formel
(iii) eingefhrte zweite Art von Vernderung, von der Aristoteles sagt, daß sie
keine Vernderung mehr ist oder zumindest eine „andere Gattung von
Vernderung“ darstellt (417b6 f.).26 Aristoteles siedelt das Wahrneh-
mungsvermçgen auf der Stufe einer ,ersten Entelechie‘ an, woraus folgt, daß
das aktuale Wahrnehmen in gleicher Weise ausgesagt wird wie das Be-
trachten, d. h. wie das bloße Aktualisieren eines erworbenen Wissens, bei
dem diese hexis nicht verlorengeht. Diese Gleichsetzung faßt Burnyeat als
eine vollstndige und erschçpfende Klassifikation des Wahrnehmungs-
vorgangs im ganzen auf: Wenn dieser mit der stÞria, der zweiten Art von
Vernderung, gleichgesetzt wird, dann sind Vernderungen der ersten Art, in
der bestimmte Qualitten ,untergehen‘ und durch andere ersetzt werden
(417b3), fr den Wahrnehmungsvorgang prinzipiell ausgeschlossen.27 Der
zweite Bezugspunkt einer solchen Interpretation, nach der wir uns im
Wahrnehmen bloß einer externen Qualitt bewußt werden, ohne daß damit
materielle Prozesse im Wahrnehmungsapparat einhergehen wrden, ist die

22 Burnyeat 1992, 21, 22: „the effect on the organ is the awareness, no more and no
less“. Burnyeat rumt hier lediglich ,stabile‘ organische Bedingungen ein (1992, 22;
2002, 75).
23 Aristoteles macht auf den theoretischen Rahmen von Phys. III 1 – 3, in dem die
Analyse von De an. II 5 vorerst verstanden werden soll, explizit aufmerksam: „In
einem ersten Schritt laßt uns also sprechen, als ob das Erleiden und das Bewegt-
werden und das Ttigsein dasselbe sind. Denn auch die Bewegung ist eine Art
Ttigkeit (1m´qcei² tir), wenn auch eine unvollendete, wie in anderen Schriften
gesagt worden ist“ (417a14 – 17).
24 Burnyeat 2002, 58.
25 Burnyeat 2002, 46, 73 f.: „But what it means for the perceiver to be potentially such as
the sensible object is actually, to be affected and altered by the sensible object, so as to
be assimilated to it – all of that is dramatically different from what it would have been
before […] By the end of II 5 the familiar theorems from De Generatione et Cor-
ruptione I 7 and Physics III 1 – 3 have been filled with a whole range of new meanings
undreamed of in earlier philosophy.“
26 fpeq C oqj 5stim !kkoioOshai…C 6teqom c´mor !kkoi¾seyr
27 Burnyeat 2002, 77 – 83.
66 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Formel (iv). Hier macht Aristoteles ber die Wahrnehmung die allgemeine
Aussage, daß sie „das Aufnahmefhige fr die wahrnehmbaren Formen ohne
die Materie“sei (424a18 f.) im Unterschied zu den Pflanzen, die „zusammen
mit der Materie erleiden“ (p²sweim let± t/r vkgr : 424b2). Interpreten, die in
der Tradition des Thomas von Aquin stehen, haben Aristoteles so inter-
pretiert, daß der Ausdruck ,ohne die Materie‘ eine besondere Weise der
Aufnahme der wahrnehmbaren Form bezeichnet, wie sie in der bewußten
Wahrnehmung eines externen Gegenstands vorliegt. Diese Aufnahme
grndet sich auf eine besondere Seinsweise, die eine wahrnehmbare Form
haben kann. Nach Thomas hat eine wahrnehmbare Form in ihrem Trger ein
,natrliches Sein‘ (esse naturale), im Wahrnehmenden dagegen ,intentio-
nales oder geistiges Sein‘ (esse intentionale sive spirituale). Wird die Form
gemß ihrem esse naturale aufgenommen, findet eine ,natrliche Vernde-
rung‘ (immutatio naturalis) im Aufnehmenden statt (etwa wenn Holz erhitzt
wird), wird sie dagegen gemß ihrem esse spirituale aufgenommen, findet
eine ,geistige Vernderung‘ (immutatio spiritualis) im Aufnehmenden statt,
durch die eine ,intentio‘ der wahrnehmbaren Form im Organ entsteht.28 In
diesem Sinn unterstellt Owens Aristoteles eine besondere Weise des Seins,
mit der eine besondere Weise der Vernderung verbunden ist29 : Wenn eine
Wand die Form des Roten aufnimmt, wird diese im literalen Sinn rot; der
Mensch dagegen kann diese Form in einer Weise aufnehmen, ohne literal rot
zu werden: Er wird mit dem jeweiligen Gegenstand kognitiv identisch und
diese kognitive Identitt wird hergestellt durch die Form, wenn sie „ohne die
Materie“ aufgenommen wird.30 Der Ausdruck ,ohne die Materie‘ darf nach
dieser Interpretation nicht so verstanden werden, als ob er sich auf die
Materie des wirkenden Gegenstands bezieht, die nicht aufgenommen wird;
das trifft auf jeden physischen Prozeß zu, kann also kein Spezifikum ko-

28 S.Th. q. 78 a. 3 corpus. Hierzu genauer Perler (2004), der zu Recht darauf hinweist,
daß ,spirituale‘ nicht quivalent ist zu ,immateriell‘, sondern die „Existenzweise in
einer kognitiven Relation zu etwas anderem“ bezeichnet, die jeweils von der Natur des
Aufnehmenden abhngig ist (47).
29 Vgl. Owens 1980, 18: „to be a cow in the actuality of cognition need not at all have
the same sense of being as that of existence in physical reality. Yet in the Aristotelian
context, on account of the multisignificance of being, this can be a genuine kind of
being, a true existence of its own type.“ Vgl. Owens 1981: „Explanation of cognition
as a special way of being appears in Aristotle without traceable ancestry“ (74); „in this
case the becoming is recognized as a kind different from the physical type […] It does
not consist in an alteration or a modification of the faculty. It is a different type of
coming into being“ (76).
30 Owens 1980, 24: „What is received in the soul is not the material thing, but the form
that makes the percipient be that thing“; Owens 1981, 78 f.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 67

gnitiver Vorgnge sein.31 Ebensowenig kann die Materie des Aufnehmenden


gemeint sein; die Wahrnehmung basiert ja auf bestimmten (stabilen) phy-
siologischen Bedingungen (wie der transparente Zustand der korÞ).32 Daraus
muß geschlossen werden, daß sich der Ausdruck ,ohne die Materie‘ auf eine
besondere Art der Aufnahme der wahrnehmbaren Form beziehen muß, wie
sie in der kognitiven Beziehung auf den wahrnehmbaren Gegenstand vor-
liegt. Burnyeat unterscheidet sich von diesem thomasischen Ansatz insofern,
als er an der besonderen Weise einer ,spirituellen Vernderung‘ festhlt, die
ontologische Prmisse einer besonderen Seinsweise aber aufgibt. Das
Wahrnehmen ist nichts anderes als ein bloßer Akt des Bewußtwerdens der
externen Qualitt, ohne daß sich dabei die physische Basis des Aufneh-
menden in der Weise verndert, daß sie dadurch die externe wahrnehmbare
Form in derselben Weise (,literal‘) besitzt wie der wahrnehmbare Gegen-
stand selbst.33
Im Gegensatz zu einer solchen ,spiritualistischen Interpretation‘ be-
ziehen sich nach der ,literalistischen Interpretation‘ alle oben angefhrten
Formeln (i)-(iv) auf einen physiologischen Prozeß im Sinnesorgan34, der –
im Sinne des Verhltnisses von Materie und Form – der Wahrnehmung als
einer gehaltvollen und bewußten Ttigkeit zugrundeliegt. Demnach han-
delt es sich um eine literale Assimilation an den Gegenstand, um eine
prinzipiell beobachtbare physiologische Vernderung des Organs. Das
Organ wird hier in einer Weise verndert, daß es die externe Qualitt ent-
weder in genau derselben Weise besitzt wie der externe Gegenstand oder
zumindest in einer abgeleiteten Weise, wie etwa das an sich transparente
Innere des Auges durch die ,geliehene Farbe‘35 gefrbt ist. Im Unterschied zu

31 Vgl. Thomas von Aquin, In De Anima II, 24: „Agens autem agit per suam formam, et
non per suam materiam; omne igitur patiens recipit formam sine materia“; vgl.
Owens 1980, 22; Owens 1981, 77, 92; Burnyeat 1992, 24; Burnyeat 2001.
32 Burnyeat 1992, 23.
33 Burnyeat 1992, 24; 2001, 140: „The patient receives a sensible form without matter
when it becomes like the agent in form without becoming similarly disposed in
matter. The patient is red or warm in a way, but not in the way the agent is. The
sensible forms red and warmth are present in the perceiver in a different manner from
the manner they are present in the object perceived.“
34 Etwa Sorabji 1992, 209 – 214.
35 Sorabji 1992, 212; Sorabji 2001, 53: „So that it may take on alien colour during
perception.“ Es ist das Verdienst von Caston (2005, 250 – 253), mit aller Klarheit
darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß sich Sorabji in diesem Punkt von anderen
literalistischen Interpreten (z. B. Everson) unterscheidet: Das Auge verndert sich
nicht in seiner materiellen Beschaffenheit, so daß es die Qualitt in derselben Weise
wie der externe Gegenstand intrinsisch besitzen wrde (wie die Tomate die rote
68 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Burnyeat ist die in II 5 eingefhrte zweite Art von Vernderung gegenber


der herkçmmlichen Bedeutung nicht radikal verschieden und gilt auch fr
unbeseelte Entitten, stellt also keine besondere Klasse von Vernderungen
dar.36 Auch wenn man sie allein auf die Form des Lebewesens, also die ais-
thetische Seele, bezieht, sind materielle Prozesse nicht ausgeschlossen, ja
sogar notwendig.37 Auch II 12 kann im Sinne eines rein natrlichen Vor-
gangs verstanden werden, wenn vorausgesetzt wird, daß (fr einige Vorso-
kratiker) Pflanzen tatschlich externe Materie beim Erwrmen aufneh-
men38 : Demgegenber wrde in der Wahrnehmung keine Materie des
wahrgenommenen Gegenstands aufgenommen werden, sondern es wrde
nur eine physische Vernderung des Organs stattfinden, durch die es die
externe Qualitt in sich repliziert. Auf der Grundlage dieser literalen An-
gleichung des Organs wrde sich dann der Wahrnehmende auf den vor-
liegenden Gegenstand beziehen.

Farbe), sondern es ist lediglich extrinsisch gefrbt. Dennoch handelt es sich um eine
wirkliche, literale Frbung.
36 Sorabji 1992, 221: „I presume that the point could even be extended to a purely
physical switch, such as a rock’s switching from its perch on a ledge to falling in the
direction of its natural position, just so long as that could be viewed as a switch
towards its true nature.“ Vgl. auch Everson 1997, 93; Rapp 2001, 70 f.
37 Daraus kçnnte sich ein latenter Dualismus ergeben, in dem Sinne, daß im aktualen
Wahrnehmen sowohl materielle Prozesse im Organ im Sinne der ersten Art von
Vernderung (vhoq² tir rp¹ toO 1mamtíou) als auch eine bloße Aktivierung des
Vermçgens im Sinne der zweiten Art von Vernderung (sytgq¸a) stattfinden. Ge-
rade das Beispiel des Baumeisters (417b9) macht klar, daß Bauen nicht bloß aus der
Aktivierung eines bestimmten erworbenen Vermçgens besteht, sondern hier zahl-
reiche materielle Vernderungen involviert sind (vgl. Caston 2005, 268). Dennoch
scheint mir gerade bei der Wahrnehmung der Zusammenhang zwischen Prozessen,
die mit dem Wahrnehmen einhergehen, und der stÞria-haften Aktivierung des
Vermçgens enger zu sein (allgemein: Sens. 436b6 f.). Das wird deutlich, wenn man
sich klarmacht, daß ein seelisches Vermçgen eine Form ist und als solche eine
spezifische Urschlichkeit besitzt (vgl. De an. II 1 – 3, besonders 415b8 – 27). Die
Urschlichkeit der aisthetischen Seele besteht ganz allgemein darin, die Prozesse zu
steuern, die fr eine bewußte Wahrnehmung erforderlich sind (z. B. die Aufrecht-
erhaltung eines bestimmten organischen Mittelzustands: De an. II 11, 424a4 ff.).
Diese spezifische seelische Urschlichkeit ist es, die den Wahrnehmungsvorgang zu
einer alloisis tis macht und fr den organischen und kognitiven Charakter dieses
Vorgangs verantwortlich ist. Die seelische Aktivitt schlgt sich in dieser besonderen
Art von Vernderung nieder und ist m. E. kein real distinktes Ereignis (etwa ein
,mental event‘) – so wie auch die aisthetische Seele etwas in dem Organ ist und von
diesem nur „dem Sein nach“ verschieden ist (II 12, 424a24 – 28).
38 Sorabji 1992, 217. Vgl. auch Hicks 1907, 419.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 69

Mit diesen beiden Interpretationsrichtungen sind zwei unterschiedliche


systematische Anliegen verbunden, welche die Frage nach der Erklrbarkeit
der kognitiven Eigenschaften der Wahrnehmung betreffen: In der litera-
listischen Interpretation lßt sich ein physiologischer Prozeß isolieren, der
nach seinem Verhltnis zur Wahrnehmung als einer gehaltvollen und be-
wußten Ttigkeit befragt werden kann. Dieses Verhltnis kçnnte man im
Sinne des Aristotelischen Hylemorphismus39 und seinem Grundsatz, daß
das Wahrnehmen Kçrper und Seele gemeinsam zukommt40, so bestimmen,
daß die Wahrnehmung ,in‘diesen physiologischen Vernderungen ,besteht’,
ohne gleichzeitig auf diese reduzierbar zu sein. Die physiologischen Prozesse
verhalten sich dann zum Merkmal der bewußten Bezugnahme wie die
Materie zur Form.41 Damit wird Aristoteles fr die gegenwrtige Philosophie
des Geistes interessant; aus seiner philosophischen Psychologie scheint sich
eine konsistente und berzeugende Position gewinnen zu lassen, die in die
gegenwrtige Debatte um die Integrierbarkeit mentaler Phnomene in ein
naturwissenschaftliches Weltbild eingebracht werden kann. Das setzt jedoch
voraus, daß Aristoteles psychische Phnomene durch Rekurs auf materielle
Vernderungen fr erklrbar hlt.42 Einer solchen systematischen Inan-
spruchnahme, die in frheren Jahren in Aristoteles vor allem den Ahnherrn
des Funktionalismus sah, tritt Burnyeat mit seiner Interpretation ent-
schieden entgegen. Anhand seiner Interpretation von Aristoteles’ Wahr-
nehmungstheorie mçchte er zeigen, daß Aristoteles ein vollkommen anderes
Materie-Verstndnis hat, das fr die gegenwrtige Philosophie des Geistes,
die von einem cartesischen Materie-Verstndnis ausgeht, nicht mehr
glaubhaft ist. Die Aristotelische Physik basiere auf der Annahme irreduzi-
bler, kausal eigenstndiger Qualitten, deren Agieren nicht durch Bezug-
nahme auf materielle Vorgnge erklrt werden kçnne. Daß ein natrlicher
Kçrper ber Bewußtsein verfgt, sei fr Aristoteles ein factum brutum, das
weder erklrungsbedrftig noch erklrbar ist, da fr ihn bestimmte Typen

39 Fr die Aristotelische xuw¶ mit Ausnahme des moOr gilt: (1) Abhngigkeit/Nicht-
Abtrennbarkeit von der Materie: De an. II 1, 412b6 ff.; II 1, 413a3 f.; II 2, 413b27 f.
(2) Irreduzierbarkeit: De an. II 2, 414a19 – 22; Met. VII 17, 1041b11 – 33. (3)
substantielle Urschlichkeit: De an. II 1, 412a19 ff.; II 2, 413b11 ff.; II 4, 415b8 –
416a18.
40 De an. I 1, 403a3 – 7; Sens. 436a7 f., b1 – 8.
41 Sorabji 1974, 68 f.; Nussbaum/Putnam 1992, 40 f.
42 Ich kann in dieser Untersuchung nicht auf die grundstzliche Frage eingehen, was es
fr Aristoteles heißt, ein seelisches Phnomen zu erklren und was genau Anspruch
und Methode seiner philosophischen Psychologie ist, die ja Teil der Naturphilo-
sophie ist (De an. I 1, 402a1 – 17).
70 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

von Materie schon essentiell wahrnehmungsfhig sind.43 Aristoteles fehle


jegliches Bedrfnis, seelische Zustnde wie die Wahrnehmung durch ma-
terielle Prozesse zu erklren und damit in ein bestimmtes naturwissen-
schaftliches Weltbild zu integrieren, was sich besonders an seiner Wahr-
nehmungstheorie zeigen lasse.44 Burnyeat kommt zu dem Ergebnis, daß
Aristoteles’ philosophische Psychologie aus heutiger Sicht keinerlei syste-
matische Attraktivitt besitzt.
Gegen beide Interpretationsrichtungen lassen sich grundlegende Ein-
wnde vorbringen: So wurde gegen den Spiritualismus immer wieder an-
gefhrt, daß es sich beim Wahrnehmen um eine Ttigkeit handelt, die Seele
und Kçrper gemeinsam zukommt (De an. I 1, 403a5 ff.; Sens. 436b1 – 8);
deshalb mßten auch physiologische Prozesse involviert sein, in denen der
Wahrnehmungsvorgang besteht, ohne auf diese reduzierbar zu sein. Gegen
den Literalismus, der davon ausgeht, daß die wahrgenommene Qualitt
nach dem Erleiden auch dem Organ in einem univoken Sinn zukommt,
kçnnen Aristoteles’ eigene Aussagen gegen die Annahme solcher Replika (De
an. I 5, 409b23 – 410a13) sowie berhaupt absurde Konsequenzen45 an-
gefhrt werden. Eine alternative Interpretation, welche die gegen beide
Seiten vorgebrachten Einwnde vermeidet, ist die von Victor Caston. Nach
ihm wird die externe Qualitt im Organ nicht repliziert, sondern nur in
einem analogen Sinn aufgenommen: Der Wahrnehmende durchluft eine
physiologische Vernderung, in der sein Organ bloß in einer bestimmten
Hinsicht dem ußeren Gegenstand hnlich wird: Die Proportion, welche die
jeweilige Qualitt des Gegenstands konstituiert46, wird innerhalb der phy-
siologischen Vernderung des Organs durch ein anderes Paar kontrrer
Qualitten exemplifiziert, so daß das Organ mit der externen Qualitt bloß

43 Burnyeat 1992, 19: „One might say that the physical material of animal bodies in
Aristotle’s world is already pregnant with consciousness, needing only to be awa-
kened to red or warmth.“
44 Burnyeat 1992, 22: „For Aristotle such capacities are part of animal life and in
Aristotle’s world the emergence of life does not require explanation.“
45 Die Replika im Augeninneren (korÞ) mßten dann ebenfalls ber bestimmte koina
aisthÞta verfgen, etwa ber eine bestimmte Grçße und Gestalt.
46 Nach Aristoteles ist jede aisthetische Gattung (also die Gegenstnde des Gesichts-
sinns, Gehçrs, Geruchs, Geschmacks- und Tastsinns) durch ein bestimmtes Paar
kontrrer Qualitten konstituiert (außer beim Tastsinn, wo es mehrere Gegen-
satzpaare gibt: De an. II 6, 418a16). Die idia aisthÞta ergeben sich durch die Mi-
schung der jeweiligen kontrren Qualitten in einer bestimmten Proportion
(Sens. 442a12 – 29).
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 71

in dieser durch einen bestimmten Typ von Bewegung bermittelten47


Proportion bereinkommt. Auf der Grundlage dieser bloß analogen hn-
lichkeit, also dieser homoiotÞs tis (vgl. EN VI 2, 1139a10 f.), kann sich dann
der Wahrnehmende auf den externen Gegenstand beziehen.48
Nach dieser kurzen Skizze der Debatte um Aristoteles’ Wahrneh-
mungstheorie gehen wir nun auf die umstrittene Passage von II 12 genauer
ein. Bei allen interpretatorischen Divergenzen scheint soviel klar zu sein, daß
Aristoteles in diesem Abschnitt den oben beschriebenen kognitiven Cha-
rakter des aisthetischen Bezugs in irgendeiner Weise erklrt oder zumindest
erlutert; die Formel (iv) und das anschließende Siegelring-Wachs-Beispiel
haben irgendeinen Erklrungswert fr die spezifisch aisthetische alloisis. Es
soll im Folgenden um eine genaue Interpretation des Siegelring-Wachs-
Beispiels gehen. Dabei wird die Frage leitend sein, was genau durch dieses
Beispiel erklrt oder verdeutlicht werden soll.
„Allgemein muß man aber ber jede Wahrnehmung feststellen, daß die
Wahrnehmung das Aufnahmefhige fr die wahrnehmbaren Formen ohne die
Materie ist, wie z. B. das Wachs das Siegel des Rings ohne das Eisen und das Gold
aufnimmt, es nimmt das goldene oder eherne Siegel an, aber nicht insofern (der
Ring) Gold oder Erz ist. In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung
jedes einzelnen (Wahrnehmbaren49) von dem, was Farbe oder Geschmack oder
Ton hat, aber nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird,
sondern insofern (es) ein dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit
(jahºkou d³ peq· p²sgr aQsh¶seyr de? kabe?m fti B l³m aUshgs¸r 1sti t¹ dejtij¹m
t_m aQshgt_m eQd_m %meu t/r vkgr, oXom b jgq¹r toO dajtuk¸ou %meu toO sid¶qou
ja· toO wqusoO d´wetai t¹ sgle?om, kalb²mei d³ t¹ wqusoOm C t¹ wakjoOm
sgle?om, !kk’ oqw Ø wqus¹r C wakjºr7 blo¸yr d³ ja· B aUshgsir 2j²stou rp¹ toO

47 Hier kann sich Caston vor allem auf die analogen Bewegungen von Mem. 452b11 –
16 berufen, mit denen Aristoteles das Erkennen großer und entfernter Dinge erklrt
(vgl. Caston 1998, 260 – 263): „denn man denkt große und entfernte Dinge nicht
dadurch, dass man das Denken dorthin ausstreckt, so wie manche es vom Ge-
sichtssinn behaupten (denn auch, wenn sie nicht existieren, muss man sie in gleicher
Weise denken), sondern durch eine Bewegung in Proportion dazu; denn in ihr sind
die gleichen Figuren und Bewegungen mçglich. Worin besteht nun der Unterschied,
wenn man die grçßeren Dinge denkt, oder aber jene denkt, die kleiner sind? Denn
alles Innere ist kleiner, und zwar so, dass es in Proportion steht [zu dem ußeren]“
(bers. King).
48 Caston 2005, 316: „Aristotle seems committed to there being some physiological
change in perception, without its necessarily resulting in a replica of the perceptible
quality. That is just what it is for a form to be received without the matter: infor-
mation about the object is transmitted by preserving only certain aspects of its form,
thus effecting transduction. For Aristotle, proportions provide the relevant, infor-
mation-bearing feature in a range of cases“.
49 Vgl. Hicks 1907, 416.
72 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

5womtor wq_la C wul¹m C xºvom p²swei, !kk’ oqw Ø 6jastom 1je¸mym k´cetai, !kk’
Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m kºcom)“ (De an. II 12, 424a17 – 24; bers. Caston mit
nderungen).
Die Formel wird von Aristoteles mit dem Siegelring-Wachs-Beispiel er-
lutert. Ich fasse das Siegelring-Wachs-Beispiel als Element eines Vergleichs
auf, mit dem etwas an der Wahrnehmung verdeutlicht werden soll. Das
Wachs ist kein genuiner Fall einer ,Aufnahme der Form ohne die Materie‘.
Das Beispiel wird auch in Aristoteles’ Gedchtnislehre bloß als Veran-
schaulichung verwendet (Mem. 450a30-b11) und berhaupt in der Klas-
sischen Antike gerne zur Verdeutlichung kognitiver Phnomene herange-
zogen (vgl. Theaitet 191a-e). Betrachten wir erst einmal das Beispiel als
solches. Unstrittig ist, daß das Wachs nicht die Materie des Siegelrings, also
die Materie des Agenten, aufnimmt und dadurch selbst etwa ehern wird:
„wie z. B. das Wachs das Siegel des Rings ohne das Eisen und das Gold
aufnimmt“. Doch das scheint nicht der Punkt zu sein, den Aristoteles mit
„ohne die Materie“ deutlich machen will; die Formel wre ihrem Inhalt
nach, wie Owens zu Recht bemerkt50, unterboten. Vielmehr kommt es in
dem Beispiel auf folgendes an: „es nimmt das goldene oder eherne Siegel an,
aber nicht insofern (der Ring) Gold oder Erz ist (!kk’ oqw Ø wqus¹r C wak-
jºr).“51 Das kçnnen wir so interpretieren, daß das Zeichen des Siegelrings
nicht als materialisiertes, nmlich als Zeichen eines goldenen oder ehernen
Rings, sondern rein nach seiner geometrisch beschreibbaren Beschaffenheit
oder Form aufgenommen wird: An dem im Wachs eingeprgten Zeichen
lßt sich nicht erkennen, mit welcher Art von Materie es im Siegelring
verbunden ist. Dennoch vollzieht sich diese rein ,formale‘Aufnahme in einer
realen qualitativen Vernderung des Wachses, was in Mem. 450a30 ff.52
deutlich wird. Im folgenden Satz fhrt Aristoteles den Gesichtspunkt, auf
den es ihm bei diesem Vergleich ankommt, noch genauer aus:
„In gleicher Weise aber erleidet auch die Wahrnehmung jedes einzelnen
(Wahrnehmbaren) von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber

50 Owens 1980, 22; Owens 1981, 77, 92.


51 Hier kçnne man geneigt sein, sich t¹ sgle?om als implizites Subjekt zu ergnzen (also:
„und das goldene oder eherne Zeichen empfngt, aber nicht, insofern es Gold oder
Erz ist“; vgl. Theiler 1994, 47). Grammatikalisch ist aber nur mçglich, daß sich
wqus¹r C wakjºr auf b dajt¼kior bezieht (vgl. Hicks 1907, 416; Caston 2005, 301),
dem ja in erster Linie eine bestimmte materielle Beschaffenheit zukommt, dem
Siegelzeichen dagegen nur in abgeleiteter Weise.
52 „Denn die entstehende Bewegung senkt ein Zeichen ein, gleich einem Abdruck des
Wahrnehmungseffekts, hnlich wie Leute, die mit Siegelringen Siegel aufstempeln“
(bers. King).
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 73

nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern
(es) ein dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit (blo¸yr d³ ja· B aUshgsir
2j²stou rp¹ toO 5womtor wq_la C wul¹m C xºvom p²swei, !kk’ oqw Ø 6jastom
1je¸mym k´cetai, !kk’ Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m kºcom)“ (424a21 – 24).

Jeder Einzelsinn ist auf eine bestimmte aisthetische Gattung als der ihm
eigentmlichen Klasse von Gegenstnden ausgerichtet (De an. II 6; III 2,
426b8). Die einzelnen Qualitten, also die Instanzen einer aisthetischen
Spezies (z. B. ein partikulres Rot), inhrieren stets in einem konkreten
Gegenstand oder einer individuellen Substanz als ihrem Trger. Dem Ring
mit dem Siegel entspricht also der konkrete Gegenstand oder die individuelle
Substanz mit ihren aisthetischen Qualitten (rp¹ toO 5womtor wq_la C wul¹m
C xºvom), die einen bestimmten Sinn affizieren. Entscheidend hinsichtlich
der Wahrnehmung ist nun die folgende Qualifizierung: „aber nicht insofern
(es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern (es) ein
dieses solches ist und gemß der Bestimmtheit“ (!kk’ oqw Ø 6jastom 1je¸mym
k´cetai, !kk’ Ø toiomd¸, ja· jat± t¹ kºcom). Hier ist umstritten, auf was das
6jastom 1je¸mym bezogen werden muß. Ich skizziere im Folgenden drei
Mçglichkeiten, wie diese Passage verstanden werden kann:
(i) Man ergnzt als implizites Subjekt den einzelnen Gegenstand, der
bestimmte perzeptuelle Qualitten besitzt (rp¹ toO 5womtor : 424a22), und
faßt das 6jastom 1je¸mym als Prdikat auf. Das 1je¸mym versteht man so, daß es
sich auf die Klasse der konkreten Gegenstnde oder individuellen Sub-
stanzen bezieht, die dann als jeweils einzelne (Ø 6jastom) angesprochen
werden, d. h. unter dem Aspekt ihrer Partikularitt betrachtet werden.
Diesem Aspekt stellt Aristoteles das Ø toiomd¸ gegenber, das dann den
qualitativen Aspekt der konkreten Gegenstnde meint, also insofern sie
Trger bestimmter perzeptueller Qualitten sind. Wir kçnnten dann
bersetzen:
„In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes Wahrnehmbaren
von dem, was Farbe oder Geruch oder Ton besitzt, aber nicht insofern (es) als
einzelnes von jenen (individuellen Substanzen) bezeichnet wird, sondern in-
sofern (es) eine bestimmte Qualitt besitzt und gemß dem logos.“53

53 Vgl. Theiler 1994, 47: „Ebenso erleidet die Wahrnehmung (der Sinn) unter der
Einwirkung von jedem, das Farbe, Geschmack und Schall besitzt, aber nicht, in-
sofern es als jedes von ihnen gilt, sondern als so und so beschaffen und nach der
begrifflichen Form“. Vgl. Bolton 2005, 219: „Similarly, sense in each case is acted on
by the agency of that which possesses [special sensibles such as] color, or flavour or
sound but not [acted on by that object] insofar as it is said to be each of those things
[those incidental objects of perception such as a gold thing, or a bronze thing or a
ring], but only insofar as it is of that sort [e.g., colored or flavoured or resonant in a
74 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Versteht man den Abschnitt in dieser Weise, dann wird hier nichts anderes als
die Lehre aus De an. II 6 vorgetragen: Auch wenn jede wahrnehmbare
Qualitt in einer individuellen Substanz inhriert, wird das Wahrneh-
mungsvermçgen nicht von der individuellen Substanz als solcher (Ø
6jastom), sondern nur von der Qualitt (Ø toiomd¸) und ihrem kºcor – im
Sinne einer bestimmten Proportion, die fr eine bestimmte aisthetische
Qualitt konstitutiv ist – affiziert. Nur die aisthetische Qualitt ist ,an sich
wahrnehmbar‘ (jah’ art¹m aQshgtºm), whrend die individuelle Substanz
(z. B. der Sohn des Diares) lediglich ,akzidentell wahrnehmbar‘ (jat± sul-
bebgj¹r aQshgtºm) ist. Das Wahrnehmungsvermçgen erleidet nichts von
dem Gegenstand, insofern er eine individuelle Substanz ist, sondern insofern
er eine bestimmte Qualitt besitzt (II 6, 418a23 f.: oqd³m p²swei Ø toioOtom
rp¹ toO aQshgtoO).54 Damit wrde diese Passage die Bewegungsursache der
Wahrnehmung herausstellen.55 Wenn man nun annimmt, daß der Gehalt
der Wahrnehmung ausschließlich durch die Bewegungsursache festgelegt
wird, wrde aus II 12 folgen, daß wir nur die perzeptuelle Qualitt wahr-
nehmen kçnnen.56 Im Hinblick auf die Frage nach einer mçglichen Er-
klrung des Merkmals der Wahrnehmung, auf einen Gegenstand bewußt
bezogen zu sein, wre II 12 in dieser Interpretation von geringem Interesse.

certain way] as determined by its account“. Vgl. auch Hicks 1907, 105, der allerdings
nicht den einzelnen Gegenstand aus a22 als implizites Subjekt annimmt, sondern das
6jastom 1je¸mym und somit 6jastom nochmals als Prdikat verstehen muß (Hicks
1907, 416). Hierzu Caston 2005, 306.
54 Vgl. Hicks 1907, 416: „This means that the object acts upon sense not in so far as it is
a concrete object, but in so far as it is coloured or flavoured, or sonorous: e. g. when we
perceive the white rose by sight, it is not the rose qu rose, but the rose qu white,
which acts upon the sight.“ Vgl. auch Theiler 1994, 128.
55 Vgl. Bolton 2005, 219 f.: „in characterizing perception as the ‘receiving‘ of per-
ceptible form Aristotle is talking primarily about what the efficient cause of per-
ception is“.
56 So Welsch (1987, 205 f. Anm. 86) gegen Thomas von Aquin: „Aristoteles hat einzig
und allein die Frage zum Thema […] was denn nun im aisthetischen Verstehen
eigentlich aufgeht und was nicht, was also als Inhalt des Wahrnehmens aufscheint
und was demgegenber vordraußen bleibt. Und die klare und einfache Antwort und
die eindeutige Auskunft der Darlegung ist die: aufgeht die aisthetische Bestimmtheit
allein; draußen bleibt alles Trgerhafte derselben […] Es geht also durchaus um die –
von Thomas nicht erkannte – Frage, welche Inhalte sich im aisthetischen Verstehen
berhaupt abzeichnen, und nicht um die – von Thomas supponierte – Frage, was die
besondere Seinsweise solcher Inhalte im aisthetischen Verstehen im Unterschied zu
ihrer natrlichen Existenz ist. Das ,ohne‘ des Aristoteles meint ein Ausgeschlos-
sensein bestimmter Inhalte aus der Wahrnehmungssphre. In Thomas’ Auslegung
wird es zu einer Bestimmung des Wahrnehmungsmodus.“
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 75

(ii) Man ergnzt als implizites Subjekt den einzelnen Gegenstand aus
424a22 (rp¹ toO 5womtor), faßt das 6jastom 1je¸mym als Prdikat auf, bezieht
das 1je¸mym aber auf die Klasse der perzeptuellen Qualitten (also die idia
aisthÞta von 424a22). Aristoteles wrde es dann darauf ankommen, daß die
Wahrnehmung nicht insofern etwas von dem Gegenstand erleidet, als dieser
ber eine partikulre Qualitt verfgt, sondern insofern diese von einer
bestimmten strukturellen Beschaffenheit oder allgemeinen Charakteristik
ist.57 Man kçnnte dann die Passage folgendermaßen bersetzen:
„In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes Wahrnehmbaren
von dem, was Farbe oder Geruch oder Ton besitzt, aber nicht insofern (es) als
jedes von diesen (Qualitten) bezeichnet wird, sondern insofern es diese Art von
Ding ist und gemß seinem logos.“58
Aristoteles wrde demnach herausstellen, daß die gehaltvolle Bezugnahme
auf den wahrnehmbaren Gegenstand auf einer bestimmten Proportion oder
strukturellen Beschaffenheit beruht. Im Unterschied zu (i) wird hier nicht
nur eine Aussage ber die Bewegungsursache bzw. den Inhalt der Wahr-
nehmung gemacht (die als solche nicht ber II 6 hinausgehen wrde),
sondern auch eine Aussage ber die fr die Wahrnehmung spezifische Art der
Aufnahme einer Form, auf welcher die aisthetische Bezugnahme beruht.59
Nach Caston bezeichnet die Formel der ,Aufnahme der Form ohne Materie‘
eine physiologische Vernderung, in der die externe Qualitt im Organ nicht
replikativ aufgenommen wird; die Qualitt trifft nicht in demselben Sinn auf
das Organ zu, wie sie auf den wahrnehmbaren Gegenstand zutrifft. Vielmehr
besitzt das Organ die externe Qualitt nur in einem analogen Sinn, insofern es
mit dieser Qualitt nur in einer bestimmten Proportion bereinkommt,
mittels der sich der resultierende Zustand auf den externen Gegenstand
bezieht.60 Die Proportion, die die jeweilige perzeptuelle Qualitt konsti-
tuiert, wird im Organ durch ein anderes Paar kontrrer Qualitten exem-

57 Caston 2005, 306.


58 Caston 2005, 301: „Similarly in this case, the sense of each [perceptible] is affected by
what has color, or flavour, or sound, though not in so far as it is said to be each of these,
but in so far as it is this sort of thing and in accordance with its logos“.
59 Caston 2005, 306: „The sense organ receives a particular perceptible quality, such as
crimson, by being acted on by a crimson object. But it is affected not in so far as the
object is crimson, but in so far as it has a more general feature by which it is crimson –
the proportion […] that characterizes crimson and so is part of its form and account.“
60 Caston 2005, 300: „These changes essentially involve the transmission of information
or content. The resulting state is about the object, by means of a more limited kind of
likeness, through a kind of transduction or transposition of characteristics found in
the object“.
76 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

plifiziert. In dieser Interpretation wird II 12 hinsichtlich des Spezifikums der


Wahrnehmung ein grçßerer Erklrungswert zugesprochen als in Interpre-
tation (i); der Ausdruck ,ohne die Materie‘ bezieht sich auf eine besondere
Art der Rezeption einer Form, die der Wahrnehmung als einer gehaltvollen
Ttigkeit zugrundeliegt. Caston orientiert sich in seiner Interpretation am
Erklrungsideal der gegenwrtigen Philosophie des Geistes: „At issue is
nothing less than how psychological phenomena fit into the natural world
for Aristotle, and consequently whether his approach is viable one for our
own investigations.“61 Whrend nach Interpretation (i) mit dem Siegelring-
Wachs-Beispiel nichts anderes als die Bewegungsursache der Wahrnehmung
verdeutlicht wird, ist nach Interpretation (ii) unter der ,Aufnahme der Form
ohne die Materie‘ eine besondere Art von Vernderung zu verstehen, durch
die die Wahrnehmung als gehaltvolle Ttigkeit erklrt werden kann.62
(iii) Es gibt noch eine dritte Mçglichkeit, wie die obige Passage ver-
standen werden kann. Diese schließt sich an Interpretation (ii) an, ist aber
im Unterschied zu dieser weniger ambitioniert. Auch hier wird als impli-
zites Subjekt der einzelne Gegenstand von 424a22 (rp¹ toO 5womtor) an-
genommen und das 1je¸mym auf die perzeptuellen Qualitten bezogen.
„In gleicher Weise erleidet aber auch die Wahrnehmung jedes einzelnen
(Wahrnehmbaren) von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber
nicht insofern (es) als jedes einzelne von jenen bezeichnet wird, sondern insofern
(es) ein dieses solches ist und gemß der inhaltlichen Bestimmtheit.“
Im Unterschied zu Caston wird hier der Ausdruck ,Ø toiomd¸, ja· jat± t¹m
kºcom’ nicht so verstanden, daß er eine bestimmte Proportion oder struk-
turelle Beschaffenheit meint, durch die der aisthetische Bezug erklrt werden
kann, sondern vielmehr so, daß hier bloß der Inhalt der Wahrnehmung nher
charakterisiert wird. Die Entgegensetzung Ø toiomdí – Ø 6jastom ist dann
parallel zu der schon in An. Post. I 31, 87b29 (toiºmde – tºde ti) und II 19,
100a17 (jahºkou – jah’ 6jastom)63 skizzierten Unterscheidung so zu ver-

61 Caston 2005, 246.


62 Gegen eine solche ambitionierte Interpretation wendet sich Putnam (2000, 9): „a
more charitable interpretation is possible, on which Aristotle was not describing a
mechanism to explain Intentionality (an ‘account of content’ in the sense of our
present-day philosophy of language), but simply committing himself to the com-
monsense view that in sense perception we are directly aware of properties of objects
and not of representations“.
63 Darauf weist Detel (1993 II, 494) hin. In An. Post. I 31, 87b29 f. bezieht sich die
aUshgsir auf das toiºmde ja· lμ tºde ti und das aQsh²meshai auf das tºde ti ; in An.
Post. II 19, 100a17 bezieht sich die aUshgsir auf das jahºkou und das aQsh²meshai auf
das jah’ 6jastom. Von diesem jahºkou ist sowohl dasjenige im strengen Sinn (An.
2.1 Die Wahrnehmung als gehaltvoller Zustand 77

stehen, daß ein bestimmter Sinn zwar von dem einzelnen Gegenstand, in-
sofern er ber eine partikulre perzeptuelle Qualitt verfgt, affiziert wird, an
diesem Gegenstand aber die jeweilige Qualitt nicht bloß in ihrer Parti-
kularitt, sondern als ein „dieses solches“ (toiomd¸; z. B. dieses Rot)64 und
„gemß der inhaltlichen Bestimmtheit“ (jat± t¹m kºcom) wahrnimmt. So
wie das Wachs das Siegel des Rings nicht als ein materialisiertes, also goldenes
oder ehernes (!kk’ oqw Ø wqus¹r C wakjºr), annimmt, sondern rein nach
seiner Form, so nimmt die Wahrnehmung die Qualitt in ihrer allgemeinen
qualitativen Bestimmtheit wahr, also nicht bloß als die Qualitt dieser be-
stimmten Substanz.65 Innerhalb der Kategorie des Qualitativen ist somit
auch eine ,Wahrnehmung des Allgemeinen‘mçglich, nmlich des Typus, der
durch eine partikulre Qualitt instantiiert wird.66
Fr welche Interpretation man sich auch immer entscheidet, es wird
auch an dieser Stelle deutlich, daß der anspruchsvolle Begriff von Intentio-
nalitt, der mit Wahrheits- und Erfllungsbedingungen verbunden ist,
unangemessen ist, um das in der Formel von II 12 bezeichnete Spezifikum
der Wahrnehmung zu erlutern. In diesem Kapitel wird nmlich ein Kau-
salmodell 67 entfaltet, in dem ein bestimmter Wahrnehmungsgehalt immer
durch seine externe Ursache, also das aisthetische eidos, festgelegt wird: Somit
impliziert das Vorliegen eines bestimmten Gehalts notwendig das Vorliegen
eines externen Gegenstands mit einem bestimmten aisthetischen eidos, das
als Bewegungsursache68 der Wahrnehmung fungiert. In diesem Modell wird
die Bezugnahme auf Nicht-Existentes oder Abwesendes unmçglich. Nach
De an. II 12 ist es ausgeschlossen, daß es einen Wahrnehmungsgehalt gibt,

Post. I 4, 73b26 f.) als auch das undifferenziert-Allgemeine (Phys. I 1, 184a21 – 26)
zu unterscheiden.
64 Mit dem toiomd¸ ist eine demonstrative Funktion verbunden, ein ,dieses solches‘.
Man kçnnte hier auch von einem ,demonstrativen Begriff‘ sprechen (McDowell
1994, 56 – 60), wenn man ,Begriff‘ in einem weiten Sinn versteht.
65 Ich gehe davon aus, daß Eigenschaften bei Aristoteles erst durch ihre Trger indi-
viduiert werden. Vgl. im Hinblick auf das zweite Kapitel der Kategorien Oehler 2006,
220 ff.
66 Vgl. Wieland 1992, 88 Anm. 3. Nach unserer Interpretation kann dagegen das
Allgemeine innerhalb der ersten Kategorie (z. B. Speziesbegriffe wie ,Mensch‘, die
sich auf den ,akzidentell wahrnehmbaren’ substantiellen Trger einer Qualitt be-
ziehen) nicht durch die Wahrnehmung erfaßt werden. Hierzu Kap. 4.1 – 4.3
67 Vgl. Charles 2000, 115; Hamlyn 1968, 113. Wenn in dieser Untersuchung im
Hinblick auf Aristoteles von einem ,Kausalmodell der Wahrnehmung‘ gesprochen
wird, dann ist das streng zu unterscheiden von der Verwendung dieses Terminus bei
Grice oder von so etwas wie einer ,kausalen Sinnesdatentheorie‘.
68 Vgl. De an. II 7, 418a31 f. Hierzu Bolton 2005, 218.
78 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

ohne daß mit diesem ein externes aisthetisches eidos verbunden wre, das fr
diesen Gehalt kausal verantwortlich ist; es kann keine bloße ,Rotempfin-
dung‘ geben, ohne daß ein ußerer roter Gegenstand vorliegt, der diese
Empfindung verursacht. Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie, wie sie in De
an. II 5 – 12 entfaltet wird, kann daher nicht mit Hilfe des anspruchsvollen
Begriffs von Intentionalitt erlutert werden.69 Wenn wir im Folgenden vom
,Gehalt der Wahrnehmung‘ sprechen, dann in dem schon skizzierten we-
niger anspruchsvollen Sinn, einen kognitiven Zugang zur perzeptuellen
Qualitt eines externen Gegenstands zu haben.70
Aus diesem Kausalmodell der Wahrnehmung ergeben sich mindestens
zwei problematische Konsequenzen: (1) Da im kausalen Modell ein be-
stimmter Gehalt immer schon das Vorliegen der entsprechenden externen
Ursache voraussetzt – das aisthetische eidos, durch das er festgelegt wird –,
scheint es unmçglich zu sein, daß der Gehalt von der externen Ursache
abweicht (wie in der qualitativen Tuschung) oder diesem vielleicht gar
nichts in der Wirklichkeit entspricht (wie in der existentiellen Tuschung).
Wenn nun Aristoteles der Erkenntnis der verschiedenen Klassen von
Wahrnehmungsgegenstnden einen bestimmten Grad von Fallibilitt zu-
spricht (De an. III 3, 428b18 – 25), drngt sich die Frage auf, ob er nicht fr
die Erklrung dieses Phnomens sein Kausalmodell modifizieren muß und
zu irgendeiner Form von Reprsentationalismus gezwungen ist. (2) Wenn
der Gehalt allein durch die externe Bewegungsursache festgelegt wird, im
Hinblick auf das Wahrnehmungsvermçgen aber nur Qualitten, also die
aisthetischen eidÞ, kausal wirksam sind71, hat das zur Konsequenz, daß der

69 Das stellt zu Recht Caston (1998, 256 f.) heraus. Vgl. auch Rapp 2001, 78 f.
70 Vgl. auch Kahn 1966, 46: „In general, Aristotle thinks of sensation as external and
‘intentional‘, as directed towards an object outside the sentient body itself“ (46).
Auch wenn Aristoteles außerhalb von De Anima Phnomene untersucht, die als
,intentional‘ in einem anspruchsvollen Sinn bezeichnet werden kçnnten (wie z. B.
das Im-Gedchtnis-Haben als ein Bezug auf Abwesendes: Mem. 450a25-b21), so
sollte man das mit Nussbaum und Putnam eher im Sinne einer Familienhnlichkeit
verstehen als im Sinne eines intentionalen Realismus, der davon ausgeht, daß es einen
gemeinsamen Kern gibt, in dem psychische Phnomene wie Wahrnehmen, Hoffen,
Wnschen, Sich-Erinnern bereinkommen: „Aristotle’s account also seems free of
the difficulty we have just found in Brentano, namely the tendency to treat all In-
tentionality as a unitary phenomenon. In Aristotle we find instead a subtle de-
marcation of numerous species of cognition and desire, and of their interrelation-
ships“ (Nussbaum/Putnam 1992, 51).
71 Im Unterschied zur neuzeitlichen Tradition sind fr Aristoteles die jedem Sinn ei-
gentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta) irreduzibel-real und als solche kausal
wirksam (vgl. Broadie 1992).
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung 79

Wahrnehmungsgehalt auf bloß sensorisch-qualitative Inhalte beschrnkt ist.


Entitten außerhalb des Pathetisch-Qualitativen, die ,akzidentell wahr-
nehmbaren‘ Objekte, wrden dann aufgrund ihrer fehlenden Urschlichkeit
nicht in den Gehalt eingehen kçnnen. Daraus ergibt sich das Problem, wie
ein solch ,enger‘, nmlich rein sensorisch-qualitativer Gehalt, epistemisch
grundlegend sein kann. Es scheint sich eine Kluft zu ergeben zwischen dem,
was die Wahrnehmung gemß dem kausalen Modell von De anima wahr-
nehmen kann, und dem, was sie in Aristoteles’ Wissenstheorie und Wis-
senspraxis leisten muß. Wir werden uns in den nchsten Abschnitten dieses
Kapitels mit dem Problem der Fallibilitt beschftigen. Es wird zu fragen
sein, wie Aristoteles die Mçglichkeit von Sinnestuschungen erklrt und ob
er hierfr zu irgendeiner Form von Reprsentationalismus gezwungen ist.
Auf die Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts werden wir
in Kap. 3 – 4 eingehen.

2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung


Aristoteles klassifiziert den Akt des Wahrnehmens als ein Bewegtwerden und
Erleiden und przisiert diesen als eine bestimmte Art von qualitativer Ver-
nderung (De an. II 5, 416b33 ff.). Aristoteles faßt also das Wahrnehmen als
eine Relation zwischen Wahrnehmungsvermçgen und Wahrnehmungsge-
genstand auf (pros ti: Cat. 6b2 f.72 ; Met. V 15, 1021a33 ff.); eine Wahr-
nehmung mit einem bestimmten Gehalt impliziert das Vorliegen des ent-
sprechenden externen Gegenstands. Folgende Punkte sind an dieser Akt-
Objekt-Relation hervorzuheben: (i) Die Relation ist ontologisch asymme-
trisch: Auch wenn sprachlich gesehen die Wahrnehmung auf das Wahr-
nehmbare hin und das Wahrnehmbare auf die Wahrnehmung hin benannt
werden (Cat. 7, 6b28 – 36), gilt ontologisch nur eine einseitige Relation:
Whrend der Herr nicht ohne den Knecht ist und der Sieger nicht ohne den
Besiegten und beide zusammen entstehen und sich auch zusammen wieder
aufheben (Cat. 7b15 – 2273), kann das Wahrnehmbare (nicht das Wahrge-
nommene) auch ohne die Wahrnehmung sein, die Wahrnehmung aber nicht

72 „Es gehçren aber auch Dinge wie diese zu den Relativa: Haltung, Zustand,
Wahrnehmung, Wissen, Lage“ (bers. Oehler).
73 „Das Relative scheint von Natur zugleich zu sein; und in den meisten Fllen trifft das
zu. Denn zugleich ist das Doppelte und das Halbe, und wenn das Halbe ist, ist das
Doppelte, und wenn der Sklave ist, ist der Herr […] Diese Relative heben sich auch
wechselweise auf: ist kein Doppeltes, so ist auch kein Halbes“ (7b15 – 20; bers.
Oehler).
80 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

ohne das Wahrnehmbare, und die Wahrnehmung kann das Wahrnehmbare


nicht mit aufheben74 :
„Denn das Wahrnehmbare scheint frher (pqºteqom) zu sein als die Wahr-
nehmung: Denn das Wahrnehmbare, aufgehoben, hebt die Wahrnehmung mit
auf, die Wahrnehmung aber hebt das Wahrnehmbare nicht mit auf […] Denn
wenn Lebewesen aufgehoben wird, wird Wahrnehmung aufgehoben, Wahr-
nehmbares aber wird sein (aQshgt¹m d³ 5stai), zum Beispiel Kçrper, Warmes,
Sßes, Bitteres und alles andere Wahrnehmbare […] aber das Wahrnehmbare
existiert schon, bevor Wahrnehmung existiert“ (Cat. 7, 7b36 – 8a9; bers.
Oehler).
Dieser Unterschied zwischen sprachlicher und ontologischer Relativitt wird
von Aristoteles auch am Ende von Met. IV 5 hervorgehoben, wo er sich damit
auseinandersetzt, in welchem Sinn es nichts Wahrnehmbares geben wrde,
wenn die wahrnehmungsfhigen Wesen nicht wren:
„daß aber das Zugrundeliegende (t± rpoje¸lema), welche die Sinneswahrneh-
mung hervorbringen (poie? tμm aUshgsim), nicht auch ohne die Sinneswahr-
nehmung sind, ist unmçglich. Denn nicht ist die Sinneswahrnehmung
Wahrnehmung ihrer selbst, sondern es gibt doch etwas anderes neben der
Sinneswahrnehmung, was notwendig frher als die Wahrnehmung ist (d !m²cjg
pqºteqom eWmai t/r aQsh¶seyr). Denn das Bewegende ist von Natur aus frher als
das Bewegte, auch wenn diese aufeinander bezogen ausgesagt werden, ist dies
nicht weniger der Fall“ (Met. IV 5, 1010b33 – 1011a2; in Anlehnung an Bo-
nitz).
In De an. III 2, 426a15 – 26 behandelt Aristoteles diese Frage mit Hilfe seines
modalen Instrumentariums: Das aktuale Wahrnehmen und das aktuale
Wahrgenommene, die zwar extensional dieselbe Wirklichkeit bilden, „dem
Sein nach“ oder begrifflich aber verschieden sind, werden zugleich zerstçrt
und zugleich erhalten (ûla vhe¸qeshai ja· s¾feshai : 426a15 ff.; vgl. das
sumamaiqe?m in Cat. 7). Davon muß aber das Wahrnehmbare unterschieden
werden, das nicht dieselbe Wirklichkeit mit dem Akt des Wahrnehmens
bildet, also unabhngig von diesem existiert und nicht mit der Wahrneh-
mung zugleich aufgehoben wird (426a19 – 26). (ii) Diese ontologische
Unabhngigkeit des Wahrnehmbaren zeigt sich auch physiologisch darin,
daß im Akt der Wahrnehmung nicht nur das Vermçgen bewahrt wird (De an.
II 5, 417b3 ff., b18 f.), sondern auch das jeweilige aisthÞton im Zustand des
Wahrnehmbarseins bleibt und nicht wie die Nahrung etwas vom Ernh-

74 Das gilt ebenfalls fr das Verhltnis von Wißbaren und Wissen (Cat. 7b23 – 35),
worin sich Aristoteles’ erkenntnistheoretischer Realismus zeigt.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung 81

rungsvermçgen erleidet und diesem assimiliert wird (II 4, 416a34-b7).75


Anders als bei physischen Kontakten im allgemeinen kommt es in der
Wahrnehmung zu keiner reziproken Affektion des Bewegenden.76 Beim
Wahrnehmen ist die kausale Relation einseitig; nur der Wahrnehmende wird
dem Gegenstand angeglichen (II 5, 418a5 f.). Die aisthÞta bleiben im
Wahrgenommenwerden durch einen bestimmten Wahrnehmenden das,
was sie sind, und sind dadurch mehreren Betrachtern als dieselben zu-
gnglich.77 Diese besondere Art von Affektion wird durch das Medium
garantiert, das den fr jede qualitative Vernderung notwendigen Kontakt
diskreter Kçrper (haphÞ: Gen. corr. I 6, 322b22 ff.) herstellt.78 (iii) Die
Wahrnehmung ist wesentlich auf einen vorliegenden (hyparchein) oder ex-
ternen Gegenstand bezogen; ohne einen solchen kann sie nicht stattfinden
(De an. II 5, 417a3 – 6). Die Wahrnehmung ist auf den ußeren Gegenstand
angewiesen wie das Brennbare auf das Feuer (417a6 ff.). In diesem Punkt
unterscheidet sich das Wahrnehmen vom therein (im Sinne der Aktuali-
sierung eines schon erworbenen Wissens): Das, was das Wahrnehmen be-
wirkt, muß außerhalb vorliegen (t± poigtij± t/r 1meqce¸ar 5nyhem :
417b19 ff.), weshalb die Initiative hier nicht wie im Fall des Betrachtens
beim Subjekt selbst liegt (417a27 f., b23 f.: 1p’ aqt`; III 4, 429b7: di’ artoO),
sondern beim externen Gegenstand. Es handelt sich um einen rezeptiven Akt,
in dem wir nur das wahrnehmen kçnnen, was gerade in der Wirklichkeit
vorliegt und sich uns aufdrngt. Allgemein gilt also fr die Wahrnehmung,

75 De an. II 4, 416a34 ff.: „Ferner erleidet die Nahrung etwas vom sich Nhrenden,
aber nicht dieser von der Nahrung“. Vgl. auch Gen.corr. I 7, 324b1 f.
76 In diesem Sinn unterscheidet sich das aisthÞton von dem herkçmmlich „auf na-
trliche Weise Bewegenden“, das auch selbst bewegt wird (ja· t¹ jimoOm vusij_r
jimgtºm : Phys. III 1, 201a23 ff.), da es das Bewegte berhrt (III 2, 202a6 – 9; Gen.
corr. I 6, 323a12 – 33).
77 Genau das wird innerhalb der „Geheimlehre“ der Herakliteer im Theaitet bestritten.
Das aisthÞton ist hier immer zusammen mit einer bestimmten aisthÞsis – beide sind
„Zwillinge“ – ein singulres Produkt eines Zusammentreffens von Wirkendem und
Leidendem (Tht. 156d3 – 157a2). Dagegen vgl. Met. IV 5, 1010b21 – 24: „Ich
meine z. B., es kann zwar derselbe Wein, wenn er selbst oder wenn der Kçrper des
Kostenden sich verndert hat, einmal sß und das anderemal nicht sß erscheinen;
aber das Sße selbst, so wie es ist, wofern es ist, hat sich nie verndert“ (bers.
Bonitz).
78 Vgl. De an. III 12, 434b27 – 435a10; Phys. VII 2, 245a4 – 9. Auf das Medium kann
ich hier nicht nher eingehen. Wichtig ist, daß bei Aristoteles das Medium die je-
weilige Qualitt nicht auf dieselbe Weise besitzt wie das Wahrnehmungsvermçgen.
82 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

wenn a fr ein wahrnehmungsfhiges Subjekt und x fr einen wahrnehm-


baren Gegenstand steht79 :
a nimmt x wahr $ x affiziert a
Die gerade skizzierte aisthetische Relation steht im Einklang mit unseren
vortheoretischen berzeugungen: Wir fassen das Wahrnehmen als einen
passiven Vorgang auf, in dem sich uns etwas von der denkunabhngigen Welt
aufdrngt und in uns einen bestimmten Wahrnehmungsgehalt verursacht.
Dabei garantiert die Annahme der kausalen Abhngigkeit von wahrneh-
mungsunabhngig existierenden Gegenstnden die generelle Zuverlssig-
keit der Wahrnehmung.80 Liegt dagegen der externe Gegenstand nicht vor
oder verursacht dieser externe Gegenstand nicht unsere Wahrnehmung,
dann gehen wir intuitiv nicht davon aus, daß wir diesen Gegenstand im
eigentlichen Sinn wahrnehmen.81 Dieses Modell hat auch den Vorteil, daß
der Bezug zur ,Außenwelt‘ gesichert ist: Die skeptische Frage, ob berhaupt
meinem Eindruck z. B. von etwas Rotem ein externer Gegenstand ent-
spricht, der diesen Eindruck verursacht hat und der selbst rot ist, kann in
diesem Modell nicht aufkommen.
Gegen dieses Kausalmodell der Wahrnehmung lßt sich nun einwen-
den, daß hier nicht mehr erklrt werden kann, wie Wahrnehmungstu-
schungen zustande kommen kçnnen: Weder lßt sich erklren, wie ein
Gehalt von seiner externen Ursache abweichen kann (wie in qualitativen
Tuschungen), noch wie ein Gehalt ganz ohne eine externe Ursache zu-

79 Eine bewußte Wahrnehmung eines ußeren Gegenstands kommt nach Aristoteles


erst dann zustande, wenn die sensitiven Bewegungen, die von den einzelnen, pe-
ripheren Sinnesorganen ausgehen, das Zentralorgan affizieren, das im Herzen lo-
kalisiert ist (Insomn. 461a30-b1). Zusammen mit diesem ,intentionalen Bewußt-
sein‘ kommt am Zentralorgan auch das ,reflexive Bewußtsein‘ zustande, das sich auf
die Ttigkeit des Wahrnehmens selbst bezieht (De an. III 2, 425b12 – 25; Somn.
455a15 ff.) und eine intrinsische Eigenschaft des Wahrnehmungsakts selbst darstellt
(vgl. Kosman 1975; Oehler 1984, 72).
80 Strawson 1988, 103: „we assume […] the general reliability of our perceptual ex-
periences; and that assumption is the same as the assumption of a general causal
dependence of our perceptual experiences on the independently existing things we
take them to be of.“
81 Hierzu Snowdon 1988, 198 f. Ein solcher Fall wre das visuelle Erscheinen einer
Uhr, die sich vor jemandem befindet, ohne daß dabei diese Uhr die Erscheinung
verursachen wrde; die Erscheinung wrde vielmehr durch eine Stimulation seines
Gehirns verursacht. Nach der ,kausalen Intuition‘ wird diese Uhr deshalb nicht
gesehen, weil nicht sie es ist, die den visuellen Eindruck hervorruft.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung 83

standekommen kann (wie in existentiellen Tuschungen).82 Zwar scheint


Aristoteles an einigen Stellen so zu sprechen, als ob die Wahrnehmung der
jedem Sinn eigentmlichen Qualitten (idia aisthÞta) infallibel ist (De an. II
6, 418a11 f.; III 3, 427b12), als ob es also keine Kluft zwischen Gehalt und
Ursache geben kann, aber an einer wichtigen Stelle in De an. III 3 rumt er im
Blick auf die anderen beiden Klassen von Wahrnehmungsobjekten auch fr
die Wahrnehmung der idia aisthÞta die Mçglichkeit der Tuschung ein:
„Die Wahrnehmung der eigentmlichen Gegenstnde ist wahr oder hat den
geringstmçglichen Anteil an der Falschheit. An zweiter Stelle kommt aber (die
Wahrnehmung), daß dasjenige, was den (eigentmlich) wahrnehmbaren Ge-
genstnden akzidentell zukommt, (diesen) akzidentell zukommt83 und hier ist
es schon mçglich, sich zu tuschen. Denn daß etwas weiß ist, (darber) tuscht
sich (die Wahrnehmung) nicht, ob aber das Weiße dies ist oder etwas anderes,
darin tuscht sie sich. Das dritte aber ist (die Wahrnehmung) der gemeinsamen
Gegenstnde, die den akzidentell zukommenden Gegenstnden folgen, denen
die eigentmlich wahrnehmbaren Gegenstnde zukommen (ich meine z. B.
Bewegung und Grçße). ber diese kann man sich am meisten tuschen hin-
sichtlich der Wahrnehmung“ (De an. III 3, 428b18 – 25).
Nun gibt es in der Epistemologie ein einflußreiches Argument, in dem
die Mçglichkeit von Sinnestuschungen durch die Einfhrung von Sin-
nesdaten fr alle Flle des Wahrnehmens erklrt wird: Das Akt-Objekt-
Modell, d. h. die kausale Relation zwischen Gegenstand und Vermçgen,
wird hier so modifiziert, daß an die Stelle des externen Gegenstands als des
unmittelbaren Objekts der Wahrnehmung ein innerer oder mentaler Ge-
genstand, ein ,Sinnesdatum‘84, tritt. Dieses Sinnesdatum kann auch ohne
einen entsprechenden externen Gegenstand vorliegen, es kann dann also
einen bestimmten Gehalt auch beim Fehlen der entsprechenden externen
Bewegungsursache geben; man spricht daher auch von einem ,wahrheits-
neutralen Erscheinen‘. Dieses in verschiedenen Formen auftretende Argu-

82 In dieser Untersuchung werde ich stets zwischen einer Wahrnehmungs- oder Sin-
nestuschung im Sinne eines tuschenden sinnlichen Eindrucks und einem Wahr-
nehmungsirrtum im Sinne einer fr wahr gehaltenen Wahrnehmungstuschung, also
einer falschen Meinung ber das Wahrgenommene, unterscheiden.
83 Ich orientiere mich an dieser Stelle an den gngigen bersetzungen (vgl. Smith
[Oxford-bersetzung] 681; Ross 1961, 283; Theiler 1994, 56; Hamlyn 1968, 56),
die Bywaters (1888, 58) Umstellung des „$ sulb´bgje to?r aQshgto?r“ von 428b24
nach 428b20 folgen und es in einem inversen Sinn – Substanzen kommen den
,eigentmlich wahrnehmbaren‘ Qualitten akzidentell zu (De an. II 6, 418a20 – 24)
– verstehen. Auf diese Passage werde ich in Kap. 4.1 genauer eingehen.
84 Zu einer allgemeinen Charakterisierung von Sinnesdaten vgl. Ryle 1949, 210 ff.
84 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

ment ist unter der Bezeichnung ,argument from illusion‘ bekannt.85


Wichtige Elemente dieses Arguments sind zwar schon Platon
(Tht. 152b2 – 8, 154a3 – 8) und Aristoteles (Met. IV 5, 1009b2 – 9) ge-
lufig, doch setzen sie sich mit diesem Argument nicht insofern auseinander,
als es fr einen indirekten oder reprsentationalistischen Zugang zur
Wirklichkeit angefhrt wird, sondern als sich aus diesem eine Unent-
scheidbarkeit 86 zwischen wahrem und falschen Eindruck und somit eine
skeptische Konsequenz ergibt: Demnach kann keine Wahrnehmung als eine
veridische von einer bloßen Sinnestuschung unterschieden werden, da es
kein Kennzeichen (tekmÞrion) gibt, wodurch der Schlafende oder Kranke
vom Wachenden oder Gesunden unterschieden werden kann
(Tht. 158b8 – c2) und somit die Majoritt keinen Maßstab fr die veridische
Wahrnehmung bilden kann (Met. IV 5, 1009b2 - 6); keine Wahrnehmung
ist hier ,mehr wahr‘ als eine andere (1009b10). Wir werden auf Aristoteles’
Auseinandersetzung mit diesem Argument im Abschnitt 3.4 genauer ein-
gehen. Im Folgenden soll erst einmal anhand der Rekonstruktion dieses
Arguments bei Ayer87 herausgearbeitet werden, wie hier die Mçglichkeit
tuschender Eindrcke durch die Einfhrung von Sinnesdaten erklrt wird,
und zwar in der Weise, daß ein Sinnesdatum das unmittelbare Objekt jeder
Wahrnehmung ist. Es wird dann im nchsten Abschnitt zu fragen sein, ob
auch fr Aristoteles ein Reprsentationalismus – sei es im ,internalistischen‘
oder im ,externalistisch-kausalen‘ Sinne88 – angenommen werden muß, um
Sinnestuschungen erklren zu kçnnen.
Das ,argument from illusion‘ kann folgendermaßen rekonstruiert
werden: (a) Die Tatsache der ,conflicting appearances‘. Ein materieller Ge-
genstand x kann verschiedenen Beobachtern einer Art oder einem Beob-
achter unter verschiedenen Bedingungen als F und nicht-F89 erscheinen.
(Fr eine genaue Explikation dieses Phnomens vgl. Met. IV 5, 1009b2 – 9;
Tht. 154a3 – 8.) So erscheint der Turm dem Fernstehenden in einer anderen
Grçße und Gestalt als dem Nahestehenden, oder das Ruder erscheint im

85 Wie sich noch zeigen wird, kommt es hier nicht darauf an, daß man sich tuscht,
sondern nur darauf, die Mçglichkeit von Erscheinungen zu erklren, die den Ge-
genstand nicht so prsentieren, wie er wirklich ist.
86 Vgl. die ausfhrliche Studie von Lee 2005, 19 ff., 135 f., 168 – 176.
87 Ayer 1940, 1 – 11. Fr eine alternative Darstellung vgl. Schantz 1990, 18.
88 Nach ersterem ist uns der innere Gegenstand selbst kognitiv zugnglich (etwa als
inneres Bild), nach letzterem handelt es sich beim inneren Gegenstand lediglich um
eine kausale Grçße, die eine bestimmte Erscheinung produziert.
89 Mit „nicht-F“ ist hier ein kontrres Prdikat in ein und derselben aisthetischen
Gattung gemeint.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung 85

Wasser gebrochen, außerhalb des Wassers aber gerade. Hier handelt es sich
um eine schlichte phnomenologische Tatsache: Die Dinge kçnnen anders
erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind, bedingt durch bestimmte innerhalb
des Wahrnehmungsapparats (Krankheit, Drogen) oder ußerlich vorlie-
gende Faktoren (Abstnde, Lichtverhltnisse). Wir sind mit dieser Tatsache
schon immer vertraut und in unserer Alltagsberzeugung von der direkten
Zugnglichkeit der externen Gegenstnde mit ihren intrinsischen Quali-
tten berhaupt nicht erschttert.90 Wrden wir diesem phnomenologi-
schen Faktum widersprechen, wren wir zu der ußerst unplausiblen An-
nahme gezwungen, daß ein Gegenstand x, wenn ihm die intrinsische
Eigenschaft F zukommt, jedem Beobachter immer und unter allen Um-
stnden als F erscheinen muß.91 (b) Annahme intrinsischer Eigenschaften.
Gemß dem Nichtwiderspruchsprinzip, daß x nicht zugleich und in der-
selben Hinsicht F und nicht-F sein kann, und der Annahme der Persistenz
von x92 nehmen wir an, daß x ber eine intrinsische Qualitt verfgen muß,
die sich unter den verschiedenen perzeptuellen Bedingungen nicht ndert
(z. B. das Ruder im Wasser bleibt gerade) und somit eine der beiden sich
widersprechenden Erscheinungen falsch sein muß, d. h. dem Gegenstand
nicht intrinsisch zukommt. (c) Schwache Annahme von Sinnesdaten. Auch im
Fall der Sinnestuschung nehmen wir etwas wahr, d. h. diese Erscheinung
verfgt ber einen bestimmten phnomenal beschreibbaren Gehalt: x sieht
fr jemanden G aus, z. B. das Ruder im Wasser sieht geknickt aus, d. h. das im
Wasser eingetauchte Ruder sieht aus wie ein außerhalb des Wassers be-
findliches Ruder, das wirklich geknickt ist.93 Wie in der Wahrnehmung
unter Standardbedingungen scheinen wir auch hier etwas direkt wahrzu-
nehmen. Nun kann es sich aber nicht um den extern vorliegenden physi-
schen Gegenstand handeln. Also muß ein nicht-physisches Objekt ange-
nommen werden, ein Sinnesdatum. Sinnesdaten werden also hier eingefhrt,

90 Vgl. Austin 1962, 26 f.; Schantz 1990, 19.


91 Zu dieser unplausiblen Annahme, deren Implikation die oft gebrauchte und
scheinbar plausible Annahme „Wenn x F und nicht-F erscheint, dann kann F dem x
nicht intrinsisch sein“ ist, vgl. Austin 1962, 29, 50; vor allem Burnyeat 1979, 74 ff.
92 Diese Annahme impliziert die metaphysische Prmisse, daß es in der Zeit persistie-
rende Gegenstnde mit intrinsischen Eigenschaften gibt, was eine Herakliteische
Flußtheorie oder auch der Berkeley’sche Phnomenalismus leugnen wrde. Ersterer
zufolge kçnnten die sich widersprechenden Erscheinungen verschiedenen einma-
ligen physischen Episoden zugeordnet werden, letzterem zufolge werden die ver-
schiedenen Ideen gemß einer regelmßigen Sukzession zu einem ,Gegenstand‘
zusammengefaßt, ohne dabei einen persistierenden Gegenstand in der denkunab-
hngigen Wirklichkeit anzunehmen.
93 Ryle 1949, 217.
86 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

um den spezifischen sinnlichen Gehalt einer Sinnestuschung zu erklren;


das Sinnesdatum gibt eine Antwort auf die Frage, was dasjenige ist, was wir
direkt wahrnehmen, wenn es sich nicht um einen Teil einer materiellen
Gegenstands, sondern um eine Illusion handelt.94 Damit ist aber noch nicht
gezeigt, daß wir niemals materielle Gegenstnde und immer nur Sinnesdaten
wahrnehmen.95 Die entscheidenden Argumente fr diese reprsentationa-
listische These folgen in einem zweiten Teil des Arguments: (d) Argumente
fr die Annahme, daß wir immer nur Sinnesdaten annehmen. (i) Das wich-
tigste Argument ist hier das Argument der phnomenalen Ununterscheid-
barkeit: Es gibt keinen phnomenal-qualitativen, d. h. im Erscheinen selbst
gegebenen Unterschied zwischen veridischer Wahrnehmung und Sinnes-
tuschung; beide sind voneinander phnomenal ununterscheidbar. Unab-
hngig von anderen berzeugungen (z. B. daß ich krank bin, die Abstnde
nicht stimmen oder gerade Gegenstnde im Wasser geknickt erscheinen)
lßt sich aufgrund des phnomenalen Gehalts allein nicht feststellen, ob
dieser von einem materiellen Gegenstand herrhrt oder eine bloße Illusion
ist. Aus dieser qualitativen Identitt von wahrer und falscher Erscheinung
wird dann auf die ontologische Identitt, also auf einen ,inneren Gegenstand‘
geschlossen; der phnomenal ununterscheidbare Gehalt wird durch eine
gemeinsame reprsentationale Entitt erklrt. Diese reprsentationale En-
titten bestehen unabhngig davon, ob der externe Gegenstand vorliegt oder
nicht. Veridische Wahrnehmung und Sinnestuschung kommen damit in
einer gemeinsamen Reprsentation im Sinne eines ,hçchsten gemeinsamen
Faktors‘96 berein, der ein ,wahrheitsneutrales Erscheinen‘ verursacht. (ii)
Ein weiteres Argument, das besonders aus kognitionswissenschaftlicher

94 Ayer 1940, 4: „By using it they are able to give what seems to them a satisfactory
answer to the question: What is the object of which we are directly aware, in per-
ception, if it is not part of any material thing?“
95 Vgl. Austin 1962, 20: „The primary purpose of the argument from illusion is to
induce people to accept ,sense-data‘ as the proper and correct answer to the question
what they perceive on certain abnormal, exceptional occasions; but in fact it is usually
followed up with another bit of argument intended to establish that they always
perceive sense-data.“
96 McDowell 1998, 386: „the argument is that since there can be deceptive cases ex-
perientially indistinguishable from non-deceptive cases, one’s experiential intake –
what one embraces within the scope of one’s consciousness – must be the same in both
kinds of case. In a deceptive case, one’s experiential intake must ex hypothesi fall short
of the fact itself, in the sense of being consistent with there being no such fact. So that
must be true, according to the argument, in a non-deceptive case too […] we have to
conceive the basis as a highest common factor of what is available to experience in the
deceptive and the non-deceptive cases alike“.
2.2 Das Kausalmodell und die Fallibilitt der Wahrnehmung 87

Sicht attraktiv ist, rekurriert auf bestimmte, innerhalb des Wahrneh-


mungssystems vorliegende Bedingungen: Whrend es im Fall von Hallu-
zinationen offensichtlich ist, daß diese von pathologischen Bedingungen
beeinflußt sind, tendieren wir dazu, solche Bedingungen bei Wahrneh-
mungen unter Standardbedingungen zu bersehen: Hier meinen wir, wie
durch ein Fenster auf die ußere Welt zu blicken. Doch auch hier muß es
bestimmte kausale Faktoren geben97, zu denen wir aber keinen Zugang
haben. Daher mssen wir annehmen, daß der perzeptuelle Gehalt nur durch
das letzte Glied eines komplexen kognitiven Verarbeitungsprozesses und
nicht durch den externen Gegenstand selbst hervorgebracht wird.98
Das ,argument from illusion‘ beruht auf folgenden Annahmen.99 (i)
Annahme der phnomenalen Ununterscheidbarkeit: Es gibt keine quali-
tative Differenz zwischen Sinnestuschung und veridischer Wahrnehmung;
das im Wasser gebrochen erscheinende Ruder ist phnomenal ununter-
scheidbar von dem in Wirklichkeit gebrochen erscheinenden Ruder. Dieser
Annahme setzt Austin die gegenteilige Annahme gegenber: Auch wenn wir
Sinnestuschungen kontrafaktisch mit den gleichen Termini beschreiben,
mit denen wir auch die veridische Wahrnehmung beschreiben, drfe daraus
nicht geschlossen werden, daß das, was beschrieben wird, in beiden Fllen
dasselbe ist; es gibt hier durchaus unterscheidende Merkmale.100 (ii) Diese
phnomenale Ununterscheidbarkeit wird als notwendige Bedingung fr die
Mçglichkeit des Irrtums angesehen: kein Wahrnehmungsirrtum ohne
phnomenale Ununterscheidbarkeit. Dagegen wendet Austin zu Recht ein,
daß auch mangelnde Aufmerksamkeit oder eine nicht hinreichende Un-

97 Das findet sich schon bei den Kyrenaikern angedeutet: „Denn weil von demselben
Gegenstand die einen gelblich erleiden, die anderen aber dunkelrot und wieder
andere weiß, so ist es wahrscheinlich, daß auch die, die in einem Zustand gemß der
Natur sich befinden, entlang der unterschiedlichen Einrichtung der Sinnesver-
mçgen nicht auf dieselbe Weise von denselben Gegenstnden bewegt werden“ (¢r
c±q !p¹ toO aqtoO oR l³m ¡wqamtij_r oR d³ voimijtij_r oR d³ keujamtij_r p²swousim,
ovtyr eQjºr 1sti ja· to»r jat± v¼sim diajeil´mour paq± tμm di²voqom t_m aQsh¶seym
jatasjeuμm lμ ¢sa¼tyr !p¹ t_m aqt_m jime?shai ; Adv. Math. VII 198).
98 Vgl. auch Frege, Der Gedanke, 71: „Eigentlich ist doch diese Reizung des Sehnerven
nicht unmittelbar gegeben, sondern nur Annahme. Wir glauben, daß ein von uns
unabhngiges Ding einen Nerv reize und dadurch einen Sinneseindruck bewirke;
aber genau genommen erleben wir nur das Ende dieses Vorganges, das in unser
Bewußtsein hereinragt. Kçnnte nicht dieser Sinneseindruck, diese Empfindung, die
wir auf einen Nervenreiz zurckfhren, auch andere Ursachen haben, wie ja auch
derselbe Nervenreiz in verschiedener Weise entstehen kann?“
99 Fr das Folgende vgl. Austin 1962, Kap. 5.
100 Austin 1962, 49.
88 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

tersuchung des Gegenstands zu einer Tuschung fhren kann.101 (iii) Aus der
notwendig vorausgesetzten qualitativen Identitt wird auf eine ontologische
Identitt geschlossen, d. h. auf ein Sinnesdatum oder einen ,highest common
factor‘ (McDowell), dessen Existenz sowohl mit dem Vorliegen des ent-
sprechenden externen Gegenstands als auch mit seinem Fehlen vereinbar ist.
In seiner Umkehrung besagt dieses Prinzip, daß eine ontologische Differenz
auch eine qualitative Differenz verlangt: Wenn zwei Dinge sich ihrer Natur
nach unterscheiden, kçnnten sie demnach nicht als phnomenal identisch
erscheinen, was Austin bezweifelt.102
Auf der Grundlage dieser drei Annahmen besteht ein notwendiger
Zusammenhang zwischen der Mçglichkeit von Sinnestuschungen und
dem Reprsentationalismus: Wenn wir uns tuschen kçnnen mssen, d. h.
wenn das unbestreitbare Faktum tuschender Eindrcke mçglich sein soll,
dies aber eine phnomenale Ununterscheidbarkeit voraussetzt und diese
wiederum eine ontologische Identitt, d. h. einen ,highest common factor‘
impliziert, dann sind wir zu einem Reprsentationalismus gezwungen. Im
folgenden Abschnitt wird im Hinblick auf Aristoteles zu fragen sein, ob auch
er zur Erklrung der Mçglichkeit von Sinnestuschungen zu einer be-
stimmten Form des Reprsentationalismus gezwungen ist, wie einige In-
terpreten annehmen. Das wrde bedeuten, daß das in De anima entfaltete
Kausalmodell der Wahrnehmung modifiziert werden mßte: Unmittelbar
wahrgenommen wrde dann nicht mehr der externe Gegenstand, sondern
ein ,inneres Objekt‘, das vom Vorliegen der externen Bewegungsursache in
einem bestimmten Sinn unabhngig wre. Daß Aristoteles die Fallibilitt der
Wahrnehmung – auch die der idia aisthÞta – anerkennt, wurde schon oben
belegt (De an. III 3, 428b18 f.). Generell kritisiert er seine Vorgnger dafr,
daß in ihren Wahrnehmungstheorien Irrtum unmçglich wird und diese der
fundamentalen Tatsache des Irrtums, die zur conditio humana gehçrt, nicht
Rechnung tragen kçnnen: „Und doch htten diese zugleich auch ber den
Irrtum sprechen mssen, denn er ist den Lebewesen eigentmlicher und die
Seele verbringt eine lngere Zeit in diesem Zustand“ (De an. III 3, 427a29-
b2).

101 Austin 1962, 51 f.


102 Austin 1962, 50: „If I am told that a lemon is generically different from a piece of
soap, do I ,expect‘ that no piece of soap could look just like a lemon? Why should I?“
Hierzu ausfhrlich Burnyeat 1979.
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 89

2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus?


Um die Frage zu beantworten, ob Aristoteles zur Erklrung der Mçglichkeit
von Sinnestuschungen zu einer bestimmten Form von Reprsentationa-
lismus gezwungen ist, wird im Folgenden die reprsentationalistische In-
terpretation von Victor Caston vorgestellt und einer Kritik unterzogen.
Anhand einer genaueren Analyse von Sinnestuschungen soll gezeigt wer-
den, daß Aristoteles’ Position eher als ein Direkter Realismus charakterisiert
werden sollte.103 Caston geht von einem Problem aus, das sich fr die
Wahrnehmung in folgender Weise stellt104 :
(1) Wahrnehmen besteht in einer Relation zwischen Vermçgen und einem
Gegenstand.
(2) Es kann keine Relation geben, wenn nicht jedes der beiden Relata
existiert.
(3) Manchmal nimmt man etwas wahr, das nicht existiert.
Das Problem wird generell bezeichnet als Problem der Mçglichkeit des
Denkens dessen, was nicht ist (t¹ lμ em).105 Hier werden verschiedene in-
tentionale Zustnde, wie z. B. das Hoffen auf Zuknftiges, das Erinnern von
Vergangenem, das Frchten von Nicht-Existentem oder das Erscheinen
einer Halluzination angefhrt. Sollen solche intentionalen Zustnde
mçglich sein – es ist ja nicht zu bestreiten, daß man hier ,etwas‘ sieht oder
,etwas‘ denkt – und die Objekt-Relation beibehalten werden (anders als in
den Adverbialtheorien), dann mssen besondere Gegenstnde als Objekte
eingefhrt werden, an die man denkt oder die man wahrnimmt, also Sin-
nesdaten bzw. kausale Zwischen-Entitten, die den jeweiligen Gehalt an-
stelle des ußeren Gegenstands hervorbringen. Genau dieses ,Problem der
Intentionalitt‘ diagnostiziert Caston auch fr Aristoteles: Nach Caston war
sich Aristoteles dieses Problems bewußt und er entwarf dafr eine syste-
matisch attraktive Lçsung; er konzipierte eine ,generelle Theorie der In-
tentionalitt‘106, die alle Flle der Bezugnahme auf Nicht-Existentes, Ab-
wesendes etc. erklren kann und als eine kausale Theorie der Reprsentation
verstanden werden muß.
Aristoteles kritisiert an den Erkenntnistheorien seiner Vorgnger, daß sie
den Irrtum nicht erklren kçnnen; sie sind zu der protagoreischen These

103 Gegen einen Reprsentationalismus bei Aristoteles wenden sich Welsch (1987, 93,
186 f., 195), Vasiliou (1996, 128 – 131), Putnam (2000), Bolton (2005, 218).
104 In Anlehnung an Caston 1998, 253.
105 Caston 1998, 253.
106 Caston 1998, 254 ff.
90 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

gezwungen, daß alles Erscheinende wahr sei (De an. III 3, 427b3; Met. IV 5,
1009b14 f.). Sie gleichen das Denken dem Wahrnehmen an und konzi-
pieren das Wahrnehmen als einen physischen Prozeß, in dem ein bestimmter
Gehalt immer schon das Vorliegen des entsprechenden externen Gegen-
stands voraussetzt (Met. IV 5, 1009b13; De an. III 3, 427a26 f.). Aber auch
in Aristoteles’ eigener Wahrnehmungstheorie, wie er sie in De an. II 5-III 2
im Sinne eines kausalen Modells entfaltet, sind Tuschungen unmçglich.107
Nach Caston reagiert Aristoteles auf diesen Mangel mit der Einfhrung der
phantasia in De an. III 3, die fr Caston ein tragfhiges Modell fr die In-
tentionalitt mentaler Zustnde im ganzen darstellt.108 Aristoteles definiert
die phantasia als „eine durch die aktuale Wahrnehmung entstehende Be-
wegung“ (429a1 f.).109 Als ein solches kausales ,Echo‘110 bleibt sie auch nach
dem Verschwinden der ußeren Ursache im Wahrnehmenden zurck und ist
der ursprnglichen Wahrnehmung in einer bestimmten Hinsicht hnlich
(blo¸am !m²cjg eWmai t0 aQsh¶sei : 428b14); ihr Gehalt ist auf (mçgliche)
Objekte der Wahrnehmung beschrnkt (¨m aUshgsir 5stim : b12 f.).111 Weil
sie den ursprnglichen Wahrnehmungseffekt konserviert, kann das Lebe-
wesen gemß dieser Bewegung kognitive Ttigkeiten vollbringen, die einen
Gehalt erfordern, der vom Vorliegen wahrnehmbarer Gegenstnde unab-
hngig ist (z. B. Gedchtnis, prospektives Denken in der praktischen
berlegung; aber auch Trume, Sinnestuschungen). Entscheidend ist, daß
der phantasia keine spezifischen Gegenstnde zugehçrig sind wie etwa dem
Wahrnehmungs- oder Denkvermçgen, die durch ihre Gegenstnde iden-
tifiziert und bestimmt werden (De an. II 4, 415a16 – 22). Vielmehr sind die
Gehalte der phantasia durch den ursprnglichen perzeptuellen Input be-
stimmt, den jene konserviert. Dies hat viele Interpreten zu der berechtigten
Annahme veranlaßt, daß es sich bei der phantasia nicht um ein genuines
seelisches Vermçgen handelt, sondern bloß um eine Fhigkeit, Wahrneh-

107 Caston 1996, 21, 39.


108 Caston 1998, 270 f.: „if he has only this simple causal model to work with, he will
face the same dilemma as his predecessors. Unless content can diverge from cause, error
will be impossible. Aristotle’s reaction in On the Soul 3.3 is significant. Having posed
the problem of error, he immediately turns to argue for a distinct, new process he calls
‘phantasia’, which he will later use to explain the content of all remaining mental
states. He recognizes, in effect, that his own theory of sensation and conception cannot
form the basis for a general theory of Intentionality. To solve the problem of error, a new
process must be found that cannot be reduced to the others.“
109 Fr eine genaue Analyse des gesamten Textabschnitts vgl. Wedin 1988, 24 – 30.
110 Caston 1998, 272.
111 Vgl. Wedin 1988, 26: „The genitive ‘¨m’ restricts vamtas¸a to objects, that are or,
possible, can be objects of perception.“
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 91

mungseffekte zu speichern. Als ein passives Reservoir von Wahrneh-


mungsresten stellt die phantasia anderen Vermçgen reprsentationale
Hilfsmittel zur Verfgung und unterliegt somit einem fremden Zugriff; sie
kann sich gegenber ihren eigenen Inhalten nicht aktiv verhalten.112
Wenn Aristoteles die phantasia als eine gespeicherte, auf eine aktuale
Wahrnehmung zurckgehende Bewegung definiert, spricht das auch dafr,
daß es sich bei dem phantasma, das durch die phantasia entsteht (428a1 f.),
nicht um ein direkt beobachtbares mentales Abbild oder eine Kopie der
ursprnglichen Wahrnehmung handelt, sondern um einen physiologischen
Zustand, durch den im Lebewesen ein bestimmter reprsentationaler Gehalt
hervorgebracht wird.113 Die hnlichkeit, die zwischen phantasma und ur-
sprnglicher Wahrnehmung besteht (428b14), ist dann in erster Linie eine
hnlichkeit hinsichtlich der kausalen Krfte114, auf deren Grundlage das
phantasma am Zentralsensorium115 einen Gehalt hervorbringen kann,
welcher dann der ursprnglichen Wahrnehmung auch in einem phno-
menalen Sinn hnlich ist. Ein phantasma reprsentiert einen ursprnglich
wahrgenommenen Gegenstand also nicht dadurch, daß es ihn in einem li-
teralen Sinn abbildet, sondern weil es ber den gleichen Typ von kausaler
Kraft wie der ursprngliche Wahrnehmungseffekt verfgt. Das phantasma
,erbt‘ die kausale Kraft der ursprnglichen Wahrnehmung und kann somit
außerhalb einer aktualen Wahrnehmung einen phnomenal gleichen Gehalt
am Zentralsensorium hervorbringen. Daher bezeichnet Caston seine In-
terpretation als eine kausale Theorie der Reprsentation. Auf diese Weise wird
der sinnliche Gehalt unabhngig vom externen Gegenstand, denn er kann

112 Das hat Wedin (1988) in aller Deutlichkeit gezeigt: „imagination is not a faculty in
its own right but rather subserves the operation of full-fledged faculties in the sense
that images [vamt²slata] are required as the means by which such a faculty is able to
represent its object in complete intentional acts“ (xi). Vgl. auch D. Frede 1992, 281;
Corcilius 2008, 211 – 215.
113 Caston 1998, 283: „Thus phantasmata are not tiny pictures that look like objects in
the world or require interpretation. They are changes in the perceptual system which
represent in virtue of their causal powers. Phantasmata can correctly be described as
‘imagistic’ or ‘pictorial’, therefore, only in the sense that they are capable of producing
quasi-perceptual experiences, experiences which are phenomenally similar to per-
ceptual experiences.“
114 Caston 1998, 274: „A phantasma will thus have similar causal powers to the sti-
mulation from which it derives, including the ability to produce an experience
phenomenally like a sensation.“
115 Nach Aristoteles kommt eine bewußte Wahrnehmung dann zustande, wenn die
sensitiven Bewegungen, die von den ußeren Sensorien herkommen, das Zentral-
sensorium affizieren (vgl. Insomn. 461a30-b1).
92 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

jetzt auch durch eine gespeicherte sinnliche Bewegung hervorgebracht


werden, wie z. B. im Gedchtnis oder im Traum. Das eingelagerte phantasma
kann außerdem durch pathologische Faktoren (Fieber, Trunkenheit, Dro-
gen) so verndert werden, daß es sich von seiner kausalen Vorgeschichte
verselbstndigt und am Zentralsinn einen Gehalt hervorbringt, der nicht
mehr seiner ursprnglichen Ursache gleicht, sondern einer anderen mçgli-
chen Wahrnehmung116 : Das Zentralsensorium wird dann gleichsam wie von
einem wahrnehmbaren Gegenstand affiziert (Insomn. 460b25). Die
phantasia ist nach Caston in jedem perzeptuellen Irrtum involviert.117 Damit
ist die Mçglichkeit von Sinnestuschungen sichergestellt: Das phantasma
kann eine Erscheinung hervorbringen, die phnomenal ununterscheidbar ist
von der veridischen Wahrnehmung, ohne daß dafr der entsprechende
Gegenstand wirklich vorliegen muß. Ob die Erscheinung dann von einem
wirklichen Gegenstand oder einer pathologischen Ursache herrhrt, kann
allein aus der phnomenalen Qualitt nicht entschieden werden, sondern
nur durch kollaterale Informationen.118 Die phnomenale Gleichheit zwi-
schen Wahrnehmung und Illusion beruht auf demselben Typ von Bewegung,
die am Zentralsensorium ankommt.119 Dieser Typ von Bewegung ist
Wahrnehmung und Illusion gemeinsam. Damit sind wir in einem Repr-
sentationalismus, also einer ,highest-common-factor‘-Konzeption: „Aristo-
tle, that is, rejects disjunctivism.“120 Der sinnliche Gehalt wird in Castons
Interpretation durch das physiologische Endprodukt einer Kausalkette
festgelegt, die entweder auf den externen Gegenstand ohne zustzliche
Vernderung oder auf ein phantasma zurckgeht.
Abgesehen von der Frage, ob es berhaupt sinnvoll ist, bei Aristoteles
nach einer generellen Theorie von Intentionalitt zu suchen, kçnnen gegen
diese elaborierte Interpretation zwei Einwnde vorgebracht werden: zum
einen die fehlende Differenzierung verschiedener Arten von Sinnestu-

116 Caston 1998, 275.


117 Caston 1998, 272: „In general, Aristotle thinks that phantasia is involved in every
perceptual error, including those cases where we make a mistake about proper sen-
sibles.“
118 Caston 1998, 273, 277: „For if we undergo the same sorts of changes that we undergo
in perception, it will seem to us as though we are genuinely perceiving […] such
experiences will be indistinguishable phenomenologically from sensations and so easily
mistaken for them […] Their difference lies in their aetiologies, not something that
need be manifest perceptually within the experience itself; if we can detect the
difference, it will be through collateral information.“
119 Caston 1998, 277.
120 Caston 1998, 277.
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 93

schung bei Aristoteles, zum anderen die zu starke Rolle der phantasia, die
nach Caston in jeder sinnlichen Tuschung involviert ist. Ganz allgemein
kçnnen wir zwischen qualitativen Tuschungen (der externe Gegenstand
erscheint anders als er ist, d. h. in einer anderen Beschaffenheit) und exis-
tentiellen Tuschungen (z. B. Halluzinationen) unterscheiden.121 Die
meisten unserer sinnlichen Tuschungen sind lediglich qualitativ, was be-
deutet, daß ein externer Gegenstand vorliegt, der aber in einer Beschaf-
fenheit erscheint, die ihm in Wirklichkeit nicht zukommt. Von daher muß
die disjunctio completa ,entweder man nimmt den Gegenstand wahr oder ein
bloß immaterielles Objekt‘ aufgegeben werden: Wenn ich mich tusche,
folgt daraus nicht notwendig, daß ich berhaupt keinen externen Gegen-
stand wahrnehme.122 Insofern lassen sich Sinnestuschungen nicht einfach
unter die ,Bezugnahme auf Nicht-Existentes‘ subsumieren. Es ist die ein-
seitige Orientierung an diesen wenigen Fllen von existentiellen Tu-
schungen oder ,delusions‘, die die Einfhrung von Sinnesdaten oder re-
prsentationalen Entitten am meisten motiviert.123
Wenden wir uns nun auf dieser Grundlage der Beschreibung von Sin-
nestuschungen bei Aristoteles zu und fragen wir uns, ob in allen Fllen die
phantasia im oben skizzierten technischen Sinn124 involviert ist. Auch bei
Aristoteles findet sich die Unterscheidung zwischen qualitativen und exis-
tentiellen Sinnestuschungen:
„Dann gebraucht man falsch von solchem, was zwar etwas ist, aber aufgrund
seiner Natur entweder nicht so erscheint, wie es beschaffen ist, oder als das, was
nicht existiert (t± d³ fsa 5sti l³m emta, p´vuje l´mtoi va¸meshai C lμ oX² 1stim C $
lμ 5stim), wie z. B. das Schattenbild (sjiacqav¸a) und die Trume: Denn diese
sind zwar etwas, aber nicht das, dessen Vorstellung sie hervorbringen“ (Met. V
29, 1024b21 – 24).125

121 Austin spricht hier von ‘illusions’ im Unterschied zu ‘delusions’, vgl. Austin 1962,
23.
122 Vgl. Austin 1962, 8 f.
123 Vgl. Austin 1962, 25.
124 Von der phantasia im technischen Sinn, wie sie ab De an. III 3, 428b10 behandelt
wird, ist der „metaphorische Sinn“ zu unterscheiden, von dem Aristoteles in 428a2
spricht und der bloß das sinnliche ,Erscheinen‘ (phainesthai) meint.
125 Vgl. Ross’ bersetzung (Oxford-bersetzung, 1618): „There are things which exist,
but whose nature it is to appear either not to be such as they are or to be things that do
not exist, e. g. a sketch or a dream; for these are something, but are not the things the
appearance of which they produce in us.“ Hierzu Ross’ Kommentar (1924, 345): „it
answers to the distinction between illusion and hallucination. A picture in two
dimensions seems to be an object in three, but at any rate it is a physical reality; the
dream, which seems a physical reality, is not one at all.“
94 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

Diese Unterscheidung lßt sich in der folgenden Weise genauer ausfhren:


Unter den qualitativen Tuschungen gibt es zum einen solche, die aufgrund
fehlender ußerer Standardbedingungen zustande kommen (z. B. falsche
Abstnde, schlechte Lichtverhltnisse): So spricht Aristoteles in Met. IV 5,
1010b4 ff. vom Einfluß der Entfernung auf die Wahrnehmung von Grçßen
und Farben. Hier kann man an die unterschiedlichen Erscheinungen der
Grçße der Sonne denken (De an. III 3, 428b2 f., Insomn. 458b29,
460b18 f.) wie auch an das ,Schattenbild‘ (sjiacqav¸a): Das Schattenbild ist
schon bei Platon ein Standardbeispiel fr eine qualitative Tuschung (vgl.
Rep. VII 523b6, X 602d3, Tht. 208e8). Hier handelt es sich um Bilder, die
nur aus der Ferne den Eindruck von Stabilitt und Einheitlichkeit hervor-
rufen, bei Annherung aber zunehmend verschwimmen.126 Alle diese Dinge
erscheinen beim Fehlen ußerer Standardbedingungen anders, als sie
wirklich sind. Ein Fall, wie unter diesen ußeren Bedingungen Wahrneh-
mungstuschungen, die Farben (also idia aisthÞta) zum Inhalt haben, zu-
stande kommen kçnnen, wird in De Sensu erwhnt: Bei zu großen Ab-
stnden kann es vorkommen, daß zwei nebeneinander liegende Farben wie
eine vermischte erscheinen (Sens. 440a29 f.). Wir meinen dann etwa, einen
orangenen Farbton zu sehen, doch in grçßerer Nhe stellen wir fest, daß es
sich um zwei verschiedene Farben, gelb und rot, handelt. In all diesen Fllen
wird die Weise, wie der Gegenstand dem Wahrnehmenden erscheint, durch
ußere Faktoren verndert; die phantasia im engen Sinn ist hier nicht in-
volviert. Aristoteles verwendet zwar den Terminus phainesthai; dieser be-
zeichnet aber in einem weiten Sinn das bloße sinnliche Erscheinen (Sens.
440a29, b17) und nicht die Beteiligung eines gespeicherten Wahrneh-
mungseffekts. Hçchstens der Einfluß einer ,sinnlichen Ergnzung‘ einer
unklaren Wahrnehmung ist denkbar (De an. III 3, 428b28 ff.).127
Aristoteles kennt aber auch qualitative Tuschungen, die aufgrund von
Faktoren entstehen, die innerhalb des Wahrnehmungssystems vorliegen.
Hier gibt es zum einen solche aufgrund von sinnlichen Nachwirkungen
(Insomn. 459b9 – 23): Blickt man lange auf eine Farbe und wendet sich dann
einer anderen zu, erscheint diese andere Farbe anders, als sie eigentlich ist;
wendet man sich von Flssen zu ruhenden Gegenstnden, erscheint das
Ruhende fließend. Hier ist nun aber keine gespeicherte kausale Kraft beteiligt,
sondern der Effekt der frheren Wahrnehmung hlt noch an und beeinflußt

126 In Protr. B 104 gebraucht Aristoteles die Tuschung des Schattenbilds in Bezug auf
die scheinbar großen Gter des menschlichen Lebens, die wegen der Schwche
unseres Erkennens flschlicherweise fr groß gehalten werden.
127 Hierzu D. Frede 1992, 286; auch Rapp 2001, 93.
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 95

die aktuale Wahrnehmung. Daher kann hier von einer Beteiligung der
phantasia im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden. Erst wenn die
Wahrnehmungseffekte nach der abgeschlossenen Wahrnehmung abgespei-
chert sind und dann zu einem spteren Zeitpunkt durch ein genuines see-
lisches Vermçgen abgerufen werden, liegt ein Fall von phantasma im
strengen Sinn vor (Insomn. 459a17 f.). Das wird in De an. III 8, 432a9 f.
deutlich, wo Aristoteles sagt, die phantasmata seien wie die aisthÞmata „bloß
ohne die Materie“, d. h. bei den phantasmata liegt kein Bezug mehr zum
ußeren, bewegenden Gegenstand vor, wie es bei den Wahrnehmungsef-
fekten (aisthÞmata) der Fall ist.
Aristoteles spricht auch von Tuschungen, die aufgrund pathologischer
Zustnde entstehen, also in Krankheit, Trunkenheit, Wahn oder Emotio-
nen.128 Ist hier die phantasia im engen Sinn involviert? Aristoteles beschreibt
Sinnestuschungen aufgrund pathologischer Zustnde in Insomn. 460b1 –
16129 :
„Im Hinblick auf unsere anfngliche Untersuchung muß eines als Ausgangs-
punkt gelten, was aus dem Gesagten hervorgeht, nmlich daß, auch wenn das
von außen her stammende Wahrnehmungsobjekt verschwunden ist, die
Wahrnehmungseffekte, die als solche wahrnehmbar sind, zurckbleiben, und
außerdem (pq¹r d³ to¼toir), daß wir uns bezglich unserer Wahrnehmungen
leicht tuschen, wenn wir in Zustnden von Erregung sind, der eine im einen,
der andere im anderen, z. B. der Feige in Furcht, der Schnellverliebte, wenn er
sich verliebt hat, so daß aufgrund einer kleinen hnlichkeit (!p¹ lijq÷r
bloiºtgtor) der eine seine Feinde, der andere seinen Geliebten zu sehen meint
(doje?m bq÷m); und je strker man unter dem Einfluß der Erregung steht, desto
geringer ist die hnlichkeit, aufgrund derer sich diese Erscheinungen zeigen
(va¸metai) kçnnen. In derselben Weise werden auch in Zustnden des Zorns und

128 Met. IV 5, 1010b6 f.; De an. II 10, 422b8 f.; Insomn. 461a23 f.; Probl. III 9 – 10;
Probl. XXX, 14, 957a28 ff.; EN X 5, 1176a13 f.
129 Auf den ersten Blick behandelt De Insomniis gemß dem allgemeinen Programm der
Parva Naturalia (Sens. 436a16 f., Somn. 453b17 ff.) die Fragen, was der Traum ist,
welchem Seelenteil er zukommt und durch welche Ursache er entsteht. Es scheint
jedoch mit der Untersuchung des Traums eine zweite Untersuchung verbunden zu
sein, die sich mit Wahrnehmungstuschungen und Wahrnehmungsmeinungen
beschftigt (z. B. 458b10 – 13, b25 – 33). Vgl. Van der Eijk 1994, 75: Vor allem
Insomn. 2 bietet „wichtige Informationen zu Aspekten der aristotelischen Sinnes-
lehre, die in An. und den brigen PN kaum erçrtert werden“, ohne allerdings ei-
genstndig zu sein. Beide Abhandlungen erhellen sich vielmehr gegenseitig. Dies
zeigt sich an vielen Stellen: „ebenso (blo¸yr) (wie im Wachzustand) meinen wir zu
sehen…“ (458b14); „neben dem Traum etwas in Gedanken…ebenso (jah²peq) im
Wachen“ (458b15 f.) und „Gedanken ber Wahrnehmung…so (ovty) auch im
Schlaf“ (b16 f.); 459a6 f.; „wie…so (¦speq-ovty) auch im Schlaf“ (461b30 –
462a2); 461a31; 461b24 ff.
96 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

aller Begierden alle Menschen leicht tuschbar, und zwar um so strker, je strker
sie unter dem Einfluß dieser Erregungen stehen. Daher auch erscheinen (va¸-
metai) Fiebernden manchmal Tiere an den Wnden, weil sie die Linien aufgrund
einer kleinen hnlichkeit kombinieren“ (Insomn. 460b1 – 13; bers. Van der
Eijk).
Dem in diesen Zustnden Befindlichen erscheint es so, als ob es sich um eine
wirkliche Wahrnehmung (einen wirklichen Feind, den wirklichen Gelieb-
ten, wirkliche Tiere) handelt „aufgrund einer kleinen hnlichkeit“ (!p¹
lijq÷r bloiºtgtor : 460b6, b12; 461b10). Je grçßer der pathologische
Zustand ist, desto geringer muß die in der Realitt vorliegende hnlichkeit
des die jeweilige Erscheinung hervorrufenden Gegenstands (ein bestimmter
Mensch oder Linien an der Wand) mit dem erscheinenden Gegenstand (dem
Feind oder den Tieren, wahrscheinlich Schlangen) sein, um die jeweilige
tuschende Erscheinung hervorzurufen (b8). Entscheidend ist, daß in diesen
Fllen stets ein externer Gegenstand eine bestimmte tuschende Erscheinung
in uns hervorruft.130 Selbst der Fall des Fiebernden, dem Schlangen an der
Wand erscheinen (b12 f.), und der leicht als eine Halluzination, also als
existentielle Tuschung oder,delusion‘aufgefaßt werden kçnnte, setzt einen
ußeren wahrgenommenen Gegenstand voraus131, nmlich die Linien an der
Wand, die fr den Fiebernden in einer bestimmten Weise zusammenlaufen.
Diese Involvierung eines externen Gegenstands zeigt sich auch an Aristoteles’
allgemeiner Erklrung des Wahrnehmungsirrtums: „Denn das Sichversehen
und das Sichverhçren geschieht erst, wenn man etwas Wirkliches (!kgh´r
ti)132 sieht oder hçrt, nicht aber das, was man (zu sehen oder zu hçren) meint
(oUetai)“ (Insomn. 458b31 ff.; bers. Van der Eijk mit nderungen). Es ist
fraglich, wie in den Beispielen von Insomn. 460b1 – 13 zustzlich zur ak-
tualen Wahrnehmung noch die phantasia beteiligt sein soll133, wenn fr
Aristoteles die phantasia im engen Sinn eine erfolgte oder abgeschlossene
Wahrnehmung voraussetzt (De an. III 3, 428b13, 429a1 f.;

130 Mit Van der Eijk (1994, 195) verstehe ich das pq¹r d³ to¼toir in 460b3 so, daß hier
ein neuer Punkt beginnt, so daß die in 460a32-b3 beschriebenen gespeicherten
Wahrnehmungen nicht auch fr das Folgende vorausgesetzt werden mssen.
131 Vgl. Probl. III 10, 872b4, III, 30, 875b9 f.: „Warum erscheint den Betrunkenen
manchmal ein Objekt vervielfacht, obwohl sie doch nur das eine sehen?“ (bers.
Flashar).
132 Auch in Insomn. 461b22 f., b29 verwendet Aristoteles t¹ !kgh´r fr den externen
Gegenstand.
133 Gegen Caston 1998, 272 Anm. 56: „More generally, he treats standard sceptical
cases of perceptual error by reference to phantasia“.
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 97

Insomn. 459a17 f.).134 Wie auch immer man die Mçglichkeit beurteilt, daß
die aktuale Wahrnehmung durch eine synchrone phantasia in ihrem Gehalt
beeinflußt wird: Der tuschende Eindruck wird nicht durch ein eingela-
gertes und durch physiologische Faktoren freigesetztes phantasma festgelegt,
das dieselbe kausale Kraft hat wie ein mçgliches aisthÞma, an seine Stelle tritt
und somit eine typgleiche Bewegung am Zentralsensorium produziert, die
als ,highest common factor‘ beschrieben werden kçnnte. Vielmehr wird die
aktuale Wahrnehmungsbewegung, die vom vorliegenden Gegenstand her-
stammt, durch physiologische Faktoren sekundr verndert, und zwar so,
daß es fr den im pathologischen Zustand Befindlichen so aussieht, als ob er
Schlangen sieht.
Jene Tuschungen aufgrund pathologischer Faktoren, die die Einfh-
rung von reprsentationalen Entitten am meisten motivieren, werden also
von Aristoteles als solche behandelt, die einen externen Gegenstand und
damit ein aisthÞton voraussetzen. Das gilt nicht fr Trume, die klarerweise
ein phantasma implizieren, da hier etwas erscheint, ohne daß ein aktuales
aisthÞton als Bewegungsursache vorliegt. In De Insomniis behandelt er neben
der Entstehung von Traumerscheinungen (460b28 – 461b3; b11 – 21) auch
das Thema der Tuschung im Schlaf (461b7 – 11; b29 – 462a8). Er nhert
sich diesem Thema ber die Analyse von Wahrnehmungstuschungen (schon
Insomn. 458b25 – 28), denen das ganze zweite Kapitel gewidmet ist: „Wie
wir sagten, daß der eine Mensch durch die eine, der andere durch die andere
Erregung leicht tuschbar ist, so ist auch der Schlafende (leicht tuschbar)
durch den Schlaf und durch das Bewegtwerden der Wahrnehmungsorgane
und durch das, was sich sonst noch um die Sinneswahrnehmung ereignet, so
daß das, was eine kleine hnlichkeit zu etwas anderem hat, als jenes andere
erscheint“ (Insomn. 461b7 – 11; bers. Van der Eijk). Beide Flle von
Tuschungen sind in dem Sinn analog, als sie beide einen sinnlichen Gehalt
besitzen – im Wachen durch pathologische Zustnde (458b27; 460b4 ff.),
im Schlaf durch interne Bewegungen aufgrund von Fieber oder Trunkenheit
verzerrt (461a22 f.) –, der frwahrgehalten werden kann (461b5 f.; b29 ff.;
462a7 f.). Sie unterscheiden sich darin, daß ein Traum im strikten Sinn nicht
gesehen wird, da ja im Schlaf die peripheren Wahrnehmungsorgane nicht
affiziert werden und in Aktualitt sind. Dagegen ist in der Wahrneh-
mungstuschung immer ein ußerer Gegenstand beteiligt (458b31 –
459a1).135 Im Normalfall geht Aristoteles davon aus, daß man den Traum als

134 Vgl. Rapp 2001, 88.


135 Im Lauf der Untersuchung modifiziert Aristoteles die Annahme, daß das Wahr-
nehmungsvermçgen im Schlaf vollkommen inaktiv ist (vgl. Somn. 455a33 ff.;
98 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

bloßen Traum erkennt und ihn als falsch auffaßt (vgl. Insomn. 462a5 – 8136 ;
Met. IV 5, 1010b10 f.).
Sieht man einmal von den Trumen ab, dann faßt Aristoteles Sinnes-
tuschungen als solche auf, die den Bezug auf einen externen Gegenstand als
Bewegungsursache voraussetzen und im Fall pathologischer Faktoren einer
sekundren Vernderung innerhalb des Wahrnehmungssystems (d. h. auf
dem Weg zum Zentralsensorium) unterliegen. Wenn man davon ausgeht,
wofr es gute Grnde gibt, daß die phantasmata eine abgeschlossene
Wahrnehmung voraussetzen und von diesem kausalen Input ,zehren’, ist ihre
Rolle in den sinnlichen Tuschungen viel geringer, als es Caston annimmt.
berhaupt schreibt Aristoteles schon der Wahrnehmung als solcher in Bezug
auf ihre verschiedenen Klassen von Gegenstnden unterschiedliche Grade
der Fallibilitt unabhngig von der phantasia zu (De an. II 6; III 3, 428b18 –
30).137 Damit ist der Spielraum fr eine reprsentationalistische Interpre-
tation deutlich eingeschrnkt.
Fr einen Direkten Realismus spricht außerdem, daß das Wahrnehmen
bei Aristoteles nicht mit phainesthai im Sinne eines ,wahrheitsneutralen
Scheinens‘formuliert wird. Whrend im Reprsentationalismus der,highest
common factor‘ oder das Sinnesdatum das primre Objekt und dement-
sprechend der Begriff des ,wahrheitsneutralen Erscheinens‘ grundlegend ist,
ist im Direkten Realismus das ,wahrheitsneutrale Erscheinen‘ nur eine se-
kundre Abstraktion von zwei grundlegend verschiedenen Zustnden, in
denen man entweder den Gegenstand wahrnimmt oder es einem nur so
erscheint, als wrde man ihn wahrnehmen.138 Wahrnehmung und tu-
schender Eindruck sind zwei vollkommen verschiedene Zustnde, die nicht

458a29) dahingehend, daß auch im Schlaf das Zentralsensorium in einer be-


stimmten, einer aktualen Wahrnehmung hnlichen Weise affiziert wird (459a4 f.;
460b24 f.; 461a27 f., b27 ff.); dadurch entsteht die Traumerscheinung, die ein
phantasma ti (462a16) ist.
136 „denn hufig sagt whrend des Schlafes etwas in der Seele, daß das Erscheinende ein
Traum ist; wenn er jedoch nicht bemerkt, daß er schlft, wird nichts der Erscheinung
widersprechen“ (bers. Van der Eijk).
137 Vgl. Rapp 2001, 87.
138 Child 1992, 300: „The disjunctive conception reverses that order of explanation.
What is fundamental is the idea of a state of affairs in which a subject sees something;
that idea is explained in terms only of the subject and the world, without reference to
any ‘inner’ entity […] The idea of hallucination is derivative from that of seeing; an
hallucination is a state of affairs in which the subject is not seeing anything, but which
is for him just like a case of vision. And the idea of experience, neutral between vision
and hallucination, is an abstraction from the more fundamental and specific ideas of
vision and hallucination.“
2.3 Reprsentationalismus oder Direkter Realismus? 99

zu demselben Genus gehçren. Daher spricht man auch von Disjunktivis-


mus. 139 In diesem Sinn wird phainesthai von Aristoteles meistens so ver-
wendet, daß es ein unklares (De an. III 3, 428a14), trgerisches (II 10,
422b9; Insomn. 459b12, b15, 460b8, b11, b20; Probl. III 10, 872b4, III
30) oder ein nicht-paradigmatisches Erscheinen (wie bei geschlossenen
Augen: III 3, 428a7, a16; Insomn. 458b1) bezeichnet. Man kçnnte hier
auch von einem nicht-epistemischen Scheinen, einem ,bloßen Anschein‘
sprechen.
Wenn wir nun Aristoteles die Position eines Direkten Realismus zu-
schreiben, gemß dem sich uns die Wirklichkeit in ihrer Mannigfaltigkeit
,erschließt‘ oder ,erçffnet‘, heißt das nicht, daß er damit irgendein krudes
Verstndnis des Weltzugangs htte, das sich nur in phnomenalen Begriffen
beschreiben ließe, etwa daß wir in der Wahrnehmung auf die Welt wie durch
ein Fenster blicken. Vielmehr ist gerade seine Vier-Ursachen-Lehre im-
stande, sowohl eine phnomenologische Beschreibung als auch eine phy-
siologische Erklrung des Wahrnehmungsvorgangs zu integrieren: Nach
Aristoteles sind fr die Definition der Kçrper und Seele gemeinsam zu-
kommenden Affektionen alle vier Ursachen heranzuziehen.140 Aristoteles
vertritt ein Modell, in dem sich auf paradigmatische Weise der direkte
Zugang zur Welt und die notwendigen kausalen Vorgnge vereinbaren
lassen.141 Wie an vielen Beispielen gezeigt werden kçnnte, wird eine bloß
phnomenale Beschreibung – die fr ihn allein nur,dialektisch und leer‘wre
(diakejtij_r ja· jem_r : De an. I 1, 403a2) – mit Hilfe bestimmter philo-
sophischer Termini differenziert und durch Angabe der Bewegungs- und
Materieursache ,vertieft‘. Auch die Beschreibung der Wahrnehmung als
,disclosure‘ kann Aristoteles auf diese Weise vertiefen, indem er physiolo-
gische Ursachen angibt und Fachbegriffe einfhrt, wie in De an. II 12 die
Formel von der ,Aufnahme der wahrnehmbaren Form ohne die Materie‘.
Die Vier-Ursachen-Lehre erlaubt Aristoteles somit Erklrungen, die weder
bloß ,dialektisch und leer‘, also rein phnomenal, noch rein naturalistisch
sind, sondern beides miteinander vereinbaren kçnnen.

139 Vgl. McDowell 1998, 381, 386 ff.


140 Vgl. De an. I 1, 403a25 ff.: „Daher sind die Definitionen von solcher Art wie z. B.:
das Zrnen ist eine bestimmte Bewegung eines so beschaffenen Kçrpers oder Teils
oder Vermçgens von diesem (Objekt) und um dieses (Zweckes) willen.“ Fr den
Schlaf vgl. Somn. 455b16 – 25.
141 Das betonen auch moderne disjunktivistische Anstze, vgl. McDowell 1998, 387.
Auch fr Snowdon (1988, 208) und Putnam (2000, 9) schließen solche Beschrei-
bungen physiologische Faktoren nicht aus.
100 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘


Das ,argument from illusion‘ wird bei Aristoteles nicht im Kontext der Frage
nach der Art und Weise unseres Weltzugangs diskutiert – ob wir also auf-
grund der phnomenal-qualitativen Identitt zwischen Wahrnehmung und
Tuschung zur generellen Annahme von Sinnesdaten als dem unmittelbaren
Objekt unseres Bewußtseins gezwungen sind. Vielmehr diskutiert Aristo-
teles in seiner Auseinandersetzung mit Protagoras dieses Argument, insofern
sich aus diesem das epistemologische Problem der Unentscheidbarkeit zwi-
schen Wahrnehmung und Tuschung und damit eine skeptische Konse-
quenz ergibt.
„Gleichermaßen aber ergab sich auf Grund der wahrnehmbaren Dinge fr
einige auch die Meinung, die Wahrheit finde sich im Erscheinenden. Denn die
Wahrheit, so glauben sie, drfe nicht nach der grçßeren oder geringeren Zahl der
Urteilenden entschieden werden; dasselbe aber erscheine den einen beim
Kosten sß, den anderen aber bitter, so daß, wenn alle krank oder verrckt, zwei
oder drei aber gesund oder bei Verstand wren, man von diesen meinen wrde,
daß sie krank und verrckt sind, die anderen aber nicht; ferner erscheine auch
vielen der brigen Lebewesen hinsichtlich derselben Dinge das Gegenteil von
dem, was uns erscheint, und jeder Einzelne habe im Verhltnis zu sich selbst
nicht immer dieselbe gemß der Wahrnehmung gegebene Meinung. Was nun
davon wahr sei oder falsch, sei verborgen (%dgkom); denn um nichts ist das eine
mehr (oqh³m l÷kkom) wahr als das andere, sondern beides auf gleiche Weise
(blo¸yr). Daher sagt Demokrit, entweder sei nichts wahr oder es sei uns ver-
borgen. berhaupt mssen sie wegen ihrer Annahme, Denken sei Wahrneh-
mung und diese sei Vernderung, sagen, daß das gemß der Wahrnehmung
Erscheinende notwendig wahr sei; auf Grund dieser Voraussetzungen sind
nmlich sowohl Empedokles als auch Demokrit und so gut wie jeder von den
anderen auf solche Meinungen verfallen. Denn auch Empedokles sagt, wenn
sich der Zustand (6nir) der Menschen ndere, ndere sich ihr Denken“ (Met. IV
5, 1009a38-b12; bers. Szlezk mit nderungen).
Wie auch bei Platon (Tht. 154a3 – 8) so lassen sich auch hier drei Stufen
unterscheiden: Ein und dasselbe Objekt zeigt sich in kontrren Erschei-
nungen sowohl (i) zwei Individuen, die verschiedenen Spezies angehçren
(z. B. einem Menschen und einem Hund), als auch (ii) zwei Individuen
derselben Spezies, schließlich (iii) demselben wahrnehmenden Individuum
in verschiedenen Zustnden.142 Welche Erscheinung hiervon nun wahr ist,
wurde bisher durch eine kanonische Menge (Majoritt) festgelegt. Um nun
die Protagoreische These, daß alle Erscheinungen wahr sind, absichern zu
kçnnen, muß gezeigt werden, daß wir uns fr die Bestimmung der Wahrheit

142 Vgl. Demokrit DK 68 A 135.


2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ 101

einer Erscheinung gerade nicht an einer solchen kanonischen Menge orien-


tieren kçnnen (1009b2 f.). Hierfr wird folgende Annahme gemacht: Wenn
die Majoritt krank oder verrckt wre und nur zwei oder drei gesund und
bei Verstand wren (moOm 5weim), wrden die Kranken fr gesund und die
Gesunden fr krank gehalten werden. Diese Annahme erlangt aber ihre
argumentative Kraft erst dann, wenn man zustzlich annimmt, daß zwischen
dem Zustand des Kranken und Gesunden bzw. des Verrckten und Ver-
stndigen eine phnomenale Ununterscheidbarkeit besteht und es darber
hinaus kein externes Kennzeichen gibt, um zu beweisen, daß man in einem
dieser Zustnde ist. Erst unter dieser Voraussetzung rechtfertigt sich die
These, daß man die Wahrheit nicht nach einer bestimmten Anzahl von
Personen bestimmen darf. Den Hintergrund fr diese entscheidende An-
nahme bildet eine Passage aus Platons Theaitet, wo es um die Frage geht, wie
die allgemein akzeptierte Falschheit von Sinnestuschungen in Krankheit,
Wahnsinn und Traum erschttert werden kann, um die Protagoreische
Lehre143 zu sttzen:
„Sokrates: So wollen wir denn auch das nicht zurcklassen, was noch brig ist
davon. Es ist aber noch brig das von den Trumen und Krankheiten, besonders
auch dem Wahnsinn, und was man nennt sich verhçren (paqajo¼eim) oder sich
versehen (paqoq÷m) oder sonst eine Sinnestuschung (paqaish²meshai). Denn
du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als kçnne durch alle diese Flle ein-
stimmig der Satz widerlegt werden, den wir jetzt eben durchgegangen sind, und
als wren auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fllen, und es
fehlte viel daran, daß, was einem Jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz
im Gegenteil, als sei nichts von dem was erscheint […] Was fr ein Argument,
Jngling, bleibt also dem noch brig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Wissen,
und was jedem erscheine, das sei auch so dem, welchem es erscheint? […]
Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, besonders was Wach- und
Traumzustand betrifft? […] Den du, meine ich, oft gehçrt haben wirst (l
pokk²jir se oWlai !jgjo´mai), wenn man nmlich die Frage aufwirft, was fr ein
Kennzeichen (tejl¶qiom) jemand wohl angeben kçnnte, wenn einer fragte, jetzt
gleich gegenwrtig, ob wir nicht schlafen, und alles, was wir denken, nur
trumen, oder ob wir wachen und im Wachen uns unterreden? Theaitet: Und
wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was fr ein Kennzeichen man es
beweisen (1pide?nai) soll. Denn es folgt ganz genau fr beide Zustnde dasselbe.
Denn was wir jetzt gesprochen haben, das kçnnen wir eben so gut im Traum zu

143 Fr eine Rekonstruktion des Inhalts von Protagoras’ AlÞtheia auf der Grundlage der
antiken Testimonien vgl. Lee 2005, Kap. 2. Lee macht plausibel, daß sich Protagoras
fr seinen Homo-Mensura-Satz auf das ,argument from conflicting appearances‘
berief; die Wahrheit der Wahrnehmung werde durch das von Platon und Aristoteles
als bekannt vorausgesetzte ,undecidability argument‘ abgesichert, das Protagoras als
,argument-stopper‘ gegen den common-sense verwendet haben kçnnte.
102 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

sprechen meinen; und wenn wir im Traumzustand meinen, Trume zu erzhlen,


so ist ganz wunderbar, wie hnlich (%topor B bloiºtgr) diese jenen sind. So-
krates: Du siehst also, daß das Bestreiten nicht schwer ist, wenn sogar darber
gestritten werden kann, ob der Zustand des Wachens vorliegt oder der des
Traums. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens gleich ist (Usou), und die
Seele in jedem von diesen Zustnden behauptet (dial²wetai), daß die ihr je-
desmal gegenwrtigen Meinungen zweifellos wahr sind: so behaupten wir also
fr eine gleiche Zeit, einmal, daß das Eine, dann wieder eben so, daß das Andere
wirklich ist, und beharren beidemal gleich fest (diiswuqifºleha) auf unserer
Meinung […] Verhlt es sich nun nicht mit Krankheiten und mit dem
Wahnsinn eben so, bis auf die Zeit, daß die nicht gleich ist?“ (Tht. 157e1 –
158d9; bers. Schleiermacher mit nderungen)
Das Argument beruft sich darauf, daß sich kein Kennzeichen (tekmÞrion)
dafr angeben lßt, daß wir gerade nur schlafen und alles, was wir denken,
nur trumen, oder daß wir wachen und uns wirklich unterreden.144 Dieses
Argument wird von Sokrates als bekannt vorausgesetzt („oft gehçrt“).145 Die
Unentscheidbarkeit zwischen Schlaf- und Wachzustand, die gleichermaßen
fr den gesunden und pathologischen Zustand gilt146, wird mit der ph-
nomenalen Ununterscheidbarkeit begrndet: (i) Was man jetzt spricht,
kçnnte man genauso gut im Schlaf zu sprechen meinen; zwischen beiden
Zustnden besteht eine ungewçhnlich große qualitative hnlichkeit
(Tht. 158c5 – 8).147 (ii) Die Zeit von Schlafen und Wachen ist gleich und (iii)
in beiden Zustnden findet sich die gleiche Kraft des Frwahrhaltens
(Tht. 158d1 – 6).148 (i) und (iii) gelten auch fr die Zustnde von Krankheit
und Wahnsinn (Tht. 158d8 – 9). Diese Argumentation wird dazu benutzt,
um die These des Protagoras, daß alle Erscheinungen wahr sind (Tht. 152a),
abzusichern; die Bestimmung der illusionren Erscheinung als falsch soll
damit unmçglich gemacht werden. Aristoteles diskutiert in Met. IV 5 dieses
Argument, insofern aus diesem die skeptische Konsequenz folgt, daß dann die
Wahrheit und Falschheit verborgen (%dgkom) ist, „denn um nichts ist das eine

144 Vgl. Descartes, AT VII, 19: „Whrend ich aufmerksamer darber nachdenke, sehe
ich dermaßen klar, daß niemals durch sichere Anzeichen Wachen und Schlafen
unterschieden werden kann“.
145 „l pokk²jir se oWlai !jgjo´mai…“ (Tht. 158b8).
146 Das Argument wird in 158b so eingeleitet, daß es allgemein gegen die Falschheit von
Wahnzustnden und Trumen angewandt werden kann, ,am meisten‘ (l²kista)
aber hinsichtlich Wachen und Trumen. Am Ende des Arguments in 158d8 – 9 wird
die bertragbarkeit auf die Flle von Krankheit und Wahnsinn hervorgehoben.
147 „%topor B bloiºtgr to¼tym 1je¸moir.“ Levett (1990, 281) bersetzt hier treffend:
„there is an extraordinary likeness between the two experiences.“
148 dial²wetai, diiswuqifºleha.
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ 103

mehr (oqh³m l÷kkom)149 wahr als das andere, sondern beides auf gleiche
Weise“ (1009b10 f.). Jede Erscheinung wre dann epistemisch gleichbe-
rechtigt und es gbe keine kanonische Menge der richtig Urteilenden, die
festlegt, welche Erscheinungen sich auf die Wirklichkeit beziehen und
welche nicht.
Wie entkrftet nun Aristoteles dieses ,Unentscheidbarkeitsargument‘?
Welche Antwort gibt er auf die Frage, woher wir berhaupt wissen, daß wir
nicht bloß trumen oder halluzinieren und wirklich im ,Normalzustand’
sind, in dem wir uns auf die wahrnehmbaren Gegenstnde selbst beziehen?
In Aristoteles’ Replik kçnnen folgende Elemente unterschieden werden:
(a) Grundstzlich kritisiert Aristoteles die Forderung, daß es ein
Kennzeichen geben muß, durch das bewiesen werden kçnnte, daß man
gerade nicht trumt, sondern wach ist, oder daß man gerade nicht halluzi-
niert, sondern gesund ist. Hier in Zweifel zu geraten und ein Kennzeichen zu
verlangen, durch das man den Wachenden vom Schlafenden und den Ge-
sunden vom Kranken unterscheiden und berhaupt den ,richtig Urteilen-
den‘ (t¹m peq· 6jasta jqimoOmta aqh_r : Met. IV 6, 1011a5 f.) bestimmen
kçnnte, zeugen von der mangelnden Bildung (apaideusia)150, fr alles einen
Beweis zu verlangen (vgl. Met. IV 4, 1006a5 – 9151) und nicht zu erkennen,
daß das Prinzip eines Beweises selbst nicht mehr bewiesen werden kann
(Met. IV 6, 1011a8 – 13). Niemand ist wirklich im Zweifel, ob die Grçßen
oder die Farben so sind, wie sie dem Entfernten oder wie sie dem Nahe-
stehenden, wie sie dem Gesunden oder wie dem Kranken erscheinen (IV 5,
1010b3 – 9). Die Normalzustnde sind von den pathologischen unter-
scheidbar; wir wissen schon immer, wer sich in den richtigen Zustnden
befindet.152 Das zeigt sich besonders in den Handlungen, in denen wir
wissen, welche Zustnde normal sind: „denn es macht sich ja niemand, wenn
er whrend eines Aufenthalts in Libyen des Nachts in Athen zu sein glaubt,
auf, in das Odeon zu gehen“ (1010b10 f.; bers. Bonitz). Aristoteles bringt

149 Das oq l÷kkom, das bei Sextus zum skeptischen Schlagwort wird (vgl. PH I 188 –
191), wird auch schon von Platon in hnlicher Weise gebraucht, um Flle zu be-
schreiben, in denen die Wahrnehmung Kontrres gleichermaßen kundgibt
(Rep. 523c2 – 3).
150 Auf Aristoteles’ Konzept der paideia und ihren Zusammenhang mit Fragen der
Rechtfertigung werde ich in Kap. 5.3 noch genauer eingehen.
151 „Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung, man solle auch dies beweisen; denn
Mangel an Bildung ist es, wenn man nicht weiß, wofr ein Beweis zu suchen ist und
wofr nicht“ (bers. Bonitz).
152 Vgl. auch EN X 2, 1173b23 ff. Hierzu Lee 2005, 170: „we do not hesitate to prefer
the ,appearance‘ of the healthy and waking persons to the others.“
104 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

auch noch das Argument aus Tht. 178c, nach dem wir selbstverstndlich
Expertenmeinungen akzeptieren (1010b11 – 14). Fr Aristoteles gibt es
keinen Grund zum Zweifel daran, wer im richtigen Zustand ist und den
Maßstab darstellt: im Fall der Wahrnehmung die Gesunden, im Fall des
Wissens die Experten. In der Ethik kçnnte man hier an den spoudaios denken,
der das wahrhaft Gute vom scheinbaren unterscheidet: Was ihm als gut
erscheint, ist wahrhaft gut.153
(b) Ein weiteres Element der Replik besteht darin, die Beschreibung des
Phnomens der ,conflicting appearances‘ zu korrigieren, um so die daraus
folgende epistemische Gleichberechtigung aller Erscheinungen zu ent-
krften. Das betrifft vor allem den Fall, daß demselben Beobachter ein und
derselbe Gegenstand in kontrren Eigenschaften erscheinen kann, und das
anscheinend sogar zu derselben Zeit (jat± t¹m aqt¹m wqºmom : Met. IV 6,
1011a31 f.; IV 5, 1009b8 f.). Hier muß man folgende Differenzierungen
vornehmen, die sich an den verschiedenen Klassen wahrnehmbarer Ge-
genstnde orientieren. (i) Hinsichtlich der Wahrnehmung der idia aisthÞta
gilt: „Keiner dieser (spezifischen Sinne) sagt zur selben Zeit ber dieselbe
Sache, daß sie sich zugleich so und nicht so verhlt“ (1010b18 f.). Jeder Sinn
ist durch eine bestimmte aisthetische Gattung definiert und von Natur aus
auf diese abgestimmt (De an. II 6, 418a24 f.). Solche ,eigentmlichen
Qualitten‘ (idia aisthÞta) kçnnen durch keinen anderen Sinn wahrge-
nommen werden und ber sie kann man sich unter Normalbedingungen
nicht tuschen; die Zuverlssigkeit der Wahrnehmung ist hier teleologisch
garantiert.154 Widersprchliche Erscheinungen kommen hier nur dann
zustande, wenn sich entweder der Gegenstand selbst oder der Kçrper des
Wahrnehmenden verndert hat (Met. IV 5, 1010b21 ff.)155 ; z. B. erscheint

153 Vgl. EN III 6, 1113a29 – 33: „Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen
Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede Disposition hat nmlich ihren
eigenen Bereich des Werthaften und Angenehmen, und der Gute zeichnet sich
vielleicht am meisten dadurch aus, dass er in allen Einzelfllen die Wahrheit sieht,
indem er gewissermaßen Richtschnur und Maß (jam½m ja· l´tqom) dafr ist“
(bers. Wolf ); EN X 5, 1176a15 f.: „In allen solchen Dingen aber gilt dasjenige als
[wirklich] so beschaffen, was dem Guten so erscheint“ (bers. Wolf ). Vgl. auch
Protr. B 39.
154 Vgl. De an. III 12 – 13. Hierzu Block 1961; Gaukroger 1981, 79 f.
155 Der Einfluß innerer Bedingungen wird schon in IV 5, 1010b6 f., b22 und EN X 5,
1176a13 ff. erwhnt. Das wird nher ausgefhrt in Met. XI 6, 1062b33 – 1063a5:
„Den Meinungen und Vorstellungen aber derer, die gegen einander streiten, gleiches
Gewicht beizulegen ist Torheit; denn offenbar mssen die einen von ihnen sich im
Irrtum befinden. Das erhellt aus den Sinneswahrnehmungen; denn niemals er-
scheint dasselbe den einen sß, den anderen entgegengesetzt, ohne daß bei den einen
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ 105

im Zustand der Krankheit alles bitter (De an. II 10, 422b8 f.). Nach
Aristoteles kçnnen wir aber den jeweiligen Normalzustand problemlos
bestimmen, in dem ein bestimmter Sinn seine von der Natur festgelegte
Aufgabe optimal erfllt. Die anderen Situationen, in denen sich uns derselbe
Gegenstand in einer kontrren Qualitt prsentiert, kçnnen wir dann als
nicht-paradigmatisch ansehen und ignorieren. (ii) Auch Konflikte im Fall
der,assoziativen Wahrnehmung‘, wo ein bestimmter Sinn das idion aisthÞton
eines anderen Sinns wahrnimmt – wenn wir etwa auf der Grundlage der
frheren visuellen und gustativen Wahrnehmung eines gelben und sßen
Gegenstands (z. B. Honig) in einer spteren nur visuellen Wahrnehmung
eines gelben Gegenstands sagen, daß wir (,akzidentell‘) das Sße sehe (De an.
III 1, 425a21 f., a30 f.)156 – lassen sich durch die natrlich festgelegte
Kompetenz der Einzelsinne entscheiden: „Ferner haben auch die Sinnes-
wahrnehmungen selbst ber das einem fremden und das ihrem eigenen
Gebiet Angehçrige, ber das Nahe und das Entfernte nicht gleiche Gl-
tigkeit (oqw blo¸yr juq¸a), sondern ber die Farbe entscheidet das Gesicht,
nicht der Geschmack, ber die Speise der Geschmack, nicht das Gesicht“
(Met. IV 5, 1010b14 – 17; bers. Bonitz). Im Fall des Sßen kann der
Geschmackssinn widersprechen, der auf diesem Gebiet die grçßere Auto-
ritt besitzt. Der perzeptuelle Widerspruch stellt sich in diesem Fall zwar in
demselben Subjekt und zur selben Zeit ein, aber nicht in derselben Hinsicht,
d. h. nicht in demselben spezifischen Sinnesvermçgen. (iii) Weiterhin gibt es
sich widersprechende Erscheinungen im Fall der koina aisthÞta (Bewegung,
Ruhe, Gestalt, Grçße, Zahl: De an. II 6, 418a17 f.; III 1, 425a16), da es fr
diese keinen spezifischen Sinn gibt, sondern diese mehreren Sinnen ge-
meinsam sind, d. h. von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden
kçnnen (III 1, 425b4 – 11).157 ber diese Klasse von aisthÞta kann man sich

das Sinnesorgan und der Geschmack fr die bezeichneten Flssigkeiten verdorben
und beschdigt ist. Ist dem aber so, so hat man die einen fr das Maß (l´tqom)
anzusehen, die anderen aber nicht“ (bers. Bonitz).
156 Wie sich in Kap. 3.3 noch zeigen wird, kann Aristoteles den Ausdruck ,akzidentell
wahrnehmen‘nicht nur im absoluten Sinn verwenden – insofern hierunter alles fllt,
was nicht aus sich heraus das Wahrnehmungsvermçgen affizieren kann und somit
nur beilufig, durch Verbindung mit einem ,an sich Wahrnehmbaren‘, wahrge-
nommen wird –, sondern auch in einem relationalen Sinn: Das Sße ist in Bezug auf
den Gesichtssinn ,akzidentell wahrnehmbar‘ (vgl. Philoponus, In De an. 454.15 –
26).
157 Daß der ,Gemeinsinn‘ fr die nicht-akzidentelle Wahrnehmung der koina aisthÞta
zustndig wre, gehçrt zu den immer wieder einmal anzutreffenden Irrtmern in der
Aristoteles-Exegese. Die kontrafaktische berlegung in der Passage 425b4 – 11
macht dagegen deutlich, daß wir die koina aisthÞta auch nur mit einem Sinn
106 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

am meisten tuschen (III 3, 428b24 f.). Aristoteles gibt in Met. IV 6 fol-


gendes Beispiel fr den Fall, daß ein Gegenstand demselben Menschen und
zu derselben Zeit in kontrren koina aisthÞta erscheint: „Denn der Tastsinn
hlt einen Gegenstand bei der berkreuzung der Finger fr zwei, der Ge-
sichtssinn aber fr eines“ (1011a33 f.). Auch hier muß man die Beschrei-
bung des perzeptuellen Konflikts dahingehend korrigieren, daß hier „nicht
demselben Sinn in derselben Beziehung und auf dieselbe Weise und in
derselben Zeit etwas als verschieden“ erscheint (1011a34 ff.158 ; bers. nach
Bonitz). Diesen perzeptuellen Konflikt kann Aristoteles in De Insomniis so
lçsen, daß er auch hinsichtlich der koina aisthÞta Kompetenzunterschiede
zwischen den einzelnen Sinnen annimmt: „Und bei der Kreuzung der Finger
erscheint das eine als zwei, aber dennoch sagen wir nicht, es seien zwei; denn
der Gesichtssinn ist autoritativer (juqiyt´qa159) als der Tastsinn“ (Insomn.
460b20 ff.). Der im Hinblick auf dieses koinon autoritativere160 oder
maßgeblichere Wahrnehmungssinn ,widerspricht‘ einer bestimmten Er-
scheinung (vgl. 461b4 f.: 2t´qa juqiyt´qa !mtiv0). Durch die Annahme
unterschiedlicher sinnlicher Autoritten im Hinblick auf die koina aisthÞta
kann ein Sinn einen anderen korrigieren, wodurch ein perzeptueller Konflikt
gelçst werden kann. Nach Aristoteles kçnnen wir ohne Probleme bestim-
men, welcher Sinn uns in Bezug auf ein bestimmtes koinon aisthÞton die
korrekten Informationen liefert und daher als autoritativ angesehen werden
muß.
(c) Schließlich kann mit Aristoteles gegen die Unentscheidbarkeit ein-
gewandt werden, daß die Argumentation auf einer unsachgemßen Ver-
engung auf die mir gerade gegebene Erscheinung beruht und die Verbindung
zu anderen Wahrnehmungs- und Gedchtnisinhalten als auch zu Gehalten
des theoretischen Wissens ausgeklammert wird.161 Daß diese immer schon

wahrnehmen kçnnen. Die anderen Sinne kçnnen zur Korrektur der besonders
irrtumsanflligen Wahrnehmung der koina aisthÞta beitragen. In 425a27 wird der
Terminus aisthÞsis koinÞ in einem untechnischen Sinn verwendet und bezeichnet die
jedem Einzelsinn zukommende und somit ,gemeinsame’ Fhigkeit, die koina ai-
sthÞta wahrzunehmen (Gregoric 2007, 69 – 82).
158 !kk’ ou ti t0 aqt0 ce ja· jat± t¹ aqt¹ aQsh¶sei ja· ¢sa¼tyr ja· 1m t` aqt` wqºm\
159 Der Terminus juq¸yr bezeichnet bei Aristoteles meist den primren oder eigentli-
chen Wortsinn (vgl. De an. II 1, 412b9; II 6, 418a24; LSJ 1013: in the proper sense).
Er kann aber auch im adjektivischen Sinne eine besondere Kompetenz oder Au-
toritt fr eine bestimmte Leistung bezeichnen (vgl. Met. I 1, 981b11; IV 5,
1010b15; Insomn. 460b21; LSJ 1013: with full authority).
160 Hier liegt eine relative Autoritt vor (vgl. Van der Eijk 1994, 202, 225).
161 Koch (2006a, 17) spricht hier zu Recht von einem ,Gesamtschein‘: „Denn wir
urteilen in der Regel nicht gemß einem begrenzten visuellen oder akustischen
2.4 Aristoteles und das ,argument from illusion‘ 107

die Wahrnehmung begleiten und in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, eine


Wahrnehmung als wahr oder falsch, d. h. als bloße Erscheinung, zu be-
stimmen, zeigt sich an dem von Aristoteles oft herangezogenen Beispiel der
Sonnenbreite (De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b29, 460b18 ff.). Auch
wenn die Sonne nur einen Fuß breit zu sein scheint, glauben wir das nicht,
sondern sind der berzeugung, daß sie grçßer als die Erde ist. Aristoteles
spricht davon, daß ,etwas anderes‘ (6teqºm ti) der Erscheinung ,widerspricht‘
(460b19 f.). In diesem Fall ist ein bergeordnetes Wissen gemeint.162 Man
kçnnte hier auch an die im Wasser geknickt erscheinenden Gegenstnde
(Platon, Rep. X 602c10 – 11) oder an eine Fata Morgana denken: Aufgrund
unseres Wissens, daß gerade Gegenstnde im Wasser geknickt erscheinen
oder daß bei einer bestimmten Temperatur Luftspiegelungen entstehen,
kçnnen wir solche Erscheinungen als falsch beurteilen.163 Aristoteles nimmt
aber nicht nur an, daß ein autoritativer Sinn oder ein bergeordnetes Wissen
(also der Intellekt) eine bestimmte sinnliche Erscheinung korrigieren kann,
sondern geht auch von der Mçglichkeit aus, sich des Fehlens innerer
Standardbedingungen (pathologische Zustnde, Traum) bewußt zu sein.
Wenn wir nicht zu krank sind, sind wir uns bewußt (lμ kamh²meim), daß die
Erscheinungen, die uns im Fiebertraum erscheinen, falsch sind (Insomn.
460b14 ff.).164 Ebenso kann man im Schlaf wahrnehmen oder sich bewußt
sein, daß man schlft (462a3, a7): In diesem Fall „sagt whrend des Schlafes
etwas in der Seele, daß das Erscheinende ein Traum ist; wenn er jedoch nicht
bemerkt, daß er schlft, wird nichts der Erscheinung widersprechen“
(462a6 ff.; bers. Van der Eijk). Sind also die pathologischen Zustnde zu
stark bzw. der Schlaf zu tief, kann dieses bergeordnete Vermçgen gehemmt
sein und man „folgt den Erscheinungen“ (459a7 f.).
Auf die Mçglichkeit der Beurteilung und Korrektur sinnlicher Infor-
mationen durch ein bergeordnetes Vermçgen und die Frage, was sich

Schein, sondern gemß einem Gesamtschein, zu dem außer der Wahrnehmung auch
die Erinnerung und unsere theoretischen Erkenntnisse beitragen.“
162 Vgl. Van der Eijk 1994, 201.
163 Hier ergibt sich natrlich der Einwand, daß dieses Wissen, das eine Wahrnehmung
korrigieren kann, selbst auf der Wahrnehmung beruht und somit eigentlich keine
epistemische Autoritt gegenber den Sinnen beanspruchen darf. Die Autoritt
eines solchen Wissens kçnnte man dann entweder mit seiner Kohrenz verteidigen
oder mit der Einfhrung apriorischer Prinzipien. Auf diese Frage werden wir noch
eingehen. Zu diesem Einwand, aus dem ein skeptisches Argument gewonnen
werden kann, vgl. Perler 2006, 155 f.
164 Ob diese Beurteilungskompetenz dem primren Wahrnehmungsvermçgen oder
dem Intellekt zukommt, ist unklar (459a6 ff.; 462a3). Hierzu Van der Eijk 1994, 50.
108 2. Weltzugang und Sinnestuschungen

daraus fr den epistemologischen Status der Wahrnehmung ergibt, werden


wir in Kap. 4.4 noch genauer eingehen. Hier ist erst einmal festzuhalten, daß
Aristoteles’ Replik Antworten auf zwei skeptische Fragestellungen enthlt:
(1) Die Frage, ob wir berhaupt unseren Sinnen trauen drfen, also davon
ausgehen drfen, daß sie die Gegenstnde so prsentieren, wie sie tatschlich
(in ihrer qualitativen Beschaffenheit) sind, wird von Aristoteles mit der
teleologischen Annahme beantwortet, daß jeder Sinn von Natur aus auf eine
bestimmte aisthetische Gattung (idia aisthÞta) ausgerichtet oder ,abge-
stimmt‘ und hierfr ,maßgeblich‘ ist (Met. IV 5, 1010b15 ff.). Unter den
jeweiligen Normalbedingungen prsentiert ein Wahrnehmungssinn den
Gegenstand so, wie er tatschlich ist. Diese Normalbedingungen im Hin-
blick auf einen bestimmten Sinn sind fr Aristoteles problemlos be-
stimmbar; wir kçnnen sie im jeweiligen Fall von nicht-paradigmatischen
Situationen unterscheiden. Fr die besonders irrtumsanflligen koina ai-
sthÞta geht Aristoteles von einer Hierarchie aus, in dem es fr die verschie-
denen koina aisthÞta jeweils einen ,autoritativeren‘ oder ,maßgeblicheren‘
(juqiyt´qa) Sinn gibt, der einem anderen ,widersprechen‘ kann. Eine solche
Hierarchie wird in De Insomniis fr das koinon aisthÞton der Anzahl zwar
angedeutet (460b21 f.; 461b3 ff.), aber weder im einzelnen ausgefhrt noch
begrndet. Die sich aufdrngende Frage, wie wir berhaupt wissen kçnnen,
welcher Sinn autoritativer ist, also den Gegenstand so prsentiert, wie er
tatschlich ist und daher die Informationen eines anderen Sinns korrigieren
darf, wird von Aristoteles nicht gestellt. Wir mßten hierfr auf irgendein
wahrnehmungsunabhngiges Kriterium zurckgreifen, durch das wir die
Informationen der verschiedenen Sinne berprfen und den autoritativeren
bestimmen kçnnten. Ein solches unabhngiges Kriterium suchen wir bei
Aristoteles vergebens. (2) Die radikalere Frage, woher wir denn berhaupt
wissen, daß wir nicht bloß trumen oder halluzinieren, sondern uns wachend
auf die Wirklichkeit selbst beziehen, beantwortet Aristoteles damit, daß man
darber nicht wirklich in Zweifel sein kann. Hier nach weiteren Grnden zu
suchen, ist ein Zeichen mangelnder paideia, insofern man nicht zwischen
dem Begrndungsbedrftigen und dem nicht mehr Begrndungsbedrf-
tigen unterscheiden kann und einen Beweis dafr sucht, wofr es keinen
Beweis mehr gibt. Wir sind uns schon immer darber im Klaren, ob wir im
Normalzustand sind oder nicht, was sich in unseren Handlungen zeigt (Met.
IV 6, 1011a11).
3. Der Gehalt der Wahrnehmung
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 1
Das im letzten Kapitel skizzierte Kausalmodell der Wahrnehmung wirft
nicht nur die Frage auf, wie das Zustandekommen von Sinnestuschungen
und der Bezug auf Abwesendes und Nicht-Existentes erklrt werden kann.
Aus diesem Modell folgt auch, daß die Wahrnehmung auf bloß qualitative
Inhalte beschrnkt ist, da Objekte außerhalb der Kategorie des Pathetisch-
Qualitativen aufgrund ihrer fehlenden Wirksamkeit hinsichtlich der
Wahrnehmung nicht in ihren Gehalt eingehen kçnnen. Hinsichtlich der
Frage nach der Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb kçnnte man
dann die Meinung vertreten, daß der Wahrnehmung bloß die Aufgabe
zukommt, unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen zu
versorgen; als ein solcher Informationslieferant stnde sie in bloß kausalen
Beziehungen zu unseren Meinungen ber die Welt. Bevor wir genauer
herausarbeiten, welche Kompetenzen Aristoteles der Wahrnehmung zu-
spricht und ob die Wahrnehmung tatschlich nur die Rolle eines ,kausalen
Zwischenstcks‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen ber sie spielt,
wollen wir kurz Platons Analyse des Wahrnehmungsgehalts im ersten Teil
seines Theaitet skizzieren. Vor dem Hintergrund dieses Abschnitts, mit dem
Aristoteles bestens vertraut war2, werden die Konturen des Aristotelischen
Wahrnehmungsbegriffs deutlicher hervortreten und die Rolle der Wahr-
nehmung im Wissenserwerb prziser bestimmt werden kçnnen.
Theaitets erster Definitionsvorschlag von Wissen (epistÞmÞ) lautet, daß
Wissen nichts anderes als Wahrnehmung (Tht. 151e1 – 3) bzw. daß
Wahrnehmung Wissen ist (e6 – 7); jeder Fall von Wissen ist ein Fall von
Wahrnehmung und jeder Fall von Wahrnehmung ein Fall von Wissen. Diese

1 Dieser Abschnitt erhebt nicht den Anspruch, einen eigenen Beitrag zur Platon-
Interpretation zu leisten, besonders zur Frage nach dem Verhltnis des Theaitet zur
Epistemologie der mittleren Dialoge. Hçchst kontrovers wird hier diskutiert, ob es
auch von der wahrnehmbaren Wirklichkeit epistÞmÞ geben kann bzw. doxa von den
Ideen mçglich ist. Da es mir im Folgenden nur um den Gehalt der Wahrnehmung
geht, klammere ich diese Fragen der Platon-Forschung aus und orientiere mich im
Folgenden an Burnyeats ,Reading B‘ als „a self-sufficient critique of empiricism“
(Burnyeat 1990, 60).
2 Burnyeat 1990, 106.
110 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Identifikation impliziert zum einen, daß Wissen zu einem passiven Prozeß


gemacht wird, zu dem ich nichts anderes als eine angeborene Disposition
mitbringen muß, was zur Folge hat, daß Wissensunterschiede und episte-
mische Autoritten, also Experten, geleugnet werden.3 Zum anderen im-
pliziert die Identifikation, daß Wahrnehmung zum Wissen erhoben wird, so
daß auf die Wahrnehmung die beiden Kennzeichen des Wissens „des Sei-
enden und untrglich“ (toO emtor !e¸ 1stim ja· !xeud´r) zutreffen
(152c5 – 6): So wie mir etwas erscheint oder wie ich es wahrnehme, so ist es
auch in der Wirklichkeit. Das ist der Berhrungspunkt mit dem Homo-
Mensura-Satz des Protagoras, mit dem die These des Theaitet sachlich
identifiziert wird (152a). Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras wird
dabei mit einem perzeptuellen Beispiel erlutert: „Nicht wahr er meint dies
so, daß wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es
dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl
als ich“ (152a6 – 8; bers. Schleiermacher).4 Diese These wird anschließend
durch das ,argument from conflicting appearances‘ plausibilisiert: „Wird
nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den
andern nicht? Oder den einen wenig, den anderen sehr stark?“ (152b2 – 4).
Sokrates legt dem Theaitet zwei Mçglichkeiten vor, diese sich widerspre-
chenden Erscheinungen zu erklren: Entweder der Wind ist ,an sich‘ kalt
oder nicht-kalt und mir erscheint er nur jeweils anders, oder der Wind ist so,
wie er von einem bestimmten Individuum wahrgenommen wird. Theaitet
entscheidet sich spontan fr die letztere protagoreische Position. In einem
weiteren Schritt wird der Terminus ,erscheinen‘ (phainesthai) mit dem
Terminus ,wahrnehmen‘ (aisthanesthai) gleichgesetzt, so daß schließlich aus
der These des Protagoras in ihrer perzeptuellen Anwendung die These des
Theaitet folgt: Das Wahrnehmen nach dem Homo-Mensura-Satz des
Protagoras erfllt die beiden implizit vorausgesetzten Bedingungen von
Wissen, vom Seienden zu handeln und untrglich zu sein (toO emtor !e¸ 1stim
ja· !xeud´r).5
Die Widerlegung dieser These, Wahrnehmung sei Wissen, vollzieht sich
nun auf verschiedenen Ebenen, nmlich der These des Theaitet, des
Protagoras und der Herakliteer, die in einer bestimmten Weise miteinander
verbunden sind; nach Tht. 160d5 – e2 ,koinzidieren‘ (sympiptein) diese drei
Thesen. Auf einer ersten Ebene wird die Flußontologie der Herakliteer

3 Lee 2005, 2, 38 f.
4 Diese Erluterung kann nach Lee (2005, 12) als eine enge Paraphrase aus Protagoras’
AlÞtheia aufgefaßt werden.
5 Vgl. Burnyeat 1990, 11; Lee 2005, 79 f.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 111

angegriffen. Diese wird zur Sttzung der Protagoreischen These als sog.
,Geheimlehre‘ eingefhrt, die auf die Wahrnehmung angewandt zu einer
Relationalitt perzeptueller Qualitten fhrt: Diese sind weder dem Objekt
noch dem Subjekt intrinsisch, sondern haben einen Zwischenstatus (metaxy:
154a2), der im weiteren Gang des Dialogs als ein Zusammenhang von vier
Gliedern entfaltet wird: Ein Wirkendes und ein Leidendes, die sich selbst in
stndiger Vernderung befinden, treffen zusammen und erzeugen ein sin-
gulres wahrgenommenes Objekt (z. B. das Weiße) und einen zugehçrigen
singulren Akt (z. B. das Sehen: 156d3 – 157a2). Die extreme Version dieser
Flußontologie, in der sich alle Dinge auf jede Art und Weise verndern
(181c1 – 182c10), fhrt dazu, daß nicht einmal mehr eine bestimmte Farbe
identifiziert werden kann, wodurch ein Wahrnehmungsurteil unmçglich
wird (182d1 – 7). Innerhalb dieser Theorie ist damit die Wahrnehmung kein
mçglicher Kandidat von Wissen, da hier Propositionalitt unmçglich wird.6
Die zweite Ebene der Widerlegung betrifft die Lehre des Protagoras, fr
dessen These das Unentscheidbarkeitsargument (158b8 – c2) vorgebracht
werden kann: Kein mentaler Zustand kann gegenber einem anderen
aufgrund seiner phnomenalen hnlichkeit als ,wahr‘ (z. B. Wachen) bzw.
,falsch‘ (z. B. Trumen, Halluzinieren) ausgezeichnet werden. Die Prot-
agoreische These wird in unterschiedlichen Anlufen widerlegt: Sokrates
weist zum einen nach, daß auch Protagoras Wissensunterschiede und damit
Expertenwissen zulassen muß und selbst als Lehrer mit einer Schrift auftritt,
die den Titel AlÞtheia trgt (161c2 – 163a6). Zum anderen muß er gemß
seiner These auch die gegnerische Verneinung seiner eigenen These fr-
wahrhalten; eine Relativierung der Wahrheit der gegnerischen Verneinung
htte zur Folge, daß Protagoras’ These außer fr ihn selbst fr niemanden
mehr gelten wrde (170c2 – 171c9). Das wrde dem Universalittsanspruch
widersprechen, mit dem Protagoras seine AlÞtheia vortrgt. Die dritte Ebene
der Widerlegung betrifft die These des Theaitet, Wahrnehmung sei Wissen,
auf die ich mich nun konzentrieren werde. Diese Widerlegung kann auch als
eine systematische Kritik an einem unklaren Wahrnehmungsbegriff ver-
standen werden; das macht den Theaitet auch fr die Epistemologie inter-
essant.

6 Lee (2005, 112 – 117) macht gegen Burnyeat geltend, daß mit dem Kollaps dieser
Lehre nur gezeigt ist, daß der Herakliteismus in seiner extremen Form als eine
mçgliche Sttzung fr Theaitet und Protagoras nicht in Frage kommt. In einer
abgemilderten Form kann er weiterhin ein Element der sog. ,Zwei-Welten-Lehre‘
Platons sein. Es liege damit kein Implikationsverhltnis zwischen Theaitet, Prota-
goras und Heraklit vor, so daß aus einer Widerlegung der Herakliteischen Theorie
keine Widerlegung des Protagoras folge.
112 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Im Abschnitt 152b-c setzt Sokrates phainesthai mit aisthanesthai gleich.


In einem spteren Abschnitt des Dialogs, wo es um die falschen Wahr-
nehmungen (xeude?r aQsh¶seir : 158a1) in Traum, Krankheit und Wahn-
sinn als einen mçglichen Einwand gegen Protagoras geht, ist nicht nur von
Wahrnehmen und Erscheinen (158a2, a6 – 7), sondern auch von einem
„Falsches Meinen“die Rede (xeud/ don²fousim : 158b2). Die hier gegenber
einem bloßen, nicht-epistemischen Scheinen eingebrachte Behauptungs-
komponente7 kommt in den folgenden Beispielen und den fr die Unun-
terscheidbarkeit angefhrten Argumenten zum Vorschein: Die Wahnsin-
nigen glauben (oUymtai : 158b3), Gçtter zu sein, oder sind der Auffassung
(diamo_mtai : 158b4), im Traum zu fliegen. Im Wachen wie im Schlafen
,behauptet‘ oder ,verficht‘ (dial²wetai) die Seele, „daß die ihr jedesmal ge-
genwrtigen Meinungen (dºclata) auf alle Weise wahr sind“ (158d3 – 4); in
beiden Zustnden findet sich die gleiche Festigkeit der Meinung (blo¸yr 1v’
2jat´qoir diiswuqifºleha : d5 – 6). Die These des Protagoras, die bisher mit
phainesthai formuliert wurde (152a7, 158a2 – 3, 158a6 – 7), wird jetzt auch
mit dokein formuliert: „was jemand auch immer meint, ist dem Meinenden
wahr“ (158e6, 161c2 – 3, 162c8-d1).8 Die Pointe, auf die Platon mit diesem
terminologischen Wechsel aufmerksam machen will, ist die, daß die Termini
phainesthai, aisthanesthai, dokein, doxazein nicht eindeutig verwendet
werden, weil die dahinter stehenden Konzepte der sinnlichen Affektion, des
Meinens und schließlich des Wissens nicht klar sind und miteinander ver-
mischt werden. Es ist das Anliegen des ersten Teils des Theaitet, diese Ver-
mischung zu entwirren und die These, Wahrnehmung sei Wissen, zu wi-
derlegen.9 Diese Klrung kann auch vor dem Hintergrund jenes
Wahrnehmungsbegriffs gelesen werden, wie er von Platon selbst etwa in der
Politeia (VII 523a-525a und X 602c-603a) vorausgesetzt wird.10 Hier ent-
wirft Platon im Rahmen des Erziehungsprogramms der Philosophenkçnige
ein Seelenmodell, das Wahrnehmung und Vernunft denselben Grad von

7 Daß don²feim hier kein bloßes ,Vorstellen‘ ohne einhergehende berzeugung von
der Wahrheit des Vorgestellten meinen kann, hat Ebert (1966, 41 f.) herausgestellt:
Es gehçrt notwendig zum Traum, daß der Trumende ihn fr die Realitt selbst hlt.
Ebert gibt hier auch den Hinweis auf Platons Beschreibung des ,Schaulustigen‘ in
Rep. 476c, wo der Trumende gerade nicht ber den Status seiner Erscheinung
reflektieren kann, sondern einen schçnen Gegenstand fr das Schçne selbst hlt.
8 Vgl. 168b5, 170a3 – 4, 171e2, 177c7 – 8. Auch Aristoteles paraphrasiert den Satz
des Protagoras mit beiden Termini: „alles, was jemand meint oder was scheint, ist
wahr“ (t± dojoOmta…ja· t± vaimºlema : Met. IV 5, 1009a6 ff.).
9 Vgl. Frede 1987, 5.
10 Zum Folgenden vgl. Burnyeat 1976, 34 ff.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 113

Autonomie zuspricht: Die Wahrnehmung prsentiert der Seele zum einen


Gegenstnde, die nicht zugleich in eine entgegengesetzte Wahrnehmung
umschlagen (d. h. nicht-amphibolisch sind), wie z. B. ein Finger; diese
Gegenstnde werden der Seele als schon hinreichend von der Wahrnehmung
unterschieden (Rjam_r rp¹ t/r aQsh¶seyr jqimºlema) prsentiert. Zum
anderen gibt es auch Gegenstnde, die sich zugleich in ihrem Gegenteil
zeigen (d. h. amphibolisch sind), z.B. groß und klein, dick und dnn, weich
und hart, leicht und schwer; diese macht die Wahrnehmung der Seele als
gegenstzliche kund (523c3: dgko?; 523e5: dgkoOsim ; 524a2: paqacc´kkei ;
524a9: sgla¸mei). Im ersten Fall ist das von der Wahrnehmung Prsentierte
so eindeutig, daß die Vernunft nicht zur nheren Untersuchung aufgefordert
wird (523b1: oq paqajakoOmta tμm mºgsim eQr 1p¸sjexim); die Seele wird
nicht gezwungen, die Vernunft weiter zu fragen (523d4 – 5). Im zweiten Fall
dagegen ist die Seele im Zweifel und ruft die berlegung und die Vernunft
zur weiteren Betrachtung und Beurteilung herbei (524b4 – 5).11 Die Seele ist
eine Instanz, der die Wahrnehmung ihre Inhalte meldet und die diesen
entweder vertraut oder die Vernunft zur weiteren Beurteilung herbeiruft.12
Entscheidend ist hier, daß die Wahrnehmung unabhngig von der Vernunft
Urteile fllen kann und damit der Seele als ein der Vernunft gleichberech-
tigtes Vermçgen gegenbersteht; die Wahrnehmung wird als ein urteilendes
Vermçgen angesehen und ist in diesem Sinn selbstndig. (i) Ihre Ttigkeit
wird mit der Terminologie des ,Kundtuns‘, ,Vermeldens‘ und ,bedeu-
tungsvollen Sagens‘ beschrieben (523c3: dgko?; 524a9: sgla¸mei ; 524a2:
paqacc´kkei ; 524a7: k´cei ; 524b1: 2qlgme?ai).13 (ii) Das Subjekt der ais-

11 Rep. 523a9 – b4: „Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahr-
nehmungen einiges, was gar nicht die Vernunft zur Betrachtung auffordert, als werde
es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf
alle Weise jene herbeiruft zur Betrachtung, als ob dabei die Wahrnehmung nichts
gesundes ausrichte“ (bers. Schleiermacher). Rep. 524b3 – 5: „Natrlich also
versucht die Seele bei dergleichen zuerst berlegung und Vernunft herbeirufend zu
erwgen, ob jedes solche angemeldete eins ist oder zwei“ (bers. Schleiermacher).
12 Was hier unter der Seele genauer zu verstehen ist, ist fr unsere Zwecke nicht von
Belang.
13 Vgl. Soph. 262c1 – d6: Ein Satz als eine Verbindung (sulpkoj¶) aus Namen (emola)
und Zeitwort (N/la), wie z. B. „der Mensch lernt“, macht etwas kund (dgko? ). Der
Satz ,benennt‘ nicht nur, sondern ,bestimmt‘ auch etwas; wer ihn ausspricht ,redet‘
und ,nennt‘ nicht nur. Aristoteles spricht in Int. 4 davon, daß jeder Satz (logos) zwar
etwas ,bedeutet‘ (sglamtijºr), nicht aber notwendig ein Behauptungssatz
(!povamtijºr) ist. Ein solcher liegt nur dann vor, wenn der ußerung das Wahr- oder
Falschsein zukommt. Z.B. bedeutet ,Mensch‘ etwas, sagt aber nichts darber aus,
114 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

thetischen Ttigkeit ist nicht die Seele, sondern das Sinnesvermçgen selbst
(523d5, e1, 524c3: exir ; 524a1: aUshgsir). (iii) Der Wahrnehmungsgehalt
weist eine als-Struktur auf (525a5 – 6). (iv) Wahrnehmung und Vernunft
sind zwei voneinander unabhngige Wissensquellen, d. h. die Vernunft ist in
ihrer Erkenntnis, was z. B. die Einheit ist (525a1), nicht auf die Wahrneh-
mung angewiesen. Die Wahrnehmung regt lediglich die Vernunft an oder
fordert sie heraus; beide sind konkurrierende Vermçgen.14 Auch in Rep. X
werden diese beiden Vermçgen als urteilend (602e9, 603a1: don²feim) und
daher konkurrierend beschrieben: Das Urteil der Wahrnehmung, der ins
Wasser gehaltene Stab sei krumm, widerspricht dem Urteil der Vernunft, der
Stab sei gerade.15
Im Theaitet deutet sich nun in der Ausdrucksweise des Sokrates eine erste
Klrung der Termini phainesthai, aisthanesthai, dokein und doxazein an. Im
ersten Einwand gegen Protagoras gibt er seine These mit den Worten wieder:
„Denn wenn einem jeden wahr sein soll, was er mittels der Wahrnehmung
meint (di’ aQsh¶seyr don²f,)“ (161d3); in 161e8 ist von „Vorstellungen und
Meinungen“ die Rede (vamtas¸ar te ja· dºnar). Besonders deutlich wird
diese przisierende Ausdrucksweise in 179c3 – 4: „ber den gegenwrtigen
Zustand eines jeden, woraus die Wahrnehmungen und die Meinungen
aufgrund der Wahrnehmungen entstehen“ (p²hor, 1n ¨m aR aQsh¶seir ja· aR
jat± ta¼tar dºnai c¸cmomtai). Die hier nur angedeutete begriffliche Klrung
wird im Schlußabschnitt des ersten Teils des Theaitet (184b-186e) genauer
ausgefhrt.16 Sokrates beginnt mit einer grammatischen Unterscheidung
zwischen dem, womit (è) der Mensch etwas wahrnimmt, und dem, durch das
(diû ox) der Mensch etwas wahrnimmt. Sokrates legt nun Theaitet die Frage
vor, ob es ,richtiger‘ (aqhot´qa) ist zu sagen, daß die Augen das sind, womit
wir sehen, oder daß die Augen das sind, durch das wir sehen. Die Redeweise,
daß wir ,durch die Augen‘ etwas sehen, scheint Theaitet ,richtiger‘ zu sein als
zu sagen, daß wir ,mit den Augen‘ etwas sehen. Sokrates hebt hervor, daß es
ihm bei dieser Frage nicht bloß um eine sprachliche Spitzfindigkeit geht,

daß etwas ist oder nicht ist. Hierfr muß noch ein ,Aussagewort‘ (N/la) hinzugefgt
werden.
14 Burnyeat 1976, 34 ff.; Burnyeat 1990, 60 f.
15 Ebd.
16 Hier schließe ich mich der Interpretation von Cooper (1970) und Burnyeat (1976;
1990, 58 ff.) an, die im Unterschied zur traditionellen Interpretation von Cornford
(1935) annehmen, daß es in diesem Abschnitt nicht um eine bloße Weiterfhrung
oder Anwendung einer mit der Zwei-Welten-Lehre der Mittleren Dialoge korre-
lierten Epistemologie geht, sondern um eine Unterscheidung zwischen ,sensation‘
und ,judgement‘.
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 115

sondern daß dahinter ein sachliches Problem steht (184c1 – 5). Dieses
Problem wird durch das Modell des hçlzernen Pferdes verdeutlicht: Wrde
gelten, daß wir ,mit den einzelnen Wahrnehmungsorganen‘ wahrnehmen,
dann wrde das bedeuten, daß alle Wahrnehmungen in uns unverbunden
nebeneinander liegen wie in einem hçlzernen Pferd. Das Individuum wre
ein bloßer ,Container‘ fr verschiedene Wahrnehmungsakte.17 Das Ge-
genmodell hierzu ist, daß ,alle Wahrnehmungen in einer bestimmten Form
zusammenlaufen‘ (eQr l¸am tim± Qd´am […] p²mta taOta sumte¸mei) und diese
Form fr die Wahrnehmungen verantwortlich ist; daß dieses Zentrum
,Seele‘ genannt wird, ist nicht von primrer Bedeutung (184d3). Auf dieses
Zentrum bezieht sich die Formulierung ,mit der Seele‘18, whrend die
einzelnen Organe nur als Instrumente19 fungieren; mit der Seele und durch
die Organe als kçrperliche Werkzeuge nehmen wir wahr20 : „Arg wre es
auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hçlzernen
Pferde in uns nebeneinander lgen, und nicht alle in irgendeinem, du magst
es nun Seele oder wie sonst immer nennen, zusammenliefen, mit der wir
dann vermittelst jener, daß ich so sage, Werkzeuge (Ø di± to¼tym oXom
aqc²mym) wahrnehmen, was nur wahrnehmbar ist“ (184d1 – 5; bers.
Schleiermacher). Dieses Zentrum ist fr die einzelnen Ttigkeiten primr
verantwortlich und diesem ordnen sich die einzelnen Sinne als Instrumente
unter.
Mit dieser Unterscheidung ist aber nicht nur die Einheit des Bewußtseins
der verschiedenen Wahrnehmungsakte garantiert, vielmehr dient diese
Unterscheidung im Folgenden auch als Grundlage fr die begriffliche
Klrung des Verhltnisses von Wahrnehmung, Meinung und Wissen und
damit der Widerlegung, Wahrnehmung sei Wissen. Theaitet stimmt dem
von Sokrates aufgestellten Prinzip zu, daß das, was durch das eine sinnliche
Vermçgen wahrgenommen wird, nicht durch ein anderes Vermçgen
wahrgenommen werden kann, jeder Sinn also seine eigentmlichen Ge-
genstnde hat: „Wirst du auch wohl zugeben wollen, daß du dasjenige, was
du vermittelst des einen Vermçgens wahrnimmst, unmçglich (!d¼matom)
vermittelst eines andern wahrnehmen kçnntest; als was vermittelst des
Gesichtes, das nicht vermittelst des Gehçrs, und was vermittelst des Gehçrs,

17 Burnyeat 1976, 33.


18 Fr diese Ausdrucksweise vgl. auch Aristoteles, De an. I 4, 408b15; Sens. 436b7.
19 Mit Burnyeat (1976, 30 Anm. 6) gehe ich davon aus, daß eqcama hier eine ganz
unspezifische Bedeutung hat, d. h. nicht schon im Sinne von ,kçrperlichen Organen’
verstanden werden darf.
20 Vgl. auch Tht. 185d3; 185e7.
116 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

das nicht vermittelst des Gesichtes?“ (184e8 – 185a2; bers. Schleierma-


cher).21 Daraus folgt, daß das, was ber verschiedene Sinnesgegenstnde
Gemeinsames gedacht wird (diamoe?shai peq·: 185a4) – in 185b8 – 9 spricht
Sokrates auch vom t¹ joim¹m kalb²meim peq· aqt_m –, weder durch das eine
noch durch das andere sinnliche Vermçgen wahrgenommen werden kann,
also kein mçglicher Inhalt der Wahrnehmung ist.22 Zu diesen gemeinsamen
Inhalten gehçrt an erster Stelle, daß die jeweiligen Sinnesgegenstnde ,sind‘:
„ber Ton nun und ber Farbe, denkst du nicht ber diese beiden zuerst
dieses, daß sie beide sind (fti !lvot´qy 1stºm)?“ (185a8 – 9); Sokrates
spricht bei dieser gemeinsamen Bestimmung (koinon) auch von der ousia, die
„am meisten alle begleitet“ (l²kista 1p· p²mtym paq´petai : 186a2 – 3).23
Nach diesem primren koinon nennt Sokrates Verschiedenheit und Ein-
heit24, Anzahl, hnlichkeit und Unhnlichkeit, spter auch schçn und
schndlich, gut und schlecht25, schließlich auch den Nutzen als Bestim-
mungen, die allen spezifischen Sinnesgegenstnden gemeinsam zukommen
(tº t’ 1p· p÷si joim¹m : 185c4 – 5). Diese gemeinsamen Bestimmungen
kçnnen nicht durch ein bestimmtes Sinnesvermçgen oder Sinneswerkzeug26
erfaßt werden, vielmehr untersucht die Seele diese Bestimmungen ,durch
sich selbst‘ (di’ art/r): „Vermittelst wessen wirkt denn nun dasjenige Ver-
mçgen, welches dir das in allen und auch in diesen Dingen gemeinschaftliche
offenbart, womit du von ihnen das Sein oder Nichtsein aussagst, und das
wonach ich jetzt eben fragte? […] Aber, beim Zeus, Sokrates, dies wßte ich
nicht zu sagen, außer daß es mir scheint, als gbe es berall gar nicht ein
solches besonderes Werkzeug (eqcamom Udiom) fr dieses wie fr jenes, son-
dern die Seele scheint mir vermittelst ihrer selbst (di’ art/r) das gemein-
schaftliche in allen Dingen zu erforschen (t± joim²…peq· p²mtym
1pisjope?m)“ (185c4-e2; bers. Schleiermacher). Was fr eine Art kognitive
Ttigkeit ist hier gemeint? Feststeht, daß sich die ,Ttigkeit der Seele durch

21 Zu einer unterschiedlichen Interpretation der Strke dieses Prinzips vgl. Burnyeat


1990, 56 f. Schon hier wird deutlich, daß dieses Prinzip bei Aristoteles (De an. II 6,
418a11 f.) schwcher verstanden werden muß, da es bei ihm die koina aisthÞta gibt,
die von mehreren spezifischen Vermçgen wahrgenommen werden kçnnen (De an.
III 1, 425a15 f.).
22 Das diamoe?shai muß hier in einem weiten Sinn verstanden werden. Man erkennt
etwas, das zwei verschiedenen Sinnesgegenstnden gemeinsam ist.
23 Neben dieser Formulierung spricht Platon auch von 5stim/auj 5sti (185c4 – 5),
oqs¸a/lμ eWmai (c9), oqs¸a ja· fti 1stºm (186b6), oqs¸a (b7; c3; c7; d3).
24 „Nicht auch, daß jedes von beiden vom andern verschieden, mit sich selbst aber
identisch ist?“ (185a11 – 12). In 185c10 kurz t¹ taqtºm te ja· t¹ 6teqom genannt.
25 jak¹m ja· aQswq¹m ja· !cah¹m ja· jajºm (186a9).
26 Platon kann d¼malir auch im Sinne von eqcamom verwenden (185a5).
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 117

sich selbst‘ keines Sinnesorgans bedient, demnach also kein aisthetischer Akt
ist.27 Daraus kçnnte man den Schluß ziehen, daß es sich um einen intuitiven
Akt des nous im Sinne einer geistigen Schau handelt, wie er z. B. in den
mittleren Dialogen hufig anzutreffen ist; in diesem Sinn kçnnte man das
Erfassen des primren koinon der ousia (185c9, 186a2, b6) und der anderen
koina als geistige Schau der Ideen von Sein, Identitt und Verschiedenheit
verstehen.28 Eine nicht-intuitionistische Interpretation wrde dagegen
folgendermaßen aussehen: Das primre koinon ,Sein’ wird in Form einer
Proposition eingefhrt, in der das Vorliegen bestimmter Qualitten be-
hauptet wird (fti !lvot´qy 1stºm : 185a9; c4 – 5). Hier wird der Anspruch
erhoben, daß etwas der Fall ist (z. B. daß dort etwas Rotes ist); wir haben es
mit einem Wahrnehmungsurteil zu tun.29 Die Seele kann den Unterschied
zwischen dem Harten und Weichen und das Sein dieses Unterschieds be-
urteilen: „Aber das Sein von beiden, und daß sie sind30, und ihre Gegen-
setzung gegen einander und das Bestehen dieser Entgegensetzung (tμm
oqs¸am aw t/r 1mamtiºtgtor), dies versucht also unsere Seele selbst durch

27 Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den koina bei Platon und den koina aisthÞta
bei Aristoteles, auf die wir noch nher eingehen werden (Kap. 3.3). Whrend die
koina bei Platon kein Gegenstand der Wahrnehmung sind, vielmehr durch ein
hçheres Vermçgen erfaßt werden, sind die koina bei Aristoteles von mehreren Sinnen
,an sich‘ wahrnehmbar (De an. II 6, 418a8 – 11, a18 ff.; III 1, 425a27). Nun darf man
aber nicht meinen, daß die platonischen koina von Aristoteles in die Sphre des
Wahrnehmbaren hineingeholt werden: Nur ein platonisches koinon, nmlich die
Einheit (6m) bzw. Zahl (!qihlºr), taucht bei Aristoteles wieder als koinon aisthÞton auf
(De an. II 6, 418a18 f.; III 1, 425a16; Sens. 437a9). Die Eigenschaft ,Einheit und
Verschiedenheit‘ (t¹ taqtºm te ja· t¹ 5teqom) ist fr Aristoteles kein ,direkter‘ Ge-
genstand der Wahrnehmung, sondern Ergebnis der unterscheidenden Ttigkeit der
,gemeinsamen Wahrnehmung‘ (De an. III 2, 426b8 – 23) bzw. der Ttigkeit des
sensus communis (Somn. 455a15 – 22).
28 Nach Cornford (1935) sind oqs¸a und die folgenden koina als von der sinnlichen
Welt abgetrennte Gegenstnde des Wissens zu verstehen, die nur in einer geistigen
Schau zugnglich sind. Der Theaitet wrde somit nichts anderes tun, als auf der
Grundlage der Zwei-Welten-Lehre und der mit ihr korrelierten Epistemologie die
Gleichsetzung von Wahrnehmung und Wissen zu widerlegen.
29 Nach Kahn besitzt das eWmai eine ,veridical nuance‘ (im Unterschied zur ,veridical
construction‘: z. B. ,es ist so, daß p‘). Diese begleitet implizit die gesamte Ver-
wendung der Kopula in jedem assertorischen Satz und steht dem bloßen (nicht-
epistemischen) ,Scheinen‘ gegenber: „Even where the syntax is unambiguos, a
copula use of the verb may bear a veridical value, that is to say, it may serve to call
attention to the truth claim that is implicit in every declarative sentence […] In the
copula use a veridical nuance emerges whenever there is any contrast between being
so and seeming so“ (Kahn 1981b, 105).
30 Mit Cooper (1970, 137 Anm. 18) kann das epexegetisch verstanden werden.
118 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Betrachtung und Vergleichung zu beurteilen“ (186b6 – 9; bers. Schlei-


ermacher mit nderungen). Fr eine solche Interpretation kçnnte angefhrt
werden, daß die ,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ diskursiv beschrieben
wird31: Die Seele setzt in dieser ihr eigenen, von den Sinneswerkzeugen
unabhngigen Ttigkeit etwas miteinander ins Verhltnis, wie das Ver-
gangene, Gegenwrtige und Zuknftige bei den Wertprdikaten (!makoci-
fol´mg : 186a11), unterscheidet durch intensive Prfung und Vergleich
(1pamioOsa ja· sulb²kkousa pq¹r %kkgka jq¸meim : 186b8) und zieht be-
stimmte Schlsse ber das Wahrgenommene (t± d³ peq· to¼tym !makoc¸-
slata : c2 – 3; peq· 1je¸mym sukkocisl`: d3); dies alles vollzieht sich nicht
,auf einen Schlag‘und ohne gewisse Voraussetzungen, sondern verlangt Zeit,
Mhe und Unterricht (186c3 – 4). Diese der Seele eigentmliche Ttigkeit
wird in 187a8 als doxazein bezeichnet; ihr diskursiver Charakter kommt
noch einmal zum Vorschein, wenn Sokrates das doxazein als Konklusion des
Denkens (dianoeisthai) im Sinne eines Gesprchs der Seele mit sich selbst
bestimmt (189e4 – 190a7; Soph. 264b1: dºna d³ diamo¸ar !poteke¼tgsir).32
Es handelt sich hier um eine urteilende, dianoetische Ttigkeit der Seele.
Gegenber der Wahrnehmung kçnnen somit folgende Unterschiede an-
gefhrt werden: Whrend die Wahrnehmung Menschen und Tieren von
Natur aus (physei) zukommt und mit der Geburt zur Verfgung steht
(186b11 – c1)33, somit also kein weiteres Wissen voraussetzt, wird die spe-
zifisch seelische Ttigkeit durch viele bungen und Unterricht erworben.
Das wendet sich indirekt gegen die Protagoreische Infragestellung von
Wissensautoritten.34 Whrend bei der Wahrnehmung von pathÞmata die
Rede ist, die durch den Kçrper zur Seele gelangen (186c1 – 2, d2), cha-

31 Vgl. Cooper 1970; Frede 1987, 7.


32 „Denn so schwebt sie mir vor, daß, so lange sie denkt, sie nichts anders tut als sich
unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber
langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt, und auf derselbigen
Behauptung beharrt, und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Meinung“
(bers. Schleichermacher mit nderung).
33 Aristoteles lehnt sich in An.Post. II 19, 99b34 f. an diese Formulierung an, wenn er
davon spricht, daß das Vermçgen der Wahrnehmung allen Lebewesen zukommt und
angeboren (s¼lvutom) ist. Der entscheidende Unterschied zu Platon besteht jedoch
darin, daß Aristoteles die Wahrnehmung als ein unterscheidungsfhiges (d¼malir
jqitij¶) und zur Reflexion auf ihre eigene Ttigkeit fhiges Vermçgen ansieht.
Hierzu Genaueres in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels.
34 Auf diesen Aspekt kçnnte auch die Digression mit ihrer Betonung der ,Muße‘
(swok¶: 172c2, d5) als Gegenmodell zur Leugnung epistemischer Autoritten
hinweisen. Auch Aristoteles betont den Zeitaspekt: „Denn das Wissen muß mit dem
Menschen verwachsen; das aber braucht Zeit“ (EN VII 5, 1147a22).
3.1 Platons anti-empiristische Analyse im Theaitet 119

rakterisiert Platon die seelische Ttigkeit mit Hilfe der Terminologie des
Schließens (186c3: !makoc¸slata ; d3: sukkocisl`), was auf die Aktivitt
eines urteilenden Vermçgens hinweist.
Damit ist die Vermischung zwischen Wahrnehmen und Meinen auf-
gelçst: Die Wahrnehmung ist nichts anderes als ein angeborenes, auch den
Tieren zukommendes passives Vermçgen, durch den Kçrper von den ei-
gentmlichen Sinnesqualitten affiziert zu werden, die dann zur Seele als
dem Zentrum der Wahrnehmung gelangen (186c1 – 2). Die Wahrnehmung
besitzt keine Kompetenz, Meinungen bzw. Urteile35 ber das Wahrge-
nommene zu bilden. Insofern fr ein Urteil Begriffe beherrscht und mit-
einander verbunden werden mssen, handelt es sich hier vielmehr um eine
diskursive, rationale Ttigkeit, die auf Lernen beruht (186c4). Mit Kant
kçnnte man sagen: Die Sinne urteilen nicht.36 Dadurch verlieren die ein-
zelnen Sinne ihre Autonomie, die in Rep. VII und X im Vermçgen des
Urteilens bestand.37 Die einzelnen Wahrnehmungssinne spielen nur noch
die Rolle von kçrperlichen Instrumenten und werden der Seele als Zentrum
und eigentliches Subjekt jeder Wahrnehmung untergeordnet. Platon hat mit
dieser Analyse gezeigt, daß Wahrnehmung und Meinung voneinander zu
trennen sind: Das Wahrnehmungsurteil ist schon eine dianoetische Ttig-
keit; was umgangssprachlich als ,Wahrnehmung‘ bezeichnet wird, impliziert
schon immer hçhere Leistungen. Im Sophistes wird das Wahrnehmungsurteil
als phantasia bezeichnet: die Konklusion eines Gesprchs, das die Seele nicht
mit sich allein, sondern durch oder mit Hilfe der Wahrnehmung (di(
aQshgseyr) gefhrt hat (s¼lleinir aQsh¶seyr ja· dºngr : 264a4 – b4). Eine
zweite Konsequenz aus Platons Analyse ist, daß ein genuin aisthetischer
Weltzugang unmçglich wird: Wenn ein solcher Zugang darin besteht, daß
man zwischen verschiedenen sinnlichen Qualitten unterscheiden und
diesen Unterschied als der-Fall-seienden behaupten kçnnen muß, z. B. daß
dieses Rote vom benachbarten Grnen verschieden ist (186b7: tμm oqs¸am aw
t/r 1mamtiºtgtor), nun aber diese beiden Leistungen der dianoetischen
,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ zugeschrieben werden mssen (185a,
c9), dann ist fr die Wahrnehmung allein ein Zugang zur Wirklichkeit
unmçglich.38 Die Wahrnehmung versorgt lediglich die hçhere Ttigkeit der

35 Ich verstehe hier unter Urteil die ußerung einer Meinung. Wir haben viele Mei-
nungen, mssen diese aber nicht unbedingt in einem Urteil kundtun.
36 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht I § 11; Kritik der reinen Vernunft B
350.
37 Burnyeat 1976, 36.
38 Darauf macht Ricken (1989, 223) aufmerksam.
120 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Seele mit sensorisch-qualitativen Inhalten. Dies gilt auch dann, wenn Platon
der Wahrnehmung so etwas wie rudimentre Begriffe, z. B. Farbprdikate,
zugestehen wrde, wie es sich von 186b2 – 4 aus nahelegt39 : Der Tastsinn
kçnnte dann zwar das Harte als Hartes wahrnehmen, nicht aber feststellen,
daß dort etwas Hartes ist, d. h. kein Urteil ber die Wirklichkeit fllen.40
Auf dieser Grundlage kann schließlich die These des Theaitet widerlegt
werden, daß Wahrnehmung und Wissen dasselbe seien: (i) Von etwas
Wissen zu haben impliziert, von etwas die Wahrheit zu erreichen.41 (ii) Von
etwas die Wahrheit zu erreichen impliziert, von etwas das Sein, die ousia, zu
erreichen. Nach der nicht-intuitionistischen Interpretation ist demnach der
Ort der Wahrheit das sich auf das Seiende beziehende Urteil. (iii) Der
Wahrnehmung ist es nicht mçglich, das Sein zu erreichen, da die Wahr-
nehmung keine Urteile mit einem wahrheitsbeanspruchenden ,ist‘ fllen
kann. (iv) Daraus folgt, daß die Wahrnehmung auch nicht die Wahrheit von
etwas erreichen und damit nicht mit Wissen identifiziert werden kann. (v) In
den Eindrcken der Wahrnehmung ist kein Wissen, wohl aber in den
Schlssen ber diese, die eine ,Ttigkeit der Seele durch sich selbst‘ dar-
stellen. Die These des Theaitet ist somit widerlegt. Platon hat gezeigt, daß in
den Kompetenzbereich der Wahrnehmung lediglich die Aufnahme der
,eigentmlichen Qualitten‘ fllt. Er nimmt somit eine anti-empiristische
Analyse der Wahrnehmung vor: Indem er aufgezeigt, welche nicht-per-
zeptiven, hçheren Leistungen schon immer in ein gewçhnliches Wahr-
nehmungsurteil eingeflossen sind, zeigt er wie ,schmal‘ die empirische Basis
ist und daß sie zu ,schmal‘ ist, um Wissen begrnden zu kçnnen. Mit
Burnyeat gesprochen: „the perception by itself is blind and can tell us no-
thing“.42 Die Wahrnehmung liefert keine nicht-inferentiell gewußten Tat-
sachen, die in rechtfertigende Beziehungen zu anderen berzeugungen

39 Nach Tht. 186b2 – 4 scheint der Tastsinn die „Hrte des Harten“und die „Weichheit
des Weichen“ wahrnehmen zu kçnnen. Cooper (1970) spricht hier von „minimal
perceptual concepts“ (141). Eng verbunden mit der Wahrnehmung sei eine un-
mittelbare Konzeptualisierung der Sinnesdaten: „…the labelling function goes
together with sensory awareness and is reasonably grouped together with it in
contrast with reflective judgment“ (134); „perception, then, includes sensory
awareness and the minimum interpretation of its objects which is involved in la-
belling them…“ (141).
40 Vgl. Burnyeat 1990, 64: „Perception is aware of red as red, of hardness as hardness.
What it cannot do is go beyond this awareness to determine what is objectively the
case in an interpersonal world.“
41 Zu dem hier vorausgesetzten Wissensbegriff vgl. schon Tht. 152c5 – 6 (toO emtor !e¸
1stim ja· !xeud´r).
42 Burnyeat 1990, 62. Vgl. auch Frede 1987, 8.
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs 121

treten kçnnten, sondern bezieht sich auf einzelne Qualitten; sie besitzt
somit keine epistemisch-rechtfertigende Autoritt: „In jenen Eindrcken
also ist kein Wissen, wohl aber in dem Schluß ber jene“ (186d2 – 3).43 Der
Theaitet geht sogar noch einen Schritt weiter: Indem der Wahrnehmung
abgesprochen wird, erfassen zu kçnnen, daß dort etwas Rotes ist und daß es
sich vom benachbarten Grnen unterscheidet (185a), haben wir durch die
Sinne allein noch nicht einmal einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit; sie
fungieren bloß als ,Werkzeuge‘ fr die hçheren seelischen Funktionen.

3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs


Der kurze Blick in den Theaitet hat gezeigt, daß im damaligen Diskussi-
onskontext der Akademie die Frage nach dem Gehalt und dem epistemo-
logischen Status der Wahrnehmung keine fremde war. Nun ist es eine in der
Forschung gelufige These, daß Aristoteles den Kompetenzbereich der
Wahrnehmung gegenber Platon stark erweitert hat.44 Das soll kurz anhand
folgender Punkte verdeutlicht werden:
(a) Aristoteles fgt der Klasse der jedem Sinn eigentmlichen Gegen-
stnde (idia aisthÞta) die sog. koina aisthÞta (Bewegung, Ruhe, Gestalt,
Grçße, Zahl und Eines45) hinzu, die von mindestens zwei Sinnen wahrge-
nommen werden kçnnen (De an. II 6, 418a17 – 20; III 1, 425a15 f.).46 Beide
bilden zusammen die Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘, von denen die
idia aisthÞta als die ,im eigentlichen Sinn‘ (juq¸yr : 418a24) wahrnehmbaren
Gegenstnde bezeichnet werden. (Darauf werden wir im nchsten Abschnitt
noch genauer eingehen.) Mit den koina aisthÞta gibt Aristoteles Platons
Prinzip auf, daß das, was durch ein Vermçgen wahrgenommen wird, un-
mçglich durch ein anderes wahrgenommen werden kann (Tht. 184d7 –
185a3). In der Wahrnehmung prsentiert sich uns also eine bestimmte

43 1m l³m %qa to?r pah¶lasim oqj 5mi 1pist¶lg, 1m d³ t` peq· 1je¸mym sukkocisl`.
44 Vgl. Sorabji 1992, 196: „he gives to perceptual content one of the most massive
expansions in the history of Greek philosophy“.
45 Im Gegensatz zu Ross (1961, 270), der hen nicht liest, scheint es gut begrndet zu
sein, hen hier dennoch eigens anzufhren: Das hen ist das „Prinzip der Zahl“ (Met. V
6, 1016b17 ff.; X 1, 1052b23 f.), durch das anderes gezhlt wird, das aber selbst nicht
gezhlt werden kann, weshalb es im eigentlichen Sinn keine Zahl ist (Met. XIV 1,
1088a4 – 8) und daher in De an. III 1 gesondert erwhnt wird.
46 Hier wird nur ein koinon Platons, also was ber verschiedene Sinnesgegenstnde
Gemeinsames gedacht werden kann (diamoe?shai peq· c. gen.; Tht. 185a4), zum
koinon aisthÞton bei Aristoteles, nmlich die Anzahl.
122 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Qualitt gemeinsam mit bestimmten koina aisthÞta, wie z. B. eine Farbe in


einer bestimmten Grçße (Sens. 445b10 f.).
(b) Das von Platon beschriebene Phnomen, ber zwei verschiedene
Qualitten etwas Gemeinsames denken oder erfassen zu kçnnen (185a4:
diamoe?shai peq· !lvot´qym ; 185b8 – 9: t¹ joim¹m kalb²meim peq· aqt_m),
z. B. daß sie voneinander verschieden und mit sich identisch sind, daß sie
einander hnlich oder unhnlich sind, wird von Aristoteles der Kompetenz
des Wahrnehmungsvermçgens zugesprochen47 und nicht wie im Theaitet
der Ttigkeit der Seele ,durch sich selbst‘ (Tht. 185e). Nach Aristoteles ist es
ein und dasselbe sinnliche Vermçgen, das in ungetrennter Zeit zwei Qua-
litten derselben oder unterschiedlicher aisthetischer Gattung voneinander
unterscheiden (krinein)48 kann (De an. III 2, 426b8 – 427a14). Es ist auch
kein besonderes Vermçgen notwendig, um zu erkennen, daß beide Quali-
tten zu einem Gegenstand gehçren (III 1, 425b2; auch 425a23 f.). Der
Wahrnehmung wird außerdem die Fhigkeit zugesprochen, ihre eigene
Ttigkeit wahrzunehmen, wir nehmen z. B. wahr, daß wir etwas sehen (De
an. III 2, 425b12 – 25; EN IX 9, 1170a29-b1). Fr diese diskriminatori-
schen und reflexiven Leistungen ist ein Wahrnehmungsvermçgen von hoher
Komplexitt notwendig: Nach Aristoteles bilden die fnf Einzelsinne ge-
meinsam ein Vermçgen, das nicht nur als ein ,besonderes‘ (z. B. als Ge-
sichtssinn), sondern auch als ein ,gemeinsames‘ ttig sein kann und somit
Leistungen vollziehen kann, welche die Kompetenz der Einzelsinne ber-
steigen (z. B. gleichzeitig zwischen dem Gelben und dem Sßen zu unter-
scheiden).49 Diesem komplexen Vermçgen liegt ein sensorisches System
zugrunde, in dem die peripheren Sinnesorgane in einem Zentralorgan
konvergieren, das im Herzen lokalisiert ist. In De Somno spricht Aristoteles
die diskriminatorischen und reflexiven Leistungen dieser joimμ d¼malir
(455a16) bzw. dem im Herzen lokalisierten Zentralsinn (timi joim` loq¸\
t_m aQshgtgq¸ym "p²mtym ; t¹ j¼qiom aQshgt¶qiom : 455a19 ff.) zu, in dem
alle spezifischen Sinne konvergieren (Somn. 455a3450 ; Juv. 467b2951). Fr
dieses ,gemeinsame Vermçgen‘ bzw. diesen ,gemeinsamen Teil aller Sinne‘
hat sich in der Aristotelischen Tradition die Bezeichnung ,Gemeinsinn‘

47 Vgl. De an. III 2, 426b14 f.: …tim· ja· aQshamºleha fti diav´qei. !m²cjg dμ
aQsh¶sei7 aQshgt± c²q 1stim.
48 Zum krinein als einem Unterscheiden vgl. Ebert 1983.
49 Vgl. Gregoric 2007, 39.
50 pq¹r d sumte¸mei tükka. Auffllig ist hier die hnlichkeit zu Tht. 184d3 – 4, wo es
allerdings die Seele ist, in der die einzelnen Wahrnehmungen zusammenlaufen
(p²mta taOta sumte¸mei).
51 eQr d t±r jat’ 1m´qceiam aQsh¶seir !macja?om !pamt÷m
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs 123

(sensus communis) etabliert. Welche Aristotelischen Termini52 genau das


treffen, was in der Tradition unter dem ,Gemeinsinn‘ verstanden wurde, und
welche Leistungen diesem sinnlichen Vermçgen zugeschrieben werden
sollten, sind hçchst umstrittene Fragen, auf die hier nicht nher eingegangen
werden kann.53 Hier ist nur von Belang, daß Aristoteles ein ,gemeinsames
Vermçgen‘ kennt, das als ,sinnliches Zentrum‘ die Leistungen der Einzel-
sinne koordiniert und als solches eine Erweiterung der Kompetenz der
Wahrnehmung mçglich macht. Durch dieses kçnnen Ttigkeiten erklrt
werden, die einerseits das Vermçgen der Einzelsinne bersteigen, anderer-
seits aber unterhalb des Intellekts liegen. Hier sind vor allem jene Leistungen
zu nennen, durch die schon auf der perzeptuellen Ebene ein einheitliches
Bewußtsein und ein genuin aisthetischer Weltzugang zustande kommen:
Nach Aristoteles kommt es erst dann zu einer bewußten Wahrnehmung
eines vorliegenden Gegenstands, wenn die sensitiven Bewegungen, die von
den peripheren Organen ausgehen, das Zentralorgan affizieren und somit
der von außen verursachte kausale Vorgang sein Ziel erreicht hat (Insomn.
461a30-b1). Dieses ,intentionale‘, auf den externen Gegenstand bezogene
Bewußtsein ist von einem Bewußtsein der eigenen Ttigkeit, einem ,refle-
xiven‘ Bewußtsein begleitet (De an. III 2, 425b12 – 25; Somn. 455a16 f.).
Nach Aristoteles ist jeder Wahrnehmungsakt mit einem Bewußtsein seiner
eigenen Ttigkeit verbunden (EN IX 9, 1170a29-b1).54 Bei diesem refle-

52 Vgl. etwa aUshgsir joim¶ (De an. III 1, 425a27; Mem. 450a10 f.), joim¹m aQshgt¶-
qiom (Juv. 467b28; Juv. 469a12), joimòm lºqiom t_m aQshgtgq¸ym "p²mtym (Somn.
455a19 f.), j¼qiom aQshgt¶qiom (Somn. 455a21, a33), t¹ j¼qiom (Insomn. 460b17),
!qwμ t/r aQsh¶seyr (Insomn. 461a6 f.).
53 Vgl. die Studie von Gregoric 2007, der die divergierende Terminologie eingehend
untersucht und sich um eine konsistente Antwort auf die Frage bemht, welche
Funktionen dem Gemeinsinn zugeschrieben werden mssen. Zentral ist fr Gre-
goric die These, daß die verschiedenen Funktionen, die ber die Einzelsinne hin-
ausgehen, nicht alle einem einzigen Vermçgen zugesprochen werden drfen, son-
dern – basierend auf dem ,begrifflichen Unterschied‘ zwischen den verschiedenen
seelischen Vermçgen – zwischen einer ,perceptual capacity‘ und einer ,sensory ca-
pacity‘, die sowohl die ,perceptual capacity‘ als auch das phantastikon umfaßt, un-
terschieden werden kann. Der ,Gemeinsinn‘ kann dann im Sinne der Tradition auf
die Leistungen der ,perceptual capacity‘ bezogen werden (52 – 61). Fr die von
Gregoric eingefhrte Unterscheidung gibt es natrlich keine textlichen Anhalts-
punkte; sie rechtfertigt sich allein durch ihre Erklrungskraft. Dagegen stellt fr
Welsch (1987, Kap. VI) der,Gemeinsinn‘ berhaupt keine Lehre des Aristoteles dar,
sondern ein Konstrukt der Interpreten. An die Stelle des ,Gemeinsinns‘ setzt er die
Lehre von der ,Sinneseinheit‘.
54 Mssen wir dann auch niederen Lebewesen, die etwa nur berden Tastsinn verfgen,
diese Fhigkeit zuschreiben? Aristoteles ordnet diese Fhigkeit dem Zentralsinn zu,
124 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

xiven Bewußtsein handelt es sich nun aber nicht um einen zweiten, auf einer
hçheren Stufe angesiedelten Akt, der von einem ,inneren Sinn‘ hervorge-
bracht wird55, sondern um ein Element oder eine intrinsische Eigenschaft des
Wahrnehmungsakts selbst, das durch das Wahrnehmungsvermçgen, inso-
fern es als ,gemeinsames‘ ttig ist, geleistet wird.56 Dabei ist der ,reflexive‘
Aspekt dem ,intentionalen‘ nachgeordnet; das Bewußtsein der eigenen
Ttigkeit kommt erst durch den Bezug auf einen ußeren Gegenstand zu-
stande (Met. XII 9, 1074b35 f.).57 Wird also das Zentralsensorium durch die
von einem peripheren Sinnesorgan ausgehende sensorische Bewegung af-
fiziert, dann nimmt man den entsprechenden ußeren Gegenstand wahr und
ist sich gleichzeitig dieser Wahrnehmung bewußt. Nimmt man jetzt noch die
Fhigkeit der Unterscheidung zwischen Qualitten derselben oder ver-
schiedener aisthetischer Gattungen hinzu, dann zeigt sich genauer, wie ein
genuin aisthetischer Weltzugang mçglich wird: Wir kçnnen uns auf der
Grundlage des komplexen Wahrnehmungsvermçgens auf bestimmte
Qualitten beziehen, diese voneinander unterscheiden, auf einen Gegen-
stand hinordnen und sind uns dieses Wahrnehmungsaktes selbst noch
einmal bewußt. Die Wahrnehmung ist hier kein unselbstndiges Werkzeug
der Seele, das unser Denken mit elementaren sensorischen Informationen
versorgt, sondern ein unterscheidungsfhiges und reflexives Vermçgen, das
ein einheitliches sinnliches Bewußtsein hervorbringt. Wir sehen an dieser
Stelle, wie die Wahrnehmung die allgemeine Bestimmung des Erkennens
erfllt: Das Erkennen (gnrizein) ist ein Akt, in dem wir etwas von etwas
anderem unterscheiden und Wirkliches erfassen (De an. III 3, 427a20 f.).

der jedem wahrnehmungsfhigen Wesen als solchem zukommt und im Herz, das
zugleich Sitz des Tastsinns ist, lokalisiert ist (Somn. 455a22 f.). Er macht keine
einschrnkenden Bemerkungen darber, ob nur einige Lebewesen diese Fhigkeit
haben. Wenn das tatschlich der Fall wre, welches Vermçgen wre dann fr die
Reflexion verantwortlich? Eine ganz andere Antwort besteht darin, die Selbstre-
flexion nicht mehr als aisthetisch, sondern als eine Art des Denkens anzusehen, das
nur vernnftigen Wesen zukommen kann.
55 Vgl. Kosman 1975.
56 Hierzu genauer Caston 2002, 779. Ob auch das reflexive Bewußtsein als ein in-
tentionaler Zustand angesehen werden kann, der sich auf den gegenstandsbezogenen
Wahrnehmungsakt richtet, wodurch die Analysierbarkeit und Erklrbarkeit ge-
wahrt bliebe, lasse ich hier offen. Nach Caston folgt daraus nicht, daß es sich um
einen zweiten, getrennten mentalen Zustand handelt. Vielmehr werden beide Typen
von Gehalt (der ,intentionale‘ und der ,reflexive‘) in einem token instantiiert sind,
wodurch das reflexive Bewußtsein weiterhin eine intrinsische Eigenschaft des
Wahrnehmungsakts bleibt.
57 Vgl. Oehler 1984, 72; Oehler 1985, 201.
3.2 Grundriß des Aristotelischen Wahrnehmungsbegriffs 125

Vom Denken (noein im weiten Sinn von 427b27) als der anderen Art des
Erkennens unterscheidet sich das Wahrnehmen darin, daß es an einen or-
ganischen Apparat gebunden ist, auf aisthÞta ausgerichtet ist und sich ohne
Begriffe (noÞmata) vollzieht.
(c) Aristoteles rechnet auch die phantasia und das Gedchtnis (mnÞmÞ)
dem Wahrnehmungsvermçgen zu. Im Unterschied zu Platon, wo der Ter-
minus phantasia ein Wahrnehmungsurteil bezeichnet (s¼lleinir aQsh¶seyr
ja· dºngr : Soph. 264b2), versteht Aristoteles die phantasia nicht-doxas-
tisch: Bei der Frage, zu welchem seelischen Vermçgen die phantasia zhlt,
lehnt Aristoteles explizit die platonische Bestimmung der phantasia als
,Verbindung von Meinung und Wahrnehmung‘ab (428a25 – 28). Sie gehçrt
fr Aristoteles zum wahrnehmungsfhigen Seelenteil (428b12 ff.) und kann
auch Tieren zukommen (428a23 f.; Met. I 1, 980b25 f.). Zwischen dem
aisthÞtikon und phantastikon besteht nur ein Unterschied ,dem Sein nach‘
(Insomn. 459a16 f.). Bei der phantasia handelt es sich nicht um ein genuin
seelisches Vermçgen mit eigenen Gegenstnden, sondern bloß um ein
passives Reservoir von Wahrnehmungseffekten, auf das andere Vermçgen
zurckgreifen kçnnen, um Sachverhalte zu reprsentieren, die vom Vor-
liegen wahrnehmbarer Gegenstnde unabhngig sind.58 Neben der phan-
tasia ordnet Aristoteles auch das Gedchtnis (mnÞmÞ) – nicht das Erinnern
(anamnÞsis: Mem. 453a4 – 14) – dem wahrnehmungsfhigen Seelenteil zu,
das Aristoteles als „Besitz einer Vorstellung als Abbild dessen, wovon es die
Vorstellung ist“ definiert (Mem. 451a14 – 17). Mit dem Gedchtnis ttig zu
sein, heißt also nicht, einen Wahrnehmungsinhalt bloß abzuspeichern,
sondern ein phantasma als ein Abbild (eikn) dessen, wovon es die Vor-
stellung ist, zu verwenden und zustzlich zeitlich zu datieren. Wird das
phantasma in dieser Weise vom primren Wahrnehmungsvermçgen ver-
wendet (als mnÞmoneuma), bringt es einen reprsentationalen Gehalt hervor,
dem der Verweis auf seinen perzeptuellen Ursprung beigefgt ist; es lßt uns
an den ursprnglichen Wahrnehmungsgegenstand denken.59 Auf dieser
Grundlage kçnnen subrationalen Lebewesen auch reidentifizierende und
assoziierende Leistungen zugesprochen werden. ,Intelligentes‘ animalisches
Verhalten kann somit ohne Rckgriff auf den Intellekt erklrt werden.60
(d) Trotz dieser Aufwertung der Kompetenz des Wahrnehmungsver-
mçgens im engen Sinn (Diskrimination, Selbstreflexion) und im weiten
Sinn (phantasia, Gedchtnis) hlt Aristoteles an der strikten Trennung von

58 Vgl. Wedin 1988; D. Frede 1992, 281; Corcilius 2008, 211 – 215.
59 Hierzu genauer King 2004.
60 Hierzu genauer Lorenz 2006, 148 – 173.
126 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

Wahrnehmung und Denkvermçgen fest (De an. III 3, 427b6 – 14, b27). Das
zeigt sich besonders darin, daß Aristoteles die berzeugungsunabhngigkeit
der Wahrnehmung betont: „Es erscheint aber auch Falsches, ber das man
zugleich eine wahre Annahme (rpºkgxir) hat, so scheint die Sonne ein Fuß
breit zu sein, man ist aber davon berzeugt (piste¼etai), daß sie grçßer als die
bewohnte Erde ist“ (De an. III 3, 428b2 ff.).61 Die Sonne kann ein Fuß breit
erscheinen, auch wenn man gleichzeitig die berzeugung besitzt, daß sie
grçßer als die bewohnte Erde ist.
Der kurze berblick konnte zeigen: Auch wenn man im Sinne des
Kausalmodells annimmt, daß der Gehalt der Wahrnehmung auf bestimmte
qualitative Szenarien (z. B. ein in einer bestimmten Gestalt ausgedehnter
Farbton) beschrnkt ist, heißt das nicht, daß die Wahrnehmung bloß die
kausale Rolle eines sensorischen Informationslieferanten fr das Denken
spielt. Aristoteles wertet vielmehr die Wahrnehmung zu einem unter-
scheidungsfhigen und reflexiven Vermçgen auf, das als solches schon ein
Erkennen (gnrizein) gewhrt, in dem uns die Wirklichkeit in ihrer sinn-
lichen Mannigfaltigkeit prsent wird.62 Die Sinne sind fr Aristoteles keine
bloß unselbstndigen Werkzeuge der Seele, sondern bilden gemeinsam ein
komplexes Vermçgen, was besonders durch Aristoteles’ Lehre vom Zen-
tralsinn zum Ausdruck kommt. ber diesen Befund hinaus ist es nun al-
lerdings umstritten, wie weit Aristoteles’ Erweiterung der aisthetischen
Kompetenz reicht. Das betrifft vor allem die Frage, ob der Wahrneh-
mungsgehalt bei Aristoteles auf die idia aisthÞta zusammen mit bestimmten
koina aisthÞta beschrnkt werden muß oder ob auch bestimmte Objekte aus
der Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘, wie etwa gedankliche Inhalte
(noÞmata), zu einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kçnnen.
Hierfr mßte das Wahrnehmungsvermçgen imstande sein, ein ,an sich
wahrnehmbares‘ Objekt mit einem ,akzidentell wahrnehmbaren‘ Objekt zu
einem neuen Gehalt zu kombinieren. Inwieweit eine solche ,perzeptuelle
Kombination‘ innerhalb des Aristotelischen Theorierahmens denkbar ist,
wird Gegenstand des nchsten Kapitels sein. In den nchsten beiden Ab-
schnitten dieses Kapitels wollen wir das in diesem Abschnitt unter den
Punkten (a) und (b) Angesprochene noch etwas vertiefen.

61 Vgl. Insomn. 458b28 f.; EE 1235b27; De an. II 2, 413b29 ff..


62 Wir werden auf die epistemologischen Konsequenzen dieser Aufwertung der
Wahrnehmung in Kap. 5 noch genauer eingehen.
3.3 Die idia und koina aisthÞta 127

3.3 Die idia und koina aisthÞta


Gemß dem methodischen Grundsatz, daß ein Vermçgen definiert wird,
indem man die entsprechende Ttigkeit untersucht und diese wiederum, in
dem man ihren jeweiligen Gegenstand bestimmt (De an. II 4, 415a16 – 22),
behandelt Aristoteles nach einer allgemeinen Darlegung des Wahrneh-
mungsvorgangs in II 5 (joim0 peq· p²sgr aQsh¶seyr : 416b32 f.) im an-
schließenden Kapitel II 6 die Gegenstnde der Wahrnehmung (aisthÞta):
„Man muß im Hinblick auf jeden Wahrnehmungssinn zuerst ber die
wahrnehmbaren Gegenstnde sprechen“ (418a7 f.). In II 6 werden aber
noch nicht die jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde im einzelnen un-
tersucht, vielmehr handelt es sich um eine allgemeine Darlegung63 dessen, in
welchen verschiedenen Weisen ein Gegenstand ,wahrnehmbar‘ genannt
werden kann.64 Aristoteles unterscheidet drei Sinne, in denen ein Gegen-
stand als ,wahrnehmbar‘ bezeichnet werden kann, von denen er die ersten
beiden Sinne zur Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘ zusammenfaßt,
whrend der dritte Sinn die Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ bildet.
Es gibt also zwei Klassen von Dingen, deren Elemente in unterschiedlicher
Weise ,wahrnehmbar‘ genannt werden. Hier stellt sich die Frage, ob es
zwischen diesen beiden Klassen eine sachliche Gemeinsamkeit gibt oder ob
sie nur den Namen ,aisthÞton’ gemeinsam haben. Wre letzteres der Fall,
wren die Elemente der zweiten Klasse, das ,akzidentell Wahrnehmbare‘, nur
im quivoken Sinn wahrnehmbar. Auf diese entscheidende Frage werden wir
im nchsten Kapitel eingehen, jetzt geht es um die erste Klasse, das ,an sich
Wahrnehmbare‘.
Zum ,an sich Wahrnehmbaren‘ zhlen zum einen die dem jeweiligen
Sinn eigentmlichen Gegenstnde (idia aisthÞta), die nicht durch einen
anderen Sinn wahrgenommen werden kçnnen (418a11 f.), zum anderen die
von mehreren Sinnen, mindestens aber von zweien, wahrnehmbaren Ge-
genstnde (koina aisthÞta: Bewegung, Ruhe, Gestalt, Grçße, Zahl: 418a17 –
20). Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die idia aisthÞta ,im
eigentlichen Sinn‘ oder ,primr‘ (juq¸yr) wahrnehmbar sind: „Von den an

63 Vgl. Philoponus, In De an. 310.32 – 33: pqºteqom dia¸qes¸m tima paqad¸dysi


jahºkou t_m aQshgt_m p²mtym, posaw_r k´cetai. Die sich in den Kapiteln II 7 – 11
anschließende Untersuchung der jedem Sinn eigentmlichen Gegenstnde ist nach
Sens. 439a6 ff. ebenfalls ,allgemein‘.
64 Wie auch in anderen Fllen des pokkaw_r kecºlemom geht es Aristoteles hier nicht um
eine Mehrdeutigkeit des Terminus ,aQshgtºm‘, sondern darum, daß mehrere Dinge
oder Klassen von Dingen in einem unterschiedlichen Sinn als aQshgtºm bezeichnet
werden.
128 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

sich wahrnehmbaren Gegenstnden sind die eigentmlichen Gegenstnde


im eigentlichen Sinn wahrnehmbar, und auf diese ist das Wesen jeder
Wahrnehmung von Natur aus ausgerichtet“ (418a24 f.). Innerhalb der
Klasse des ,an sich Wahrnehmbaren‘ gibt es also eine Abstufung.65 Das kann
so verstanden werden, daß nur die idia aisthÞta eine kausale Eigenstndigkeit
im Hinblick auf die Affektion eines bestimmten Sinns besitzen.66 Sie sind
von solcher Beschaffenheit, daß sie aufgrund ihrer spezifischen Natur als
perzeptuelle Qualitten das Medium in Bewegung setzen und dadurch das
Organ affizieren und das Wahrnehmungsvermçgen in die Aktualitt brin-
gen kçnnen. So besitzen etwa die Farben das Vermçgen, im aktual trans-
parenten Medium und dadurch im Wahrnehmungsorgan eine qualitative
Vernderung hervorzurufen (De an. II 7, 418a31-b2, 419a9 – 15); das gilt
auch fr das Feuerartige und Leuchtende, was nicht im Licht gesehen wird
(poie? aUshgsim : 419a2 – 7). Im Unterschied dazu sind die koina aisthÞta
hinsichtlich der Affektion des Wahrnehmungsvermçgens auf die idia ai-
sthÞta als ihre ,Vehikel‘67 angewiesen. Diese Abhngigkeit zeigt sich etwa in
der Bemerkung, daß die koina aisthÞta „am meisten durch den Gesichtssinn
wahrgenommen werden“ (Sens. 437a8) oder daran, daß sie einem be-
stimmten idion aisthÞton ,zukommen‘ (rp²qwei : 425b10).68 Beide treten
immer gemeinsam auf (t± !jokouhoOmta : 425b5; t¹ !jokouhe?m !kk¶koir :
425b869): Uns prsentiert sich immer eine Qualitt gemeinsam mit be-
stimmten koina aisthÞta, wie z. B. in einer bestimmten Grçße; sie werden
,mitwahrgenommen‘.70 Nach De an. II 6 kann der Wahrnehmungsgehalt

65 Vgl. Graeser 1978, 70.


66 Vgl. Graeser 1978, 70 f. Im Unterschied zur neuzeitlichen Tradition sieht Aristoteles
die idia aisthÞta (also nach Boyle die ,sekundren Qualitten‘) als irreduzible Ei-
genschaften an, die als solche kausal wirksam sind (Broadie 1992).
67 Vgl. Modrak 1987, 55.
68 Vgl. auch das 2pol´mym in De an. III 3, 428b22 f. Wie dieses zu verstehen ist – ob hier
die koina den Trgern folgen (Ross, Hicks) oder den idia (H. Maier) –, ist umstritten.
Das „$ sulb´bgje to?r aQshgto?r“ in 428b24 (ohne die Umstellung von Bywater
1888, 58) wrde ebenfalls diese asymmetrische Relation zwischen den koina und den
idia ausdrcken.
69 Zu diesem Ausdruck bemerkt Graeser 1978, 72: „It signifies extensional equival-
ence. In other words, wherever there is colour there is size too and vice versa.“
70 Vgl. Sens. 445b10 f.: „Denn es ist unmçglich, zwar etwas Weißes zu sehen, aber
nicht in einer bestimmten Grçße“ (!d¼matom c±q keujºm l³m bq÷m, lμ pos¹m d´). Den
notwendigen Zusammenhang zwischen idia und koina aisthÞta im Unterschied zu
einer bloß zuflligen Verbindung wie in einer Assoziation betont Beare (1906,
283ff ). Die Notwendigkeit bezieht sich hier aber nur darauf, daß die idia berhaupt
mit koina auftreten, nicht aber auf bestimmte koina.
3.3 Die idia und koina aisthÞta 129

beispielsweise mit folgendem offenen Satz beschrieben werden: x (rot) { x


(rund) { x (groß) { x (eines) { x (sich bewegend). Man kçnnte von einem
qualitativen Szenario in Raum und Zeit sprechen (z. B. ,das Herankom-
mende‘ [t¹ pqosiºm]: An. Pr. I 27, 43a36, Insomn. 458b10 – 15).71
Zum ,an sich Wahrnehmbaren‘ bildet das ,akzidentell Wahrnehmbare‘
die Komplementklasse. Whrend das ,an sich Wahrnehmbare‘ – und hier an
erster Stelle die idia aisthÞta – dadurch gekennzeichnet ist, aufgrund in-
trinsischer Eigenschaften einen bestimmten Sinn affizieren zu kçnnen, fllt
unter das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ alles andere, das nicht aus sich heraus,
sondern nur beilufig, durch die zufllige Verbindung mit einem ,an sich
wahrnehmbaren‘ Gegenstand, in eine Beziehung zum Wahrnehmungs-
vermçgen treten kann: „Daher erleidet auch (das Wahrnehmungsvermç-
gen) nichts von dem wahrnehmbaren Gegenstand, insofern er ein solcher
ist72 (di¹ ja· oqd³m p²swei Ø toioOtom rp¹ toO aQshgtoO). Hierunter fallen alle
Objekte außerhalb der Kategorie des Pathetisch-Qualitativen. In dieser
Unterscheidung verschiedener Klassen von aisthÞta betrachtet Aristoteles das
Seiende im Hinblick darauf, ob es einen Sinn aufgrund bestimmter in-
trinsischer Eigenschaften affizieren kann oder nicht, nicht aber im Hinblick
auf seine ontologische Selbstndigkeit oder Unabhngigkeit: Substanzen
sind im Hinblick auf die Wahrnehmung nur ,akzidentell wahrnehmbar‘,
perzeptuelle Qualitten ,an sich wahrnehmbar‘. Ausschlaggebend hierfr
sind bestimmte Eigenschaften, die eine Entitt aufgrund ihrer kategorial
erfaßbaren Natur hat oder nicht hat. Aristoteles spricht nun aber auch dort
vom ,akzidentellen Wahrnehmen‘, wo ein bestimmter Sinn die eigentm-
lichen Gegenstnde eines anderen Sinns wahrnimmt (De an. III 1,

71 Fr den Unterschied zwischen bewegenden und ruhenden Wahrnehmungsobjekten


vgl. Insomn. 459b18 ff. Eine umstrittene Stelle aus De memoria kçnnte nahelegen,
daß die Wahrnehmung der koina aisthÞta etwas mit der phantasia zu tun hat. In
Mem. 450a10 f. nimmt Ross eine Umstellung von „ja· t¹ v²mtasla…1st¸m“ aus
450a10 f. nach a13 vor (mit Berufung auf Freudenthal). Hlt man gegen Ross an den
Handschriften fest, htte das die Konsequenz, daß im Unterschied zu De an. II 6 die
koina aisthÞta mit Hilfe der phantasmata (wie die Zeit) wahrgenommen werden und
die phantasia eine Funktion des gemeinsamen Wahrnehmungsvermçgens ist. Mit
Ross’ Umstellung wrde dagegen die Wahrnehmung der koina in den Bereich des
primren Wahrnehmungsvermçgens fallen. In beiden Fllen wird also das Be-
zugsobjekt von è in „è ja· wqºmom“ (450a10) unterschiedlich besetzt: zum einen mit
dem Vermçgen (primre Wahrnehmung), zum anderen mit dem Mittel (phantas-
ma). Hierzu Wiesner 1985, 185.
72 Ich beziehe das Ø toioOtom mit Ross (1961, 240) auf das aQshgtºm und verstehe es so,
daß das Vermçgen nichts von dem wahrnehmbaren Gegenstand erleidet, insofern er
Sohn des Diares ist, sondern nur insofern er weiß ist.
130 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

425a30 f.), z. B. der Gesichtssinn das Sße (a22).73 Diese besondere Art von
Wahrnehmung basiert darauf, daß man zwei Qualitten verschiedener
aisthetischer Genera an einem Gegenstand zugleich unterscheidend wahr-
nehmen kann: „Dies aber (ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine
Wahrnehmung haben, mit der wir sie, wenn sie zusammenfallen, zugleich
erkennen“ (425a23 f.). Wenn nun in dieser Wahrnehmung das idion
aisthÞton des einen Sinnes ,akzidentell‘ vom anderen Sinn wahrgenommen
wird, dann wird hier ,akzidentell wahrnehmbar‘ nicht mehr im absoluten,
sondern im relativen Sinn verwendet: Das Sße ist im Hinblick auf den
Gesichtssinn ,akzidentell wahrnehmbar‘; an der Natur des idion aisthÞton
ndert sich durch diese Bezeichnung nichts, es wird hier nur im Hinblick auf
einen anderen Wahrnehmungssinn betrachtet.74 ,Akzidentell wahrnehm-
bar‘ in diesem Sinn (= ,akzidentell2‘) bedeutet also nur, daß dieser Ge-
genstand keine Wirkung auf einen bestimmten Wahrnehmungssinn ausbt
(z. B. das Sße auf den Gesichtssinn); dagegen bedeutet ,akzidentell
wahrnehmbar‘ in De an. II 6 (= ,akzidentell1‘) die prinzipielle Unfhigkeit,
das Wahrnehmungsvermçgen zu affizieren, wie sie auf alle Gegenstnde
außerhalb der Kategorie des pathetisch-Qualitativen zutrifft.75 Dieser Un-
terschied wird von Aristoteles in De an. III 1 selbst angedeutet: „Denn es
wre so, wie wir jetzt mit dem Gesichtssinn das Sße wahrnehmen: Dies aber
(ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine Wahrnehmung haben, mit
der wir, wenn sie zusammenfallen, zugleich erkennen. Wenn aber nicht,
wrden wir niemals anders als akzidentell wahrnehmen (wie etwa den Sohn
des Kleon, nicht weil er der Sohn des Kleon ist, sondern weil er weiß ist,
diesem aber akzidentell zukommt, Sohn des Kleon zu sein“ (De an. III 1,
425a22 – 27). Mit dem „wenn aber nicht“ (eQ d³ l¶: a24) verneint Aristoteles
den Fall, daß wir von beiden Qualitten eine Wahrnehmung haben (!lvo?m

73 ¦speq mOm t0 exei t¹ ckuj» aQshamºleha. Dieses Beispiel wurde in der Tradition
immer wieder fr die Mçglichkeit einer ,assoziativen Wahrnehmung‘ bei Aristoteles
herangezogen. Darauf werde ich genauer in Kap. 4.2 eingehen.
74 Vgl. Graeser 1978, 78.
75 Dieser Unterschied wurde schon von den griechischen Kommentatoren gesehen, die
zwei Verwendungsweisen von ,jat± sulbebgj¹r aQshgtºm‘ unterscheiden. Vgl.
Philoponus, In De an. 312.29 – 37; 454.15 – 26: „vgs· c±q fti t± jat± sulbebgj¹r
aQshgt± ditt² 5stim, C t¹ %kk, aQsh¶sei rpop?ptom, ¦speq B exir jq¸mei t¹ ckuj» !p¹
t/r wqoi÷r […] C owm toOtº 1sti jat± sulbebgj¹r aQshgtºm, C fpeq oqdeliø aQsh¶sei
rpop¸ptei, ¢r B oqs¸a7 B c±q oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j
t_m aqt0 sulbebgjºtym […] dittoO owm emtor toO jat± sulbebgj¹r aQshgtoO,
oqd´teqom t_m sglaimol´mym to¼tym p²hor poie?“. Vgl. auch Themistius, In De
an. 81.35 – 82.18; Simplicius, In De an. 127.26 ff.; Sophonias, In De an. 70.36 –
71.11.
3.3 Die idia und koina aisthÞta 131

5womter tucw²molem aUshgsim : a23). Die Konsequenz wre dann, daß wir
„niemals anders als akzidentell wahrnehmen wrden“ (oqdal_r #m !kk’ C
jat± sulbebgj¹r Ñshamºleha : a24 f.), nmlich so wie den Sohn des Kleon
(= ,akzidentell1‘).
Hinsichtlich der koina aisthÞta ergibt sich nun ein grundstzliches
Problem, das sich aus einer Spannung zwischen dem Phnomen und dem
Kausalmodell ergibt. Wir hatten schon gesehen, daß Aristoteles phno-
menologisch exakt feststellt, daß jedes idion aisthÞton mit bestimmten koina
aisthÞta einhergeht (t¹ !jokouhe?m !kk¶koir), sich also jede Qualitt in einer
bestimmten rumlichen oder auch zeitlichen Erstreckung76 dem Wahr-
nehmenden prsentiert. Solche koina aisthÞta scheinen uns wie die idia
,unmittelbar gegeben‘ zu sein, im Unterschied zu den ,akzidentell1 wahr-
nehmbaren‘ Gegenstnden. Dieses direkte Gegebensein kçnnte es nahele-
gen, auch fr diese gemeinsamen Objekte einen spezifischen Sinn anzu-
nehmen. Diese Konsequenz will Aristoteles vermeiden und betont in De an.
III 1, 424b22 ff. die Vollstndigkeit der fnf Sinne und daß es kein spezi-
fisches Vermçgen fr die koina geben kann (425a14). Aus der kontrafak-
tischen Annahme eines spezifischen Sinns fr die koina aisthÞta wrde
nmlich folgen, daß fr die koina dasselbe gelten wrde wie fr jedes idion
aisthÞton: Es wrde von den anderen spezifischen Sinnen nur ,akzidentell2‘
(¨m 2j²stg aQsh¶sei aQshamºleha jat± sulbebgjºr), also gewissermaßen
,assoziativ‘, wahrgenommen werden, wie z. B. das Sße durch den Ge-
sichtssinn (425a15).77 Das widerspricht aber dem Phnomen: Wir nehmen
die koina zusammen mit einem bestimmten idion wahr; sie bilden keinen
zustzlichen, assoziierten Gehalt. Genauso unangemessen ist es, wenn wir
die koina nur „akzidentell1“ wahrnehmen wrden, also wie den Sohn des
Diares; vielmehr besteht zwischen idia und koina ein notwendiger Zusam-
menhang. Wie kann dann aber ihr unmittelbares Gegebensein begrifflich
eingeholt werden? Aristoteles’ Lçsung ist, daß wir von den koina eine ,ge-
meinsame Wahrnehmung‘ (aUshgsir joim¶) haben, und zwar ,nicht akzi-
dentell‘ (425a27 f.). Den verschiedenen Sinnen ist die Fhigkeit gemeinsam,

76 Diesen Ausdruck bernehme ich von Tugendhat 1976, 452.


77 Mit Owens 1982 gehe ich davon aus, daß es sich hier um die Konsequenz der von
Aristoteles abgelehnten Annahme eines spezifischen Sinns fr die koina aisthÞta
handelt. Faßt man 425a15 dagegen als Aristoteles’ eigene Meinung auf, dann mßte
es – um den Widerspruch zu De an. II 6, 418a8 ff. zu vermeiden – einen dritten, von
Aristoteles selbst vertretenen Sinn von ,akzidentell wahrnehmbar‘ geben, der dann
vorliegt, wenn ein koinon aisthÞton nur durch einen spezifischen Sinn wahrge-
nommen wird (z. B. Beare 1906, 284 f.; Graeser 1978, 85; Welsch 1987, 287 – 294;
Modrak 1987, 64, 413 Anm. 19).
132 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

die koina wahrnehmen zu kçnnen.78 Damit meint Aristoteles gezeigt zu


haben, daß wir keinen spezifischen Sinn fr die koina haben kçnnen (oqj %q’
1st·m Qd¸a : a28) und wir diese dennoch nicht ,akzidentell1‘, also bloß ne-
benbei, wahrnehmen. Die koina aisthÞta bewegen sich zwischen den idia
aisthÞta und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren1‘; sie sind zusammen mit den
idia unmittelbar gegeben, diesen gegenber aber sekundr. Wenn nun die
koina aisthÞta kausal von den idia abhngig sind und nur durch diese gegeben
sein kçnnen, also nicht als solche das Wahrnehmungsvermçgen affizieren
kçnnen (425a19 f.), stellt sich die Frage, wie die ,direkte Wahrnehmung‘ der
koina erklrt werden kann. Die Antwort hierauf liegt in Aristoteles’ Cha-
rakterisierung der Wahrnehmung als ein Unterscheiden (krinein: De an. II
11, 424a5; III 2, 426b10). Eine bestimmte Grçße oder Gestalt ergibt sich
durch zwei verschiedene aneinander angrenzende Farbausdehnungen.79 Auf
der Grundlage der Unterscheidung zwischen zwei Qualitten eines aisthe-
tischen Genus (jq¸mei t±r toO rpojeil´mou aQshgtoO diavoq²r : De an. III 2,
426b10; im Unterschied dazu Tht. 185a) kçnnen wir diese Farbgrenzen
erkennen und dadurch die koina aisthÞta wahrnehmen.80 Tuschende
Eindrcke, die bei den koina aisthÞta sehr hufig sind (De an. III 3, 428b22 –
25), kommen meist durch falsche Abstnde zustande (Met. IV 5, 1010b4 f.):
Hier sind uns die Farbgrenzen zu undeutlich gegeben, um ein hinreichendes
krinein vorzunehmen, so daß sich ein tuschender Eindruck ergibt; wenn
z. B. etwas Eckiges aus der Ferne wie etwas Rundes aussieht oder der Farb-

78 Der Terminus aUshgsir joim¶ in 425a27 kann nicht als Bezeichnung des ,Ge-
meinsinns‘ verstanden werden. Zum einen wird dieser erst in Somn. 455a19 f.
eingefhrt, zum anderen wird dieser nirgendwo von Aristoteles als fr die koina
zustndig erklrt. Ich schließe mich hier Gregoric 2007, 79 an: „the phrase aUshgsir
joim¶ at 425a27 should be understood as a perceptual ability common to the in-
dividual senses. It is not a technical term, but a description of the ability of the in-
dividual senses to perceive one set of features in the world, namely the common
perceptibles […] it is common to the individual senses in that each individual sense
has it“. Hierzu auch Welsch 1987, Kap. VI.7.
79 Vgl. Sellars 1949, 553: „Our visual field […] presents us with geometrical points,
lines, planes, and solids as the boundaries of qualitative differences – a line, for
example, being a boundary between two adjacent color expanses.“ Vgl. auch Busche
2001, 49.
80 Hier sprechen viele Interpreten von einer ,Interpretation‘ oder einem aktiven Ele-
ment in der Wahrnehmung (vgl. Ebert 1983, 196). Zum Verhltnis zwischen
p²sweim und jq¸meim vgl. De Haas 2005.
3.4 Das aisthetische Ganze 133

kontrast zwischen zwei Ziegeln nicht deutlich genug ist, so daß sie wie ein
einziger Ziegel erscheinen.81

3.4 Das aisthetische Ganze


Wie sich im letzten Abschnitt gezeigt hat, ist Aristoteles darum bemht, den
notwendigen Zusammenhang zwischen den idia und koina aisthÞta her-
auszustellen. Beide bilden zusammen den Wahrnehmungsgehalt. Wir haben
im letzten Abschnitt auch gesehen, daß die Wahrnehmung der koina aisthÞta
darauf beruht, daß eine Grenze etwa zwischen zwei Farbausdehnungen
unterscheidend wahrgenommen wird. Das setzt aber voraus, daß uns
mindestens zwei verschiedene Farbtçne gleichzeitig prsent sind. Wir haben
also nicht nur ein isoliertes idion aisthÞton vor Augen, sondern mindestens
zwei idia, die in ihrer gegenseitigen Angrenzung ein bestimmtes koinon
ergeben. Phnomenologisch muß man sogar noch einen Schritt weiter ge-
hen: Ein einzelner Gegenstand – z. B. ein Mensch oder andere sinnlich
wahrnehmbare Einzelsubstanzen (vgl. Met. VII 3, 1029a33 f.; VII 15,
1039b28) – besteht aus mehreren sinnlichen Qualitten, die zusammen eine
Einheit bilden und seine ,Gestalt‘ (morphÞ) ausmachen. Aristoteles spricht in
Phys. I 1 davon, daß das fr uns zuerst Offenbare und Klare das ,mehr
Zusammengegossene‘ (t± sucjewul´ma l÷kkom), das (undifferenziert) All-
gemeine (to katholou) und das Ganze (to holon) ist, das Vieles als Teile umfaßt
und an dem wir spter seine Elemente unterscheiden kçnnen (184a21 –

81 An dieser Stelle muß eine Erluterung hinsichtlich der geometrischen Gegenstnde


angefgt werden: Auf der einen Seite geht Aristoteles davon aus, daß geometrische
Formen wie Dreieck oder Kreis als Eigenschaften des Seienden, insofern es eine n-
dimensionale Grçße darstellt, durch Abstraktion gewonnen werden; sie werden als
potentiell vorliegende Eigenschaften durch das Konstruieren in die Wirklichkeit
berfhrt (Met. IX 9, 1051a29 ff.; XIII 3). Auf der anderen Seite gibt es unter den
koina aisthÞta geometrische Gegenstnde, nmlich Figuren, Grçßen und Anzahlen;
diese werden hier aber direkt wahrgenommen. Dieser Widerspruch kann folgen-
dermaßen gelçst werden: Die koina konstituieren zusammen mit den idia eine
konkrete, sinnlich wahrnehmbare Grçße, d. h. den phnomenal gegebenen Ge-
genstand. Aus dieser phnomenal gegebenen Grçße wird erst die bestimmte geo-
metrische Form durch Abstraktion herausgehoben. Mit Mem. 450a1 ff. kann das so
verdeutlicht werden: Wenn man geometrisch die Rechtwinkligkeit eines Dreiecks
beweisen will, dann zeichnet man ein bestimmtes Dreieck, das von jedem Sinnes-
wesen direkt wahrgenommen werden kann. Der Beweis betrifft aber nicht dieses
Dreieck oder diese ausgedehnte Form, sondern die mathematische Eigenschaft des
Dreieckig-Seins, die von diesem konkreten Dreieck abstrahiert wird.
134 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

26).82 Wir haben es also mit einem sinnlichen holon zu tun, das einem
einzelnen Gegenstand zugehçrt. In unserem Alltagsverstndnis gehen wir
davon aus, daß wir ein solches sinnliches holon in einem Akt erfassen: Wir
erblicken z. B. von Ferne ein Haus, an dem wir aus grçßerer Nhe etwa
Ziegel, Fenster und Blumenksten unterscheiden kçnnen. Hier kommt das
Kausalmodell sehr schnell an seine Grenzen: Sowohl bei sehr einfachen
sinnlichen Gegenstnden (z. B. ein roter Ball) als auch bei komplexen Ge-
genstnden (z. B. dieses Haus) ist es notwendig, daß mindestens zwei idia
aisthÞta derselben aisthetischen Gattung dem einen wahrnehmenden Sub-
jekt gleichzeitig gegeben sind. Das ist aber kaum erklrbar, wenn man davon
ausgeht, daß ein bewußter Wahrnehmungsakt Ergebnis der kausalen Af-
fektion durch eine bestimmte Qualitt in einer bestimmten aisthetischen
Gattung ist. Aristoteles formuliert selbst das Problem, das sich aus seinem
Kausalmodell ergibt, wenn er sagt, daß es unmçglich ist, daß der derselbe
Sinn als unteilbarer und in unteilbarer Zeit zugleich kontrre Bewegungen
vollzieht (De an. III 2, 426b29 ff.).83 Der Schlssel fr die Lçsung dieses
Problem der gleichzeitigen Prsenz zweier verschiedener Qualitten der-
selben Gattung scheint fr Aristoteles in einer Modifikation des t¹ aqt¹ Ø
!dia¸qetom in 426b30 zu liegen: Das Ø !dia¸qetom muß einerseits beibehalten
werden, um die Einheit des sinnlichen Bewußtseins nicht zu gefhrden,
andererseits muß es auch eine Mçglichkeit geben, daß der Sinn auch Ø
diaiqetºm ttig ist. Beide Funktionen erfllt der Punkt: Er kann als einer
zugleich zwei Funktionen erfllen, nmlich sowohl Endpunkt wie auch
Anfangspunkt zweier Abschnitte einer Linie oder Zentrum verschiedener
Linien sein.84 Diese Erluterungen befriedigen wenig85 und es verwundert

82 „Es ist aber uns zu allererst klar und deutlich das mehr Zusammengegossene (t±
sucjewul´ma l÷kkom): Spter aber werden aus diesem erkennbar die Elemente und
Prinzipien, wenn man dieses unterscheidet. Daher muß man von dem Allgemeinen
zum Einzelnen fortschreiten: Denn nach der Sinneswahrnehmung ist das Ganze (t¹
fkom) bekannter, das Allgemeine ist aber ein Ganzes: Denn das Allgemeine umfaßt
Vieles als Teile (pokk± c±q peqikalb²mei ¢r l´qg t¹ jahºkou).“
83 !kk± lμm !d¼matom ûla t±r 1mamt¸ar jim¶seir jime?shai t¹ aqt¹ Ø !dia¸qetom, ja· 1m
!diaiq´t\ wqóm\. Zu diesem ganzen Problem vgl. Gregoric 2007, 145 – 162.
84 In De Sensu geht Aristoteles besonders auf das Problem der gleichzeitigen Wahr-
nehmung von Qualitten unterschiedlicher Gattungen ein. Hierfr skizziert er als
Lçsung die Analogie mit einem Gegenstand, der als der Zahl nach einer verschiedene
Qualitten besitz und in dieser Hinsicht ,dem Sein nach‘ verschieden ist (Sens.
449a13 – 20). Aristoteles scheint davon auszugehen, damit auch das Problem der
gleichzeitigen Wahrnehmung von Qualitten derselben Gattung gelçst zu haben
(449a18 f.). Gemß der Annahme in 449a2 f.: Wenn es nicht mçglich ist, ver-
schiedene Qualitten derselben Gattung zugleich mit einem Vermçgen wahrzu-
3.4 Das aisthetische Ganze 135

nicht, wenn das Problem der gleichzeitigen Wahrnehmung kontrrer


Qualitten seit Alexander von Aphrodisias immer wieder eine spirituelle
Interpretation der ,Aufnahme der Form ohne die Materie‘ motiviert hat.86
Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, Aristoteles trgt jedenfalls
unserem Vorverstndnis Rechnung, daß sich uns der Gegenstand auf den
ersten Blick als ein phnomenal Ganzes prsentiert, auch wenn wir nach-
trglich vielleicht verschiedene einzelne Akte unterscheiden mssen.
Systematisch ergibt sich aus dem Bisherigen, daß wir Aristoteles keine
naive Theorie der aisthetischen Bezugnahme unterstellen drfen, in der man
sich – im Sinne einer simplen Subjekt-Objekt-Relation – auf ein isoliertes
aisthÞton bezieht (z. B. auf ,dieses Rote‘). Das kçnnte sich nahelegen, wenn
man sich allein an den Aussagen vom Erleiden (paschein) und Aufnehmen
(dechesthai) eines bestimmten eidos, also am Kausalmodell der Wahrneh-
mung, orientiert. Vielmehr deutet sich mit der Fhigkeit des intra- und
intergenerischen Unterscheidend ein Bewußtsein von einer sinnlichen
Mannigfaltigkeit oder ein – wenn auch vor-sprachlicher – ,holistischer
Bezug‘ auf die Wirklichkeit an.87 Man unterscheidet verschiedene idia ai-
sthÞta derselben oder verschiedener aisthetischer Gattungen auf der
Grundlage des sinnlichen Vermçgens88 und dieses Vermçgen liegt im Modus
einer ,ersten Entelechie‘ vor; es basiert auf dem angeborenen diskrimina-
torischen ,Wissen‘ der verschiedenen aisthetischen Genera: „Der erste
Wechsel des Wahrnehmungsvermçgens geschieht von dem Erzeuger her,
wenn man aber geboren worden ist, dann verhlt sich schon wie das Wissen
auch das Wahrnehmen. Denn das Wahrnehmen gemß der Aktualitt wird
auf gleiche Weise ausgesagt wie das Betrachten“ (De an. II 5, 417b16 – 19).
Das kann so verstanden werden, daß die Wahrnehmung schon ,weiß‘, was sie
wahrnehmen kann, sie muß es nicht erst lernen89 : „Wir haben nmlich die
Wahrnehmungsvermçgen nicht durch wiederholtes Sehen oder Hçren er-
worben, sondern umgekehrt: Weil wir die Wahrnehmungsvermçgen schon

nehmen, dann auch nicht Qualitten verschiedener Gattungen. Nun wurde Letz-
teres als mçglich aufgezeigt, also muß auch Ersteres mçglich sein. Vgl. Welsch 1987,
328.
85 Fr eine ambitionierte Interpretation der Punkt-Analogie in De an. III 2, 427a9 – 14
vgl. Gregoric 2007, 145 – 162.
86 Vgl. auch Rolfes 1924, 133 Anm. 63.
87 Hierzu systematisch Tugendhat 1976, 370 ff.; Evans 1982, 151 – 170.
88 Hierzu genauer Ebert 1983, 193.
89 Vgl. Welsch 1987, 117: „Dies also ist charakteristisch und fundamental fr Aristo-
teles’ Verstndnis des Wahrnehmungsgeschehens, daß der Sinn allem Wahrnehmen
zuvor die Topographie seiner Region schon beherrscht.“
136 3. Der Gehalt der Wahrnehmung

hatten, haben wir sie gebraucht; wir haben sie nicht durch den Gebrauch erst
bekommen“ (EN II 1, 1103a28 – 31; bers. Wolf ). Der jeweilige Sinn, der
dem krinein zugrundeliegt, zeigt also die Klasse der Gegenstnde an, aus
denen etwas wahrgenommen werden kann. Durch dieses angeborene ,kri-
tische Wissen‘ ist man in der Lage, die verschiedenen Farbtçne im jeweiligen
Gesichtsfeld zu unterscheiden. Das Erfassen eines aisthÞton ist somit nie ein
einfaches Bezogensein auf eine isolierte Qualitt, sondern ein ,kritischer‘und
holistischer Bezug, der stets die jeweilige Mannigfaltigkeit eines bestimmten
aisthetischen Genus impliziert, aus dem das einzelne aisthÞton unterschei-
dend wahrgenommen wird. Man ist in erster Linie auf ein bestimmtes
aisthetisches Genus bezogen (De an. III 2, 426b8 f.). Der demonstrative
Bezug auf eine bestimmte perzeptuelle Qualitt (tod· t¹ keujºm) setzt im-
plizit einen Bezug auf eine sinnliche Mannigfaltigkeit voraus. Diese bewußte
Unterscheidungsleistung kann ohne Begriffe vollzogen werden, sie basiert
lediglich auf der angeborenen aisthetischen Disposition; es handelt sich um
eine vor-sprachliche Leistung: Tier und Mensch kçnnen beide zwischen
zwei Farbtçnen unterscheiden und dieser Unterschied ist ihnen bewußt (De
an. III 2, 425b12 f.). Der Mensch kann zustzlich, indem er sich Farbpr-
dikate bedient (z. B. Int. 16a15), das Wahrnehmungsurteil fllen, daß das
Rote vom Grnen verschieden ist. Mit diesen Begriffen wird ein vor-
sprachlich zugnglicher Unterschied nur nachtrglich konzeptualisiert.
Hier zeigt sich wiederum: Schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen
Ebene gelingt es Aristoteles, auf der Grundlage des angeborenen aistheti-
schen Vermçgens einen genuin aisthetischen Weltzugang zu garantieren, in
dem wir uns diskriminatorisch und reflexiv auf die Wirklichkeit in ihrer
sinnlichen Mannigfaltigkeit beziehen. Es zeigt sich an dieser Stelle auch die
Grenze jener Interpretationen, die den Weltzugang bei Aristoteles als einen
immer schon sprachlich vermittelten auffassen.90 Vielmehr besitzen wir auf
der Grundlage der Wahrnehmung als eines angeborenen, unterschei-
dungsfhigen Vermçgens schon immer einen vor-sprachlichen Weltzugang.
Im Unterschied zu Platon ist also die Wahrnehmung nicht auf bestimmte
sensorische pathÞmata beschrnkt, die dem hçheren diamoe?shai zur Ver-
fgung gestellt werden, es handelt sich vielmehr schon um ein Erkennen im
genuinen Sinn. Andererseits ist das von der Wahrnehmung Prsentierte noch
nicht eindeutig identifiziert. Das sinnliche Ganze ist hier noch frei von
kategorialen Bestimmungen oder kognitiven Spezifikationen, die – nach
unserer Interpretation – erst durch die Ttigkeit des nous zustande kommen
(vgl. Kap. 4.3).

90 Nussbaum 1986, 243, 257.


4. Wahrnehmung und Intellekt
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen
Wahrnehmung

Wir haben im letzten Kapitel gesehen, daß Aristoteles gegenber Platons


Analyse im Theaitet den Kompetenzbereich der Wahrnehmung stark er-
weitert, indem er der Klasse der ,an sich wahrnehmbaren‘ Gegenstnde die
,gemeinsamen Gegenstnde’ hinzufgt und der Wahrnehmung diskrimi-
natorische und reflexive Leistungen zuspricht. Auch wenn aus dem Kau-
salmodell eine Beschrnkung des Wahrnehmungsgehalts auf perzeptuelle
Qualitten in einer bestimmten raum-zeitlichen Erstreckung zu folgen
scheint und man aus heutiger Sicht hier von einem nicht-propositionalen
oder nicht-begrifflichen Gehalt sprechen kçnnte, folgt daraus nicht, daß der
Wahrnehmung bloß die Funktion zukommen wrde, das Denken mit
elementaren sensorischen Informationen zu versorgen. Vielmehr stellt das
Wahrnehmen fr Aristoteles eine genuine Form des Erkennens (gnrizein)
dar, in der wir uns diskriminatorisch und reflexiv auf die Wirklichkeit in
ihrer sinnlichen Mannigfaltigkeit beziehen. Es ist nun allerdings umstritten,
ob der Gehalt tatschlich nur auf das ,an sich Wahrnehmbare‘, also auf die
idia und koina aisthÞta, beschrnkt werden muß oder ob dieser nicht auch
(durch Annahme eines besonderen Mechanismus) um bestimmte Objekte
aus der Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ erweitert werden kann,
durch die das ,an sich Wahrgenommene‘, also der in seinen perzeptuellen
Qualitten wahrgenommene Gegenstand, kognitiv als etwas spezifiziert
wird.1 Hier wre besonders an Instanzen aus der ersten Kategorie zu denken
(Spezies- und Gattungsprdikate), die als noÞmata den wahrgenommenen
Gegenstand in seinem substantialen Sein charakterisieren (Met. VII 4,
1030a21 ff.) und diesen somit eindeutig identifizieren.2 Aristoteles kçnnte

1 Viele Interpreten verwenden hier auch die Ausdrcke ,Interpretation‘ oder ,Deu-
tung‘ (vgl. Geyser 1917, 161, 179; Ebert 1983, 196 f.).
2 Das ist fr den Wissenserwerb unerlßlich: Damit es berhaupt mçglich ist, einen
bestimmten Gegenstand durch Raum und Zeit zu verfolgen, um an diesem Beob-
achtungen zu machen, die Eigenschaften zum Inhalt haben, die sich spter als
notwendige Eigenschaften einer bestimmten Art und damit als wissenschaftsrelevant
herausstellen, muß dieser Gegenstand eindeutig als Instanz einer bestimmten Art
138 4. Wahrnehmung und Intellekt

dann aus heutiger Sicht ein propositionaler oder begrifflicher Gehalt zu-
gesprochen werden, was fr die Rolle der Wahrnehmung im Wissenserwerb
und die Debatte um Aristoteles’ Empirismus von entscheidender Bedeutung
wre. Dafr mßte allerdings eine interpretatorisch berzeugende Erkl-
rung dafr gefunden werden, wie etwas zu einem Teil des Wahrneh-
mungsgehalts werden kann, das prinzipiell nicht in der Lage ist, einen
Wahrnehmungssinn zu affizieren. In der Frage, ob Aristoteles ein propo-
sitional-begrifflicher Gehalt zugesprochen werden kann oder nicht, spielt
Aristoteles’ Lehre vom ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ eine entscheidende
Rolle: Der Abschnitt De an. II 6, 418a20 – 24, wo Aristoteles den Begriff des
,akzidentell Wahrnehmbaren‘ einfhrt, wird fr ganz unterschiedliche In-
terpretationen als exegetische Grundlage in Anspruch genommen. Je nach
Position schwankt die Einordnung dieser vier Zeilen zwischen einer bloß
technischen ,Nebenbemerkung‘ ohne weitergehende Relevanz und einer
,Schlsselstelle‘, in der eine Theorie angedeutet wird, aus der Folgerungen
fr die Frage nach der Bestimmung des Wahrnehmungsgehalts bei Aristo-
teles gezogen werden kçnnen.
„Akzidentell aber wird ein Wahrnehmbares genannt, wenn z. B. das Weiße der
Sohn des Diares wre: Denn akzidentell wird dies wahrgenommen, weil dem
Weißen akzidentell dies zukommt, was wahrgenommen wird. Daher erleidet
auch (das Wahrnehmungsvermçgen) nichts von dem wahrnehmbaren Ge-
genstand, insofern er ein solcher ist (jat± sulbebgj¹r d³ k´cetai aQshgtºm, oXom
eQ t¹ keuj¹m eUg Di²qour uRºr7 jat± sulbebgj¹r c±q to¼tou aQsh²metai, fti t`
keuj` sulb´bgje toOto3 ox aQsh²metai7 di¹ ja· oqd³m p²swei Ø toioOtom rp¹ toO
aQshgtoO“ (De an. II 6, 418a20 – 24).4

Liest man diesen Abschnitt im ganzen von De an. II 6, dann scheint er auf den
ersten Blick folgende Aussage zu machen: Whrend die ,an sich wahr-
nehmbaren‘ Gegenstnde, und hier an erster Stelle die idia aisthÞta, aufgrund
ihrer spezifischen Natur einen bestimmten Wahrnehmungssinn affizieren
kçnnen, fllt unter das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ alles andere, was nicht
,als solches‘, sondern nur durch die zufllige Verbindung mit einer ,an sich
wahrnehmbaren‘ Qualitt in einen Bezug zum Wahrnehmungsvermçgen
treten kann. Der letzte Satz der zitierten Passage bringt die entscheidende
Bedingung dafr zum Ausdruck, wann ein Gegenstand ,akzidentell wahr-
nehmbar‘ (im absoluten Sinn, vgl. Kap. 3.3) genannt werden muß: dann

identifiziert sein. Hier spielen Substanz- oder Sortalbegriffe eine entscheidende


Rolle. Hierzu genauer Tugendhat 1976, 453 – 457.
3 Abweichend von Ross, der hier ein Komma setzt. Dazu Genaueres weiter unten.
4 Auf die bersetzungsschwierigkeiten dieser Passage werde ich im Rahmen der
folgenden Darstellung unterschiedlicher Interpretationsmodelle genauer eingehen.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 139

nmlich, wenn er aufgrund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist,
den Wahrnehmenden zu affizieren.5
(Def 1) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x auf-
grund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist, das Wahr-
nehmungsvermçgen zu affizieren (oqd³m p²swei) und (2) x einem y
zukommt, das ,an sich wahrgenommen‘ wird (t` keuj` sulb´bgje
toOto).
Diese beiden Bedingungen legen folgendes nahe: (1) Der Unterschied
zwischen dem ,an sich‘ und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ stellt eine
vollstndige Disjunktion dar: Ein Seiendes gehçrt im Hinblick auf eine
mçgliche Affektion des Wahrnehmenden aufgrund seiner spezifischen,
kategorial bestimmbaren Natur entweder zur Klasse des ,an sich‘ oder des
,akzidentell Wahrnehmbaren‘. (2) Das Verhltnis des Zukommens (sulbe-
bgj´mai) zwischen Qualitt und ,akzidentell wahrnehmbarem‘ Objekt bil-
det eine in der Wirklichkeit vorliegende Tatsache, z. B. daß dieses Weiße der
Sohn des Diares ist. Beide bilden zusammen eine ,akzidentelle Einheit‘ (vgl.
Met. V 6, 1015b16 – 23). Auf beide Punkte muß noch etwas genauer ein-
gegangen werden.
(1) Die bisher entwickelte Unterscheidung zweier Klassen von aisthÞta
kann mit Hilfe der Ursachenlehre von Phys. II 3 genauer interpretiert
werden6 : Hier unterscheidet Aristoteles zwischen Ursachen ,im eigentlichen
Sinn‘ (t± oQje¸yr kecºlema : 195b3 f.) oder ,Ursachen an sich‘ (jah’ artò
aUtiom : II 5, 196b26 ff.) einerseits und ,akzidentellen Ursachen‘ (II 3,
195a32 – 35) andererseits. Die ,akzidentelle Ursache‘ wird hier in hnlicher
Weise wie das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ erlutert:
„Ferner (gilt dies) aber auch bei der Ursache im akzidentellen Sinn und ihren
Gattungen: So ist etwa (Ursache) des Standbilds auf eine Weise Polyklet, auf
andere Weise der Bildhauer, weil dem Bildhauer das Polyklet-Sein akzidentell
zukommt (fti sulb´bgje t` !mdqiamtopoi` t¹ Pokujke¸t\ eWmai)“ (Phys. II 3,
195a32 – 35).
Hier ist nun nicht der Ort, um auf die Debatte einzugehen, ob Aristoteles’
vier Typen von aitiai bloß als Erklrungen oder als reale Ursachen zu ver-
stehen sind. Man kçnnte Aristoteles’ Unterscheidung hier nmlich als eine
bloß intensionale verstehen: Ein und dieselbe individuelle Substanz wre

5 Fr eine explizite Formulierung dieser Bedingung vgl. Owens 1982, 236: „failure to
act upon the sense organ is the only criterion given for incidental perception“. Wedin
(1988, 94) spricht von der ‘crucial condition’: „Somehow incidental objects do not
affect the perceiving agent.“ Vgl. auch De an. III 1, 425a25 ff.
6 Vgl. Everson 1997, 36 f.
140 4. Wahrnehmung und Intellekt

unter der einen Beschreibung, z. B. als Bildhauer, eigentliche Ursache des


Standbilds, unter der anderen Beschreibung aber, z. B. als Polyklet, akzi-
dentelle Ursache des Standbilds. Die beiden Beschreibungen wren auf die
Frage nach dem Warum (t¹ di± t¸) des Standbilds im unterschiedlichen Grad
informativ oder explanatorisch gehaltvoll und dieser unterschiedliche Grad
wre ausschlaggebend fr ihren jeweiligen urschlichen Status. Aristoteles’
Lehre von den aitiai mßte dann in einem epistemischen Sinn verstanden
werden: als Erklrungen, die innerhalb eines bestimmten Kontextes eine
informative Antwort auf die Warum-Frage geben.7 Wichtig ist in unserem
Zusammenhang, daß die Unterscheidung von De an. II 6 ein nicht-episte-
misches Konzept von ,akzidenteller Urschlichkeit‘ verlangt8 : Was jeweils als
,eigentliche Ursache‘ gilt, hngt einzig und allein von bestimmten intrin-
sischen Eigenschaften ab. Der Unterschied zwischen dem ,an sich Wahr-
nehmbaren‘ als der ,eigentlichen Ursache‘ der Wahrnehmung und dem
,akzidentell Wahrnehmbaren‘ als der ,akzidentellen Ursache‘ ist ein exten-
sionaler: So wie das Vermçgen der Heilkunst die ,eigentliche Ursache‘ fr die
Heilung eines Patienten ist und der Baumeister, dem das Arzt-Sein zufllig
zukommt (Met. VI 2, 1027a2), hinsichtlich dieser Heilung „ein bloßer
Name“ ist (1026b13 f.)9, von dem also keinerlei Wirkung hinsichtlich der
Heilung ausgeht, so ist es einzig und allein die Qualitt des Weißen in oder an
einer individuellen Substanz, welche die Wahrnehmung verursacht. Der
,Sohn des Diares‘ oder ,Sohn des Kleon‘ als ein Seiendes in der Kategorie der
Relation ist hinsichtlich der Affektion des Wahrnehmenden wirkungslos;
aitiologisch betrachtet sind solche Bestimmungen bloße ,Namen‘. Es han-
delt sich beim ,Sohn des Kleon‘ um eine mçgliche ,akzidentelle Ursache‘
unter vielen anderen, die dem Weißen in der Realitt zukommen (t¹ d³ jat±
sulbebgj¹r !ºqistom7 %peiqa c±q #m t` 2m· sulba¸g : Phys. II 5, 196b28 f.).10
Die perzeptuelle Qualitt des Weißen und der ,Sohn des Diares‘ bilden

7 Zu einer solchen Interpretation vgl. Sorabji 1980. Fr eine nicht-epistemische In-
terpretation vgl. Freeland 1991.
8 Vgl. Everson 1997, 37 – 45.
9 Hierzu D. Frede 1992b, 44: „you cannot really say that the architect caused the
healing. This is causality only in a manner of speaking, for it was really the doctor (in
him) who did it; it is not even the proper way of speaking that I was cured by an
architect.“
10 Hier kçnnte auch die ,allgemeine Farbe‘ von Met. XIII 10, 1087a19 f. angefhrt
werden. Vgl. auch Aristoteles’ Hierarchisierung der Ursachen (unmittelbarer –
mittelbarer; nher – entfernter) in Phys. II 3 und Met. V 2.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 141

zusammen eine ,akzidentelle Einheit‘ (Met. V 6, 1015b16 – 23).11 Gemß


Aristoteles’ restriktiver Bestimmung von Identitt in den Sophistischen Wi-
derlegungen, wonach ,Koriskos‘ und ,gebildet‘ nicht dasselbe bezeichnen
(179a1 ff.), weil sie nicht „gemß der Substanz ununterscheidbar und eines“
sind (179a37 ff.), sind die Ausdrcke ,weiß‘ und ,Sohn des Diares‘ nicht
koextensional.12 In beiden Fllen wird auf Unterschiedliches in der Realitt
referiert. In diesem Sinn markiert auch der qua-Operator in De an. II 6,
418a23 (Ø toioOtom) keinen bloß intensionalen Unterschied.
(2) Hinsichtlich der Weise, wie Aristoteles das Zukommen (sulbebg-
j´mai) zwischen dem Weißen und dem Sohn-des-Diares-Sein beschreibt,
wurde immer wieder auf die besondere Art der Formulierung aufmerksam
gemacht. Aristoteles weicht hier von der Standard-Form prdikativer Aus-
sagen ab; die Farbqualitt ist jeweils das logische Subjekt: ,Das Weiße ist der
Sohn des Diares’ (418a21); ,dem Weißen kommt das Sohn-des-Kleon-Sein
zu’ (425a26 f.). Gemß der kanonischen prdikativen Ordnung, an der sich
das ontologische Grundverhltnis von selbstndig existierenden Individuen
und von diesen abhngigen Eigenschaften ablesen lßt, wrden wir dagegen
erwarten, daß an der Subjektstelle ein Terminus aus der ersten Kategorie, an
der Prdikatsstelle der Name einer Qualitt steht, wie z. B. in der nicht-es-
sentiellen Prdikation ,Kleon ist weiß‘ (vgl. An. Post. I 22, 83a27 ff.). Se-
mantisch gesehen fallen jene Formulierungen unter die ,akzidentellen‘ oder
,unnatrlichen‘13 Prdikationen, die in An. Pr. I 2714 und An. Post. I 19 –

11 Beide unterscheiden sich im Sinne einer ,minor real distinction‘. Fr diese hilfreiche
Begrifflichkeit vgl. Gerson 2005, 223 Anm. 57.
12 Wie Judson (1991, 78 f. Fn. 15) zu Recht bemerkt, setzt das eine „very fine-grained
ontology“ voraus. Die Annahme eines extensionalen Unterschieds im Sinne einer
,minor real distinction‘ bedeutet jedoch nicht, daß damit Aristoteles ein Repr-
sentationalismus zugeschrieben werden muß. Sinnesqualitten sind fr Aristoteles
reale Eigenschaften der Dinge, durch die und in denen sich uns ein Gegenstand
sinnlich prsentiert.
13 Die Griechischen Kommentatoren sprechen hier von ,natrlichen‘ (jat± v¼sim) und
,unnatrlichen‘ (paq± v¼sim) Prdikationen (vgl. Barnes 1975, 114 f.). Diese Ter-
minologie hat den Vorteil, daß sie eine Verwechslung mit dem anderen Sinn von
,akzidenteller Prdikation‘ vermeidet, wo nmlich das Prdikat nicht wie in ,es-
sentiellen Prdikationen‘ das Wesen oder ein Teil des Wesens des Ausgesagten be-
zeichnet, sondern nur eine akzidentelle Eigenschaft (z. B. An. Post. I 4, 73a34 – 37).
14 „Denn wir sagen manchmal, daß jenes Weiße (t¹ keuj¹m 1je?mo) Sokrates ist und das
Herankommende (t¹ pqosi¹m) Kallias“ (An. Pr. I 27, 43a35 f.). In diesem Kapitel
An. Pr. I 27 unterscheidet Aristoteles zwischen Seiendem, das von nichts anderem
allgemein ausgesagt werden kann, solchem, von dem selbst nichts mehr anderes
ausgesagt werden kann, und solchem, das sowohl von anderem ausgesagt als auch
von dem anderes ausgesagt werden kann, also Seiendes ,mittlerer Allgemeinheit‘
142 4. Wahrnehmung und Intellekt

2215 behandelt werden. Hier steht an der Subjektstelle ein Terminus, der
etwas ontologisch Unselbstndiges bezeichnet (z. B. das Weiße) und somit
etwas anderes (z. B. den Menschen) meint (6teqºm ti em)16, von dem das
Prdikat eigentlich ausgesagt wird, whrend in der Standardprdikation der
Subjektterminus etwas bezeichnet, das ohne etwas anderes zu sein (oqw 6teqºm
ti £m : I 19, 81b27) z. B. die Eigenschaft ,weiß‘ besitzt. In An. Post. I 22 gibt
Aristoteles folgende Beispiele: (1) „Das Weiße geht“ (83a2) und „das Ge-
bildete ist weiß“ (83a11) sowie (2) „jenes Große ist Holz“ (83a2 f.) und „das
Weiße ist Holz“ (83a5).17 Wenn wir solche Aussagen machen, dann meinen
wir eigentlich, (1’) daß der Mensch, der weiß ist, geht (83a3 f.) und daß der
Mensch, der gebildet ist (è sulb´bgjem eWmai lousij`: a11 f.), weiß ist, sowie
(2’) daß das Holz groß ist (83a3) und daß das, „dem das Weiße zufllt, Holz
ist“ (è sulb´bgje keuj` eWmai : 83a5 f.). Wir meinen aber nicht, daß das
Weiße fr Holz oder das Gebildete fr weiß Trger (hypokeimenon) sind; das
Prdikat wird eigentlich von etwas anderem, nmlich dem ontologisch
selbstndigen Trger, ausgesagt (vgl. Met. IV 4, 1007b2 – 5). Diese ,unna-
trlichen‘ Prdikationen suggerieren durch ihre undurchsichtige syntakti-
sche Struktur eine falsche ontologische Ordnung, in der Akzidentien als
Trger von Substanzen erscheinen.18 Genau diese Abweichung von der
natrlichen prdikativen Ordnung findet sich nun bei der Beschreibung des
,akzidentellen Wahrnehmens‘; die Interpreten sprechen hier von einer ,in-
verse ontology‘19 oder einer besonderen ,perceptive predication‘.20 Diese
Abweichung ist einem besonderen Interesse geschuldet: Aristoteles geht es

(Hçffe 2006, 52; hierzu genauer Patzig 1959, 15 – 18), von denen die Argumente
und wissenschaftlichen Untersuchungen am meisten Gebrauch machen (43a42 f.).
Hier wird dann etwas ,akzidentell ausgesagt‘, wenn etwas, was von keinem mehr
ausgesagt werden kann, dennoch von etwas ausgesagt wird. An der Subjektstelle steht
hier ein demonstrativer Terminus (t¹ keuj¹m 1je?mo ; t¹ pqosi¹m), an der Prdi-
katsstelle ein Eigenname.
15 Vgl. An. Post. I 19, 81b25 – 29: „Ich sage auf zufllige Weise, wie wir etwa von jenem
weißen Ding (t¹ keujºm…1je?mº) sagen, es sei ein Mensch, wobei wir nicht auf
hnliche Weise reden wie daß der Mensch weiß ist; dieser ist nmlich, ohne etwas
anderes zu sein (oqw 6teqºm ti £m), weiß, das Weiße dagegen, weil es fr den Menschen
zufllig war, weiß zu sein“ (bers. Detel).
16 An. Post. I 4, 73b6, b8; I 19, 81b27; I 22, 83a13 f., a32, b23.
17 Daraus ergeben sich zwei Typen von unnatrlicher Prdikation: (1) Akzidens von
Akzidens, (2) Substanz von Akzidens.
18 Vgl. Tugendhat 1958, 125 Anm. 6; Graeser 1978, 75.
19 Graeser 1978, 74: „Within the framework of perceptual language genuine sub-
stances are treated as attributes and non-substances are treated as genuine subjects.“
20 Cashdollar 1973, 161 ff.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 143

um die Herausstellung eines besonderen kausalen Verhltnisses hinsichtlich


der Wahrnehmung und nicht wie in der Standard-Prdikation um die
Verdeutlichung ontologischer Verhltnisse. Die perzeptuelle Qualitt ist
deshalb das logische Subjekt, weil sie die ,eigentliche Ursache‘ der Affektion
des Wahrnehmungsvermçgens ist, whrend der ,Sohn des Kleon‘ mit der
,eigentlichen Ursache‘nur akzidentell verbunden ist: Wir nehmen den Sohn
des Kleon wahr, „nicht weil er der Sohn des Kleon ist, sondern weil er weiß ist,
diesem aber akzidentell zukommt, Sohn des Kleon zu sein“ (425a25 ff.).21
Fr die Frage, wie der Wahrnehmungsgehalt bei Aristoteles bestimmt
werden muß, ist es nun entscheidend, ob das ,akzidentell Wahrnehmbare‘zu
einem Teil des Wahrnehmungsgehalts werden kann oder nicht. Im Fol-
genden sollen zwei konkurrierende Interpretationsmodelle der Lehre vom
,akzidentell Wahrnehmbaren‘ dargestellt und diskutiert werden.
Modell A. Mit dem Herausstellen unterschiedlicher Arten von kausaler
Beziehung, die zwischen verschiedenen Gattungen des Seienden und dem
Wahrnehmungsvermçgen bestehen, ist die Aussage von De an. II 6 noch
nicht erschçpft. Dieses Kapitel scheint noch einen weiteren Gesichtspunkt
auf einer tieferen Ebene zu enthalten, der den Gehalt der Wahrnehmung
betrifft. Dieser Gesichtspunkt ist aber von Aristoteles nicht direkt intendiert,
als ob Aristoteles an dieser Stelle explizit seine Ansichten zum Gehalt der
Wahrnehmung darlegen oder gar fr einen engen, nicht-propositionalen
Gehalt argumentieren wrde. Vielmehr ergibt sich jener Gesichtspunkt aus
zwei Annahmen, die dem Kapitel II 6 implizit zugrundeliegen. (1) Im
Unterschied zur Behandlung der ,eigentlichen‘ und ,akzidentellen Ursache‘
in Phys. II 3 geht es im Kapitel De an. II 6 nicht um irgendeine Art von
Affektion, sondern um eine solche, in welcher das Affizierte einen kognitiven
Zugang zum affizierenden Gegenstand hat. Der Wahrnehmende ist sich der
Qualitt, die eine bestimmte Vernderung in ihm verursacht, bewußt. Ihm
wird die individuelle Substanz durch und in ihren wahrnehmbaren Eigen-
schaften prsent. Anders ausgedrckt: Daß das Wahrnehmungsvermçgen
von einem eigentmlichen Objekt als seiner ,eigentlichen Ursache‘ affiziert
wird, hat zur Folge, daß man dieses eigentmliche Objekt wahrnimmt.
Daher spricht Aristoteles in II 6 nicht nur von den verschiedenen Klassen von

21 Aus dieser kausalen Prioritt ergibt sich dann auch eine kognitive Prioritt, da die
Wahrnehmung des ,an sich Wahrnehmbaren‘ keinerlei Lernen voraussetzt. Vgl.
Bywater 1888, 57: „In the order of being the sensible attribute is conceived as the
sulbebgj¹r of the substance, but in the order of knowledge the relative position of
things is reversed: the sensible attribute is in the latter case the primary fact, the
substance the secondary or accessory fact, the sulbebgjºr.“
144 4. Wahrnehmung und Intellekt

aisthÞta, sondern gleichzeitig auch von verschiedenen Arten des aisthanesthai


(418a9, a22 f.). (2) Wenn man als zweites gemß dem Kausalmodell an-
nimmt, daß der Wahrnehmungsgehalt allein durch die Bewegungsursache,
die externe Qualitt, festgelegt wird, also nur das wahrgenommen wird, was
,als solches‘ einen Sinn affizieren kann, dann folgt, daß das ,akzidentell
Wahrnehmbare‘ aufgrund seiner fehlenden kausalen Eigenstndigkeit nicht
in den Gehalt der Wahrnehmung eingehen kann.22 Das ,akzidentell
Wahrnehmbare‘ ist dann nur noch in einem quivoken Sinn wahrnehmbar.23
Singulre Tatsachen, wie z. B. daß das Weiße ein Mensch ist, sind fr die
Wahrnehmung nicht zugnglich, sie liegen bloß außerhalb der Wahrneh-
mung vor. Wir sehen jetzt, wie sich aus dem Kapitel II 6 unter Einbezug
dieser beiden Annahmen eine restriktive Aussage hinsichtlich des Wahr-
nehmungsgehalts ergibt: Dieser ist demnach auf die idia und koina aisthÞta
eingeschrnkt, erfaßt also den Gegenstand nur in seiner sinnlichen Be-
schaffenheit. Die Bedingung dafr, wann ein Gegenstand ,akzidentell
wahrgenommen‘ wird, kann unter Einbezug der beiden impliziten An-
nahmen nun so formuliert werden:
(Def 2) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x auf-
grund seiner spezifischen Natur nicht in der Lage ist, das Wahr-
nehmungsvermçgen zu affizieren, und daher nicht in den Wahr-
nehmungsgehalt eingeht und (2) x einem y zukommt, das ,an sich
wahrgenommen‘ wird und daher in den Wahrnehmungsgehalt
eingeht.
Die Funktion dieses Abschnitts innerhalb von De an. II 5-III 2 kçnnte in
dieser Interpretation folgendermaßen bestimmt werden: Durch die Ein-
fhrung des Begriffs des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ soll der Weg fr die
Behandlung der jedem Sinn eigentmlichen Objekte in II 7 – 11 freige-

22 In diesem Sinne wird dann (i) von manchen Interpreten das ox in De an. II 6, 418a23
nicht auf das akzidentell wahrgenommene Objekt, also das vorangehende toOto,
sondern auf das t` keuj` bezogen. Vgl. Ross 1961, 239 im Sinne der Paraphrase des
Themistius: „because being Diares’ son is incidental to the white object, which he
perceives (directly).“ Vgl. auch die bersetzung von Smith ([Oxford-bersetzung]
665) und Kahn 1981, 402 Anm. 17. Auf die sprachlichen Schwierigkeiten dieser
Lçsung wurde schon oft hingewiesen (vgl. Hicks 1907, 363; Graeser 1978, 72 f.). (ii)
Das Ø toioOtom wird dann so verstanden, daß das Wahrnehmungsvermçgen nichts
vom Gegenstand als Sohn des Diares erleidet, sondern nur insofern er weiß ist (Ross
1961, 240).
23 Wenn Aristoteles von ,aQshgt²‘ spricht, ist das also kein Indiz dafr, daß die ,akzi-
dentell wahrnehmbaren‘ Objekte in irgendeiner Weise „Implikate des Wahrneh-
mungsbewußtseins“ sind (gegen Welsch 1987, 298 f.).
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 145

macht werden, indem all das ausgesondert wird, was im strikten Sinn nicht
wahrnehmbar ist. Dadurch soll verhindert werden, daß jene eigentlich nicht
wahrnehmbaren Objekte in die Abhandlung von II 7 – 11 hineingeraten und
„die Lehre verwirren“.24 Demnach wrde Aristoteles an dieser Stelle keine
Aussagen ber die Erkenntnis dieser Objekte machen; ihm wrde es nur
darum gehen, ihnen die Wahrnehmbarkeit im strikten Sinn abzusprechen.
Wenn aus II 6 die Beschrnkung des Wahrnehmungsgehalts auf die idia
und koina aisthÞta folgt, stellt sich natrlich sofort die Frage, wie wir dann die
Trger der sinnlichen Qualitten, die individuellen Substanzen, als solche
erkennen kçnnen. Diese wrden wir nach unserem Alltagsverstndnis als
wahrnehmbar betrachten (vgl. Met. VII 15, 1039b28); nach II 6 fallen sie
aber als Elemente der ersten Kategorie unter die Klasse des ,akzidentell
Wahrnehmbaren‘. Die Frage nach ihrer Erkennbarkeit darf natrlich nicht
so verstanden werden, als ob es hier wie in den Sinnesdaten-Theorien um die
Frage ginge, wie ,hinter‘ den ,an sich wahrnehmbaren‘ Qualitten das
,materielle Objekt‘erkannt werden kann.25 Es ist fr Aristoteles schon immer
der Gegenstand selbst, der sich uns in der Wahrnehmung durch und in seinen
sinnlichen Qualitten prsentiert. Die Frage lautet hier vielmehr, als was fr
einer (t¸ 1sti der ersten Kategorie), d. h. als zu welcher Art gehçrig, der bisher
nur in seinem poiºm erkannte Gegenstand identifiziert werden kann (z. B. als
ein Mensch etc.). Viele Vertreter dieses Interpretationsmodells haben fr
diese Identifikation des Wahrgenommenen den Intellekt ins Spiel ge-
bracht26, der auf der Grundlage des Wahrgenommenen eine Inferenz vor-

24 Philoponus, In De an. 310.32 – 35: pqºteqom dia¸qes¸m tima paqad¸dysi jahºkou


t_m aQshgt_m p²mtym, posaw_r k´cetai, Vma t± juq¸yr aQshgt± !p¹ t_m jat± sul-
bebgj¹r aQshgt_m, ûpeq oqd³ aQshgt² 1sti, t` oQje¸\ kºc\ wyq¸sar peq· to¼tym t¹m
kºcom poi¶sgtai, ja· lμ paqap¸ptomta j!je?ma taq²ss, tμm didasjak¸am.
25 Dieses Mißverstndnis kçnnte sich nahelegen, wenn der Unterschied zwischen ,an
sich‘ und ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ mit ,direkt‘ und ,indirekt wahrnehmbar‘
wiedergegeben wird (vgl. Bywater 1888, 57; Hicks 1907, 77, 430, 472; Hett 1936,
101 f.; Block 1960, 94).
26 Vgl. Philoponus, In De an. 312.29: b c±q moOr 1stim t_m oqsi_m !mtikgptijºr.
Sophonias, In De an. 70.36 – 71.8: oq c±q aQshgt¶ timor oqs¸a, !kk± kocisl` kgpt¶,
oXom toO k¸hou […] B l³m c±q exir jah’ art¹ ja· pqogcoul´myr toO wq¾lator
!mtek²beto, B d³ xuwμ tμm oqs¸am sum´cmyje“. Fr eine solche ,noetische Inter-
pretation‘ vgl. auch Geyser 1917, 161: „Diese zweite, die ,akzidentelle‘ Wahrneh-
mung, ist somit ein zum ursprnglichen Wahrnehmungsakt hinzutretender
Denkakt der Deutung des Gegenstandes, an dem die sinnlich wahrgenommene
Qualitt haftet“; Kahn 1966, 46; Kahn 1981, 402 f.: „It is in virtue of our intellectual
capacities that we can recognize and distinguish the incidental sensibles“; Kahn
1992, 367 f.: „What is not always noted by the commentators is that the incidental
sensibles represent the overlap or conjoined action of sense and intellect.“
146 4. Wahrnehmung und Intellekt

nimmt27: Man sieht z. B. dieses Weiße oder ein anderes markantes Merk-
mal28 und schließt auf der Grundlage eines bestimmten Wissens, daß es sich
um einen Menschen oder um Kleon handelt. (Man schließt also auf sein Was-
Sein und nicht auf sein Daß-Sein.) Hier handelt es sich nicht mehr um einen
genuin aisthetischen Akt; das ,akzidentell Wahrnehmbare‘, das sich hier auf
die erste Kategorie bezieht, fllt nicht mehr in die Kompetenz des Wahr-
nehmungsvermçgens, sondern involviert die Ttigkeit des Intellekts.29
Damit wird dem fr Aristoteles’ Psychologie wichtigen Einschluß- oder
Bedingungsverhltnis zwischen hçheren und niederen seelischen Vermçgen
Rechnung getragen, gemß dem die verschiedenen seelischen Vermçgen
nicht unverbunden nebeneinander liegen, sondern eine Einheit bilden,
indem jeweils das hçhere Vermçgen das niedrigere der Potenz nach enthlt
(De an. II 3, 414b28 – 32). Wie eine solche Kooperation von Wahrnehmung
und Intellekt genauer interpretiert werden kann, werden wir in Kap. 4.3
genauer untersuchen.

27 Vgl. Philoponus, In De an. 318.1 – 2: t± c±q jat± sulbebgj¹r aQshgt± oqd³m dqø eQr
t±r aQsh¶seir ja· de?tai kºcou toO 1n %kkym sukkocifol´mou ; 454.20 – 22: B c±q
oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j t_m aqt0 sulbebgjºtym.
28 Vgl. Philoponus, In De an. 315.21 – 24. In 454.24 gibt Philoponus fr ein mar-
kantes Merkmal das Beispiel an, daß Kleon einen pqoc²styq trgt.
29 Dieses ,noetische Interpretationsmodell‘ bewhrt sich vor allem in der Interpretation
der schwierigen Passage De an. III 4, 429b10 – 22. Nachdem sich bisher Aristoteles
in diesem Kapitel besonders mit der Organlosigkeit und Leidensunfhigkeit des
Intellekts, seiner Plastizitt und seinem Vorliegen in reiner Potentialitt beschftigt
hat, kommt er in diesem Abschnitt auf unterschiedliche kognitive Gegenstnde (idia
aisthÞta, wahrnehmbare Substanzen, substantielle Formen, abstrakte oder mathe-
matische Formen) zu sprechen, die sich in ihrer unterschiedlichen Abtrennbarkeit
von der Materie unterscheiden und die entweder mit verschiedenen kognitiven
Vermçgen oder einem unterschiedlich disponierten kognitiven Vermçgen erfaßt
werden (429b21 f.: 2t´q\ %qa C 2t´qyr 5womti jq¸mei). Aristoteles fhrt hier u. a. den
Unterschied zwischen den wahrnehmbaren Substanzen und ihren substantiellen
Formen an, z. B. das Fleisch und das Sein des Fleisches (429b12 f.). Geht man mit
dem Modell A davon aus, daß die Wahrnehmung nur das ,an sich Wahrnehmbare‘
zum Inhalt haben kann, dann kann es nicht die Wahrnehmung alleine sein, durch
welche die zusammengesetzten Substanzen erfaßt werden. Kahn bezieht das erste
Glied der Adjunktion C %kk\ C %kkyr 5womti jq¸mei (429b14) auf die Wahrnehmung,
das zweite auf den nous, der sich „auf eine andere Weise verhlt“, insofern er zu-
sammen mit der Wahrnehmung ttig ist und auf diese Weise die zusammengesetzten
Substanzen erfaßt (Kahn 1992, 370). Auch das Etoi wyqist` C ¢r B jejkasl´mg 5wei
pq¹r artμm ftam 1jtah0 in 429b16 f. kann in dieser Interpretation auf den nous
bezogen werden, der entweder getrennt oder gemeinsam mit der Wahrnehmung
operiert (Kahn 1992, 371). Zu einer vollkommen anderen Interpretation dieser
Passage vgl. Modrak 1987, 119, 123.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 147

Modell B. Gegen eine solche Einfhrung des Intellekts kçnnte nun die
These vertreten werden, daß es das Wahrnehmungsvermçgen allein ist, das
das ,akzidentell wahrnehmbare‘ Objekt in seinem Zukommen zu einem
bestimmten idion aisthÞton erkennt – ganz gleich ob das ,akzidentell
Wahrnehmbare‘ einen perzeptuellen oder noetischen Ursprung hat. Das
,akzidentell Wahrnehmbare‘ wre trotz seiner fehlenden kausalen Eigen-
stndigkeit hinsichtlich der Wahrnehmung in einem univoken Sinn wahr-
nehmbar. Fr eine solche Interpretation kann Cashdollar als maßgeblicher
Vertreter angesehen werden.30 Fr Cashdollar ergibt sich aus dem Modell A
ein zu trivialer Sinn von ,akzidenteller Wahrnehmung‘: Jeder perzeptuellen
Qualitt kommen eine Vielzahl von Bestimmungen außerhalb der Kategorie
des Qualitativen zu (z. B. daß das Weiße ein Mensch ist, daß es Sohn des
Diares ist etc.), woraus folgt, daß sich jede eigentliche Wahrnehmung einer
solchen Qualitt nebenbei immer auch auf eine Vielzahl von Bestimmungen
aus der komplementren Klasse des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ bezieht.31
Nach Cashdollar bildet dagegen das Verhltnis zwischen dem ,an sich
Wahrnehmbaren‘ und dem ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ (t` keuj` sul-
b´bgje toOto : II 6, 418a22 f.) eine Tatsache, die nicht nur wahrneh-
mungsunabhngig in der Realitt vorliegt, sondern die auch in der Wahr-
nehmung selbst gegeben ist.32 Der Wahrnehmende ist sich bewußt, daß das
Weiße der Sohn des Diares ist; der Wahrnehmungsgehalt wre dann als
propositional zu bezeichnen.33 Fr das Erkennen dieser Verbindung ist die

30 Cashdollar 1973. Viele Interpreten sind ihm bisher in seinem Grundansatz gefolgt.
Vgl. Gaukroger 1981, 84; Welsch 1987, 298 ff.; Sorabji 1992, 196 – 203; Bolton
2005, 219 – 222; Gregoric & Grgic 2006, 11 f.
31 Cashdollar 1973, 157: „Moreover, that view would have made incidental perception
trivial. Every white thing happens to be some particular ‘this’ or other, so that it is the
case that every proper sensation is of something incidentally.“
32 Cashdollar 1973: „The exemplary cases, however, make it apparent that awareness
,that x is y‘ (rightly or wrongly) is always involved in incidental perception […] But it
is only such instances where one in seeing the white is aware of, for instance, the son of
Cleon that give incidental aisthÞsis what place it has in the tripartite listing and in his
account of perception in general“ (157); „To perceive the conjunction of subject and
attribute is therefore possible within Aristotle’s account of aisthÞsis generally. If the
present account is correct, perception of such a synthesis is also necessary therein“
(170).
33 Vgl. Cashdollar 1973, 157 f.: „The exemplary cases, however, make it apparent that
awareness ,that x is y‘ (rightly or wrongly) is always involved in incidental percep-
tion“. Vgl. auch Modrak (1987, 69 ff.) und Sorabji (1992, 197 ff.): „This already
involves perceiving a proposition, in other words, that something is the case“;
„Perception was all along treated in the De Anima as admitting a propositional
content“. Vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 11 f.
148 4. Wahrnehmung und Intellekt

Wahrnehmung allein hinreichend; es handelt sich um einen rein perzep-


tuellen Akt, den man dann als ,akzidentelle Wahrnehmung‘ (aUshgsir jat±
sulbebgjºr) bezeichnen kann.34 Dieser komplexe Gehalt kommt dadurch
zustande, daß das primre Wahrnehmungsvermçgen das ,an sich Wahrge-
nommene‘ mit einem anderen kognitiven Gehalt, einem phantasma oder
einem noÞma, kombiniert. In dieser,perzeptuellen Kombination‘, die sich in
dieser Interpretation grundstzlich auf alle Arten von Objekten außerhalb
der perzeptuellen Qualitten beziehen kann, greift das Wahrnehmungs-
vermçgen selbst z. B. auf einen Gedanken zurck und verbindet diesen mit
einem aktualen Wahrnehmungsgehalt zu einem neuen Gehalt, der im Fall
einer Verbindung mit einem noÞma aus einer sinnlichen und begrifflichen
Komponente bestehen wrde.35 Durch diesen assoziierten Gehalt wird das
Wahrgenommene kognitiv spezifiziert, so daß die Wahrnehmung eine
Tatsache (daß x F ist) zum Inhalt haben und als propositional bezeichnet
werden kann. Nach diesem Modell handelt es sich hier um einen Fall ge-
nuiner Wahrnehmung und nicht schon um eine Ttigkeit, die den Intellekt
involviert.36 Insofern sich das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ auf alle Kate-
gorien beziehen kann und nicht notwendig einen noetischen Ursprung
haben muß37, kann auch den Tieren ein Gehalt zugesprochen werden, der
das ,an sich Wahrnehmbare‘ bersteigt.38 Im Fall des Menschen steht dieser
,akzidentellen Wahrnehmung‘ein kognitiv hçherwertiger Gehalt, nmlich
ein noÞma, zur Verfgung, wodurch ein begrifflicher Gehalt zustande-
kommt.39
Die Extension des Terminus ,akzidentell wahrnehmbar‘ ist jetzt ein-
geschrnkt durch eine zustzliche kognitive Bedingung. Das ,akzidentell
Wahrnehmbare‘ bezieht sich jetzt nicht mehr auf die Klasse all jener Ge-
genstnde, die als solche das Wahrnehmungsvermçgen nicht affizieren

34 Cashdollar (1973, 157 Fn. 5) macht darauf aufmerksam, daß sich dieser Ausdruck
im Text nicht findet.
35 Cashdollar 1973: „There must be a perceptual combination of the quality proper to
the operating sense with the other concept“ (160).
36 Cashdollar 1973, 156, 165. Eine solche Wahrnehmung ist fr Cashdollar eine
weitere Funktion des ,primren Wahrnehmungsvermçgens‘ (170).
37 Cashdollar 1973, 163 f., 167 f.
38 Vgl. Sorabji 1992, 200 ff.: „It is not quite excluded, then, that Aristotle might grant
some animals universal concepts. What is clear is that he grants them predicational
perception and a little experience“; vgl. besonders Sorabji 1993, 7.
39 Etwa Gregorić & Grgić 2006, 12: „We would also admit that the ability to perceive
incidental sensibles is vastly enhanced by language and reason, but we would em-
phasise that rationality is not a necessary condition of incidental perception.
Otherwise, non-rational animals could not have incidental perception“.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 149

kçnnen und die einem ,an sich Wahrgenommenen‘ in der Wirklichkeit


zufallen, sondern auf bestimmte kognitive Spezifizierungen der ,an sich
wahrgenommenen‘ Gegenstnde. Das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ nimmt
die Stelle des ,second term‘ in einer spezifisch ,perzeptuellen Synthesis‘ ein.40
Der Ausdruck ,Sohn des Diares‘ bezeichnet dann nicht mehr nur ein Sei-
endes in der Kategorie der Relation, sondern ist eine definite Beschreibung,
durch die etwas Wahrnehmbares identifiziert werden kann. Der Ausdruck
,Mensch‘ bezeichnet dann nicht mehr nur ein Seiendes in der ersten Kate-
gorie, sondern ist ein sortales Prdikat, durch das eine eindeutige Bezug-
nahme auf etwas Wahrnehmbares hergestellt wird. Das Zukommen (sul-
bebgj´mai) zwischen Qualitt und ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ stellt hier
eine kognitive Relation dar: Hier wird etwas (z. B. das Weiße) als etwas (z. B.
als Sohn des Diares) identifiziert und diese Erkenntnis kann wahr oder falsch
sein.41 Damit bekommt der Abschnitt 418a20 – 24 gegenber dem Modell A
einen vollkommen anderen Sinn: Die Aussagen zum ,akzidentell Wahr-
nehmbaren‘ werden nicht mehr auf der Ebene der Gegenstnde in ihrem
kausalen Verhltnis zur Ebene des Vermçgens angesiedelt, sondern auf einer
kognitiven Ebene. Die Funktion dieses Abschnitts besteht jetzt nicht mehr
darin, das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ als eigentlich nicht Wahrnehmbares
aus der folgenden Darlegung auszuschließen. Vielmehr finden sich in diesen
vier Zeilen Spuren einer ,Theorie der akzidentellen Wahrnehmung‘42, ge-
mß der auch das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ dem Wahrnehmenden be-
wußt ist und in den Gehalt eingeht. Der Abschnitt hat jetzt ein viel grçßeres
Gewicht: Er kann zur Interpretation von Aristoteles’ Epistemologie und
anderer Passagen herangezogen werden und vermeidet eine Kluft zwischen
dem, was die Wahrnehmung nach De anima wahrnehmen kann, und dem,
was sie in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs und seiner Wissenspraxis
leisten muß.
Das strkste Argument fr das Modell B ist der Abschnitt De an. III 3,
428b18 – 27, wo Aristoteles der Wahrnehmung von allen drei im Kapitel De

40 Vgl. Cashdollar 1973, 162: „This is exactly what is meant by incidental perception:
that the second term of the synthesis is a cognized attribute of that which is perceived
necessarily“; ebd. 165: „The material thing which is the source of the special percept
exists under many possible descriptions any of which might be possible but not
necessary candidates for the second term.“
41 Cashdollar 1973, 162: „The exemplary cases reveal that incidental perception is the
true or false recognition of a particular substance“.
42 Vgl. Cashdollar 1973, 168 Fn. 24: „But I have no doubt that these peculiar phrases
are the vestiges of a well-drawn theory of incidental perception the full account of
which did not find its way into DA or PN.“
150 4. Wahrnehmung und Intellekt

an. II 6 unterschiedenen Arten wahrnehmbarer Gegenstnde, also auch dem


,akzidentell Wahrnehmbaren‘, bestimmte Grade der Fallibilitt zuordnet.
„Die Wahrnehmung der eigentmlichen Gegenstnde ist wahr oder hat den
geringstmçglichen Anteil an der Falschheit. An zweiter Stelle kommt aber (die
Wahrnehmung), daß dasjenige, was den (eigentmlich) wahrnehmbaren Ge-
genstnden akzidentell zukommt, (diesen) akzidentell zukommt43 und hier ist
es schon mçglich, sich zu tuschen. Denn daß etwas weiß ist, (darber) tuscht
sich (die Wahrnehmung) nicht, ob aber das Weiße dies ist oder etwas anderes,
darin tuscht sie sich (de¼teqom d³ toO sulbebgj´mai taOta <$ sulb´bgje to?r
aQshgto?r> ja· 1mtaOha Edg 1md´wetai diaxe¼deshai7 fti l³m c±q keujºm, oq
xe¼detai, eQ d³ toOto t¹ keuj¹m C %kko ti, xe¼detai). Das dritte aber ist (die
Wahrnehmung) der gemeinsamen Gegenstnde, die den akzidentell zukom-
menden Gegenstnden folgen, denen die eigentmlich wahrnehmbaren Ge-
genstnde zukommen (ich meine z. B. Bewegung und Grçße). ber diese kann

43 Ich orientiere mich an dieser Stelle an der Lesart von Ross und an den gngigen
bersetzungen (vgl. Smith [Oxford -bersetzung] 681; Ross 1961, 283; Theiler
1994, 56; Hamlyn 1968, 56), die Bywaters (1888, 58) Umstellung des ,$ sulb´bgje
to?r aQshgto?r‘ von 428b24 nach 428b20 folgen und es in einem inversen Sinn
verstehen. Problem in diesem Abschnitt ist die Formulierung ,toO sulbebgj´mai
taOta‘ in 428b19 f.: Diese kçnnte man im inversen Sinn des Zukommens von II 6,
418a22 f. und III 1, 425a26 f. so verstehen, daß hier wahrgenommen wird, daß ein
substantieller Trger einer ,an sich wahrnehmbaren’ Qualitt zukommt. Hierfr
fehlt aber der Dativ. Daher konjeziert Torstrik ,toO d sulb´bgje to¼toir‘ (die
Wahrnehmung dessen, was diesen [den idia aisthÞta] zukommt). Einen anderen
Weg, um die inverse Interpretation aufrechtzuerhalten, schlgt Bywater ein: Er
transponiert das ,$ sulb´bgje to?r aQshgto?r‘ von 428b24 nach b20, um damit den
notwendigen Dativ zu gewinnen. Es wird dann folgendermaßen bersetzt: „Next
comes perception that what is incidental to the objects of perception is incidental to
them“ (Smith [Oxford-bersetzung] 681); „Next to it comes the perception that the
objects which accompany these special sensibles do accompany them“ (Paraphrase
Ross 1961, 283); „Secondly {there is the perception} that those things which are
incidental to these objects of perception are so“ (Hamlyn 1968, 56); „In zweiter Linie
geht sie darauf, daß den Sinnesgegenstnden nebenbei zugehçrt, was ihnen zuge-
hçrt“ (Theiler 1994, 56). Das ,to?r sulbebgjºsim‘ in 428b23 wird dann ebenfalls in
dieser inversen Verwendung auf die ,akzidentell wahrnehmbaren‘ substantiellen
Trger selbst bezogen, denen die idia (nicht-invers) zukommen: ,oXr rp²qwei t± Udia‘.
Im Gegensatz zu Torstrik und Bywater geht Heinrich Maier davon aus, daß das
sulbebgj´mai in 428b20 und b23 im herkçmmlichen nicht-inversen Sinn zu ver-
stehen ist, d. h. die Wahrnehmung bezieht sich auf die akzidentellen Eigenschaften.
Dann aber muß das ,oXr rp²qwei t± Udia‘ in 428b23 gestrichen werden. Fr eine
andere Lçsung, ohne die Umstellung von Bywater, vgl. Hicks 1907, 469: Er faßt das
,toO sulbebgj´mai taOta‘ von 428b20 im herkçmmlichen nicht-inversen Sinn
auffaßt, so daß es sich auf die Akzidentien bezieht, die einer Einzelsubstanz zu-
kommen.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 151

man sich am meisten tuschen hinsichtlich der Wahrnehmung“ (De an. III 3,
428b18 – 25).
Die Fallibilitt wird im Fall des ,akzidentell Wahrnehmbaren’ an der zwei-
gliedrigen Struktur festgemacht: Das idion aisthÞton ,weiß‘ wird mit etwas
anderem verbunden und diese Verbindung oder Synthesis kann wahr oder
falsch sein. Dafr muß aber das andere Glied, mit dem das idion verbunden
wird, dem Wahrnehmenden kognitiv prsent sein. Wenn es also mçglich sein
soll, sich in der Wahrnehmung darber zu tuschen, daß das Weiße z. B. ein
Mensch ist, muß auch das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ zu einem Teil des
Wahrnehmungsgehalts werden kçnnen. Es muß fr den Wahrnehmenden
mçglich sein, daß ihm das Wahrgenommene als ein Mensch erscheint, um
sich ber diesen Sachverhalt tuschen zu kçnnen. Auch in De an. III 6 scheint
Aristoteles dem Erkennen des ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ – auch wenn
der Terminus hier nicht vorkommt – eine Fallibilitt zuzusprechen und zwar
analog zur t· jat± timºr-Struktur des Aussagens und Denkens.
„Aber nicht jeder (Modus des) Intellekts (ist wahr oder falsch), sondern der sich
auf das Was-es-ist gemß dem Was-es-heißt-(fr eine Sache)-zu sein beziehende
ist (immer) wahr, und (hier gibt es) nicht Etwas-von-Etwas: Aber wie das Sehen
der eigentmlichen Qualitt (immer) wahr ist, ob aber das Weiße ein Mensch ist
oder nicht, nicht immer wahr ist, so verhlt es sich bei dem ohne Materie (b d³
moOr oq p÷r, !kk’ b toO t¸ 1sti jat± t¹ t¸ Gm eWmai !kgh¶r, ja· oq t· jat² timor7 !kk’
¦speq t¹ bq÷m toO Qd¸ou !kgh´r, eQ d’ %mhqypor t¹ keuj¹m C l¶, oqj !kgh³r !e¸,
ovtyr 5wei fsa %meu vkgr)“ (De an. III 6, 430b27 – 30).

Aus diesem Abschnitt wird deutlich, daß Aristoteles nicht nur auf der
noetischen Ebene zwischen dem Erfassen des Unteilbaren (Met. IX 10,
1051b17 – 3244) und der Synthesis von Gedanken (s¼mhesir mogl²tym : De
an. III 6, 430a27 f.45) unterscheidet, sondern dieser Unterschied auch fr die
aisthetische Ebene gilt: Whrend das Sehen der idia aisthÞta immer wahr ist
oder im geringsten Maße fallibel (III 3, 428b19), kann man sich in der
,akzidentellen Wahrnehmung‘ darin tuschen, ob das Weiße ein Mensch ist
oder nicht.46 Bezglich der Frage, wie aber das Wahrnehmungsvermçgen

44 Statt der Disjunktion ,wahr oder falsch‘ gibt es bei diesen einfachen Gegebenheiten
nur die Wahrheit im Sinne des Denkens oder Erfassens, dem das berhaupt nicht
Gedacht- oder Erfaßt-Werden gegenbersteht, genauso wie ein Gegenstand berhrt
(hicc²meim) oder nicht berhrt wird. Hierzu ausfhrlich Oehler 1985.
45 Vgl. Int. 16a12 f.; Met. VI 4, 1027b29 f., 32 f.
46 Auch in De an. II 6, 418a16 (t¸ t¹ jewqysl´mom C poO, C t¸ t¹ xovoOm C poO) und Met.
IV 5, 1010b19 – 21 (!kk’ oqd’ 1m 2t´q\ wqºm\ peq¸ ce t¹ p²hor Alvisb¶tgsem, !kk±
peq· t¹ è sulb´bgje t¹ p²hor) scheint eine fallible ,akzidentelle Wahrnehmung’
vorzuliegen.
152 4. Wahrnehmung und Intellekt

allein fhig sein soll, sich eines solchen akzidentellen Zukommens bzw. eines
solchen singulren Sachverhalts bewußt zu werden (z. B. daß das Weiße ein
Mensch ist), muß man so etwas wie eine ,perzeptuelle Kombination‘ an-
nehmen: hnlich wie in den assoziativen Verbindungen innerhalb des Er-
innerns (vgl. Mem. 451b10 – 22) assoziiert der Wahrnehmende spontan mit
einer ,an sich wahrgenommenen‘ Qualitt einen schon erworbenen ko-
gnitiven Gehalt, etwa einen Gedanken (noÞma). Die Wahrnehmung selbst
leistet also eine Kombination, die zu einer spezifisch ,perzeptuellen Syn-
thesis‘ fhrt, die wahr oder falsch sein kann. Die ,akzidentelle Wahrneh-
mung‘ besteht dann im Bewußtsein dieser Verbindung.
Die Bedingung dafr, wann eine ,akzidentelle Wahrnehmung‘ statt-
findet, muß in dieser Interpretation folgendermaßen bestimmt werden:
(Def 3) x wird ,akzidentell wahrgenommen‘ genau dann, wenn (1) x einem y
zukommt, das ,an sich‘ wahrgenommen wird und (2) eine ,per-
zeptuelle Kombination‘ stattfindet zwischen y und x und (3) y als x
identifiziert wird.
Was als ,akzidentell wahrgenommen‘ bezeichnet wird, ist hier nicht mehr die
Klasse der Dinge, die als solche kein Wahrnehmungsvermçgen affizieren
kçnnen und die dem ,an sich Wahrgenommenen‘ in der Wirklichkeit zu-
fallen kçnnen, sondern das, was zugleich mit dem ,an sich Wahrgenom-
menen‘ erfaßt wird, was man mit diesem zusammen im Bewußtsein hat. Es
handelt sich nicht mehr bloß um ein bestimmtes Seiendes außerhalb der
Kategorie des Qualitativen, sondern um einen bestimmten kognitiven In-
halt, durch den das ,an sich Wahrgenommene‘ interpretiert oder spezifiziert
wird.47
Ohne Zweifel besitzt dieses Interpretationsmodell eine besondere At-
traktivitt. Zum ersten steht sie in bereinstimmung mit unserem All-

47 Cashdollar gibt sogar die ,entscheidende Bedingung‘ auf, daß das ,akzidentell
Wahrnehmbare‘ hinsichtlich des Wahrnehmungsvermçgens kausal wirkungslos ist:
Vom ,akzidentell Wahrnehmbaren‘ gehe vielmehr ein dritter Typ von psychischer
Bewegung aus (Cashdollar 1973, 159). Das zeigt sich auch darin, wie Cashdollar die
schwierige Stelle II 6, 418a23 f. versteht (1973, 160 Anm. 10): Er bezieht das ox in
418a23 auf das akzidentell wahrgenommene Objekt, also das vorangehende toOto,
und das Ø toioOtom im folgenden Satz auf das Weiße. Demnach erleidet das
Wahrnehmungsvermçgen nichts vom Wahrnehmbaren, insofern es weiß ist, son-
dern insofern es der Sohn des Diares ist. Graeser (1978, 72 f.) pldiert dagegen zu
Recht dafr, in der bersetzung von De an. II 6, 418a23 auf das ,consistency-re-
quirement‘ zu verzichten: Das ox ist auf das ,akzidentell Wahrnehmbare‘ (toOto) zu
beziehen und das Wahrnehmungsvermçgen erleidet nichts von diesem, insofern es
der Sohn des Diares ist. Vgl. auch Hicks 1907, 363.
4.1 Zwei Interpretationsmodelle der akzidentellen Wahrnehmung 153

tagsverstndnis: Wir gehen davon aus, daß uns in einem Wahrnehmungsakt


mehr als bloß partikulre sinnliche Qualitten gegeben sind, daß wir z. B.
etwas als einen Tisch oder als einen Menschen wahrnehmen.48 Wir unter-
stellen außerdem, daß auch der Wahrnehmungsgehalt subhumaner Lebe-
wesen ber einzelne sinnliche Qualitten hinausgeht, etwa daß der Hund
jemanden als seinen Herrn, der Esel etwas als Stroh oder der Hase etwas als
gefhrlich wahrnehmen kann und sich dadurch ,verstndig‘ oder ,klug‘
(vqºmilom : Met. I 1, 980b1 f.; Hist. an. IX 1, 608a11 – 21) verhalten kann.
Aristoteles scheint den Tieren einen Gehalt zuzuschreiben, der ber das
bloße Erfassen des ,an sich Wahrnehmbaren‘ hinausgeht.49 Wenn ihnen nun
aber kein nous zukommt, muß die Lcke vom Wahrnehmungsvermçgen
gefllt werden und hier bietet sich das Modell B an.50 Dafr mssen aber den
Tieren so etwas wie ,rudimentre Begriffe‘ zugeschrieben werden, die dann
in einer solchen propositionalen Wahrnehmung die Prdikatsstelle ein-
nehmen; der Lçwe verfgt dann ber einen rudimentren Begriff des
Ochsen.51 Schließlich kann dieses Interpretationsmodell als Erklrung
zahlreicher Stellen herangezogen werden, in denen Aristoteles so von der
Wahrnehmung spricht, als ob sie eine singulre Tatsache erfassen kann.52 Die

48 Vgl. auch Aristoteles’ Rede von den wahrnehmbaren Einzelsubstanzen (z. B. Met.
VII 15, 1039b27 f.; XII 1, 1069a30 ff.).
49 Immer wieder zitiertes Beispiel ist EN III 13, 1118a20 f.: „Ebenso ist fr den Lçwen
nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr. Dass der Ochse in der
Nhe ist, bemerkt er am Gebrll (fti d’ 1cc¼r 1sti, di± t/r vym/r Õsheto)“ (bers.
Wolf ). Hierzu Sorabji 1992, 197 f.: „Having distinguished animals from men as
lacking reason in the De Anima, he none the less allows the lion to entertain pro-
positions about the ox he is going to eat in the Nicomachean Ethics“; Sorabji 1993, 5.
50 Vgl. Sorabji 1992, 196: „an animal that follows a scent does not merely perceive the
scent in isolation, but perceives it as lying in a certain direction […] But this already
involves predication: the scent is connected with a direction. We can put this by saying
that the animal perceives that the scent comes from that direction, or perceives it as
coming from there. If animals lack reason and belief, these predications must be
something that their perception can carry out“.
51 Sorabji 1993, 7: „The point is that animals too are allowed by Aristotle, at the
opening of the Metaphysics (1.1), to have a little experience. And that is how the lion
can have a rudimentary concept of the ox“; Sorabji 1996, 316.
52 Vgl. Top. V 3, 131b22 f. (!vam³r c²q 1stim eQ 5ti rp²qwei, di± t¹ t0 aQsh¶sei lºmom
cmyq¸feshai); Met. I 1, 981b11 ff. (!kk’ oq k´cousi t¹ di± t¸ peq· oqdemºr, oXom di± t¸
heql¹m t¹ pOq, !kk± lºmom fti heqlºm); EN VI 3, 1139b21 f. (t± d’ 1mdewºlema
%kkyr, ftam 5ny toO heyqe?m c´mgtai, kamh²mei eQ 5stim C l¶). Man kann auch an den
Untersatz des sog. ,praktischen Syllogismus‘ denken, wo Aristoteles der Wahr-
nehmung, die fr die Erfllung des im deliberativen Denken erreichten letzten
Unterzwecks zustndig ist, die Gehalte zuspricht, die das ,an sich Wahrnehmbare‘
bersteigen; hier wird das aisthÞton in einer bestimmten kognitiven Hinsicht erfaßt
154 4. Wahrnehmung und Intellekt

drohende Kluft zwischen De anima und seiner Wissenstheorie und wis-


senschaftlichen Praxis kann damit vermieden werden, da die Wahrnehmung
in Modell B ber einen hinreichend komplexen Gehalt verfgt, um die ihr
zugeschriebene epistemologisch-grundlegende Rolle zu erfllen.
Trotz dieser Attraktivitt stellen sich gegenber dem Modell B gewichtige
Einwnde. So kçnnte man fragen, ob diese Interpretation den Abschnitt De
an. II 6, 418a20 – 24 nicht hoffnungslos berstrapaziert: Kommt mit einer
Interpretation, die hier die Spuren einer ,Theorie der akzidentellen Wahr-
nehmung‘ vermutet, nicht jene ,Verwirrung‘ in die Lehre von De anima, die
nach Philoponus gerade vermieden werden sollte? Um erklren zu kçnnen,
wie etwas, was prinzipiell nicht in der Lage ist, einen Sinn zu affizieren, dem
Wahrnehmenden dennoch kognitiv prsent werden kann, muß – in An-
knpfung an Aristoteles’ Bemerkungen zur Assoziation in seiner Untersu-
chung der anamnÞsis – so etwas wie eine ,perzeptuelle Kombination‘ oder
,spontane Assoziation‘ postuliert werden. Im Fall des Menschen wrde das
primre Wahrnehmungsvermçgen auf einen gedanklichen Inhalt zurck-
greifen, diesen mit einem aktualen Wahrnehmungsgehalt kombinieren und
somit einen neuen, komplexen Gehalt hervorbringen, der aus einer sinnli-
chen und begrifflichen Komponente besteht. Genau hier liegt der ent-
scheidende Schwachpunkt dieser Interpretation. Sie macht Annahmen, die
sich im Rahmen der Aristotelischen Psychologie nicht halten lassen: (1) Das
Wahrnehmungsvermçgen leistet die Verbindung oder Synthesis der beiden
Gehalte. Dafr muß es auf einen im Intellekt, und zwar im Modus der,ersten
Entelechie‘ vorliegenden gedanklichen Gehalt ,zurckgreifen‘. Ein solcher
,Rckgriff ’durch das Wahrnehmungsvermçgen ist m. E. aber nur in Bezug
auf phantasmata mçglich: Weil es sich bei der phantasia nicht um ein see-
lisches Vermçgen im strikten Sinn handelt, sondern bloß um ein passives
Reservoir von Wahrnehmungseffekten, die zu ganz unterschiedlichen re-
prsentationalen Zwecken von genuinen seelischen Vermçgen genutzt
werden kçnnen, stellt es kein Problem dar, daß sich die Wahrnehmung dieser
gespeicherten Gehalte als reprsentationale Hilfsmittel bedient. Anders sieht
es aber im Fall von Denkinhalten aus. Hier handelt es sich um die spezifi-
schen Gegenstnde eines genuinen seelischen Vermçgens (De an. III 4,
429a17 f.). Es ist nicht denkbar, wie ein anderes Vermçgen, das zudem noch
,unter‘ dem Denkvermçgen steht, auf dessen Inhalte einen direkten Zugriff
haben kçnnte. Aristoteles stellt außerdem heraus, daß eine fallible Synthesis,
wie sie ein solcher begrifflicher Gehalt darstellen wrde, eine Leistung des

(EN III 5, 1113a1 f.: eQ %qtor toOto C p´peptai ¢r de?7 aQsh¶seyr c±q taOta ; VII 5,
1147a26: aUshgsir Edg juq¸a).
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung 155

Intellekts ist (De an. III 6, 430a26-b6). (2) Weiterhin geht man im Modell B
davon aus, daß der gedankliche Inhalt dem Wahrnehmenden kognitiv
prsent ist: Das, was er wahrnimmt, nimmt er als etwas Bestimmtes wahr.
Hierfr muß der gedankliche Inhalt im Modus der ,zweiten Entelechie‘
vorliegen. Das bedeutet, daß es das Wahrnehmungsvermçgen zustande-
bringen mßte, diesen gedanklichen Gehalt zu aktivieren, also in den Modus
der zweiten Entelechie zu berfhren, damit dieser Gehalt das wahrge-
nommene Objekt wirklich kognitiv spezifizieren kann. Aber auch dieses
Aktivieren obliegt dem Intellekt und nicht der Wahrnehmung (De an. II 5,
417b23 f.; III 4, 429b7). (3) Aristoteles zieht berhaupt eine scharfe Grenze
zwischen einer synthesis noÞmatn, wie sie durch den Intellekt zustande-
kommt, und einer Kombination von Vorstellungsgehalten. Zwischen
phantasmata und noÞmata besteht ein wesentlicher Unterschied; letztere
kçnnen auf erstere nicht reduziert werden (De an. III 8, 432a10 – 14).
Die skizzierten Kritikpunkte richten sich gegen die Annahme, daß sich
eine ,perzeptuelle Kombination‘ auch auf Inhalte des Denkvermçgens be-
ziehen kann, wodurch ein begrifflich-propositionaler Wahrnehmungsge-
halt zustandekommt. Nicht betroffen von dieser Kritik ist die Mçglichkeit,
daß sich die ,perzeptuelle Kombination‘ auf solche ,akzidentell wahr-
nehmbaren‘ Objekte bezieht, die einen perzeptuellen Ursprung haben und
durch die phantasia aufbewahrt werden. Das soll im folgenden Abschnitt
anhand der animalischen Wahrnehmung kurz verdeutlicht werden. In dem
sich anschließenden Abschnitt (4.3) wird dann das ,noetische Modell’, das
fr die begriffliche Spezifikation des Wahrgenommenen den Intellekt ein-
fhrt, am Text genauer herausgearbeitet. Es wird sich zeigen, daß sich dieses
in die Aristotelische Psychologie als ganze besser integrieren lßt.

4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung


Der Wahrnehmung kommt fr das berleben der Lebewesen eine grund-
legende Bedeutung zu (De an. III 12 – 13: toO eWmai 6meja ; Sens. 436b20:
sytgq¸ar 6mejem). Die Kompetenz des Wahrnehmungsvermçgens muß
dafr in irgendeiner Weise ber das bloße Erfassen des ,an sich Wahr-
nehmbaren‘ hinausgehen: Der Hund scheint den Geruch, der einem Hasen
zukommt, als ,Beute‘ wahrzunehmen und das Schaf einen bestimmten
optischen Eindruck, der einem Wolf zukommt, als ,Feind‘.53 Mssen wir fr

53 Von Interpreten werden hier immer wieder Passagen wie EN III 13, 1118a20 f.,
Hist. an. IX 10, 614b20 f. angefhrt (z. B. Sorabji 1992, 196 ff.).
156 4. Wahrnehmung und Intellekt

den Wahrnehmungsgehalt der Tiere so etwas wie ,rudimentre Begriffe‘


annehmen, durch welche eine perzeptuelle Qualitt als etwas, z. B. als
ntzlich oder schdlich, spezifiziert wird und die fr ein bestimmtes Ver-
halten, z. B. Verfolgen oder Fliehen, verantwortlich sind? Im Folgenden
werden wir sehen, daß hier eine sparsamere Interpretation mçglich ist, die
ohne das Zuschreiben solcher Ntzlichkeits- und Schdlichkeitsprdikate
auskommt.
Dem berleben dienen in grundlegender Weise der Tast- und Ge-
schmackssinn. Die Fernsinne dagegen sind ,um des Guten willen’da, dienen
aber in den Lebewesen, die zur Fortbewegung fhig sind, auch dem ber-
leben (De an. III 12, 434b22 – 27).54 Wir kçnnen also zwischen (a) der
berlebensdienlichen Funktion der Nahsinne bei den ortsgebundenen Le-
bewesen, (b) der zustzlichen berlebensdienlichen Funktion der Fernsinne
bei den bewegungsfhigen Lebewesen und (c) der Funktion ,um des Guten
willen‘ (tou eu heneka)55 unterscheiden. Diese drei Zielbestimmungen sind
am ausfhrlichsten im ersten Kapitel von De Sensu dargelegt:
„(a) Den Lebewesen aber, insofern jedes ein Lebewesen ist, kommt notwendig
Wahrnehmung zu: Denn durch dieses Vermçgen unterscheiden wir das Le-
bewesen-Sein vom Nicht-Lebewesen-Sein. Um aber eigens56 sogleich auf das
einzelne (zu sprechen zu kommen): Der Tastsinn und der Geschmackssinn
kommen allen (Lebewesen) notwendig zu, der Tastsinn aus dem in den Ab-
handlungen ber die Seele dargelegten Grund, der Geschmackssinn wegen der
Nahrung: Denn mit diesem Vermçgen unterscheidet (das Lebewesen) das
Lustvolle und das Schmerzhafte an der Nahrung, so daß es das eine flieht, das
andere verfolgt, und berhaupt ist der Geschmack eine Affektion des Nhr-
vermçgens.
(b) Die Sinne aber, die durch ußere Medien57 wahrnehmen, also Geruch,
Gehçr und Sehsinn, kommen denen von den Lebewesen zu, die sich fortbe-

54 „Die anderen Sinne aber sind um des Guten willen (toO ew 6meja) und kommen nicht
schon jeder beliebigen Gattung der Lebewesen zu, sondern kommen einigen,
nmlich den Bewegungsfhigen, notwendig zu: Denn wenn sie sich erhalten
(s¾feshai) wollen, ist es notwendig, daß diese nicht allein beim Betasten wahr-
nehmen, sondern auch von weitem“ (De an. III 12, 434b24 – 27).
55 Dieser Ausdruck meint bloß, daß diese Sinne auch noch einem hçheren Zweck
dienen; diese Ntzlichkeit kommt ihnen ,akzidentell’ zu (z. B. leistet der Hçrsinn
akzidentell den grçßten Beitrag zum Wissenserwerb, insofern dieser an den Aus-
tausch bedeutungsvoller Stze gebunden ist: Sens. 437a11 f.).
56 Das Adverb Qd¸ô (LSJ: privately, separately; privatim) wird von Aristoteles besonders
in biologischen Kontexten verwendet (meist mit dem gegenteiligen Begriff joim0 :
Hist. an. IV 7, 532b27; VI 18, 571b7 f.; Gen. an. III 10, 759a25ff ).
57 Im Unterschied zu den ,angewachsenen’ Medien beim Tast- und Geschmackssinn
sind diese Medien ,abgegrenzt‘ (diyq¸shai : De an. II 11, 423a10).
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung 157

wegen kçnnen; allen, die sie haben, kommen sie um der Erhaltung willen zu,
damit sie, indem sie im voraus wahrnehmen, die Nahrung verfolgen als auch das
Schlechte und Verderbende fliehen;
(c) den Lebewesen aber, die auch Vernunft (ja· vqom¶seyr)58 besitzen, kommen
sie (die Fernsinne) um des Guten willen (toO ew 6meja)59 zu: Denn sie zeigen viele
Unterschiede an, aus denen sowohl das Wissen der intelligiblen als auch der
praktischen Dinge hervorgeht (1n ¨m B te t_m mogt_m 1cc¸metai vqºmgsir ja· B
t_m pqajt_m)“ (Sens. 436b10 – 437a3).

Tast- und Geschmackssinn kommen jedem Lebewesen notwendig zu, da sie


fr das Wahrnehmen der zutrglichen und schdlichen Nahrung zustndig
sind. Der Tastsinn kommt allen Lebewesen zu (De an. II 2, 413b4 f.), er ist
,der notwendigste‘ (414a3: !macjaiot²tgm), da er fr die Wahrnehmung der
Nahrung zustndig ist, die in einer Wahrnehmung der Elementarqualitten
besteht (II 3, 414b7 – 13). Insofern die schmeckbaren Gegenstnde auch
unter den Tastsinn fallen (414b11) und Aristoteles bis II 10 den Ge-
schmackssinn noch nicht als solchen vom Tastsinn unterscheidet, ist auch
jener berlebensnotwendig.60 Beide Sinne werden von Aristoteles als not-

58 Hier wird der Terminus vqºmgsir im Sinne eines kognitiven Vermçgens gebraucht
(vgl. Schneeweiß 2005, 46 f. in Auseinandersetzung mit Jaeger 1955); viele
bersetzer geben vqºmgsir an dieser Stelle mit ,Intelligenz‘ wieder (vgl. Ross 1955,
183; Beare (Oxford-bersetzung), 694; Dçnt 1997, 48; Laurenti 2004, 197).
Hiervon ist die Verwendung von vqºmgsir zwei Zeilen spter (437a3 und auch in
437a11) zu unterscheiden: Hier wird dieser Terminus im Sinne einer kognitiven
Disposition (d. h. auf der Stufe einer,ersten Entelechie‘oder einer 6nir) verwendet, der
ein bestimmtes Wissen von etwas bezeichnet (vgl. Ross 1955, 183: ,knowledge‘;
Laurenti 2004, 197: ,conoscenza‘; Beare [Oxford-bersetzung], 694: ,knowledge‘),
nmlich sowohl das theoretische als auch das praktische Wissen. Fr vqºmgsir im
Sinne des theoretischen Wissen vgl. Protr. B 71, B 77, B 103 [hier unterscheidet
Aristoteles zwischen der vqºmgsir, die wir zum bloßen Leben brauchen, und der-
jenigen, die wir zum vollkommenen Leben brauchen und die auf die Wahrheit
ausgerichtet ist]; Met. I 2, 982b24; Gen. an. I 23, 731a35. Fr vqºmgsir im engen,
terminologischen Sinn vgl. EN VI 5.
59 Rolfes 1924, 3: ,Wohlsein‘; Ross 1955, 1961: ,for the sake of well-being‘; Laurenti
2004: ,benessere‘, ,stare bene‘. Beare bersetzt als einziger zutreffend (Oxford-
bersetzung, 694): ,for the attainment of a higher perfection‘.
60 In der Aufzhlung der,anderen‘ Sinne außer dem Tastsinn fehlt der Geschmackssinn
(De an. II 3, 415a4 ff.). Das Schmecken impliziert ein Tasten oder eine Berhrung (II
10, 422b6; II 11, 423b2 f.) im Unterschied zum Sehen, Hçren und Riechen. Da im
Unterschied zu den Fernsinnen beim Tastsinn das Medium, nmlich das Fleisch,
nicht abgegrenzt ist, sondern angewachsen ist (weshalb es von uns unbemerkt bleibt
und der Gegenstand zugleich mit jenem wahrgenommen wird), kçnnte es scheinen,
daß man Tast- und Geschmacksqualitten nur durch einen Sinn wahrnimmt. Daß
hier (im Fall des Fleischs) aber verschiedene Wahrnehmungen vorliegen, zeigt sich an
158 4. Wahrnehmung und Intellekt

wendig fr das berleben des Lebewesens bezeichnet (434b22 f.)61, kein
Lebewesen kann ohne Tastsinn und Geschmackssinn sein. In De Sensu ist der
Geschmackssinns, der wie der Tastsinn allen Lebewesen notwendig zu-
kommt, fr die Unterscheidung des Angenehmen und des Schmerzhaften
(t¹ Bd¼ – t¹ kupgqºm) an der Nahrung zustndig, damit das Lebewesen diese
fliehen bzw. verfolgen kann (ve¼ceim – di¾jeim : Sens. 436b15 ff.). Fr diese
berlebensdienliche Funktion ist nun die mit jeder Wahrnehmung ver-
bundene Lust- bzw. Unlusterfahrung entscheidend: Bei Aristoteles’ Begriff
der aisthÞsis lßt sich bekanntlich zwischen einer objektiven Seite, dem Ge-
halt, und einer subjektiv-affektiven Seite unterscheiden62, zu der die Selbst-
wahrnehmung (De an. III 2, 425b12 – 25; EN IX 9) und die mit der
Wahrnehmung verbundene Lust- bzw. Unlusterfahrung gehçrt (De an. II 2,
413b23). Diese Lust- bzw. Unlusterfahrung steht in einem sachlichen Zu-
sammenhang mit dem Streben (im engeren Sinn: mit der Begierde): „Wem
aber Wahrnehmung zukommt, dem auch Lust und Schmerz und das
Lustvolle und Schmerzvolle; denen aber diese zukommen, auch die Be-
gierde: Denn diese ist ein Streben nach dem Lustvollen“ (II 3, 414b4 ff.;
b15 f.). Fr das berleben relevant ist nun besonders diese affektive Seite, da
das Empfinden des Lustvollen bzw. des Schmerzvollen, das die Wahrneh-
mung begleitet und den Wahrnehmungsgehalt als lust- oder leidvoll cha-
rakterisiert, fr die elementaren Reaktionen des Fliehens bzw. Verfolgens
(ve¼ceim – di¾jeim) verantwortlich ist (vgl. De an. III 12, 434b16 ff.).63
Komplexer ist die berlebensnotwendige Funktion der Wahrnehmung bei
den zur Fortbewegung fhigen Lebewesen, denen die Fernsinne notwendig
zukommen (vgl. De an. III 12, 434b25 f.):
„Die Sinne aber, die durch ußere Medien wahrnehmen, also Geruch, Gehçr
und Sehsinn, kommen denen von den Lebewesen zu, die sich fortbewegen
kçnnen; allen, die sie haben, kommen sie um der Erhaltung willen (sytgq¸ar
6mejem) zu, damit sie, indem sie im voraus wahrnehmen (pqoaishamºlema), die

der Zunge: Hier werden sowohl Tast- als auch Geschmacksqualitten wahrge-
nommen. Das gilt aber nicht fr das brige Fleisch (II 11, 423a11 – 21). Auch in III
12 findet sich die Bezeichnung des Geschmackssinns als ,B ceOs¸r 1stim ¨speq "v¶
tir‘ (III 12, 434b18); vgl. auch Part.an. II 17, 660a21 f.
61 axtai l³m owm !macja?ai t` f]\ (434b22 f.). Das bezieht sich auf beide Sinnes-
vermçgen (vgl. Hicks 1907, 580; Ross 1961, 324, Movia 2001, 245).
62 Vgl. Kahn 2005, 196 f.
63 Vgl. Kahn 2005, 197: „It is an essential function of the sensory psyche not only to
provide the animal with information about the environment but also to govern its
behavior in pursuing pleasure and avoiding pain.“ Zum Zusammenhang zwischen
Lust/Unlust und Streben genauer Corcilius 2008, Teil I.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung 159

Nahrung verfolgen als auch das Schlechte und Verderbende fliehen“


(Sens. 436b18 – 437a1).
Damit diese Lebewesen erhalten bleiben, mssen sie in der Lage sein, den
Gegenstand nicht nur durch Berhrung wahrzunehmen, sondern auch aus
der Ferne (vgl. De an. III 12, 434b26 f.: ja· %pohem): Schon beim Riechen,
Hçren oder Sehen mssen die elementaren Reaktionen des Verfolgens oder
Fliehens ausgelçst werden kçnnen, ohne daß dafr der Gegenstand erst
betastet oder gar geschmeckt werden mßte. Dies kçnnte nun so interpre-
tiert werden, daß diese Tiere einen bestimmten Gegenstand als etwas sehen,
riechen oder hçren, das man fliehen oder verfolgen muß: An der Stelle des ,als
etwas‘ wrden dann rudimentre Begriffe, wie z. B. ,Freßfeind‘, ,Beute‘ oder
,ntzlich‘, ,schdlich‘ etc., stehen, die mit einem bestimmten Verhalten
verbunden wren. Fr eine solche Zuschreibung rudimentrer Begriffe
kennt die Aristotelische Tradition seit Avicenna den inneren Sinn der ae-
stimatio, dessen Gegenstand die in den partikulren Sensibilia enthaltenen
intentiones sind, die durch die ußeren Sinne nicht erfaßt werden. Hier
handelt es sich um Ntzlichkeits- und Schdlichkeitsprdikate, also z. B. das
zu Fliehende am Wolf.64 Die aestimatio verbindet diese intentiones mit den
vorher empfangenen Formen.65 So heißt es bei Thomas von Aquin:
„Es ist jedoch dem Sinnenwesen notwendig, gewisse Dinge zu suchen oder zu
fliehen, nicht nur weil sie dem sinnlichen Wahrnehmen zusagen oder nicht
zusagen, sondern auch wegen bestimmter anderer Zutrglichkeiten und
Ntzlichkeiten oder Nachteile. So flieht das Schaf den Wolf, wenn es ihn
kommen sieht, nicht wegen der Hßlichkeit der Farbe oder der Gestalt, sondern
gleichsam als natrlichen Feind (quasi inimicum naturae). Desgleichen sammelt
der Vogel die Strohhalme, nicht weil die die Sinne erfreuen, sondern weil sie zum
Nestbau taugen. Es ist also dem Sinneswesen notwendig, solche Bestimmt-
heiten (intentiones) zu erfassen, die der ußere Sinn nicht erfaßt. Und fr dieses
Erfassen muß es ein besonderes Prinzip geben, da das Wahrnehmen der sen-
siblen Formen auf die Vernderung des Sinnflligen hin erfolgt, nicht aber die
Wahrnehmung der genannten Bestimmtheiten“ (Thomas von Aquin, S.Th. q.
78 a. 4 corpus).

64 Hierzu Wirmer 2004, 45 ff.


65 „Und es scheint, daß [dieses Vermçgen] auch dasjenige ist, welches ber die Zu-
sammensetzung und Trennung der Vorstellungen verfgt“ (Avicenna, De anima p.
45, 1.6 – 11; zitiert nach Wirmer). Bei Thomas von Aquin heißt dieses Einscht-
zungsvermçgen, insofern es dem Menschen zukommt, vis cogitativa (S.Th. q. 78 a. 4
corpus): Sie stellt die partikulren intentiones zusammen wie die intellektive Ver-
nunft die allgemeinen intentiones; daher wird sie auch ratio particularis genannt.
160 4. Wahrnehmung und Intellekt

Es ist vollkommen zutreffend, wenn Thomas feststellt, daß das Schaf den
Wolf nicht etwa aufgrund einer unattraktiven Farbqualitt meidet. Zu
fragen ist, ob als Grund fr dieses Fluchtverhalten schon eine Art Quasi-
Begriff bzw. ein eigener Sinn eingefhrt werden sollte: Das Schaf wrde
einen bestimmten Gegenstand als ,schdlich‘ oder ,Feind‘ wahrnehmen.
Nun finden sich aber bei Aristoteles keinerlei Hinweise auf einen solchen
spezifischen inneren Sinn und ihm zugehçrige Objekte. Außerdem kçnnen
nach Pol. I 2 die Tiere nur das Schmerzhafte und Lustvolle wahrnehmen und
einander anzeigen, das Ntzliche und Schdliche (und damit verbunden das
Gerechte und Ungerechte) ist dagegen dem logos-begabten Menschen vor-
behalten.66 Ich werde im Folgenden anhand eines Abschnitts aus De Sensu
eine sparsamere Interpretation fr die Wahrnehmung der fortbewegungs-
fhigen Tiere entwickeln, die ohne die Annahme solcher rudimentren
Begriffe auskommt.
Die Fernsinne kommen den fortbewegungsfhigen Lebewesen um des
berlebens willen zu, „damit sie im voraus wahrnehmend (pqoaishamºlema)
die Nahrung verfolgen als auch das Schlechte und Verderbende fliehen“. Was
ist die Bedeutung von pqoaish²meshai ?67 Man muß hier vor allem an das
Riechen und Hçren denken; diese werden ja in Sens. 436b19 vor dem Sehen
genannt: Der Hund kann den entfernten Hasen, den er noch nicht sieht,
riechen und der Lçwe kann den Ochsen, der noch nicht in seinem Blickfeld
ist, hçren. Diese Wahrnehmung durch die Fernsinne ist sowohl auf einen
rumlich entfernten als auch hinsichtlich des Augenblicks des Betastens
zeitlich vorangehenden Gegenstand bezogen. Das pqoaish²meshai ist also
nicht in einem absoluten Sinn als ein Vorhersehen (vgl. pqooq÷m in
Div. 462b25; Somn. 453b21) zu verstehen, sondern in einem relativen
Sinn, bezogen auf den Augenblick des Betastens; in diesem Sinne wird der
Hase durch den Geruch ,im voraus wahrgenommen‘. Das pqoaish²meshai
der Fernsinne kann mit EN III 13 genauer erlutert werden:
„Denn fr die Hunde ist nicht der Geruch der Hasen lustvoll, sondern deren
Verzehr, der Geruch aber bewirkt, dass sie sie bemerken. Ebenso ist fr den
Lçwen nicht das Gebrll des Ochsen lustvoll, sondern sein Verzehr. Dass der
Ochse in der Nhe ist, bemerkt er am Gebrll (oqd³ c±q ta?r asla?r t_m kacy_m
aR j¼mer wa¸qousim !kk± t0 bq¾sei, tμm d’ aUshgsim B aslμ 1po¸gsem7 oqd’ b k´ym
t0 vym0 toO bo¹r !kk± t0 1dyd07 fti d’ 1cc¼r 1sti, di± t/r vym/r Õsheto)“ (EN
III 13, 1118a18 – 21; bers. Wolf ).

66 Pol. I 2, 1253a13 ff.


67 Vgl. die bersetzungen von Laurenti (,avvertito in precedenza‘), Rolfes (,im voraus
wahrnehmend‘), Beare (,guided by antecedent perception‘). Der LSJ (1467) gibt an:
,perceive or observe beforehand‘.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung 161

Fr die elementare Reaktion des Verfolgens oder Fliehens ist nun aber mehr
erforderlich als eine bloße ,Voraus-Wahrnehmung‘: Der im voraus wahr-
genommene Gegenstand, z. B. die vom Hund gerochene Spur des Hasen,
muß noch eine weitere Information erhalten, damit ein Verfolgen ausgelçst
werden kann; der Hund hat ja keine Lust- bzw. Unlustempfindung am
Geruchseindruck selbst, sondern am Verzehr (1118a16 – 23). Der durch den
Geruch im voraus wahrgenommene Hase wird mit einem frheren optischen
und haptischen Wahrnehmungsinhalt, also Inhalten der phantasia bzw. des
sinnlichen Gedchtnisses68, verbunden; Geruch, Farbe und Tasteindruck
wurden damals mit Hilfe des komplexen Wahrnehmungsvermçgens zu-
sammen an einem Hasen wahrgenommen. Mit diesen Wahrnehmungs-
inhalten ging damals eine bestimmte Lustempfindung einher, also ein Hase,
der so aussah, sich so anfhlte und besonders gut schmeckte. Diese frhere
haptische Lust am Verspeisen des Hasen, also an der Beseitigung eines
kçrperlichen Mangelzustands, wird beim jetzigen Riechen eines anderen
Hasen im Zustand des Hungers wieder aktual, d. h. sie kommt dem Tier
wieder zu Bewußtsein (entweder mit einer Datierungsleistung wie im Fall
des Gedchtnisses oder ohne eine solche wie bei der phantasia): Diesen
Geruch hat der Hund schon frher wahrgenommen und damals war dieser
Geruch mit einer bestimmten haptischen Wahrnehmung samt Lustemp-
findung an der Wiederherstellung eines natrlichen Zustands verbunden.
Fr diese Verbindung des jetzt wahrgenommenen Geruchs mit der frher
wahrgenommenen haptischen Qualitt gengt es, eine Assoziation 69 anzu-
nehmen, die in De an. III 1 impliziert ist:
„Denn es wre so, wie wir jetzt mit dem Gesichtssinn das Sße wahrnehmen:
Dies aber (ist mçglich), weil wir von beiden faktisch eine Wahrnehmung haben,

68 Nicht alle Lebewesen verfgen ber Gedchtnis (Mem. 453a7 f.; Met. I 1, 980a29);
Gedchtnis setzt Zeitwahrnehmung voraus (Mem. 450a18 f.) und ist mit einer
Datierungsleistung verbunden. Das Gedchtnis wird von Aristoteles definiert als
„der Besitz einer Vorstellung als Abbild dessen, wovon es die Vorstellung ist“
(Mem. 451a15 f.; bers. King). Ganz allgemein gesprochen besteht der Unter-
schied zu Lebewesen, die bloß ber phantasia verfgen, darin, daß immer dann,
wenn jemand mit dem Gedchtnis ttig ist, er „in seiner Seele sagt, daß er dies frher
gehçrt oder wahrgenommen oder gedacht hat“ (Mem. 449b22 f.). Whrend das
sinnliche Gedchtnis auf abgespeicherte Wahrnehmungsinhalte bezogen ist, ist das
gedankliche Gedchtnis auf Inhalte des Intellekts bezogen (Mem. 450a12 ff.).
69 Assoziative Verbindungen spielen in Aristoteles’ Analyse der Erinnerung (!m²lmg-
sir) in Mem. 451b10 – 20 eine große Rolle (hierzu Sorabji 1972, 42 – 46; King
2004, 119 f.). Fr eine eingehende Interpretation solcher assoziativer Verbindungen
auf der Grundlage der phantasia vgl. Lorenz 2006, 148 – 173.
162 4. Wahrnehmung und Intellekt

mit der wir sie, wenn sie zusammenfallen, zugleich erkennen“ (De an. III 1,
425a21 – 24).
Auch wenn Aristoteles an dieser Stelle eine gleichzeitige Wahrnehmung des
Sßen und Weißen an einem Gegenstand beschreibt, in der die Qualitt des
einen Sinns der ,Nebenbestand‘ des jeweils anderen Sinns ist (vgl. auch
425a30 f.), ist es dennoch nicht falsch, hier auch eine Assoziation impliziert
zu sehen: Wenn wir frher einmal das Gelbe und Sße zugleich an dem-
selben Gegenstand, z. B. dem Honig, wahrgenommen haben, kçnnen wir
spter basierend auf der phantasia bei einer bloßen Wahrnehmung des
Gelben, das Sße damit assoziieren.70 Auch wenn an dieser Stelle nicht
explizit von einer frheren Wahrnehmung des Gelben und Sßen die Rede
ist, so legt sich diese Interpretation sachlich nahe: Wie sonst sollte der Hund
allein durch den Geruch des Hasen eine Lust an dessen Verzehr bekommen?
Seine Lust bezieht sich ja nicht auf den Geruch selbst, d. h. auf die perzep-
tuelle Qualitt als solche, sondern auf ein bestimmtes haptisches Erlebnis,
nmlich den Verzehr (EN III 13, 1118a18 f.). Ein Indiz fr eine solche
Assoziation scheint die besondere Verwendung des Terminus anamnÞsis in
EN III 13 zu sein: „Denn wir nennen nicht die unmßig (!jok²stour), die
sich an den Gerchen von pfeln, Rosen oder Weihrauch erfreuen, sondern
eher die, die sich am Geruch von Parfm und Speisen freuen: Denn an diesen
Dingen freuen sich die Unmßigen, weil durch diese ihnen eine Erinnerung
an die Inhalte der Begierden entsteht (di± to¼tym !m²lmgsir c¸metai aqto?r
t_m 1pihulgl²tym)“ (1118a10 – 13). Im Unterschied zum engen Sinn von
anamnÞsis, der mit einer absichtlichen Suche nach einem bestimmten Ge-
dchtnisinhalt verbunden ist und nur dem Menschen zukommt
(Mem. 451b2 – 5; 453a9)71, liegt hier ein weiter Sinn vor: Der frhere

70 Fr diese Interpretation vgl. Philoponus, In De an. 455.19 – 25: sulba¸mei pot³
sumeqc/sai d¼o aQsh¶seir, oXom peq· l´ki ûla exim ja· ceOsim […] ja· !pova¸metai fti
ckuj¼ 1stim t¹ toioOtom ; 459.31 f.: p_r !p¹ toO namhoO 5sti cm_mai t¹ ckuj¼, diºti
5wolem !lvo?m aUshgsim pqºteqom (das pqºteqom bernimmt er von Plutarch). Vgl.
Auch Simplicius, In De an. 184.29 – 185.1: EQ lμ jat± tμm sumdqolμm t_m diavºqym
aQsh¶seym, oq c¸metai B !lvo?m ûla cm_sir eQ lμ jat± sulbebgjºr, ¢r ftam namh¹m
Qdºmter ja· ¢r ckuj» cm t¹ aqt¹ jq¸mylem di± t¹ Edg jat± tμm sumdqolμm 1p· toO
aqtoO Ñsh/shai.“ Vgl. auch 182,18 – 23. Eine Interpretation im Sinn der Asso-
ziation findet sich bei Ross 1961, 271: „to the ‘perception’ of sweetness by sight,
which of course is not really perception of sweetness, but the being reminded, by the
visible quality of what we see, of the sweetness which we have formerly found as-
sociated with that visible quality“; Welsch 1987, 290 f. Die Mçglichkeit einer sol-
chen Interpretation wird von Hamlyn (1968, 118 f.) und Graeser (1978, 84, 95
Anm. 22) eingerumt.
71 Zur anamnÞsis im strikten Sinn vgl. King 2004, 54 f.
4.2 Assoziation innerhalb der animalischen Wahrnehmung 163

Wahrnehmungsinhalt steht hier sofort zur Verfgung und muß nicht erst
durch eine absichtliche Suche zurckgeholt werden.72 Das pqoaish²meshai
kçnnen wir also durch assoziative Verbindungen erklren73 : Der aktuale
Wahrnehmungsgehalt wird mit einem frheren sinnlichen Eindruck samt
zugehçriger Lustempfindung verbunden; fr diese Verbindung ist das
Wahrnehmungsvermçgen, insofern es als ein ,gemeinsames‘ ttig sein kann,
zustndig. Der aktuale Wahrnehmungsgehalt bleibt dabei auf die perzep-
tuelle Qualitt, z. B. einen bestimmten Geruch, beschrnkt. Wir brauchen
nicht anzunehmen, daß hierfr der aktuale Wahrnehmungsgehalt durch
Begriffe angereichert und erweitert werden mßte.
Wie am Ende des letzten Abschnitt schon deutlich wurde, lßt sich nun
aber nicht die fr das Modell B entscheidende Annahme aufrechterhalten,
daß solche ,perzeptuellen Kombinationen‘ auch in dem Fall mçglich sind,
wo das ,akzidentell wahrnehmbare‘ Objekt einen noetischen Ursprung hat.
Das wrde bedeuten, daß das Wahrnehmungsvermçgen allein dazu im-
stande wre, auf gedankliche Inhalte (noÞmata) ,zurckzugreifen‘ und diese
mit einem aisthÞton in einer falliblen Synthesis zu kombinieren. Aristoteles
sagt dagegen ganz klar, daß es der Intellekt ist, der eine solche synthetisch-
identifikatorische Leistung vollbringt und fhrt als Beispiel eine singulre,
wahrnehmbare Tatsache an, nmlich daß Kleon weiß ist (t¹ d³ 6m poioOm
6jastom, toOto b moOr : De an. III 6, 430b5 f.). Grundstzlich fallen fr
Aristoteles Ttigkeiten, die mit gedanklichen Inhalten operieren, in die
Kompetenz des Intellekts. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, daß
das traditionelle ,noetische Modell‘ (Modell A), in dem der Wahrneh-
mungsgehalt gemß des Kausalmodells auf die idia und koina aisthÞta be-
schrnkt ist und der wahrgenommene Gegenstand durch den Intellekt in
seinem substantialen Sein, d. h. begrifflich, charakterisiert wird, durch den

72 Zu einer solchen anamnÞsis vgl. Platon, Phaidon 73d, wo der Anblick einer Leier das
Bild des Besitzers unmittelbar hervorruft. Man nimmt hier etwas aktual wahr und
denkt dabei noch an etwas anderes (6teqom 1mmo¶s,: 73c9; 1m t0 diamo¸ô 5kabom t¹
eWdor : 73d8-9), was als Erinnerung bezeichnet wird (toOto d´ 1stim !m²lmgsir : 73d9-
10). Das setzt voraus, daß man frher einmal Leier und Besitzer zusammen wahr-
genommen hat. So sieht man eine Leier oder ein Kleid und denkt an den Menschen,
dem die Leier gehçrt; oder man sieht den Simmias und denkt an Kebes; oder man
sieht den gemalten Simmias und denkt an Simmias selbst. Sokrates faßt das so
zusammen, daß uns Erinnerungen entweder aus hnlichen oder unhnlichen
Dingen entstehen (Phd. 74a2 – 3, 74cd).
73 Aus dieser Verbindung eines gegenwrtigen Eindrucks mit einem frheren Ein-
druck, der damals mit einer bestimmten Lustempfindung einherging, kann sich mit
der Zeit eine kognitive hexis herausbilden, die verhaltensbestimmend wird. Hierzu
genauer Lorenz 2006, 148 – 173.
164 4. Wahrnehmung und Intellekt

Text besser gesttzt ist und sich in Aristoteles’ Psychologie als ganze besser
integrieren lßt.

4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung


Nach Aristoteles liegen die verschiedenen seelischen Vermçgen in einem
Lebewesen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden eine Einheit,
in der das niedere ,der Potenz nach‘ im hçheren enthalten ist: „Denn immer
liegt das Frhere dem Vermçgen nach im Folgenden vor (!e· c±q 1m t` 1ven/r
rp²qwei dum²lei t¹ pqºteqom), sowohl bei den Figuren als auch beim Be-
seelten, wie z. B. im Viereck das Dreieck, im Wahrnehmungsvermçgen das
Ernhrungsvermçgen“ (414b29 – 32).74 Aus diesem Einschlußverhltnis
folgt zum einen, daß das hçhere Vermçgen in einer kausalen Abhngigkeit
vom niederen steht: „Denn ohne das Ernhrungsvermçgen gibt es nicht das
Wahrnehmungsvermçgen“ (415a1 f.). Zum anderen folgt daraus, daß das
niedere auf die Leistung des hçheren Vermçgens ausgerichtet ist.75 Fr den
Menschen als einem leib-seelischen Wesen (sumhetºm : EN X 7, 1177b28 f.)
ergibt sich aus diesem Prinzip, daß einerseits die Ttigkeit des Intellekts76 auf
die Wahrnehmung angewiesen ist, andererseits aber auch die Wahrnehmung
in einer bestimmten Weise auf die Leistung des Intellekt ausgerichtet ist.77
Das legt die Vermutung nahe, daß sich die menschliche Wahrnehmung

74 Dieses Einschlußmodell, das Aristoteles ausgehend vom Beispiel geometrischer


Figuren gewinnt, ist Aristoteles’ Antwort auf die Frage nach der Einheitlichkeit des
Seelenbegriffs. Der Begriff der Seele ist auf dieselbe Weise einheitlich wie derjenige der
Figur (414b20 f.: t¹m aqt¹m tqºpom eXr #m eUg kºcor xuw/r te ja· sw¶lator): In beiden
Fllen ist ein koinos logos (entweder im Sinne der Art oder der Gattung) keinem der
einzelnen Instanzen eigentmlich. Die Einheit ist in beiden Fllen vielmehr eine
nicht-generische, die durch ein modales Einschlußverhltnis zustandekommt: Die
Nhrseele teilt mit der Wahrnehmungsseele nicht dieselbe Gattung, sondern sie
verhlt sich zur Wahrnehmungsseele wie die Mçglichkeit zur Vollendung usw.; d. h.
die Wahrnehmungsseele verwirklicht im Tier Potenzen der Nhrseele, die in der
Pflanze nicht realisiert sind. Wenn man die Seele definieren will, darf man nicht nach
einer gemeinsamen Gattung suchen, sondern man muß bei einem bestimmten Typ
ansetzen; die anderen Typen sind dann darin enthalten. Es gilt: Der Begriff jedes
einzelnen Vermçgens ist auch der eigentmlichste fr die Seele (415a12 f.).
75 Busche (2001, 16) spricht hier von der „kausale[n] Bedingungshierarchie“ und der
„finale[n] Zweckhierarchie“.
76 Im weiten Sinn von De an. III 4, 429a23.
77 Das zeigt sich besonders in Sens. 437a1 - 17, wonach die Fernsinne in vernunft-
begabten Lebewesen auch um eines hçheren Zweckes willen da sind. Dieser Nutzen
kommt ihnen aber nur ,akzidentell’ zu.
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung 165

innerhalb dieser seelischen Inklusion in irgendeiner Weise von der anima-


lischen Wahrnehmung unterscheiden muß.78
Wenden wir uns zuerst der kausalen Abhngigkeit des menschlichen In-
tellekts vom Wahrnehmungsvermçgen zu. Diese Abhngigkeit zeigt sich
darin, daß das menschliche Denken – also jene sich im Verbinden oder
Trennen von Gedankeninhalten79 bzw. Begriffen vollziehende Ttigkeit des
Intellekts, die im Idealfall in einem wahren Urteil resultiert und dann je nach
Gegenstandsbereich entweder eine vqºmgsir oder eine 1pist¶lg oder eine
dºna !kgh¶r ist (De an. III 3, 428a9 f., a25) – nicht ohne Wahrnehmung und
phantasia mçglich ist.80 Ohne Hilfe der Wahrnehmung kçnnten wir zu
keinem sachhaltigen Wissen ber die Wirklichkeit kommen und wenn wir
einen bestimmten Sachverhalt mit Hilfe von Begriffen durchdenken, stellen
wir uns dabei immer etwas vor Augen, wofr wir phantasmata, d. h. ge-
speicherte Wahrnehmungsinhalte, bençtigen:
„Von der Vorstellung wurde bereits in ,ber die Seele‘ gesprochen und ohne
Vorstellung kann Denken nicht sein (ja· moe?m oqj 5stim %meu vamt²slator).
Denn im Denken tritt derselbe Begleiteffekt auf wie auch beim Zeichnen eines
Diagramms. Dabei zeichnen wir nmlich, obwohl wir gar keinen Gebrauch
machen von einer bestimmten Grçße des Dreiecks, doch ein Dreieck mit be-
stimmter Grçße. Ebenso setzt sich der Denkende, auch wenn er keine Grçße
denkt, eine solche vor Augen, denkt sie aber nicht als eine Grçße“ (Mem.
450a1 – 5; bers. King).81
In diesem anschaulichen, sich etwas ,vor Augen stellenden‘ (t¸hetai pq¹
all²tym) Denken, hat das Wahrnehmungsvermçgen, insofern es phantas-
mata zur Verfgung stellt, nur eine Hilfsfunktion82 : Es fungiert nicht im
Sinne einer aktualen, auf einen vorliegenden Gegenstand bezogenen
Wahrnehmung (rp²qweim t¹ aQshgtºm : De an. II 5, 417b25). Anders verhlt

78 Allgemein dazu Sellars 1949, 547: „The Aristotelian also insists that the lower level
properties of higher level substances are not identical with the lower level properties of
lower level substances […] The lower order properties of higher order substances are
thus as bound up with the higher order properties of these substances as the higher
order properties are bound up with them.“
79 Es sei hier noch einmal daran erinnert, daß fr Aristoteles die sprachlichen uße-
rungen in einer Symbolrelation zu den Inhalten des Denkens stehen und diese
wiederum in einer Abbildrelation zu den Dingen. Einem Allgemeinbegriff liegt also
ein noÞma zugrunde und diesem entspricht – in einem Universalienrealismus – das
,Eine im Vielen‘.
80 Vgl. die grundstzliche Bemerkung in De an. III 3, 427b15 f., daß es ohne Wahr-
nehmung keine phantasia gibt und ohne phantasia keine ,Annahme‘ (rpºkgxir).
81 Vgl. auch De an. III 7, 431a16 f.: di¹ oqd´pote moe? %meu vamt²slator B xuw¶
82 Hierzu genauer Kap. 5.1
166 4. Wahrnehmung und Intellekt

es sich, wenn wir innerhalb der Gattung des Denkens bzw. der Annahme
(hypolÞpsis) eine Stufe weiter nach unten zur doxa gehen (427b25). Hier
haben wir es in den meisten Fllen mit einem Denken zu tun, das in einem
Urteil ber etwas, das dem Wahrnehmenden aktual vorliegt, resultiert und
das somit eine aktuale Wahrnehmung voraussetzt (dºna aQshgtoO).83 Wie
auch in den anderen Arten des Denkens bzw. der hypolÞpsis ergibt sich auch
eine solche Wahrnehmungsmeinung84 durch eine vom Intellekt geleistete
Synthesis, die sich in diesem Fall auf einen aktual wahrgenommenen Ge-
genstand bezieht, wie z. B. ,Kleon ist weiß‘ (De an. III 6, 430b4 ff.; Met. IX
10, 1051b6 – 9), und die als wahr behauptet wird. Fr Aristoteles impliziert
jede Meinung (doxa) eine berzeugung (pistis), „denn es ist unmçglich, daß
jemand, der eine Meinung hat, nicht von dem, was er meint, berzeugt ist“
(III 3, 428a20 f.; opinio implicat fidem 85). Im Unterschied zum ,Denken mit
einem phantasma‘spielt hier die Wahrnehmung eine konstitutive Rolle: Erst
das Vorliegen86 eines bestimmten wahrgenommenen Gegenstands – onto-
logisch: eine ,akzidentelle Einheit‘ (z. B. Sokrates, der weiß ist) – gibt diesem
Akt seinen Gehalt und macht ihn so zu einem empirischen, zu einem auf den
aktual vorliegenden Gegenstand bezogenen: „Denn wir sagen nicht nur, daß
das Herankommende ein Mensch oder ein Pferd ist, sondern auch daß es
weiß oder schçn ist: Die Meinung kçnnte darber ohne Wahrnehmung
nichts sagen, weder wahr noch falsch“ (Insomn. 458b10 – 13). Der Wahr-
heitswert der Meinung kann sich aufgrund der Unbestndigkeit der zu-
grundeliegenden Tatsache ndern: „ber das, was Verbindung und Tren-
nung zulßt, kann dieselbe Meinung (dºna) und dieselbe Erklrung wahr
und falsch werden (c¸cmetai xeudμr ja· !kgh¶r), und man kann damit bald
die Wahrheit sagen, bald die Unwahrheit“ (Met. IX 10, 1051b13 ff.; Cat.
4a37 - b187; An. Post. I 33, 88b30 – 89a1088 ; De an. III 3, 428a19). Wenn

83 Vgl. Insomn. 458b10 – 15; Met. IX 10, 1051b6 – 9; EN VII 5, 1147a25 f.,
1147a33, 1147b9 f. (dºna aQshgtoO). Im engen Sinn richtet sich die dºna auf das, was
sich auch anders verhalten kann, im Unterschied zur 1pist¶lg, die sich auf Not-
wendiges richtet (An. Post. I 33). Fr die ,bliche Meinung‘, nach der sich die dºna
dagegen auf alles beziehen kann (Ewiges, Unmçgliches, ,bei uns Liegendes‘) vgl. EN
III 4, 1111b31 ff.
84 Im Folgenden verwende ich ,Meinung‘ und ,Urteil‘ immer so, daß ein Urteil die
Explikation einer Meinung ist.
85 Siwek 1965, 325 Anm. 624.
86 Es gilt also auch hier das !macja?om c±q rp²qweim t¹ aQshgtºm von De an. II 5, 417b25.
87 In Cat. 4a21-b13 zeigt Aristoteles, daß dieses ,wahr oder falsch werden‘ nicht so
verstanden werden darf, daß dºna oder kºcor ,fr Kontrres empfnglich‘ sind
(dejtij¹m t_m 1mamt¸ym): Diese durchlaufen selbst keine Vernderungen (aqt±
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung 167

solche Wahrnehmungsmeinungen als eine Art des diskursiven Denkens


(dianoia) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) eine Ttigkeit des Intellekts dar-
stellen (diamoe?tai ja· rpokalb²mei) und gleichzeitig eine aktuale Wahr-
nehmung voraussetzen, stellt sich die Frage nach dem Verhltnis dieser
beiden kognitiven Ttigkeiten zueinander.
Gemß dem Modell B ist das Wahrnehmungsvermçgen selbst dazu in der
Lage, auf einen Gedanken zurckzugreifen und in einer ,perceptual com-
bination‘ den in seinen perzeptuellen Qualitten wahrgenommene Ge-
genstand begrifflich zu charakterisieren, wodurch schon auf der aistheti-
schen Ebene ein propositional-begrifflicher Gehalt zustandekommt.89 Die
menschliche Wahrnehmung unterscheidet sich in dieser Interpretation nur
darin von der tierischen, als dem Menschen in der ,akzidentellen Wahr-
nehmung‘ auch Gedanken und nicht nur Vorstellungen und Gedchtnis-
inhalte zur Verfgung stehen.90 Daraus wrde fr das Verhltnis von
Wahrnehmung und doxa folgen, daß in der doxa nichts anderes geschieht, als
daß der Wahrnehmungsgehalt als wahr angenommen wird (vgl. De an. III 3,
428a22: p²s, lèm dºn, !jokouhe? p¸stir). Es wrde sich dann nur der
epistemische Modus ndern, nicht aber die Struktur des Gehalts; die Begriffe
kommen schon auf der aisthetischen Ebene hinzu. In diesem Modell besitzt
die Wahrnehmung eine besonders große Selbstndigkeit: Wir nehmen
wahr, daß eine bestimmte perzeptuelle Qualitt einem bestimmten Ge-
genstand zukommt, und kçnnen anschließend – etwa nach der Prfung, ob
Standardbedingungen vorliegen – eine Wahrnehmungsmeinung bilden, in
der wir diesen bestimmten Eindruck als wahr behaupten. Abgesehen von der

letab²kkomta), sie sind ,auf alle Weise unbewegt‘; was sich ndert, ist die Tatsache
(pq÷cla): „Denn dadurch, daß die Tatsache besteht oder nicht besteht, deshalb wird
auch gesagt, die Aussage sei wahr oder falsch, nicht deshalb, weil sie selbst fr
Kontrres empfnglich wre“ (4b8 ff.). Aristoteles sieht noch nicht die Mçglichkeit,
diesen ,Gelegenheitssatz‘mittels einer exakten Datierung und Lokalisierung in einen
,bleibenden Satz‘ (Quine) umzuformen.
88 Wenn Aristoteles in 89a5 f. sagt, daß die Meinung ,unsicher‘ (!b´baiom) ist wie auch
die Natur, dann bezieht sich das nicht auf den Grad des Frwahrhaltens, sondern auf
ihren spezifischen Gegenstand, auf dasjenige, was sich auch anders verhalten kann
(1mdewºlemom ja· %kkyr 5weim).
89 Vgl. Cashdollar 1973, 170: „To perceive the conjunction of subject and attribute is
therefore possible within Aristotle’s account of aisthÞsis generally. If the present
account is correct, perception of such a synthesis is also necessary therein.“
90 Vgl. Gregoric & Grgic 2006, 12: „We would also admit that the ability to perceive
incidental sensibles is vastly enhanced by language and reason, but we would em-
phasise that rationality is not a necessary condition of incidental perception.
Otherwise, non-rational animals could not have incidental perception“.
168 4. Wahrnehmung und Intellekt

schon genannten Schwierigkeit, wie die Wahrnehmung dazu in der Lage sein
soll, auf noÞmata zurckzugreifen und diese mit einem aisthÞma zu kom-
binieren, wird in dieser Interpretation dem Zusammenspiel von Wahr-
nehmung und Intellekt innerhalb des Einschlußverhltnisses der seelischen
Vermçgen kaum Rechnung getragen.
Demgegenber spielt innerhalb der ,noetischen Interpretation‘ (Modell
A), wo eine kognitive Spezifikation des ,an sich Wahrgenommenen‘ nicht
ohne eine Ttigkeit des Intellekts mçglich ist, die Kooperation zwischen
Wahrnehmen und Denken eine viel grçßere Rolle. Hier ist der nous dafr
verantwortlich, daß das Wahrgenommene gedanklich bzw. begrifflich
spezifiziert wird.91 Doch wie ist die ,gemeinsame Aktivitt von Wahrneh-
mung und Intellekt‘ genauer zu verstehen? Die innerseelische Ausrichtung
der menschlichen Wahrnehmung auf den Intellekt kann unterschiedlich
stark bestimmt werden. Hier kçnnte man prima facie an die folgenden
beiden Mçglichkeiten denken:
(a) Der noetische Bezug der menschlichen Wahrnehmung ist so stark,
daß die Wahrnehmung vom Intellekt ,berformt‘ und somit von gedank-
lichen Inhalten ,durchdrungen‘ ist.92 Wahrnehmung und Intellekt gehen
eine so enge Verbindung ein, daß von zwei selbstndigen Ttigkeiten nicht
mehr die Rede sein kann. Vielmehr muß man von der einen Ttigkeit des
,aisthetischen Intellekts‘ausgehen, an der sich ein begrifflich-noetischer und
ein perzeptueller Aspekt unterscheiden lassen. Durch diese ,vermischte
Ttigkeit‘ wird ein begrifflich-propositionaler Gehalt hervorgebracht. Ge-

91 Hier kçnnte man auch an den Fall des ,verstndigen Hçrens‘ (oder ,Vernehmens‘) –
d.h. das Hçren nicht nur eines Lauts (xºvor), sondern eines bedeutungsvollen Tons
(vym¶; vgl. De an. II 8, 420b32 f.: sglamtij¹r c±q d¶ tir xºvor 1st·m B vym¶; auch
Sens. 437a10 – 15) bzw. artikulierten Tons (di²kejtor ; vgl. Hist. an. IV 9, 535a30-
b2 f.: di²kejtom […] Udiom toOt’ !mhq¾pou 1st¸m) – denken, was in einer ußerst
schwierigen Passage von De Interpretatione beschrieben wird: „denn jemand, der ein
solches Wort ausspricht, bringt sein Denken (bei der mit ihm gemeinten Sache) zum
Stehen, und jemand, der es hçrt, kommt (in seinem Denken bei dieser Sache) zum
Stillstand“ (Int. 16b20 f.; bers. Weidemann).
92 Eine solche Position wird von Kahn (1992) vertreten: „More generally, our per-
ceptual experience is penetrated through and through by conceptual elements that
derive from nous. This is a point which Aristotle takes for granted but rarely discusses
in any detail“ (365); „What is not always noted by the commentators is that the
incidental sensibles represent the overlap or conjoined action of sense and intellect“
(367 f.); „…only in the human case, since only here is the sense informed by a noetic
capacity […] It is only in the case of human perception, enriched by the conceptual
resources provided by its marriage with nous, that Aristotle can speak of us as per-
ceiving a man“ (369).
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung 169

gen eine solche Interpretation kann eingewandt werden, daß die Verbindung
zwischen Wahrnehmung und Intellekt in einem zu starken Sinn verstanden
wird: Aus Kahns Annahme „our perceptual experience is penetrated through
and through by conceptual elements that derive from nous“93 wrde folgen,
daß sich die menschliche Wahrnehmung von der animalischen in einem
betrchtlichen Sinn unterscheiden und in einer separaten Untersuchung
thematisiert werden mßte. Das ist aber nicht der Fall: Aristoteles sieht
vielmehr die Wahrnehmung als eigenstndiges, nicht-rationales kognitives
Vermçgen an, das in De anima und den Parva Naturalia fr Tier und Mensch
gleichermaßen untersucht werden kann.94 Außerdem ist es in einer solchen
Interpretation nur noch schwer zu erklren, wie die berzeugungsunab-
hngigkeit der Wahrnehmung, die Aristoteles an mehreren Stellen betont
(De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b28 f.), aufrechterhalten werden kann,
da ja das Ziel jeder intellektuellen Ttigkeit ein Urteil ist (427b15 f.).
(b) Eine weniger starke Bestimmung der noetischen Ausrichtung des
menschlichen Intellekts kçnnte darin bestehen, daß beide Vermçgen zwar in
besonders enger Weise verbunden sind, aber dennoch eigenstndige T-
tigkeiten hervorbringen. Die Wahrnehmung, die in ihrem Gehalt auf die
idia und koina aisthÞta beschrnkt ist, ist dann das perzeptuelle Antezedens fr
die Bildung einer Wahrnehmungsmeinung durch den Intellekt: Wir sehen
einen bestimmten Gegenstand in seinen ,an sich wahrnehmbaren‘ Quali-
tten und sogleich formen wir eine Meinung ber das, was wir wahrnehmen,
und in dieser Meinung wird das Wahrgenommene begrifflich spezifiziert. So
sehen wir etwas Rotes und denken es als Ball, weshalb wir auch sagen kçnnen,
daß wir den Ball sehen; wir sehen etwas Weißes und denken es als Mensch,
weshalb wir auch sagen kçnnen, daß wir einen Menschen sehen.95 Beide
Ttigkeiten laufen in ein und demselben ,seelischen Zentrum‘ zusammen,
wo die Einheit des Bewußtseins zustandekommt: Das, was wir wahrneh-

93 Kahn 1992, 365. Diese Formulierung ist McDowells Konzeption sehr hnlich: „But
conceptual capacities, capacities that belong to spontaneity, are already at work in
experiences themselves, not just in judgements based on them“ (McDowell 1994,
24).
94 Trotz der unbestreitbaren Unterschiede der Wahrnehmung bei unterschiedlichen
Arten von Lebewesen (vgl. Lloyd 1996, 126 – 137) kçnnen wir davon ausgehen, daß
Aristoteles das in De Anima skizzierte Modell der Wahrnehmung auch fr die
menschliche Wahrnehmung als zutreffend ansieht.
95 Vgl. Thomas von Aquin, In De an. § 396: …sed statim quod ad occursum rei
sensatae apprehenditur intellectu. Sicut statim cum video aliquem loquentem, vel
movere seipsum, apprehendo per intellectum vitam eius, unde possum dicere quod
video eum vivere.
170 4. Wahrnehmung und Intellekt

men, wird als etwas Bestimmtes durch den Intellekt erfaßt. Das Zusam-
menspiel von Wahrnehmung und Intellekt wird hier nicht so stark wie in (a)
gedeutet, wodurch die Probleme von (a) vermieden werden; außerdem
kommt die skizzierte Erklrung unserem Alltagsverstndnis sehr nahe. Diese
Interpretation kann nun noch etwas verfeinert und innerhalb des Aristo-
telischen Theorierahmens genauer ausgefhrt werden.
Wenn wir also davon ausgehen, daß das ,an sich Wahrgenommene‘ nur
durch den Intellekt begrifflich spezifiziert wird, und wir uns fragen, welche
Art von dianoetischer Ttigkeit dafr zustndig ist, dann bleibt im Rahmen
von De an. III 3, 427b25 nur die doxa brig96 : Sie allein ist unmittelbar auf
das, was wir aktual wahrnehmen, bezogen und erfaßt den in seinen per-
zeptuellen Qualitten wahrgenommenen Gegenstand gedanklich, indem sie
ber diesen ein bestimmtes Urteil fllt, z. B. daß dieses Weiße da ein Mensch
ist (Insomn. 458b10 – 15; b16 f., b24 f.97).98 In dieser Meinung, die sich als
eine Art von dianoetischer Ttigkeit in einer synthesis noÞmatn vollzieht (De
an. III 6), werden beide Elemente dieser ,akzidentellen Einheit‘ oder sin-
gulren Tatsache (Met. V 6, 1015b16 – 23) gedanklich erfaßt: Wer die
Meinung besitzt, daß dieses Weiße ein Mensch ist, muß denken kçnnen, daß
dieses Weiße ein Mensch ist, und ist zu dem Schluß gekommen, daß dieses
Weiße ein Mensch ist.99 Die begrifflichen Elemente kommen mit der doxa
ins Spiel und der empirische, d. h. auf eine aktual vorliegende singulre
Tatsache bezogene Gehalt durch die zugrundeliegende Wahrnehmung. In
welchem Verhltnis stehen nun aber aisthÞsis und doxa zueinander? Wenn
man das Zusammenspiel beider Ttigkeiten nicht einfach als einen ,mixed

96 Ich gehe davon aus, daß der Terminus vqºmgsir an dieser Stelle (427b25) im engen,
technischen Sinn von EN VI 5 verstanden werden muß. Zwar beziehen sich sowohl
dºna als auch vqºmgsir auf das, was sich auch anders verhalten kann (EN VI 5,
1140b27 f.), die vqºmgsir ist aber auf ein praktisches Ziel ausgerichtet – auf das, was
fr das gute Leben berhaupt zutrglich ist (1140a28, b5 f.). Demgegenber geht es
der dºna bloß um die Feststellung einer kontingenten Tatsache (III 4, 1111b33).
97 Auch aus diesen beiden Stellen wird deutlich, daß das dianoetische Denken, das sich
auf einen aktual wahrgenommenen Gegenstand bezieht, von der Art der dºna ist
(peq· ox c±q aQshamºleha, pokk²jir ja· diamoo¼leh² ti […] d 1mmooOlem t0 dºn,
don²folem).
98 Vgl. Gerson 2009, 71: „The formulation of a belief results from sense-perception.
The belief transcends the sense-perception in the specific sense that one who has the
belief judges an identity of that which appears to the senses.“
99 Mit Evans (1982, 103 – 107) kann man auch sagen, daß hier ein ,Generality
Constraint‘ erfllt sein muß: Man muß eine ,Idee‘ von dem Objekt (x) und der
Eigenschaft (F) besitzen, die es einem erlaubt, indefinit viele Gedanken von x (xG,
xH…) bzw. von F (aF, bF…) zu denken.
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung 171

case‘ bestimmen will, liegt es nahe, beide Ttigkeiten als voneinander ge-
trennte und unmittelbar nacheinander ablaufende anzusetzen. Die Wahr-
nehmung erfaßt demnach auf der Grundlage des ,Gemeinsinns‘ verschie-
dene Qualitten an einem Gegenstand (z. B. sß, gelb, weich) und daraufhin
schließt der Intellekt auf der Basis eines bestimmten Wissens, daß es sich bei
dem Wahrgenommenen z. B. um Honig handeln muß.100 Der Intellekt
bildet also die Wahrnehmungsmeinung, daß dieses Gelbe, Sße und Wei-
che, was er sieht, Honig ist.101 Doch diese Erklrung scheint auf den ersten
Blick folgenden Einwand hervorzurufen: Im Alltag vergewissern wir uns
nicht erst, ob alle Anwendungsbedingungen fr einen bestimmten Begriff
vorliegen, sondern wir bilden in der Regel aufgrund eines markanten
wahrnehmbaren Merkmals unmittelbar eine bestimmte Wahrnehmungs-
meinung. Wir kçnnen von einer ,nicht hinreichend begrndeten‘ Wahr-
nehmungsmeinung sprechen, die sich in manchen Fllen als Irrtum her-
ausstellen kann. Genau einen solchen Fall schildert Aristoteles in De an. III 1:
„Die Sinne nehmen die eigentmlichen Qualitten der jeweils anderen akzi-
dentell wahr, nicht insofern sie diese selbst sind, sondern insofern sie eine einzige
(Wahrnehmung bilden), wenn die Wahrnehmung zugleich entsteht bei dem-
selben Gegenstand, wie z. B. bei der Galle, daß sie bitter und gelb ist (denn nicht
kommt einem anderen Sinn zu das Sagen, daß beide eines sind). Daher irrt man
sich auch (!pat÷tai), und wenn es gelb ist, meint man (oUetai), daß es Galle ist“
(De an. III 1, 425a30-b3).
Wir kçnnen an der Galle zwei Qualitten (bitter, gelb) wahrnehmen und
Aristoteles betont, daß kein zustzliches Vermçgen angenommen werden
muß, um zu erklren, wie beide Qualitten als zu einem Gegenstand ge-
hçrend wahrgenommen werden. Aristoteles kommt dann auf den Irrtum zu
sprechen und erklrt diesen so, daß man etwas Gelbes sieht und irrtmlich
,glaubt‘ oder,meint‘ (oUetai)102, daß das wahrgenommene Gelbe Galle ist.103
Hier liegt eine falsche Meinung (doxa) darber vor, was das aktual Wahr-
genommene ist; man tuscht sich ber das t¸ 1sti (in der ersten Kategorie)

100 Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß es hier nicht um einen Schluß auf die
Existenz eines ,materiellen Objekts‘ geht, sondern um einen Schluß auf das Was (der
ersten Kategorie) des schon durch und in seinen perzeptuellen Qualitten erfaßten
Gegenstands.
101 Vgl. Philoponus, In De an. 318.1 – 2: t± c±q jat± sulbebgj¹r aQshgt± oqd³m dqø eQr
t±r aQsh¶seir ja· de?tai kºcou toO 1n %kkym sukkocifol´mou ; 454.20 – 22: B c±q
oqs¸a oqdeliø aQsh¶sei rpop¸ptei, !kk± cim¾sjetai 1j t_m aqt0 sulbebgjºtym.
102 Fr die Verwendung von oUeshai im Sinne eines Meinens vgl. auch Platon, Theaitet
(z. B. 158b3, 170d9, 170e9).
103 di¹ ja· !pat÷tai, ja· 1±m × namhºm, wokμm oUetai eWmai.
172 4. Wahrnehmung und Intellekt

eines Gegenstands, den man in seinen perzeptuellen Qualitten wahr-


nimmt.104 In allgemeiner Form wird solch ein sinnlicher Irrtum in De In-
somniis beschrieben: „Denn das falsche Sehen und das falsche Hçren ge-
schehen erst dann, wenn man etwas Wirkliches (!kgh´r ti) sieht und hçrt,
nicht allerdings dieses, was man meint (oUetai)“ (Insomn. 458b31 ff.).105
Hier mssen wir kurz auf den Terminus oUeshai eingehen. Bei Aristoteles
lassen sich im groben folgende Verwendungen unterscheiden: (i) im Sinne
eines Fr-wahr-Haltens, das sich auf einen bestimmten Sachverhalt bezieht,
z. B. „daß es Gçtter gibt“ (Rhet. II 23, 1398a16 ff.); (ii) oUeshai kann sich
aber nicht nur auf einen Sachverhalt, sondern auch auf einen anderen ko-
gnitiven Zustand beziehen: Jemand meint, etwas zu wissen (An. Post. I 9,
76a28 f.; I 24, 85b28) oder auch etwas nicht zu kennen (Met. I 2, 982b18).
Wenn sich dann herausstellt, daß sich jemand tuscht, dann meint dieser
bloß etwas zu wissen106 oder er meint nur, etwas im Gedchtnis zu haben, hat
es aber gar nicht im Gedchtnis (Mem. 452b24 ff.; hier auch doje?m107). (iii)
Whrend sich oUeshai in den gerade genannten Fllen auf einen bestimmten
kognitiven Zustand als solchen bezieht (etwas wissen, etwas im Gedchtnis
haben), bezieht es sich in unserer Stelle De an. III 1 auf die Bestimmtheit des
Wahrgenommenen.108 Wrde sich nmlich oUeshai auch hier auf den ko-
gnitiven Zustand des Sehens als solchen beziehen, dann wrde das bedeuten,
daß man nur meint zu sehen, in Wahrheit aber gar nicht sehen, sondern nur
halluzinieren wrde. In III 1 geht es aber darum, flschlicherweise zu mei-
nen, daß das Gelbe, was man gerade sieht, Galle ist. Diese Meinung bezieht
sich auf die Was-Bestimmung eines wahrgenommenen Gegenstands: Man

104 Vgl. auch De an. II 6, 418a16 (t¸ t¹ jewqysl´mom C poO, C t¸ t¹ xovoOm C poO); Met.
IV 5, 1010b20 f.
105 t¹ c±q paqoq÷m ja· paqajo¼eim bq_mtor !kgh´r ti ja· !jo¼omtor, oq l´mtoi toOto d
oUetai. Van der Eijk (1994, 18) bersetzt hier zu Recht: „nicht das, was man (zu sehen
oder zu hçren) glaubt“.
106 Bei dieser Verwendung von oUeshai spricht der LSJ zutreffend von ,whnen‘ (1208);
Ebert (1974, 39) charakterisiert das zu Recht als ein ,unbewußtes Meinen‘.
107 Mem. 452b24 – 27: „Wenn man aber meint (mit dem Gedchtnis ttig zu sein), aber
nicht ttig ist, dann meint man (nur) (oUeshai), etwas im Gedchtnis zu haben. Denn
nichts hindert, daß man sich tuscht und meint (doje?m), etwas im Gedchtnis zu
haben, obwohl man nichts im Gedchtnis hat“.
108 Vgl. auch Insomn. 462a21 ff.: „wenn sie whrend des Schlafs die Augen kaum
geçffnet halten, so erkennen sie, wenn sie erwacht sind, sofort das, was sie im Schlaf
schwach als das Licht der Lampe zu sehen meinten (åomto), als das wirkliche Licht
der Lampe“ (bers. Van der Eijk).
4.3 Wahrnehmung und Wahrnehmungsmeinung 173

hlt das wahrgenommene Gelbe fr etwas, was es nicht ist, nmlich fr
Galle.109
Diese Wahrnehmungsmeinung kann nun als eine nicht hinreichend
begrndete angesehen werden.110 Der Intellekt schließt aufgrund eines
markanten sinnlichen Merkmals, daß es sich beim Wahrgenommenen um
Galle handelt. Solche unmittelbar gebildeten Meinungen sind im Alltag sehr
hufig. Wir vergewissern uns nicht erst, ob alle Anwendungsbedingungen
eines Begriffs vorliegen, was weitere Beobachtungen notwendig machen
wrde. Wir gehen vielmehr aufgrund eines bestimmten charakteristischen
Merkmals davon aus, daß es sich bei dem Wahrgenommenen z. B. um Honig
handelt. Diese Meinungen mssen nicht in Urteilen artikuliert werden; sie
zeigen sich darin, daß wir nach ihnen handeln. Haben wir aber Grnde zum
Zweifeln, etwa in unklaren Wahrnehmungssituationen (De an. III 3,
428a14 f.), pathologischen Zustnden (Insomn. 460b14 f.), im Traum
(Insomn. 462a5 ff.) oder bei sich widersprechenden Erscheinungen (Met.
IV 5 – 6), dann berprfen wir die einzelnen Bedingungen unserer Wahr-
nehmung – was sich an der Komplexitt des jeweiligen Gehalts ausrichtet111
–, um zu einem begrndeten Urteil ber das Wahrgenommene zu kommen.
Wir kçnnen dann auch die Behauptungskomponente der falschen, voreilig
gebildeten Wahrnehmungsmeinung zurcknehmen: Es scheint uns dann
bloß so, daß dies ein Mensch ist (De an. III 3, 428a13 ff.). Dieses nicht-
doxastische propositionale Erscheinen ist dann ein Grenzfall, der dadurch

109 Hier kçnnte der Verdacht aufkommen, der Wahrnehmungsinhalt sei wie in den
Sinnesdatentheorien als solches weder wahr noch falsch – also ein ,wahrheitsneu-
trales Erscheinen‘ –, vielmehr sei nur das Meinen bzw. Urteilen ber diesen wahr oder
falsch. Dagegen spricht aber, daß Aristoteles die Wahrnehmung selbst als wahr oder
falsch bezeichnet (De an. II 6; III 3, 428b18 – 25) und in III 3, 428b2 davon spricht,
daß ,Falsches erscheint‘ (va¸metai xeud/). Wir kçnnen das so beantworten, daß wir
bei Aristoteles zwischen einem tuschendem sinnlichen Eindruck und einem
Wahrnehmungsirrtum unterscheiden: Ein Wahrnehmungsirrtum kommt dann
zustande, wenn ein tuschender Eindruck frwahrgehalten wird.
110 Geyser (1917, 179) spricht hier zu Recht von einem ,voreiligen Schließen‘.
111 Wenn das Wahrgenommene, auf das sich die Meinung bezieht, etwa nur Farben
beinhaltet, dann reicht es fr die Bildung einer begrndeten Wahrnehmungsmei-
nung aus, daß wir keinen Grund fr die Annahme haben, daß unser Wahrneh-
mungsapparat gestçrt ist und die ußeren Bedingungen (Lichtverhltnisse, Ab-
stnde) nicht optimal sind. Wenn aber bestimmte Beobachtungsbegriffe im Spiel
sind, dann ist außerdem eine berprfung notwendig, ob die Anwendungsbe-
dingungen fr diese Begriffe vorliegen. Je nach Komplexitt sind dann weitere
Beobachtungen erforderlich; z. B. im Fall des Begriffs ,Khlschrank‘, ob ein
schrankartiges Gebilde vorliegt, das einen Innenraum hat, ber einen Mechanismus
der Temperaturregelung verfgt etc.
174 4. Wahrnehmung und Intellekt

zustandekommt, daß die Behauptungskomponente einer Meinung oder


eines Urteils nachtrglich zurckgenommen wird. Es ist nach Aristoteles also
nicht so, daß uns zuerst ein Sachverhalt bloß erscheint und wir diesen erst
nach einer berprfung der Wahrnehmungsbedingungen als wahren be-
haupten, sondern wir bilden unmittelbar die Meinung, daß z. B. das Gelbe
vor uns Honig ist.112
Wahrnehmung und Intellekt sind also beide in der Weise einer engen
Kooperation ttig: Durch Gedanken (noÞmata), die als erworbene Inhalte des
Denkvermçgens bereitliegen, kann der in seinen perzeptuellen Qualitten
wahrgenommene Gegenstand kognitiv spezifiziert werden und diese Spe-
zifikation vollzieht sich in einer unmittelbar gebildeten Wahrnehmungs-
meinung. Die Begriffe, durch die das ,an sich Wahrgenommene‘ genauer
bestimmt wird, kommen erst mit der doxa ins Spiel.113 Fr Aristoteles’
Epistemologie ergeben sich daraus zwei wichtige Konsequenzen, auf die wir
im folgenden Kapitel noch nher eingehen werden: (1) Insofern die doxa
eine Art des diskursiven Denkens (dianoia) bzw. der Annahme (hypolÞpsis) ist
(427b25), wird ihr Gegenstand, das Kontingente (1mdewºlemom ja· %kkyr
5weim), begrifflich erfaßbar. Der Intellekt (im weiten Sinn von 429a23) kann

112 Wie sind dann aber Aristoteles’ Aussagen zur Fallibilitt der Wahrnehmung in De an.
III 3, 418b18 – 25 zu verstehen, wo Aristoteles die ,akzidentelle Wahrnehmung‘ als
einen genuinen Fall der Wahrnehmung zu behandeln scheint, der ein spezifischer
Grad von Fallibilitt zukommt (428b21 f.: fti l³m c±q keujºm, oq xe¼detai, eQ d³
toOto t¹ keuj¹m C %kko ti, xe¼detai)? Aristoteles erkennt in diesen Passagen zwei-
fellos an, daß es fallible propositionale Gehalte gibt, die sich auf einen aktual vor-
liegenden einzelnen Gegenstand beziehen. Das idion aisthÞton wird durch einen
anderen Inhalt kognitiv spezifiziert, der gemß II 6 ein ,akzidentell Wahrnehmbares‘
reprsentieren wrde. Diese Bemerkungen sind meiner Auffassung nach einfach so
zu verstehen, daß Aristoteles bloß dem Phnomen der Fallibilitt Rechnung tragen
will, ohne an dieser Stelle eine spezifische Erklrung zu entwickeln: Wo er im
Rahmen der Wahrnehmung auf die Fallibilitt zu sprechen kommt, muß er diese
Flle erwhnen, ohne diese aber in den vorausgegangenen Kapiteln De an. II 6-III 2
eigens erklrt zu haben. Hier ging es ihm ja in erster Linie um die fnf verschiedenen
Sinne und ihre Gegenstnde sowie um andere Funktionen des Wahrnehmens. Die
Flle komplexer Gehalte (daß x F ist) werden im Rahmen der Wahrnehmung ge-
nannt, weil sie zumindest die Wahrnehmung eines idion aisthÞton enthalten. Nach
der hier vertretenen Interpretation handelt es sich nicht um einen rein perzeptuellen
Gehalt, sondern schon um eine Wahrnehmungsmeinung bzw. Wahrnehmungsur-
teil. Die Wahrnehmung spielt hier aber weiterhin eine konstitutive Rolle, da diese
Meinungen bzw. Urteile einen empirischen Gehalt haben, d. h. sich auf ein aktual
vorliegendes kontingentes Verhltnis beziehen (vgl. Met. IX 10, 1051b8 f.;
Insomn. 458b10 – 14).
113 Fr eine solche Position in der gegenwrtigen Epistemologie vgl. Evans 1982, 226 f.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung 175

sich im Modus der doxa auch auf den Bereich des Vernderlichen bezie-
hen114 : Wir kçnnen dadurch auch eine ,akzidentelle Einheit‘ (d. h. eine
singulre Tatsache) gedanklich erfassen. Das hat wichtige Konsequenzen fr
die Kontinuitt zwischen den verschiedenen kognitiven Zustnden inner-
halb von Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs. (2) Die unterste Ebene im
Raum des Denkens, Urteilens und Begrndens – also der dianoia – sind
Wahrnehmungsmeinungen, die als solche schon eine Ttigkeit des Intellekts
darstellen. Diese setzen den Erwerb von noÞmata voraus und kçnnen mehr
oder weniger gut begrndet sein. Damit deutet sich schon hier an, daß fr
Aristoteles ein Empirismus ausgeschlossen ist, in dem die Wahrnehmung das
letzte, nicht mehr rechtfertigungsbedrftige Fundament darstellt, auf das
sich unser gesamtes Wissen begrndend zurckfhren lßt.

4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung


Nach Aristoteles unterliegt das Bilden einer Wahrnehmungsmeinung einer
zweifachen Kontrolle: Eine Wahrnehmungsmeinung wird dann nicht ge-
bildet, wenn wir uns (i) der fehlenden Standardbedingungen bewußt sind
(pathologische Zustnde, Traum) oder (ii) ein ,autoritativerer‘ (juqiyt´qa)
Sinn oder ein bergeordnetes Wissen der jeweiligen Erscheinung ,wider-
spricht‘. Fr diese Prfung und Korrektur ist nach De Insomniis eine Art
,Beurteilungsvermçgen‘ (t¹ 1pijq?mom : 461b6) verantwortlich. Grund-
stzlich gilt sowohl fr den Wachzustand wie fr den Schlaf, daß wenn die
sensitiven Bewegungen, die von den ußeren Sensorien herkommen, das
,primre Wahrnehmungsvermçgen‘ oder Zentralsensorium affizieren, wir
uns einer extern vorliegenden wahrnehmbaren Qualitt bewußt werden115
bzw. uns ein bestimmtes Traumbild erscheint (461a7).116 Nach De Insomniis
wird am Zentralsensorium aber auch eine Meinung ber das Wahrgenom-
mene gebildet: „Denn dadurch, daß von dort her die Bewegung zum Prinzip
(der Wahrnehmung) gelangt, meint117 man auch im Wachzustand, daß man
sieht und hçrt und wahrnimmt (doje? bq÷m ja· !jo¼eim ja· aQsh²meshai)“

114 Vgl. Gerson 2009, 69: „The diversity of belief and knowledge is, according to
Aristotle, balanced by their generic unity“.
115 Wie wir schon ausgefhrt haben, ist mit diesem ,intentionalen Bewußtsein‘ ein
,reflexives Bewußtsein‘ der eigenen Ttigkeit verbunden, das ebenfalls durch den
Zentralsinn hervorgebracht wird (Somn. 455a16 f.).
116 Vgl. Van der Eijk 1994, 76 f.
117 Ross 1955, 275: ,think‘; Beare (Oxford-bersetzung), 733: ,believe‘.
176 4. Wahrnehmung und Intellekt

(461a30-b1; bers. Van der Eijk).118 Dieses Meinen zeigt sich besonders im
Fall von Wahrnehmungsirrtmern: Wenn wir nicht wissen, daß uns jemand
einen Finger unter das Auge drckt, erscheint das Eine zweifach und wir
meinen auch, daß es zweifach ist (462a1: oq lºmom vame?tai !kk± ja· dºnei).
Wenn wir uns dessen aber bewußt sind, dann scheint es uns nur so, wir sind
aber nicht der Meinung (462a2: vame?tai l³m oq dºnei d´). Und auch wenn
uns nicht bewußt ist, daß wir schlafen, meinen wir einen weißen Menschen
zu sehen (458b14 f.: dojoOlem bq÷m) oder meinen, daß das hnliche das
Wirkliche selbst sei (461b29: doje? t¹ floiom aqt¹ eWmai t¹ !kgh´r). Ari-
stoteles geht davon aus, daß wir uns sowohl pathologischer Zustnde als auch
des Schlafs bewußt sein kçnnen. Wenn die Kraft des Schlafs nicht zu groß ist,
dann „sagt etwas in der Seele (k´cei ti 1m t0 xuw0), daß das Erscheinende nur
ein Traum ist“ (462a6 f.)119 und wir meinen dann nicht, daß wir etwas
Wirkliches sehen. Das gilt auch fr die pathologischen Zustnde: Wenn wir
nicht zu krank sind, bleibt es uns „nicht verborgen, daß (eine bestimmte
Erscheinung) falsch ist“ (lμ kamh²meim fti xeOdor : 460b14 f.), es ist uns dann
bewußt, daß wir nur halluzinieren. Wahrnehmungsmeinungen werden auch
dann nicht gebildet, wenn in Bezug auf ein bestimmtes koinon aisthÞton ein
,autoritativerer‘ Sinn ,widerspricht‘. Die Korrekturmçglichkeit erklrt
Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen einem Vermçgen, aufgrund
dessen die sinnlichen Erscheinungen entstehen, und einem Vermçgen,
aufgrund dessen das j¼qiom die Erscheinungen beurteilen kann:
„Der Grund dafr, daß diese Dinge geschehen, liegt darin, daß das Vermçgen,
kraft dessen das Entscheidende120 urteilt (jq¸meim tº te j¼qiom), nicht dasselbe ist
wie dasjenige, kraft dessen die Erscheinungen entstehen“ (Insomn. 460b16 ff.;
bers. Van der Eijk).121

118 Vgl. 461a25 – 29: „Wenn aber in den Wesen, die Blut haben, das Blut zur Ruhe
kommt und sich scheidet, bewirkt das Bewahrtbleiben der Bewegung der Wahr-
nehmungseffekte, die von jedem der Wahrnehmungsorgane her kommt, sowohl daß
die Traumbilder krftig sind wie daß etwas erscheint und daß man meint, daß man
sieht (ja· va¸mesha¸ ti ja· doje?m […] bq÷m)“ (bers. Van der Eijk). Vgl. auch
458b14 f.; 461b3, b5, b29 (doje?m). Fr eine Verwendung von doje?m im nicht-
doxastischen Sinn vgl. 458b29; 460b26.
119 Dem Wahrnehmungsprinzip wird damit eine weitaus aktivere Rolle zugesprochen
als in De Somno; vgl. Van der Eijk 1994, 76.
120 Ross 1955, 271: ,ruling faculty‘; Beare (Oxford-bersetzung, 732): ,controlling
sense‘; Laurenti 2004, 275: ,la parte dirigente in noi‘.
121 aUtiom d³ toO sulba¸meim taOta tò lμ jat± tμm aqtμm d¼malim jq¸meim tº te j¼qiom ja· è
t± vamt²slata c¸metai.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung 177

Als Indizien fr die Existenz eines solchen Beurteilungsvermçgens fhrt


Aristoteles das Beispiel der Sonnenbreite an, wo auf der Grundlage eines
bergeordneten Wissens eine bestimmte Erscheinung122 als falsch beurteilt
wird, sowie das Beispiel der berkreuzten Finger (vgl. Met. IV 6, 1011a33 f.;
Probl. XXXV 10)123, wo ein ,autoritativerer‘ Sinn einem anderen ,wider-
spricht‘:
„Anzeichen dafr ist, daß die Sonne als einen Fuß breit erscheint, hufig aber
etwas anderes dieser Erscheinung widerspricht (!mt¸vgsi d³ pokk²jir 6teqºm ti
pq¹r tμm vamtas¸am). Und wenn man zwei Finger bereinander kreuzt, erscheint
das Einfache als zweifach, aber trotzdem sagen (valem) wir nicht, es sei zweifach;
denn das Gesicht hat mehr Autoritt (juqiyt´qa) als der Tastsinn. Wre der
Tastsinn als einziger da, so wrden wir auch zum Urteil (1jq¸molem) kommen,
das Einfache sei zweifach“ (460b20 ff.; bers. Van der Eijk).
Im zweiten Fall wird ein bestimmter Wahrnehmungsinhalt daraufhin be-
urteilt, ob er von einem autoritativeren Sinn hervorgebracht wurde. Hin-
sichtlich der besonders irrtumsanflligen koina aisthÞta gibt es unter-
schiedliche Grade sinnlicher Autoritt: Im Fall des koinon aisthÞton der
Anzahl (arithmos) ist der Gesichtssinn ,autoritativer‘ (juqiyt´qa) als der
Tastsinn und ersterer kann daher letzterem ,widersprechen‘ (461b5). Das
setzt voraus, daß das Vermçgen, das eine Erscheinung ,affirmiert‘, auf diesen
widersprechenden Sinn ,hçren‘ kann. Wenn wir dagegen nicht ber den
autoritativeren Gesichtssinn verfgen wrden, wrde das Wahrneh-
mungsprinzip den vom Tastsinn gemeldeten Eindruck besttigen und wir
wrden meinen, daß wir zwei Gegenstnde wahrnehmen (460b22; 461b3).
Es stellt sich nun die Frage, welchem Vermçgen diese Beurteilungsfunktion
zugesprochen werden soll. Hier legen es einige Stellen nahe, daß es das
,primre Wahrnehmungsorgan‘ (t¹ j¼qiom aQshgt¶qiom) bzw. der Zentral-
sinn ist, in dem alle Einzelsinne konvergieren (Somn. 455a33 f.: pq¹r d
sumte¸mei tükka), dem diese Beurteilungskompetenz zukommt: Diesem
,aisthetischen Zentrum‘ werden die unterschiedlichen sinnlichen Infor-
mationen der einzelnen Sinne ,gemeldet‘ (eQsacc´kkeim : 461b3) und dieser
Zentralsinn scheint auch auf den ,Einspruch‘ (!mtiv²mai) des jeweils auto-
ritativeren Vermçgens ,hçren‘ zu kçnnen, um auf dieser Grundlage einen
bestimmten Eindruck als korrekt zu ,besttigen‘.

122 Wie schon in 460b17 werden hier die Termini vamtas¸a und v²mtasla in einem
weiten Sinn verwendet (vgl. auch De an. III 3, 428a1 f.).
123 Zu diesem ,Experiment‘ vgl. Van der Eijk 1994, 201 f.
178 4. Wahrnehmung und Intellekt

„Denn in der Regel (fkyr) besttigt das Wahrnehmungsprinzip (vgsim124 B


!qw¶) das, was aus jedem Wahrnehmungsorgan hervorkommt, wenn nicht ein
anderer Sinn mit grçßerer Autoritt widerspricht (2t´qa juqiyt´qa !mtiv0125)“
(461b3 ff.).
Andere Stellen legen es dagegen nahe, daß auf der Grundlage eines solchen
Wahrnehmungssinns ,mit grçßerer Autoritt‘ eine – in diesem Fall be-
grndete – Wahrnehmungsmeinung gebildet wird bzw. beim Fehlen eines
solchen Sinns oder auch der Hemmung des Beurteilungsvermçgens auf-
grund einer zu großen Affektion126 eine falsche Wahrnehmungsmeinung
gebildet wird: „Wre der Tastsinn als einziger da, so wrden wir auch zum
Urteil kommen (1jq¸molem), das Einfache sei zweifach“ (460b22; bers.
Van der Eijk). Aristoteles bringt genau diesen Sachverhalt im nchsten
Kapitel mit dokein im Sinne eines Meinens zum Ausdruck (461b3: t¹ 4m d¼o
doje?; auch 462a1: oq lºmom vame?tai !kk± ja· dºnei eWmai d¼o t¹ 6m), das an
mehreren Stellen in diesem Kapitel vom bloßen Erscheinen (phainesthai)
unterschieden wird.127 Außerdem wird in 459a6 die doxa fr zustndig er-
klrt, eine bestimmte Erscheinung unter fehlenden Standardbedingungen
fr falsch zu erklren. Das spricht dafr, daß die Beurteilung der Sinnes-
informationen und das ,Besttigen‘ des korrekten Eindrucks im Menschen
schon zu den Leistungen des Intellekts gehçren128 ; das Vermçgen, aufgrund
dessen das j¼qiom die Wahrnehmungen beurteilen und entscheiden wrde,
wre dann schon ein noetisches. Das legt sich besonders im Beispiel der
Sonnenbreite nahe, das ja Aristoteles als Indiz fr die Existenz eines Beur-

124 Vgl. Ross 1955, 275: ,affirms‘; Laurenti 2004, 277: ,afferma‘.
125 Fr das ,widersprechen‘ (!mtiv²mai) vgl. auch 460b19, 462a7.
126 Vgl. 459a7 (jat´wetai); 461b6 (t¹ 1pijq?mom jat´wgtai). In diesem Fall sagt Ari-
stoteles auch, daß wir uns ,gemß der falschen Erscheinungen bewegen‘ (460b15:
1±m d³ le?fom × t¹ p²hor, ja· jime?shai pq¹r aqtá ; 459a7 f.).
127 Vgl. 461a27 f., a31 f.; 461b5 f. (doje? d³ oq p²mtyr t¹ vaimºlemom), b29 (doje? t¹
floiom aqt¹ eWmai t¹ !kgh´r); 462a1 f. Dem bloßen ,Scheinen‘ wird nicht nur das
,Meinen‘ (doje?m), sondern auch das ,Sagen‘ oder ,Erklren‘ gegenbergestellt.
Vgl. 460b21: „aber dennoch sagen (valem) wir nicht, daß es zwei sind; denn der
Gesichtssinn hat eine grçßere Autoritt als der Tastsinn.“
128 Man kçnnte das vgsim B !qw¶ in 461b4 mit Van der Eijk (1994, 225) aber auch so
verstehen, daß hier nur das Eintreffen einer bestimmten Wahrnehmungsbewegung
von den ußeren Sensorien am Wahrnehmungsprinzip besttigt wird. Das ist aber
m. E. nicht vereinbar mit der folgenden Einschrnkung „wenn nicht ein Sinn von
grçßerer Autoritt widerspricht“. Was hier durch das !mtiv²mai des autoritativeren
Sinns nicht zustandekommt, ist das Besttigen eines bestimmten Eindrucks als des
korrekten Eindrucks (vgl. 460b21). Das Eintreffen des falschen Eindrucks wird
dennoch am ,primren Wahrnehmungsvermçgen‘ registriert.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung 179

teilungsvermçgens anfhrt. Das, was hier der falschen sinnlichen Infor-


mation ber ein bestimmten koinon aisthÞton (nmlich die Grçße: l´cehor)
widerspricht (6teqºm ti), ist kein Sinn mit grçßerer Autoritt, sondern eine
bergeordnete theoretische berzeugung: „Es erscheint aber auch Falsches,
ber das man zugleich eine wahre Annahme hat (rpºkgxim !kgh/); etwa
erscheint die Sonne ein Fuß breit, man ist aber berzeugt, daß sie grçßer als
die bewohnte Erde ist“ (De an. III 3, 428b2 ff.; Insomn. 458b28 f.).
Ob die Beurteilung der sinnlichen Informationen und das ,Besttigen‘
des korrekten Eindrucks zum Zentralsinn gehçrt oder schon zum Intellekt,
der auf dieser Grundlage eine Meinung hervorbringt, ist umstritten.129 Der
enge Zusammenhang zwischen dem Eintreffen der sensitiven Bewegungen
am Zentralsinn, der Bewußtwerdung und dem Bilden einer Meinung legen
jedenfalls folgendes nahe: Wenn die Bewegungen von den ußeren Senso-
rien das Wahrnehmungsprinzip erreichen und kein Sinn widerspricht, dann
werden wir uns nicht nur eines bestimmten Gegenstands bewußt, sondern
wir meinen auch, etwas zu sehen (461a31 f.). Wenn es die Kontrollfunktion
nicht geben wrde, wrden wir das Erscheinende frwahrhalten (461b5 f.)
oder „das hnliche fr das Wirkliche selbst halten“ (461b29) oder „auch
meinen, daß das eine zwei sind“ (462a1). In einer solchen ,noetischen In-
terpretation‘ scheint allerdings die Ttigkeit des Zentralsinns und damit die
Wahrnehmung insgesamt – insofern der Zentralsinn das ,Prinzip der
Wahrnehmung‘ und das ,primre Wahrnehmungsvermçgen‘ ist – noetisch
,berformt‘ zu sein und damit die Selbstndigkeit der aisthÞsis nicht mehr
gegeben zu sein.130 Eine alternative, berzeugende Interpretationsmçg-
lichkeit hat Van der Eijk vorgeschlagen: Man kçnnte nmlich annehmen,
daß Aristoteles den Referenten fr das Vermçgen, aufgrund dessen das
j¼qiom einen bestimmten sinnlichen Eindruck beurteilt und gegebenenfalls
auch besttigt, absichtlich unbestimmt lßt.131 Der,Einspruch‘ kann je nach
Situation von verschiedenen Sinnen kommen und im Menschen auch von
einem bergeordneten Wissen. Die Beurteilung und Prfung der Wahr-
nehmungsinhalte kann auf verschiedenen Arten von Informationen beru-

129 Zu diesem Problem genauer Van der Eijk 1994, 50, 200 f.
130 Aristoteles wrde hier wieder Platons Theaitet sehr nahe kommen.
131 Van der Eijk 1994, 201: „Zu diesen Fragen ist die Mçglichkeit zu berlegen, daß
Aristoteles den Referent von t¹ j¼qiom absichtlich unspezifiziert lßt, weil (wie die
folgenden Beispiele zeigen) die Rolle des ,Entscheidenden‘ in verschiedenen Si-
tuationen von verschiedenen Faktoren gespielt wird; t¹ j¼qiom wre dann als
,dasjenige, was in einem bestimmten Fall ber die Richtigkeit einer Vorstellung
entscheidet‘aufzufassen.“ Ebd. 226: „Diese Unbestimmtheit ist funktional, weil die
Rolle des Beurteilenden nicht immer von demselben Vermçgen gespielt wird“.
180 4. Wahrnehmung und Intellekt

hen und stnde im einen Fall unter der Regie des ,primren Wahrneh-
mungsvermçgens‘ (wie im Beispiel der berkreuzten Finger), im anderen
Fall unter der Regie des Intellekts (wie im Beispiel der Sonnenbreite).132
Wir haben anhand einiger Passagen aus De Insomniis deutlich gemacht,
daß Aristoteles die berprfung und Korrektur unserer Wahrnehmungs-
inhalte vorsieht, damit auf dieser Grundlage begrndete Wahrnehmungs-
meinungen gebildet werden kçnnen.133 Es hat sich gezeigt, daß Aristoteles
davon ausgeht, daß wir uns pathologischer Zustnde oder Trume – wenn sie
nicht zu stark sind – bewußt sein kçnnen (lμ kamh²meim). In diesen Fllen
kommt es nicht zu einem Fr-wahr-Halten des sinnlich Prsentierten. Das
gilt auch bei der Wahrnehmung der besonders irrtumsanflligen koina ai-
sthÞta, wo ein Sinn mit grçßerer Autoritt oder ein bergeordnetes Wissen
der Erscheinung ,widersprechen‘ kann. Fr Aristoteles’ Epistemologie ergibt
sich daraus die wichtige Konsequenz, daß die Wahrnehmung (im Unter-
schied zu den ,erfassenden Sinneseindrcken‘ der Stoa) nicht schon an sich
selbst-rechtfertigend ist, sondern erst nach einer Beurteilung durch den
Zentralsinn bzw. den Intellekt autorisiert wird. Innerhalb des Wissenser-
werbs, wo es meistens um komplexe Wahrnehmungsinhalte geht, fllt die
Prfung und Korrektur der Wahrnehmung dem Intellekt zu. Erst aufgrund
dieser Autorisierung kçnnen die Wahrnehmungsgehalte in den Prozeß des
Wissenserwerbs eintreten.
Damit kçnnen wir als ein erstes Ergebnis festhalten: Die Frage, ob die
Wahrnehmung bei Aristoteles prinzipiell dazu in der Lage ist, jene Anfor-
derungen zu erfllen, die fr einen Urteilsempirismus konstitutiv sind, kann
mit einem klaren Nein beantwortet werden. Aristoteles kann keine Position
zugeschrieben werden, in welcher der Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu
haben, durch Rckfhrung auf bestimmte Beobachtungen legitimiert wird,
so daß die Wahrnehmung das selbst nicht mehr rechtfertigungsbedrftige
Fundament des gesamten Wissens bilden wrde: Weder hat die Wahr-
nehmung einen propositional-begrifflichen Gehalt, so daß sie eine ausrei-
chend ,breite‘ sinnliche Belegbasis fr andere Meinungen darstellen kçnnte;
am unteren Ende der dianoia bzw. der hypolÞpsis stehen Wahrnehmungs-

132 Zu dieser Funktionalitt wrde auch der Terminus jq¸meim (460b17, b22) passen. In
De an. III 4, 429b10 – 22 wird mit diesem Terminus sowohl eine unterscheidende
Ttigkeit der Wahrnehmung als auch eine des Intellekts beschrieben. Vgl. Ebert
1983; De Haas 2005.
133 Es zeigt sich an dieser Stelle, daß auch in einer naturwissenschaftlichen Abhandlung
wie De Insomniis die epistemologische Perspektive, d. h. Perspektive der Wahrheit,
nicht ausgeklammert wird. Die hier entwickelte Beurteilungsfunktion dient dem
Bilden begrndeter Wahrnehmungsmeinungen.
4.4 Wahrnehmung und Rechtfertigung 181

meinungen, die schon eine Leistung des Intellekts darstellen und somit kein
letztes ,Gegebenes‘ sind. Die Wahrnehmung ist außerdem nicht ,selbst-
rechtfertigend‘, vielmehr unterliegt sie der Beurteilung bzw. der Korrektur
bergeordneter seelischer Vermçgen. Aristoteles liefert uns schließlich auch
keinen anti-skeptischen Aufweis dafr, daß es sich bei der Wahrnehmung
um ein absolut sicheres Fundament handeln wrde.
5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des
Wissenserwerbs
5.1 Wahrnehmung und Begriff
Auf der Grundlage des Bisherigen kann nun die Frage in Angriff genommen
werden, auf welche Weise die Wahrnehmung am Wissenserwerb beteiligt ist
und wie man Aristoteles’ Epistemologie im ganzen charakterisieren sollte.
Gegenber den jngeren anti-fundamentalistischen Interpretationen soll in
diesem Kapitel gezeigt werden, wie auf der Grundlage von An. Post. II 19 und
im Zusammenhang mit anderen Passagen eine differenzierte Interpretation
der Aristotelischen Theorie des Wissenserwerbs rekonstruiert werden kann.
Zunchst ist jedoch auf die Frage einzugehen, woher die fr jeden Wis-
senserwerb notwendigen Begriffe stammen. Die Notwendigkeit von Be-
griffen fr den Wissenserwerb kann anhand von An. Post. II 19 folgen-
dermaßen verdeutlicht werden: Das „Prinzip der Kunst und des Wissens“
basiert auf der Erfahrung (empeiria: 100a6 ff.). Deren Inhalte entstehen aus
wiederholten Beobachtungen, die mit Hilfe des Gedchtnisses gespeichert
werden: „Aus Wahrnehmung also entsteht Gedchtnis, wie wir sagen, aus
dem Gedchtnis aber, wenn es oft von demselben zustandekommt, Erfah-
rung: Denn die vielen Erinnerungen sind der Zahl nach eine Erfahrung. Aus
der Erfahrung aber oder aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen
gekommen ist, das Eine neben dem Vielen, was als Eines und Dasselbe in
allen jenen ist, (entsteht) ein Prinzip der Kunst und des Wissens“ (An. Post. II
19, 100a3 – 8).1 Inhalt der empeiria ist eine auf der Grundlage einer endli-
chen Anzahl von beobachteten Einzelfllen mit Hilfe des Gedchtnisses
festgestellte Allgemeinheit2 : Die Exemplare einer Spezies x, die wir bisher
wahrgenommen haben, verfgen ber die Eigenschaft F. Beispiel fr einen

1 Ich verstehe das C in 100a6 mit Barnes (1975, 253) als epexegetisch, so daß sich die
Charakterisierung „aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen gekommen
ist, das Eine neben dem Vielen, was als das eine und dasselbe in allem jenen ist“ auf
den Inhalt der Erfahrung bezieht.
2 Vgl. Barnes 1975, 253: „and the depth of his experience is determined by the number
of B’s he has witnessed. He differs from the man of knowledge in that his universal
judgement is limited to past, observed, cases of A’s belonging to B.“ Vgl. auch Frede
1996, 159 ff.
5.1 Wahrnehmung und Begriff 183

Erfahrungsinhalt ist in Met. I 1 die Annahme (hypolÞpsis), daß dem Sokrates


bei der Krankheit F das Medikament G half und ebenso dem Kallias bei der
Krankheit F das Medikament G (981a7 ff.; vgl. auch EN VI 8, 1141b20 f.).3
Es geht also um das Feststellen eines komparativ-allgemeinen Zukommens
einer Eigenschaft zu einer bestimmten Spezies.4 Der propositionale Er-
fahrungsinhalt basiert auf einer endlichen Zahl einzelner Beobachtungen, in
denen die jeweilige Eigenschaft zu bestimmten Zeitpunkten an verschie-
denen Instanzen dieser Spezies festgestellt wurde. Solche Beobachtungen
sind aber nur mçglich, wenn der jeweils zu untersuchende Gegenstand als
Instanz dieser Spezies identifiziert ist. Dies leisten Sortalbegriffe, also Sub-
stanzprdikate bzw. noÞmata aus der ersten Kategorie, die ein Prinzip der
Abgrenzung und Zhlbarkeit enthalten; durch diese ist es erst mçglich, einen
wahrnehmbaren Gegenstand als denselben bzw. artgleichen Gegenstand
durch Raum und Zeit zu verfolgen, um an diesem bestimmte Beobachtungen
zu machen.5 Ohne die Identifikation durch einen solchen Begriff kçnnten
wir nie eindeutig auf einen bestimmten Gegenstand Bezug nehmen, uns
wre nur eine situationsabhngige Bezugnahme mittels deiktischer Termini
mçglich, wie z. B. „dieses Weiße da“ (tod· t¹ keujºm : Mem. 449b16). Mit
einer solchen vagen demonstrativen Bezugnahme kommt man epistemo-
logisch nicht sehr weit. Das Problem scheint nun zu sein, daß wir einerseits
also schon Begriffe fr den Wissenserwerb brauchen, andererseits der In-
tellekt am Anfang des Wissenserwerbs gerade in reiner Potenz (De an. III 4,
429a21 f.) vorliegt, d. h. ber keinerlei gedanklichen Inhalte verfgt, die er in
den Wissenserwerb einbringen kçnnte.6 Es stellt sich die Frage, wie wir die
notwendigen Begriffe gewinnen.

3 Dieses Beispiel aus Met. I 1, 981a7 ff. legt es nahe, daß die einzelnen epistemischen
Stufen keine Genese von Begriffen bezeichnen, sondern propositional interpretiert
werden sollten (vgl. Barnes 1975, 259 f.; Liske 1997, 42; Gregoric & Grgic 2006, 9 –
13).
4 Von dieser Art des Allgemeinen ist dasjenige im engen Sinn zu unterscheiden, das ein
streng allgemeines und ewiges Zukommen bezeichnet (jat± pamtºr ja· jah’ artº:
An. Post. I 4, 73b26 f.; I 31, 88a5 f.). Dieses Allgemeine im strengen Sinn haben wir
erst dann erkannt, wenn wir die Prinzipien bzw. das Wesen der jeweiligen Spezies
erfaßt haben.
5 Zu den sortalen Termini genauer Tugendhat 1976, 453 – 457; Rapp 1995, 259 ff.
Neben deiktischen und sortalen Termini ist natrlich auch ein objektives raum-
zeitliches Lokalisationssystem fr die eindeutige situationsunabhngige Bezug-
nahme notwendig.
6 Ich gehe in der folgenden Interpretation davon aus, daß der ,Genetischen Episte-
mologie‘ von An. Post. II 19 der nous auf der Stufe der ,ersten Potenz‘ zugrundeliegt
(vgl. Kosman 1973, 385; Lesher 1973, 52; dagegen Frede 1996, 170), d. h. als bloßes
184 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Hier lassen sich zuerst einmal zwei Mçglichkeiten denken: Entweder


diese grundlegenden Begriffe sind schon implizit oder latent in den
Wahrnehmungsgehalten bzw. den phantasmata enthalten und mssen nur
noch abstrahiert oder ,herausgehoben‘ werden – hier spricht man von einem
Empirismus der Begriffe. Oder aber diese Begriffe haben eine nicht-empiri-
sche, apriorische Quelle und werden vom nous eingebracht. Fr die erste
Mçglichkeit scheint sich die Aussage des Aristoteles aus De an. III 8 anfhren
zu lassen, daß die intelligiblen Formen in den aisthetischen Formen sind,
letztere also die Basis fr die Abstraktion noetischer Gehalte bilden:
„Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren
Grçßen7 getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahr-
nehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und
Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne
etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen,
und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung
betrachten“ (De an. III 8, 432a3 – 9).8

Vermçgen begrifflich zu denken und zu Annahmen oder Urteilen zu kommen. Der


Mensch macht in der Prinzipienforschung von all seinen Vermçgen Gebrauch, also
vom diskriminatorischen Vermçgen der Wahrnehmung, dem damit verbundenen
Vermçgen des Gedchtnisses und dem Vermçgen des Denkens (nous). Mit Hilfe von
diesen kommt er in die kognitive Haltung des nous.
7 Ich verstehe hier unter megethos nicht das koinon aisthÞton, sondern in einem weiteren
Sinn alle wahrnehmbaren zusammengesetzten Substanzen.
8 In diesem letzten Satz kommt die grundstzliche Abhngigkeit des Wissens von der
Wahrnehmung in der zweifachen Weise zum Ausdruck, daß (i) der Wissenserwerb
bei der Wahrnehmung ansetzen muß und (ii) jeder Akt des menschlichen Denkens
(im weiten Sinn von De an. III 3, 428a9, a27) von einem Vorstellungsgehalt
(phantasma) begleitet ist. Hier ist klar, daß das erste heyqe?m in ftam te heyq0 im
Sinne einer bloßen Aktualisierung schon erworbener gedanklicher Gehalte im Un-
terschied zum vorhergehenden lamh²meim zu verstehen ist, also den bloßen bergang
von der ,ersten‘ zur ,zweiten Entelechie‘ meint (fr diese Verwendung von heyqe?m
vgl. De an. II 1, 412a23; II 5, 417a28, b5, b19; dagegen heyqe?m im Sinne von
,Beobachten‘ vgl. An. Post. I 31, 88a3; EN VI 3, 1139b22). Unklar ist dagegen, wie
das zweite heyqe?m zu verstehen ist. Ross und Siwek lesen hier ûla v²mtasl² ti, so daß
das v²mtasla das direkte Objekt des heyqe?m wre und das heyqe?m im Sinne eines
,Betrachtens einer Vorstellung‘ (vgl. Mem. 450b18, b24 ff.) zu verstehen wre. Oder
aber man faßt ûla als Prposition auf (z. B. Somn. 455a22 f.) und liest ûla vam-
t²slati (vgl. Hicks 1907, 546; Theiler 1994, 149). Dann wrde das zweite heyqe?m
das erste dem Sinn nach aufgreifen und die instrumentelle Rolle der phantasmata
(vgl. De an. III 7, 431a17) fr das Denken herausstellen (also: „und wenn man
Betrachtungen anstellt, muß man notwendig zusammen mit einer Vorstellung
Betrachtungen anstellen“). Weiter unten werde ich zeigen, daß man sich hier ruhig
der Lesart von Ross und Siwek anschließen kann, ohne reprsentationalistische
5.1 Wahrnehmung und Begriff 185

Was heißt es, daß die noetischen Formen „in“ den wahrnehmbaren sind? In
De an. III 4 bestimmt Aristoteles den ontologischen Status der noÞta als einen
potentiellen: „in den Gegenstnden, die Materie haben, existiert jedes von
den intelligiblen Formen dem Vermçgen nach“ (430a6 f.). Was ist unter
einer solchen ,potentiellen Existenz in der Materie‘ genauer zu verstehen? In
einem literalen Sinn kçnnte man diese beiden Passagen so verstehen, daß die
noetischen Formen wie Stcke in den einzelnen zusammengesetzten Sub-
stanzen enthalten sind, die dann durch ,Weglassen‘ und ,Absehen‘ von der
partikularen Materie herausgehoben werden. Der Intellekt mßte dann nur
das Allgemeine, was schon da ist, vom Einzelnen scheiden, ohne dabei ,etwas
Neues zu machen‘.9 Gegen diese Interpretation kann zu Recht eingewendet
werden, daß es vollkommen unerklrlich ist, wie Begriffe bzw. noÞmata, die
allgemeine oder auch wesentliche Strukturen abbilden, welche auf alle In-
stanzen einer bestimmten Art gleichermaßen (im Sinne des kath’ hen) zu-
treffen, in den wahrnehmbaren Formen bzw. den phantasmata implizit
enthalten sein sollen und nur noch abstrahiert werden brauchen10 : Ein
phantasma geht auf eine frhere Wahrnehmung zurck, die etwas Einzelnes
(kath’ hekaston) zum Gegenstand hatte (De an. II 5, 417b22). Der Gehalt
dieser Wahrnehmung wurde durch das wahrnehmbare eidos, also durch die
kausal wirksamen perzeptuellen Eigenschaften einer Sache festgelegt und in
der phantasia konserviert. Das phantasma ist also immer auf ein mçgliches
Objekt der Wahrnehmung eingeschrnkt. Es ist vollkommen unklar, auf
welche Weise hier intelligible Gehalte (noÞmata), die als solche gerade nicht
wahrnehmbar sind, zum realen Bestandteil eines phantasma werden sollen.
Aristoteles betont in De an. III 8, 432a10 ff. den wesentlichen Unterschied
zwischen Vorstellungsgehalten und Gedanken; letztere sind auf erstere nicht
reduzierbar: Wenn wir Gedanken miteinander verbinden, ergeben sich
wahre oder falsche Urteile, was bei einer Verbindung von Vorstellungsge-
halten nicht der Fall ist.
Das potentielle Enthaltensein der intelligiblen Formen in den wahr-
nehmbaren bzw. den phantasmata muß also anders als in einem piktorialen

Konsequenzen frchten zu mssen. Am Ende dieses Abschnitts wird genauer aus-


gefhrt, was es fr Aristoteles heißt, ein ,phantasma zu betrachten‘.
9 Vgl. Locke, An Essay concerning Human Understanding III 3, § 6 – 8. Zu einer sys-
tematischen Kritik dieser Vorstellung von ,Enthaltensein‘ vgl. Kambartel 1968, 30 –
36.
10 Außerdem ist an dieser Stelle wie auch in De an. III 8 von ,Abstraktion‘ (!va¸qesir)
der noetischen Formen keine Rede; der Terminus ist bei Aristoteles den Gegen-
stnden und dem Verfahren der Mathematik vorbehalten. Hierzu genauer Cleary
1985.
186 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Sinn verstanden werden. Kahn bringt ausgehend von Aristoteles’ Akt-Po-


tenz-Lehre den ,Intellekt, der alles bewirkt’ ins Spiel. Den potentiell in den
wahrnehmbaren Gegenstnden vorliegenden noÞta steht der ebenfalls in
Potenz (nmlich der ,ersten Potenz‘) vorliegende ,Intellekt, der alles wird‘
gegenber. Damit die noÞta aufgenommen werden kçnnen, ist ein Aktiv-
Vermçgen notwendig und das ist der,Intellekt, der alles wirkt‘: Indem dieser
alle noÞta kontinuierlich betrachtet (De an. III 5, 430a22) und mit diesen
Gegenstnden real identisch ist, kann er die potentiell im Wahrnehmbaren
vorliegenden noÞta aktualisieren, so daß diese dann vom passiven Intellekt
aufgenommen werden kçnnen.11 Dieser Intellekt begleitet den induktiven
Vorgang des Wissenserwerbs von Anfang an und ermçglicht es uns, Begriffe
bzw. noÞta zu erfassen.12 Da fr Kahn der ,aktive Intellekt‘ berindividuell
und der Art nach identisch mit dem gçttlichen Intellekt ist, hat unser Lernen
und Forschen eine ,metaphysische Garantie‘; man kann von einem ,Super-
Rationalismus‘ sprechen.13 Abgesehen von der berechtigten Kritik am
,Mythos der Abstraktion‘ kann diese Interpretation wegen ihrer Annahme
einer obskuren metaphysischen Einwirkung kritisiert werden: Liske wendet
hier zu Recht ein, daß durch die Einwirkung eines solchen allwissenden
berindividuellen nous die von Aristoteles als epistemologisch notwendig
angesehene Wahrnehmung und die zugehçrige Induktion berflssig
werden.14 Im Sinne des Thomas von Aquin faßt Liske den ,aktiven Intellekt‘
als Teil der menschlichen Seele auf. Dieser ist die ermçglichende Bedingung
dafr, daß die potentiell im Wahrnehmbaren vorliegenden noÞta wirklich
eingesehen und vom passiven Intellekt aufgenommen werden kçnnen. Der
aktive Intellekt gleicht dabei die potentiellen noÞta seiner eigenen geistigen
Natur an. Im Unterschied zu Thomas von Aquin verfgt aber der aktive
Intellekt schon ber die Gehalte, die aus der Wahrnehmung gewonnen
werden sollen, so daß ein apriorisches Element in das Erkennen hinein-
kommt.15 Um Wahrnehmung und Induktion dadurch nicht berflssig zu
machen, deutet Liske dieses apriorische Wissen als ein „Gebrauchswissen“:

11 Vgl. Kahn 1981, 408: „the intellect actualizes its object, the intelligible form or
essence, by somehow identifying this object with itself in act“.
12 Vgl. Kahn 1992, 369: „For him the universal is present in sense-experience only if we
include the incidental sensibles with their noetic component, and it is made available
only if the percipient subject possesses the nous or logos required to detect it […] the
whole process of epaggÞ […] is made possible for sense-perception only in the
human case, since only here is the sense informed by a noetic capacity“.
13 Kahn 1981, 411 – 414.
14 Liske 1997, 36 f.
15 Liske 1997, 37 f.
5.1 Wahrnehmung und Begriff 187

Die in diesem Sinn apriorisch gewußten Begriffe ermçglichen es uns von


Anfang an, mit den Wahrnehmungsinhalten ordnend und verstehend
umzugehen, indem wir durch sie einen bestimmten Gegenstand als sub-
stantiellen Trger bestimmter Qualitten identifizieren kçnnen.16
Kahn und Liske kritisieren beide zu Recht eine Interpretation im Sinne
eines Empirismus der Begriffe. Dieser impliziert ein naives Verstndnis des
Enthaltenseins der intelligiblen Formen in den aisthÞta und postuliert einen
Vorgang der Abstraktion, der sich textlich nirgendwo festmachen lßt.
Andererseits kann aber auch die Annahme eines apriorischen Wissens vom
Text her nicht gerechtfertigt werden (De an. III 4, 429b31 f.; An. Post. II 19,
99b26 f.). Auch die Annahme eines „impliziten Gebrauchswissens“ hilft hier
m. E. nicht weiter: Ein solches Wissen beinhaltet die Kenntnis, was zu einem
Gegenstand gehçrt und was nicht, d. h. ein Prinzip der Abgrenzung. Dieses
,ontologische Grundwissen‘ kann aber fr Aristoteles nicht a priori vor-
ausgesetzt werden. Merkwrdig ist außerdem, daß der ,aktive Intellekt‘
schon beim Wahrnehmen beteiligt sein soll.17 Ich werde im Folgenden zuerst
einen eigenen Interpretationsvorschlag zu De an. III 8, 432a3 – 9 machen,
der sowohl einen Empirismus der Begriffe als auch einen Apriorismus
vermeidet, und im Anschluß daran eine Mçglichkeit skizzieren, wie man das
Problem, woher die epistemologisch grundlegenden Begriffe kommen,
lçsen kann.
Grundstzlich gilt, daß die phantasia, die ein bloß passives Reservoir von
Wahrnehmungseffekten darstellt, von (genuin) seelischen Vermçgen zu
reprsentationalen Zwecken genutzt werden kann.18 So kann das Wahr-
nehmungsvermçgen einen aktualen Wahrnehmungsgehalt mit einem
phantasma assoziativ kombinieren; innerhalb der Ttigkeit des Gedcht-
nisses fassen wir ein phantasma als Abbild (eikn)19 eines frheren Wahr-
nehmungsgegenstands auf (Mem. 450b20 – 27); im deliberativen Denken
greifen wir auf phantasmata zurck, um uns verschiedene Optionen pro-
spektiv vorzustellen und auf dieser Grundlage zu einer Entscheidung zu

16 Liske 1997, 38, 41: „Ein verstehendes Wahrnehmen verlangt, daß wir einen sub-
stantiellen Artbegriff a priori kennen und dazu gebrauchen kçnnen, den Gegenstand,
von dem wir diverse Qualitten wahrnehmen, als den substantiellen Trger dieser
Bestimmungen zu identifizieren.“
17 Auch Liskes Interpretation hngt von einer bestimmten metaphysischen Prmisse
ab, nmlich daß fr Aristoteles der ,aktive Intellekt‘ ein Vermçgen der menschlichen
Seele ist, was allerdings sehr umstritten ist.
18 Hierzu genauer Corcilius 2008, 212 f.
19 Im Wesen des Abbildes liegt es, von sich selbst weg auf etwas anderes hin (allou) zu
verweisen.
188 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

kommen (De an. III 7, 431a14 – 17, 431b6 – 10); schließlich nutzt auch das
theoretische Denken die phantasmata, was Aristoteles an zwei Stellen aber
nur andeutet und nicht genauer ausfhrt (De an. III 7, 431b10 – 19;
Mem. 449b30 – 450a9). Fr das theoretische wie fr das praktische Denken
gilt gleichermaßen: „Daher denkt die Seele niemals ohne einen Vorstel-
lungsgehalt“ (De an. III 7, 431a16 f.) und „das Denkvermçgen denkt die
intelligiblen Formen in den Vorstellungsgehalten“ (431b2).20 Auf welche
Weise macht das theoretische Denken von den phantasmata Gebrauch?
Fungieren die phantasmata als Grundlage fr die Abstraktion noetischer
Gehalte? Nheren Aufschluß ber diese Fragen gewinnen wir durch fol-
gende Passage aus De memoria:
„Von der Vorstellung wurde bereits in ,ber die Seele‘ gesprochen und ohne
Vorstellung kann Denken nicht sein. Denn im Denken tritt derselbe Begleit-
effekt auf wie auch beim Zeichnen eines Diagramms. Dabei zeichnen wir
nmlich, obwohl wir gar keinen Gebrauch machen von einer bestimmten Grçße
des Dreiecks, doch ein Dreieck mit bestimmter Grçße. Ebenso setzt sich der
Denkende, auch wenn er keine Grçße denkt, eine solche vor Augen, denkt sie
aber nicht als eine Grçße; und wenn die Natur der Sache zu den Grçßen,
wiewohl ohne nhere Bestimmung, gehçrt, dann setzt er sich eine bestimmte
Grçße, denkt sie aber nur als Grçße. Weshalb es nun nicht mçglich ist, etwas
ohne Kontinuum zu denken, genauso wenig wie das, was nicht in der Zeit ist,
ohne Zeit – das ist eine andere Frage“ (Mem. 449b30 – 450a9; bers. King).
Die phantasmata-Gebundenheit des Denkens lßt sich am Zeichnen eines
Diagramms veranschaulichen; in beiden tritt derselbe ,Begleiteffekt‘ (to auto
pathos) auf. So wie es fr einen geometrischen Beweis notwendig ist, eine
bestimmte Figur zu zeichnen, und zugleich fr den Beweis unerheblich ist,
welche Grçße die gezeichnete Figur hat, so ist es fr das Denken notwendig,
daß es durch ein phantasma begleitet wird, und zugleich unerheblich, welche
besonderen Eigenschaften das phantasma hat. Wenn sich der Denkende auf
einen allgemeinen noetischen Gehalt wie z. B. das definierbare Wesen einer
Sache bezieht, muß er sich dennoch gleichzeitig eine wahrnehmbare Grçße
vor Augen stellen, die er dann aber „nicht als eine Grçße denkt“ (moe? d’ oqw Ø
posºm : a5). Darauf mssen wir genauer eingehen: Der Denkende steht in
einem kognitiven Bezug zu einem intelligiblen Gegenstand (noÞton)21, der
nicht in die Kategorie des Quantitativen gehçrt (lμ pos¹m mo0 : 450a4), also

20 Die phantasmata-Bindung wird primr fr das praktische Denken aufgezeigt.


Aristoteles geht aber davon aus, daß diese ebenso fr das theoretische Denken gilt
(431b10 ff.).
21 Das Denken ist ,an sich‘ auf ein bestimmtes noÞton bezogen, so wie die Wahrneh-
mung auf das ,an sich Wahrnehmbare‘ bezogen ist (De an. III 4, 429a17 f.).
5.1 Wahrnehmung und Begriff 189

etwa eine substantielle Form, wie z. B. die eines Hundes. Auf der Grundlage
dieser Kenntnis sucht sich der Denkende einen geeigneten Vorstellungs-
gehalt im Reservoir der phantasia, der diesen allgemeinen Gehalt auf seine
Weise, nmlich als eine wahrnehmbare Grçße, veranschaulichen oder
sinnlich reprsentieren kann. Es kann nmlich nicht darum gehen, die einem
Gegenstand zugehçrigen inneren Wesenszge, also seine essentiellen Ei-
genschaften, selbst zu versinnlichen; hier gilt der strikte Unterschied zwi-
schen noÞma und phantasma (De an. III 8, 432a10 ff.): Das phantasma ist
stets auf einen mçglichen Gegenstand der Wahrnehmung bezogen und als
solche eine repraesentatio singularis. Es kann daher den gedanklich-allge-
meinen Gehalt nicht in einem literalen Sinn veranschaulichen oder abbil-
den, sondern muß diesen irgendwie sinnlich ,bersetzen‘. Doch worin be-
steht bei Aristoteles eine solche bersetzung, in der das phantasma den vom
noÞma vorgegebenen allgemeinen Gehalt auf seine Weise anzeigt? Mein
Vorschlag ist, daß das phantasma lediglich anschaulich macht, in welchen
charakteristischen Eigenschaften sich die innere Wesensstruktur innerhalb der
zusammengesetzten Einzelsubstanz22 niederschlgt. Das phantasma repr-
sentiert sozusagen die von der substantiellen Form verursachten ,typischen
Auslufer‘ innerhalb des materiellen Einzeldings. Um nun diesen Grad von
Allgemeinheit zu erreichen, d. h. um zeigen zu kçnnen, wie z. B. ein Hund
berhaupt aussieht, mssen wir mehrere phantasmata zusammenstellen23 ;
dafr muß es zwischen diesen gewisse hnlichkeiten geben. Bei diesen
hnlichkeiten handelt es sich aber um rein ußerliche, die durch unter-
schiedliche perzeptuelle Inputs zustande kommen.24 Die so zusammenge-
stellten phantasmata werden dann vom Denkenden in einer bestimmten
Hinsicht aufgefaßt oder gedacht (moe?: 450a5, a7), und zwar im Hinblick auf
einen allgemeinen Gesichtspunkt, der vom jeweiligen Denkinhalt (noÞma)
vorgegeben ist, und unter Absehung von individuellen Unterschieden; das
phantasma wird „nicht als Grçße gedacht“. In dieser besonderen Auffas-
sungsweise wird das vom Denkenden benutzte phantasma als allgemeines

22 Man kçnnte auch von der „wahrnehmbaren Grçße“ von De an. III 8, 432a4
sprechen.
23 Nach Aristoteles kann das Denken mehrere Vorstellungsgehalte zusammenstellen
und einer gemeinsamen Hinsicht unterordnen (De an. III 11, 434a9 f.). In der
Interpretation dieser Stelle folge ich Corcilius 2008, 224 – 227.
24 Dagegen Caston 1998, 285: „Different phantasmata, that is, can be treated as
equivalent, insofar as they each have a certain part of their content in common; and
that aspect of a phantasma which allows it to be treated in this way would be a concept
or mºgla“. Ich bin dagegen der Auffassung, daß der gemeinsame Aspekt nicht das
noÞma selbst ist, sondern bloß sein sinnliches Pendant.
190 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

betrachtet. 25 Diese allgemeine Vorstellung – man kçnnte auch von einem


Schema sprechen – wird also nicht eigens von der phantasia im Sinne einer
produktiven Einbildungskraft hervorgebracht, sondern ist das Ergebnis
einer bestimmten Betrachtungsweise durch den Intellekt.26 Der Vorstel-
lungsgehalt in dieser Hinsicht betrachtet ist dann fr das Denken dasjenige,
was zeigt, wie z. B. ein Hund berhaupt aussieht. Das ist die spezifische
Weise, wie vernnftige Wesen die phantasia nutzen kçnnen (vgl. die
phantasia logistikÞ in De an. III 10, 433b29). In dieser besonderen Ver-
wendungsweise ist die phantasia eine Komponente des Denkens (De an. III
3, 427b27 f.).27
Die gerade interpretierten Passagen machen deutlich, daß der noetische
Gehalt schon vorausgesetzt werden muß, um berhaupt die entsprechenden
phantasmata zusammenzustellen, die jenen sinnlich reprsentieren kçnnen.
Der Denkinhalt ist gewissermaßen als Leitfaden vorgegeben und nicht
umgekehrt – wie im Empirismus der Begriffe – erst aus den phantasmata
gewonnen. Das Denken sucht sich im Hinblick auf die schon erkannte in-
telligible Form die geeigneten Vorstellungsgehalte und faßt diese in einer
bestimmten Weise auf. Die phantasmata sind nicht die primre Basis, aus
denen noetische Gehalte gewonnen werden, sondern fungieren bloß als
sekundres, reprsentationales Vehikel. Auf der Grundlage dieser Inter-
pretation mçchte ich fr die folgende Passage, die ein literales Enthaltensein
der noetischen Formen in den phantasmata nahelegt, eine alternative In-
terpretation vorschlagen:
„Da aber kein einziger Gegenstand, wie es scheint, neben den wahrnehmbaren
Grçßen getrennt existiert, sind die Gegenstnde des Denkens in den wahr-
nehmbaren Formen, das in Abstraktion Ausgesagte wie auch die Haltungen und

25 Wenn man das therein in De an. III 8, 432a9 in diesem spezifischen Sinn versteht,
nmlich als ein ,Auffassen als etwas‘ durch den Intellekt, dann kann man ohne
Probleme mit Ross und Siwek ûla v²mtasl² ti lesen: Dann wird in jedem Akt des
Denkens oder Betrachtens notwendigerweise ein phantasma in einer bestimmten
Hinsicht betrachtet.
26 Der Intellekt ist es, der das phantasma betrachtet (therein) oder denkt (noein). Es gibt
hier nur ein seelisches Vermçgen, das aktiv ist, und keinen mit dem Denkakt ein-
hergehenden zweiten Akt des ,Sich-etwas-Vorstellens‘ einer eigenen ,Einbildungs-
kraft‘. Die phantasia ist kein eigenstndiges seelisches Vermçgen mit eigenen Ge-
genstnden und mit der Mçglichkeit, im Modus einer ,zweiten Aktualitt‘ ttig zu
sein (Wedin 1988, 55). Vielmehr ist einzig das Denkvermçgen aktiv, das primr auf
die noÞta bezogen ist und diese „in den Vorstellungsgehalten denkt“ (De an. III 7,
431b2).
27 Vgl. Wedin 1988, 73. Somit kann man das doje? in 427b28 als Aristoteles’ eigene
Meinung ansehen.
5.1 Wahrnehmung und Begriff 191

Eigenschaften der wahrnehmbaren Dinge. Und daher kçnnte jemand, ohne


etwas wahrgenommen zu haben, rein gar nichts lernen noch etwas verstehen,
und wenn man betrachtet, muß man notwendig zugleich eine Vorstellung
betrachten (De an. III 8, 432a3 – 9).
Aristoteles macht hier zunchst eine Aussage, die auf der metaphysischen
Ebene angesiedelt ist und fr die man sich auf das allgemeine Vorverstndnis
(hs dokei) berufen kann: Sieht man einmal von den gçttlichen Substanzen
ab, kann getrennt von den wahrnehmbaren Einzelsubstanzen nichts selb-
stndig existieren. Die substantiellen Formen sind in den Einzeldingen,
wodurch diese in ihrer Identitt und Bestimmtheit konstituiert werden und
einer bestimmten Art zugehçrig sind. Aus dieser metaphysischen Annahme
scheint sich nun etwas fr die Weise unseres Erkennens zu ergeben: Die
noetischen Formen sind in einer nicht genauer bestimmten Weise ,in‘ den
aisthetischen Formen, ebenso das in Abstraktion Ausgesagte, also die ma-
thematischen Eigenschaften, als auch die Haltungen (hexeis) der wahr-
nehmbaren Dinge und die Eigenschaften (pathÞ). Auf der Grundlage der
bisherigen Interpretation verstehe ich das so, daß die noetischen Formen in
den aisthetischen gedacht werden (vgl. De an. III 7, 431b2): Weil sie in der
Wirklichkeit nie getrennt von den wahrnehmbaren Einzeldingen vor-
kommen, sondern in diesen existieren (eidos enon: Met. VII 11, 1037a29),
werden sie, wenn sie gedacht werden, immer im Zusammenhang mit dem
gedacht, was durch sie informiert und konstituiert wird. Die Form ist immer
Form von etwas und dieses Informierte, das zusammengesetzte Einzelding,
wird durch das phantasma reprsentiert. Am phantasma selbst zeigen sich die
Wirkungen der dem Einzelding intrinsischen Form. Wenn ich daran denke,
was den Menschen zum Menschen macht, so habe ich dabei immer vor
Augen, wie sich dieses Wesen in einzelnen Menschen berhaupt nieder-
schlgt. Das noÞton wird in den Vorstellungsgehalten gedacht, aber nicht aus
den Vorstellungsgehalten gewonnen. Die epistemologische Funktion der
phantasia ist dementsprechend eingeschrnkt: Ein phantasma kann als eine
vom Denken benutzte sinnliche Reprsentation dabei behilflich sein,
mehrere Exemplare als Exemplare einer bestimmten Art, die auf ihre sub-
stantielle Form untersucht werden sollen, vorlufig zu identifizieren. Somit
leisten die phantasmata einen Beitrag zur Etablierung jenes ,Wissen des
Daß‘, das die unverzichtbare Grundlage fr jedes ,Wissen des Warum‘
bildet. Die Erkenntnis der substantiellen Form einer Sache kommt durch
Beobachtungen, Induktion und urschliche Analyse zustande und nicht
192 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

dadurch, daß man phantasmata inspiziert und daraus die noetischen Formen
abstrahiert.28
Wie gewinnen wir aber dann die fr den Wissenserwerb notwendigen
Begriffe, die uns berhaupt erst eindeutige Beobachtungen ermçglichen?
Aristoteles gibt nirgendwo eine Erklrung dafr, wie wir so etwas wie Sor-
talbegriffe erwerben.29 Das Problem lßt sich lçsen, indem man zwei Weisen
unterscheidet, in denen man nach Aristoteles einen Begriff besitzen kann:
Ein Begriff kann zum einen in einer gehaltvollen oder ,wissenschaftlichen‘
Weise gewußt werden, indem man seine essentiellen Bestandteile und damit
seine Definition kennt. Auf der Grundlage dieser Kenntnis der Definition
lßt sich dann eine Prdikation formulieren, die als eine Prmisse in einem
Beweis fungieren kann. In diesem Sinne kann auch der dritte Anlauf der
,Genetischen Epistemologie‘ in 100a14-b5 so interpretiert werden, daß hier
nicht ein Begriff immer hçherer Allgemeinheit gewonnen wird, sondern ein
Begriff hinsichtlich seiner basalen und urschlich relevanten Bestandteile
,vertieft‘ wird (t± !leq/ st0 : 100b2) – im Beispiel ,Mensch‘ neben ,Lebe-
wesen‘ (100b3) also ,vernunftbegabte Seele‘.30 Den Begriff ,Mensch‘ in
diesem gehaltvollen Sinn zu kennen, bedeutet also, einen ,Einblick‘ in ein
essentielles Verhltnis zu haben; man weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Von dieser gehaltvollen Weise, einen Begriff zu kennen, lßt sich nun eine
bloß diskriminatorische Weise des Begriffsbesitzes unterscheiden.31 Hier
wird ein Begriff nur in einigen charakteristischen Merkmalen gewußt, wie
z. B. der Mensch als aufrecht gehendes, zweibeiniges Wesen oder Wasser als
durchsichtige Flssigkeit etc. Diese Merkmale erlauben es, vorlufig zu
entscheiden, was unter diesen Begriff fllt und was nicht, also einen einzelnen

28 Von ,Abstraktion‘ ist in De anima, wie gesagt, keine Rede. Wenn man dennoch eine
solche annimmt, stellt sich sofort die Frage, in welchem Verhltnis die Abstraktion
der noetischen Formen zu dem in An. Post. II 19 skizzierten aisthetisch-induktiven
Verfahren steht.
29 Vgl. Barnes 1975, 255: „Man, then, is not directly implanted in our minds by the
senses, as Aristotle’s words in B 19 suggest; but in that case we need an account, which
Aristotle nowhere gives, of how such concepts as man are derived from the data of
perception.“
30 Fr diese Interpretation vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 26 f.
31 Fr diese Unterscheidung vgl. auch Frede 1996, 163 f.: „Even when the use of so-
mething like concepts is involved, these concepts do not necessarily reflect the re-
levant feature or features of the things discriminated by means of the concept. On
Aristotle’s view it does not seem to suffice for thinking that we have a notion of, say, a
human being which allows us, by and large, to distinguish successfully between
human beings and other things; the notion rather has to be based on a sufficient grasp
of what it is to be a human being“.
5.1 Wahrnehmung und Begriff 193

Gegenstand als F zu identifizieren. Die Annahme einer solchen diskrimi-


natorischen Weise des Begriffsbesitzes fr Aristoteles kann durch zwei
Passagen gerechtfertigt werden:
„Unmçglich nmlich ist es zu wissen, was es ist, ohne zu wissen, ob es ist. Das
Ob-es-ist jedoch besitzen wir zuweilen auf zufllige Weise, zuweilen aber auch
indem wir etwas von der Sache selbst besitzen, wie etwa vom Donner, daß er ein
gewisses Gerusch in den Wolken ist, und von der Verfinsterung, daß sie eine
gewisse Wegnahme des Lichtes ist […] Diejenigen Dinge nun, von denen wir
auf zufllige Weise wissen, daß sie sind, besitzen unmçglich auf irgendeine
Weise eine Verbindung zum Was-es-ist; denn wir wissen nicht einmal, daß sie
sind“ (An. Post. II 8, 93a20 – 26; bers. Detel).
„Da eine Definition nun eine Bestimmung des Was-es-ist genannt wird, ist
einleuchtend, daß die eine Art eine Bestimmung dessen sein wird, was der Name
bezeichnet, oder eine andere namenshnliche Bestimmung, wie etwa das: was es
bezeichnet, was ein Dreieck ist. Und wenn wir davon Kenntnis besitzen, daß es
ist, so untersuchen wir, warum es ist; schwierig allerdings ist es, auf diese Weise
Dinge zu erfassen, von denen wir nicht wissen, daß sie sind. Die Ursache dieser
Schwierigkeit ist zuvor genannt worden: daß wir nicht einmal wissen, ob sie sind
oder nicht, es sei denn auf zufllige Weise“ (An. Post. II 10, 93b29 – 35; bers.
Detel).
Aristoteles nennt in beiden Passagen den wissenschaftstheoretischen
Grundsatz, daß jedes Wissen, das nach den Ursachen bzw. dem Wesen einer
Sache fragt, ein ,Wissen des Daß‘ (eidenai to hoti) voraussetzt. Dieses Wissen
kann man entweder auf eine ,akzidentelle Weise‘ haben oder so, daß wir auch
„etwas von der Sache selbst besitzen“32 ; nur letzteres gewhrt uns ein ,Wissen
des Daß‘ und damit einen Weg zur Kenntnis des Wesens (pq¹r t¹ t¸ 1stim :
93a29). Diese Art des Wissens wird nun mit einem semantischen Wissen,
nmlich der Kenntnis bestimmter Wortbedeutungen, in Zusammenhang
gebracht: Die Kenntnis dessen, was ein Name bedeutet (t¸ sgla¸mei t¹
emola : 93b30), kann entweder defizient sein, so daß kein ,Wissen des Daß‘
zustandekommt (wenn man z. B. ,Donner‘ als ,Zorn der Gçtter‘ definiert):
„Diejenigen Dinge nun, von denen wir auf zufllige Weise wissen, daß sie
sind, besitzen unmçglich auf irgendeine Weise eine Verbindung zum Was-
es-ist; denn wir wissen nicht einmal, daß sie sind“ (II 8, 93a24 ff.). Hier
handelt es sich um bloße Nominaldefinitionen. Eine solche Definition
kçnnte man mit De an. I 1, 403a2 auch als „dialektisch“ und „leer“ be-
zeichnen. Oder aber das semantische Wissen enthlt bestimmte charakte-
ristische Merkmale, die eine vage oder vorlufige Identifikation des Ge-
genstands gestatten, wenn z. B. ,Donner‘ als ,ein bestimmter Schall in den

32 5womt´r ti aqtoO toO pq²clator (An. Post. II 8, 93a22).


194 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Wolken‘ definiert wird (93a22 f.). In diesem Fall kann man aufgrund der
,Definition der Wortbedeutung‘ auf den Gegenstand referieren.33
Dieses semantische und Referenz-ermçglichende Wissen fllt nun fr
Aristoteles unter das Vorwissen, auf das jede Wissenschaft angewiesen ist
(An. Post. I 1, 71a12 ff.34): Man muß schon ber eine vorlufige Kenntnis
dessen verfgen, was bestimmte fr eine Wissenschaft grundlegende Ter-
mini bedeuten, genauso wie man voraussetzen muß, daß eine bestimmte
Gattung existiert. In dieser vorlufigen Weise sind bestimmte Begriffe jedem
vernunftbegabten Lebewesen mit dem Beherrschen einer Sprache schon ge-
geben. Dieses sprachliche Wissen, das eine vorlufige Bezugnahme er-
mçglicht, muß nun auch bei der Beschreibung des Erwerbs der Prinzipien-
Kenntnis in II 19 vorausgesetzt werden.35 Das lßt sich mit Sens. 437a11 –
17 begrnden: Aristoteles stellt hier heraus, daß in vernunftbegabten Le-
bewesen der Hçrsinn den grçßten Beitrag zum ,hçheren Zweck’ des Wis-
senserwerbs leistet, da der Wissenserwerb auf dem bedeutungsvollen Satz,
insofern er gehçrt wird, basiert. Diese zentrale Bedeutung der Sprache fr das
Wissen wird allerdings nicht nher ausgefhrt. Das sprachliche Wissen
macht den epagogischen Vorgang nicht berflssig, da diese Begriffe nur in
einer vorlufig-diskriminatorischen Weise gewußt werden; es erfllt also die
Auflagen von 99b33 f., nicht genauer als das gesuchte Wissen zu sein.

33 Vgl. Charles 2000, 35: „The initial grasp on an account of what ,F‘signifies provides
a springboard from which one can come to know non-accidentally that F exists“;
ebd. 40: „This Stage 1 knowledge enables one to conduct a successful enquiry into
what exists“.
34 Detel (1993 II, 29) macht hier zur Recht darauf aufmerksam, daß Aristoteles die
vorausgesetzten Definitionen sowohl mit t¸ t¹ kecºlemºm 1sti (71a13) als auch mit
tod· sgla¸mei (a15) erlutert: „Definitionen als Worterklrungen bezeichnen viel-
mehr stets auch die definierte Sache (wenn auch in einem wissenschaftlich noch
unbefriedigendem Sinne), sind also nicht bloße Bedeutungsanalysen.“
35 Barnes (1975, 251) bestreitet einen Zusammenhang zwischen An. Post. I 1 und II
19: „The fact is that A 1, which deals with the ,intellectual learning‘ of derived
propositions, is inapplicable in B 19, which is concerned with a non-intellectual
acquisition of underivable principles“. Dagegen ist zu sagen: Das Vorwissen von I 1
gilt sowohl fr deduktiv als auch fr induktiv zustandekommendes Wissen
(71a5 – 9) innerhalb ganz unterschiedlicher Formen von Rationalitt. Auch hin-
sichtlich des Erkennens der Prinzipien mssen wir ein solches Vorwissen annehmen
(vgl. An. Post. II 19, 99b26 – 35).
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 195

5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19


In An. Post. II 19, 99b36 – 100b5 behandelt Aristoteles die Frage, wie wir die
Prinzipien erkennen (p_r te c¸momtai cm¾qiloi : 99b18), also die obersten,
nicht mehr beweisbaren, wahren und urschlichen, d. h. erklrungskrftigen
Prmissen, aus denen ein bestimmter Sachverhalt bewiesen werden kann
und deren Kenntnis fr das demonstrative Wissen (epistÞmÞ) konstitutiv ist.
Bei Aristoteles’ Antwort handelt es sich um nicht viel mehr als eine Skizze:
Nach einer Darlegung der Schwierigkeiten (99b20 – 30)36 wird der Erwerb
der Prinzipienkenntnis in drei Anlufen beschrieben (99b36 – 100a3;
100a3 – 937; 100a14-b3), wobei die spteren Anlufe das in den frheren
Anlufen Gesagte nochmals deutlicher darlegen sollen (100a14 f.). Dabei
fllt ein Zweifaches auf: Zum einen geht Aristoteles in 100a6 – 9 unmittelbar
von der Erfahrung (empeiria) – wenn man das C in 100a6 epexegetisch
versteht, so daß das Folgende (100a6 ff.) den Inhalt der Erfahrungser-
kenntnis beschreibt – zum ,Prinzip der technÞ und epistÞmÞ‘ ber; lediglich
100b1 – 3 kçnnte man als eine sehr grobe Beschreibung dieses bergangs
ansehen, wenn man „die Dinge ohne Teile und das Allgemeine“, auf welche

36 Die erste Frage, wie wir mit den Prinzipien bekannt werden, wird anschließend in
folgender ,Schwierigkeit‘ (diapoq¶seiem %m tir) wieder aufgenommen und genauer
expliziert: „ob die Zustnde nicht in uns sind, sondern zustande kommen oder in uns
sind, aber verborgen bleiben“ (99b25 f.; bers. Detel). Einerseits kçnnen wir diese
Kenntnisse nicht schon immer in uns haben, da wir dann Kenntnisse besitzen
wrden, die dem Rang nach hçher (oder: ,genauer‘) wren als die daraus resultie-
renden Beweise, ohne daß uns das bewußt wre. Wenn wir sie andererseits erwerben,
ohne sie schon zu besitzen, stellt sich das Problem, wie das mçglich ist, wenn wir
zuvor berhaupt keine Kenntnisse besitzen. Es ist weder mçglich, die Prinzipien
immer schon zu besitzen, noch kçnnen sie ex nihilo, ohne irgendeine vorhergehende
Kenntnis, erworben werden. Dieses aus Platons Menon bekannte Problem lçst
Aristoteles mit der Einfhrung der Wahrnehmung als einem angeborenen und
unterscheidungsfhigen Vermçgen (d¼malim s¼lvutom jqitij¶m : 99b32 f.). Als ein
solches Vermçgen kann die Wahrnehmung zwei Bedingungen erfllen: Sie stellt
zum einen ohne eine vorherige Belehrung die fr jeden Wissenserwerb notwendigen
Vorkenntnisse bereit, ohne die wir sonst keine weiteren Kenntnisse gewinnen
kçnnten. Die Kenntnisse, die sie gewhrt, sind zum anderen nicht ,ranghçher gemß
der Genauigkeit‘ (tiliyt´qa jat’ !jq¸beiam : 99b33 f.) als die zu erwerbenden
Kenntnisse.
37 Nach diesem zweiten Anlauf hat Aristoteles sein Ziel schon erreicht: Die hçheren
kognitiven Zustnden bis zur Kenntnis der Prinzipien liegen weder abgesondert
schon immer in uns vor, noch entstehen sie im Ausgang von anderen ,an sich be-
kannteren‘ Zustnden, sondern sie entstehen ,im Ausgang von der Wahrnehmung‘
(!p¹ aQsh¶seyr : 100a10 f.). Das bisher Dargelegte wird dann mit dem Bild von der
zurckweichenden Schlachtlinie illustriert.
196 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

die hier angedeutete Vertiefung abzielt, als urschlich relevante Begriffe


versteht. Zum anderen fllt der weite Geltungsbereich der Skizze auf: Sie gilt
sowohl fr den Bereich des Werdens, also die Prinzipien der technÞ, als auch
fr den Bereich des notwendig Seienden, also die Prinzipien der epistÞmÞ
(100a8 f.).
Auf den ersten Blick kçnnte es nun so aussehen, als ob aus Aristoteles’
skizzenhafter Darlegung die Konsequenz gezogen werden mßte, den
Wissenserwerb als einen rein natrlichen Mechanismus zu verstehen38, in
dem ausgehend vom Vermçgen (dynamis) der Wahrnehmung, die eine
bestimmte Art von Kenntnis gewhrt, die anderen ,hçheren‘ – nmlich
,genaueren‘ und ,an sich bekannteren‘– kognitiven Haltungen (hexeis)
entstehen, nmlich Gedchtnis und Erfahrung bis hin zur Kenntnis der
Prinzipien. Eine solche rein kausale Interpretation wird durch die hier
verwendete kausale und passive Terminologie nahegelegt.39 Wrde Aristo-
teles den Wissenserwerb tatschlich als einen rein kausalen Mechanismus
ansehen, dann wren allerdings methodologische berlegungen zur Prin-
zipienforschung, wie sie sich an vielen Stellen innerhalb des Corpus Aristo-
telicum finden40, obsolet; das Erfassen der Prinzipien wrde allein von der
Zuverlssigkeit des natrlichen Prozesses abhngen und der Wahrnehmung
wrde dabei lediglich eine kausale Rolle zukommen. Alternativ zu dieser rein
kausalen Lesart scheint mir eine differenziertere Interpretation mçglich:
Diese versteht die hier skizzierte kognitive Stufenfolge als eine Beschreibung
der seelischen Vorgnge, die methodisch geregelten kognitiven Handlungen
zugrundeliegen, d. h. die verschiedenen kognitiven Zustnde werden notiert,
ohne daß dabei auf die zugehçrigen methodischen Operationen genauer
eingegangen wird. Auf diese Weise kçnnen die Aussagen des Aristoteles zum
Wissenserwerb an anderen Stellen mitherangezogen und zusammen mit II
19 dann in einen grçßeren Zusammenhang gestellt werden. In diesem
Abschnitt werden wir uns auf den Weg von der Wahrnehmung bis zur Er-
fahrung (empeiria) konzentrieren. Daß Aristoteles in II 19 nichts Genaueres
zum bergang von der Erfahrung zur Prinzipienerkenntnis sagt, liegt darin
begrndet, daß es fr ihn im Bereich der Ursachen- oder Prinzipiener-
kenntnis eine Vielfalt von Methoden gibt, die sich jeweils an der Natur des
Gegenstands ausrichten: „Man darf auch nicht berall die Ursache auf die

38 Vgl. die schon in Kap. 1.3 skizzierte Interpretation von Frede 1996.
39 (1c)c¸meshai (99b36, 37, 38, 100a1, 2, 3, 4, 11); Aqele?m, Rst²mai (100a6, 12, 15, b2);
B d³ xuwμ rp²qwei toia¼tg owsa oVa d¼mashai p²sweim toOto (100a13 f.).
40 Vgl. De an. I 1; Met. VII 17; An. Pr. I 30; An. Post. II 1 – 2; Part. an. I 1, 639b9 ff.
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 197

gleiche Weise suchen“ (EN I 7, 1098a33-b1; bers. Wolf ).41 Die Frage nach
der jeweiligen Methode der Ursachen- oder Prinzipienerkenntnis kann nur
innerhalb eines bestimmten Sachgebiets geklrt werden und bleibt deshalb
in der allgemeinen Skizze von II 19 ausgespart. Gemeinsam ist dagegen allen
Wissenschaften (und daher kann dies auch in II 19 allgemein dargestellt
werden), daß sie auf Erfahrungswissen, also auf das eidenai to hoti, ange-
wiesen sind (vgl. An. Pr. I 30; An. Post. II 1 – 2). Wie dieses Erfahrungswissen
erworben wird, was es genau zum Inhalt hat und welche Relevanz es fr die
Erkenntnis der Ursachen und Prinzipien besitzt, werden wir in diesem und
den beiden folgenden Abschnitten genauer untersuchen.
Whrend man in lteren Interpretationen von II 19 noch davon ausging,
daß in diesem Kapitel eine Abstraktion von Begriffen beschrieben wird42, ist
es Konsens der neueren Interpretationen, daß eine scharfe Trennung zwi-
schen Begriffen und Propositionen nicht mçglich ist: Jedes vollstndige
Erfassen eines wesentlichen Begriffs, in dessen Definition man also nicht auf
etwas anderes Bezug nimmt, impliziert das Erkennen eines definitorisch-
essentiellen Verhltnisses und damit die Darstellbarkeit dieses Verhltnisses
in einer erklrungskrftigen demonstrativen Prmisse. 43 Der in II 19 be-
schriebene Vorgang kann somit durchaus auch propositional interpretiert
werden. Das wurde schon im letzten Abschnitt fr die empeiria aufgezeigt:
Inhalt der Erfahrung ist ein ,komparativ-allgemeines‘ Zukommen einer
Eigenschaft zu einer bestimmten Art, das sich auf der Grundlage einer be-
stimmten Anzahl von Beobachtungen an den Gegenstnden dieser Art er-
gab. Dieses Wissen beruht noch nicht auf der Kenntnis der Ursache, durch
die man begrnden kçnnte, warum allen Instanzen dieser Art bestimmte
Eigenschaften notwendig zukommen (die per se-Akzidentien).
Eine differenzierte Interpretation von II 19 ist m. E. mçglich, wenn man
eine von Detel eingebrachte, bisher leider noch kaum beachtete Unter-
scheidung heranzieht: Aristoteles skizziert seine ,Genetische Epistemologie‘
nicht nur in drei ,Anlufen‘ (99b36 – 100a3; 100a3 – 9; 100a14-b3), son-
dern es lassen sich auch drei verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen
die Darlegung angesiedelt ist: Detel unterscheidet zwischen epistemischen
Fhigkeiten, epistemischen Vorgngen oder Handlungen und den Gegen-

41 Vor allem auch De an. I 1, 402a10 – 22. Zur Pluralitt der Prinzipien-Forschung vgl.
Wieland 1992, 52 f.
42 Vgl. Ross 1949, 675.
43 Vgl. Kahn 1981; Modrak 1987, 164; Taylor 1990, 127.
198 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

stnden oder Resultaten.44 Ich werde im Folgenden diese drei Ebenen etwas
modifizieren, indem ich zwischen seelischen Vermçgen, kognitiven Vorgngen
und kognitiven Zustnden mit ihren jeweiligen Gehalten, also den jeweiligen
Kenntnissen 45, unterscheide. Es ist klar, daß in II 19 nicht die Genese von
bestimmten seelischen Vermçgen beschrieben werden soll, wie es die Worte
„aus der Wahrnehmung also entsteht Gedchtnis“ nahelegen kçnnten,
sondern der Erwerb bestimmter kognitiver Zustnde mit ihren jeweiligen
Gehalten skizziert werden soll, letztlich der Erwerb der Kenntnis der Prin-
zipien. Die entscheidende Frage lautet: Auf der Grundlage welcher seelischer
Vermçgen und durch welche Vorgnge oder ,epistemische Handlungen‘
kommen die Gehalte dieser hçchsten Gattung von Kenntnis zustande?
Mit Hilfe der Unterscheidung dieser drei Ebenen lassen sich die ver-
schiedenen Stufen von II 19 in einem ersten Schritt folgendermaßen in-
terpretieren: (1) Auf der Ebene der seelischen Vermçgen mssen die beiden
,unterscheidungsfhigen‘ oder kognitiven Vermçgen, das Wahrneh-
mungsvermçgen und das Denkvermçgen (im weiten Sinn von De an. III 4,
429a23), vorausgesetzt werden. Mit dem Wahrnehmungsvermçgen sind
noch zwei andere aisthetische Vermçgen verknpft, nmlich zum einen die
phantasia als die Fhigkeit, Sinneseindrcke zurckzubehalten und zu
speichern, zum anderen das auf der phantasia basierende Gedchtnis. Die
phantasia wird (im Unterschied zu Met. I 1, 980b26) in II 19 nicht explizit
genannt46, muß aber vorausgesetzt werden. Das Gedchtnis beruht nmlich
auf der phantasia (Mem. 450a13), insofern es der Besitz eines phantasma ist,
das im Hinblick auf die ursprngliche Wahrnehmungssituation, aus der es
hervorgegangen ist, als Abbild aufgefaßt, d. h. in einen Verweisungszu-
sammenhang gestellt wird, und zeitlich datiert wird (Mem. 451a15 f.); das
mnÞmoneuma bringt also einen reprsentationalen Gehalt hervor, dem der
Verweis auf seinen perzeptuellen Ursprung beigefgt ist. Auch wenn das
Denkvermçgen in der ,Genetischen Epistemologie’ nicht explizit erwhnt
wird, nehme ich an, daß dem in II 19 beschriebenen Vorgang auch der nous
auf der Stufe der ersten Potenz zugrundeliegt: Es geht um den menschlichen

44 Detel 1993 II, 863 f.: Unter epistemischen Fhigkeiten bzw. Zustnden versteht er
Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung und das Prinzip von Kunst und Wissen;
unter epistemischen Vorgngen oder Handlungen das Unterscheiden, Bleiben, zur
Ruhe kommen und das Induzieren; epistemische Gegenstnde sind fr ihn
Wahrnehmungsinhalte, das Allgemeine, die „Dinge ohne Teile“.
45 Jede Art des cmyq¸feim, angefangen von der Wahrnehmung bis hin zum Erfassen der
Prinzipien, gewhrt eine bestimmte Art der cm_sir (vgl. Kap. 1.1).
46 Aristoteles spricht lediglich vom „Bleiben des Wahrnehmungsgehalts“ (lomμ toO
aQsh¶lator : 99b36 f.)
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 199

Wissenserwerb und das einzige, was wir nach 99b26 – 34 nicht voraussetzen
drfen, ist ein schon mit den intelligiblen Inhalten gefllter nous. Wir haben
im letzten Abschnitt schon deutlich gemacht, daß auch diese Bedingung
insofern eingeschrnkt werden muß, als wir auch hier ein Vorwissen ansetzen
mssen (99b30 mit Bezug auf An. Post. I 1), und zwar ein sprachliches (I 1,
71a13), das die Auflagen von 99b32 ff. erfllt. Wie sich in Kap. 4.3 gezeigt
hat, kann mit Hilfe des nous das Wahrgenommene im Rahmen einer
Wahrnehmungsmeinung (doxa) begrifflich charakterisiert werden. Die
Wahrnehmung liefert eine vor-begriffliche Kenntnis des Gegenstands, die in
einem zweiten Schritt, nmlich innerhalb des Denkens, mit Begriffen an-
gereichert und differenziert wird. (2) Als einen ersten kognitiven Vorgang
erwhnt Aristoteles, daß bei einigen Lebewesen ein „Bleiben des Wahr-
nehmungsinhalts“ entsteht, d. h. der Wahrnehmungsgehalt in der phantasia
abgespeichert wird oder „in der Seele“ bewahrt bleibt. Dieser Vorgang bringt
nach Aristoteles zustzlich zur Wahrnehmung eine weitere Art von Kenntnis
hervor: „Und wenn Wahrnehmung in ihnen vorhanden ist, kommt in ei-
nigen Tieren ein Bleiben des Wahrnehmungsinhalts zustande, in anderen
dagegen kommt es nicht zustande. Fr diejenigen nun, in denen es nicht
zustandekommt, entweder ganz oder in bezug auf was es nicht zustande-
kommt, gibt es keine Kenntnis außerhalb des Wahrnehmens“ (99b36 – 39;
bers. Detel). Auf dieser Grundlage werden dann Gedchtnisleistungen
mçglich, indem der gespeicherte Wahrnehmungsgehalt als Abbild dessen,
wovon er perzeptuell herstammt, verwendet wird. In Met. I 1 werden die
Lebewesen mit Gedchtnis „verstndiger“ (vqomil¾teqa) genannt und
diejenigen, die auch ber Gehçr verfgen, als „lernfhiger“ (lahgtij¾teqa)
bezeichnet (980b20 – 25). Das Gedchtnis ist also in Verbindung mit dem
Hçren eine Bedingung fr den Wissenserwerb (b24 f.; besonders
Sens. 437a11 – 15). (3) Anknpfend an die Fhigkeit, mehrere Wahrneh-
mungsinhalte in der Seele aufzubewahren und dann auch mittels des Ge-
dchtnisses in einen Verweisungszusammenhang zu stellen, beschreibt
Aristoteles das Zustandekommen eines nchst hçheren Gehalts, nmlich
einer diaphora bzw. eines logos bei vernunftbegabten Lebewesen (100a1 f.).47

47 Die beiden Termini beziehen sich m. E. auf verschiedene Stufen: Aus einer Vielzahl
von Gedchtnisinhalten entsteht eine diaphora. Bei den Lebewesen mit Intellekt
entsteht aus den auf diese Weise gespeicherten Wahrnehmungsgehalten ein logos, bei
den anderen nicht. Mit „den anderen“ (100a3) wren hier also Lebewesen gemeint,
die zwar eine diaphora ausbilden, aber keinen logos. Bei der diaphora kçnnte man an
gewisse ußerliche hnlichkeiten bestimmter phantasmata untereinander denken,
whrend logos einen genuinen Begriff meint, dem ein gedanklicher Inhalt (noÞma)
zugrundeliegt.
200 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Die einzige nhere Charakterisierung des hier ablaufenden kognitiven


Vorgangs ist, daß viele im Gedchtnis aufbewahrte Wahrnehmungsinhalte
eine diaphora bzw. einen logos hervorbringen. Mit der Herausbildung eines
logos auf der Grundlage des Gedchtnisses muß, wie das Folgende zeigt, der
Inhalt der empeiria gemeint sein: „aus dem Gedchtnis aber, wenn es oft an
demselben (Gegenstand) entsteht, (kommt) die Erfahrung (zustande).
Denn die vielen Gedchtnisinhalte sind der Zahl nach eine Erfahrung. Aus
der Erfahrung aber oder aus jedem Allgemeinen, das in der Seele zum Stehen
gekommen ist, das Eine neben dem Vielen, was als Eines und Dasselbe in
allen jenen ist…“ (100a4 - 8). Neben dem Aspekt der Hufigkeit (pokk_m :
100a1; pokk²jir : a4 f.; Met. I 1, 980b29) kommt hier noch ein zweiter
Aspekt hinzu: Die hufigen Erinnerungen beziehen sich auf „dasselbe Ding
(toO aqtoO)“.48 In Met. I 1 heißt es dazu, daß „die vielen Gedchtnisinhalte
derselben Sache (toO aqtoO pq²clator) das Vermçgen einer Erfahrung zu-
standebringen“ (980b29 f.). Diesen zweiten Aspekt kann man so verstehen,
daß die Erfahrung aus Beobachtungen einer wiederkehrenden Eigenschaft
an demselben Gegenstand (oder einem artgleichen) zustandekommt.49
Hierfr muß aber der Gegenstand, an dem dieses vorlufig-allgemeine
Zukommen eines bestimmten Merkmals beobachtet wurde, eindeutig
identifiziert sein. Diese Identifikation kommt durch Begriffe innerhalb einer
Wahrnehmungsmeinung (Kap. 4.3) zustande. (4) Die empeiria ist fr Ari-
stoteles nun kein seelisch-kognitives Vermçgen wie Wahrnehmung oder
Denken, sondern mit ihr wird eine Art der Annahme (hypolÞpsis)50 bzw. in
epistemologischer Sicht auch eine Form des Wissens, das eidenai to hoti (Met.
I 1, 981a29), bezeichnet. Das ihr zugrundeliegende Vermçgen ist das
Denkvermçgen (im weiten Sinn), was sich vor allem daran zeigt, daß ihre
Inhalte als ennoÞmata beschrieben werden (Met. I 1, 981a6) und sie eine Art
von Annahme (hypolÞpsis) ist, die sich auf eine endliche Anzahl von Beob-
achtungen sttzt (981a7). In II 19 wird der empeiria außerdem explizit ein
Allgemeines zugesprochen (100a6 ff.). Dieses Allgemeine bezeichnet noch
nicht das die epistÞmÞ kennzeichnende strikte allgemeine und notwendige
Zukommen einer Eigenschaft zu einer bestimmten Spezies (An. Post. I 4,
73b26 f.), dessen Kenntnis sich aus dem Erfassen der Ursache ergibt: Wir

48 Vgl. die bersetzung von Barnes (1975, 81): „when it occurs often in connection
with the same thing“.
49 Vgl. auch Gregoric & Grgic 2006, 9 ff. An dieser Stelle zeigt sich, daß Aristoteles
selbst nicht klar zwischen Begriffen und Propositionen trennt: Im ,ersten Anlauf‘
scheint es eher um den Erwerb von Erfahrungsbegriffen zu gehen, im ,zweiten Anlauf‘
eher um die Feststellung eines komparativ-allgemeinen Sachverhalts.
50 Vgl. den generischen Sinn von hypolÞpsis in De an. III 3, 427b25 f.
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 201

wissen hier, warum allen Instanzen einer bestimmten Spezies bestimmte


Eigenschaften notwendig zukommen. Bei dem Erfahrungs-Allgemeinen
handelt es sich vielmehr um ein komparativ-allgemeines Zukommen, ba-
sierend auf den bisherigen Beobachtungen: Verschiedene Individuen, die
wir bisher wahrgenommen haben, verfgen ber die Eigenschaft F. Dem
Erfahrungswissen fehlt die Kenntnis der Ursache und damit auch die strikte
Allgemeinheit: „Denn die Erfahrenen wissen zwar das Daß, das Warum
wissen sie aber nicht“ (Met. I 1, 981a28 f.).51
Im Rckgriff auf die Ergebnisse der frheren Kapitel kçnnen wir nun
den bisher allein auf der Grundlage von II 19 beschriebenen kognitiven
Vorgang, der zum Erfahrungswissen fhrt, noch etwas genauer interpre-
tieren: Voraussetzung fr jeden Wissenserwerb ist ein bestimmtes sprach-
liches Wissen, d. h. wir mssen die Bedeutung bestimmter Grundbegriffe
schon kennen. Diese Begriffe, die wir nur in einer diskriminatorischen Weise
kennen, machen es mçglich, das Wahrgenommene innerhalb einer Wahr-
nehmungsmeinung (doxa) begrifflich zu spezifizieren und somit dem
Denken (dianoia im weiten Sinn) zur Verfgung zu stellen: Wir kçnnen eine
bestimmte Eigenschafte an einem Gegenstand einer bestimmten Art, also
ein bestimmtes Verhltnis des Zukommens, erkennen, indem wir beide
Glieder des Zukommens gedanklich erfassen. Das erlaubt es uns, Gegen-
stnde einer bestimmten Art (z. B. Menschen) durch die Zeit zu verfolgen,
um an ihnen wissenschaftsrelevante – nmlich (potentiell) notwendige und
nicht bloß zufllige – Eigenschaften feststellen zu kçnnen. Durch das Ge-
dchtnis wird es dann mçglich, aktuale Beobachtungen im Lichte von fr-
heren Beobachtungen zu machen; wir registrieren hnlichkeiten oder Un-
terschiede zu frheren Beobachtungen. Wenn sich bestimmte hnlichkeiten
in unserem Gedchtnis verdichten, sich also aufgrund einer gewissen Anzahl
von Beobachtungen eine gewisse Kohrenz von Gedchtnisinhalten hin-
sichtlich eines bestimmten Gegenstands abzeichnet, kommt es irgendwann
zu einem Erfahrungsurteil, d. h. wir stellen ein vorlufig-allgemeines Zu-
kommen eines Merkmals an einer bestimmten Art fest. Das Gedchtnis
selbst erfaßt zwar nicht dieses empirisch-Allgemeine52, es ist aber die not-
wendige Bedingung hierfr: Es stellt nicht bloß das sinnliche Material zur

51 Wenn Aristoteles in Met. I 1, 981a10 den Unterschied zwischen Erfahrung und


Kunst bzw. Wissen so bestimmt, daß man im letzteren Fall weiß, „daß allen von einer
solchen Beschaffenheit, die aufgrund einer einzigen Art ausgegrenzt wurden“ bei
einer bestimmten Krankheit ein bestimmtes Heilmittel half, dann fungiert das
verschiedenen Individuen gemeinsame eidos als Ursache fr den spezifischen Wir-
kungszusammenhang; das eidos wird in seinen urschlichen Implikationen gewußt.
52 Das stellt Detel (1993 II, 870) zu Recht fest.
202 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Verfgung, sondern es prsentiert uns Inhalte, in denen sich schon gewisse


hnlichkeiten deutlich machen: „die Seele aber ist von solcher Beschaf-
fenheit, daß sie dies erleiden kann“ (100a13 f.). Das ist natrlich nur
mçglich, wenn das Gedchtnis ber eine innere Struktur verfgt, in dem sich
Beobachtungen an bestimmten Gegenstnden ,anreichern‘ lassen und nicht
bloß eine ungeordnete Ansammlung stattfindet. In dieser Hinsicht kçnnte
man das Gedchtnis auch als eine Quelle von Wissen ansehen und nicht nur
als einen Aufbewahrungsort.53 (Unser Gedchtnis ist nicht bloß wie ein
Gefß, sondern wie ein Haus mit verschiedenen Etagen und Zimmern.)
Wenn hier unter den einzelnen Beobachtungen ein bestimmtes Maß an
hnlichkeit erreicht ist, dann kann auf dieser Grundlage ein Erfahrungs-
urteil gebildet werden, z. B. kann der Arzt auf der Grundlage der bisherigen
Beobachtungen an einer endlichen Anzahl von Patienten ein hnliches
Krankheitsbild feststellen. Dieser bergang wird m. E. mit dem Ausdruck
des ,in der Seele zur Ruhe kommenden Allgemeinen‘ beschrieben (Aqel¶-
samtor toO jahºkou 1m t0 xuw0 : 100a6 f.) und kann mit dem Bild der sich
stabilisierenden Schlachtlinie illustriert werden (2m¹r st²mtor 6teqor 5stg :
a12 f.).54
Durch einen kurzen Blick auf An. Post. I 31 kçnnen wir das bisher
Dargelegte noch weiter verdeutlichen: In diesem Kapitel macht Aristoteles
vor allem die Grenzen der Wahrnehmung deutlich; sie ist nicht in der Lage,
eine allgemeine und notwendige Tatsache zu erfassen, auf deren Grundlage
man die epistÞmÞ erwerben kçnnte. Aristoteles zeigt neben den Grenzen nun
aber auch die epistemologische Relevanz der Wahrnehmung auf: „Aber
dennoch wrden wir aus dem (aufmerksamen) Beobachten55, daß dies oft
geschieht, das Allgemeine erjagend einen Beweis haben“ (88a3 f.).56 Hier
setzt Aristoteles voraus, daß wir ein singulres Ereignis (toOto sulba?mom)
beobachten kçnnen. In unserer bisherigen Interpretation kçnnen wir das so

53 In De memoria wird die epistemologische Funktion des Gedchtnisses nicht the-


matisiert (vgl. King 2004, 56). Vielmehr wird hier vorausgesetzt, daß das Gedchtnis
Wahrnehmungs- und Wissensinhalte zum Gegenstand haben kann (vgl.
Mem. 449b16 f. [tod· t¹ keujºm, t¹ heyqo¼lemom], b19 [1pist¶lg, aUshgsir], b21
[5lahem C 1he¾qgsem, Ejousem C eWdem], 450a12 ff., 451b3 [1pist¶lgm C aUshgsim]).
54 Zur epistemologischen Bedeutung der Termini Aqele?m und Rst²mai vgl.
Int. 16b20 f.; Phys. VII 3.
55 heyqe?m kann bei Aristoteles nicht nur das Aktualisieren des erworbenen Wissens
bezeichnen (vgl. De an. II 5, 417b5), sondern auch das Beobachten (EN VI 3,
1139b22). Vgl. LSJ 796: ,to observe‘.
56 oq lμm !kk’ 1j toO heyqe?m toOto pokk²jir sulba?mom t¹ jahºkou #m hgqe¼samter
!pºdeinim eUwolem
5.2 Von der Wahrnehmung zur empeiria nach An. Post. II 19 203

erklren, daß dieser Inhalt schon gedanklich erfaßt worden ist; der Beob-
achtende kennt schon die Begriffe ,Mond‘ und ,verfinstern‘. Dieses Ereignis
wiederholt sich nun und Aristoteles sagt ausdrcklich, daß man dieses Er-
eignis als sich wiederholendes, d. h. als zu frheren beobachteten Ereignissen
typ-gleiches, wahrnimmt (88a3 f.: 1j toO heyqe?m toOto pokk²jir
sulba?mom). Das setzt das Gedchtnis voraus, in dem einzelne Beobach-
tungen bewahrt und datiert werden kçnnen und zwar in einer geordneten
Weise: Die einzelnen gespeicherten Beobachtungen lassen sich durch andere
typ-gleiche anreichern, so daß sich eine hnlichkeit abzeichnet. Aus dieser
Vielzahl von Beobachtungen „erjagen“ wir dann, wie Aristoteles sagt, das
Allgemeine (t¹ jahºkou hgqe¼samter), d. h. wir erfassen den allgemein-
urschlichen Zusammenhang, dessen einzelne Instanzen wir bisher wahr-
genommen haben. Es ist aus der bisherigen Verwendung von katholou in
diesem Kapitel klar, daß hier das fr die epistÞmÞ konstitutive strikt allge-
meine Zukommen gemeint ist (vgl. !e· ja· pamtawoO : 87b3257), dem das po»
ja· mOm der einzelnen Wahrnehmung gegenbersteht. Mit dem „Erjagen“
dieses allgemein-urschlichen Zusammenhangs wechseln wir in die ko-
gnitive Haltung der epistÞmÞ und das zeigt sich darin, daß wir demonstrative
Begrndungen geben kçnnen (t¹ jahºkou #m hgqe¼samter !pºdeinim
eUwolem). Aristoteles kommt es bei diesem Sprung auf den Aspekt der
Hufigkeit an: „Denn aus den vielen Einzelnen wird das Allgemeine klar“
(88a4 f.). Diese Hufigkeit kann aber nur methodisch erreicht werden,
nmlich durch gezielte Beobachtungen an einem Gegenstand vor dem
Hintergrund bisheriger Beobachtungen, fr die sich im Gedchtnis mit der
Zeit eine Kohrenz abzeichnet. In diesem Sinne kann dann Aristoteles sagen,
daß wir das Allgemeine „aus dem Sehen“ haben (88a14; II 2, 90a28 ff.).
Welche Rolle die von Aristoteles fr jede Stufe herausgestellte Hufigkeit
(An. Post. I 31, 88a3 ff.; II 19, 100a4 f.; Met. I 1, 981a5 f.) innerhalb seiner
Wissenstheorie spielt, werden wir im nchsten Abschnitt noch klren.
Wir haben uns in diesem Kapitel auf das Verhltnis zwischen Wahr-
nehmung und Erfahrung konzentriert. Die empeiria ist epistemologisch
bedeutsam, weil sie selbst eine Form des Wissens darstellt: Sie stellt das
Tatsachenwissen zur Verfgung (eQd´mai t¹ fti : Met. I 1, 981a29), von dem
jede Wissenschaft, die nach den Ursachen und Prinzipien fragt (eQd³mai t¹
diºti), ausgehen muß (vgl. An. Post. II 1; Part. an. I 1, 639b9 ff.; I 5,
645b2 f ).58 Diese empirische Phnomenbasis ist nichts primitiv Gegebenes,

57 An. Post. I 4, 73b26 f.: jat± pamtºr te rp²qw, ja· jah’ art¹ ja· Ø aqtº
58 Vgl. Detel 2004, 5: „Knowledge of facts is, for Aristotle, the foundation of scientific
knowledge.“
204 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

sondern beruht, wie wir gesehen haben, auf einem Prozeß der Verallge-
meinerung. Bevor wir uns dem Weg von der Erfahrung zur Kenntnis der
Prinzipien zuwenden, wollen wir Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs
vor dem Hintergrund seiner Metaphysik noch etwas genauer beleuchten. In
diesem Zusammenhang werden wir auch auf den Inhalt des Erfahrungs-
wissens genauer eingehen.

5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘


Ganz allgemein besteht fr Aristoteles der Wissenserwerb in einem ber-
gang59 von einem kognitiven Zustand in den anderen, und zwar von Zu-
stnden, die sich auf das ,fr uns Bekanntere‘ beziehen, zu solchen, die sich
auf das ,an sich Bekanntere‘ beziehen.60 Das ,fr uns Bekanntere‘ oder
,Frhere‘, nmlich das durch die Wahrnehmung erfaßte Einzelne (kath’
hekaston), ist nicht dasselbe wie das ,an sich‘oder,der Natur nach Bekanntere‘
oder ,Frhere‘, nmlich das dem demonstrativen Wissen zugngliche All-
gemeine (katholou: An. Post. I 2, 71b33 – 72a5). Bei Aristoteles bilden
Wahrnehmbares und Wißbares zwei verschiedene ,Bereiche‘ der Wirk-
lichkeit (vgl. De an. III 8, 431b21 f.), denen verschiedene kognitive Ver-
mçgen bzw. Zustnde entsprechen, die durch jene Gegenstnde individuiert
werden.61 Was Gegenstand der epistÞmÞ und des nous ist, kann nicht Ge-
genstand der Wahrnehmung und der doxa sein und was Gegenstand von
Wahrnehmung und doxa ist, kann nicht im Sinne der epistÞmÞ oder des nous62
gewußt werden.63 Man kann nach Aristoteles also keine Meinungen ber
Notwendiges und kein demonstratives Wissen ber Zuflliges haben.64

59 Vgl. das letaba¸meim in Met. VII 3, 1029b3, b12 (vgl. LSJ 1109: ,pass from one state
to another‘), das pqo²ceim in Phys. I 1, 184a19, das pokk²jir 1n 1mamt¸ar letabak½m
6neyr in De an. II 5, 417a31 f.; vgl. auch Met. I 2, 983a11 – 21.
60 Vgl. An. Post. I 2, 71b33 – 72a5; II 19, 100a11; Phys. I 1, 184a16 – 23; Met. VII 3,
1029b3 – 12; Top. VI 4, 141b5 – 19; EN I 4, 1095b2 ff.; De an. II 2, 413a11 f.
Dieser Grundsatz gilt sowohl fr das lamh²meim im engen Sinn des ,Belehrtwerdens‘ –
als Gegenbegriff zur didasjak¸a (vgl. De an. II 5, 417b12 ff.)– als auch fr das
lamh²meim im weiten Sinn, dem eigenstndigen Forschen und Entdecken (f¶tgsir ;
erq¸sjeim ; vgl. De an. III 4, 429b9).
61 Vgl. Met. VII 15, 1039b28 – 1040a7; EN VI 2, 1139a6 – 17.
62 Im engen Sinn von An. Post. II 19, 100b9 – 15 und EN VI 6.
63 Hierzu Gerson 2009, 67 – 70.
64 Vgl. etwa EN VI 3, 1139b19 – 24; VI 5, 1140b27 f.; Met. VII 15, 1139b34 f. Wenn
Aristoteles davon spricht, daß die Meinung ,unsicher‘ (!b´baiom : An. Post. I 33,
89a5) ist wie auch die Natur, dann bezieht sich das nicht auf den Grad des Fr-
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ 205

Wissen im Sinne der epistÞmÞ ist somit keine bestimmte Art von Meinung,
die eine bestimmte Rechtfertigungsauflage erfllt und damit als Wissen
bezeichnet werden darf.65 Vielmehr handelt es sich um zwei vollkommen
verschiedene kognitive Zustnde, die sich jeweils auf zwei verschiedene
Arten von Gegenstnden beziehen.
Der allgemeine Grundsatz, daß sich der Wissenserwerb vom ,fr uns
Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ vollzieht, besagt nicht nur, daß wir
fr die Gewinnung demonstrativen Wissens bei der Wahrnehmung ansetzen
(vgl. An. Post. II 19, 100a11) und uns – durch das ,seiner Natur nach weniger
Bekannte‘ hindurch 66 – bis zu den Prinzipien, die fr die Wahrnehmung am
weitesten entfernt sind (Met. I 2, 982a24 f.), schrittweise vorarbeiten
mssen. Vielmehr macht Aristoteles hier auch eine Aussage ber den
ontologischen Rang der jeweiligen Gegenstnde der Erkenntnis: Was ,fr uns
bekannter‘ ist, nmlich die durch die Wahrnehmung erfaßten zuflligen
Eigenschaften eines Gegenstands, die ihm ,hier und jetzt‘ zukommen, ist
zugleich dasjenige, was ,an sich unklarer‘ oder ,der Natur nach weniger
bekannt‘ ist.67 Entsprechend gilt: Was ,an sich bekannter‘ ist, nmlich die
Ursachen und Prinzipien, die Gegenstnden einer bestimmten Spezies
,immer und berall‘ zukommen und durch die erklrt werden kann, warum
dieser bestimmten Spezies bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen,
ist gleichzeitig dasjenige, was ,fr uns unklar‘ oder schwieriger zu erkennen
ist. Diese Unterscheidung kommt, wie in Kap. 1.2 schon kurz dargelegt
wurde, durch zwei Perspektiven zustande: Aus der Perspektive dessen, was
sich uns unmittelbar erschließt (,symbebekotische Perspektive‘), sind uns die
zuflligen Eigenschaften einer Sache bekannter als ihre Prinzipien. Aus der
Perspektive dessen, was ontologisch grundlegender und somit fr die Be-
grndung einer Tatsache oder eine Definition68 auch berzeugender ist
(,ousiale Perspektive‘), sind dagegen die Ursachen und Prinzipien bekannter.

wahrhaltens, sondern auf ihren spezifischen Gegenstand, dasjenige, was sich auch
anders verhalten kann (1mdewºlemom ja· %kkyr 5weim).
65 Wenn jemand hier einen ,guten Grund‘fr seine Meinung vorbringt und diese somit
zu ,Wissen‘macht, dann bleibt er in demselben Meinungs- oder Glaubenszustand, in
dem er vorher war. Er erfllt bloß eine von der epistemischen Gemeinschaft fest-
gelegte Rechtfertigungsbedingung, die ihn darin legitimiert, seine Meinung als
,Wissen‘ oder ,Wissensanspruch‘ zu deklarieren (vgl. Gerson 2009, 4 f.).
66 Vgl. Met. VII 3, 1029b4: di± t_m Httom cmyq¸lym v¼sei
67 Vgl. Phys. I 1, 184a19 f.; De an. II 2, 413a11; Met. VII 3, 1029b4. Aristoteles spricht
hier auch von kognitiven Zustnden, die weniger Genauigkeit besitzen (An. Post. II
19, 99b33 f.).
68 Vgl. Top. VI 4, 141b5 – 19.
206 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Ontologisch gesehen besteht also eine Abstufung zwischen Prinzipien und


zuflligen Eigenschaften: „Das fr jeden Einzelne Bekannte und Erste ist oft
nur schwach (an sich) erkennbar und besitzt wenig oder nichts vom Sei-
enden“ (Met. VII 3, 1029b8 ff.).69 Diese Abstufung wird von Aristoteles nun
aber nicht im Sinne zweier vollkommen getrennter ontologischer Bereiche,
dem des Essentiell-Notwendigen und dem des Akzidentell-Zuflligen,
konzipiert.70 Vielmehr wird der Unterschied zwischen dem Notwendigen
und dem Akzidentellen in Form verschiedener Arten von Eigenschaften,
nmlich essentiellen und zuflligen, in den Gegenstand selbst verlegt, so daß es
von demselben Gegenstand in jeweils anderer Hinsicht doxa und epistÞmÞ
geben kann (An. Post. I 33). Das Voranschreiten (metabainein) aus dem
kognitiven Zustand der Wahrnehmung oder der Meinung (doxa) in den des
Wissens (epistÞmÞ) oder der Einsicht (nous) ist also durchaus ein berstieg aus
dem Bereich des Zuflligen in den des Notwendigen und Prinzipiellen –
allerdings ein immanenter, der innerhalb des Gegenstands bleibt und an
diesem verschiedene Arten von Eigenschaften erfaßt.71

69 t± d’ 2j²stoir cm¾qila ja· pq_ta pokk²jir Aq´la 1st· cm¾qila, ja· lijq¹m C oqh³m
5wei toO emtor. Aristoteles kennt innerhalb seiner Metaphysik Rangunterschiede, die
sich aus der Erfllung bestimmter Eigenschaften ergeben und durch Komparati-
onsformen von t¸liom, !cahºm oder he?om zum Ausdruck gebracht werden: So stellt
nach Met. VI 1 die gçttliche Substanz die „wrdigste Gattung“ des Seienden dar
(1026a21), da sie abgetrennt (wyqistºm) und unvernderlich (!j¸mgtom) ist; in-
nerhalb der Wissenschaften nimmt daher die Theologie den ersten Rang ein. Die
Wrde des Gegenstands bemißt sich hier in erster Linie an der Eigenschaft des
Abgetrenntseins: Wenn es nmlich neben den natrlichen Substanzen keine andere
geben wrde, wrde die Physik und nicht die Mathematik den ersten Platz bean-
spruchen (1026a27 ff.); innerhalb der mathematischen Wissenschaften steht die
Astronomie am hçchsten, weil sie sich mit den selbstndigen ewigen Substanzen
beschftigt (Met. XII 8, 1073b5 – 8; vgl. Liske 2005, 102 f.). Fr andere ,Wrde-
zuschreibungen‘ vgl. Part. an. I 5; Resp. 477a14 – 25; Gen. an. II 3, 736b32 f.; Protr.
B 23, B 61.
70 Zu dieser traditionellen Interpretation einer mit einer ,Zwei-Welten-Ontologie‘
korrelierten Epistemologie bei Platon vgl. Cornford 1935, dagegen Ebert 1974.
71 Wieland (1992) ist hier insofern zuzustimmen, als es sich nicht um einen berstieg
aus einer ,subjektiven Erkenntnisordnung‘ in eine ,objektive Seinsordnung‘ handelt
und man in beiden Stadien stets auf denselben Gegenstand bezogen bleibt: „Das, was
zunchst uns bekannter ist und was spter von Natur aus bekannter ist, bezieht sich
auf ein und dieselbe Sache – nur daß sie das eine Mal aus Prinzipien erkannt ist, das
andere Mal noch nicht […] Denn auch was uns zunchst bekannt ist, ist die ,Sache
selbst‘, nur ist sie noch nicht erkannt“ (73). Wenn man Aristoteles’ Verstndnis von
der Natur des Wissens als extensional auffaßt, ist hier dennoch von einem berstieg
im eigentlichen Sinn zu sprechen, nmlich aus dem ,akzidentellen Vorhof‘ in den
,essentiellen Kern‘ der Sache. Gegenber Wieland ist zu bezweifeln, wie das ,an sich
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ 207

Ontologisch wird nun dieser Hiat zwischen ,akzidentellem Vorhof‘ und


,essentiellem Kern‘ durch die notwendigen Akzidentien oder per se-Akzi-
dentien (t± jah’ art± sulbebgjºta) berbrckt: Jede konkrete Substanz
besitzt neben ihren essentiellen und zuflligen Eigenschaften auch ,not-
wendige Akzidentien‘: Sie kommen einer bestimmten Art notwendig zu – in
ihrer Definition kommt das Subjekt, dem sie zukommen, vor (An. Post. I 4,
73a37 ff.) –, ohne fr diese aber wesentlich bzw. definitorisch relevant zu
sein. Diese aus dem Wesen eines Gegenstands ,abgeleiteten Eigenschaften‘72
sind gewissermaßen die ,Auslufer‘ der substantiellen Form innerhalb des
Bereichs des Kontingent-Mannigfaltigen und bilden einen „Zwischenbe-
reich, in dem sich sulbebgjºr und jah’ artº durchdringen“.73 Als solche
machen die per se-Akzidentien berhaupt erst eine Wissenschaft des Em-
pirischen mçglich, insofern die empirisch feststellbaren notwendigen, aber
nicht-essentiellen Eigenschaften die demonstranda eines apodeiktischen
Zusammenhangs bilden: Sie sind jene Eigenschaften, deren notwendiges
und schlechthin allgemeines Zukommen jede Wissenschaft (epistÞmÞ) aus
der Kenntnis der Ursache ihres Gegenstands beweisen muß.74 Wissen im
Sinne der epistÞmÞ beschrnkt sich dann nicht mehr auf ein bloß definito-
risches Wissen – d. h. auf die Kenntnis der essentiellen Eigenschaften einer

Bekanntere‘ in unserem Sprechen oder unserem Vorverstndnis ber die Sache


enthalten sein soll (79, 85, 97). In diesem Sinn kann auch gegenber der koh-
rentistischen Interpretation von Nussbaum (1986) geltend gemacht werden, daß der
Wissenserwerb nicht bloß in der richtigen Ordnung der phainomena besteht, in der
zwischen tiefen und abgeleiteten Meinungen unterschieden wird, sondern in einem
wirklichen berstieg des ,fr uns Bekannteren‘ auf das ,an sich Bekanntere‘ hin.
72 Vgl. Ross 1924, 349: „which yet flows from the nature of the subject“. In der
Tradition spricht man auch davon, daß diese notwendigen Eigenschaften durch die
Prinzipien der Substanz verursacht sind, whrend die zuflligen Eigenschaften ihre
Ursache in der konkreten Materie haben vgl. Thomas von Aquin, De ente et essentia
c.6.
73 Vgl. Tugendhat 1958, 50.
74 Vgl. An. Post. I 7, 75b1 f.; I 10, 76b3 f.; I 22, 84a11 f.; Part. an. I 5, 645b1 f.; Met. III
2, 997a19 ff. Hierzu Tugendhat 1958: „Indem das sulbebgjºr das jah’ artº in sich
aufnimmt, das ursprnglich die Prsenz als solche im Gegensatz zum sulbebgj´mai
auszeichnet, wird durch das sich daraus ergebende sulbebgj¹r jah’ artº der Boden
gelegt fr die in den Zweiten Analytiken entwickelte neue Form von Wissenschaft,
deren Wesen nicht mehr darin besteht, das Einfache bloß als solches definitorisch zu
schauen, sondern in seiner Zwiefltigkeit und d. h. seinem Vorliegen zu begrnden“
(37); „Eben darin unterscheidet sich aber gerade das neue eWmai jat± sulbebgjºr
vom bisherigen, daß das em, von dem es gesagt wird, sich nicht in der Prsenz, die es
jah’ artº ist, erschçpft, sondern von sich aus auf die Mannigfaltigkeit weiterer
Bestimmungen angelegt ist“ (52).
208 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Sache, wie sie in der unvermittelten Prmisse eines Beweises logisch entfaltet
werden –, sondern bezieht sich auf ein komplexes ontologisches Feld, in dem das
Zukommen bestimmter Merkmale, die einer Art als solcher zukommen, aus
ihren essentiell-urschlichen Strukturen erklrt wird.
Aristoteles kennt aber nicht nur auf der ontologischen Ebene eine Brcke
zwischen aisthÞta und epistÞta, sondern auch auf der Seite der kognitiven
Zustnde, was fr die Interpretation von An. Post. II 19 von entscheidender
Bedeutung ist: Die per se-Akzidentien sind schon der Erfahrung (empeiria)
zugnglich, wenn auch nur in der Weise, daß die Erfahrung ein bloß
komparativ-allgemeines Zukommen einer Eigenschaft feststellen kann, das
auf einer endlichen Zahl frherer Beobachtungen basiert. Wir wissen in
diesem Stadium noch nicht, ob allen Individuen dieser Art diese Eigenschaft
notwendig zukommt, ob es sich also um eine Allgemeinheit im strengen Sinn
(von An. Post. I 4, 73b26 f.) handelt. Das wissen wir erst, wenn wir das Wesen
der Sache oder ihr Prinzip erkannt haben: Hier wird das Prinzip in seiner
internen Struktur verstanden, wodurch wir auch erkennen, in welchen
notwendigen Eigenschaften sich dieses Prinzip im Gegenstand niederschlgt
und wie diese Eigenschaften mit dem Prinzip kausal zusammenhngen. Eine
in der Erfahrung als wiederkehrend festgestellte Eigenschaft kann sich also
nach dem Erkennen des Wesens, quasi in ,ousialer Perspektive‘, als eine
notwendige herausstellen. Damit kçnnen wir aber schon in der Erfahrung,
wenn auch unbewußt, die ,urschlichen Auslufer‘ des Wesens erfassen,
betreten also schon hier den Boden der epistÞta, wenngleich wir jene erst im
Licht des Prinzips oder Wesens als solche erkennen. Die per se-Akzidentien
sind aber nicht nur dasjenige, in deren Wissen sich die schon erworbene
Prinzipien- oder Wesenserkenntnis ußert – wenn man also die Ursache
kennt, warum sie einer bestimmten Art notwendig zukommen –, sondern
sind auch umgekehrt fr die Kenntnis der Prinzipien relevant: Haben wir
diejenigen Eigenschaften, die sich uns an Gegenstnden einer bestimmten
Art innerhalb der Erfahrung als immer wiederkehrende prsentieren, hin-
reichend untersucht, so daß wir von ihnen Erklrungen geben kçnnen, dann
erçffnet uns dieses Wissen nach Aristoteles auch ein Wissen ber die Ur-
sachen dieser notwendigen Eigenschaften.75 Ohne an dieser Stelle genauer

75 „…sondern auch die Eigenschaften leisten umgekehrt einen großen Beitrag zum
Wissen des ,Was es ist‘: Denn wenn wir in der Lage sind, ber die Eigenschaften, wie
sie uns erscheinen, Erklrungen geben zu kçnnen, entweder ber alle oder die
meisten, dann werden wir auch ber das Wesen am besten Erklrungen geben
kçnnen“ (De an. I 1, 402b21 – 25). Die Przisierung „ber alle oder die meisten“
weist auf die Erfahrung hin.
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ 209

ausfhren zu kçnnen, wie Aristoteles diesen allgemeinen methodologischen


Grundsatz etwa in seiner Theorie der Seele oder in anderen Disziplinen
einlçst, kann man hier doch so viel sagen: Aristoteles deutet ein induktives
Verfahren an, in dem wir – im Sinne des ,Beweis des Daß‘ (An. Post. I 13) –
aus einer Wirkung auf ihre Ursache zurckschließen. Die Ursache wird hier
bloß in ihrer Existenz erschlossen (oder auch „erjagt“: An. Post. I 31, 88a3 f.),
nicht aber schon wie im ,Beweis des Warum‘ in ihrer internen Struktur
verstanden. Man weiß induktiv, daß x die Ursache oder das Prinzip fr p sein
muß, aber man kennt x selbst noch nicht; x ist einem ,an sich’ noch weniger
bekannt als p. Um ein Prinzip als Prinzip zu erkennen, d. h. die Weise, wie es
,arbeitet’ oder wie es mit dem Prinzipiierten verflochten ist, bedarf es, wie
Kosman und Detel zu Recht betonen, der demonstrativen Praxis76, in der
sich Prinzipien als erklrungskrftig zeigen.77
Diese durch die Erfahrung gewhrleistete epistemologische Brcke ist
berhaupt erst dadurch mçglich, daß das Denken (im generischen Sinn von
De an. III 3, 427b15 f.) in den Bereich des Kontingenten hineinreicht. Die
beiden Typen des Erkennens, Wahrnehmen und Denken, sind gerade nicht
mit zwei strikt voneinander getrennten Gegenstandsbereichen korreliert: Im
Modus der doxa und der phronÞsis kann sich der Intellekt auch auf das
Kontingente beziehen, indem er dieses begrifflich charakterisiert und dar-
ber ein Urteil fllt. Trotz des wesentlichen Unterschieds zwischen aisthÞta
und epistÞt ist damit eine Kontinuitt zwischen den verschiedenen kogni-
tiven Zustnden oder Kenntnissen in An. Post. II 19 garantiert.
An dieser Stelle gewinnen wir ein weiteres Argument gegen die These,
Aristoteles vertrete eine empiristische Epistemologie, in welcher man den
Anspruch, die Prinzipien erfaßt zu haben, durch einen induktiven Rckgang

76 Damit zeigt sich, daß der Beweis auch schon am Erwerb der Prinzipienkenntnis
beteiligt ist und nicht bloß aus dieser resultiert: zum einen als , Beweis des Daß’ (An.
Post. I 13), der von einem ,fr uns bekannteren’ Phnomen auf die Existenz der ,an
sich bekannteren’ Ursache zurckschließt, zum anderen in der Weise des Kon-
struierens mçglichst erklrungskrftiger ,Beweise des Warum’, durch die wir die
Prinzipien als solche verstehen. Vgl. Kosman 1973, 389: „For the way in which we
come to see whether explanations are explanations, i. e. come to recognize principles
as principles, just is the act of explaining. Ultimately for Aristotle the process by
which we explain is the process by which we acquire and grow to understand
principles; it is in employing them in the act of explanation that we come to see their
truth, recognize their explanatory power, and thus understand them qua principles.“
77 Im Unterschied zu Detel vertrete ich die Meinung, daß die demonstrative Praxis
nicht dazu dient, ein Prinzip erst als solches zu etablieren oder die Prinzipienkenntnis
berhaupt erst zu rechtfertigen. Vielmehr zeigt es sich in der demonstrativen Praxis,
daß man im Zustand der Prinzipienkenntnis ist.
210 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

auf basale Wahrnehmungseindrcke rechtfertigt. Das wrde nmlich be-


deuten, daß man den Anspruch, etwas ,an sich Bekannteres‘ erkannt zu
haben, durch etwas ,an sich Unbekannteres‘ oder ,Unklareres‘ begrnden
mßte. Das wre aber nicht nur, wie wir gleich sehen werden, Indiz man-
gelnder Bildung (apaideusia). Vielmehr ist es fr Aristoteles unmçglich, daß
auf diese Weise Wissen im eigentlichen Sinn zustandekommt: „Dann
nmlich hat jemand Wissen, wenn er auf bestimmte Weise berzeugt ist und
ihm die Ausgangspunkte (archai) bekannt sind. Sind ihm diese nicht be-
kannter als die Schlußfolgerungen, wird er das Wissen nur zufllig haben“
(EN VI 3, 1139b33 ff.; bers. Wolf ). In diesem Fall wrde keine ,wis-
senschaftliche Vorgehensweise‘ vorliegen (Top. VI 4, 141b15 ff.). Die
Prinzipien gewinnen ihren epistemischen Status nicht durch etwas Rang-
niederes, vielmehr sind sie ,durch sich selbst bekannt‘ oder ,berzeugend‘
(Top. I 1, 100b1 f.; Phys. II 1, 193a3 – 6), d. h. sie kçnnen nur durch etwas
von demselben ontologischen Rang expliziert werden, nmlich in einer
,unvermittelten Prmisse‘.78 Die Wahrnehmung und das auf ihr aufbauende
induktive Verfahren kçnnen also nur ein notwendiges Hilfsmittel sein, um in
den kognitiven Zustand der Prinzipienkenntnis zu gelangen79, nicht aber ein
Legitimationsgrund dafr, eine bestimmte Meinung als Wissen zu dekla-
rieren. Die Vielzahl hnlicher Beobachtungen ist nicht der Grund, um die
Einsicht in einen allgemein-urschlichen Zusammenhang zu legitimieren,
sondern die Ursache, durch die man in den Zustand der Prinzipien-Kenntnis
gelangt. Wahrnehmung und Induktion fhren zu dieser Kenntnis hin (ep-
agein) oder plausibilisieren diese nachtrglich80, kçnnen aber nicht deren
Wahrheit rechtfertigen.81 Fr Aristoteles ist die Rechtfertigung nicht kon-
stitutiv fr die epistÞmÞ; wir mssen nicht eine bestimmte Art von Recht-
fertigung – im Sinne einer,epistemischen Pflicht‘ – geben, um eine Meinung
als Wissen bzw. Wissensanspruch bezeichnen zu drfen. Vielmehr ist das
Geben einer Erklrung eine Konsequenz daraus, daß man in einem be-

78 Vgl. Burnyeat 1981, 111.


79 Vgl. An. Post. I 31, 88a3 f.: „Aber dennoch wrden wir aus dem (aufmerksamen)
Beobachten, daß dies oft geschieht, das Allgemeine erjagend einen Beweis haben“
(88a3 f.).
80 Vgl. Met. VI 1, 1025b11: aR l³m aQsh¶sei poi¶sasai aqt¹ d/kom
81 An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die von Aristoteles vorgesehene berprfung
und Korrektur unserer Wahrnehmungsinhalte durch die Vernunft (vgl. Kap. 4.4)
auch ohne die Einfhrung apriorischer Inhalte auskommt: Die Einsichten der
Vernunft werden zwar im Ausgang von der Wahrnehmung erworben, aber nicht
durch diese legitimiert: Wenn wir im Zustand der epistÞmÞ und des nous sind, dann
sind diese als solche unabhngig von ihrer perzeptuellen Basis.
5.3 Vom ,fr uns Bekannteren‘ zum ,an sich Bekannteren‘ 211

stimmten kognitiven Zustand ist.82 Das Wissen ist diskursiv einlçsbar, was
sich zum einen darin zeigt, von den Prinzipien selbst eine nicht-demon-
strative Erklrung geben zu kçnnen, indem man deren interne Struktur in
einer essentiellen Prdikation bzw. einer ,Definition des Unvermittelten‘
freilegt. Diese Erklrung bewegt sich auf derselben Rangstufe wie das Prinzip
selbst, der Ebene des ,an sich Bekannteren‘. Zum anderen ußert sich die
Prinzipienerkenntnis in der Fhigkeit, berzeugende Erklrungen fr das
Zukommen der notwendigen Akzidentien zu einer bestimmten Gattung zu
geben (De an. 402b25 – 403a2); in dieser explanatorischen Leistung – und
nicht in einem besonderen Evidenzerlebnis – zeigt sich erst ein Prinzip als
Prinzip. Schließlich zeigt sich die Prinzipienkenntnis auch an der Fhigkeit
zu lehren, die ja von der Kenntnis der Ursachen abhngt (Met. I 2,
982a28 ff.).
Dennoch sind Aristoteles das ,Fordern einer Begrndung‘ (kºcom
!nioOm) wie das ,Geben einer Begrndung‘ (kºcom didºmai) nicht unbekannt.
Beide sind jedoch nicht intrinsischer Teil seiner Konzeption von epistÞmÞ,
sondern Gegenstand der Bildung (paideia).83 Sie ist neben dem demon-
strativen Wissen eine bestimmte Weise (tropos) kognitiver Kompetenz in
einem bestimmten Wissensbereich (Part. an. I 1, 639a1 – 5).84 Nimmt man
die vielen verstreuten Bemerkungen zur paideia zusammen, lßt sich sagen,
daß der ber paideia Verfgende beurteilen kann, was einen Beweis erfordert
und was nicht und wenn ja, in welcher Weise. Als eine solche ,wissen-
schaftstheoretische Tugend‘ zeigt sich die paideia in folgenden Fllen: (i)
Dinge, die berhaupt keines Beweises bedrfen. So ist es fr Aristoteles ein
Mangel an Bildung, fr den Satz vom Widerspruch als „das sicherste unter
allen Prinzipien“ (Met. IV 3, 1005b22 f.) einen Beweis zu verlangen:
„Manche verlangen nun aus Mangel an Bildung (!paideus¸a), daß man auch
dies [nmlich den Satz vom Widerspruch, S.H.] beweist: Denn Mangel an
Bildung ist es, nicht zu wissen, wofr ein Beweis zu suchen ist und wofr nicht.
Denn gnzlich ist es unmçglich, daß es von allem einen Beweis gibt (denn das
wrde ins Unendliche gehen, so daß es so keinen Beweis geben wrde)“ (Met. IV
4, 1006a5 – 9).

82 Vgl. Gerson 2009, 6, 29.


83 Hierzu grundstzlich Detel 2004, 13 f.
84 „Bei jeder Art von theoretischer Einsicht und jedem Forschungsgebiet, mçgen sie
banaler oder angesehener sein, gibt es offensichtlich zwei verschiedene Weisen, in
denen man sie zu eigen haben kann, von denen man die eine zu Recht (wissen-
schaftliche) Sachkenntnis nennt, die andere Bildung von einer bestimmten Art (d¼o
va¸momtai tqºpoi t/r 6neyr eWmai, ¨m tμm l³m 1pist¶lgm toO pq²clator jak_r 5wei
pqosacoqe¼eim, tμm d’ oXom paide¸am tim²)“ (bers. Kullmann).
212 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Dennoch ist es mçglich, dieses hçchste Prinzip durch einen elenchos zu


rechtfertigen (Met. IV 4, 1006a11 – 18). Ebenfalls lcherlich ist es, einen
Beweis dafr zu suchen, daß es physis gibt. Dies ist vielmehr ,offensichtlich‘
(phaneron); wer aber Offensichtliches durch Nicht-Offensichtliches be-
weisen will, kann nach Aristoteles nicht beurteilen (krinein), was „durch sich
selbst und was nicht durch sich selbst bekannt“ ist (t¹ di’ art¹ ja· lμ di’ art¹
cm¾qilom : Phys. II 1, 193a3 – 6). Die Unbeweisbarkeit gilt auch fr den
Zustand des Gesundseins und Wachens: Wer an der Mçglichkeit zweifelt,
daß es eine ,kanonische Menge‘ gibt, die entscheidet, wer gesund und wer
berhaupt der richtig Beurteilende (jqimoOmta aqh_r) ist und dafr einen
Beweis fordert, der gleicht dem, der fragt, ob wir jetzt schlafen oder wachen
(Met. IV 6, 1011a4 – 7). Alle diese Zweifel lassen sich auf denselben Fehler
zurckfhren:
„Diese Leute verlangen, daß es fr alles eine Begrndung (kºcor) gebe; denn sie
suchen ein Prinzip und wollen dieses durch einen Beweis (!pºdeinir) erfassen
[…] sie suchen eine Begrndung fr etwas, wofr es keine Begrndung gibt;
denn das Prinzip des Beweises ist nicht ein Beweis“ (Met. IV 6, 1011a8 – 13;
bers. Szlezk).
Damit fallen auch diese skeptischen Fragestellungen unter den Mangel an
Bildung (!paideus¸a). (ii) Dinge, die in einem unterschiedlichen Modus be-
grndbar sind. Hierunter fallen die Aussagen zur „gegenstandsgerechten
Genauigkeit“85 : Whrend in der Mathematik Beweise im Modus der
strengen Notwendigkeit ihrem Gegenstand angemessen sind, sind es in den
Wissenschaften, die sich auf das Kontingente beziehen, nur Begrndungen
im Modus des hs epi to poly (vgl. auch Met. II 3, 995a12 – 17).
„Denn einen gebildeten Menschen erkennt man daran, daß er in jeder Gattung
der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht, wie die Natur der Sache zulßt: Von
einem Mathematiker bloße Plausibilittsargumente zu akzeptieren ist hnlich
verfehlt, wie von einem Redner strenge Beweise zu verlangen“ (EN I 1,
1094b23 – 27; bers. Wolf )
Außer dieser Beurteilungsfhigkeit unterschiedlicher Beweisbedrftigkeit
fllt unter die paideia auch die Kompetenz zu beurteilen, ob etwas in me-
thodischer Hinsicht treffend dargelegt ist oder nicht (Part an. I 1, 639a6 f.).

85 Hierzu Hçffe 1996, Teil II.


5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien 213

5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien


In der Frage, wie wir von der Erfahrung in den kognitiven Zustand der
Prinzipienkenntnis kommen, in dem wir wissen, warum einer bestimmten
Art bestimmte Eigenschaften notwendig zukommen, scheint es so zu sein,
daß sich Aristoteles auf der theoretischen Ebene – also im Sinne einer all-
gemeinen Reflexion auf die epistemische Praxis – nicht festlegt. Aus meh-
reren Stellen wird deutlich, daß er fr die Prinzipienforschung eine Vielzahl
von Methoden vorsieht86, die sich jeweils nach der Art des Gegenstands
richten: „Man darf auch nicht berall die Ursache auf die gleiche Weise
suchen“ (EN I 7, 1098a33 f.; bers. Wolf ); „Denn man muß fr jedes
einzelne Gebiet herausfinden, welches die (angemessene) Weise (der Be-
handlung) ist“ (De an. I 1, 402a18 f.). Diese Leerstelle innerhalb seiner
Theorie des Wissenserwerbs zeigt sich nicht nur in der Lcke zwischen
empeiria und dem ,Prinzip von Kunst und Wissenschaft‘ in An. Post. II 19,
sondern auch in der Vieldeutigkeit des Begriffs der epaggÞ 87: Hat es
manchmal den Anschein, daß es sich hier bloß um eine nachtrgliche
Verdeutlichung eines allgemeinen Gesichtspunkts an einzelnen Fllen
handelt88, so kçnnte man ebenso gut den Eindruck gewinnen, die Induktion
sei in einer anspruchsvolleren Weise zu verstehen, nmlich als ein Mittel, das
uns zur Erkenntnis der Ursache hinfhrt.89 Hier fllt grundstzlich auf, daß
Aristoteles zwar einen ,wissenschaftlichen Schluß‘ (syllogismos epistÞmoni-
kos), nmlich den Beweis (apodeixis), kennt (An. Post. I 2, 71b17 f.), der in
den Zustand des demonstrativen Wissens (epistÞmÞ) fhrt, nicht aber
komplementr zu diesem eine ,wissenschaftliche Induktion‘ (also eine ep-
aggÞ epistÞmonikÞ), die in den Zustand der Prinzipienkenntnis (nous) fhrt.
Diese Stelle bleibt also leer und muß je nach Art des Gegenstands durch
verschiedene Verfahrensweisen gefllt werden; wir sind auf die jeweiligen
Einzeldisziplinen verwiesen. Dennoch zeigte sich im Lauf der bisherigen
Untersuchung, daß sich einige allgemeine Richtpunkte fr diesen metho-
disch geregelten bergang zur Prinzipienkenntnis herausarbeiten lassen:
Aus Aristoteles’ Charakterisierung der Prinzipien eines Beweises (An. Post. I
2, 71b20 – 23) lassen sich nmlich zwei Stufen der Erkenntnis eines Prinzips

86 Top. I 2; EN I 7; De an. I 1. Hierzu Wieland 1992, 52 f.


87 Ross 1949, 48: „He uses the word to mean a variety of mental processes, having only
this in common, that in all there is an advance from one or more particular jud-
gements to a general one.“ Vgl. auch Wieland 1992, 100.
88 Vgl. An. Post. I 1, 71a8 f.; Met. VI 1, 1025b15 f.
89 Vgl. An. Post. I 18; II 19, 100b4; EN I 1, 1095a31 f.; VI 3, 1139b27 – 31.
214 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

gewinnen, die Kosman als Erkenntnis der bloßen Wahrheit oder Existenz
eines Prinzips und der Erkenntnis des Prinzips als Prinzips – insofern man
hier erkennt, in welcher Weise das Prinzip dem Prinzipiierten zugehçrig ist –
unterschieden hat.90 Fr die erste Stufe kçnnen wir gemß An. Post. I 13 den
,Beweis des Daß’, dessen Unterprmisse durch Induktion gewonnen wird (I
13, 78a34 f.), annehmen, durch den wir ausgehend von bestimmten Wir-
kungen die Existenz einer bestimmten Ursache erkennen (oder „erjagen“: I
31, 88a3 f.). Dieses Wissen findet aber erst dann seine Vollendung, wenn
man die urschlichen Beziehungen zum Verursachten durchschaut und
damit die Fhigkeit besitzt, Tatsachen in einem bestimmten Bereich durch
jene Ursache zu erklren. Erst dann hat man ein Prinzip als Prinzip erkannt.
Fr diese beiden Stufen der Prinzipienerkenntnis ist nun in bestimmten
Bereichen das Erfahrungswissen in besonderer Weise relevant. Abschließend
sollen hierfr kurz zwei Beispiele angefhrt werden und daraufhin befragt
werden, welche epistemische Rolle hier die generalisierten Beobachtungen
spielen.
Es ist eine grundlegende methodische Maxime des Aristoteles, zuerst die
Tatsachen oder Phnomene (t¹ fti, t± vaimºlema) festzustellen und erst
dann nach den Ursachen (t¹ diºti) dieser Phnomene zu fragen.91 (Ich werde
mich im Folgenden auf die empirischen Phnomene beschrnken, von denen
die einzelnen Wissenschaften der wahrnehmbaren Substanzen ausgehen,
und die phainomena im Sinne der akzeptierten Meinungen92 und die mit
diesen verbundenen Verfahren93 ausklammern.) Die phainomena sind nun
alles andere als ein primitiv Gegebenes, sie stellen vielmehr jene generali-
sierten Beobachtungen dar, die wir schon als Inhalt der empeiria kennen-
gelernt haben (An. Pr. I 30, 46a17 – 27).94 Nach Aristoteles muß die fr jede
Wissenschaft konstitutive Warum-Frage (t¹ di± t¸) immer an eine gegebene
Tatsache und nicht an einen bloßen Gegenstand gerichtet sein (Met. VII 17,

90 Kosman 1973, 383.


91 Fr diese Maxime vgl. An. Post. II 1; II 2, 89b23 – 31; II 8, 93a17 ff.; Part.an. I 1,
639b9 ff., 640a14 f.; I 5, 645b2 f.
92 Vgl. EN VII 1, 1145b3, hierzu genauer Owen 1961, 84 ff. Fr eine explizite Un-
terscheidung dieser beiden Bedeutungen von phainomena vgl. Cael. III 4, 303a22 f.:
pokk± t_m 1mdºnym ja· t_m vaimol´mym jat± tμm aUshgsim
93 Hierzu Rapp 2002 II, 300 – 308.
94 Aristoteles ordnet dem ,Wissen des Daß‘ (eQd´mai t¹ fti) und dem ,Wissen des
Warum‘ (t¹ diºti) zwei verschiedene Teile innerhalb einer Wissenschaft oder sogar
zwei verschiedene Wissenschaften zu (An. Post. I 13): So versorgt etwa die Fak-
tensammlung (auch Rstoq¸a : Hist.an. I 6, 491a12) von den Himmelserscheinungen
die bergeordnete Astronomie mit den notwendigen Phnomenen (t± vaimºlema
pq¹r !stqokocij¶m : 78b39; B !stqokocijμ 1lpeiq¸a : An. Pr. 46a19 f.).
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien 215

1041a10 f.). Die Phnomene mssen also schon immer in der Zweiglied-
rigkeit des t· jat± timºr gegeben sein, damit eine sinnvolle Untersuchung
mçglich wird. Solche Phnomene, die in dieser Zweigliedrigkeit den Ge-
genstand der Forschung bilden, beinhalten nicht bloß irgendwelche Ei-
genschaften der Gegenstnde, sondern, wie wir schon sahen, notwendige
Eigenschaften. So formuliert Aristoteles in Part. an. I 1 seine methodische
Maxime folgendermaßen: „Es ist aber notwendig, zuerst die Eigenschaften
in jeder Gattung durchzugehen, welche allen Lebewesen an sich zukommen,
danach aber die Ursachen von diesen versuchen durchzugehen“ (Part. an. I 5,
645b2 f.; vgl. auch I 1, 639b9 ff.; 640a14 f.). Die phainomena kçnnen nun
in zwei Weisen fr den Weg zu den Prinzipien relevant sein.
(a) In den empirischen Wissenschaften des sublunaren Bereichs kçnnen
die Phnomene potentiell urschliche Tatsachen, also allgemein-urschliche
Zusammenhnge, enthalten. Daher ist es Aufgabe der Wissenschaft, die
Phnomene mçglichst vollstndig zu erheben, um dann die urschlichen
Beziehungen zwischen diesen Phnomenen zu entdecken; es geht also dann
darum zu prfen, welche Tatsachen unvermittelte (also nicht mehr be-
weisbare) essentielle Zusammenhnge beschreiben, die fr andere Tatsachen
urschlich sind.95 Als Methode hierfr ist die Suche nach immer hçheren
Mittelbegriffen anzusehen, die sich durch ihre Erklrungskraft als Prinzipien
zeigen kçnnen (An. Post. I 23).96
„Daher ist es Aufgabe der Erfahrung, die Prinzipien ber jedes Einzelne be-
reitzustellen. Ich meine z. B., daß die astronomische Erfahrung (die Prinzipien)
der astronomischen Wissenschaft (bereitstellt). Denn nachdem die Phnomene
hinreichend erfaßt wurden, wurden auf diese Weise die astronomischen Beweise
gefunden. Ebenso aber verhlt es sich auch bei jeder anderen Kunst und Wis-
senschaft: Wenn somit die Eigenschaften, die jedem einzelnen zukommen,
erfaßt worden sind, ist es dann unsere Aufgabe, unverzglich die Beweise
darzulegen. Denn wenn nichts gemß der Sachkunde von den wahrhaft den
Dingen zukommenden Eigenschaften ausgelassen wurde, werden wir imstande
sein ber alles, ber das ein Beweis mçglich ist, diesen zu finden und zu be-
weisen, von dem es aber von Natur aus kein Beweis gibt, dieses deutlich zu
machen“ (An. Pr. I 30, 46a17 – 27, bers. nach Kullmann).
In diesem Sinne kann auch der methodische Grundsatz aus der Niko-
machischen Ethik verstanden werden: „Man darf auch nicht berall die

95 Vgl. Kullmann 1998, 60 f: „Das bedeutet, daß das Sammeln der Fakten […] nur a
potiori als das Ermitteln der Prinzipien (!qwa¸) angesehen werden kann; d. h. nach
dem Sammeln von Fakten ist eine Prfung der Fakten notwendig. Man muß her-
ausfinden, welche Fakten als Beweise fr andere Fakten dienen kçnnen.“
96 Kullmann 1998, 61.
216 5. Die Wahrnehmung in Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs

Ursache auf die gleiche Weise suchen; in einigen Fllen gengt es vielmehr,
das Daß richtig aufgezeigt zu haben“ (I 7, 1098a33 ff.; bers. Wolf ); „Denn
Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird
nicht noch darber hinaus das Warum erforderlich sein“ (I 2, 1095b6 f.;
bers. Wolf ). In einigen Fllen enthlt also die Darlegung der Phnomene
implizit schon solche Tatsachen, die fr andere urschlich sind. Wichtig ist
hier die mçglichst vollstndige Feststellung der Tatsachen (t± rp²qwomta
peq· 6jastom : 46a23 ff.).
(b) In den Wissenschaften, die nur ber eine eingeschrnkte Beob-
achtungsbasis verfgen (Part. an. I 5, 644b22 – 645a4) und meistens nach
der hypothetisch-deduktiven Methode vorgehen, fungieren die phainomena
als fr die Theorie normierende Basis: Den Phnomenen kommt eine
epistemische Bedeutung hinsichtlich der Wahrheit der Theorie zu. So kri-
tisiert Aristoteles in der Frage nach der Position der Erde die Pythagoreer
dafr, daß ihre Theorie nicht den Phnomenen entspreche, sondern daß sie
vielmehr die Phnomene gewaltsam ihren eigenen Theorien und Mei-
nungen anpassen, indem sie eine ,Gegen-Erde‘ einfhren (Cael. II 13,
293a25 ff.).97 Der Grundfehler bestehe darin, daß sie das t¹ pistºm nicht aus
den Phnomenen gewinnen, sondern eher aus den Theorien (a29 f.).98 In
diesen Aussagen werden die wahrnehmbaren Phnomene nicht als Wis-
sensquelle behandelt, sondern nur als Besttigung einer im Sinne der hy-
pothetisch-deduktiven Methode vorausgesetzten Theorie; Grund hierfr ist
das nur eingeschrnkt zur Verfgung stehende empirische Material. Die
Phnomene sind fr die Wahrheit der Theorie normierend: Den Phno-
menen muß die Theorie Rechnung tragen (Cael. II 14, 297a4; Gen. an. III
10, 760b33) und sie darf die Phnomene nicht aufheben (Cael. III 4,
303a22 f.; Gen.corr. I 1, 315a4).

97 oq pq¹r t± vaimºlema to»r kºcour ja· t±r aQt¸ar fgtoOmter, !kk± pqºr timar kºcour
ja· dºnar art_m t± vaimºlema pqos´kjomter ja· peiq¾lemoi sucjosle?m.
98 t¹ pist¹m oqj 1j t_m vaimol´mym !hqoOsim !kk± l÷kkom 1j t_m kºcym. Hier ist es
schwierig, wie der Terminus t¹ pistºm zu bersetzen ist. Die bersetzung mit ,das
Glaubhafte‘ oder ,das Glaubwrdige‘ (vgl. Rhet. I 2, 1356b29; I 15, 1376b32) ist
hier zu schwach, da es sich scheinbar um so etwas wie einen ,normierenden Maßstab‘
handelt. Andererseits ist eine bersetzung mit ,warrant‘ oder,pledge‘ (LSJ 1408) im
Sinne einer ,Wahrheitsgarantie‘ oder eines ,Beweises‘ zu stark. Ich entscheide mich
daher fr ,Besttigung‘. Vgl. auch Owens Rede von den Phnomenen als einem
,Prfstein‘ (touchstone: Owen 1961, 90). Vgl. auch Gen. an. III 10, 760b31 ff.: !kk’
1²m pote kgvh0, tºte t0 aQsh¶sei l÷kkom t_m kºcym pisteut´om, ja· to?r kºcoir, 1±m
blokoco¼lema deijm¼ysi to?r vaimol´moir. Cael. I 7, 276a14 f.: toOto d³ pist¹m 1j
t/r 1pacyc/r
5.4 Von der empeiria zu den Prinzipien 217

In all diesen Fllen sind die Phnomene fr die Wissenschaft eine
epistemische und nicht bloß kausale Ausgangsbasis, die dafr aber in ihrer
Wahrheit berprft sein mssen: Aristoteles bestimmt als Ziel der Natur-
wissenschaft dasjenige Phnomen, was sich immer als fr die Wahrnehmung
maßgeblich oder autoritativ prsentiert (t´kor […] t/r d³ vusij/r t¹ vai-
mºlemom !e· juq¸yr jat± tμm aUshgsim : Cael. III 7, 306a17). Nur die Ph-
nomene, die auf zuverlssigen und (durch den Intellekt) gesicherten
Wahrnehmungen basieren, kçnnen also der ,Prfstein‘ (Owen) fr die
Wahrheit der Theorie sein. Ebenso mssen auch in anderen Bereichen die
endoxa hinreichend geprft, konsistent gemacht und etabliert sein (EN VII
1, 1145b2 – 7).
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus

Im Laufe der Untersuchung hat sich an mehreren Stellen gezeigt, daß wir
Aristoteles einen Empirismus in seinen beiden hauptschlichen Spielarten,
den Begriffs- und den Urteilsempirismus, nicht zuschreiben kçnnen. Ei-
nerseits ist die Wahrnehmung prinzipiell nicht in der Lage, als sinnliche
Belegbasis fr unsere gesamten berzeugungen ber die Welt zu fungieren:
Ihr Gehalt ist auf die idia und koina aisthÞta beschrnkt und sie unterliegt der
Beurteilung und Korrektur hçherer Vermçgen. Eine begriffliche Kompo-
nente, wodurch uns berhaupt erst singulre Tatsachen zugnglich werden
kçnnten, kommt erst innerhalb von Wahrnehmungsmeinungen (doxa)
zustande. Als eine Art des diskursiv-begrifflichen Denkens (dianoia) stellen
diese Wahrnehmungsmeinungen aber schon eine Ttigkeit des Intellekts dar
und sind damit kein letztes ,Gegebenes’ mehr. Außerdem hat sich gezeigt,
daß Aristoteles’ Verstndnis von der Natur des Wissens es nicht erlaubt, die
Wahrnehmung und das auf ihr basierende induktive Verfahren als Legiti-
mation fr die Prinzipienerkenntnis anzufhren: Die verschiedenen ko-
gnitiven Zustnde, angefangen von der Wahrnehmung bis hin zur Prinzi-
pienkenntnis (nous), sind bei Aristoteles durch ihre jeweiligen Gegenstnde
bestimmt; zwischen ihnen besteht ein extensionaler Unterschied. Die je-
weiligen Gegenstnde wiederum stehen bei Aristoteles in einer ontologi-
schen Hierarchie. Die Erkenntnis der grundlegenden Strukturen der
Wirklichkeit, das ,an sich Bekanntere‘, kann nicht durch etwas Rangnie-
deres, das ,an sich weniger Bekanntere‘, begrndet werden. Die Induktion ist
also lediglich ein Hilfsmittel, um in den kognitiven Zustand des nous zu
kommen, nicht aber ein Rechtfertigungsinstrument. Die Hufigkeit hn-
licher Beobachtungen, die wir durch methodisch geleitete Verfahren errei-
chen, kann uns ber die empeiria zu diesem kognitiven Zustand hinfhren,
ist aber nicht der Grund, der uns dazu berechtigt, uns einen solchen Zustand
zuzuschreiben. Daß wir in einem solchen Zustand sind, erkennen wir an
unserer Kompetenz, berzeugende Erklrungen fr eine bestimmte Tatsa-
che zu geben. Schließlich sind auch die phainomena, von denen jede Wis-
senschaft ausgehen muß und an denen sie sich im Sinne eines ,Prfsteins‘
(Owen) orientiert, alles andere als ein primitiv Gegebenes: Sie basieren
vielmehr auf generalisierten Beobachtungen, die begriffliche Leistungen
involvieren und in ihrer Zuverlssigkeit schon durch den Intellekt beurteilt
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus 219

wurden. Als solche bilden sie den Inhalt der empeiria; sie stellen fr Aristo-
teles eine bestimmte Form des Wissens, nmlich das Tatsachenwissen (ei-
denai to hoti), dar.
Wenn also die Wahrnehmung nicht die Rolle eines epistemischen
Fundaments spielen kann, das in einer begrndenden Relation zu anderen
Meinungen steht, wir also Aristoteles keinen fundamentalistischen Empi-
rismus zuschreiben kçnnen, sind wir dann gezwungen, die Beziehung
zwischen Wahrnehmung und Denken (im generischen Sinn) als eine bloß
kausale zu bestimmen? Ist die Wahrnehmung lediglich ein ,kausales Zwi-
schenstck‘ zwischen der Welt und unseren Meinungen ber sie?1 Wir
mßten dann Aristoteles’ Theorie des Wissenserwerbs als kohrentistisch
charakterisieren: Der Wissenserwerb wrde sich allein im Raum der dianoia
bzw. hypolÞpsis oder innerhalb der begrifflichen Schemata und der Sprache
abspielen und die verschiedenen Meinungen wrden ein Netz bilden, in-
nerhalb dessen sie sich gegenseitig sttzen.2 Die Wahrnehmung htte nur die
Aufgabe, die diskursiven Ttigkeiten in diesem ,logischen Raum der
Grnde‘ mit sensorischen Informationen zu versorgen und somit den
,Kontakt‘ zur Welt herzustellen. Doch Aristoteles widersetzt sich auch dieser
Einordnung, wie sich durch Rckgriff auf zwei Ergebnisse dieser Unter-
suchung zeigen lßt: (i) Zum einen folgt aus seiner gegenstandsorientierten
Wissenskonzeption, daß sich der Wissenserwerb in einem realen berstieg
aus dem Bereich des Zuflligen, den in der Wahrnehmung festgestellten
Akzidentien, in den Bereich des Notwendigen und Allgemeinen, den
grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit, vollzieht. Der Unterschied
zwischen dem ,fr uns Bekannteren‘ und dem ,an sich Bekannteren‘ be-
zeichnet einen realen Unterschied in der Sache selbst, der durch die per se-
Akzidentien berbrckt wird. Diesen Unterschied betont Aristoteles gerade
innerhalb seiner Kritik zirkulrer Begrndungen; fr Aristoteles muß die
Begrndungsrelation asymmetrisch sein (An. Post. I 3, 72b25 – 30). Die
Wissensgewinnung kann somit nicht in der bloßen Konsistenzprfung und
richtigen Anordnung der etablierten Meinungen (phainomena, endoxa) in
tiefere und abgeleitete bestehen. Vielmehr gelangen wir mittels methodisch
geregelter Verfahren in immer hçhere kognitive Zustnde, die sich auf je-

1 Vgl. Davidson 1987, 277: „Die Beziehung zwischen einer Empfindung und einer
Meinung kann nicht logischer Natur sein, denn Empfindungen sind weder Mei-
nungen, noch lassen sie sich mit irgendwelchen anderen propositionalen Einstel-
lungen identifizieren […] Es handelt sich um eine Kausalbeziehung. Empfindungen
sind die Ursache einer Reihe von Meinungen, und in diesem Sinne bilden sie tat-
schlich das Fundament oder die Basis fr jene Meinungen.“
2 Vgl. Nussbaum 1986.
220 6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus

weils hçherrangige Bereiche des Seienden beziehen. (ii) Zum anderen ist die
Wahrnehmung kein ,blinder‘ Informationslieferant, der bloß eine kausale
Rolle im Wissenserwerb spielen wrde. Das Wahrnehmen ist vielmehr
aufgrund der internen Komplexitt des zugrundeliegenden Vermçgens
schon eine unterscheidende Ttigkeit (krinein), die sich ihrer selbst in einer
nicht-begrifflichen Weise bewußt ist. Im Unterschied zum Theaitet, in dem
die Wahrnehmung eine Art unselbstndiges Werkzeug fr die Ttigkeit der
Seele ist, wird die Wahrnehmung von Aristoteles als ein unterscheidungs-
fhiges und reflexives Vermçgen bestimmt. Sie kann Qualitten verschie-
dener Sinne unterscheiden und einem bestimmten Gegenstand zuordnen.
Diese Ttigkeit ist der Wahrnehmung selbst bewußt und sie ist darin immer
auf das Ganze eines bestimmten aisthetischen Genus bezogen. Damit kann
ihr schon unterhalb der diskursiv-begrifflichen Ebene ein genuiner Welt-
zugang zugesprochen werden.3
Die Wahrnehmung ist fr Aristoteles ein Typ des Erkennens (gnrizein).
Als ein solches kognitives Vermçgen gewhrt sie uns eine spezifische Art der
Kenntnis (gnsis tis), von der aus dann durch die Beteiligung des Intellekts
innerhalb methodisch geleiteter epistemischer Handlungen komplexere
Arten von Kenntnissen entstehen, die andere Bereiche der Wirklichkeit,
nmlich das Allgemeine und Notwendige, zum Gegenstand haben. Der in
der Wahrnehmung gewhrte Weltzugang wird durch Begriffe bzw. ge-
dankliche Inhalte innerhalb von Wahrnehmungsmeinungen (doxa) be-
grifflich angereichert und hçheren kognitiven Vermçgen und Ttigkeiten
zur Verfgung gestellt. Der bergang von der Wahrnehmung in die Gattung
der dianoia bzw. hypolÞpsis, deren unteres Ende die doxa bildet, ist somit kein
mysteriçser Wechsel von einem ,logischen Raum der Natur‘ in einen ,lo-
gischen Raum der Grnde‘, sondern eine kontinuierliche Ausdifferenzie-
rung des in der Wahrnehmung begonnenen krinein. Die Wahrnehmung ist
als ein nicht-begriffliches, aber dennoch genuin kognitives, nmlich un-

3 Wir hatten schon gesehen, daß dieser aisthetische Weltzugang im Sinne eines di-
rekten Realismus interpretiert werden sollte; um seine Fallibilitt zu garantieren,
sind wir nicht zu einer reprsentationalistischen Modifikation des Kausalmodells
gezwungen. Mit einem solchen direkten genuin aisthetischen Weltzugang stellt sich
nicht wie im Kohrentismus die Frage, wie wir berhaupt wissen kçnnen, ob unsere
empirischen berzeugungen die Wirklichkeit ,treffen‘. Wenn man wie Aristoteles
davon ausgeht, daß die Wahrnehmung selbst einen genuinen Weltzugang besitzt
und dieser Weltzugang sekundr durch Begriffe bzw. Gedanken angereichert werden
kann, dann ergibt gar nicht erst das fr den Kohrentismus problematische Bild, aus
dem System der eigenen berzeugungen ,aussteigen‘ zu wollen, um ,nachzu-
schauen‘, ob alles mit ihnen in Ordnung ist.
6. Jenseits von Fundamentalismus und Kohrentismus 221

terscheidungsfhiges und nicht nur kausales Vermçgen unverzichtbare


Quelle des Wissens. Auf diese Weise kann bei Aristoteles die Gefahr des
Oszillierens der Erkenntnistheorie zwischen Kohrentismus und Funda-
mentalismus gar nicht erst aufkommen.
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I. Primrliteratur
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Index locorum1

Categoriae I 31, 87b28 – 39: 5 f.


7, 6b2 f.: 79 I 31, 87b29 f.: 76
7, 6b28 – 36: 79 I 31, 88a3 f.: 202 f., 209 f.
7, 7b15 – 22: 79 I 31, 88a4 ff.: 6
7, 7b36 – 8a9: 80 I 33: 206
II 8, 93a20 – 26: 193 f.
De interpretatione II 10, 93b29 – 35: 193 f.
16a3 – 8: 18 A 2 II 19: 7 – 9, 33 f., 41 A 101, 42, 44 f.
16a14 f.: 18 A 2 II 19, 99b36 – 100b5: 4 f., 195 – 198
16a15: 136 II 19, 99b36 – 39: 25, 199
16b20 f.: 168 A 91 II 19, 100a1 f.: 199
II 19, 100a3 – 8: 182, 200
Analytica priora II 19, 100a17: 76
I 27, 43a35 f.: 141 A 14 II 19, 100a14-b5: 192
I 30, 46a17 – 27: 214, 215 II 19, 100b5 – 17: 8
II 27, 70a6 f.: 49
Topica
Analytica posteriora I 1, 100b1 f.: 210
I 1, 71a8 f.: 34 I 1, 100b21 ff.: 41 A 102
I 1, 71a12 ff.: 194 I 2, 101a36-b4: 34
I 2, 71b9 – 12: 22 f., 26 II 10: 52
I 2, 71b11: 42 A 106 V 3, 131b23: 24
I 2, 71b20 – 23: 213 V 3, 131b27: 24
I 2, 71b21 f.: 27 VI 4, 141b5 – 19: 205 A 68, 210
I 2, 71b33 – 72a5: 30, 204
I 2, 72a3 f.: 37 Sophistici elenchi
I 2, 72a29 – 32: 29 179a1 ff.: 141
I 3, 72b5 – 30: 31 f. 179a37 ff.: 141
I 4, 73a37 ff.: 207
I 4, 73b26 f.: 26 A 42, 35, 200 f., 208 Physica
I 9, 76a26 ff.: 38, 43 I 1, 184a21 – 26: 133
I 13: 30 f., 209 II 3, 195a32 – 35: 139
I 13, 78a34 f.: 214 II 5, 196b28 f.: 140
I 18: 3 f. III 1, 201a23 ff.: 81 A 76
I 19, 81b25 – 29: 142 III 2, 202a6 – 9: 81 A 76
I 22: 142 VII 2, 244b12 – 245a2: 61
I 23, 84b35 f.: 42 VII 2, 245a4 – 9: 81 A 78

1 Kursiv gedruckte Seitenzahlen verweisen auf Stellen, an denen sich eine bersetzung
und Diskussion der jeweiligen Passage finden.
Index locorum 231

De caelo III 1, 425a21 – 24: 161 f.


II 13, 293a25 ff.: 216 III 1, 425a22 – 27: 130
II 14, 297a4: 216 III 1, 425a25 ff.: 143
III 4, 303a22 f.: 216 III 1, 425a27 f.: 131
III 7, 306a17: 217 III 1, 425a30 f.: 105, 129 f.
III 1, 425a30-b2: 171 – 173
De generatione et corruptione III 1, 425b2: 122
I 1, 315a4: 216 III 1, 425b4 – 11: 105
I 6, 322b22 ff.: 81 III 2, 425b12 – 25: 122 f., 158
I 7, 323b32 ff.: 63 A 19 III 2, 425b23 f.: 62
I 7, 324a10 ff.: 63 A 19 III 2, 426a15 – 26: 80
I 7, 324a10 – 13: 65 III 2, 426b8 – 427a14: 122
III 2, 426b10: 132
De anima III 2, 426b29 ff.: 134
I 1, 402a18 f.: 213 III 3, 427a17-b29: 19 A 7
I 1, 402b21 – 25: 208 A 75, 211 III 3, 427a19 ff.: 18, 21, 58
I 1, 403a2: 99, 193 III 3, 427a26 f.: 90
I 1, 403a5 ff.: 70 III 3, 427a29-b2: 37 f., 88
I 4, 408b15: 115 A 18 III 3, 427b3: 90
I 5, 409b23 – 410a13: 70 III 3, 427b8 – 26: 18 f.
II 2, 413b23: 158 III 3, 427b9: 18
II 2, 414b4 ff.: 158 III 3, 427b10: 19
II 3, 414b28 – 32: 146, 164 III 3, 427b15 f.: 165 A 80
II 4, 415a16 – 22: 90 III 3, 427b27 f.: 19, 190
II 5, 416b33 ff.: 63, 79 III 3, 428a1 f.: 91
II 5, 417a3 – 6: 81 III 3, 428a13 ff.: 173
II 5, 417b2 – 7: 63 f. III 3, 428a20 f.: 166
II 5, 417b3: 65, 80 III 3, 428b2 f.: 21, 94, 107, 126, 169,
II 5, 417b6 f.: 65 179
II 5, 417b16 – 19: 135 III 3, 428b12 ff.: 90 f.
II 5, 417b18 f.: 64, 80 III 3, 428b18 – 25: 83, 150 f., 174 A
II 5, 417b19 ff.: 81 112
II 5, 418a3 f.: 63, 64 III 3, 428b28 ff.: 94
II 5, 418a3 – 6: 65, 81 III 3, 429a1 f.: 90
II 5, 418a5 f.: 63 III 3, 429a17 f.: 20
II 6: 74, 127 III 4, 429a23: 18, 35
II 6, 418a17 f.: 105 f. III 4, 429b9: 61 A 14
II 6, 418a17 – 20: 121 III 4, 429b10 – 22: 146 A 29
II 6, 418a20 – 24: 138, 143 – 149 III 4, 430a3 f.: 59 A 8
II 6, 418a23 f.: 74 III 5, 430a22: 186
II 6, 418a24 f.: 104, 128 III 6, 430a26 ff.: 20
II 7, 418a31 f.: 77 A 68, 128 III 6, 430a26-b6: 18, 35, 154 f.
II 12, 424a17 – 24: 71 – 77 III 6, 430b5 f.: 163
II 12, 424a17-b3: 62, 64, 68 III 6, 430b26 – 30: 20, 35 f., 151
II 12, 424a18 f.: 66 III 7, 431a16 f.: 19, 188
II 12, 424a24 – 28: 68 A 37 III 7, 431b2: 188, 191
III 1, 425a15 f.: 121 III 7, 431b10 – 19: 188
III 1, 425a21 f.: 105 III 8, 431b20 – 432a3: 58 f.
232 Index locorum

III 8, 432a3 – 9: 3, 184 – 192 460b20 ff.: 106


III 8, 432a9 f.: 95 461a30-b1: 91 A 115, 123, 175 f.
III 8, 432a10 – 14: 155 461b3 ff.: 178
III 12 – 13: 39, 43 461b4 f.: 106
III 12, 434a29 f.: 62 461b7 – 11: 97
III 12, 434b22 – 27: 156 462a3: 107
III 12, 434b27 – 435a10: 81 A 78 462a5 – 8: 98
462a6 ff.: 107
De sensu et sensibilibus
436b1 – 8: 70 De partibus animalium
436b10 – 437a3: 156 – 159 I 1, 639a1 – 5: 211
437a1 – 17: 156 A 55, 164 A 77, 194 I 1, 639b9 ff.: 203, 214
437a2 f.: 7, 23, 26 I 5, 644b22 – 645a4: 216
437a3 – 9: 48 I 5, 645b2 f.: 203, 215
437a8: 128
437a11 – 17: 194 De generatione animalium
440a29 f.: 94 731a32 ff.: 21
442a12 – 29: 70 A 46
443b18 ff.: 56 Problemata physica
445b10 f.: 128 A 70 III 9 – 10: 95 A 28
III 10, 872b4: 96 A 131, 99
De memoria et reminiscentia III 30, 875b9 f.: 96 A 131, 99
449b30 – 450a9: 165, 188 – 190 XXX 14, 957a28 ff.: 95 A 28
450a10 f.: 129 A 71 XXXV 10: 177
450a30-b11: 72
450b20 – 27: 187 Metaphysica
451a14 – 17: 125, 161 A 68, 198 I 1, 980a21 – 27: 47, 50
451b10 – 22: 152 I 1, 981a10: 201 A 51
I 1, 980a26 f.: 23
De somno I 1, 981a28 f.: 200 f., 203
455a16: 122 I 1, 981b28 f.: 47
455a19 ff.: 122 I 2, 982a24 f.: 37
455a34: 122 I 2, 982b12 – 21: 55
I 3, 983a25 f.: 23
De insomniis II 1, 993b7 – 11: 30
458b10 – 13: 166, 170 II 1, 993b24 ff.: 29 A 51
458b29: 94, 107, 179 II 3, 995a12 – 17: 212
458b31 ff.: 96, 172 IV 4, 1006a5 – 9: 103, 211
459a7 f.: 10 IV 5, 1009a38-b12: 100
459a17 f.: 95 IV 5, 1009b2 – 9: 84
459b9 – 23: 94 IV 5, 1009b10 f.: 103
460b1 – 13: 95 f. IV 5, 1009b14 f.: 90
460b14 ff.: 107 IV 5, 1010b3 – 9: 103
460b16 ff.: 176 IV 5, 1010b4 ff.: 94
460b18 f.: 94 IV 5, 1010b10 f.: 103
460b19 f.: 107 IV 5, 1010b14 – 17: 105
460b20 ff.: 177 IV 5, 1010b15 ff.: 108
Index locorum 233

IV 5, 1010b18 f.: 104 Protreptikos


IV 5, 1010b21 – 24: 81 A 77, 104 B 51: 23
IV 5, 1010b33 – 1011a2: 80 B 76: 21
IV 6, 1011a5 f.: 103 B 65: 54
IV 6, 1011a8 – 13: 103, 212 B 71 – 77: 49 – 55
IV 6, 1011a11: 108 B 101: 54
IV 6, 1011a31 f.: 104 B 102: 54 f.
IV 6, 1011a33 f.: 106 B 104: 94 A 126
V 6, 1015b16 – 23: 139, 141
V 15, 1021a33 ff.: 79
V 29, 1024b21 – 24: 93 Platon
V 29, 1024b23 f.: 54 A 144
VI 2, 1027a2: 140 Phaidon
VII 3, 1029b9 f.: 30 A 56, 206 73d: 163 A 72
VII 4, 1030a21 ff.: 137
VII 6, 1031b6 f.: 20 Theaitet
VII 6, 1031b24 f.: 60 A 11 151e: 109
VII 17, 1041a10 f.: 214 f. 152a: 110
IX 10, 1051b13 ff.: 166 152b2 – 4: 110
IX 10, 1051b17 – 32: 151 152b2 – 8: 84
XII 9, 1074b34 ff.: 61 A 14, 124 152c5 – 6: 110
XII 9, 1075a1 – 5: 59 A 8 154a2: 111
154a3 – 8: 84, 100
Ethica Nicomachea 156d3 – 157a2: 81 A 77, 111
I 1, 1094b23 – 27: 212 157e1 – 158d9: 101 f.
I 2, 1095b6 f.: 216 158a-b: 112
I 7, 1098a33 f.: 213, 216 158b8-c2: 84, 111
I 7, 1098b4: 34 158d: 112
III 4, 1111b33: 19 158e6: 112
III 6, 1113a29 – 33: 104 A 153 160d5-e2: 110
III 13, 1117b29 f.: 48 A 126 161c2 – 163a6: 111
III 13, 1118a10 – 13: 162 161d-e: 114
III 13, 1118a16 – 20: 48, 56 170c2 – 171c9: 111
III 13, 1118a18 – 21: 160 179c3 – 4: 114
III 13, 1118a20 f.: 153 A 49 181c1 – 182c10: 111
VI 2, 1139a10 f.: 71 182d1 – 7: 111
VI 2, 1139a26 f.: 19 184b-186e: 114 f.
VI 2, 1139b12: 39 184d7 – 185a3: 121
VI 3, 1139b21 f.: 21 184e8 – 185a2. 115 f.
VI 3, 1139b33 ff.: 210 185a8 – 9: 116
VI 6, 1141a3 f.: 39 185c4-e2: 116
VII 1, 1145b2 – 7: 217 186a2 – 3: 116
VII 1, 1145b3: 41 A 102 186b2 – 4: 120 A 39
IX 9, 1170a29-b1: 122 f. 186b6 – 9: 117 f.
186b11-c1: 118
Ars rhetorica 186c3: 119
I 1, 1355a14 – 17: 39 A 94 186d2 – 3: 121
I 2, 1357b1 – 25: 49 208e8: 94
234 Index locorum

Sophistes VII 523b3 – 5: 113 A 11


262c1-d6: 113 A 13 VII 523b-524b: 113
264a4-b4: 119 VII 523d4 – 5: 113
VII 524b3 – 5: 113
Politeia X 602c10 – 11: 107
VII 523a9-b4: 113 A 11 X 602d3: 94
VII 523b6: 94 X 602c-603a: 114
Index nominum

Audi, R. 6 Ebert, T. 21, 112, 122, 132, 135,


Austin, J. L. 85 – 88, 93 137, 172, 180, 206
Ayer, A. J. 84, 86 Evans, G. 135, 170, 174
Everson, S. 68, 139 f.
Barnes, J. 1, 3, 8 f., 22, 33 f., 36, 141, Frede, D. 91, 94, 125, 140
182 f., 192, 194 Frede, M. 9, 11, 44 f., 57, 112, 118,
Beare, J. I. 128, 131 120, 182 f., 192, 196
Beckermann, A. 57, 63 Freeland, C. 140
Block, I. 104, 145
Bolton, R. 73 f., 77, 89, 147 Gaukroger, S. 104, 147
Brentano, F. v. 57 f. Gerson, L. P. 6, 18, 29 f., 45 f., 59,
Broadie, S. 78, 128 62, 141, 170, 175, 204 f., 211
Burnyeat, M. F. 9, 11, 21 f., 26 f., Geyser, J. 137, 145, 173
29, 40 f., 46, 63 – 70, 85, 88, 109 – Graeser, A. 24, 128, 130 f., 142,
112, 114 – 116, 119 f., 210 144, 152, 162
Busche, H. 132, 164 Gregoric. P. 106, 122 f., 132, 134 f.,
Bywater, I. 50, 83, 128, 143, 145, 147 f., 167, 183, 192, 200
150 Gunther, Y. H. 57

Cashdollar, S. 142, 147 – 149, 152, Hçffe, O. 39, 142, 212


167
Caston, V. 63, 67 f., 70 – 76, 78, 89 – Jaeger, W. 50, 52
93, 96, 98, 124, 189 Judson, L. 141
Charles, D. 77, 194
Child, W. 98 Kahn, C. H. 78, 117, 144 – 146,
Cleary, J. J. 185 158, 168 f., 186, 197
Cooper, J. M. 114, 117 f., 120 Kambartel, F. 2, 185
Corcilius, K. 91, 125, 158, 187, 189 Kant, I. 25, 119
Cornford, F. M. 114, 117, 206 Kern, A. 6, 31, 39, 44
King, R. A. H. 125, 161 f., 202
Koch, A. F. 37 f., 106
Dancy, J. 37 Kosman, L. A. 8, 26, 32, 34, 42, 82,
Davidson, D. 219 124, 183, 209, 214
De Haas, F. A. J. 132, 180 Kullmann, W. 28, 215
Demokrit 100 Kutschera, F. v. 2
Descartes, R. 7, 102
Detel, W. 6 f., 11, 22, 25, 28 f., 34, Lee, H. D. P. 35
36, 38, 42 – 44, 76, 194, 197 f., Lee, M.-K. 84, 101, 103, 110 f.
203, 209, 211 Lesher, J. H. 1, 36, 42, 183
236 Index nominum

Liske, M.-Th. 183, 186 f., 206 Schantz, R. 84 f.


Lloyd, G. E. R. 169 Schneeweiß, G. 51 f., 157
Locke, J. 3, 185 Sellars, W. 1 f., 132, 165
Lorenz, H. 125, 161, 163 Simplicius 130, 162
Snowdon, P. 82, 99
McDowell, J. 38, 77, 86, 99, 169 Sophonias 130, 145
Modrak, D. K. W. 1, 3, 128, 131, Sorabji, R. 67 – 69, 121, 140, 147 f.,
146 f., 197 153, 155, 161
Strawson, P. 82
Nussbaum, M. C. 9, 11, 41 f., 69,
78, 136, 207, 219 Taylor, C. C. W. 39, 197
Themistius 130, 144
Oehler, K. 20 f., 36 f., 77, 82, 124, Thomas von Aquin 28, 59, 66 f., 74,
151 159, 169, 186, 207
Owen, G. E. L. 41, 214, 216 f. Tugendhat, E. 28, 37, 131, 135, 138,
Owens, J. 27, 59 f., 66 f., 72, 131, 142, 183, 207
139
Van der Eijk 95, 106 f., 172, 175 –
Patzig, G. 142 179
Perler, D. 66, 107 Vasiliou, I. 39, 89
Philoponus 105, 127, 130, 145 f.,
162, 171 Wedin, M. 19, 90 f., 125, 139, 190
Protagoras 100, 102, 110 – 112, 114 Weidemann, H. 18
Putnam, H. 62, 69, 76, 78, 89, 99 Welsch, W. 26, 38, 56, 74, 89, 123,
131 f., 135, 144, 147, 162
Rapp, C. 7 f., 34 f., 68, 78, 94, 97 f., Wieland, W. 24, 34, 42, 77, 197,
183, 214 206, 213
Reid, T. 60 Wiesner, J. 129
Ricken, F. 119 Wirmer, D. 159
Rorty, R. 37 Wolterstorff, N. P. 2
Ryle, G. 83, 85
Index rerum

Akzidentien Epistemologie 10 A 30, 15 A 34,


– notwendige (per se) 27 f., 207 f. 19 A 7, 40 – 47, 60, 174 f., 218 –
Annahme (hypolÞpsis) 18, 126, 221
166 f., 174, 183, 200 Erfahrung (empeiria) 182, 195 –
argument from illusion 83 – 88 204, 208, 214
– und Aristoteles 100 – 107
Assoziation 128, 152, 155 – 164 Fallibilitt 37 f., 43
Fundamentalismus, epistemologi-
Begriff 18, 20 f., 44, 136, 165, scher 36 – 38, 218 – 221
182 f., 185, 192 – 194, 197, 220
– demonstrativer 77 A 64
– diskriminatorischer 192 f., 201 Gedchtnis (mnÞmÞ) 125, 161 A 68,
– rudimentre 153, 156, 159 f. 162, 182, 187, 198 f., 201 f.
– Substanz-/Sortalbegriff 137 A 2, Gegenstandsbereiche 23, 206 – 209
183, 192 Gemeinsinn 105 A 157, 122 f.,
Bekannter(es) fr uns/an sich 24, 132 A 78
30 – 32, 204 – 212, 219 Genauigkeit (akribeia) 22 A 18, 25,
Beweis (apodeixis) 4, 22, 26 f., 29 – 212
33, 36, 40, 42, 103, 202, 207 f., Gewißheit 29, 36, 39 f.
209 A 76, 211 f. gnsis 5, 18, 20 – 26, 53
– des Warum und des Daß 30 f.,
209, 214 Homo-Mensura-Satz 101, 110
Bewußtsein 82 A 79, 115, 123 f., hypolÞpsis s. Annahme
134 f., 169
Bildung (paideia) 103, 108, 210 – Induktion (epaggÞ) 3 f., 24, 33 – 35,
212 38 f., 210, 213, 218
Intentionalitt 57 f., 61 A 14, 62,
Denken 77 f., 89 f.
– im generischen Sinn 18 – 23, 35, Intuitionismus (epistemologi-
58, 165 – 167, 174 f., 199, 209, scher) 8 f., 20, 35 – 38, 42
218 f.
doxa s. Meinung
Kausalmodell der Wahrneh-
Empirismus 1 – 6, 9, 35 f., 38, 138, mung 77 – 79, 82, 88, 109, 126,
218 f. 131, 134 f., 137, 144, 163
– Urteilsempirismus 2, 36, 180 f., krinein s. Unterscheiden
209 f. Kohrentismus 219 f.
– Begriffsempirismus 2, 184 – 187
endoxa 39, 41 f., 217, 219 Literalismus 67 – 71
epistÞmÞ s. Wissen aus Beweis Lust-/Unlustempfindung 158, 161
238 Index rerum

Meinung (doxa) 19, 166 f., 175 f., Tugend


219 – dianoetische 10 A 30, 19 A 7, 39
– Wahrnehmungsmeinung s. Wahr-
nehmung Unentscheidbarkeit 84, 100, 102 f.,
– und Wissen 45 f., 204 – 206, 210 106, 111
Unterscheiden (krinein) 18, 20 f.,
nous 122, 132, 136, 220
– als Vermçgen 8, 18, 20, 145 f., Ursachen 139 – 141
154 f., 163 – 170, 178 – 180,
186 f., 209 Wahrheit 10 A 30, 19 A 7, 37 – 39,
– als kognitiver Zustand 8, 20, 33 – 53 f., 151 A 44
35, 40, 218 Wahrnehmbares (aisthÞta)
– eigentmlich (idia) 36, 39, 70 A
46, 78 A 71, 104, 127 f., 133
paideia s. Bildung – gemeinsam (koina) 105 f., 116 A
phainomena 41 A 102, 207 A 71, 21, 117 A 27, 121 f., 127 f., 129 A
214 – 217, 219 71, 131 – 133
phantasia 90 f., 94 – 97, 125, 154 f., – akzidentell 129 – 131, 137 – 155,
161 f., 185, 187 – 189, 198 174 A 112
– und Denken 19, 165, 188 – 192 Wahrnehmung
Prdikation 141 – 143 – assoziative 129 f., 161 f.
– und Denken 124, 126, 165 – 168,
Realismus 209, 219
– direkter 60 – 62, 89, 98 f., 145 – als diskriminatorisches Vermç-
– interner 41 f. gen 20 f., 122, 132 f., 135 f.,
– metaphysischer 38 220 f.
– Universalienrealismus 18 A 2, – Fallibilitt 83, 88, 150 f., 174 A
165 A 79 112
Rechtfertigung (epistemische) 10 A – Funktion 155 – 158
30, 36 f., 40 – 46, 204 f., 210, 218 – Gehalt 57, 78 f., 109 – 136, 137 –
Reprsentationalismus 60 A 12, 155, 158, 163, 166 f.
78 f., 84, 88 – Typ des Erkennens 20 f., 23 – 26,
– kausale Theorie der Reprsentati- 58 – 61, 124, 126, 135, 136, 220
on 89 – 92 – berzeugungsunabhngig-
keit 21, 125 f.
– berprfung 106 – 108, 175 –
Schließen/Inferenz 145 f., 170 f. 181
Seele 146, 164 A 74, 168 – Wahrnehmungsmeinung 164 –
Sinnestuschungen 78, 82 f., 93 – 175, 180 f., 199, 218
98 – Wahrnehmungsvorgang 63 – 71
Skepsis/skeptische Fragen 38, 43, – Weltzugang 123 f., 136, 220
82, 84, 100, 102 f., 108 f., 212 – Zuverlssigkeit 39, 82, 104, 108
Spiritualismus 64 – 67, 69 f., 135 Weisheit 47, 49, 55 A 147
Staunen 55 Wissen
– aus Beweis/demonstratives (epis-
Tatsachen 4 A 13, 215 f. tÞmÞ) 19, 26 – 39, 40, 203
Traum 95 A 129, 97 f., 101 f., 107, – des Daß 193, 197, 200, 203, 214,
112, 175 f. 219
Index rerum 239

– empirisches 6 A 16 – Standardmodell/Standardanaly-
– Natur 40 f., 45 f., 206 A 71 se 27 A 44, 40, 45 f.
– Problem des Wissens 39 – Vorwissen 5, 22, 26, 194, 199
– sprachliches 193 f.

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