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Das Argument

5. Jahrgang 1963
27

Massenmedien und Manipulation (II)

Günther Anders: Résistance heute 2

Wilfried Gottschalch: Mißbrauch der

Psychoanalyse in der Politik (II) 9

Reinold E. Thiel: Die geheime Filmzensur 14

Peter Heilmann:
Nochmals zum New Yorker Druckerstreik 21

Rudolf Kienast: Notstandsverfassung


und Grundgesetz (II).

Vom Schröder- zum Höcherl-Entwurf 1960-63 28

Besprechungen 40
Inhalt
M a s s e n m e d i e n u n d M a n i p u l a t i o n (II)
Günther Anders:
Résistance heute 2
Wilfried Gottschalch:
Mißbrauch der Psychoanalyse in der Politik . . . . 9
Reinold E. Thiel:
Die geheime Filmzensur 14
Peter Heitmann:
Nochmals: New Yorker Druckerstreik 21
Rudolf Kienast:
Notstandsverfassung und Grundgesetz (II):
vom Schröder- zum Höcherl-Entwurf (1960—63) . . . 28

Besprechungen
Vorbemerkung 40
COMMUNICATIONS. — Jahrbücher des .Centre d'
Etudes des Communications de masse (CECMAS) de
l'Ecole Pratique des Hautes Etudes', 1. und 2. Jhrg.
(Haug) 40
Feldmann, Erich: Theorie der Massenmedien (Haug) 45
Tröger, Walter: Der Film und die Antwort der E r -
ziehung (E. Weller) 46
Zygulski, Kazimierz: Film w srodowisku Robotnic-
zym (Film im Milieu des Arbeiters) (Haug) . . . . 48
Hartmann, Heinz: Ich-Psychologie und Anpassungs-
problem (Fürstenau) 49
Fromm, Erich: Der moderne Mensch und seine Zu-
k u n f t (The Sane Society) (W. Weller) . . . . . . . 50
Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vater-
losen Gesellschaft (Werth) 5:2
Huxley, Aldous: Dreißig J a h r e danach oder Wieder-
sehen mit der „wackeren neuen Welt" (Ziob) . . . 53
Kofier, Leo: Staat, Gesellschaft und Elite zwischen
Humanismus und Nihilismus (Mauke) 54
Sampson, Anthony: Wer regiert England? (Mauke) . 54
Geiger, Theodor: Demokratie ohne Dogma (Burisch) 57
Lipset, Seymor Martin: Soziologie der Demokratie
(Burisch) 57
Rosenberg, Arthur: Demokratie und Sozialismus
(Blanke) 58
Löwenthal, Richard (Hrsg.): Demokratie im Wandel
der Gesellschaft. 8 Vorträge, gehalten am Otto-Suhr-
Institut der Freien Universität Berlin (Blanke) . . . 58
Rings, Werner: Die 5. Wand: Das Fernsehen (Blanke) HU
Packard, Vance: Die Pyramidenkletterer (The Pyra-
myd Climbers) (Reiche) (il
Lind. Jakov: Landschaft in Beton (Reiche) 62
Buchhandlungen,
die „ D a s A r g u m e n t " f ü h r e n 64
Günther Anders
Résistance heute

(Rede bei d e r E n t g e g e n n a h m e d e s P r e m i o O m e g n a 1 , M a i -
land, 26. 11. 1962.)
Niemals zuvor h a b e ich eine E h r u n g akzeptiert. D e n n d i e -
jenigen, d i e u n s E h r e n a n t r a g e n , beabsichtigen d a m i t g e -
wöhnlich, u n s dazu z u v e r f ü h r e n , résistance a u f z u g e b e n .
O f t w e r d e n w i r sogar v o n A u t o r i t ä t e n geehrt, die sowenig
E h r e besitzen, d a ß w i r sie g a r nicht w i e d e r e h r e n k ö n n t e n ;
von L e u t e n also, d i e dadurch, d a ß sie trotz i h r e r E h r e n -
a r m u t auch E h r e noch ausleihen, eigentlich d a s Risiko l a u -
fen, in restlose Ehrlosigkeit zu g e r a t e n .
Auf j e d e n Fall gilt: Durch A n n a h m e einer E h r u n g v e r -
pflichtet sich d e r E h r e n e m p f ä n g e r d e m E h r e n v e r l e i h e r , d e r
G e e h r t e verspielt damit seine Freiheit, j e d e Medaille ist
eine A r t v o n Fessel. A u s diesem G r u n d e h a b e n w i r alle
a u ß e r o r d e n t l i c h vorsichtig zu sein bei d e r W a h l d e r e r , v o n
d e n e n w i r u n s e h r e n lassen.
G e r a d e a u s diesen G r ü n d e n n e h m e ich die E h r u n g v o n
I h n e n m i t d e r g r ö ß t e n F r e u d e a n . D e n n ich will I h n e n v e r -
pflichtet sein. Voll Respekt s t e h e ich v o r Ihnen, d i e Sie v o r
zwanzig J a h r e n , in d e r Zeit des Faschismus u n d N a t i o n a l -
sozialismus, d e m T e r r o r W i d e r s t a n d geleistet h a b e n ; u n d
zu I h n e n zähle ich auch die h i e r A b w e s e n d e n , diejenigen,
die h e u t e h i e r nicht m e h r erscheinen können, weil sie d e m
T e r r o r z u m O p f e r gefallen sind. O b w o h l ich persönlich k e i -
n e n v o n I h n e n k e n n e — zu I h n e n gehöre ich doch, d e n n
die H ä l f t e m e i n e s Lebens h a t in anti-faschistischem Kampf
bestanden, siebzehn J a h r e h a b e ich i m Exil v e r b r a c h t . Mit
I h n e n freilich darf ich mich nicht vergleichen, denn da ich
mich in d e r Zeit des T e r r o r s u n d des K r i e g e s a u ß e r h a l b
E u r o p a s b e f a n d , h a t t e m e i n e B e r e i t s c h a f t zu r é s i s t a n c e die
ä u ß e r s t e F e u e r p r o b e nicht zu bestehen. W e n n ich einen
M o m e n t lang gezögert habe, I h r e E h r u n g wirklich a n z u -
n e h m e n , so deshalb, weil ich — moralisch gesprochen — i m
Vergleich m i t d e m kleinsten M a q u i s a r d ein N i e m a n d ge-

1 Den ,PREMIO OMEGNA' verleiht die Vereinigung italieni-


scher Widerstandskämpfer seit 1959 an solche Schriftsteller,
die sich mit dem Problem des Widerstands heute befassen.
Günther Anders ist der Dritte, dem diese Ehrung bisher zu-
teil wurde. In den Jahren davor wurde der Preis an einen
spanischen Antifaschisten und an J. P. Sartre verliehen.
Omegna ist der Ort, an dem die Sprecher der Widerstands-
bewegung sich versammelten, um das Projekt zu beraten.

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wesen bin; also deshalb, weil ich zweifelte, ob ich ein Recht
auf diese Ehrung besaß. Aber ich n e h m e sie an. Wenn
Ehrungen, wie ich eben sagte, Bindungen und Verpflich-
tungen sind, dann nehme ich an, um mich an Sie zu binden;
um die Kämpfe, in die wir heute verstrickt sind und die
durchzukämpfen ich mich verpflichtet fühle, bewußt an die
Tradition des alten anti-faschistischen Kampfes anzuschlie-
ßen. Ich n e h m e an, unter der Bedingung freilich, daß Sie
sich auf einen Ehrentausch einlassen, daß Sie mir erlauben,
Ihnen meine Verehrung auszudrücken f ü r das, was Sie ge-
tan haben.
Liebe f r e m d e Freunde, es ist wichtig, die Überlieferung der
antifaschistischen résistance vor zwanzig J a h r e n heute
lebendig zu erhalten und das Andenken jener zu pflegen,
die uns zuliebe damals ihr Leben riskiert und verloren
haben. Gerade heute, da die alten Feinde und die alten
I n f a m i e n in gewissen Ländern Mitteleuropas wieder Mor-
genluft wittern, ist das besonders wichtig.
Aber es gibt etwas anderes, was ebenso nötig ist, wenn
nicht sogar noch nötiger ist. Treu sind nämlich nur die-
jenigen, die sich wandeln; die im Interesse ihres gleich-
bleibenden Ziels in Bewegung bleiben.
Und uns wandeln und in Bewegung bleiben müssen wir
deshalb, weil der Feind sich rapide verwandelt hat; weil
die Misere und der Terror, denen wir heute ausgesetzt sind,
nicht m e h r identisch sind mit der gestrigen Misere und
dem gestrigen Terror; und weil die neue Situation auch
neue Mittel des Widerstandes und neue Mittel des Angriffs
nötig macht.
Damit Sie sofort verstehen, wovon ich spreche, nenne ich
Ihnen zwei Erscheinungsformen der neuen Misere und des
neuen Terrors.
1. Es gibt den universalen atomaren Terror, durch den je-
des Land, das die nuklearen Monstren besitzt, jedes andere
pausenlos erpressen kann und effektiv erpreßt; der Terror,
der uns alle, einschließlich der Erpresser, tägiich in „mori-
turi", in prospektive Opfer verwandelt. Durch diesen Ter-
ror wird (sogar dann, wenn die Katastrophe, das Zeiten-
ende, nicht eintreten sollte) der Globus als ganzer zum
Konzentrationslager, denn Entrinnen und Zufluchtsländer
gibt es dann nicht mehr. Diese ungeheuren Konzentrations-
lager zu sprengen, das erfordert Methoden, die von denen,
die wir vor zwanzig J a h r e n angewandt haben, völlig ver-
schieden sein müssen.
F e r n e r : Da wir unter diesem Terror leben, ist uns jede
Freiheit der Planung der Z u k u n f t geraubt — und das ist
eine Freiheitsberaubung, die den Ausdruck „freie Welt"
einfach zum Zynismus macht. Und diese Freiheitsberaubung
demoralisiert uns sogar dann, wenn der Atomkrieg nicht
ausbrechen sollte. Denn nicht nur wie unsere Zukunft aus-
sehen wird, ist damit fraglich gemacht, sondern ob es über-
haupt eine Z u k u n f t geben wird. Und das bedeutet f ü r uns
natürlich, daß wir nicht nur f ü r eine bessere Zukunft zu
k ä m p f e n haben, sondern dafür, daß es Z u k u n f t gebe; dafür,
daß (die Worte klingen paradox) Zukunft bleibe.
2. Es gibt heute den „ s a n f t e n T e r r o r " , den Terror,
der uns alle auf unblutige Weise konform macht, und das
sogar in Form von „Unterhaltung" und in jenen Mußestun-
den, die wir f r ü h e r als „Freizeit", also als „Freiheit", ange-

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sehen hatten. Sich diesem T e r r o r zu entziehen, das ist ent-
setzlich schwer, denn die Freiheitsberaubung, die er mit
sich bringt, ist extrem, und zwar deshalb, weil er uns sogar
der Freiheit beraubt, zu spüren und zu wissen, daß wir
u n f r e i sind.
Liebe Freunde, in beiden Fällen handelt es sich n u r um
Beispiele, denn es gibt noch weitere Spielarten heutigen
Terrors. Aber auch diese zwei Beispiele werden wohl schon
genügen, um es uns evident zu machen, daß T e r r o r heute
etwas anderes ist als das, was die Menschheit bisher, und
auch wir noch vor zwanzig J a h r e n , unter „Terror" verstan-
den hatten. Gewiß, an vielen Stellen unseres Globus gibt
es auch heute noch Misere und Terror im alten Stil (in
Kalkutta habe ich Hunderttausende nackt auf der Straße
liegen sehen, und in Spanien sitzen heute noch loyalistische
Widerstandskämpfer in den Gefängnissen jenes Mannes,
der Hitler damals imitierte und es auch heute noch tut) —
aber, so furchtbar beide Beispiele auch sein mögen, sie sind
Rudimente auf dem Wege, den unterdessen der herrlich
fortschreitende und fortschrittliche Terror zurückgelegt hat.
Wenn wir den Wunsch und den Willen haben, unser altes
Ziel, die Rettung der Freiheit des Menschen, weiter zu v e r -
folgen, dann haben wir mit diesem furchtbar raschrennen-
den Feinde Schritt zu halten, dann haben wir au courant zu
bleiben; dann haben wir jedem Schritt der Freiheitsberau-
bung, der heute gemacht wird, unseren kontrapunktischen
Schritt der Freiheitsrettung entgegenzusetzen. Um einen
Feind zu besiegen, muß man sich an ihn hängen. Sonst
läßt er uns weit hinten zurück.
Nun, liebe Freunde, diesen Wandel anzuerkennen, das ist
keine leichte Aufgabe: denn damit haben wir ja zugleich
anzuerkennen, daß der Typ unseres Widerstandes von ge-
stern weitgehend obsolet geworden ist. Wir w e r d e n also
der Versuchung der Beqeumlichkeit „Widerstand" leisten
müssen; wir werden den Mut finden müssen, einen Schluß-
strich unter unser damaliges Kapitel zu ziehen, und das
heißt: wir werden uns anstrengen müssen, neue und unge-
wohnte Methoden zu erfinden, sogar neue und ungewohnte
Allianzen zu schließen. Es liegt ja auf der Hand, daß wir zu
A b w e h r der atomaren Apokalypse nicht in den Marquis
gehen können; und daß es keinen Zweck hätte, Brücken zu
sprengen, wenn es d a r u m geht, dem „sanften Terror" der
Meinungs- und Willensproduktion Widerstand zu leisten.
Wenn wir auf unsere alten Methoden zurückgriffen, dann
w ü r d e n wir die neuen (oder neu kostümierten) Feinde nicht
nur nicht t r e f f e n ; wir würden ihnen umgekehrt den aller-
größten Gefallen erweisen. Sie wären nämlich f r o h dar-
über, harmlose Feinde zu haben; und sie w ü r d e n uns nicht
n u r verhöhnen (etwa so wie Artilleristen Bauern ver-
höhnen würden, die ihnen mit Sensen entgegenträten),
vielleicht würden sie uns sogar begönnernd auf die Schul-
ter klopfen.
Aber was heißt hier „vielleicht". Ich gebe Ihnen ein Bei-
spiel dafür, daß die Dinge effektiv so vor sich gehen: In
der heutigen deutschen Bundesrepublik (deren rapide Re-
Faschisierung Ihnen ja bekannt ist) existiert eine ganze
Literatur, in der die deutsche Resistance gegen Hitler he-
roisiert wird. Diese Literatur ist zuweilen sogar von
reaktionären Blättern, ja von offiziellen Stellen, willkom-

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men geheißen worden. Wie haben w i r das zu verstehen?
Antwort: Alibi-Gründe! Um zu tarnen, daß sie heutige
Freiheitsbewegungen und Resistancebewegungen bekämp-
fen, treten sie als Advokaten der Freiheit auf, und das tun
sie am geschicktesten dadurch, daß sie einen ehemaligen
Typ von Resistance preisen. Nur sehr selten kommt es vor,
daß diejenigen Buchverlage, die solche Bücher herausbrin-
gen, auch A u f r u f e zur heutigen Resistance (also etwa Bü-
cher gegen die atomare B e w a f f n u n g der Bundeswehr) pu-
blizieren; und das zu erwarten, w ä r e naiv. Seien wir also
argwöhnisch gegenüber denjenigen, die unsere gestrigen
Taten loben. Es gibt viele unter ihnen, die durch ihr Lob
unseren heutigen Widerstand zu lähmen wünschen. Auch
durch Loben k a n n man sabotieren.
Das raffinierteste Mittel freilich, jede Resistance heute zu
lähmen, ist das, Resistance comme telle als etwas Gestriges
zu bezeichnen, z. B. den Marxismus als fossiles und musea-
les Überbleibsel aus dem 19. J a h r h u n d e r t . „Proletarier?"
höhnt man heute, „Wo gibt es heute noch Proletarier? Da
doch jeder sein WC, seinen TV-Apparat, seine Musik im
Haus, sein Motorrad, seinen Eisschrank usw. besitzt? Alle
sind frei." So hört man es in den Vereinigten Staaten, so in
der deutschen Bundesrepublik, und sehr ähnlich v e r m u t -
lich in anderen Ländern. Alle sind frei — wozu also Be-
freiung?
Liebe Freunde, schenken Sie denjenigen, die Freiheit als
ein F a k t u m hinstellen (wie es zum Beispiel in der Redens-
art „Free World" der Fall ist), niemals Glauben. Es gehört
zu den auffälligsten Paradoxien der europäischen Geistesge-
schichte, daß die These, wir seien frei, sehr häufig von
Reaktionären vertreten worden ist, w ä h r e n d sich die F r e i -
heitskämpfer ebenso häufig als Deterministen bezeichnet
haben. Aber die Sache ist noch paradoxer. Diejenigen, die
unsere Resistance zu sabotieren versuchen, sie beweisen
unser Freisein nämlich garnicht dadurch, daß sie auf diese
oder jene Freiheit hinweisen, sondern dadurch, daß sie auf
unseren K o m f o r t zeigen; also aufs zynischste unterstellen,
daß Freiheit und K o m f o r t identisch seien. Denn sie weisen
auf den heutigen Überfluß hin.
Nun handelt es sich aber bei dem heutigen Überfluß, der
uns durch K a u f - und Konsumzwang aufgenötigt wird, um
einen Überfluß an prefabricated civilization, an prefabri-
cated way of life, an prefabricated Meinungen, Meinungs-
losigkeiten und Gefühlen. Und da wir uns garnicht dagegen
wehren können, diese bereits vor-gekaute Überfülle zu
schlucken, und da wir, ü b e r f ü l l t mit diesem süßen Zwangs-
futter, gar nicht m e h r die Zeit haben und die K r a f t a u f -
bringen können, zu den Inhalten selbst Stellung zu neh-
men, läuft diese abundante Belieferung auf Freiheitsberau-
bung hinaus, und diese Freiheitsberaubung wagen sie uns
als Beweis unserer Freiheit anzubieten.
Bin ich etwa dadurch frei, daß ich das, was mir zuvor durch
tausendfache angenehme Propaganda eingetrichtert worden
w a r und was ich geschluckt hatte, ohne überhaupt zu spü-
ren, daß ich etwas schluckte, nun als „meine Meinung" wie-
der von m i r geben darf?
Aber kehren wir noch einmal zu der höhnenden Redensart
zurück, es gebe heute keine Proletarier mehr; und prüfen
wir sie genauer. Das Resultat wird höchst überraschend

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sein. Denn das heutige Proletariat ist ungleich größer, als
es jemals gewesen war. Wir alle sind heute Proletarier, die
gesamte Menschheit gehört heute zum Proletariat. Freilich
in einem ganz neuen Sinne. Was heißt das?
Damit komme ich zu der dritten Unfreiheit von heute. Und
auf diese möchte ich näher eingehen.
Unter „Proletariat" hatte m a n vor 100 J a h r e n diejenige
Masse der Bevölkerung verstanden, die ihre Arbeitszeit
und - k r a f t zu verkaufen hatte und weder Eigentümer
ihrer Produktionsmittel noch der Mehrzahl ihrer Produkte
war. Heute sind wir (und selbst dann, wenn wir als Arbeit-
nehmer einen Wagen, einen Eisschrank usw. besitzen) in
einem viel furchtbareren Sinne „Nicht-Eigentümer". Wir
sind nämlich Nicht-Eigentümer des Ziels unserer Arbeit
und der E f f e k t e unserer Arbeit. Damit meine ich nicht nur,
daß wir, wenn wir arbeiten, faktisch das fertige Produkt,
dessen Abzweckung und Verwendung, nicht vor uns sehen,
sondern daß uns diese auch garnicht interessieren sollen.
Gleich, ob wir in einer Zahnpastafabrik arbeiten oder in
einem Vernichtungslager oder an einer Baustelle f ü r die
Errichtung a t o m a r e r Raketen (in der Türkei oder in Oki-
nawa oder Italien oder Cuba) — immer gilt es als verboten,
nein als komisch, zu fragen, ob das Hergestellte zu be-
jahen oder zu verneinen sei; und das zu fragen, das kommt
uns auch garnicht mehr in den Sinn. Denn die Größe der
Betriebe und die Arbeitsteilung bringen es mit sich, daß
das fertige Produkt und dessen Verwendung vor den
Augen der Arbeitenden garnicht m e h r aufscheint. Durch
diesen Umstand sind wir auch der Freiheit des Fragens be-
raubt. I m m e r geben wir unsere Moral an der Fabrikgarde-
robe ab, um sie nach der Arbeit wieder anzuziehen. Was
bedeutet das?
Antwort: Den furchtbarsten Skandal unseres heutigen Le-
bens. Es bedeutet, daß es einen Sektor in unserem heutigen
Leben gibt, der allgemein als „moralisch neutral", als „mo-
ralisches Niemandsland", als in Nietzsches Wort „jenseits
von Gut und Böse" gilt, und daß auch wir diesen Sektor,
der „Arbeit" heißt, als „jenseits von Gut und Böse" a n e r -
kannt haben.
Nun, daß wir als Arbeitende, etwa beim Bau von Raketen,
Handelnde sind, daß wir durch dieses Handeln E f f e k t e mit
verursachen, das läßt sich ja wohl nicht bestreiten. Und das
gilt von jeder Arbeit. Aber abgesehen von einigen Ä r z t i n '
und einigen Physikern macht sich das keiner von uns klar,
keinem ist es bewußt, daß sein „Arbeiten" genanntes Han-
deln genauso der Moral unterstehen müßte wie sein Um-
gang mit den Nachbarn. Nein, sogar ungleich mehr, da un-
sere Mitarbeit ja ungleich größere und fürchterlichere Kon-
sequenzen nach sich ziehen kann als unser durchschnitt-
liches alltägliches zwischenmenschliches Handeln. Und trotz-
dem (oder gerade deshalb, nämlich damit wir uns nicht ein-
mischen) gilt das Arbeiten als etwas, was „non olet", was
unter keinen Umständen stinkt. Was selbst dann nicht
stinkt, wenn es einen Beitrag zur Ausrottung der Mensch-
heit darstellt. Es gibt ein (ursprünglich gegen die Nobilität
geprägtes) Sprichwort: „Arbeit schändet nicht". Der Sinn
dieses Sprichwortes ist aufs furchtbarste pervertiert wor-
den. Denn heute ist es zur Rechtfertigung f ü r die Arbeit an
Schändlichem geworden. Und diese schändet gewiß und ist

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schlimmer als das Stehlen von silbernen Löffeln. Die ei-
gentliche Schande aber besteht darin, daß Moral im Inter-
esse derer, die an der Produktion moralisch indiskutabler
P r o d u k t e interessiert sind, in das kleine Reservat des P r i -
vatlebens relegiert ist.
Unsere Situation ist umso verhängnisvoller, als heute fast
jede Art von menschlicher Tätigkeit dem Handlungstyp,
der „Arbeit" heißt, angeähnelt werden kann. Selbst Mord
kann uns als „Arbeit" zugewiesen, selbst Liquidierung von
Kindern uns als „Müllabfuhr" zugeteilt werden. Auch Ihnen
ist es ja bekannt, daß sich die Angestellten in den Verga-
sungslagern Hitlers „mit bestem Gewissen" darauf berie-
fen, daß sie n u r (und zwar natürlich „gewissenhaft") „ge-
arbeitet" hätten — sie stellten eben Leichen en gros her,
w a r u m und wozu diese „Produktion" gut w a r — das zu
fragen, das hätte ja, da moderne Arbeit auf Arbeitsteilung
angewiesen ist, eine Einmischung in eine andere Kompe-
tenz bedeutet — die sie als „unmoralisch" natürlich weit
von sich wiesen. Aber glauben Sie n u r nicht, dieser Fall
sei ein Ausnahmefall gewesen. Noch heute bezeichnet die
Mannschaft, die Hiroshima bebomte, ihre Tat als ihren
„job" — und selbst Eatherly, der Mann, der begriffen hat,
wozu er verwendet wurde, hat diesen Ausdruck öfters in
den Mund genommen, ich selbst habe ihn über seinen „job"
sprechen hören: so selbstverständlich ist es bereits, daß
jede Aktion im Vokabular der Arbeit ausgedrückt wird.
Und nichts w ä r e naiver, als zu glauben, daß Eichmann eine
monströse Ausnahme in heutiger Zeit gewesen sei. Um-
gekehrt: unser aller Symbol w a r er. Da wir bereit sind,
alles, wenn es uns n u r „als Arbeit" zugewiesen wird, mit
bestem Gewissen und gewissenhaft zu erledigen, sind w i r
alle „Eichmänner"; und wir alle „sollen" auch „Eichmän-
ner" sein, die heutige Arbeitsmoral fordert das ja, da sie von
uns verlangt, daß wir Arbeit als etwas „moralisch Neutra-
les" anerkennen.

Liebe Freunde! Seit h u n d e r t J a h r e n sprechen wir, und ge-


wiß mit Recht, von der Tatsache, daß die Produktionsmit-
tel nicht Eigentum der Arbeitenden seien. Aber das uns
aufgezwungene Disinteressement an den Effekten unserer
eigenen Arbeit ist ebenfalls ein Form der Enteignung:
denn da wir des Interesses daran beraubt sind, zu wissen,
was durch unser Handeln geschieht, sind wir auch unserer
Verantwortung und unseres Gewissens beraubt: diese sind
nun nicht m e h r unser Eigentum. Und insofern sind wir „Pro-
letarier". Eine heutige Kritik der Arbeit kann sich nicht
m e h r wie vor hundert J a h r e n darauf beschränken, die Ei-
gentumsverhältnisse und die Profite als unmoralisch zu
kritisieren. M a r x d u r f t e das, denn zu seiner Zeit hatte er
keinerlei Anlaß, den Wert der Produktionsmittel als solche
und den Wert der Produkte als socher in Zweifel zu ziehen.
Die Lage hat sich total verändert. Was heute vor allem kri-
tisiert werden muß (und was Marx wohl kritisieren würde),
ist die Unmoralität der P r o d u k t e selbst. Denn diese haben
nun nicht n u r nichts mit der Bedürfnisstillung (und damit
mit der Freiheit von Misere) zu tun; umgekehrt gefährden
sie, gleich unter welchen Eigentumsverhältnissen sie er-
zeugt werden, die Menschheit aufs furchtbarste. Überflüssig
zu betonen, von welchen Interessenten diese Produkte zu-
erst hergestellt und verwendet worden sind. Hier ist im

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Augenblick etwas anderes wichtig: nämlich, daß wir heute
nicht n u r zu f r a g e n haben, wie und f ü r wen und unter
welchen Arbeits- und Eigentumsbedingungen wir unsere
P r o d u k t e erzeugen sollen, sondern ob wir gewisse Produkte
ü b e r h a u p t erzeugen sollen, ob wir es uns und anderen e r -
lauben dürfen, gewisse P r o d u k t e zu erzeugen. Keine Frage:
Die Marxsche Kritik, die sich auf die Eigentumsverhält-
nisse der Produktionsmittel bezogen hatte, muß erweitert
werden: was wir benötigen, ist eine radikale Produktkritik.
Nun, in einem gewissen, sehr bescheidenen Sinne, gibt es
natürlich Produktkritik. J e d e r Fabrikant, der auf dem
Markt bleiben will, f r a g t sich, ob sein Produkt lohnend sei.
In m e h r e r e n Ländern gibt es sogar Käufervereinigungen,
die Produktkritik üben, um Konsumenten vor minderwerti-
ger Ware zu bewahren. Aber radikal ist diese Kritik n a t ü r -
lich niemals. Was kritisiert wird, ist lediglich die Qualität
oder die Sorte des Produkts, niemals dessen Existenz. Diese
radikale Kritik ist die Aufgabe derer, die den Mut haben,
Resistenz zu leisten, und zuerst h a t diese natürlich den Ter-
rorprodukten gegenüber einzusetzen. Während die kindisch
im Fortschrittsglauben befangenen Techniker f r a g e n : „Wie
könnten wir unsere, die Totalvernichtung bereits garantie-
renden Mittel noch .besser', noch vernichtender machen?"
(sie sprechen bereits von „over kill-capacity"), fragen wir,
und zwar im Interesse der Verbesserung der Menschen-
situation: „Sind diese Produkte, gleich ob ,gut', .besser'
oder ,am besten' ü b e r h a u p t erlaubt?"
Die Antwort lautet: Nein.
Und das Nein kann sich allein verwirklichen als Streik.
Freilich ist das ein ganz neuer Typ von Streik, den wir da
erfinden müßten. Denn bei diesem Streik — ich wieder-
hole — w ü r d e es nicht um höheren Lohn gehen, nicht um
bessere Arbeitsbedingungen, nicht um Vergesellschaftung
der Produktionsmittel — wie wichtig immer alle drei For-
derungen sein mögen. Sondern hier ginge es — und das
w ä r e absolut erstmalig in der Geschichte — um die Verhin-
derung der Produktion bestimmter Produkte.
Und es versteht sich von selbst, daß dieser Streik zugleich
ein Streik f ü r moralische Wiedergesundung wäre: Denn
durch ihn w ü r d e n wir uns selbst den Beweis erbringen, daß
wir es wieder begriffen haben, daß „Arbeiten" „Handeln"
ist; und daß wir es abweisen, unter dem Deckmantel des
Wortes „Arbeit" unmoralische Handlungen mitzuverant-
worten, die wir, wären die Handlungen unkostümiert, nie-
mals bejahen oder mitmachen würden.
Physiker, die sich geweigert haben, an der wissenschaft-
lichen Vorbereitung atomarer Waffen teilzunehmen, sind
uns mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie sind in Streik
getreten, sie haben die Effekte ihres Arbeitens als Effekte,
die sie zu verantworten haben, erkannt. In diesem Sinne
haben auch wir zu streiken. Zeigen wir, daß wir dasselbe
können. Damit uns die Z u k u n f t bleibe. Nicht nur unsere
eigene Zukunft. Nicht nur die Z u k u n f t unserer Kinder,
sondern auch die Z u k u n f t derer, die heute so verblendet
sind, uns als bedrohlich zu diffamieren, weil wir ihrer
Bedrohung entgegentreten.
Liebe Freunde! Resistance hätte keine Aufgabe mehr? Un-
sere Aufgaben beginnen erst.

8
Wilfried Gottschalch
Mißbrauch der Psychoanalyse
in der Politik Clll

Im ersten Teil des Aufsatzes wurde aufzuzeigen versucht,


mit Hilfe welcher Verformungen der Psychoanalyse es den
„Seeleningenieuren" gelingt, die politischen Entscheidungen
der Staatsbürger zu manipulieren. Freuds Faustregel: „Was
Es ist, soll Ich werden" verändern sie in die Formel: „Was
Ich ist, soll Es werden". Im Persönlichkeitskult und in Ver-
schwörungstheorien verwerten sie die Einsichten der Psy-
choanalyse, die, von Freud als Enthüllungstheorie konzi-
piert, in ihren Händen zur Verhüllungstechnik wird. Im
zweiten Teil sollen an Beispielen aus der politischen Praxis
die Kunstgriffe der modernen Demagogen veranschaulicht
werden.

A m Beispiel Hitlers

A m Beispiel Hitlers soll die psychologisch r a f f i n i e r t e Tech-


nik d e r M e n s c h e n b e h a n d l u n g noch e i n m a l k u r z dargestellt
w e r d e n . H i t l e r w a r d e r typische V e r t r e t e r des K l e i n b ü r -
gertums. E r f ü h l t e sich, w i e e r in „Mein K a m p f " gesteht,
als j u n g e r Mensch als ein „Niemand", ein „Unbekannt".
Doch e r k a n n t e e r d i e Ursachen h i e r f ü r nicht in seiner so-
zialen Lage, s o n d e r n in d e r Tatsache, d a ß e r nicht im Reich
geboren w u r d e . So w a r i h m d a s deutsche Reich, in das er
alle Deutschen „ h e i m f ü h r e n " wollte, das Symbol f ü r Würde,
A n s e h e n u n d Sicherheit 1 . D a m i t k a m e r d e n Vorstellungen
all' j e n e r entgegen, die a l s Angehörige d e r Mittelschichten
sich v o m Aufstieg d e r A r b e i t e r k l a s s e b e d r o h t f ü h l t e n , weil
sie sich nicht m e h r f ü r e t w a s Besseres h a l t e n k o n n t e n als
die A r b e i t e r . So erschien er g e r a d e i h n e n a l s ein Mann m i t
g r o ß e r H e r z e n s w ä r m e („Verständnis f ü r d e n Mittelstand"),
d e r e h e r V e r t r a u e n als B e w u n d e r u n g einflößt u n d nicht so
makellos ist (seine „uneheliche" A b k u n f t , d i e K l e i n b ü r g e r
ja i m m e r f ü r einen Mangel halten), d a ß e r u n g l a u b w ü r d i g
erscheint.
Zugleich w a r H i t l e r e i n Verächter d e r Massen. Sein Ziel
w a r es, sich d e n Willen seiner Z u h ö r e r durch die ü b e r l e -
g e n e K r a f t d e r Rede zu u n t e r w e r f e n . E r w a n d t e sich a b e r
nicht a n die V e r n u n f t , s o n d e r n an d i e Gefühle. O f f e n g a b
er zu, d a ß e r körperlich e r m ü d e t e Z u h ö r e r wünsche, die
nicht m e h r so kritisch sind: „Morgens u n d selbst tagsüber
scheinen die willensmäßigen K r ä f t e d e r Menschen sich noch

1 Adolf Hitler, „Mein Kampf", München 1933, S. 3.

9
in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung
eines f r e m d e n Willens zu sträuben. Abends dagegen u n t e r -
liegen sie leichter der beherrschenden K r a f t eines stärke-
ren Willens. Denn wahrlich stellt jede solche Versammlung
einen Ringkampf zweier entgegengesetzter K r ä f t e dar. Der
überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostel-
natur wird es nun leichter gelingen, Menschen dem neuen
Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung
ihrer Widerstandskraft in natürlicher Weise e r f a h r e n , als
solche, die noch im Vollbesitz i h r e r geistigen und willens-
mäßigen S p a n n k r a f t sind" 2 .
Er kennt auch die Voraussetzungen der Massensuggestion:
„Die Massenversammlung ist auch schon deshalb n o t w e n -
dig, weil sich der einzelne, der sich zunächst als werdender
Anhänger einer jungen Bewegung vereinsamt f ü h l t und
leicht der Angst verfällt, allein zu sein, zum erstenmal das
Bild einer größeren Gemeinschaft erhält, was bei den mei-
sten Menschen kräftigend und ermutigend w i r k t . . . Wenn
er aus seiner kleinen Arbeitsstätte oder dem großen Be-
trieb zum erstenmal in die Massenversammlung hineintritt
und n u n Tausende und Tausende von Menschen gleicher
Gesinnung um sich h a t . . . unterliegt er dem zauberhaften
Einfluß dessen, was wir mit dem Wort Massensuggestion
bezeichnen" 3 . Wer einen Dokumentarfilm aus der Hitler-
zeit mit wachen Augen ansieht, kann schnell die Tricks
durchschauen, die von den Schmierenkomödianten des Na-
zismus angewandt wurden. Marschmusik und gemeinsamer
Gesang erhöhten die Spannung und das Gefühl der Zusam-
mengehörigkeit. Dann kam der Einmarsch der Fahnen und
schließlich, wie ein Boxstar mehrfach über Lautsprecher
angekündigt, Hitler. Interessant ist, daß er immer darauf
achtete, daß zwischen ihm und seinen Zuschauern ein ge-
höriger Abstand gewahrt blieb. Er w u ß t e wohl, daß er aus
der Nähe betrachtet, bei seinen Reden wild gestikulierend,
eher einen komischen Eindruck erweckte. Viele f r a g e n
heute, wie konnte dieser Mann seine Zuhörer n u r so fes-
seln: Dieses v e r k r a m p f t e Gesicht wirkt doch eher absto-
ßend. Darauf ist zu antworten, so sahen ihn ja seine Zu-
hörer gar nicht. N a h a u f n a h m e n sah man meist nur vom
schweigenden oder plaudernden Hitler, nie von dem Red-
ner der Massenkundgebungen. Da standen vor ihm die tief-
gegliederten Reihen der SA- und SS-Männer (die ihm
den Rücken zuwandten). Von weitem, d. h. über die Köpfe
dieser Männer hinweg, w i r k t e das, was aus der Nähe
lächerlich anmutete, eher dynamisch. Selbst die Abort-
bürste im Gesicht, der Schnurrbart, w u r d e da Werkzeug
der Regie, sie vergrößerte den lippenlosen Mund des
sexuell gehemmten Eiferers. Man darf fragen, ob Hitler im
Fernsehen, das auf Nähe angewiesen ist, nicht den Talmi-
glanz verloren hätte, den er in der Großräumigkeit seiner
Massenversammlungen gewann. Es sei hier an McCarthy
erinnert, jenen amerikanischen Hexenjäger, dessen Mythos
versank, nachdem er im Fernsehen sprach, weil dieser De-
magoge nicht telegen war.
Zu den Werkzeugen, mit denen Hitler sich populär machte,
mit denen er die Meinungen der Menschen knetete, gehörte
selbstverständlich auch der R u n d f u n k . Man stelle sich einen

2 aaO., S. 531.
3 aaO., S. 535.

10
Menschen vor, d e r noch nicht recht weiß, ob er Hitlers An-
hänger werden soll. Er sitzt allein zu Hause und hört eine
Hitlerrede im Radio, die immer wieder von Beifallsstür-
men unterbrochen wird. Muß er nicht den Eindruck gewin-
nen, er allein sei ein Einzelgänger, ein Außenseiter, alle
anderen seien ja f ü r Hitler? Wer wußte denn schon, wie-
viele Menschen in der berüchtigten Sportpalastrede auf
Goebbels Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?" mit einem
stürmischen „Ja" antworteten? Wieviele Menschen faßt
denn der Sportpalast? Bestenfalls 8 000 —12 000, von da-
mals 4,5 Millionen Berlinern. Der in seinem Siegesver-
trauen unsichere Zuhörer in der Kleinstadt, in der Provinz,
mußte aber den Eindruck gewinnen, er allein zaudere, alle
anderen stünden noch „wie ein Mann" hinter Hitler.
Ähnlich klug ausgedacht waren die Symbole des Nazismus:
der deutsche Gruß, eigentlich der römische Gruß, und das
Hakenkreuz. In einer Wochenschau, die Hitler bei einer
Wahlkampfrede vor 1933 zeigte, w a r zu sehen, wie Leute,
die beim Absingen des Deutschlandliedes zögerten, die
rechte Hand zu erheben, dann schließlich doch mitmachten.
Es scheint, es ist f ü r den Durchschnittsmenschen nichts
schwerer zu ertragen als das Gefühl, mit einer größeren
Gruppe uneins zu sein.
Und dann das Hakenkreuz. Es kann von jedermann leicht
mit Kreide nachgemacht werden. Mußte nicht ein ängst-
licher Bürger, der morgens auf dem Wege zur Arbeit sah,
daß die Häuser seines Stadtviertels mit Hakenkreuzen be-
schmiert waren, meinen, die Hakenkreuzler hätten nicht
nur ein paar SA-Männer, sondern viele Anhänger? Und
doch genügen einige Hände, um viele Hakenkreuze an
Mauern und Wänden zu schmieren. So vermochte Hitler
einmal die Identifikation der Massen mit ihm, dem Führer,
dem „Vater" der Bewegung zu erreichen und außerdem
seine Allgegenwärtigkeit vorzutäuschen.

Die D e m o k r a t i e
u n d der A p p e l l a n d e n U n t e r l e i b
Leider ist der Appell an die Gefühle und an die unbewuß-
ten Triebe nicht auf Diktatoren beschränkt. Erinnern wir
uns noch einmal daran, der Amerikaner Kenneth Boul-
ding hält eine unsichtbare Diktatur f ü r denkbar, die sich
noch demokratischer Regierungsformen bedient. Und Ste-
venson sagte, nachdem sich die amerikanischen Wahl-
kämpfe in eine A r t Zirkusspiele gewandelt hatten: „Die
Vorstellung, m a n könne Kandidaten f ü r ein hohes Amt
anpreisen wie Frühstücksflocken . . . ist der Demokratie im
höchsten Grade unwürdig" 4 .
Der Republikanische Parteitag 1956 in San Francisco ist ein
Muster f ü r die Art und Weise, wie heute Präsidentschafts-
kandidaten nominiert werden. Packard schreibt hierzu 5 :
„Sogar die Geistlichen übernahmen in die Eingangs- und
Schlußgesänge der Fernsehgottesdienste die Hauptslogans
der GOP (Grand Old Party — Republikanische Partei). Der
Mann, der die Produktion überwachte — er wurde regel-
recht als .Produzent' der Veranstaltung bezeichnet —, w a r
der Hollywood-Schauspieler und Public-Relations-Direktor
der Metro-Goldwyn-Mayer, George Murphy.
4 Zitiert nach Packard aaO., S. 239.
5 aaO., S. 233.
11
Mr. Murphy schien alle Delegierten als Darsteller in einem
Superkolossalschauspiel zu betrachten. Eine dunkle Brille
tragend, stand er ein paar Schritte hinter der Rednertri-
büne. Berichterstatter beobachteten, wie er .fachkundig' die
Regiezeichen f ü r Tusch, Stretch-out und Abblenden gab.
Die Delegierten bekamen ihr Einsatzzeichen mit dem Or-
chester zusammen. Er geriet in geradezu wütende Akti-
vität, als ein Delegierter aus Nebraska ,Joe Smith' als Vize-
präsidenten zu nominieren versuchte, und zwar aus Protest
gegen die GOP-Strategen, die auf Abstimmung per Akkla-
mation bestanden. Schließlich schaffte Mr. Murphy den wi-
derspenstigen Delegierten m i t Hilfe anderer Männer aus
dem Saal." In ähnlicher Weise hat sich bereits der letzte
Wahlkampf in Westdeutschland vollzogen.
Es kann kein Zweifel daran sein, daß z. B. die CDU
Adenauer durch ihre Werbung als ein Vatersymbol aufge-
baut hat. Und als der Adenauer-Mythos zu wanken begann,
wurde Erhard als der sorgsame Hausvater propagiert, der
aufpaßt, daß immer die Kasse stimmt. Vertraute Vorstel-
lungen wurden erweckt, die meist aus dem Bereich der
Familie und anderer intimer Lebenskreise stammten.

„Ich bin ein M e n s c h e n f r e u n d "

In der Süddeutschen Zeitung vom 18./19. 5. 1963 berichtet


Hans Urich Kempski über Ludwig Erhards Wahlkampf-
reise in Niedersachsen. Ein paar Zitate aus diesem Bericht
seien hier angeführt und kommentiert. Da heißt es: „Der
noch gezügelte Begrüßungsapplaus f ü r Ludwig Erhard ist
eben verebbt, als sich plötzlich der Menge ein animiertes
Jauchzen bemächtigt. Es steigert sich schnell zu prasseln-
dem Beifall, in dem sich Frauenstimmen mischen mit dem
Ruf: ,Sie dampft!' Genießerisch nimmt Erhard die Verzük-
kung wahr. Er hat sie ausgelöst mit einem Trick, der wäh-
rend der ersten Wahlkampfreise des designierten Bundes-
kanzlers stets aufs neue die gleiche Wirkung zeugt. Er zün-
det sich bei Betreten des Rednerpodestes eine Zigarre an.
Meinungsbefragungen haben in seinem Auftrag festge-
stellt, daß die große Masse der bundesdeutschen Wähler
den paffenden Professor gemütlich findet; bloß 3,8 Prozent
würden ihn lieber ohne Zigarre sehen!" Der zukünftige
Landesvater darf nicht als Parteivertreter auftreten. Des-
halb: „Er f ü h r t sich ein als Apostel der politischen Wahlan-
ständigkeit, indem er sagt: ,Bitte erwarten Sie von mir
keine Wahlrede mit Verunglimpfungen und Schmähungen
des politischen Gegners — nein, diese Zeit ist endgültig
vorbei'. Er tritt fortan auf als ein Mann der Einsicht, der
Mäßigung und Duldsamkeit, erhaben über kleinlichen P a r -
teihader und selbst bewegt von seinem Bekenntnis: ,Ich bin
ein Menschenfreund' ".
„Sechs mit Lautsprechern bestückte hellblaue Volkswagen-
busse der Mobilwerbung aus Bonn rollen Erhard jeweils
voran. Die Autos sind nicht mit CDU-Plakaten beklebt. Sie
f ü h r e n als Schmuck lediglich eine riesige schwarzrotgol-
dene Fahne, was ihnen einen würdigen, beinahe offiziellen
Anstrich gibt. Um so überraschender wirkt die Ankündi-
gung des ersten Fahrzeuges, dessen Lautsprecher die Lo-
sung von sich geben: ,In wenigen Minuten ist der Dicke da'.

12
Es folgt S c h a l l p l a t t e n m u s i k m i t d e m T e x t : ,Laß doch den
Dicken auch m a l ran, l a ß t i h n m a l zeigen, w a s er k a n n ' .
Nach e i n e m e x a k t e r r e c h n e t e n Zeitplan locken die nach-
f o l g e n d e n vier W a g e n in i m m e r k ü r z e r e m A b s t a n d die Be-
w o h n e r auf die S t r a ß e . Die S t i m m u n g ist f a s t so ausgelas-
sen, als ob eine Z i r k u s s e n s a t i o n im A n r o l l e n w ä r e . D a n n
a b e r k o m m t d e r sechste L a u t s p r e c h e r w a g e n mit d e r Sug-
g e s t i v s t i m m e eines Ansagers, d e r die L e u t e zwingt, ge-
b a n n t in die F e r n e zu s t a r r e n , nachdem sie v e r n o m m e n
h a b e n : .Achtung, jetzt k o m m t P r o f e s s o r L u d w i g Erhard!* ".
Wie v o m V a t e r u n d v o m Schulmeister spricht m a n im v e r -
t r a u t e n Ton, solange e r f e r n , voll E h r f u r c h t , sobald e r nah.
„Er h a t es a u f g e g e b e n , geschmeichelt a b z u w i n k e n , w e n n
ihn voreilige B e w u n d e r e r ,Herr B u n d e s k a n z l e r ' titulieren.
An allen O r t e n w i r d e r m i t Geschenken bedacht, v o r w i e -
gend m i t S p a r g e l und Z i g a r r e n " . W e r F r e u d s These vom
Ö d i p u s k o m p l e x k e n n t u n d weiß, daß m a n Z i g a r r e n und
S p a r g e l als P e n i s s y m b o l e deuten k a n n , sieht förmlich, wie
die S ö h n e f r o h sind, daß sie w i e d e r einen vitalen V a t e r
h a b e n , d e m sie schuldbewußt w e g e n versuchten A u f b e g e h -
r e n s gegen den greisen G r o ß v a t e r und voll W o n n e i h r e
Männlichkeit o p f e r n d ü r f e n .
Ähnlich f ü h r t e auch die S P D i h r e n W a h l k a m p f . Beide P a r -
teien n e n n e n sich demokratisch, a b e r beide P a r t e i e n verges-
sen: „ B e w u ß t e Rücksichtnahme auf u n b e w u ß t e T r i e b t e n -
denzen g e h ö r t z u r faschistischen Technik d e r Menschenbe-
h a n d l u n g . Die Vorstellung begeisterter, irgendwelche Flag-
gen s c h w e n k e n d e r u n d irgendwelche F ü h r e r b e j u b e l n d e r
Massen spricht d e m G e h a l t d e r progressiven Ideen Hohn,
in d e r e n N a m e n die progressiven Emotionen losgelassen
werden"
Allerdings d ü r f e n w i r die Macht d e r Massendemagogen
nicht überschätzen. Die Seelentechniker bleiben E x p o n e n -
ten sozialer Macht. Sie a r b e i t e n auf G r u n d psychologischer
Anlagen und E m p f ä n g l i c h k e i t e n u n d m i t psychologischen
Mitteln. Diese selbst u n d die Ziele, auf die der Demagoge
h i n a r b e i t e t , sind jedoch sozial bedingt.
Es sind soziale Mächte u n d Klassen, die m i t e i n a n d e r r i n -
gen. U n d es ist ein F e h l e r d e r D e m o k r a t e n , w e n n sie sich
die W a f f e n in diesem K a m p f von i h r e m Gegner vorschrei-
b e n lassen. Eine politische Bewegung, die die D e m o k r a t i e
als die S e l b s t b e s t i m m u n g d e r Gesellschaft zum Ziel hat,
m u ß a u f k l ä r e n , m u ß h e l f e n , die Wähler m ü n d i g zu machen.
Sie darf sich nicht m i t d e m Appell an den Unterleib, a n die
T r i e b e begnügen. D a r i n w i r d sie i m m e r j e n e n unterlegen
sein, die die b e s s e r e n Techniker haben, weil sie sie besser
bezahlen können. Sie sollte sich v i e l m e h r zu den U r e n k e l n
d e r deutschen A u f k l ä r u n g zählen, die, w i e Erich K ä s t n e r
e i n m a l sagte, Untertan und zugetan sind „den drei u n v e r -
äußerlichen F o r d e r u n g e n : nach d e r Aufrichtigkeit des E m p -
findens, nach d e r K l a r h e i t des D e n k e n s und nach d e r Ein-
fachheit in W o r t und Satz" 7 . W e n n sie sich mutig und ge-
duldig b e m ü h e n , diese F o r d e r u n g e n zu erfüllen, w e r d e n
sie auf die D a u e r nicht n u r M i t l ä u f e r gewinnen, den T r e i b -
s a n d d e r Gesellschaft, sondern M i t a r b e i t e r und Mitstreiter
zum A u f b a u einer besseren Gesellschaft.

6 Theodor W. Adorno, „Dissonanzen", Göttingen 1956, S. 55.


7 Erich Kästner: „Kästner über Kästner", In Ges. Werke,
Bd. V, Frankfurt a. M., 1958, S. 204.

13
Reinold E. Thiel
Die geheime Filmzensur

Das G r u n d g e s e t z f ü r d i e B u n d e s r e p u b l i k Deutschland v e r -
k ü n d e t in A r t i k e l 5: „Eine Z e n s u r f i n d e t nicht statt." D e r
W e i m a r e r V e r f a s s u n g , i m e r s t e n E n t w u r f (Art. 32) noch v o n
gleicher L i b e r a l i t ä t e r f ü l l t , w a r in d r i t t e r Lesung, v o r
allem auf B e t r e i b e n W ü r t t e m b e r g s , d e r n e u e A r t i k e l 118
e i n g e f ü g t w o r d e n , d e r eine E i n s c h r ä n k u n g v o r s a h : „. . . doch
k ö n n e n f ü r Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestim-
m u n g e n g e t r o f f e n w e r d e n " 1 . B e s t r e b u n g e n z u einer ä h n -
lichen Z e n s u r e r l a u b n i s h a t t e es auch bei d e r S c h a f f u n g d e s
G r u n d g e s e t z e s g e g e b e n 2 , doch w a r e n sie diesmal abgewie-
sen w o r d e n . D a s Z e n s u r v e r b o t des Grundgesetzes ist u n -
eingeschränkt. D i e K o m m e n t a r e bestätigen d a s : „ . . . ist
auch d e r . . . Film schlechthin v o n d e r Z e n s u r a u s g e n o m -
m e n " s.
So ist d i e Rechtslage. E i n e Z e n s u r f i n d e t t r o t z d e m statt.
A n f a n g 1963 w u r d e n E i n f u h r u n d A u f f ü h r u n g des tschechi-
schen Spielfilms „Das h ö h e r e P r i n z i p " v e r b o t e n . D e r Film
schildert d i e unmenschlichen Repressalien d e r deutschen
Besatzung nach d e m A t t e n t a t auf Heydrich, d i e B e m ü h u n -
gen eines alten Gymnasialprofessors, drei seiner Schüler
vor d e r E x e k u t i o n zu r e t t e n , u n d seine schließliche E i n -
sicht, d a ß d e r T y r a n n e n m o r d moralisch gerechtfertigt sei.
Dieser F i l m k o m m t a u s d e m Geist klassisch humanistischer
Ethik, i h n v e r b i e t e n h e i ß t d i e demokratischen Ideen des
G r u n d g e s e t z e s v e r h ö h n e n . Einige w e i t e r e Beispiele seien
a n g e f ü g t : V e r b o t e n w u r d e n d e r zweite u n d d r i t t e Teil des
sowjetischen Films „Der stille Don" nach d e m R o m a n v o n
Michail Scholochow (das Buch ist in j e d e r Volksbibliothek
zu finden). V e r b o t e n w u r d e die N e u v e r f i l m u n g v o n M a x i m
Gorkis R o m a n „Die M u t t e r " u n t e r d e r Regie v o n Donskoi
(die erste V e r f i l m u n g v o n P u d o w k i n ist freigegeben). V e r -
s t ü m m e l t w u r d e Sergei M. Eisensteins klassischer F i l m
„ A l e x a n d r N e w s k i " : e r w u r d e f ü r öffentliche V o r f ü h r u n -
gen v e r b o t e n , f ü r geschlossene V e r a n s t a t l u n g e n v o n 111
M i n u t e n auf 78 M i n u t e n beschnitten.
V e r a n t w o r t l i c h f ü r die a u f g e f ü h r t e n Verstöße gegen A r t . 5
G G ist d e r s o g e n a n n t e „Interministerielle Filmausschuß".
Dieser Ausschuß, d e m V e r t r e t e r v o n fünf (fallweise sechs)
B o n n e r Ministerien a n g e h ö r e n , p r ü f t F i l m e a u s Ostblock-
s t a a t e n u n d e m p f i e h l t d e m zuständigen „Bundesamt f ü r
gewerbliche Wirtschaft", die E i n f u h r d e s b e t r e f f e n d e n
Films zu e r l a u b e n oder v e r b i e t e n . Da d a s B u n d e s a m t
grundsätzlich k e i n e a n d e r e n Entscheidungen als die e m p -
f o h l e n e n t r i f f t , k a n n m a n de f a c t o v o n Entscheidungen des
Ausschusses sprechen. D e r Ausschuß a r b e i t e t v o n 1954 (nach
a n d e r e n Quellen v o n 1952) bis 1961 ohne gesetzliche G r u n d -

1 Konrad Lange: Das Kino in Gegenwart und Zukunft. Stutt-


gart 1920, S. 210—211.
2 Grundgesetz-Kommentar Hermann von Mangoldt. Berlin 1953.
3 Grundgesetz-Kommentar von Mangoldt/Klein. Berlin 1957.

14
läge. E r berief sich f ü r seine Tätigkeit auf den 1951 ge-
s c h a f f e n e n § 93 StGB, d e r die E i n f u h r von D a r s t e l l u n g e n
verbietet, die „den B e s t a n d der B u n d e s r e p u b l i k beeinträch-
tigen" oder die G r u n d r e c h t e beseitigen sollen. E r verletzte
d a m i t das P r i n z i p der G e w a l t e n t e i l u n g , nach welchem ein
V e r b o t a u f g r u n d des § 93 n u r d u r c h die Gerichte ausge-
sprochen w e r d e n k a n n . I n d e r Zeit bis 1961 w u r d e n 1200
F i l m e g e p r ü f t , d a v o n 90 v e r b o t e n 4 . A m 8. F e b r u a r 1961 b e -
schloß d e r B u n d e s t a g das „Gesetz z u r Ü b e r w a c h u n g s t r a f -
rechtlicher u n d a n d e r e r V e r b r i n g u n g s v e r b o t e " 4 , das d e m
Mangel a b h e l f e n sollte. Das Gesetz v e r b i e t e t die E i n f u h r
v o n Filmen, „die nach i h r e m I n h a l t dazu geeignet sind, als
P r o p a g a n d a m i t t e l gegen die freiheitliche demokratische
G r u n d o r d n u n g oder gegen d e n G e d a n k e n d e r V ö l k e r v e r -
s t ä n d i g u n g z u w i r k e n . . . " 5 u n d geht d a m i t ü b e r den § 93
S t G B w e i t h i n a u s . Z u r Ü b e r w a c h u n g dieses Verbotes m ü s -
sen alle e i n z u f ü h r e n d e n F i l m e d e m B u n d e s a m t vorgelegt
w e r d e n , das e n t s p r e c h e n d entscheidet. Durch V e r o r d n u n g
k ö n n e n F i l m e aus b e s t i m m t e n L ä n d e r n von der Vorlage-
pflicht b e f r e i t w e r d e n , u n d tatsächlich verbleibt nach ge-
schehener V e r o r d n u n g (vom 12. O k t o b e r 1961) die Pflicht
n u r bei F i l m e n aus Ostblockländern 6 . F i l m e aus faschisti-
schen S t a a t e n w i e Spanien, P o r t u g a l oder S ü d a f r i k a w e r -
den v o m Gesetzgeber o f f e n b a r nicht f ü r geeignet gehalten,
„als P r o p a g a n d a m i t t e l gegen die f r e i h e i t l i c h e d e m o k r a t i -
sche G r u n d o r d n u n g . . . zu w i r k e n " .

Welche halsbrecherischen juristischen K o n s t r u k t i o n e n h e r -


h a l t e n müssen, u m das W i r k e n des I n t e r m i n i s t e r i e l l e n
Ausschusses zu b e g r ü n d e n , zeigt die A n t w o r t von Minister
E r h a r d (dem d e r Ausschuß a b s u r d e r w e i s e untersteht) auf
eine p a r l a m e n t a r i s c h e A n f r a g e a m 1. F e b r u a r 1957: „Die
G e n e h m i g u n g z u r E i n f u h r m u ß stets d a n n v e r s a g t w e r d e n ,
w e n n der in das Bundesgebiet zu v e r b r i n g e n d e F i l m v e r -
fassungsfeindliche T e n d e n z e n v e r k ö r p e r t , d e r e n V e r f o l g u n g
durch § 93 S t G B u n t e r S t r a f e gestellt i s t . . . die m i t d e m
Genehmigungsverfahren befaßten Beamten würden daher
fortgesetzt einem V e r g e h e n nach § 93 StGB Vorschub lei-
sten u n d sich selbst d e r G e f a h r einer strafrechtlichen V e r -
f o l g u n g aussetzen . . . " 7 . Natürlich w ä r e es ein leichtes,
d e m g e g e n ü b e r d a r a u f hinzuweisen, daß die b e t r e f f e n d e n
B e a m t e n lediglich eine devisenrechtliche V e r a n t w o r t u n g
haben, sie sich also d e r Begünstigung v e r f a s s u n g s f e i n d -
licher T e n d e n z e n nicht schuldig machen können, da solche
T e n d e n z e n i h n e n im R a h m e n i h r e r Zuständigkeit gar nicht
b e k a n n t w e r d e n können.
Das G r u n d g e s e t z v e r b i e t e t in A r t i k e l 5 die Zensur. Z e n s u r
ist nach g e l t e n d e r R e c h t s a u f f a s s u n g „die Abhängigmachung
d e r A b f a s s u n g oder Herstellung, d e r V e r b r e i t u n g oder ein-
zelner A r t e n d e r V e r b r e i t u n g eines Geisteswerkes von b e -
hördlicher V o r p r ü f u n g und G e n e h m i g u n g seines I n h a l t s " 8 .
Allerdings m a c h t A r t i k e l 5 die Einschränkung: „Diese

4 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische


Berichte. 3. Wahlperiode, 142. Sitzung, 8. 2. 1961.
5 Bundesgesetzblatt I, 1961, S. 607—608.
6 Bundesgesetzblatt I, 1961, S. 1873.
7 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische
Berichte. 2. Wahlperiode, 189. Sitzung, 1. 2. 1957.
8 Kurt Häntzschel: Das Recht der freien Meinungsäußerung.
In: Handbuch des deutschen Strafrechts. Tübingen 1932, II,
S. 651 f.

15
Rechte f i n d e n i h r e S c h r a n k e n in den Vorschriften d e r all-
g e m e i n e n G e s e t z e . . . " W e d e r § 93 S t G B noch das V e r b r i n -
gungsgesetz k ö n n e n jedoch als „allgemeine Gesetze" gelten;
beide sind z u m Zweck d e r E i n s c h r ä n k u n g d e r M e i n u n g s -
f r e i h e i t beschlossen w o r d e n u n d m ü s s e n d a h e r als S o n d e r -
gesetze gelten, die rechtlich nichtig sind. „Ein Sondergesetz
gegen die M e i n u n g s - und P r e s s e f r e i h e i t v e r w a n d e l t sich
nicht d a d u r c h in allgemeines Gesetz im S i n n e des speziel-
len B i n d u n g s v o r b e h a l t s in Art. 5 II GG, daß es o h n e gleich-
h e i t s v e r l e t z e n d e und r e c h t s v e r u n s i c h e r n d e A u s n a h m e n auf
alle a n g e w e n d e t wird, die sich in t a t b e s t a n d s m ä ß i g e r Weise
v e r f a s s u n g s f e i n d l i c h b e t ä t i g e n u n d d a d u r c h eine S t r a f t a t
b e g e h e n " Allerdings k a n n das durch das Z e n s u r v e r b o t ge-
schützte Recht d e r M e i n u n g s f r e i h e i t nach Art. 18 GG v e r -
w i r k t w e r d e n : „Wer die F r e i h e i t d e r M e i n u n g s ä u ß e r u n g . . .
z u m K a m p f e gegen die freiheitliche demokratische G r u n d -
o r d n u n g m i ß b r a u c h t , v e r w i r k t diese G r u n d r e c h t e " . A b e r
zugleich legt Art. 18 eindeutig fest, w e r ü b e r die V e r w i r -
k u n g b e f i n d e t : „Die V e r w i r k u n g und ihr A u s m a ß w e r d e n
durch das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t ausgesprochen". Wenn
also anstelle dieses Gerichtes eine E x e k u t i v b e h ö r d e , das
B u n d e s a m t f ü r gewerbliche Wirtschaft oder d e r I n t e r m i n i -
sterielle Filmausschuß ü b e r die V e r w i r k u n g von G r u n d -
rechten b e f i n d e t , so ist das v e r f a s s u n g s w i d r i g . Ebenso v e r -
f a s s u n g s w i d r i g ist das Gesetz, das das v e r f a s s u n g s w i d r i g e
W i r k e n einer B e h ö r d e legalisieren soll: Das Gesetz ist nicht
m i t d e r Absicht d e r V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g beschlossen w o r -
d e n u n d d a h e r nichtig. J e d e r m a n n k a n n sich, i m V e r -
t r a u e n auf die Gültigkeit des G r u n d g e s e t z e s d a r ü b e r h i n -
wegsetzen.
Daß solches nicht geschieht, daß die v e r f a s s u n g s w i d r i g e n
Entscheidungen des I n t e r m i n i s t e r i e l l e n Ausschusses beach-
tet w e r d e n , m u ß einen e n r a g i e r t e n Z e n s u r g e g n e r v e r w i r -
ren. Nicht e i n m a l die V e r w a l t u n g s g e r i c h t e sind b i s h e r a n -
g e r u f e n worden, v o r denen eine Entscheidung des B u n d e s -
a m t e s angefochten w e r d e n könnte, o h n e daß die V e r f a s -
s u n g s m ä ß i g k e i t i h r e r gesetzlichen G r u n d l a g e n angezweifelt
w e r d e n m ü ß t e . Ein einziger Fall ist dem V e r f a s s e r b e k a n n t
geworden, in welchem ein A n t r a g s t e l l e r gegen eine E n t -
scheidung des Ausschusses e t w a s u n t e r n a h m : Er v e r a n l a ß t e
einen B u n d e s t a g s a b g e o r d n e t e n , einen Brief an einen B e a m -
ten im I n n e n m i n i s t e r i u m zu schreiben. Der Film w u r d e
d a r a u f h i n p r o m p t genehmigt. A b e r der Fall blieb v e r -
einzelt.
Das d e u t e t darauf hin, daß die Bedingungen, u n t e r d e n e n
Z e n s u r stattfindet, sich gewandelt h a b e n . Die klassische
juristische Definition, die geeignet w ä r e , als Hebel gegen
d e n Mißstand zu dienen, bleibt unbeachtet. Ist d e r G r u n d
möglicherweise der, daß sie d e n T a t b e s t a n d nicht m e h r
e r f a ß t ? U m das zu ermitteln, ist es notwendig, einige a n -
d e r s g e l a g e r t e Einzelfälle zu beschreiben.
Fall 1: „Die Filmselbstkontrolle h a t aus d e m D o k u m e n t a r -
film ,Die D i k t a t o r e n ' eine Sequenz herausgeschnitten, in
d e r d e r spanische Diktator F r a n c o nachteilig dargestellt
w i r d — die Sequenz schildert die mit mittelalterlichem
P o m p vollzogene Hochzeit d e r Tochter des .Caudillo'. Die
F S K ist d e r Meinung, daß diese Darstellung geeignet sei,

9 Hans Copie: Berufsverbot und Berufsfreiheit. In: Juristen-


zeltung, 1963, S. 494.

16
,die Beziehungen Deutschlands zu einem a n d e r e n Staat zu
g e f ä h r d e n ' , w a s nach i h r e n Richtlinien nicht sein soll." 1 1
Die „Freiwillige Selbstkontrolle d e r F i l m w i r t s c h a f t " (FSK)
ist k e i n e B e h ö r d e im Sinne der Zensur-Definition von
Häntzschel, s o n d e r n eine Selbstkontrolleinrichtung, d e r e n
Ausschüsse paritätisch von d e r F i l m w i r t s c h a f t und der öf-
fentlichen H a n d besetzt w e r d e n . Daß j e d e r in d e r Bundes-
r e p u b l i k öffentlich v o r g e f ü h r t e Film d e r FSK vorgelegt
w e r d e n muß, ist d e m e n t s p r e c h e n d nicht durch ein Gesetz
oder eine V e r o r d n u n g festgelegt, s o n d e r n durch ein System
privatrechtlicher Verträge, vulgo durch ein juristisch
lückenlos gemachtes Boykottsystem. Der Antragsteller (Pro-
duzent oder Verleiher) m u ß sich verpflichten, die Entschei-
dung der F S K a n z u e r k e n n e n , das Kino, das nicht f r e i g e g e -
bene F i l m e spielt, w ü r d e von den V e r l e i h e r n nicht m e h r
b e l i e f e r t w e r d e n , etc. Die F S K ist durch einen freiwilligen
Entschluß d e r filmwirtschaftlichen S p a r t e n v e r b ä n d e zu-
s t a n d e g e k o m m e n , a b e r d a r i n erschöpft sich i h r e F r e i w i l -
ligkeit: Die U n t e r w e r f u n g u n t e r i h r e Entscheidungen w i r d
durch das oben geschilderte Z w a n g s s y s t e m gewährleistet.
Eine staatliche Zensur, die nicht rigoroser sein könnte,
w i r d dadurch überflüssig gemacht. Daß die Grundgesetz-
K o m m e n t a r e sie nicht als Z e n s u r i n s t i t u t i o n betrachten, de-
m o n s t r i e r t n u r die Unzulänglichkeit juristischer Definitionen
g e g e n ü b e r d e n W a n d l u n g e n d e r Gesellschaft. Ein einziger
K o m m e n t a r zeigt die A r g u m e n t a t i o n auf, mittels d e r e r die
F S K a n g e g r i f f e n w e r d e n k ö n n t e : „Die grundrechtlich be-
stätigte Geistesfreiheit w i r k t absolut, nicht n u r gegenüber
der Staatsgewalt, s o n d e r n m u ß von dieser auch gegenüber
Dritten . . . geschützt werden." 11 N i e m a n d jedoch zeigt sich
interessiert a n d e r V e r w e n d u n g dieses A r g u m e n t s . Das
Grundgesetz v e r b ü r g t Freiheit von d e r Zensur, aber die
Gesellschaft f ü h l t sich sicherer m i t d e r Zensur.

2. Fall: D e m k u r z e n D o k u m e n t a r f i l m „Notizen aus dem Alt-


m ü h l t a l " d e r Münchner P r o d u k t i o n Strobel-Tichawsky
w u r d e von der F i l m b e w e r t u n g s s t e l l e Wiesbaden die E r -
teilung eines P r ä d i k a t s v e r w e i g e r t . Der Film zeigt und
k r i t i s i e r t die Z u s t ä n d e in einer rückständigen Gegend in
N i e d e r b a y e r n , die von m o d e r n e r Zivilisation unersdilossen
ist und aus der die B e v ö l k e r u n g in die S t ä d t e a b w a n d e r t .
Die F B W b e g r ü n d e t e i h r e Entscheidung unter Außeracht-
lassung d e r Logik so: „Es ist auffällig, daß die P r o d u z e n t e n
des Films sich m i t i h r e r beißenden, m i t u n t e r gar bösartigen
Kritik ausgerechnet auf Menschen stürzen, die m a n als
S t i e f k i n d e r des Fortschritts und des W i r t s c h a f t s w u n d e r s
bezeichnen k a n n . " 12 Natürlich tun das die P r o d u z e n t e n gar
nicht: sie tadeln vielmehr, daß diese Menschen sich i m m e r
noch als S t i e f k i n d e r f ü h l e n müssen.
Die „ F i l m b e w e r t u n g s s t e l l e Wiesbaden" (FBW) ist eine ge-
m e i n s a m e Einrichtung d e r Länder, die Filmen auf A n t r a g
das P r ä d i k a t „wertvoll" oder „besonders wertvoll" z u e r -
kennt. Bei d e r V o r f ü h r u n g von Filmen, die eines der bei-
den P r ä d i k a t e tragen, braucht der Kinobesitzer weniger
V e r g n ü g u n g s s t e u e r zu zahlen, und zwar auch schon dann,

10 pat (d. i. Enno Patalas): Nochmals: Politische Zensur. In:


Filmkritik, 5/1961, S. 225.
11 Grundgesetz-Kommentar Friedrich Giese. Frankfurt/Main
1955 '.
12 bgh (d. i. Wilfried Berghahn): „Eine gewisse Achtung vor
dem Menschlichen . . .". In: Fiimkritik 6/1961, S. 274—277.

17
w e n n nicht d e r H a u p t f i l m des P r o g r a m m s , s o n d e r n n u r der
V o r f i l m das P r ä d i k a t trägt. A b e n d f ü l l e n d e F i l m e h a b e n n u r
r e l a t i v selten ein P r ä d i k a t (106" v o n 50714 i m K a l e n d e r j a h r
1961). Es h a t sich d a h e r e i n g e b ü r g e r t , a b e n d f ü l l e n d e F i l m e
n u r gekoppelt mit einem prädikatisierten Kurzfilm vorzu-
f ü h r e n . Die F B W h a t d e m B r a u c h Rechnung getragen, in-
d e m sie d e r ü b e r w i e g e n d e n Z a h l d e r K u r z f i l m e ein P r ä d i -
k a t e r t e i l t (438 v o n 623 i m K a l e n d e r j a h r 1961) auch w e n n
diese F i l m e tatsächlich k e i n e r l e i k ü n s t l e r i s c h e Q u a l i t ä t e n
h a b e n . Die V e r w e i g e r u n g des P r ä d i k a t s f ü r einen K u r z f i l m
b e d e u t e t d a h e r , daß d e r F i l m u n v e r k ä u f l i c h ist. Eine Maß-
n a h m e , die z u r F ö r d e r u n g g u t e r F i l m e gedacht w a r , h a t
sich so zu e i n e m Z e n s u r m e c h a n i s m u s fortentwickelt. „No-
tizen aus d e m A l t m ü h l t a l " w u r d e aus e i n d e u t i g e n G r ü n d e n
nicht p r ä d i k a t i s i e r t : d e r F i l m w a r d e r F B W zu kritisch.
Erst als er m e h r e r e i n t e r n a t i o n a l e P r e i s e erhielt u n d die
P r e s s e die Entscheidung auf das h e f t i g s t e a n g r i f f , w u r d e
sie r e v i d i e r t : Mit e i n e i n h a l b J a h r e n V e r s p ä t u n g erhielt d e r
F i l m doch noch das P r ä d i k a t „wertvoll".

3. Fall: D e r F i l m „ U r l a u b von d e r Stange" des M ü n c h n e r


P r o d u z e n t e n u n d Regisseurs W a l t e r K r ü t t n e r , 1960 h e r g e -
stellt, erschien bis h e u t e nicht in bundesdeutschen Kinos.
D e r Film, d e r a m Beispiel d e r Stadt R u h p o l d i n g eine
ironische A b h a n d l u n g ü b e r den m o d e r n e n M a s s e n t o u r i s m u s
bietet, w u r d e v o n d e r F S K freigegeben, von d e r F B W p r ä -
dikatisiert u n d von d e r (damals noch intakten) U f a a n g e -
k a u f t . E h e er jedoch in die Kinos k o m m e n k o n n t e , d r o h t e n
die S t a d t R u h p o l d i n g u n d die Reisefirma T o u r o p a d e r U f a
m i t e i n e m P r o z e ß w e g e n Geschäftsschädigung. Die Ufa gab
klein bei und v e r k a u f t e den F i l m a n die Touropa. D e r H e r -
steller des Films, W a l t e r K r ü t t n e r , h a t selbst nicht m e h r
das Recht, seinen F i l m öffentlich v o r z u f ü h r e n 1 6 .
H i e r liegt o f f e n b a r ein Mangel des U r h e b e r r e c h t s vor. Der
P r o d u z e n t v e r k a u f t (für eine b e s t i m m t e Zeitspanne) seinen
Film m i t allen Rechten an einen Verleiher. Stillschweigende
Voraussetzung ist, daß d e r V e r l e i h e r ihn z u m Zwecke d e r
öffentlichen V o r f ü h r u n g e r w i r b t . D e r V e r l e i h e r v e r k a u f t
ihn weiter, und Zweck des zweiten V e r k a u f s v o r g a n g s ist es,
die V o r f ü h r u n g zu v e r h i n d e r n . Darauf h a t d e r U r h e b e r
k e i n e n Einfluß m e h r . J e m a n d , der v e r m e i d e n will, daß in
d e r Öffentlichkeit K r i t i k a n i h m geübt wird, k a n n , falls er
n u r die nötigen finanziellen Mittel besitzt, eine p r i v a t e
Z e n s u r a u s ü b e n . Sollte es nicht möglich sein, das U r h e b e r -
recht so umzugestalten, daß, w e n n ein Geisteswerk zum
Zwecke seiner U n t e r d r ü c k u n g e r w o r b e n w i r d , die Rechte
d a r a n automatisch a n den U r h e b e r zurückfallen? Sollte es
nicht möglich sein, d e n Begriff des Mißbrauchs d e r Rechte
a n G e i s t e s w e r k e n juristisch zu kodifizieren?

4. Fall: Als d e r Regisseur Wolfgang L i e b e n e i n e r 1955 ein


R e m a k e des F i l m s „Urlaub auf E h r e n w o r t " a n z u f e r t i g e n
hatte, versuchte er, die Situation des J a h r e s 1944 realistisch
darzustellen u n d m a ß v o l l e K r i t i k an d e n Z u s t ä n d e n im D r i t -

13 Besonders wertvoll. 5. Folge, Wiesbaden 1962, S. 175—177.


14 Das Filmangebot des Jahres 1961. In: Film-Dienst 1/1962, S. 1.
15 Besonders wertvoll — Kulturfilme, Dokumentarfilme, Ju-
gendfilme, Kurzfilme. 2. Folge, Wiesbaden 1963, S. 411.
16 Touristik — Tränende Augen. In: Der Spiegel, 43/1960,
S. 74—75.

18
ten Reich zu üben. Das w u r d e i h m von seinem Verleiher
v e r w i e s e n : „Der Kriegsfilm sollte .weder pro noch anti
sein, s o n d e r n den 2. Weltkrieg .vom rein Menschlichen' h e r
fassen. Das Drehbuch, f o r d e r t e d e r Verleih, m ü s s e f r e i sein
von Politik und T r ü m m e r n . " 1 7 Als L i e b e n e i n e r t r o t z d e m
A n t i k r i e g s t e n d e n z e n in d e m Film u n t e r b r a c h t e , n a h m der
Verleih in seiner A b w e s e n h e i t Ä n d e r u n g e n v o r und hielt
den Rest seiner Gage zurück.
Dieser Fall ist typisch f ü r die Gebräuche in der deutschen
F i l m w i r t s c h a f t . E r ragt n u r dadurch h e r v o r , daß d e r Be-
t r o f f e n e ihn d e r Öffentlichkeit zur K e n n t n i s gebracht hat.
F ü r gewöhnlich spielt sich derlei in d e r Stille ab. Dies ist
die eigentliche Selbstkontrolle, ihr k a n n die offizielle, die
FSK, w a s die W i r k s a m k e i t a n b e t r i f f t , nicht das Wasser
reichen.
5. Fall: Der Regisseur H a r a l d Braun, d e r o f t als Beweis-
stück d a f ü r h a t dienen müssen, daß in der Bundesrepublik
auch e r n s t z u n e h m e n d e Filme hergestellt w u r d e n (womit
d a n n die s o g e n a n n t e n Problemfilme gemeint waren), be-
n u t z t e 1956 den R o m a n „Struensee" von R o b e r t N e u m a n n
als Vorlage zu seinem Film „Herrscher ohne Krone". Der
R o m a n schildert, wie d e r A r z t Struensee, der von einem
A u f e n t h a l t in F r a n k r e i c h als Verfechter egalitärer und
d e m o k r a t i s c h e r Ideale zurückkommt, 1769 zum V e r t r a u t e n
und R a t g e b e r des dänischen Königs wird, sich durch den
Gebrauch d e r Macht allmählich k o r r u m p i e r e n läßt und
seine Ideale v e r r ä t . Der Film schildert S t r u e n s e e als weit-
sichtigen Politiker, d e r allein in der Lage w ä r e , D ä n e m a r k
einer besseren Z u k u n f t e n t g e g e n z u f ü h r e n , jedoch durch die
I n t r i g e n d e r H o f k a m a r i l l a d a r a n g e h i n d e r t wird. Ein a n t i -
a u t o r i t ä r e r R o m a n (1935 in d e r E m i g r a t i o n geschrieben)
w i r d in einen p r o - a u t o r i t ä r e n Film umgefälscht. N i e m a n d
h a t t e H a r a l d B r a u n zu dieser V e r ä n d e r u n g seiner Vorlage
gezwungen. Seine eigene Mentalität w a r es, die in dieser
Verherrlichung eines u n g e k r ö n t e n Selbstherrschers i h r e n
Ausdruck f a n d — die Mentalität eines loyalen und wohl-
a n g e p a ß t e n B ü r g e r s der Bundesrepublik.
Es m u ß an dieser Stelle einem Mißverständnis vorge-
beugt w e r d e n : Die geschilderten Fälle k ö n n e n keineswegs
den Anspruch e r h e b e n , als statistisch r e p r ä s e n t a t i v zu gel-
ten. Ein Fall wie d e r d e r V e r s t ä n d i g u n g zwischen Ufa und
T o u r o p a ist vermutlich n u r recht selten vorgekommen. Was
FSK u n d F B W b e t r i f f t , so r e p r ä s e n t i e r e n die berichteten
Fälle keineswegs die wichtigsten D e f e k t e d e r beiden Insti-
tutionen: Die F S K ist im allgemeinen nicht zu streng, son-
d e r n e h e r zu milde, sie hat i m m e r w i e d e r militaristische,
profaschistische und chauvinistische Filme freigegeben, die
sie nach i h r e n Richtlinien v e r b i e t e n m ü ß t e . Die FBW leidet
an m a n g e l n d e m Unterscheidungsvermögen, sie hat zu h ä u -
fig m i t t e l m ä ß i g e F i l m e prädikatisiert und die w a h r e n
Meisterwerke verkannt.
Nichtsdestoweniger sind die a n g e f ü h r t e n Fälle signifikant:
Erst durch die bei ihnen v o r g e f u n d e n e Rigorosität der
M e i n u n g s e i n s c h r ä n k u n g zeigt sich die E r f o r d e r n i s , den Tat-
bestand d e r Z e n s u r n e u zu definieren. Der klassische j u r i s t i -

17 Kriegsfilm — mit kleinen Schnitten. In: Der Spiegel, 12/1956,


S. 41—43.
Der Verleih wünscht: „Keine Ruinen und keine Angriffe
auf die Partei!" In: Kirche und Film, 3/1956, S. 9—10.

19
sehe Zensurbegriff, wie er oben zitiert wurde, ist auf dem
Boden des Obrigkeitsstaates gewachsen.
Die Scheidung der Fronten wird erkennbar schwieriger in
einer Gesellschaft, die sich nicht m e h r als Hierarchie von
Obrigkeit und Untertanen, sondern als Miteinander kon-
k u r r i e r e n d e r G r u p p e n versteht. Daß es in der Bundes-
republik tatsächlich noch eine Obrigkeitszensur gibt, w ä r e
ein lächerlicher Atavismus, wenn es nicht ein so ernstes
Indiz f ü r die Rückständigkeit der augenblicklich staats-
tragenden Gruppen wäre. Aber der Zeitpunkt ist abzu-
sehen, da der Interministerielle Ausschuß fallen wird. Auf-
schlußreicher sind die übrigen Erscheinungen: Die Funktion
der Zensur ist auf Gruppen übergegangen. Und die größte
Macht, diese Zensur auszuüben, haben auf Grund ihres
wirtschaftlichen Rückhalts die konservativen und reaktionä-
ren Gruppen. Sie finden sich zusammen zu einer Boykott-
gemeinschaft (FSK), sie k a u f e n eine Meinung auf (Touropa),
sie schreiben einer abhängigen Person die zu artikulierende
Meinung vor (Liebeneiner). Wenn noch einmal der Staat
a u f t r i t t (FBW), dann mit wirtschaftlichen Mitteln und als
Vertreter konservativer Gruppeninteressen: er unterdrückt
Kritik, indem er sie nicht subventioniert.
Die größte Besorgnis muß dem Fall Harald Braun gelten.
Liebeneiner, in dem geschilderten Falle, w u r d e zu dem ge-
zwungen, was Braun freiwillig tat. Braun w ä r e der ideale
Untertan des Obrigkeitsstaates gewesen: er hat die Postu-
late der Rückständigkeit, die die Zensur verteidigt, v e r -
innerlicht. F ü r ihn ist die Zensur überflüssig geworden,
er nimmt sie vorweg. Hier ist sogar die eigentliche Selbst-
kontrolle der deutschen Filmwirtschaft, wie im Falle Lie-
beneiner, überflüssig geworden. An ihre Stelle tritt die
Selbstentmannung.
Die zu Anfang gestellte Frage, w a r u m gegen den I n t e r -
ministeriellen Ausschuß niemand die Verwaltungsgerichte
anrufe, wird sich zum Teil mit dem Hinweis beantworten
lassen, die Antragsteller befürchteten Repressalien. Da die
Ausschußmitglieder nicht bekannt sind, Entscheidungsricht-
linien nicht existieren, ist die Rechtsunsicherheit konsti-
tuierendes Merkmal des Verfahrens: Der Antragsteller
könnte zwar hoffen, diesen Film vor Gericht freizubekom-
men, müßte aber fürchten, beim nächsten Antrag um so
h ä r t e r angefaßt zu werden. Zum anderen Teil wird man
hier die gleichen Gründe vermuten dürfen wie im Falle
Braun: inneres Einverständnis.
Dieser letzten Erscheinung wird man mit keiner Neudefi-
nition des juristischen Zensurbegriffs beikommen. Indes-
sen sollte es möglich sein, den Ubergang von der Obrig-
keitszensur zur Gruppenzensur zu kodifizieren und neue
juristische Gegenmittel zu erfinden. Die Richtung ist ange-
deutet in der zitierten Auslegung des Art. 5 GG bei Fried-
rich Giese: „Die grundrechtlich bestätigte Geistesfreiheit
wirkt absolut nicht nur gegenüber der Staatsgewalt, son-
dern muß von dieser auch gegenüber Dritten . . . geschützt
werden." Es müßte möglich sein, in der Bundesrepublik
durchzusetzen, daß trotz des Einspruchs einer Privatfirma
Kritik am Massentourismus geübt werden kann, und daß
trotz des Einspruchs spanienfreundlicher Kreise gesagt
werden darf, daß Franco ein Diktator ist. Sonst sollte man
übereinkommen, den Artikel 5 des Grundgesetzes zu
streichen.

20
Peter Heilmann
Nochmals zum
New Yorker Druckerstreik

Fünf Monate nach Beendigung des N e w Y o r k e r D r u c k e r -


streiks scheint es meines Erachtens angezeigt, eine D a r s t e l -
lung u n d Analyse d e r d a m a l i g e n Vorgänge zu versuchen.
G e g e n ü b e r d e n Notizen v o n Heide B e r n d t in „ A r g u m e n t "
Nr. 25 liegt h e u t e b e d e u t e n d u m f a n g r e i c h e r e s Material vor,
w e n n auch noch nicht alle Schleier g e l ü f t e t sind, die eine
k l a r e Sicht d e r T a t b e s t ä n d e b e h i n d e r n . Verläßliche A u s -
sagen ü b e r d i e G e w i n n e oder Verluste d e r N e w Y o r k e r
Z e i t u n g e n nach Beendigung des Streiks gibt es noch nicht;
von d e n V e r l e g e r n w u r d e sofort nach Beendigung des
Streiks e r k l ä r t , d a ß f r ü h e s t e n s in einem h a l b e n J a h r m i t
d e r a r t i g e n A n g a b e n gerechnet w e r d e n k a n n 1 .
A m 8. D e z e m b e r 1962 t r a t e n die Mitglieder d e r I T U (Inter-
n a t i o n a l T y p o g r a p h i c a l Unoin) No. 6 in N e w York m i t etwa
3000 Mitgliedern in den A u s s t a n d und b e s t r e i k t e n vier N e w
Y o r k e r Tageszeitungen: „New York Times", „Daily News",
„ J o u r n a l A m e r i c a n " u n d „World T e l e g r a m a n d t h e Sun".
Die übrigen, in d e r N e w Y o r k e r P u b l i s h e r s Association z u -
sammengeschlossenen Z e i t u n g e n „Mirror", „New York H e -
rald T r i b u n e " , „Long Island S t a r J o u r n a l " , „Post" und
„Long Island P r e s s " k ü n d i g t e n „vorsorglich" d e n A r b e i t e r n
und Angestellten u n d stellten auch i h r Erscheinen ein. D a -
m i t w a r N e w York, eine d e r zeitungsreichsten S t ä d t e d e r
Welt, o h n e Z e i t u n g e n 2 . Neben d e n D r u c k e r n w a r e n 17 000
A r b e i t e r u n d Angestellte jetzt ohne Arbeit. Beide Seiten,
sowohl die Verleger als auch die Drucker, rechneten m i t
einer langen D a u e r des Streiks. Nach 114 Tagen, a m 1. April
1963, w u r d e d e r Ausstand beendet.

1 In: „Zeitungs-Verlag und Zeitschriften-Verlag" — ZVZV —


1963, Nr. 27, S. 1522.
2 Auflage
wochentags sonntags
New York Herald Tribune 355 899 451 210
Journal American 617 250 773 519
Mirror 886 367 1 158 921
Daily News 2 006 983 3 147 219
New York Post 313 349 253 001
New York Times 680 265 1 306 418
World Telegram and the Sun 463 242 —
Long Island Press 293 595 369 907
Long Island Star Journal 98 964 —

5 715 914 7 460 195


In: „Die Zeit" — Dokumentation — „Weltstadt ohne Zeitung".

21
Die Ursache des Streiks findet sich in einer L o h n f o r d e r u n g
d e r Drucker, die v o r h e r einen wöchentlichen Mindestlohn
von 141 $ erhielten. Die Drucker f o r d e r t e n eine Zulage von
18.45 $ pro Woche, d a v o n im e r s t e n J a h r des V e r t r a g e s 10 S
wöchentlich u n d i m zweiten J a h r 8.45 $, wohingegen die
Verleger b e r e i t w a r e n , jedes J a h r 8 $ in d e r Woche zu z a h -
len. D a n e b e n f o r d e r t e n die G e w e r k s c h a f t e n verschiedene
S o z i a l v e r b e s s e r u n g e n : 4 Wochen bezahlten U r l a u b vom
e r s t e n D i e n s t j a h r an, l ä n g e r e L o h n f o r t z a h l u n g bei K r a n k -
heitsfällen, h ö h e r e L ö h n e f ü r Nachtarbeit, 35-Stunden-
Woche anstelle d e r bisherigen 36Vi S t u n d e n wöchentlich
und Schutz gegen E n t l a s s u n g bei M a ß n a h m e n zur A u t o m a -
tion. Die Verleger errechneten, d a ß dies einer F o r d e r u n g
von 38 $ wöchentlich gleichzusetzen ist
W ä h r e n d des Streiks beschuldigten sich beide Seiten, den
S t r e i k willkürlich begonnen zu h a b e n und absichtlich eine
V e r e i n b a r u n g so lange hinauszuzögern. Walter Thayer, d e r
P r ä s i d e n t d e r „New York Herald Tribune", d e r als H a u p t -
u n t e r h ä n d l e r d e r Zeitungsverleger, f u n g i e r t e , e r k l ä r t e , daß
d e r einzige S t r e i t p u n k t Geld sei, w ä h r e n d B e r t r a m A. P o -
wers, d e r Vorsitzende d e r ITU, dies zurückwies und be-
tonte, daß die V e r k ü r z u n g d e r Arbeitswoche, die A u t o m a -
tion und die V e r t r a g s d a u e r im V o r d e r g r u n d s t ü n d e n 4 .
A u ß e r d e m wies er darauf hin, daß die Verleger sich schon
seit zwei J a h r e n geweigert hätten, mit den G e w e r k s c h a f t e n
ü b e r diese wichtigen F r a g e n zu v e r h a n d e l n .
A n z u m e r k e n ist d a r ü b e r hinaus, daß N e w York eine d e r
w e n i g e n G r o ß s t ä d t e d e r USA ist, in d e r noch m e h r e r e Zei-
t u n g e n in einer gewissen K o n k u r r e n z existieren, w ä h r e n d
sonst weitgehend eine Monopolisierung h e r b e i g e f ü h r t
w u r d e . Nach vorliegenden A n g a b e n ist die Zahl d e r a m e r i -
kanischen S t ä d t e mit k o n k u r r i e r e n d e n Z e i t u n g s u n t e r n e h -
m e n in den letzten 40 J a h r e n von 552 auf 55 zurückgegan-
gen. D a m i t h a b e n n u r noch 5 °/o aller S t ä d t e k o n k u r r i e r e n d e
Zeitungen. In 16 °/o aller S t ä d t e in den USA gibt es m e h -
r e r e Zeitungen, a b e r in 160 Städten, in d e n e n zwei Z e i t u n -
gen erscheinen, g e h ö r e n sie demselben Besitzer 5 .
Den Anstoß zum Streik bildete d e r Ablauf eines V e r t r a g e s
ü b e r das Nachsetzen, das s o g e n a n n t e „Bogus"-System, oder
auch „dead h o u r s e " - P r a x i s oder „ f e a t h e r b e d d i n g " genannt.
Dieses Nachsetzen, die Reproduktionsklausel, besagt, daß
j e d e r A r t i k e l oder auch j e d e Annonce in d e r Setzerei d e r
b e t r e f f e n d e n Zeitung, in d e r sie erscheinen soll, auch ge-
setzt w e r d e n m u ß . In d e r P r a x i s w e r d e n von den großen
I n s e r e n t e n den Zeitungen der f e r t i g e Satz in F o r m von
Matritzen geliefert, da es sonst unmöglich wäre, zu g a r a n -
tieren, daß ein u n d dasselbe I n s e r a t in allen Teilen der
USA an d r m s e l b e n Tag erscheint. Diese Matritzen w e r d e n
nachgesetzt und in einer festgelegten Frist dem V e r t r e t e r
d e r G e w e r k s c h a f t vorgelegt und, w e n n dieser sie abgezeich-

3 Bezeichnend für die Situation in der deutschen Presse ist die


Tatsache, daß 38 S in fast allen Blättern ohne Kommentar
angenommen wurde. Siehe auch: „Archiv der Gegenwart"
— AdG —, 3. April 19R3, S. 10 511; in: „Neue Zürcher Zei-
tung" — NZZ —, 1. März 1963, Fernausgabe Nr. 59, Blatt 2.
4 In: „NZZ", 1. März 1963.
5 Diese Angaben wurden in einem Untersuchungsbericht des
amerikanischen Repräsentantenhauses von Emmanuel Celler
gemacht. Miller, I.: Aktuelle Probleme der amerikanischen
Tagespresse; in: „ZVZV" 1963. Nr. 9, S. 320.

22
n e t h a t , w i e d e r vernichtet. Ein a m e r i k a n i s c h e r G e w e r k -
s c h a f t l e r h a t dies m i t folgenden W o r t e n e r l ä u t e r t : An a d -
v e r t i s e r b r i n g s copy to b e published in a n e w s p a p e r which
r e q u i r e s typesetting. T h e p u b l i s h e r accepts t h e ads, sets
type, a n d p r i n t s it, charging the r e g u l a r r a t e . An o t h e r
a d v e r t i s e r comes to t h e same n e w s p a p e r w i t h his ads all
set a n d t h e p u b l i s h e r charges t h e s a m e r a t e f o r space as
w h e n h e h a d to set t h e type. T h u s h e gains m o r e p r o f i t .
T h e union role follows t h e p r i n c i p l e of w o r k e r s s h a r i n g t h e
productivity"®. Diese P r a x i s ist von d e r D r u c k e r g e w e r k -
schaft v o r J a h r e n durchgesetzt w o r d e n , auch als Schutz v o r
E n t l a s s u n g e n f ü r die G e w e r k s c h a f t s m i t g l i e d e r . Gleichzeitig
ist diese P r a x i s , u n t e r d e m Motto: job security, in den USA
k e i n e Seltenheit.
Auf die b e d e u t e n d e Rolle, die die ITU No. 6, die älteste
n a t i o n a l e G e w e r k s c h a f t , spielt soll hier nicht n ä h e r einge-
gangen w e r d e n 7 , a b e r es m u ß e r w ä h n t w e r d e n , daß diese
G e w e r k s c h a f t eine ausgezeichnete K o n t r o l l e ü b e r die A r -
b e i t s b e d i n g u n g e n ausübt. W e n n z u m Beispiel ein Verleger
ein ITU-Mitglied, das nicht gegen die A r b e i t s b e d i n g u n g e n
v e r s t o ß e n hat, entlassen will, m u ß er einen A n t r a g an den
Z e n t r a l v o r s t a n d der ITU, d e r n u r e i n m a l j ä h r l i c h tagt, rich-
ten. J e d e r , d e r im S e t z e r r a u m a r b e i t e t , m u ß Mitglied d e r
I T U sein, u n d schon allein das B e t r e t e n des S e t z e r r a u m e s
durch ein Nichtmitglied k a n n eine A r b e i t s n i e d e r l e g u n g z u r
Folge h a b e n . Kein J o u r n a l i s t oder R e d a k t e u r ist berechtigt,
die Setzerei zu b e t r e t e n , u m d o r t e t w a Einfluß auf den
Arbeitsablauf zu n e h m e n . Dieses „Gesetz", die R e p r o d u k -
tionskläusel und a n d e r e B e s t i m m u n g e n sind von der ITU
erlassen w o r d e n , u n d j e d e V e r h a n d l u n g m i t den V e r l e g e r n
ü b e r diese P u n k t e w u r d e b i s h e r s t r i k t abgelehnt. Wie k o n -
s e q u e n t diese e r k ä m p f t e n A r b e i t s b e d i n g u n g e n von Seiten
d e r G e w e r k s c h a f t e n beachtet w e r d e n , zeigt sich auch darin,
d a ß es bei den „Ersatzzeitungen" — i n s b e s o n d e r e bei dem
„New York S t a n d a r d " — w ä h r e n d des Streiks A u s e i n a n d e r -
s e t z u n g e n w e g e n d e r R e p r o d u k t i o n s k l a u s e l gegeben hat.

D e r 114tägige S t r e i k hatte, w i e in d e r P r e s s e vielfach b e -


richtet, vielfältige A u s w i r k u n g e n . Als erstes versuchten
R u n d f u n k und F e r n s e h e n — New York h a t 30 R u n d f u n k -
s t a t i o n e n und 8 F e r n s e h k a n ä l e — den A u s f a l l d e r Z e i t u n -
gen wettzumachen, i n d e m sie in g r ö ß e r e m U m f a n g Nach-
richten sendeten. Die R u n d f u n k s t a t i o n d e r „New York
Times" b r a c h t e v i e r m a l in der S t u n d e Nachrichten. S p ä t e r
w u r d e n auch K o m m e n t a r e , zum Beispiel aus d e r „New
York Times" i n t e r n a t i o n a l edition, verlesen und die Leit-
a r t i k l e r , die K o m m e n t a t o r e n und K r i t i k e r v e r t r a t e n i h r e
S t a n d p u n k t e v o r den F e r n s e h k a m e r a s . Auch die in den
USA b e s o n d e r s beliebten Comic strips w u r d e n im F e r n -
sehen gezeigt, a b e r d e r E r f o l g w a r , w i e schon bei a n d e r e n
Streiks, negativ. Die Zuschauer lachten ü b e r die Verlesung
d e r Comic strips, a b e r nicht, w i e gewöhnlich, ü b e r ihren
I n h a l t . B e f r a g u n g e n w ä h r e n d d e r „zeitungslosen" P e r i o d e
und danach h a b e n ergeben, daß eine s t a r k e M e h r h e i t d e r
Zeitungsleser dennoch m i t den „Ersatz"-Sendungen nicht
z u f r i e d e n g e s t e l l t w e r d e n konnte.

6 In: „Newsweek", 15. April 1963, S. 52 ff.


7 Lipset, S. M.: Geschichte und Stellung der organisierten
Drucker; in: Lipset, S. M., M. A. Trowe and J. S. Coleman:
Union Democracy. Glencoe/Ill. 1956.

23
Nach geschätzten A n g a b e n b e t r u g d e r V e r l u s t f ü r die a m e -
rikanische Wirtschaft einschließlich des Z e i t u n g s g e w e r b e s
200 bis 250 Millionen davon 101 Millionen $ f ü r e n t g a n -
gene Inserate, 47 Millionen $ f ü r L o h n e i n b u ß e n u n d 11 Mil-
lionen S V e r l u s t e f ü r die R e g i e r u n g an e n t g a n g e n e n
Steuern Die Tatsache, daß so u n g e h e u r e wirtschaftliche
V e r l u s t e durch den S t r e i k e n t s t a n d e n sind, ist von d e r
Presse, besonders auch in d e r B u n d e s r e p u b l i k , z u m Zweck
der E i g e n w e r b u n g a u s g e n u t z t w o r d e n " . Zwei A r g u m e n t e
w u r d e n dabei besonders h e r v o r g e h o b e n . Man b e h a u p t e t , der
Streik h a b e eindeutig bewiesen, daß 1. Zeitungen sich nicht
durch a n d e r e M a s s e n m e d i e n ersetzen lassen, und daß 2. sich
die W e r b u n g in der Zeitung i m m e r lohne. Beide A r g u m e n t e
sind bestechend, k ö n n e n jedoch nicht einfach h i n g e n o m m e n
werden.
1) B e f r a g u n g e n w ä h r e n d verschiedener Zeitungsstreiks
haben ergeben, daß Zeitungen v e r m i ß t w u r d e n . Dabei w u r -
den am meisten v e r m i ß t :
News (Nachrichten) 73 O/o
Sport News (Sportnachrichten) 37 «/»
Advertising (Anzeigen) 29 °/o
Editorial (Leitartikel) 27 I/o
F r o n t page (Titelseite) 23 "/n
Advice Columns (Ratschläge) 21 °/o
Comics 20
Es k a n n somit a n g e n o m m e n werden, daß die ü b r i g e n Mas-
senmedien, R u n d f u n k , F e r n s e h e n , Zeitschriften und in die-
sem Fall die „Ersatzzeitungen" nicht in d e r Lage w a r e n ,
die B e d ü r f n i s s e d e r Zeitungsleser zu befriedigen. U n t e r
Berücksichtigung der b e k a n n t e n Schwierigkeiten, e x a k t e
B e f r a g u n g s e r g e b n i s s e zu erzielen, k a n n auch diese Fest-
stellung mit V o r b e h a l t h i n g e n o m m e n w e r d e n .
B e r n a r d Berelson h a t schon 1945 darauf hingewiesen, daß
sich eine „zeitungslose" Zeit f ü r Untersuchungen ü b e r das
V e r h a l t e n d e r Leser und die Rolle d e r Zeitung als beson-
ders aufschlußreich anbietet. Berelson, Kimball und a n d e r e
Soziologen h a b e n sich auf G r u n d dieser Ü b e r l e g u n g e n seit-
h e r m i t diesen P r o b l e m e n beschäftigt. Sie gelangten im E r -
gebnis i h r e r U n t e r s u c h u n g e n zu e t w a folgenden Thesen
über die F u n k t i o n der Zeitung:
1. Die Zeitung dient zur I n f o r m a t i o n ü b e r das Weltgesche-
hen und zur persönlichen K o m m e n t i e r u n g dieser Ereignisse.
2. Die Zeitung bietet Hilfen zur Lösung von Alltags-
problemen.
3. Die Zeitung d i e n t der U n t e r h a l t u n g und der Ablenkung.
4. Zeitungen dienen zur A u f r e c h t e r h a l t u n g des Sozial-
prestiges. (Man k a n n nach d e r Z e i t u n g s l e k t ü r e mitreden,

In: „Deutsche Zeitung, 26. März 1963 200 Millionen $


in: „ZVZV" 1963, Nr. 16, S. 786 250 Millionen 8
in: „Editor & Publisher", 2. 2. 1963, S. 9 250 Millionen $
in: „AdG", 3. April 1963, S. 10 511 200 Millionen $
„Die Zeit" — Dokumentation — „Weltstadt ohne Zeitung".
Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger: „Ohne Zeitung
geht es nicht — Erfahrungen aus dem New Yorker Drucker-
streik."
„Die Zeit" — Dokumentation — „Weltstadt ohne Zeitung".

24
und es ist peinlich, w e n n m a n zu den a k t u e l l e n Ereignissen
nichts zu sagen weiß!)
5. Die Z e i t u n g gibt sich als K o n t a k t p e r s o n zwischen dem
Leser und d e r ü b r i g e n Welt.
6. Die Zeitung b e f r i e d i g t einen e l e m e n t a r e n Lesetrieb.
7. Die Zeitung w i r k t als Nervenkitzel.
8. Die Zeitung „ v e r b r a u c h t " Zeit. W ä h r e n d bei R u n d f u n k
und F e r n s e h e n s e k u n d ä r e Tätigkeiten möglich sind, läßt
sich dies bei d e r Z e i t u n g s l e k t ü r e nicht bewerkstelligen 1 5 .
Berelson versucht d a m i t h i n t e r die allgemeinen B e t e u e r u n -
gen von d e r U n e n t b e h r l i c h k e i t d e r P r e s s e zu k o m m e n und
v e r t r i t t die A u f f a s s u n g , daß sich h i n t e r diesen B e t e u e r u n -
gen im wesentlichen S t e r e o t y p e n v e r b e r g e n . Er gliedert
diese Thesen d e m e n t s p r e c h e n d in zwei G r u p p e n :
a) Die „rationale" B e n u t z u n g der Zeitung als Quelle von
Neuigkeiten und I n f o r m a t i o n e n .
b) Die „ i r r a t i o n a l e " A u s n u t z u n g der Zeitung als Mittel zur
H e r s t e l l u n g von Beziehungen zur Societät.
Ein Ü b e r w i e g e n d e r „irrationalen" M o m e n t e scheint v o r z u -
liegen. Auch zeigte es sich nach dem Streik, daß die B e f r a g -
ten ü b e r das Weltgeschehen w ä h r e n d des Streiks und ü b e r
das Weltgeschehen vor dem Streik gleich i n f o r m i e r t w a r e n .
W e i t e r h i n k o n n t e festgestellt w e r d e n , daß die f ü r R u n d -
f u n k und F e r n s e h e n a u f g e w e n d e t e Zeit s t a r k anstieg. F ü r
die tägliche Z e i t u n g s l e k t ü r e w u r d e n Zeiten zwischen
'/i—2 S t u n d e n angegeben. K i m b a l l k o n n t e auf G r u n d d e r
B e f r a g u n g von 164 Einzelpersonen f o l g e n d e Tabelle v o r -
legen:
Rundfunk Fernsehen
vor während vor während
•/» °/o »/n •/.
keine 4 5 5 6
1—14 Min. 23 8 5 4
15—29 Min. 15 10 1 1
30—60 Min. 13 10 9 9
1—2 Std 11 16 13 11
2—3 Std. 12 14 25 19
ü b e r 3 Std. 22 37 42 50
Auch die Tatsache, daß f a s t alle New Y o r k e r Tageszeitun-
gen bis zum heutigen Tag i h r e f r ü h e r e n Auflagen, trotz
s e h r s t a r k e r E i g e n w e r b u n g , nicht w i e d e r erreicht h a b e n
und d e r a n g e s e h e n e Z e i t u n g s f a c h m a n n Vincent J. Manno
die Frage, ob alle New Y o r k e r Zeitungen die w i r t s c h a f t -
liche K r i s e w e r d e n ü b e r w i n d e n können, v e r n e i n t e , zeigt,
daß die A u s w i r k u n g e n des Streiks noch nicht ü b e r w u n d e n
sind. Zweifellos spielt hierbei das v e r ä n d e r t e P u b l i k u m s -
interesse eine Rolle. Manno ist a u ß e r d e m der Meinung, daß
n u r noch drei New Y o r k e r Zeitungen profitabel arbeiten
können, obwohl fast alle nach dem Streik i h r e V e r k a u f s -
preise e r h ö h t h a b e n ' 3 .

12 Thesen 1—6 stammen von Berelson, Thesen 7—8 von Kimball.


Berelson, B.: What „missing the newswaper" means; in:
Public Opinion and Propaganda, Hrsg. Daniel Katz, New
York 1954, S. 263 ff. Kimball, P.: People without papers; in:
„The public opinion quaterly", Voll. XXIII 1959/60, S. 389 ff.
13 In: „ZVZV" 1963, Nr. 27, S. 1523.

25
2) Sicher ist die W e r b u n g d u r c h die P r e s s e eine geeignete
Methode, u m das K ä u f e r i n t e r e s s e zu wecken. W ä h r e n d des
S t r e i k s in N e w York k l a g t e n b e s o n d e r s die großen W a r e n -
h ä u s e r , d a ß die H a u s f r a u e n ziellos durch die einzelnen A b -
t e i l u n g e n g e i r r t seien, o h n e e t w a s zu k a u f e n , da sie v o r h e r
nicht durch A n n o n c e n ü b e r S o n d e r a n g e b o t e i n f o r m i e r t
w u r d e n . I m m e r w i e d e r w u r d e betont, daß d e r a m e r i k a -
nische K ä u f e r sich w e i t g e h e n d auf die W e r b u n g v e r l ä ß t
u n d seine E i n k ä u f e nach d e n S o n d e r a n g e b o t e n einrichtet.
Bei d e r G r ö ß e u n d d e r O r g a n i s a t i o n a m e r i k a n i s c h e r W a r e n -
h ä u s e r ist dies d u r c h a u s verständlich. Ein so a u s g e p r ä g t e s
K ä u f e r v e r h a l t e n läßt sich bei u n s b i s h e r nicht feststellen.
Es darf nicht a u ß e r acht gelassen w e r d e n , daß das a m e r i k a -
nische K o n s u m v e r h a l t e n m i t d e m in Deutschland nicht
gleichzusetzen ist.
W e i t e r h i n m u ß a n g e m e r k t w e r d e n , daß die Anzeigen in
d e n N e w Y o r k e r Z e i t u n g e n nach d e m S t r e i k n u r z u m Teil
und nicht in d e m U m f a n g gestiegen sind, w i e es eigentlich
e r w a r t e t w u r d e , obwohl die N e u g r ü n d u n g e n w i e d e r ein-
g e g a n g e n sind u n d die L o k a l b l ä t t e r i h r e e r h ö h t e n A u f l a g e n
m e i s t nicht h a l t e n k o n n t e n . Im zweiten Q u a r t a l 1963 lag die
G e s a m t z a h l d e r Anzeigen u m 0,6 °/o n i e d r i g e r als im V e r -
gleichsjahr 1962, w o h l b e m e r k t bei einem a l l g e m e i n e n A n -
steigen des Anzeigengeschäftes. Im einzelnen w u r d e n von
d e m W e r b u n g s k o n t r o l l b ü r o Media Records Inc. f o l g e n d e
Zahlen veröffentlicht:
Daily N e w s 2,7 °/o
World T e l e g r a m a n d t h e S u n 5,3 °/o
N e w York I n q u i r e r 5,7 °/o
N e w Y o r k Post 9,3 fl/o
Jounal American 11,4 °/o
N e w York Times + 5,6 °/o
N e w York H e r a l d T r i b u n e + 5,6 *h 14
H i e r a u s folgert, daß auch die I n s e r e n t e n sich, entsprechend
d e m v e r ä n d e r t e n L e s e r v e r h a l t e n , nach a n d e r e n I n s e r t i o n s -
möglichkeiten u m g e t a n h a b e n . H e u t e b e n u t z e n sie s t ä r k e r
R u n d f u n k u n d F e r n s e h e n und i n s e r i e r e n in den V o r o r t -
zeitungen. Alle diese Tatsachen lassen den Schluß zu, daß
das I n t e r e s s e a n den Zeitungen a b g e n o m m e n hat. Es scheint
sogar möglich zu sein, die L e s e r d e r Zeitung zu „ e n t w ö h -
nen". D a m i t soll nicht gesagt w e r d e n , daß Z e i t u n g e n ü b e r -
holt sind o d e r in a b s e h b a r e r Zeit ü b e r h o l t sein w e r d e n ,
s o n d e r n es soll darauf h i n g e w i e s e n w e r d e n , daß die Zei-
t u n g n u r im Z u s a m m e n s p i e l aller M a s s e n m e d i e n i h r e
Rolle spielen k a n n . N u r w e n n sie sich auf i h r e eigentlichen
A u f g a b e n , die I n f o r m a t i o n , die K o m m e n t i e r u n g u n d die
K r i t i k a m Weltgeschehen, k o n z e n t r i e r t , w i r d sie Bestand
h a b e n k ö n n e n . W e r b u n g k a n n n u r zu e i n e m gewissen Teil
durch die Zeitung v e r a n s t a l t e t w e r d e n , und h e u t e k a n n
noch nicht m i t Sicherheit gesagt w e r d e n , welches d e r Mas-
s e n m e d i e n sich in Z u k u n f t f ü r die W e r b u n g als d a s B r a u c h -
barste erweisen wird.
A m 1. A p r i l 1963 e n d e t e d e r New Y o r k e r Zeitungsstreik,
d e r im V e r h ä l t n i s zu vielen a n d e r e n — in d e r Zeit von
1951—1961 f a n d e n 187 S t r e i k b e w e g u n g e n bei 228 Zeitungen

14 In: „ZVZV" 1963, Nr. 27, S. 1523.

26
in den USA s t a t t 1 5 — sehr s t a r k in d e r Welt beachtet w u r d e .
Den Abschluß des S t r e i k s bildete die A n n a h m e eines zwei-
j ä h r i g e n V e r t r a g e s zwischen V e r l e g e r n u n d G e w e r k s c h a f -
ten. I n d e m V e r t r a g ist w i e d e r u m die R e p r o d u k t i o n s k l a u s e l
e n t h a l t e n , a u ß e r d e m F e s t l e g u n g e n ü b e r E n t l a s s u n g e n und
eine L o h n e r h ö h u n g von 12.27 $ pro Woche. I m 1. J a h r 4.00
$ L o h n s t e i g e r u n g u n d 2.51 $ Sozialvergünstigungen, i m
2. J a h r 4.00 $ L o h n s t e i g e r u n g und 1.76 $ Sozialvergünsti-
gungen. I m zweiten J a h r des V e r t r a g e s soll die wöchent-
liche Arbeitszeit v o n 36'/i auf 35 S t u n d e n h e r a b g e s e t z t w e r -
den. W e i t e r w u r d e , als ü b e r a u s wesentlich, v e r e i n b a r t , daß
bei Erlöschen von A r b e i t s v e r t r ä g e n a n d e r e r im Zeitungs-
g e w e r b e tätigen G e w e r k s c h a f t e n auch d e r V e r t r a g m i t d e r
I T U a u ß e r K r a f t tritt. Die N e w Y o r k e r G e w e r k s c h a f t h a t
d e m V e r t r a g n u r widerwillig z u g e s t i m m t und die Entschei-
d u n g w u r d e v e r m u t l i c h dadurch beeinflußt, daß von d e r
Z e n t r a l e e r k l ä r t w o r d e n w a r , daß in Z u k u n f t k e i n e S t r e i k -
u n t e r s t ü t z u n g e n m e h r gezahlt w e r d e n k ö n n t e n . Die V e r e i n -
b a r u n g b a s i e r t auf e i n e m K o m p r o m i ß v o r s c h l a g des N e w
Y o r k e r B ü r g e r m e i s t e r s Wagner, nachdem schon v o r h e r drei
u n a b h ä n g i g e Richter, auf Betreiben eines Bürgerkomitees,
d e r G o u v e r n e u r des S t a a t e s New York, Rockefeiler, u n d
d e r P r e s s e v e r t r e t e r Salinger sich vergeblich u m die Schlich-
tung der Kontroverse bemüht hatten.
I n t e r e s s a n t ist, daß P r ä s i d e n t K e n n e d y nicht von den Mög-
lichkeiten des T a f t - H a r t l e y - G e s e t z e s — Aussetzung des
Streiks f ü r 90 Tage — Gebrauch gemacht hat, obwohl es an
Hinweisen in dieser Richtung nicht g e f e h l t hat. D a r i n liegt
sowohl die A n e r k e n n u n g d e r berechtigten F o r d e r u n g e n d e r
G e w e r k s c h a f t e n , als auch die Bestätigung, daß es sich u m
k e i n e n n a t i o n a l e n Notstand handelte, da genügend a n d e r e
I n f o r m a t i o n s q u e l l e n v o r h a n d e n w a r e n . D a m i t sind auch die
V o r w ü r f e , die D r u c k e r h ä t t e n durch d e n Streik die P r e s s e -
f r e i h e i t verletzt, ad a b s u r d u m g e f ü h r t .
Die G e w e r k s c h a f t e n h a b e n sich nie gegen eine Automation
ausgesprochen, sondern h a b e n lediglich auf i h r e Rechte,
die Rechte d e r Setzer, d e r M e t t e u r e und d e r C h e m i g r a p h e n
hingewiesen. Das scheinbar rückschrittliche V e r h a l t e n d e r
I T U w i r d verständlich, w e n n m a n sich die soziale Situation
v e r g e g e n w ä r t i g t , sich an die Arbeitslosigkeit und an den
b e k l a g e n s w e r t e n S t a n d d e r Sozialversicherung in den USA
e r i n n e r t . Wie die G e w e r k s c h a f t e n , u n t e r s t ä r k s t e m Druck
d e r Öffentlichkeit, u n t e r eigenen großen materiellen V e r -
lusten, i h r e Rechte verteidigten, k a n n n u r u n s e r e Hochach-
t u n g h e r v o r r u f e n . Bedenklich m u ß es stimmen, w e n n m a n
sieht, welche A n s t r e n g u n g e n , bei gleichzeitigen u n g e h e u r e n
m a t e r i e l l e n Verlusten, n o t w e n d i g sind, um die sich aus d e r
A u t o m a t i o n e r g e b e n d e n P r o b l e m e zu lösen 1 8 .
F ü r Deutschland m u ß m a n die F r a g e stellen: Ist ü b e r h a u p t
e t w a s u n t e r n o m m e n worden, um sich auf die A u t o m a t i o n
v o r z u b e r e i t e n ? Ist j e in E r w ä g u n g gezogen worden, die
A r b e i t e r und die G e w e r k s c h a f t e n an den G e w i n n e n , die
durch die A u t o m a t i o n erreicht werden, zu beteiligen?

15 In: „ZVZV" 19(53, Nr. 9, S. 320.


18 Neben den genannten Arbeiten wurde u. a. „Die Zeit", „Welt
der Arbeit", „Der Spiegel", „Life", „Neue Deutsche Presse",
„IPI-Rundschau", „Frankfurter Allgemeine", „Die Welt",
„Handelsblatt" und eine Seminararbeit von Paul, Arno:
Wesen und Bedeutung der Tageszeitung in den USA — ent-
wickelt am Modell eines Zeitungsstreiks, herangezogen.

27
Rudolf Kienast
Notstandsverfassung
und Grundgesetz CHI
V o m Schröder- z u m Höcherl-Entwurf
1960 — 6 3

VII. D e r W e g z u e i n e m n e u e n Entwurf

Ein nicht unwesentliches E l e m e n t w ü r d e a u ß e r acht gelas-


sen w e r d e n , wollte m a n d e n e r w ä h n t e n S c h r ö d e r - E n t w u r f 1
f ü r sich isoliert betrachten. H a t t e schon eine zu e x t e n s i v e
I n t e r p r e t a t i o n v o n B e s t i m m u n g e n des D e u t s c h l a n d v e r t r a g s *
u n d d e r V e r f a s s u n g ' Z w e i f e l a n e i n e r ehrlichen j u r i s t i -
schen A r g u m e n t a t i o n a u f k o m m e n lassen, so zeigen die V o r -
gänge, die sich v o r u n d bei d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g d e s E n t -
w u r f s n u n auf politischem Gebiet abspielten, d a ß dieser
das b e w u ß t e Risiko des Scheiterns einbezog, u m g e r a d e d a -
durch — in taktisch w o h l noch geschickterer Weise — Z u -
s t i m m u n g w i e A b l e h n u n g zu einem E r f o l g d e r R e g i e r u n g s -
politik w e r d e n zu lassen. O h n e die bei P l a n u n g einer so
entscheidenden V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g n o t w e n d i g e K o n s u l -
tation d e r P a r t e i e n 4 u n d L ä n d e r r e g i e r u n g e n 5 w a r d e r E n t -
w u r f d e r P r e s s e a u s g e h ä n d i g t w o r d e n als ein F a k t u m , d a s
hingenommen wurde, dann hatte der Entwurf Erfolg —
o d e r gegen d a s opponiert w u r d e , d a n n l u d d e r A b l e h n e n d e
das O d i u m auf sich, ein f ü r die Existenz d e r B u n d e s r e p u -
blik a l s „notwendig" bezeichnetes Sicherheitserfordernis,
das d e n doch s o u v e r ä n e n S t a a t v o n d e n alliierten N o t -
standsrechten b e f r e i e n sollte, v e r w o r f e n zu haben. In d i e
wahltaktisch u n g ü n s t i g e Position des N e i n s a g e r s " h i n e i n -
m a n ö v r i e r t , m u ß t e e r sich zu b e f r e i e n suchen, wollte e r
nicht einer P r o p a g a n d a Vorschub leisten, d i e seine Oppo-
sition a l s symptomatisch f ü r eine grundsätzliche A b l e h n u n g
des B o n n e r S t a a t e s darzustellen versuchte; b e f r e i e n k o n n t e
er sich n u r , w e n n e r einem n e u e n E n t w u r f positiver gegen-
ü b e r s t a n d . D e n i m m e r noch schweren Weg g a n g b a r zu ge-
stalten, w a r des n e u e n I n n e n m i n i s t e r s Höcherl geschmei-

1 Zur Kritik des Schröder-Entwurfs vgl. insbes. Arndt, Not-


standsgesetz — aber wie, S. 36 ff., 64 f., wo sich eine ausführ-
lichere Stellungnahme befindet als in Arg. 25 S. 51 f. möglich
war; ferner die Rede des hess. Ministerpräsidenten in der
215. Sitzung des Bundesrats, abgedr. in SPDst. S. 39 f., wei-
terhin Folz, Staatsnotstand und Notstandsrecht S. 206.
2 Vgl. das in Arg. 25, S. 49 f., Gesagte und statt vieler Folz aaO.
S. 143 (148), der nach eingehender Erörterung ebenfalls zu
dem Schluß kommt, daß Art. 5 Abs. II Deutschland-Vertrag
nicht eine komplette Notstandsregelung verlangt.
3 Z. B. bei Art. 143 (vgl. Arg. 25, S. 51 mit Fußn. 22).
4 Vgl. Arndt aaO., S. 57/58 und S. 62 f.; siehe auch die Affäre
um die Wochenzeitung „Das Parlament", abgedr. in SPDst.
S. 20 ff.
5 Vgl. Arndt aaO., S. 58, der ein solches Verfahren als gegen
Art. 53 GG verstoßend bezeichnet, mit Hinweis auf das Prin-
zip der Bundestreue (vgl. insbes. die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts [zit. BVerfGE] 12. Bd., S. 205, 253 der
amtl. Sammlung).
6 Vgl. hierzu Lohmar in: Nemitz (Hrsg.), Notstandsrecht und
Demokratie, S. 28, ferner Seifert, Gefahr i. Verzuge, S. 34,
und Arndt aaO., S. 63.

28
d i g e r e V e r h a n d l u n g s t a k t i k a n g e t a n , w o b e i selbst A r g u -
m e n t e d e r Opposition G e h ö r f a n d e n . U n d so k a m es, d a ß
die B e g r ü n d u n g z u m H ö c h e r l - E n t w u r f 7 d a v o n sprechen
konnte, d a ß „die politische Entwicklung, besonders auch in
E u r o p a (?) in d e n letzten M o n a t e n (?) dazu g e f ü h r t hat, d a ß
alle d a s B u n d e s v o l k r e p r ä s e n t i e r e n d e n u n d u n s e r e n S t a a t
t r a g e n d e n gesellschaftlichen u n d politischen Schichten u n d
Z u s a m m e n s c h l ü s s e zu d e r E r k e n n t n i s g e k o m m e n sind, d a ß
das G r u n d g e s e t z einer E r g ä n z u n g b e d a r f " . U n d w e r i m m e r
noch dagegen i s t : D e r ist böswillig u n d v e r a n t w o r t u n g s l o s ,
d e n n „die g e f ü h r t e n S o n d i e r u n g s g e s p r ä c h e h a b e n gezeigt,
daß alle verantwortungsbewußten politischen K r ä f t e d e n
d e m E r n s t u n s e r e r L a g e a n g e m e s s e n e n guten Willen haben,
eine b e f r i e d i g e n d e Regelung f ü r d e n Notstandsfall v o r a u s -
zusehen u n d d a ß lediglich ü b e r A u s m a ß u n d U m f a n g d e r
zu t r e f f e n d e n S o n d e r r e g e l u n g e n einzelne abweichende A u f -
f a s s u n g e n bestehen". Wenn a b e r e i n m a l die Vorstellung —
auf welche Weise auch i m m e r — erweckt ist, d a s beste-
h e n d e Notstandsrecht sei ungenügend, w e n n dazu politi-
sche K r ä f t e in e i n e m solchen A u s m a ß sich f ü r e r w e i t e r t e
B e f u g n i s s e einsetzen, d a n n k a n n eine noch g r ö ß e r e G e f a h r
e n t s t e h e n als k l a r e N o t s t a n d s b e f u g n i s s e in sich b e r g e n : Ist
nämlich e i n m a l d i e Macht v o r h a n d e n , die e r s t r e b t e n B e f u g -
nisse auf d e m Wege d e r Gesetzgebung zu schaffen, seinen
Willen also zu legalasieren, d a n n ist bereits eine Situation
e i n g e t r e t e n , in d e r diese K r ä f t e auch ohne die zugestande-
n e n B e f u g n i s s e — u n k o n t r o l l i e r t — sich Rechte in noch
g r ö ß e r e m U m f a n g a n m a ß e n können, d a n n wird nämlich
einfach etwas (oder vollkommen) „ a u ß e r h a l b d e r Legalität"
gehandelt. H i e r liegt eines d e r grundsätzlichen u n d s e h r
a k t u e l l e n P r o b l e m e des Notstandsrechts.

VIII. G r u n d s ä t z l i c h e Fragen
des Notstandsrechts
1. Das Notstandsproblem
als Problem der Grenzüberschreitung
Ein typisches P h ä n o m e n des Notstandsrechts ist sein C h a -
r a k t e r als A u s n a h m e r e c h t : Echtes w i e unechtes (d. h. m i ß -
bräuchliches) Geltendmachen v o n Notstandsrecht besteht
stets in e i n e m Handeln, d a s von d e m i m demokratischen
Rechtsstaat geltenden „Normal"recht allein nicht m e h r ge-
deckt w i r d . D r e i F ä l l e sollen — sehr schematisch — die
Situation kennzeichnen:
Fall 1: Die positive Rechtsordnung e n t h ä l t Vorschriften f ü r
Notstandsfälle. I n i h r e m R a h m e n w e r d e n v o n d e r Staats-
gewalt B e f u g n i s s e in Anspruch genommen, u m d e n N o t -
stand a b z u w e h r e n . Die Grenze v o m „NormaP'recht zum
„ A u s n a h m e " r e c h t w i r d ü b e r s c h r i t t e n 8 (selbst w e n n n u r ein
A u s n a h m r e c h t geltend gemacht wird).

7 In: Bundesrats-Drucksache 345/62, S. 7, linke Spalte: Bemer-


kenswert ist, daß im Folgenden immer von a l l e n Schich-
ten, Zusammenschlüssen etc. gesprochen wird, obwohl z. B.
der „Zusammenschluß" DGB die Notstandsentwürfe ab-
lehnte; vgl. seine Entschließung gegen jede Notstandsgesetz-
gebung auf dem 6 Bundeskongreß in Hannover, abgedr. bei
Nemitz aaO., S. 101.
8 Z. B. Art. 21 Abs. 2 GG, der nur deshalb nicht „undemokra-
tisches Verfassungsrecht" ist, well er allein zum Schutz der
demokratischen Grundordnung a u s n a h m s w e i s e ein
Verbot zuläßt.

29
Fall 2: Wie Fall 1, a b e r die S t a a t s g e w a l t n i m m t B e f u g n i s s e
in Anspruch, die ü b e r die in d e r .positiven Rechtsordnung
enthaltenen Vorschriften hinausgehen mit der Behauptung,
dies sei z u r A b w e h r des N o t s t a n d s notwendig. Z w e i m a l
w i r d eine G r e n z e ü b e r s c h r i t t e n : Die G r e n z e v o m „Normal"-
recht z u m „ A u s n a h m e " r e c h t und darauf (oder gleichzeitig)
die G r e n z e vom „ A u s n a h m e " r e c h t in einen positiv-rechtlich
gesehen „rechtsleeren R a u m " .
F a l l 3: D i e positive R e c h t s o r d n u n g e n t h ä l t keine Vor-
s c h r i f t e n f ü r N o t s t a n d s f ä l l e . Die S t a a t s g e w a l t n i m m t Be-
f u g n i s s e in A n s p r u c h m i t d e r B e h a u p t u n g , dies sei z u r A b -
w e h r des N o t s t a n d s notwendig. Die G r e n z e v o m „ N o r m a l " -
recht in d e n positivrechtlich gesehen „rechtsleeren R a u m "
wird überschritten.
Liegt in Fall 1 u n d Fall 2, e r s t e Überschreitung, die G r e n z -
ü b e r s c h r e i t u n g noch i n n e r h a l b des positiven Rechts, so w i r d
eine R e c h t f e r t i g u n g i m Fall 2, zweite Überschreitung, u n d
F a l l 3 n u r möglich, w e n n a n g e n o m m e n wird, es existiere
ein „Uberpositives Notstandsrecht", das die erfolgten H a n d -
l u n g e n deckt. Auch u n t e r d e r H e r r s c h a f t des Grundgesetzes
w u r d e das B e s t e h e n eines „überpositiven Notstandsrechts"
des ö f t e r e n geltend gemacht. So f o r m u l i e r t e schon im
J a h r e 1952 beispielsweise von d e r Heydte®, „daß j e d e V e r -
f a s s u n g stillschweigend eine clausula r e b u s sie s t a n t i b u s
enthalte, d. h. eine ungeschriebene Norm, die bestimmt, daß
die von d e r V e r f a s s u n g v o r g e s e h e n e Z u s t ä n d i g k e i t s - und
A u f g a b e n v e r t e i l u n g auf die F ü h r u n g s o r g a n e des Staates
n u r u n t e r d e m V o r b e h a l t gelte, daß nicht b e s o n d e r e U m -
s t ä n d e eine Ä n d e r u n g dieser Verteilung d r i n g e n d e r f o r d e r -
lich machen. Voraussetzung f ü r das W i r k s a m w e r d e n des
V o r b e h a l t s ist, d a ß infolge dieser b e s o n d e r e n U m s t ä n d e die
von d e r V e r f a s s u n g ursprünglich g e t r o f f e n e R e g e l u n g nicht
m e h r den Zweck e r f ü l l t , den die V e r f a s s u n g ihr setzt oder
d e r sich aus d e r N a t u r d e r Sache n o t w e n d i g ergibt."

2. Überpositives Notstandsrecht und Grundgesetz

Die Z u g r u n d e l e g u n g eines ü b e r p o s i t i v e n Notstandsrechts


findet im G r u n d g e s e t z keine Stütze. V i e l m e h r zeigt sich die
V e r f a s s u n g i m I n t e r e s s e d e r Rechtsstaatlichkeit und Rechts-
sicherheit als vom geschriebenen Recht geprägt, das Be-
f u g n i s s e u n d K o m p e t e n z e n abschließend regeln will. Die
„ A n n a h m e eines ungeschriebenen überpositiven S t a a t s n o t -
rechts erscheint", w i e M a u n z 1 0 z u t r e f f e n d a u s f ü h r t , „bei der
g e g e n w ä r t i g e n verfassungsrechtlichen Gestaltung als m i t
d e r politischen und rechtlichen G r u n d k o n z e p t i o n des G r u n d -
gesetzes u n v e r e i n b a r . Es k a n n d a h e r dahingestellt bleiben,
ob es a n sich z u m Wesen des Staates gehört, oder ob es aus
d e r N a t u r des S t a a t e s folgt, daß sich die Staatsleitung ge-
gen N o t s t ä n d e o d e r A u f l e h n u n g m i t t e l s eines zeitweisen
A u ß e r k r a f t s e t z e n s von Teilen d e r v e r f a s s u n g s m ä ß i g e n O r d -
n u n g w e h r e n d a r f . Aus d e r V e r f a s s u n g s g e b u n g des G r u n d -
gesetzes ist ein solcher Ausschlußwille deutlich e r k e n n b a r
u n d e r ist auch rechtlich zum Ausdruck gekommen. „Ob"
dieses verfassungsrechtliche A r g u m e n t — theoretisch schon

9 In der Festschr. f. Laforet, S. 59.


10 In: Deutsches Staatsrecht, 10. Aufl., S. 157/158.

30
a u f g e w e i c h t 1 1 — in d e r P r a x i s z u r G e l t u n g k o m m e n wird,
m u ß s t a r k e n Z w e i f e l n begegnen. Auf d e m Gebiet d e r
Politik k ö n n t e j a g e r a d e d i e V e r w e i g e r u n g v o n B e f u g n i s -
sen, u m d i e m a n sich auf legalem Wege reichlich b e m ü h t
h a t t e , z u r L e g i t i m a t i o n f ü r ein H a n d e l n a u ß e r h a l b d e r
V e r f a s s u n g dienen.

IX. E x k u r s : R ü c k b l i c k a u f A r t . 4 8 ,
Weimarer Verfassung

G e r a d e z u ein M u s t e r b e i s p i e l d a f ü r , d a ß auch eine sehr


weite N o t s t a n d s r e g e l u n g nicht v e r h i n d e r n k a n n , d a ß „über-
positiver N o t s t a n d " g e l t e n d gemacht wird, bietet A r t . 48
WRV: D i e Rechtsopposition d e r W e i m a r e r Republik b e -
h a u p t e t e Notstandssituationen, d i e durch A r t . 48 nicht ge-
deckt w u r d e n , weil j a g a r kein N o t s t a n d vorlag, sondern
n u r ein Mittel g e f u n d e n w e r d e n m u ß t e , v e r f a s s u n g s w i d r i g e s
V o r g e h e n legal zu t a r n e n . Sich selbst z u m N o t h e l f e r a u f -
spielend, w a r s i e in d e r D e s a v o u i e r u n g d e r v e r f a s s u n g s -
t r e u e n V e r t e i d i g e r d e r Republik schließlich in d e r Lage,
von rechtsblinden deutschen Richtern u n d B e a m t e n u n t e r -
stützt, als „Retter d e r Nation" d i e Macht zu e r g r e i f e n 1 2 . D e r
o f t g e ä u ß e r t e n Ansicht, d a ß einem solchen a u ß e r h a l b A r t . 48
geltend gemachten Notstand d i e nach seinem Abs. 5 ge-
f o r d e r t e d i f f e r e n z i e r t e r e R e g e l u n g noch E i n h a l t geboten
hätte, m u ß z u m i n d e s t m i t berechtigten Z w e i f e l n begegnet
w e r d e n , d a es j a auch d a n n zu schaffen w a r a u ß e r h a l b d e s
f ü r eine solche Regelung v o m A r t . 48 a u s g e s p a r t e n R a u m
tätig zu w e r d e n u n d als in übergesetzlichem Notstand h a n -
delnd, a n e r k a n n t zu w e r d e n . A k t u e l l k a n n dieses P r o b l e m
insoweit w e r d e n , a l s f ü r k ü n f t i g e Zeiten d i e G e l t e n d m a -
chung v o n „Staatsnotwehr", „überpositivem Notstand" u n d
ähnlichem, außerhalb des positiven Rechts nicht als Recht-
fertigung f ü r Verfassungsbrüche anerkannt werden darf. —
Scharf d a v o n zu unterscheiden ist, ob A r t . 48 WRV als sol-
cher d i e W e i m a r e r R e p u b l i k vernichtet o d e r gerettet h a t .
H i e r w i r d Bracher 1 " z u z u s t i m m e n sein, w e n n e r d i e W i r k -
s a m k e i t d e s D i k t a t u r p a r a g r a p h e n als n u r ein Moment i m
A u f l ö s u n g s p r o z e ß d e r W e i m a r e r Republik bezeichnet u n d
f o r t f ä h r t , d a ß e r s t schwerwiegende politisch-soziale S t r u k -
t u r f e h l e r u n d eine L a b i l i t ä t des allgemeinen politischen B e -
w u ß t s e i n s d i e R e p u b l i k f ü r d i e K a p i t u l a t i o n v o r einem
m i ß b r a u c h t e n A r t i k e l d e r V e r f a s s u n g reif machte. I n d e r
E n d p h a s e d e r W e i m a r e r R e p u b l i k 1 4 ist A r t . 48 jedoch
eine Tatsache d a f ü r , d a ß N o t s t a n d s r e g e l u n g e n stets auf ein
Ziel tätig w e r d e n , auf d a s sie „eingerichtet" werden, letzt-
lich O b j e k t d e r entschlossensten (nicht i m m e r mächtigsten)
politischen K r ä f t e , d i e sich i h r e r bedienen. Läßt m a n B r ü -
l l Vgl. hierzu Kaufmann, i n : „Der Kampf um den Wehrbei-
trag" (1953), S. 42 ff. (63), Scheuner, Der Verfassungsschutz
Im Bonner Grundgesetz, in: Kaufmann-Festgabe (1950),
S. 313 ff., ferner den Überblick bei Folz aaO., S. 182 ff.
12 Zu welchen Konsequenzen das Anerkennen von Staatsnot-
recht führte, hat Großhut, Staatsnot, Recht und Gewalt
umfassend dargestellt; vgl. außerdem M. Hirschberg, Das
Fehlurteil im Strafprozeß, Fischer-Bücherei, Bd. 492, S. 152 ff.
13 In: Faktoren der Machtbildung, hrsgg. v. Bracher, Drath
u. a., S. 97.
14 Eingehende, weit über Art. 48 WRV hinausführende Unter-
suchungen bei Klaus Revermann, Die stufenweise Durch-
brechung des Verfassungssystems der Weimarer Republik
in den Jahren 1930—1933, Münster 1959.

31
nings R e g i e r e n m i t N o t v e r o r d n u n g e n noch a l s v e r f a s s u n g s -
m ä ß i g gelten, so i s t P a p e n s auf A r t . 48 Abs. 2 WRV g e -
s t ü t z t e Aktion gegen P r e u ß e n a m 20. J u l i 1932 d e r glatte
Bruch d e r V e r f a s s u n g . D i e Ausschaltung d e r d e m o k r a t i -
schen R e g i e r u n g d e s mächtigsten deutschen L a n d e s m u ß t e
f ü r d i e A n h ä n g e r d e r R e p u b l i k nicht n u r w i e ein Schock
w i r k e n , s o n d e r n sie setzte auch d i e starke, v o n d e r p r e u ß i -
schen R e g i e r u n g gegen die Nationalsozialisten eingesetzte,
preußische Polizei a u ß e r Gefecht. D a s e n t s t e h e n d e Macht-
v a k u u m k o n n t e n u n m e h r v o n d e n Nationalsozialisten a u s -
g e f ü l l t w e r d e n u n d d e r in d e r Folge schon g a r nicht m e h r
nötige A r t . 48 i m m e r h i n noch d e n Mythos v o n d e r „legalen
M a c h t e r g r e i f u n g " b e g r ü n d e n helfen.

X. D e r Höcherl-Entwurf
einer Notstandsverfassung
1. Vom „Ob" zum „Wie"
Z u r a k t u e l l e n Diskussion d e r N o t s t a n d s f r a g e in d e r B u n -
d e s r e p u b l i k z u r ü c k k e h r e n d , ist zunächst allgemein f e s t z u -
stellen, d a ß die N o t w e n d i g k e i t w e i t e r e r N o t s t a n d s e r m ä c h -
tigungen i m m e r m e h r a n e r k a n n t w i r d u n d d e r Ende 1962
vorgelegte H ö c h e r l - E n t w u r f sowohl bei P a r t e i e n w i e P r e s s e
eine günstigere A u f n a h m e g e f u n d e n h a t als d e r Schröder-
E n t w u r f . O h n e zunächst auf d i e dadurch a u f g e w o r f e n e n
F r a g e n einzugehen, k a n n d i e A r t des Vorgehens T e n d e n z e n
sichtbar w e r d e n lassen, d i e manches, w a s an L o b f ü r d i e
V e r h a n d l u n g s f ü h r u n g Höcherls zu Recht vorgebracht w u r -
de, u n t e r a n d e r e m Licht erscheinen läßt. In seinen A u s -
f ü h r u n g e n z u m N o t v e r o r d n u n g s r e c h t betonte d e r Minister
„ n a m e n s d e r B u n d e s r e g i e r u n g m i t d e m gebotenen Ernst,
daß sie (sc. d i e B u n d e s r e g i e r u n g ) die E i n r ä u m u n g dieses
N o t v e r o r d n u n g s r e c h t s als einen wesentlichen u n d u n v e r -
zichtbaren Bestandteil ihres E n t w u r f e s ansieht — u n v e r -
zichtbarem, ich darf d a s w i e d e r h o l e n . . ," 15 . Hier liegt d e r
A n s a t z p u n k t d a f ü r , die Einigkeit d i e in d e r F r a g e d e s „Ob"
e i n e r N o t s t a n d s r e g e l u n g erreicht wurde, auch auf d a s „Wie"
zu ü b e r t r a g e n , denn, w e n n e t w a s Unverzichtbares a b g e -
lehnt wird, d a n n steht d e r E n t w u r f in seiner Substanz z u r
F r a g e . An d e r Bereitschaft z u r B e j a h u n g des „Ob" ist zu
zweifeln, w e n n d a s u n v e r z i c h t b a r e „Wie" nicht a n g e n o m -
m e n w i r d . Als A b l e h n e n d e r s t e h t also zunächst schon d e r
da, d e r grundsätzlich e r w e i t e r t e N o t s t a n d s b e f u g n i s s e b e -
j a h t u n d n u r eine a n d e r e A u f f a s s u n g zu i h r e r Gestaltung
vorbringt.


2. Kritik des Höcherl-Entwurf s einer Notstandsverfassung a
A. Allgemeines
Mit seiner G l i e d e r u n g in „Zustand d e r ä u ß e r e n G e f a h r "
(Art. 115 a b i s 115 h), „Zustand d e r i n n e r e n G e f a h r " (Art.
15 Vgl. das Protokoll der 56. Sitzung des Dt. Bundestags vom
24. Januar 1963 (zit. Prot. BT), Seite 2487, 1. Sp.; gegen eine
solche Haltung sind schon in der Sitzung selbst Bedenken
vorgebracht worden, vgl. insbes. Dorn (FDP), Prot. BT,
S. 2505, und Güde (CDU), ebenda S. 2525, r. Sp.
15a Der Text des Entwurfs ist nebst Begründung von der Ge-
schäftsstelle des Bundesrates zu beziehen (als Bundesrats-
drucksache 345/62); er ist ferner abgedruckt in: Seifert aaO.,
S. 100, und Nemitz aaO., S. 89 (mit weiteren Stellungnah-
men).

32
115 i bis 115 1) u n d „ K a t a s t r o p h e n z u s t a n d " (Art. 115 m) e r -
scheint d e r E n t w u r f schon äußerlich rechtsstaatlichen F o r -
d e r u n g e n in w e i t e r e m M a ß e zu entsprechen, als es beim
S c h r ö d e r - E n t w u r f d e r Fall w a r .
E i n e g e n a u e T r e n n u n g der T a t b e s t ä n d e erleichtert die F e s t -
stellung, ob eine G e f a h r wirklich v o r h a n d e n ist erheblich,
da e i n e solche nicht (wie meist bei einer Generalklausel)
ganz allgemein b e h a u p t e t zu w e r d e n braucht, sondern die
V e r k ü n d u n g des N o t s t a n d s an das Vorliegen g e n a u e r be-
schriebener S i t u a t i o n e n g e b u n d e n ist. Die G l i e d e r u n g des
E n t w u r f s täuscht jedoch n u r d a r ü b e r hinweg, daß die ä u -
ßerlich g e t r e n n t e n T a t b e s t ä n d e durch entsprechende F o r -
m u l i e r u n g e n w i e d e r i n e i n a n d e r ü b e r g e h e n , im Ergebnis
also die Möglichkeit besteht, daß m i t der B e h a u p t u n g des
K a t a s t r o p h e n z u s t a n d s dessen Bewältigung ganz a n d e r s ge-
a r t e t e M a ß n a h m e n v e r l a n g t als beispielsweise d e r i n n e r e
Notstand, g e r a d e dessen e i n s c h r ä n k e n d e Regelungen in fast
vollem U m f a n g ü b e r n o m m e n w e r d e n : „Entgegen der Be-
zeichnung ist diese Vorschrift keineswegs auf den E i n t r i t t
von N a t u r k a t a s t r o p h e n beschränkt, s o n d e r n sie soll auch in
allen a n d e r e n Fällen einer G e f ä h r d u n g von Leib und Le-
ben d e r B e v ö l k e r u n g eingreifen . . . D a m i t w i r d diese Vor-
schrift zu e i n e m Globaltatbestand, d e r einerseits auch den
ä u ß e r e n und i n n e r e n Notstand m i t umfaßt 1 "." Auch bei d e r
Regelung des Z u s t a n d s d e r i n n e r e n G e f a h r besteht durch
die F o r m u l i e r u n g „durch E i n w i r k u n g von a u ß e n " (vgl. Art.
115 i Ziff. 1) die Möglichkeit, i n n e r e n und ä u ß e r e n Notstand
i n e i n a n d e r ü b e r g e h e n zu lassen. Die G l i e d e r u n g verschlei-
ert also lediglich die in Wirklichkeit mögliche Vermischung
d e r T a t b e s t ä n d e . Jedoch auch die Einzelregelungen als sol-
che geben zu B e d e n k e n Anlaß, die freilich an dieser Stelle
n u r unvollständig und a n d e u t u n g s w e i s e wiedergegeben
werden können17.

B. E i n z e l f r a g e n z u m Z u s t a n d d e r ä u ß e r e n G e f a h r
(Art. 115 a — 115 h)
a) Verfassungspolitische E r w ä g u n g e n
Zu Art. 115 a Abs. I:
Dieser Art. ermöglicht die Feststellung des Zustandes der
ä u ß e r e n G e f a h r schon mit einfacher M e h r h e i t 1 8 des B u n -
destags m i t Z u s t i m m u n g des Bundesrats. Ein Angriff auf
das Bundesgebiet ist jedoch ein so offensichtlicher Vorgang
und r u f t den ä u ß e r e n Notstand in einem solchen Ausmaß
h e r v o r , d a ß in den entsprechenden O r g a n e n jederzeit */»
M e h r h e i t zu erreichen ist und g e f o r d e r t w e r d e n kann. —
Die in d e r Vorschrift e n t h a l t e n e F o r m u l i e r u n g „oder w e n n
ein solcher Angriff droht" t r ' f f t bereits den Tatbestand des
Spannungsfalls d e r vom Fall des A n g r i f f s g e t r e n n t ge-
regelt w e r d e n muß.
16 So Zinn auf der 251. Sitzung des Bundesrats am 29./30. No-
vember 1963, S. 221, r. Sp., des Sitzungsberichts (zit. Prot.
BR).
17 In den Sitzungsprotokollen des BR insbesondere Zinn; in
den Sitzungsberichten des BT insbesondere Schäfer, Dorn,
Hoogen, Sänger; ferner Flechtheim, Gefahren der Not-
standsgesetzgebung, in: „Stimme der Gemeinde", Heft 23/62,
und Heinrich Hannover, Zur Frage einer Notstandsverfas-
sung, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik,
8. Jahrgang, Heft 1 und 2.
18 Vgl. beispielsweise Seifert aaO., S. 48, und Arndt aaO., S. 40.
19 Vgl. Schäfer (SPD) in Prot. BT, S. 2498, 1. Sp., und Arndt
aaO., S. 43/44.

33
Zu A r t . 115 a Abs. I I :
Die F o r m u l i e r u n g „oder d e r rechtzeitigen Beschlußfas-
sung" e n t h ä l t die Möglichkeit, d a ß auch, w e n n d e r B u n d e s -
tag nicht beschließen will d e r Notstandsausschuß d e n Z u -
stand d e r ä u ß e r e n G e f a h r v e r k ü n d e n k a n n . Solange das
P a r l a m e n t jedoch z u s a m m e n t r e t e n kann, m u ß i h m die E n t -
scheidung v o r b e h a l t e n bleiben. W e n n d e r B u n d e s t a g nicht
m e h r z u s a m m e n t r e t e n k a n n , bietet d e r Notstandsausschuß,
w e n n seine Z u s a m m e n s e t z u n g im G r u n d g e s e t z festgelegt
wird, a l l e r d i n g s ein geeignetes O r g a n z u r Feststellung
des Z u s t a n d e s d e r ä u ß e r e n G e f a h r .
Zu A r t . 115 a Abs. I I I :
Dieser Absatz ist zu streichen, da d e r B u n d e s p r ä s i d e n t im
Z u s a m m e n s p i e l m i t d e m B u n d e s k a n z l e r (möglicherweise
von i h m v e r a n l a ß t ) u n d allein m i t d e r B e h a u p t u n g , „Ge-
f a h r sei im V e r z u g e " — es h ä n g t also alles von B u n d e s -
p r ä s i d e n t und B u n d e s k a n z l e r allein ab — den Z u s t a n d ä u -
ß e r e r G e f a h r v e r k ü n d e n k a n n . Bedenklicher w i r d dies
noch, weil die B e f u g n i s z u r Feststellung gemäß Abs. 1 ge-
m e i n t ist, und schon ein „ d r o h e n d e r A n g r i f f " z u r A u s ü b u n g
dieser B e f u g n i s s e genügt. Da k e i n e Rede davon ist, daß
diese Möglichkeit n u r d a n n besteht, w e n n d e r B u n d e s t a g
oder d e r Notstandsausschuß nicht m e h r z u s a m m e n t r e t e n
k ö n n e n , k ö n n t e das d e r Normallall d e r V e r k ü n d u n g des
ä u ß e r e n Notstands werden® 1 .
Z u A r t . 115 b Abs. I :
Die L ä n d e r k o m p e t e n z ist so weit wie möglich zu e r h a l t e n ,
die E r w e i t e r u n g d e r B u n d e s k o m p e t e n z n u r so w e i t a u s z u -
dehnen, wie u n b e d i n g t notwendig 2 2 . Es sind d e s h a l b nicht
pauschal die L ä n d e r z u s t ä n d i g k e i t e n zu ü b e r t r a g e n ; statt
d e r F o r m u l i e r u n g „auf solchen Sachgebieten, die sonst zur
Gesetzgebungszuständigkeit d e r L ä n d e r gehören", ist eine
P r ä z i s i e r u n g vonnöten.
Zu Art. 115 b Abs. II:
Die G r u n d r e c h t s e i n s c h r ä n k u n g e n sind zu w e i t g e h e n d 2 3 :
Zu Buchstabe a:
Die M e i n u n g s - 2 4 und P r e s s e f r e i h e i t 2 5 (Art. 5 Abs. I Satz 1
bzw. 2 Grundgesetz) sind grundsätzlich a u f r e c h t zu e r h a l -
ten. Was die I n f o r m a t i o n s f r e i h e i t 2 8 (Art. 5 Abs. 1 Satz 1
20 Vgl. statt vieler Arndt aaO., S. 36/37.
21 Vgl. Dorn (PDP) in Nemitz aaO., S. 31, der die Auffassung
vertritt, daß „wenn das Notparlament nicht mehr zusam-
mentreten kann, . . . eine derartige Krisenlage in der Bun-
desrepublik eingetreten ist, daß der Bundeskanzler und
der Bundespräsident nicht mehr solche Vollmachten benö-
tigen, die man ihnen hier zugestehen will. Dann nämlich ist
aus dem Notstand bereits die Katastrophe geworden."
22 Der BR hat in seinem Änderungsvorschlag (abgedr. bei Sei-
fert aaO., S. 105) verlangt, daß in Abs. 1 folgender neuer
Satz 2 anzufügen ist: „Bundesgesetze auf diesen Sachgebie-
ten bedürfen der Zustimmung des BR." — Die Ausschaltung
des Länderorgans ist kennzeichnend für den ganzen Ent-
wurf; in die gleiche Richtung geht, daß in Art. 115 b Abs. 3
Buchst, b die Länderregierungen grundsätzlich übergangen
werden können; vgl. hierzu Schäfer, Prot. BT, S. 2501, 1. Sp.,
und Zinn, Prot. BR, S. 220, r. Sp. Es soll hier lediglich an-
gedeutet werden, daß eine so weitgehende Ausschaltung
der Länder Bedenken in Hinsicht auf das Bundesstaats-
prinzip (Art. 79 Abs. 3 GG) begegnet.
23 Vgl. z. B. Schäfer (SPD) und Dorn (FDP) in Prot. BT, S. 2500
bzw. S. 2506.
24 Vgl. beispielsweise Hoogen (CDU), Prot. BT S. 2495, 1. Sp.
25 Sänger (SPD), Prot. BT, S. 2517 ff.
26 Siehe auch die Stellungnahme des Dt. Presserats, abgedr.
in Nemitz aaO., S. 102.

34
GG) angeht, k ö n n t e im Z u s t a n d d e r ä u ß e r e n G e f a h r eine
B e s c h r ä n k u n g e r w o g e n w e r d e n . — Art. 8 GG sieht in sei-
n e m Absatz 2 schon die Möglichkeit von E i n s c h r ä n k u n g e n
vor, ebenso A r t . 9 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 GG (vgl.
auch Art. 17a Abs. II GG).
Z u Buchstabe b:
Die B e s c h r ä n k u n g v o n Art. 12 Abs. 2 GG k ö n n t e ein sonst
v e r f a s s u n g s w i d r i g e s Zivildienstgesetz 2 7 ermöglichen und ist
zu streichen. A u ß e r d e m besteht, w e n n , wie vorgesehen, auch
Art. 12 Abs. 3 Satz 1 GG eingeschränkt wird, die Möglich-
keit, F r a u e n im V e r b a n d d e r S t r e i t k r ä f t e auf G r u n d einer
bloßen N o t v e r o r d n u n g einzusetzen, wobei nach dem E n t -
wurf d e r B u n d e s r e g i e r u n g dieser die Ausgestaltung d e r
N o t v e r o r d n u n g völlig ü b e r l a s s e n sein k ö n n t e und a u ß e r
e i n e m Einsatz m i t der W a f f e nichts ausschlösse.
Zu Buchstabe d:
Eine von A r t . 104 Abs. 2 und 3 abweichende R e g e l u n g be-
gegnet g r ö ß t e n B e d e n k e n . Z i n n 2 8 hat bei einer im Schrö-
d e r - E n t w u r f ähnlich g e f a ß t e n B e s t i m m u n g darauf hinge-
wiesen, daß d e r T r ä g e r von N o t s t a n d s m a ß n a h m e n auf diese
Weise sogar K o n z e n t r a t i o n s l a g e r errichten könnte, u m po-
litische G e g n e r zu beseitigen. Auf keinen Fall darf die Soll-
bestimmung e r h a l t e n bleiben. Das Recht einer von Polizei-
o r g a n e n f e s t g e n o m m e n e n P e r s o n auf richterliche K o n t r o l l e
g e h ö r t zu d e n g r u n d l e g e n d s t e n Prinzipien des Rechtsstaats
ü b e r h a u p t . Die Sollbestimmung k ö n n t e eine V e r h a f t u n g
ad i n f i n i t u m v e r l ä n g e r n , o h n e daß ein Richter eingreifen
könnte 2 S .
Z u A r t . 115 b Abs. I I I Buchstabe a:
Die B u n d e s w e h r 50 — f ü r kriegerische A u s e i n a n d e r s e t z u n -
gen ausgebildet —, ist f ü r einen Einsatz f ü r „polizeiliche
A u f g a b e n " ungeeignet. Sollten die b e s t e h e n d e n Polizei-
k r ä f t e f ü r nicht ausreichend gehalten w e r d e n , ist zunächst
an die A u f s t e l l u n g einer Polizeireserve oder eine V e r s t ä r -
k u n g d e r Bereitschaftspolizei zu denken.
Zu Buchstabe b:
Die Möglichkeit, die Weisungsbefugniss auf B e a u f t r a g t e zu
ü b e r t r a g e n , ist in Hinsicht auf die schlechten E r f a h r u n g e n ,
die in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k mit dem Reichsstatthalter
gemacht w u r d e n , ü b e r h a u p t auszuschließen.
27 Dieses Gesetz wird in einem späteren Teil III, Abschn. XI,
erörtert.
28 Zinn auf der 215. Sitzung des BR am 26. Februar 1960, ab-
gedr. in SPDst., S. 40.
29 Vgl. hierzu Bauer im Vorwort zu Seifert aaO., S. 6, der
ausführt: „Wir wissen auch einiges von den Träumen unse-
rer Bürokratie. Ein kleiner Angestellter des Bundesinnen-
ministeriums — es war noch zu Zeiten des Bundesinnen-
ministers Schröder — photographierte insgeheim Entwürfe
für Notverordnungen, zu denen die Bundesregierung für
den Fall X damals durch Grundgesetzänderung ermächtigt
werden sollte. Eine nach Pressemitteilungen 94 §§ lange Ver-
ordnung über Sicherheitsmaßnahmen sollte z. B. gestatten,
eine Person „in polizeilichen Gewahrsam" zu nehmen, wenn
sie auf Grund ihres früheren Verhaltens dringend ver-
dächtig wäre, in Zukunft Handlungen zu begehen, zu för-
dern oder zu veranlassen, die als Hochverrat, Staatsgefähr-
dung, Landesverrat oder als Straftat gegen die Landesver-
teidigung strafbar sind. Führungskräfte der Schlüssel-
industrie sollten nach der gleichen Verordnung abgelöst
werden, wenn ihre mangelnde staatsbürgerliche oder per-
sönliche UnZuverlässigkeit zu befürchten stünde."
30 Vgl. Arndt aaO., S. 46.

35
Zu Art. 115 c Abs. I :
Bei dieser Ü b e r t r a g u n g von B e f u g n i s s e n auf d e n N o t s t a n d s -
ausschuß ist die G e f a h r v o r h a n d e n , daß sich das P a r l a m e n t
aus seiner V e r a n t w o r t u n g zieht®1. Selbst d a n n ist es j e -
doch besser, w e n n d e r Notstandsausschuß diese A u f g a b e n
w a h r n i m m t , als w e n n sie d i r e k t auf die B u n d e s r e g i e r u n g
ü b e r g i n g e n . D u r c h d e n Notstandsausschuß ist noch ein Min-
d e s t m a ß a n p a r l a m e n t a r i s c h e r K o n t r o l l e gewährleistet.
Zu A r t . 115 c Abs. I I :
Die E i n r ä u m u n g von N o t v e r o r d n u n g s b e f u g n i s s e n an die
B u n d e s r e g i e r u n g ist nicht e r f o r d e r l i c h . Auch im Notstands-
fall ist die p a r l a m e n t a r i s c h e K o n t r o l l e so lange a u f r e c h t zu
e r h a l t e n als irgend möglich. Dieses M i n d e s t m a ß a n p a r l a -
mentarischer Kontrolle gewährleistet der Notstandsaus-
schuß 32, d e r im ä u ß e r s t e n Fall Notgesetze erlassen könnte.
Seine H a n d l u n g s f ä h i g k e i t ist im m i n d e s t e n s gleichen A u s -
m a ß g e g e b e n als die d e r f a s t ebensoviele Mitglieder u m -
fassenden, jedoch nicht ersetzbaren Bundesregierung.
Zu A r t . 115 c Abs. 4:
Vor Ablauf d e r F r i s t von 6 M o n a t e n d ü r f t e schon eine
S t e l l u n g n a h m e des B u n d e s t a g s möglich sein; sobald d e r
B u n d e s t a g w i e d e r z u s a m m e n t r e t e n kann, m ü s s e n die e r -
g a n g e n e n Notgesetze (und -Verordnungen) von i h m s a n k -
tioniert w e r d e n 3 3 und t r e t e n sofort a u ß e r K r a f t , w e n n der
Bundestag seine Zustimmung verweigert.
Zu A r t . 115 d:
Falls die B e s t i m m u n g a u f g e n o m m e n wird, daß der h i e r
v o r g e s e h e n e Kabinettsausschuß aus Mitgliedern d e r B u n -
d e s r e g i e r u n g b e s t e h t (Verantwortlichkeit!), k a n n die Be-
s t i m m u n g a u f r e c h t e r h a l t e n w e r d e n . E n t s p r e c h e n d d e m zu
Art. 115 c Abs. 2 Gesagten, k a n n erst recht d e r K a b i n e t t s -
ausschuß k e i n e N o t v e r o r d n u n g e n erlassen.
Z u A r t . 115 e Abs. 1:
„ N o t v e r o r d n u n g e n " ist entsprechend d e m zu Art. 115 c
Abs. 2 Gesagten zu streichen. — Es ist zu e r w ä g e n , ob die
K o n t r o l l f u n k t i o n des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s nicht durch
eine E r w e i t e r u n g d e r B e f u g n i s d e r einstweiligen A n o r d -
n u n g e n v e r s t ä r k t w e r d e n soll.
A r t . 115 e Abs. 2:
Das P r i n z i p d e r „Selbstreinigung" des B u n d e s v e r f a s s u n g s -
gerichts sollte in dieser B e s t i m m u n g insoweit z u m A u s -
druck gebracht w e r d e n , daß ein V e r f a s s u n g s r i c h t e r , gegen
den d e r V o r w u r f einer s t r a f b a r e n H a n d l u n g e r h o b e n w i r d ,
n u r d a n n v e r h a f t e t w e r d e n k a n n , w e n n eine entsprechende
P l e n a r e n t s c h e i d u n g des Gerichts d e m zustimmt.
Art. 115 f:
Die „einstweiligen M a ß n a h m e n " i. S. d e r A r t i k e l 115 b und
115 c d ü r f e n n u r u n t e r Beachtung des zu diesen A r t i k e l n
Gesagten g e t r o f f e n w e r d e n , also kein Einsatz von Militär
und k e i n e N o t v e r o r d n u n g e n .
Art. 115 g Abs. 1:
W e n n die V o r a u s s e t z u n g e n des ä u ß e r e n Notstands nicht
m e h r gegeben sind, muß d e r B u n d e s t a g die Beendigung
31 Vgl. Arndt aaO., S. 38, ferner Hoogen (CDU) und Schäfer
(SPD), Prot. BT, S. 2493 bzw. S. 2496.
32 Zum Notstandsausschuß siehe Arndt aaO., S. 41, und Han-
nover aaO., Heft 1, S. 43.
33 Ähnliches verlangt Art. 111 Abs. 1 Entw. des Herrenchiem-
seer Verfassungskonvents.

36
des Z u s t a n d e s d e r ä u ß e r e n G e f a h r e r k l ä r e n . Eine bloße
K a n n - B e s t i m m u n g ermöglicht, d a ß d e r Bundestag sich noch
e h e r e i n e r Entscheidung entzieht.
A r t . 115 g Abs. 2:
Wie A n m e r k u n g zu Art. 115 g Abs. 1.
A r t . 115 h :
Mit Recht n e n n t Seifert® 4 diesen A r t i k e l eine „Gleiwitz-
Klausel". G e r i n g e G r e n z z w i s c h e n f ä l l e k ö n n t e n , da ü b e r -
h a u p t k e i n e K o n t r o l l e eines V e r f a s s u n g s o r g a n s eingebaut
wird, von Militärs o d e r a n d e r e n i n t e r e s s i e r t e n G r u p p e n
dazu b e n u t z t w e r d e n , den V e r t e i d i g u n g s f a l l und den Z u -
s t a n d d e r ä u ß e r e n G e f a h r zu v e r k ü n d e n . D e r Artikel ist. ^u
streichen.
b) Verfassungsrechtliche B e d e n k e n
Zu A r t . 115 c Abs. 3 (Verstoß gegen das G e w a l t e n t e i l u n g s -
p r i n z i p : Art. 20 Abs. 2 GG i. V. Art. 79 Abs. 3 GG):
Der B u n d e s m i n i s t e r des I n n e r n h a t bei seinen A u s f ü h r u n -
gen z u m N o t v e r o r d n u n g s r e c h t d e r B u n d e s r e g i e r u n g bei d e r
e r s t e n Lesung im B u n d e s t a g die Ü b e r z e u g u n g ausgespro-
chen, daß „verfassungsrechtliche B e d e n k e n u n t e r d e m Ge-
sichtspunkt des Art. 79 Abs. 3 G G gegen ein solches N o t v e r -
o r d n u n g s r e c h t , w i e es d e r E n t w u r f vorsieht, nicht bestehen.
D e r G r u n d s a t z d e r G e w a l t e n t e i l u n g w i r d auch deshalb
nicht verletzt, weil es sich u m eine exzeptionelle, auf eine
b e s o n d e r e G e f a h r e n s i t u a t i o n beschränkte, b e f r i s t e t e Ü b e r -
t r a g u n g d e r Rechtssetzungsbefugnis auf die vollziehende
G e w a l t h a n d e l t und diese Ü b e r t r a g u n g k e i n e n a n d e r e n
Zweck h a t , als den, d e n Bestand des Staates — und d a r u m
geht es — und seine V e r f a s s u n g s o r d n u n g v o r d e r tödlichen
B e d r o h u n g zu schützen oder wiederherzustellen" S 5 . Diese
verfassungsrechtlichen A u s f ü h r u n g e n sind grundsätzlich zu-
t r e f f e n d , da das g e n a n n t e G e w a l t e n t e i l u n g s p r i n z i p lediglich
k e i n e r ÄnderungS5a zugänglich ist, Art. 79 Abs. 3 GG also
n u r eine institutionelle G a r a n t i e geben will; die B e m e r k u n -
gen sind jedoch nicht geeignet, das h i e r zur F r a g e stehende
N o t v e r o r d n u n g s r e c h t d e r B u n d e s r e g i e r u n g zu rechtfertigen;
d e n n auch im Falle d e r A u s n a h m e s i t u a t i o n k ö n n e n so
schwere E i n g r i f f e n u r d a n n zulässig sein, w e n n eine u n -
b e d i n g t e N o t w e n d i g k e i t h i e r z u gegeben ist und ein m i l d e -
r e s Mittel den a n g e s t r e b t e n Zweck nicht erreichen läßt.
Die I n s t i t u t i o n des Notstandsausschusses k a n n jedoch, wie
sich bei d e r verfassungspolitischen E r ö r t e r u n g des zur
F r a g e s t e h e n d e n A r t i k e l s ergab, mit gleicher E f f e k t i v i t ä t
(kaum größer als das K a b i n e t t ) u n d noch g r ö ß e r e r Sicher-
heit (Ersetzbarkeit d e r Mitglieder), dazu als p a r l a m e n t a r i -
sches K o n t r o l l o r g a n , die nötigen M a ß n a h m e n ermöglichen.
U n t e r Berücksichtigung des Prinzips d e r V e r h ä l t n i s m ä ß i g -
k e i t ' " ist schon das G e w a l t e n t e i l u n g s p r i n z i p als solches57
34 aaO., S. 31.
35 Prot. BT, S. 2487, 1. Sp.
35a „Änderung" wäre die Abschaffung des Prinzips überhaupt,
wenn also z. B. bestimmt würde, daß das Gewaltenteilungs-
prinzip als aufgehoben gilt und die Verfassung dieses Prin-
zip nun nicht mehr enthält. Dies wäre verfassungswidrig;
nicht aber ist „Änderung" der auf den Notstandsfall be-
schränkte, notwendige „Eingriff".
36 Dieser Grundsatz besteht seit langem im deutschen Ver-
waltungsrecht, durch Entscheidungen des BVerfG ist er
auch im Verfassungsrecht anerkannt.
37 D. h., daß in den Wesensgehalt auch im Ausnahmefall un-
zulässigerweise eingegriffen wird, nämlich dann, wenn der

37
verletzt, weil die — im A u s n a h m e f a l l d u r c h a u s w e i t e r g e -
h e n d e n — B e f u g n i s s e zu E i n g r i f f e n in das P r i n z i p d e r G e -
w a l t e n t e i l u n g in u m f a s s e n d e r e m M a ß e g e w ä h r t w e r d e n ,
als es z u r A b w e h r von G e f a h r e n absolut e r f o r d e r l i c h ist.
Deshalb sind Art. 115 b Abs. 2, soweit e r ein N o t v e r o r d -
n u n g s r e c h t der B u n d e s r e g i e r u n g b e g r ü n d e t , u n d die A r t i -
kel, die ein solches Recht aus Art. 115 b Abs. 2 herleiten,
verfassungswidrig.
Zu Art. 115 a Abs. 3 (Verstoß gegen das G e w a l t e n t e i l u n g s -
p r i n z i p : Art. 20 Abs. 2 i. V. Art. 79 Abs. 3 GG):
Dasselbe m u ß in b e s c h r ä n k t e m M a ß e bei einer sinn-
vollen E r f a s s u n g des G e w a l t e n t e i l u n g s p r i n z i p s auch f ü r
Art. 115 a Abs. 3 gelten. Sieht m a n nämlich das G e w a l t e n -
teilungsprinzip nicht lediglich als ein Schema 5 8 , dessen
höchster Sinn d a r i n besteht — Legislative, E x e k u t i v e und
J u d i k a t i v e als in sich geschlossene G e w a l t e n aufzurichten,
s o n d e r n als ein P r i n z i p d e r G e w a l t e n Hemmung an, d a n n ist
das entscheidende M e r k m a l d e r Institution P a r l a m e n t nicht
allein seine Rechtssetzungsbefugnis, sondern vor allem
seine K o n t r o l l f u n k t i o n . Diese K o n t r o l l f u n k t i o n ü b t es aus,
w e n n es Gesetze beschließt oder a b l e h n t ; die Kontrolle
k a n n a b e r in einem h ö h e r e n Maße erforderlich sein und
ist als grundsätzliches Recht des P a r l a m e n t s anzusehen,
w e n n die R e g i e r u n g eine f ü r den S t a a t schwerwiegende
Entscheidung fällt, die m e h r als die meisten Gesetze es zu
tun v e r m ö g e n , grundsätzliche V e r ä n d e r u n g e n , w e n n auch
n u r f ü r einen k u r z e n Z e i t r a u m , schafft. Auch die in das
G r u n d g e s e t z e i n g e f ü g t e Regelung des Verteidigungsfalls
(Art. 59 a GG) folgt noch dieser F o r d e r u n g ; selbst bei „Ge-
f a h r i m Verzuge" geht das Recht z u r Feststellung des V e r -
teidigungsfalls e r s t d a n n v o m B u n d e s t a g auf den „Bundes-
p r ä s i d e n t e n m i t Gegenzeichnung des B u n d e s k a n z l e r s " ü b e r ,
w e n n d e m „ Z u s a m m e n t r i t t des Bundestages u n ü b e r w i n d -
liche H i n d e r n i s s e e n t g e g e n s t e h e n " (vgl. Art. 59 a Abs. 2 GG).
Art. 115 a Abs. 3 E n t w u r f sieht a b e r bei „ G e f a h r im Verzug"
einen Z u s a m m e n t r i t t des Bundestags nicht m e h r vor, son-
d e r n gibt dieses Recht sofort und ü b e r h a u p t d e m „Bundes-
p r ä s i d e n t e n m i t Gegenzeichnung des Bundeskanzlers". O h n e
die Möglichkeit einzuplanen, daß d e r B u n d e s t a g oder d e r
k u r z f r i s t i g e i n b e r u f b a r e Notstandsausschuß auch bei „Ge-
f a h r im Verzuge" noch z u s a m m e n t r e t e n können, beschränkt
sich Art. 115 a Abs. 3 Entw. auf das s c h ä r f e r e Mittel. U n t e r
H e r a n z i e h u n g des G r u n d s a t z e s d e r V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t
liegt also auch bei A r t . 115 a Abs. 3 Entw. ein Verstoß inso-
weit vor, als e r k e i n e Entscheidungsbefugnis des Bundes-
tages oder des Notstandsausschusses f ü r den Fall vorsieht,
wo ein Z u s a m m e n t r i t t dieser O r g a n e noch möglich ist. Art.
115 a Abs. 3 Entw. ist d e s h a l b verfassungswidrig. Das gilt
insbesondere f ü r den Fall des „drohenden Angriffs",
Zu Art. 115 b Abs. 2 Buchstabe d (Verstoß gegen das Rechts-
staatsprinzip: Art. 20 Abs. 2 und 3 i. V. m i t Art. 79
Abs. III GG):

Eingriff unverhältnismäßig ist und zur Abwehr der Ge-


fahr auf keinen Fall erforderlich ist. — Das verlangt aber
gleichzeitig, daß, sobald ein Eingriff von solcher Intensität
n i c h t m e h r erforderlich 1st, er sofort auf das nötige
Maß zu beschränken ist.
38 Vgl. den Beitrag von Drath, Die Gewaltenteilung im heu-
tigen Deutschen Staatsrecht, in: Faktoren der Machtbil-
dung, S. 99 ff.

38
Die u n b e f r i s t e t e G e w ä h r u n g v o n Polizeibefugnissen, wie
sie die S o l l b e s t i m m u n g ermöglicht, v e r s t ö ß t gegen das
Rechtsstaatsprinzip u n d ist d e s h a l b verfassungswidrig.

Z u Art. 115 b Abs. 2 Buchstabe a:


Ein b e s o n d e r e s P r o b l e m bilden die s t a r k e n E i n s c h r ä n k u n -
gen d e r G r u n d r e c h t e a u s A r t . 5, 8, 9 Abs. 1 u n d 2 und Art.
11 GG. Diese A r t i k e l sind in d e m E n t w u r f u n b e g r e n z t ge-
n a n n t , so d a ß z. B. bei A r t . 5 Meinungs-, P r e s s e - und I n -
f o r m a t i o n s f r e i h e i t , sowie die L e h r - u n d F o r s c h u n g s f r e i h e i t
a u ß e r K r a f t gesetzt w e r d e n k ö n n e n . Bei einer so generellen
N e n n u n g d e r A r t i k e l o h n e Bezeichnung einzelner Absätze
m ü ß t e zumindest g e p r ü f t w e r d e n , ob nicht bei einigen
(oder allen) g e n a n n t e n G r u n d r e c h t e n die schon b e s t e h e n d e n
G e s e t z e s v o r b e h a l t e ausreichen, o h n e daß die V e r f a s s u n g
selbst g e ä n d e r t w e r d e n m u ß . Die B u n d e s r e g i e r u n g h a t bis-
h e r noch nicht ü b e r z e u g e n d d a r g e t a n , w a r u m beispielsweise
die M e i n u n g s - und L e h r f r e i h e i t im Falle des Notstands
eingeschränkt w e r d e n m u ß — ein Zuviel w ä r e auch h i e r
ein Verstoß gegen das P r i n z i p d e r V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t .
D a r i n liegt die verfassungsrechtliche P r o b l e m a t i k dieser
B e s t i m m u n g , die m i t diesen k u r z e n B e m e r k u n g e n n u r a n -
g e d e u t e t w e r d e n sollte.
Auch falls eine 8 /3-Mehrheit im Bundestag die v e r f a s s u n g s -
w i d r i g e n A r t i k e l des E n t w u r f s a n n e h m e n w ü r d e , h ä t t e das
n u r z u r Folge, daß aus den v e r f a s s u n g s w i d r i g e n E n t w u r f s -
bestimmungen verfassungswidriges Verfassungsrecht "
w ü r d e , da i h r e V e r f a s s u n g s w i d r i g k e i t in Verstößen gegen
G r u n d p r i n z i p i e n d e r V e r f a s s u n g liegt.
C. E i n z e l f r a g e n zum Z u s t a n d der i n n e r e n G e f a h r (Art. 115 i
bis 115 1) u n d des
d) K a t a s t r o p h e n z u s t a n d s
w e r d e n h i e r nicht e r ö r t e r t , da sie aus m e h r e r e n G r ü n d e n
ü b e r h a u p t k e i n e Diskussionsgrundlage 4 0 bieten können,
u n d z w a r insbesondere, weil:
a) die T a t b e s t ä n d e nicht in d e m nötigen Maß v o n e i n a n d e r
g e t r e n n t sind (vgl. das u n t e r X 2 A Erörterte),
b) i h r e V e r k ü n d u n g o h n e jegliche p a r l a m e n t a r i s c h e K o n -
trolle e r f o l g e n k a n n (vgl. A r t . 115 1 und 115 m, der eine e n t -
s p r e c h e n d e A n w e n d u n g des Art. 115 1 vorsieht).
E. E r g e b n i s
D e r H ö c h e r l - E n t w u r f einer N o t s t a n d s v e r f a s s u n g enthält
einige e r w ä g e n s w e r t e G e d a n k e n zur Regelung des Not-
standsrechts (z. B. Notstandsausschuß). E r sieht jedoch zu
w e i t g e h e n d e E i n g r i f f e in das Rechtsstaats-, das G e w a l t e n -
teilungs- u n d das Bundesstaatsprinzip, sowie in die G r u n d -
rechte vor. In seiner Substanz g e g e n ü b e r dem Schröder-
E n t w u r f u n v e r ä n d e r t , ist er gefährlicher als dieser, weil er
verschleiert, w a s der S c h r ö d e r - E n t w u r f noch k l a r aus-
sprach. D e r H ö c h e r l - E n t w u r f einer N o t s t a n d s v e r f a s s u n g ist
d e s h a l b als G r u n d l a g e f ü r eine Notstandsregelung im
G r u n d g e s e t z d e r B u n d e s r e p u b l i k Deutschland ungeeignet
u n d abzulehnen.
39 Maunz aaO., S. 235, ferner Bachof, „Verfassungswidrige Ver-
fassungsnormen", 1951.
40 Dieser Ansicht ist auch die Fraktion der SPD, so daß der
Entwurf in dieser Hinsicht kaum die nötige Zwei-Drittel -
mehrheit erreichen wird; vgl. Schäfer, Prot. BT, S. 2502,
rechte Spalte.

39
Besprechungen
Vorbemerkung

Das Argument wird den Buchbesprechungen künftig mehr


Platz einräumen als bisher. Dabei beansprucht der Be-
sprechungsteil gleiches Interesse wie die Aufsätze: Gleiches
wie diese sollen in anderer Form die Besprechungen leisten.
In ihnen soll versucht werden, einen kritischen Überblick
zu geben über die ideologische Bewegung der Gesellschaft,
wie sie sich manifestiert in Neuerscheinungen auf dem
Büchermarkt. In der Hauptsache — aber nicht n u r — wer-
den es Veröffentlichungen aus beiden Teilen Deutschlands
sein, die w i r besprechen. Bei der Knappheit der uns zur
Verfügung stehenden Mittel und der f ü r Besprechungen zur
Verfügung stehenden Seitenzahl — in jedem Heft werden
es etwa 20 Seiten sein — wird der Überblick n u r unzuläng-
lich sein können. Wir verzichten daher auf den Anspruch
quantitativer Vollständigkeit. Der Anspruch, dem wir uns
verpflichten, ist ein doppelter: zum einen sollen die theore-
tischen Positionen, mit denen w i r uns auseinandersetzen,
die Gültigkeit repräsentativer Beispiele haben entweder
f ü r Denkformen, die „an der Macht" sind, oder aber f ü r
solche, die dem Bestehenden sich widersetzen; zum andern
werden wir versuchen, in diesen Auseinandersetzungen
unsere eigene Theorie kritisch zu bewähren. Wir werden
weder „wertfrei" noch mit der indifferenten Gelassenheit
unbeteiligter Zuschauer argumentieren; aber selbst in der
Polemik wollen wir versuchen, aus dem Bekämpften zu
retten, was daran zu retten ist. — Bedarf es der Rechtfer-
tigung, wenn wir uns immer wieder mit Erscheinungen
auseinandersetzen, die nicht, gerade zu den „bedeutendsten"
gerechnet werden können? — Daß viele der Exponenten
des „objektiven Geistes", gegen die wir kämpfen, kleine
Geister sind, macht sie desto typischer f ü r die geistlosen
Verhältnisse, an deren ideologischem Schleier sie weben.
Wir werden uns von der Maxime leiten lassen, daß Gedan-
ken so ernst zu nehmen sind wie Programme, die „Ge-
schichte machen" und Wirklichkeit bestimmen werden, und
daß falsche Theorie begriffen werden muß als Korrelat
unmenschlicher Praxis. W. F. H.

C O M M U N I C A T I O N S . — Jahrbuch des .Centre d'


Études des Communications de masse (CECMAS) de l'École
Pratique des Hautes Études'; hrsgg. v. Georges F r i e d -
m a n n . — Editions du Seuil, Paris. Bd. I, 1961 (239 S., NF
15,00); Bd. II, 1963 (268 S.).

40
COMMUNICATIONS setzt sich zum Ziel die soziologische
Erforschung der sog. Massenkommunikationen. Eine Art
Motto auf dem Umschlag der Zeitschrift umreißt den Ge-
genstand und nennt das Forschungsprogramm: „Große
Presse, Radio, Fernsehen, Kino, Werbung, Schlager und
populäre Romane: ü b e r all diese massiven Wege der I n f o r -
mation und des Traums, deren erstaunliche Entwicklung die
moderne Welt charakterisiert, ist der Mensch der tech-
nischen Zivilisation dabei, eine neue Kultur auszuarbeiten.
Welches sind die Inhalte? die Sprachen? die Funktionen?
die Werte? die Auswirkungen?".
In der Vorstellung der ersten N u m m e r der Zeitschrift fin-
den sich weitere Andeutungen über P r o g r a m m und Me-
thode: Die „Phänomene" sollen auf ihre „Bedeutung" hin
befragt werden. Dabei erhebe die Zeitschrift nicht den An-
spruch auf „eine unmittelbare Theorie ihres Gegenstan-
des" (?), dessen „Zufälligkeit" (contingence) ihr nämlich die
Funktion eines Forschungsprotokolls zuweise, „das sein
ganzes Material der Aktualität verdankt". „Die Inhalte, die
Substanzen vergehen, aber die Form, das Sein und infolge-
dessen der Sinn der Sache bleiben bestehen: und diesen
Sinn, der zugleich zufällig und allgemein" sei (à la fois
contingent et général), w ü r d e die Zeitschrift „gerne nach
und nach aufklären". — Wir fügen hinzu, daß uns „Die In-
halte, die Substanzen" solcher Sätze vorerst noch entgehen,
daß wir also ihr Sein und infolgedessen ihren Tiefsinn f ü r
Unsinn zu halten geneigt sind, den wir allerdings im Ver-
dacht haben, daß er — und zwar nicht „zufällig" — allge-
mein verbreitet ist. Wir vermuten aber bereits, der „Sinn
der Sache" sei: Herrschaft. Charakteristisch f ü r die „mo-
derne Welt" ist jedenfalls die „erstaunliche Entwicklung"
der Wissenschaften vom Menschen und von der Gesell-
schaft: unter dem Titel strenger w e r t f r e i e r Empirie geht
m a n daran, eine neue Mythologie auszuarbeiten („der"
Mensch, „die technische Zivilisation" etc.). — Im Folgenden
wollen wir nach und nach aufklären, ob das CECMAS
wirklich, wie m a n uns in der Vorstellung versichert, „kei-
neswegs seine Doktrin a priori zu wählen gewillt" ist.
In den beiden bisher erschienenen Heften finden sich zwei
Beiträge von Georges F r i e d m a n n , dem Herausgeber,
über „Schulbildung und Massenkultur". Wir beziehen uns
im Folgenden hauptsächlich auf diese beiden Texte sowie
auf einen Überblick von Morris J a n o w i t z und Robert
S c h u l z e ü b e r „Tendenzen der Forschung auf dem Gebiet
der Massenkommunikationen".
In COMMUNICATIONS ist man sich darüber einig, daß
es darauf ankomme, „moralische" Kritik säuberlich aus
soziologischer Analyse herauszuhalten. Kritik, die sich als
soziologische Theorie und Forschung ausgebe, sei zumeist
„nichts als zügellose Gesellschaftskritik" soidisant „ent-
f r e m d e t e r " Intellektueller („ne fut qu'une critique e f f r é n é e
de la société, par des intellectuels .aliénés' .. ." Janowitz,
I/S. 17). Die Wissenschaft müsse sich freimachen von „mo-
ralisierendem Sentimentalismus". „Die Essayisten, die spe-
kulativen Psychiater, die Moralisten und die versäuerten
Intellektuellen" seien es hauptsächlich, die hartnäckig an
der Idee einer Art Allmacht der Massenmedien festhalten
(1/31). Die wirklichen Soziologen jedoch und ihre Unter-
suchungen hätten solche Stereotypen zerstört. Ihre Forschun-
gen hätten „wiederentdeckt und wiederbestätigt die Bestän-

41
digkeit d e r t r a d i t i o n e l l e n F o r m e n des Sozialgefüges (de l'as-
sociation), d e r Beeinflussung u n d d e r H e r r s c h a f t (du p o u -
voir)" (Janowitz, I/S. 33). Diese A u f f a s s u n g soll sich auf zwei
C h a r a k t e r i s t i k a d e r , M a s s e n k o m m u n i k a t i o n e n ' stützen k ö n -
n e n : 1) die Macht d e r M a s s e n m e d i e n zeigt sich w e i t g e h e n d
b e s c h r ä n k t auf die V e r s t ä r k u n g von Dispositionen, M e i n u n -
gen u n d V o r u r t e i l e n , die in d e r Masse i h r e r K o n s u m e n t e n
b e r e i t s angelegt sind; w a s e k l a t a n t d e m B e s t e h e n d e n w i d e r -
spricht, scheint i. A. nicht a n z u k o m m e n . 2) „In den d e m o -
kratischen Gesellschaften sind die m e i s t e n der f ü r die Mk
V e r a n t w o r t l i c h e n m i t einflußreichen Geschäftsleuten liiert,
d e r e n I n t e r e s s e letzten E n d e s d a r i n besteht, die O r d n u n g
und Stabilität a u f r e c h t z u e r h a l t e n " (I/S. 2 9 ) — D e r Wissen-
schaft m ü s s e es ausschließlich u m die f u n k t i o n e l l e B e d e u -
t u n g d e r a n a l y s i e r t e n P h ä n o m e n e i n n e r h a l b d e r sozialen O r -
ganisation gehen. E. A. S h i 1 s u n d Th. G e i g e r h ä t t e n
auf die U m s t ä n d e hingewiesen, „die es den M a s s e n m e d i e n
e r l a u b e n , zur S t a b i l t ä t u n d H a r m o n i e d e r Gesellschaft bei-
z u t r a g e n " . — Die V o r a u s s e t z u n g des I d e a l t y p u s einer r e i -
bungslos f u n k t i o n i e r e n d e n u n d d a h e r stabilen Gesellschaft
ist f ü r die angeblich voraussetzungslose Wissenschaft, w i e
sie h i e r p r o p a g i e r t w i r d , konstitutiv. D e r f u n k t i o n a l i s t i s c h e
I d e a l t y p u s bleibt aber, w i e zu zeigen sein wird, nicht bei
einer bloß heuristischen B e d e u t u n g stehen.
Die heuristische I d e a l k o n s t r u k t i o n h i l f t zunächst, d e n M a n -
gel einer T h e o r i e d e r Gesellschaft k o m p e n s i e r e n . „ S t r u k -
t u r e l l e " Definitionen t r e t e n a n die Stelle inhaltlich-histori-
scher Begriffe. So definiert F r i e d m a n n die „Massen-
k u l t u r " als „die G e s a m t h e i t k u l t u r e l l e r K o n s u m g ü t e r , die
via M a s s e n m e d i e n in d e r technischen Zivilisation d e m P u -
b l i k u m z u r V e r f ü g u n g gestellt w e r d e n " . N u n sind a b e r ziem-
lich alle Glieder d e r Definition selber Undefiniert. U m nicht
den d e f l a t o r i s c h e n Z i r k e l zu d e m o n s t r i e r e n , in d e m seine
Tautologismen ihn festhalten, verzichtet F. auf w e i t e r e Be-
grifflichkeit. Die „Sachen" seien doch o f f e n b a r da, das
m ü s s e f ü r den A n f a n g genügen. I m m e r h i n e r f a h r e n w i r
noch einige Umschreibungen f ü r d e n Begriff „technische
Zivilisation": Von ihr sagt F. in A n l e h n u n g a n Marcel
M a u s s , sie w e r d e k o n s t i t u i e r t von d e m „komplexen Ge-
f ü g e d e r K u l t u r d a t e n (l'aggrégat complexe des ,faits de
civilisation'). Diese „ K u l t u r d a t e n " eignen „der I n d u s t r i e -
gesellschaft", ungeachtet aller noch so r a d i k a l e n U n t e r -
schiede d e r politischen oder ökonomischen Verhältnisse.
K o m m e n t a r l o s w e r d e n solche „ K u l t u r d a t e n " a u f g e z ä h l t :
Wissenschaftl. Arbeitsorganisation, M a s s e n p r o d u k t i o n , h e -
donistische und V e r b r a u c h e r - H a l t u n g e n , ü b e r h a u p t n e u e
V e r h a l t e n s w e i s e n a u ß e r h a l b d e r Arbeitszeit. Die wichtigsten
V e r ä n d e r u n g e n sieht F. darin, daß 1) die m a n u e l l e A r b e i t
i m m e r m e h r in den H i n t e r g r u n d t r i t t u n d daß d a h e r „die
numerische, politische u n d mystische B e d e u t u n g " des P r o l e -
t a r i a t s geschwunden sei; 2) „daß die traditionelle A r b e i t s -
m o r a l e r s c h l a f f t und sich a b n ü t z t " ; 3) daß die Freizeit viel
größer ist als f r ü h e r und noch größer w e r d e n w i r d . — Von

1 In verblüffender Verdrehung der Fakten will Janowitz über-


sehen, daß die „versäuerten Intellektuellen" ihre Kritik
gerade auf diejenigen Fakten stützen, die er gegen sie ins
Feld führt. Nichts anderes besagt ja ihre Kritik, als daß die
Massenmedien die bestehenden Irrationalismen, bei denen
die massenmediale Manipulation einhakt, zwangsläufig ver-
festigen und so eine Aufklärung und vernünftige Umgestal-
tung der Gesellschaft verhindern.

42
diesen G e g e b e n h e i t e n aus m ü s s e m a n die E r f o r d e r n i s s e d e r
Schulbildung sowie d e r E r z i e h u n g ü b e r h a u p t n e u durch-
d e n k e n , u n d z w a r „par r a p p o r t a u x exigences de l ' h o m m e -
d ' a p r è s - l e - t r a v a i l " , in Beziehung auf „den F r e i z e i t - M e n -
schen", d e r d e r „ M a s s e n k u l t u r " ausgesetzt sei. Zu suchen
seien „neue K r i t e r i e n " , die erlauben, in d e r M a s s e n k u l t u r
„wie in j e d e r K u l t u r W e r t s k a l e n einzurichten", die zur
H a r m o n i s i e r u n g d e r b e s t e h e n d e n V e r h ä l t n i s s e geeignet
sind. L a n g e h a b e F. d a f ü r g e k ä m p f t , daß d e r „ H u m a n i s m u s
d e r A r b e i t " — g e m e i n t ist o f f e n b a r die L e i s t u n g s m o r a l —
u n d die . h u m a n i t a t e s ' d e r klassischen Bildung sich gegen-
seitig d u r c h d r i n g e n und h a r m o n i s i e r e n . „ K ü n f t i g m u ß ein
d r i t t e r Begriff h i n z u g e f ü g t w e r d e n , d e r H u m a n i s m u s der
Freizeit ( h u m a n i s m e d u loisir).
Nach F. e r g e b e n sich aus diesen E r k e n n t n i s s e n zwei p r a k -
tische F o l g e r u n g e n : 1) m a n m u ß die Menschen den n e u e n
B e d i n g u n g e n anpassen. Diesem Zwecke m u ß m a n 2) die-
jenigen I n s t i t u t i o n e n und P r o g r a m m e anpassen, d e r e n
F u n k t i o n es ist, die Menschen den h e r r s c h e n d e n V e r h ä l t -
nissen anzupassen®. R e f o r m des Schulunterrichts z u r Schu-
l u n g e i n e r „neuen Rezeptivität". V e r ä n d e r u n g des P u b l i -
kums, d a m i t i h m ü b e r die M a s s e n m e d i e n anschließend
h ö h e r e W e r t e g e l i e f e r t w e r d e n k ö n n e n (II/S. 124). Es h a n -
delt sich also u m nichts G e r i n g e r e s als u m eine „neue P ä d -
agogik", die aus d e r alten P ä d a g o g i k nach einer „conver-
sion a u r é e l " h e r v o r g e h t und dem Gebrauch d e r Massen-
m e d i e n „angepaßt" ist. „Realistische" Erzieher, die ein O r -
gan h a b e n f ü r s „Kulturpotential", das in den Massenkom-
m u n i k a t i o n e n schlummert, h a b e n m i t einer solchen k u l t u r -
industriellen E r z i e h u n g („éducation d e l'écran") bereits
E x p e r i m e n t e angestellt, „die von d e r A d m i n i s t r a t i o n ge-
d u l d e t und m a n c h m a l e r m u t i g t w o r d e n sind" (II/S. 132).
F. v e r t e i d i g t die Massenmedien. A b e r e r a r g u m e n t i e r t nicht,
wie es sozialwissenschaftlich allein v e r t r e t b a r w ä r e : m i t
d e r I n d i f f e r e n z des Mediums g e g e n ü b e r den i n n e r h a l b b e -
stimmter Verhältnisse bestimmten Inhalten, gegenüber dem
also, w a s die Gesellschaft d a r a u s macht; seine A r g u m e n -
tation e r l a u b t also k e i n e gesellschaftskritische W e n d u n g d e r
K r i t i k an d e r M a s s e n k u l t u r . S o n d e r n : auch eine F e r n s e h -
s e n d u n g k ö n n e „die A u r a eines k u l t u r e l l e n Gegenstandes"
h a b e n („Ie r a y o n n e m e n t d ' u n objet culturel", II/S. 131). Auch
in i h r k ö n n t e n „Werte" e n t h a l t e n sein. A u f g a b e d e r Wissen-
schaft soll n u n a b e r nicht die A u f k l ä r u n g d e r Z u s a m m e n -
h ä n g e und d e r E n t s t e h u n g solcher W e r t e sein, sondern
d e r e n „neue Definition" (aber w a s heißt h i e r „neu"?), i h r e
funktionalistische Konzeption u n d Zurichtung zum Zwecke
i h r e r Einpflanzung in die Menschen. Gesprochen w i r d ü b e r
W e r t e n u r f u n k t i o n a l . Der m a t e r i a l e Sinn des Besprochenen
verflüchtigt sich dabei. Diese „Wissenschaft", d e r e n A u f -
g a b e so e t w a s sein soll wie eine w e r t f r e i e Konzeption von
W e r t e n , f ü h r t sich selbst ad a b s u r d u m : ihr nicht m e h r be-
z w e i f e l h a f t e r o b e r s t e r Wert-an-sich, den sie absolut setzt,
ist die A u f r e c h t e r h a l t u n g d e r b e s t e h e n d e n Verhältnisse,
Stabilität.

2 Der Vergleich drängt sich auf mit dem Positivismus von


Auguste Comte, der gefordert hatte, man müsse das Be-
wußtsein der Menschen zu einer Funktion der bestehenden
Verhältnisse machen, die es exakt wiederzuspiegeln habe:
„transformer le cerveau humain en un miroir exact de
l'ordre extérieur".

43
Das Nebeneinander von tautologischen Formalismen und
verschwommenen Mythologemen („rayonnement") k e n n -
zeichnet die Sprache dieser Art von Sozialforschung, die
doch Gesellschaftskritik mit dem Verweis auf die alleinige
Legitimität der Empirie aus der Wissenschaft verbannen
will. Neben der leeren Präzision und dem hohlen Tiefsinn
serviert sie Plattheiten, gängige Redensarten ü b e r „die
neue Kultur", „den Menschen der technischen Zivilisation"
etc.
Eine dieser Redensarten ist geeignet, die apologetische
Blindheit solcher Sprache sichtbar zu machen. Wir meinen
die Redensart von der „neuen Sprache", die „der Mensch
e t c . . . . " sich in den Massenkommunikationen geschaffen
habe: hier wird .Sprache' — Inbegriff der Metaphorik —
selber zur Metapher. „Fernsehen" ist eben gerade keine
„neue Sprache", der Ausdruck mystifiziert und verklärt. Es
gälte gerade die Modifikation der Sprache im Medium TV
zu analysieren und begrifflich darzustellen. „Neue Sprache"
zu sagen verstellt a priori die Möglichkeit, den Abbau von
Sprache im Massenmedium kritisch darzustellen. Die Men-
schen sollen TV rezipieren, als w ä r e es Sprache. I h r e Re-
zeptivität soll so geschult (präformiert) werden, daß. sie das
„audio-visuelle" verstehen, als w ä r e es verständlich und
als w ä r e es relevant f ü r sie. „Neue Sprache" verhöhnt als
veraltet die kritische Weigerung, sich mit Ersatz abspeisen
zu lassen. Vom Anspruch auf A u f k l ä r u n g und Selbstauf-
k l ä r u n g ist nicht die Rede. Sprache wird f ü r die Anpas-
sungsingenieure Metapher f ü r Sprachlosigkeit.
In der Verklärung des Bestehenden geht der funktionalisti-
sche Idealtypus einer reibungslos funktionierenden, „har-
monischen" Gesellschaft aus seiner heuristischen Beschei-
dung hervor und produziert Ideologie. Die ihn propagieren,
bescheiden sich aber nicht mit der Rolle von Jasagern. Sie
wollen zur Macht, und sei es auf Kosten der Republik und
der Reste von Demokratie, die der Bonapartismus eines
de Gaulle in Frankreich noch übriggelassen hat. Sie emp-
fehlen den „großen Verwaltern" ihre Wissenschaft als un-
entbehrlich f ü r eine bewußte Lenkung der Gesellschaft.
Savoir pour régler — im Rahmen des Bestehenden —
machen sie zum konstitutiven Prinzip ihrer Forschungen.
Der Regulierung der Menschen sprechen sie den P r i m a t vor
allen anderen Planungen zu:
„Auf diesem Gebiet wie auf allen andern ist die bewußte
Lenkung (régulation) der Gesellschaften illusorisch und
u n d e n k b a r ohne den Beitrag der Sozialwissenschaften.
Diese müssen bei den Staatsmännern und großen Verwal-
tern unseres .zweiten XX. J a h r h u n d e r t s ' die Rolle spielen,
die Plato der Philosophie in seiner Republik zuwies. Wagen
wir zu sagen, daß die Beziehung zwischen Erziehung und
Massenkultur genügen müßte, um nachzuweisen, daß in der
Etappe der technischen Zivilisation, in die wir eingetreten
sind, neue Formen von aufgeklärtem Despotismus e r f o r -
derlich sind?" (Georges Friedmann, I/S. 15)
F. „wagt" es. So scheint das Bekenntnis zum neuen Faschis-
mus einstweilen das letzte Wort dieser „Soziologie als Tat-
sachenwissenschaft" und ihres „Willens zu totaler Objek-
tivität". In ähnlich zynischer Offenheit bot 1939 im Namen
des Positivismus George A. Lundgerg den Herrschenden
die Dienste der Sozialwissenschaft an: „The services of

44
real social scientists would be as indispensable to fascists
as to communists and democrats just as the services of
physicians and physicists . . . " W. F. H.

F e l d m a n n , Erich: Theorie der Massenmedien — Presse,


Film, Funk, Fernsehen. Ernst Reinhardt Verlag, München
und Basel 1962 (210 S., Ln. DM 13.—).
Feldmann, der an der Bonner Universität Philosophie und
Pädagogik lehrt, plädiert in den in diesem Buch zusam-
mengestellten Aufsätzen, die sich zum Teil inhaltlich ü b e r -
schneiden, f ü r die Einrichtung einer eigenen Film- und
Fernsehwissenschaft. Er bemüht sich um die „Klärung des
logischen Ortes des neuen Wissenschaftszweiges, der Apore-
tik und Problematik seines Sachgebietes und der Heuristik
seiner Erforschung". Film und Fernsehen seien „durch ihre
bewegliche Bildwelt zur Schaffung eines neuartigen E r f a h -
rungsfelc^es berufen, dessen Wesen in der Künstlichkeit der
Gestaltung liegt und dessen revolutionäre Wirkung auf
Daseinsordnung und Kultur, auf Weltanschauung und Le-
bensgestaltung der modernen Menschheit noch kaum abzu-
sehen" sei. Die Wissenschaft müsse eine „kulturwissen-
schaftliche Kommunikationsforschung mit empirischer und
experimenteller Methodik" ausbilden, wenn sie „an der
Sinngebung und Gestaltung der Z u k u n f t mitwirken" wolle,
die „nicht allein den Mächten der Wirtschaft, Sozialordnung
und Politik überlassen werden" könne. Dazu d ü r f e die Wis-
senschaft sich „nicht damit begnügen, in verstehender Ana-
lyse . . . bloß Wahrheiten zu entdecken und sie in theoreti-
scher Schau (?) zu überdenken". Sie soll die kulturindu-
striellen Veranstaltungen befragen, was mit ihnen beab-
sichtigt ist, um sodann die technische Realisierung dieser
Absichten fachmännisch zu begutachten. „Diese Geltungs-
kriterien liegen den angewandten Disziplinen sowohl in
den Naturwissenschaften als auch in den Kulturwissen-
schaften zugrunde." „Wie die Technik die Erkenntnis der
Naturgesetze anwendet, um Anlagen und Maschinen in
mechanischer Funktionstüchtigkeit h e r z u s t e l l e n , . . . so ver-
mag auch die geistige K u l t u r die Erkenntnisse der seeli-
schen Funktionsgesetze anzuwenden und damit eine Regu-
lierung des kulturellen Schaffens zu vollziehen."
Die „kulturwissenschaftliche Kommunikationsforschung"
soll sich demnach an den angewandten Naturwissenschaften
orientieren. Was den Menschen blüht, wenn sie erst Gegen-
stand einer solchen Naturwissenschaft sind, läßt sich erst
ahnen. So soll z. B. die Filmpsychologie, die mit den „übli-
chen Mitteln der Exploration und der Massenerhebung"
nicht auskommt, auch „die direkte Beobachtung der Aus-
drucksphänomene und deren fotografische oder filmische
A u f n a h m e mit I n f r a r o t v e r f a h r e n " benutzen. Hinzu kom-
men die „Mittel der technischen Darstellung der Gehirn-
funktionen (Elektro-Encephalographie) und der Herztätig-
keit (EKG)". Mit diesen Mitteln soll registriert werden der
„Verlauf der Gefühlssteuerung und der Orientierungspro-
zesse" etwa beim Betrachten eines Films. Die Filmsozio-
logie müsse mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln
„für die Wirtschaft Informationen über den Filmgeschmack
und das Filminteresse der Kinobesucher und über die Mög-
lichkeiten und Bedingungen von Filmwerbung" besorgen.
Sie diene einem „wesentlichen Anliegen jeder Kultur-

45
Politik", wenn sie ermittle, „wie die soziale Ideologie der
Bevölkerung durch die Wirkung der Medien gewandelt und
fixiert wird". Bisher ist es die Publizistik, die „in unserem
Vaterlande" (S. 41) ähnlichen Forschungen nachgeht. Die
„Kommunikationsforschung" soll jedoch aus der Publizistik
herausgelöst werden. „In dem weitverzweigten Betriebe
der Kulturwirtschaft" verbinde sie „die verschiedenen
Funktionen der Bildkunstgestaltung und Verwertung mit-
einander zu einem organischen Kulturgebilde von weltwei-
ter S t r a h l u n g s k r a f t und maximaler Lebenskultur".
F. appelliert ans Mäzenatentum der „Interessenten, aus
deren Initiative und Nutzen" die geplante Wissenschaft
allein hervorgehen könne: „Solche Interessenten sind Film-
produzenten und Fernsehgesellschaften, f e r n e r die daran
beteiligten Industrien, nicht zuletzt diejenigen Organisatio-
nen, welche die kulturelle Auswertung der Medien nach
ihren eigenen Zwecken f ö r d e r n und kontrollieren."
F.'s Bemühungen müssen verstanden werden als Station
auf dem Wege zur totalen Sozialtechnik. Mit der Demo-
kratie hält es diese Wissenschaft in ihrem innersten Wesen
jedenfalls nicht. Sie bietet ihre Dienste an zum social
engineering. Sie stellt die Mittel bereit, die es erlauben
sollen, die Massenmedien „in den Dienst der Gesellschaft
zu stellen, die d a m i t . . . i h r e Daseinsordnung stabilisieren
kann". W. F. H.

T r ö g e r , Walter: Der Film und die Antwort der Erzie-


hung. Eine Untersuchung zu soziologischen, psychologischen
und pädagogischen Fragen des Films bei werktätigen J u -
gendlichen und Oberschülern. — Ernst Reinhardt Verlag,
München/Basel 1963 (237 S., Kart. DM 14.—, Ln. DM 16.—).
Walter Tröger will Umfang und Wirkung des Filmkonsums
Jugendlicher untersuchen und von hier aus Wege aufzeigen,
auf denen ihr kritisches Vermögen geschärft und der Film
von einer „Gefahr" zu einem Gewinn f ü r „Persönlichkeit"
und Bildung des einzelnen umgewandelt werden kann. Dies
klingt anspruchsvoll und vielversprechend genug, um Me-
thode und Ergebnisse der Studie eingehender zu betrachten.
Im Z e n t r u m der Untersuchung Trögers stehen Berufsschü-
ler (Metallberufe) und zum Vergleich befragte Oberschüler
aus München; hinzu treten Berufsschüler aus Bad Tölz,
P f a f f e n h o f e n und Regensburg, die verschiedenen Berufs-
zweigen angehören. Die Erhebung w u r d e mit Fragebogen,
durch das Schreiben von Aufsätzen und durch sog. Film-
gespräche, an einen Film a n k n ü p f e n d e f r e i e Aussprachen
über dessen Eindruck und Thematik, durchgeführt. E r w a r -
tungsgemäß ergab sich eine Korrelation zwischen gesell-
schaftlicher Situation und Filmkonsum. T. bescheinigt
den berufstätigen Jugendlichen, sie seien dem Film-
angebot nahezu hilflos ausgeliefert, während bei Ober-
schülern, denen mehr Zeit zu geistiger und persön-
licher Entwicklung bleibe, vielfach eine distanziertere und
kritische Haltung anzutreffen sei. Das Filmverhalten der
jungen Arbeiter wird von Tröger deshalb als hilflos quali-
fiiziert, weil sie den Film als Abbild und Ausschnitt der
Realität ernst nehmen und zu einer Kritik des Films daher
weniger vom Künstlerischen als vom Inhaltlichen her ge-
langen. Die Tatsache, daß Tröger nun eigens betont, ent-
weder die Klassen oder die sie leitenden Lehrer persönlich

46
zu kennen, verdient insofern Beachtung, als sie notwendige
Konsequenz seiner im einleitenden Teil über methodische
G r u n d f r a g e n formulierten Ansicht zur empirischen For-
schung ist. Indem er sich die Beschränkung psychologischer
Studien auf den „persönlichen Umkreis" zum Vorbild
n i m m t und den „menschlichen Kontakt" mit den Versuchs-
personen zur Vorbedingung empirischer Untersuchungen
erklärt, versucht er zwei Fliegen mit einer Klappe zu
schlagen: die Beschränkung auf einen derartig engen Be-
reich soll Fehldeutungen verhindern und zudem der Sache
des Humanismus dienen, da Tröger die Würde des Men-
schen antastet, w e n n m a n diesen zur „bloßen Quantität",
zu „Zahl" und „Versuchstier" erniedrigt. Obwohl er dem-
nach weit davon e n t f e r n t ist. „Er glaubt, sein Heil nur noch
von Massenveranstaltungen zu erwarten" (gemeint sind
Untersuchungen, die die Dimensionen persönlicher Be-
kanntschaft übersteigen) und die genannte Auswahl keines-
wegs repräsentativ zu nennen ist, erhebt er f ü r seine Un-
tersuchungen doch den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit.
T. stellt fest, das Filmverständnis dringe n u r bis zur Hand-
lung, allenfalls zur Motivation vor, wobei jeweils ein Motiv
als bestimmend gedeutet werde, und es mache Halt vor der
Frage nach „dem Sinn in der Bedeutung des tieferen Ge-
halts, (der) m e h r eine Funktion der Vernunft, oftmals der
Intuition ist". Diese Sinnfrage taucht im Verhältnis von
Film und Wirklichkeit — und am Ende des Buches als Frage
nach dem Lebenssinn — wieder auf. Tröger legt dar, daß
die meisten Jugendlichen bei einer Auffassung des Filmge-
schehens als „möglicher Wirklichkeit" stehen bleiben und
nicht dazu gelangen, den Film als „gestaltete Wirklichkeit"
zu begreifen. Dabei kommt es „ n i c h t . . . auf die vorder-
gründige Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und
Filmgeschehen an, sondern auf den Sinn, dem Regie und
Schauspieler als eigentlichen Zweck dienen". Daß nun der
vielberufene „Sinn" sich dem rationalen Zugriff entzieht
und Intuition oder Gefühl beispringen müssen, hat seine
Wurzel in Trögers These, der Film sei in erster Linie
Kunstwerk. Dies bedeutet keinesfalls, daß Tröger die Flut
schlechter Filme übersähe, doch wertet er sie als schlechte
Machwerke schlechter Regisseure, also als individuelles
Versagen, dem er mit ethischen Postulaten wie Verantwort-
lichkeit und moralischer Verpflichtung gegenüber der Ge-
sellschaft auf den rechten Weg zu helfen strebt. Daß der
Film auch als ein f ü r den Massenkonsum hergestelltes
Industrieprodukt gesehen werden muß, bemerkt Tröger
n u r am Rande, ohne hieraus Folgerungen zu ziehen.

Vielmehr ermittelt Tröger den Film als wichtige I n f o r m a -


tionsquelle, die eine „Orientierung im Leben" erleichtert.
Die Jugendlichen sprechen von Erweiterung ihres Erlebnis-
kreises, ihres Wissens und geben als Vermittler ihrer „Le-
bensvorstellungen" — bspw. Was ist Erfolg? Was ist ein
Held? — den Film an erster Stelle an. Bei Tröger findet
sich kein Anzeichen eines Versuches, diese konsumierte Er-
f a h r u n g kritisch zu beleuchten. Vielmehr hebt er positiv die
Sozialisierungsfunktion des Films hervor und äußert sich
in ähnlicher Weise zustimmend über das „Bild der Welt,
wie es der Film wiedergibt". Es t r e f f e als „Ausdruck" zu:
„als Ausdruck unserer Angst und Sehnsucht. . . Der Film
ist eines der großen Mittel, mit denen unsere Zeit ihr Bild

47
von der Welt und die Art und Weise, wie sie sich darin
f ü h l t und versteht, ausdrückt, nicht in exakten Analysen,
sondern im Spiel der Bilder . . . " Filmerziehung, wie Tröger
sie f ü r Schulen und J u g e n d v e r b ä n d e etc. in Form von Film-
gesprächen vorschlägt, soll demnach helfen, die Sprache der
Zeit zu verstehen. Aber der Film ist noch m e h r : er ist
„Spiel der Bilder", das Bild w i e d e r u m enträtselt Tröger
mit C. G. J u n g und Klages „als Sprache des Unbewußten"
mit direkter Verbindung zu den „Tiefenschichten der Seele".
Der Film erweist sich dann als „Kompensation" im Sinne
Jungs, d. h. „Dissoziation der Persönlichkeit" und „Verloren-
heit des Bewußtseins" in unserer Welt verschwinden nach
Trögers H o f f n u n g durch das Erwachen von Kräften, die
sich in den „Instinkten", in dem „Schatz an ewigen Bil-
dern" im Unbewußten anzeigen. Wenn Tröger seine Hoff-
nung darauf setzt, die Macht des Bildes über das Unbe-
wußte werde die Welt wieder heil machen, so entgeht ihm
die Kehrseite von Macht: die Unterdrückung. In der „Ant-
wort der Erziehung" fehlt die Frage nach der manipulativen
Macht des Films. Eva Weller (Berlin)

Z y g u l s k i , Kazimierz: Film w srodowisku Robotniczym


(Film im Milieu des Arbeiters). Wydawnictwa Artystyczne
Filmove (Soziologische Probleme des Films). — Warschau
1962. 200 S.
Ergebnisse einer soziolog. Untersuchung über den Film, die
Verf. 1959/60 durchgeführt hat. Der Autor begründet die
Notwendigkeit seiner Erhebung mit der Vermutung, daß
die Entwicklung der Massenkultur in einem sozialistischen
Land unter anderen Bedingungen und in anderer Richtung
vor sich geht als im Kapitalismus. Entsprechende westliche
Arbeiten ließen sich demnach nicht ohne weiteres auf Polen
übertragen.
Die Untersuchung beschränkt sich konsequent auf be-
stimmte Landesteile und auf eine soziale Schicht: Arbeiter
der Großindustrie. Trotz der Entwicklung des Fernsehens
bleibt das Kino die wichtigste Zerstreuungsform der Arbei-
ter in Polen. Nur 1,4 ®/o der Arbeiter von 18 bis 24 J a h r e n
gehen nicht ins Kino. Beim Alter über 50 steigt dieser
Prozentsatz auf 42,7 °/o. Bei den Frauen nimmt das I n t e r -
esse f ü r s Kino mit dem Alter weniger ab als bei den Män-
nern. Der Besuch eines Kinos hängt eng zusammen mit der
Beteiligung an einer Gruppe: Familie, Nachbarn, Kollegen
etc. Die Gruppe wählt einen Film aus und diskutiert ihn
nach dem Besuch. In dem untersuchten Querschnitt er-
klärten n u r 11 •/. der Arbeiter, daß sie gewöhnlich allein ins
Kino gingen. Dieser Prozentsatz steigt bei den Filmfans
und beträgt 15 °/o derer, die m e h r als einmal wöchentlich
ins Kino gehen. Oft wird ins Kino gegangen ohne besonderes
Interesse an einem bestimmten Film und n u r um an einer
Gruppenaktivität teilzunehmen. In diesen Gruppen spielen
die Frauen eine aktivere Rolle als die Männer und wählen
meist den zu sehenden Film aus. 60 °/o der Arbeiter betrach-
ten n u r ausgewählte Filme, sei es, daß sie sich durch
Pressekritiken bestimmen lassen, sei es durch .Flüster-
propaganda' ihrer Umgebung. Die berühmten künstleri-
schen Kinoplakate Polens üben nur einen sehr geringen
Einfluß auf sie aus.
In der Entscheidung der Arbeiter spielt das Thema eines
Films eine größere Rolle als der Titel oder der Name der

48
Starschauspieler. Ca. 30 ®/o der Arbeiter lesen wöchentlich
eine Filmzeitschrift. 60 "/o wollen die ausländischen Filme
synchronisiert haben, 40 %> mit Untertiteln (!). Die Kriterien
der Beurteilung sind ganz überwiegend inhaltlich: nur 10 °/o
der Antworten bringen ästhetische Kriterien ins Spiel. Nach
der großen Mehrheit der Ansichten zeichnet der gute Film
sich aus durch „einen guten Inhalt". Irgendwelchen genres
des Films geben die Arbeiter keine besonderen P r ä f e r e n -
zen. Die Untersuchung von 2193 Antworten, die Werturteile
enthalten, ergab folgendes Resultat: die Wertschätzung ist
motiviert (in der Reihenfolge der Häufigkeit) durch 1. den
Inhalt, 2. das Spiel, 3. den Humor, 4. die dramatische Span-
nung, 5. den ästhetischen Wert, 6. den moralischen Wert.
Die Arbeiter schätzen besonders solche Filme, die sie
„wahr" nennen, „wie das Leben". Sie interessieren sich be-
sonders f ü r die wenigen polnischen Filme (ca. 25 werden
jährlich produziert; 90 °/o der neuen Filme sind importiert,
45 °/o aus den nichtsozialistischen Ländern).
Eine zweite Untersuchung des Verfassers, die den bäuer-
lichen Schichten gewidmet ist, befindet sich in Vorbereitung.
W. F. H. (nach „COMMUNICATIONS")

H a r t m a n n , Heinz: Ich-Psychologie und Anpassungs-


problem. Neuausgabe Klett Verlag, Stuttgart 1960 (92 S.,
Hin. DM 9.60).
Die Psychoanalyse teilt mit allen anderen geistigen Pro-
duktionen der Gesellschaft die Möglichkeit des Verfalls.
Die historische Veränderung ihrer Theorie kann nicht un-
besehen als wissenschaftlicher Fortschritt verstanden wer-
den, sondern bedarf der soziologischen Analyse und Kritik.
Der Wahrheitsgehalt der Psychoanalyse verdankt sich dem
geschärften gesellschaftlichen Blick, zu dem das Schicksal
der sozial nicht integrierten jüdischen Diaspora im Mittel-
europa des ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t s erzog. Für die
jüngere Psychoanalytikergeneration, die in den 20er und
30er J a h r e n wissenschaftlich zu produzieren begann, waren
die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Ziele andere.
Die Psychoanalyse sollte nicht mehr eine abseits der akade-
mischen Wissenschaft und deren Institutionen und frei vom
etablierten akademischen Stil betriebene Tätigkeit sein,
sondern sich durch „Begegnung" mit den akademischen
Wissenschaften in deren Reich einfügen. Dazu galt es, das
Gemeinsame und Verbindende zu betonen, das Unterschei-
dende hintanzusetzen. Heinz Hartmann fand das Gemein-
same 1. in der „konfliktfreien Ich-Sphäre", die er vom
Zentrum der Psychoanalyse, dem Konflikt der Person zwi-
schen Trieben und verinnerlichter Gesellschaft, scharf ab-
grenzt, 2. in der Betrachtung der Ich-Funktionen unter dem
Gesichtspunkt der „Anpassung", die er nicht, psychoanaly-
tisch als Wechselbeziehung Bedürfnisbefriedigung mit- und
aneinander suchender Individuen versteht, sondern als
weitgehend konstitutionell vorweg garantierte Einstellung
der Ich-Funktionen auf die biologisch-statisch aufgefaßte
Gesellschaft (Umwelt).
Unter der Losung „Fortentwicklung der Psychoanalyse"
vollzieht sich hier ein theoretischer Rückschritt: 1. „Trieb-"
und „Ich-Theorie" werden gegeneinander ausgespielt, als
ob sie zwei Phasen der Theorie bildeten, während doch
Freud und seine ersten Schüler die biologisch orientierte
Triebtheorie zu einer Theorie von der gespannten Trieb-

49
Ich-Struktur der sozial verwurzelten Person erweiterten,
die Triebtheorie also in einer umfassenden Strukturtheorie
aufhoben und bewahrten. 2. Die psychoanalytische Sozial-
psychologie, die in wesentlichen Ansätzen Freuds und eini-
ger seiner Schüler damals vorlag, wird undiskutiert ganz
beiseite gelassen und durch eine biologische Behandlung
des „Anpassungsproblems" ersetzt, die mit der abstrakten
und statischen Soziologie Mannheims in Verbindung steht.
Die soziologische Analyse und Kritik ist uns in diesem
Falle von der Geschichte abgenommen worden: H. ent-
wickelte seine Anpassungstheorie von der Harmonie zwi-
schen Psychoanalyse und akademischer Wissenschaft, zwi-
schen Ich und Gesellschaft 1937—39. Die politischen Ereignisse
und Verläufe j e n e r Zeit, die mit der biologischen Vorstel-
lung von der Gesellschaft als durchschnittlicher Umwelt
nicht zu begreifen sind, haben in seiner Konzeption folge-
richtig keine Spuren hinterlassen. H. handelt nicht von der
konkreten Gesellschaft seiner Zeit und den aktuellen „An-
passungs"-Problemen. Ausdrücklich heißt es in seinem
Buch: Jede Form der Anpassung „ist n u r f ü r durchschnitt-
lich zu e r w a r t e n d e Situationen tauglich" S. 64). F ü r das
Verständnis gesellschaftlicher Phänomene und gesellschafts-
bezogener Vorgänge in den einzelnen Menschen ist das
Buch nur begrenzt von Wert. Den Rückschritt gegenüber
Freud zeigt jeder Vergleich mit einem der sozialpscholo-
gisch relevanten Essays von Freud. H. gilt vielen heute als
einer der bedeutendsten Theoretiker der Psychoanalyse.
Peter Fürstenau (Gießen)

F r o m m , Erich: Der moderne Mensch und seine Zukunft


(The Sane Society). Eine sozialpsychologische Untersuchung.
Europäische Verlagsanstalt, F r a n k f u r t 1960 (332 S., DM 24.—).
Der Anspruch dieses Buches ist gewaltig. Fromm will mit
dieser Arbeit, „Analyse der modernen Gesellschaft", jenes
„Wagnis der Pathologie der kulturellen Gemeinschaften"
eingehen, von dem Freud in „Unbehagen in der Kultur"
einst so vorsichtig und skeptisch gesprochen hatte. Das
Buch basiert auf der Idee der Möglichkeit einer „gesunden",
den Bedürfnissen „des" Menschen entsprechenden Gesell-
schaft und der Annahme, die kapitalistische Gesellschaft
des 20. Jhdts. sei hochgradig pathologisch und entfremdet,
negiere also die Bedürfnisse „des" Menschen. Über die
Analyse hinaus versucht Fromm Möglichkeiten der „Ge-
sundung und Veränderung" aufzuzeigen.
Im ersten Teil entwickelt Fromm seine Konzeption der
„humanistischen Psychoanalyse", in der er gegen Freud die
These vertritt, daß nicht die „instinktiven Bedürfnisse" ent-
scheidender Motor des menschlichen Lebens sind, sondern
daß die Wurzeln aller menschlichen Leidenschaften, Sehn-
süchte, Wünsche und Handlungen in der spezifisch „mensch-
lichen Situation und Existenz" zu suchen sind. Der Mensch,
„eine Art Mißgeburt des Universums", „ein Sonderwurf der
Natur", „göttlich und Tier zugleich", der mit seiner Geburt —
ontogenetisch und phylogenetisch — „in eine völlig offene
Situation geworfen wird", muß als Preis f ü r die Wahrneh-
mung des eigenen Seins, f ü r die Gabe der Vernunft bezah-
len mit „einer beständigen und unvermeidlichen Gleich-
gewichtsstörung". Nach dem Verlust von Identität und Har-
monie mit der Natur hat er sich selbst als Mensch immer

50
erst hervorzubringen. Seine Geburt ist ihm selber aufgege-
ben, wie auch, „auf das Problem seiner Existenz eine Ant-
wort zu finden". Aus den Bedingungen dieser spezifischen
Existenz resultieren nach Fromm die das menschliche Le-
ben bestimmenden Bedürfnisse und Gefühle: das „Gefühl
der Verbundenheit", um „Isolation, Vereinsamung, das Be-
wußtsein des Abgetrenntseins von der Natur" zu überwin-
den; das „Gefühl der Transzendenz", um in „schöpferischer
Produktivität" oder durch Zerstörung das „Gefühl des
bloßen Geschaffenseins" zu verhindern; das „Gefühl der
menschlichen Verwurzelung", um den „Verlust der n a t ü r -
lichen Wurzeln" (Verlassen des Mutterleibes) durch „Sicher-
heit und Geborgenheit" („Brüderlichkeit oder seelischer
Inzest") zu kompensieren; das „Gefühl der Identität", um
das Erlebnis des Subjekts, des Ich zu erlangen („Indivi-
dualität versus Herdengleichheit"); und schließlich „ein
System der Orientierung und Hingabe" in der Welt, um
sich zurechtfinden zu können, („Vernunft, Kritik versus
Irrationalität und Hingabe an die Macht"). Die Befriedi-
gung erst dieser Grundbedürfnisse ermöglicht nach Fromm
„geistige Gesundheit". Sie stellt als vollkommene „eine be-
friedigende und universell gültige Antwort auf das Pro-
blem der menschlichen Existenz" dar. In dieser Antwort
sieht Fromm das Kriterium f ü r geistige Gesundheit. Inso-
f e r n die heutige Gesellschaft der Mehrzahl ihrer Mit-
glieder die volle Befriedigung dieser Grundbedürfnisse
nicht gewährt, ist sie nach Fromm hochgradig pathologisch
(„Pathologie der Normalität").
Im zweiten Teil des Buches legt Fromm eine umfangreiche
Analyse des heutigen Kapitalismus vor, in deren Zentrum
das Problem der Entfremdung steht. Er skizziert zunächst
die Entwicklung des Kapitalismus und die Wandlung des
durch ihn produzierten „Sozialcharakters", als „den Kern
der Charaktereigenschaften, die der Mehrzahl der Mitglie-
der einer Gesellschaft gemeinsam sind", vom 17. Jhdt. bis
zur Gegenwart. Die augenfälligsten Veränderungen der
S t r u k t u r der kapitalistischen Gesellschaft im Übergang zum
20. Jhdt. sieht er im beschleunigten technischen Wandel, in
der Entfeudalisierung des Kapitalismus, in der wachsenden
Konzentration des Kapitals, in der Trennung zwischen Be-
triebsführung und Eigentümerschaft, im politischen und
wirtschaftlichen Aufstieg der Arbeiterschaft, im Rückgang
von Ausbeutung und irrationaler Autorität und in der
wachsenden, auf dem „freien Vertrag basierenden Team-
arbeit". — Die Analyse der gegenwärtigen Situation in
Staat und Gesellschaft fußt auf dem Marxschen Begriff der
Entfremdung. Interessant ist sie durch das zusammenge-
tragene empirische Material. Theoretisch bleibt sie wider-
sprüchlich. Wo Fromm seine „humanistische Psychoanalyse"
beiseite läßt, gewinnen seine Analysen kritische Schärfe.
Sie enthüllen zugleich den ideologischen und ontologischen
Charakter seines Konzepts der „humanistischen Psycho-
analyse". Sie weisen auf, daß er menschliche Strebungen
und Wünsche als Grundbedürfnisse ausgegeben hat, die
bloß Produkt der „Konditionierung des Menschen" im Spät-
kapitalismus sind; sie zeigen, daß er ontologisiert hat, was
selber schon Ausdruck von Entfremdung ist.
Im dritten Teil zeigt Fromm Auswege und Möglichkeiten
der Gesundung und Veränderung" auf. Er kritisiert den
marxistischen Sozialismus und entwickelt seine Konzeption

51
des „demokratischen und humanistischen Sozialismus". Der
Marxschen Theorie w i r f t er ökonomistische und zentralisti-
sche Tendenzen vor und bemängelt, daß sie das Heil in der
bloßen Veränderung der Eigentumsstruktur suche. Demge-
genüber versucht er geltend zu machen, eine umfassende
sozialistische Umgestaltung könne n u r erreicht werden
durch ökonomische, politische, geistige und kulturelle Ver-
änderungen auf einmal. Er k n ü p f t an die Bewegung der
„Werkgemeinschaften", an den Frühsozialismus, an syndika-
listische und anarchistische Theorien an. Es bleibt indes
beim Entwurf. Worin der Hebel der Veränderung zu sehen
und wie er anzusetzen ist, d a r ü b e r äußert sich Fromm
nicht. Streckenweise erstickt das Buch an dem, was der
Autor hineinzupacken versucht. Die Höhenluft der Ober-
flächlichkeit f ü h r t bisweilen zu Atemnot. Weil F r o m m alles
zu leisten versucht: Kritik der Freudschen Psychoanalyse,
Darstellung und Kritik der Entwicklung des Kapitalismus
und der durch ihn bedingten charakterologischen Wand-
lungen, umfassende Analyse der gegenwärtigen Gesell-
schaft, Darstellung und Kritik des Sozialismus inklusive
utopischer Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus, Mar-
xismus, „Sozialdemokratismus", Leninismus, Stalinismus,
Gewerkschaftsbewegung und schließlich Entwicklung der
Perspektiven zukünftiger Entwicklung und vieles andere
mehr, und das alles auf gut 300 Seiten — leistet er wenig.
Walter Weller (Berlin)

M i t s c h e r l i c h , Alexander, Auf dem Weg zur vaterlo-


sen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Piper-Verlag,
München 1963 (499 S., broschiert DM 10,80).
Der Mensch der noch ungebrochenen patriarchalischen Ge-
sellschaft besaß einen Orientierungspunkt: sein stark aus-
geprägtes Gewissen, den internalisierten Vater. M. will
zeigen, heute sei der Vater unsichtbar, an seine Stalle seien
die „System-Herrschaften" getreten; weit und breit „kein
identifizierbarer Einzelner", der „die Macht in Händen
hält". „Das vaterlose (und zunehmend auch mutterlose)
Kind wächst zum herrenlosen Erwachsenen auf, es übt
anonyme Funktionen aus und wird von anonymen F u n k -
tionen gesteuert. Was es sinnfällig erlebt, sind seinesglei-
chen in unabsehbarer Vielzahl" (S. 421). Das betroffene
Individuum, dessen Aura der Einmaligkeit und Unverwech-
selbarkeit in dieser Situation verkümmert, sucht vergeb-
lich Anerkennung in der Familie und am Arbeitsplatz. Der
„Mangel an stabiler gewachsenen ersten Objektbeziehun-
gen" und „das kalte Klima in den Familiengruppen" lenken
schließlich die Erwartungen von den Massenarbeitsplätzen
auf die Massenveranstaltungen. Um der „arbeitsteiligen
Herrschaft" entgehen zu können, seien die meisten Men-
schen zu sehr schon Opfer der Manipulation, passiv ihrer
Umwelt verfallen. Dies die Vaterlosigkeit, die typisch ist
f ü r die spätbürgerliche Gesellschaft und deren negative
Aspekte M. überwunden sehen will. Zu beginnen sei nicht
„im Massenhaften", also nicht durch Revolution, „sondern
ganz bei uns selbst, bei der Art, unsere Kinder zu lieben
und auch zu ertragen, daß sie uns auf glücklichere Weise
lieben, auf weniger verbitterte und achtlose Weise e r t r a -
gen, als wir ihnen dies bisher möglich machten" (S. 213).
Die Bildungs- und Erziehungspraxis müsse revidiert und

52
die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse praktisch
beim Kleinkind beginnen. Mitscherlich betont die Bedeu-
tung der p r i m ä r e n Familiengruppe f ü r die psychische Ent-
wicklung und so f ü r die Verfassung der Gesamtgesell-
schaft: Hört der Befehl auf, Modellgestus der Erziehung zu
sein, so sei ein Kreis gebrochen, und der Gesellschaft bleibt
es erspart, die vom Kind e r f a h r e n e herrschaftliche Vater-
rolle „auf allen Schauplätzen des Lebens imitiert" zu fin-
den. Die Hierarchie in allen sozialen Gruppen habe dann
Platz zu machen der „Union gleichberechtigter Geschwi-
ster", in der Autorität „in horizontalem Messen der K r ä f t e "
ständig neu sich legitimieren müsse. — Gegen diese Heils-
perspektive ist einzuwenden, daß sie den Menschen emp-
fiehlt, am eigenen Haarschopf sich aus dem Sumpf zu
ziehen. Sie setzt zu viel unvermittelt voraus, so z. B. eine
„echte Gleichwertigkeit von Mann und Frau"; sie verlangt
von den e n t f r e m d e t e n Menschen, nicht n u r ihre Situation
zu begreifen, sondern sich gleichsam privat selbstzube-
freien. Weisen Mitscherlichs Ideen zur Sozialpsychologie
demnach kaum einen Weg zu gesellschaftsverändernder
Praxis, so mag doch seine Analyse der modernen Gesell-
schaft als „Selbstvergewisserung" f ü r viele ein „Mittel der
Emanzipation" sein. Sieht man ab von den allzu ins Private
zielenden Vorschlägen zur Aufhebung der Entfremdung, so
bleibt doch ein reichhaltiges Kompendium sozialpsycho-
logischer Kurzanalysen, gesammelt als „Erkenntnisgrund-
lagen f ü r eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhält-
nisse" (S. 424). J ü r g e n Werth (Berlin)

H u x l e y , Aldous, Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen


mit der „wackeren neuen Welt". Piper-Verlag, München
1960 (154 S., Ln. DM 10,80).
Aldous Huxley beschreibt in diesem Buch bereits Wirklich-
keit gewordene Herrschaftsmethoden seiner Zukunftsfabel
„Schöne neue Welt" aus dem J a h r e 1932: Ablenkung der
Menschen von Problemen der Gegenwart durch (Ver-)Füh-
rung in „belanglose Jenseitswelten des Sports und der Mu-
sicals, der Mythologie und der metaphysischen Phantasie"
(p. 52); das Wiederholen von Schlagwörtern, in denen sich
das Denken, soweit geduldet, bewegen soll; das Verschwei-
gen wichtiger Tatsachen in öffentlichen Meldungen; Waren
(auch politische Parteien) werden verkauft, indem ihre Wer-
bung unbewußte Wünsche oder Befürchtungen, durch „Tie-
feninterviews" den Managern enthüllt, anspricht und zu
befriedigen vorgibt; kurz: Ausschaltung des ohnehin schwa-
chen Ichs durch Appell an das Es. Als konservativer Kul-
turkritiker zeigt sich Huxley in seinem Ansatz zu einer
Theorie des Faschismus: Übervölkerung (hervorgerufen
durch die Fortschritte der Medizin und der Hygiene) be-
wirke bei gleichzeitigem Nahrungsmittelmangel soziale
U n r u h e n ; als Reaktion darauf vergrößern die Regierungen
ihre Macht und manipulieren die arbeitslosen Massen. Aus-
gehend von diesem Modell, das einer Analyse der P r o d u k -
tionsverhältnisse ermangelt, setzt H. Kommunismus und
Faschismus gleich. Wie vage überhaupt sein Begriff von
Geschichte ist, zeigt sich an Sätzen wie diesem: „Auch
wenn der Kommunismus nie erfunden worden wäre, w ü r d e
dies wahrscheinlich geschehen" (p. 21).
Huxley zeigt die Vereinzelung („Atomisierung") der Men-

53
sehen und die „Entpersönlichung" ihrer Beziehungen. Den
„großen Städten" schreibt er, wie hundert J a h r e vor ihm
Ludwig Feuerbach, die Schuld an der Misere zu: „Das Le-
ben in großen Städten aber ist geistiger Gesundheit nicht
z u t r ä g l i c h . . . Einem solchen Leben unterworfen neigt der
Einzelne dazu, sich einsam und unbedeutend zu fühlen.
Sein Dasein hört auf, irgendwelchen Sinn und Zweck zu
haben" (S. 35). Besserung verspricht sich H. von der E r -
richtung kleiner Dorfgemeinschaften, „in welchen die Indi-
viduen als vollständige Personen zusammenkommen und
zusammenarbeiten können, nicht als bloße Verkörperungen
spezialisierter Funktionen". Dazu müsse man „die riesigen
maschinenartigen Kollektive der modernen Gesellschaft in
sich selbst regierende, freiwillig zusammenarbeitende G r u p -
pen zerteilen, welche fähig sind, außerhalb der bürokrati-
schen Systeme des Großgeschäfts und der Großregierung zu
funktionieren" (S. 149). H. läßt offen, wer diese „Zertei-
lung" vornehmen und wie das diese Dorfwelt verbindende
Wirtschaftsgefüge beschaffen sein soll. Er beschränkt sich
auf den moralischen Appell, doch zu „wahrer Individuali-
tät" zurückzukehren, die aus der im Westen herrschenden
Manipulation und aus dem im Osten bestehenden „erstik-
kenden kollektiven Klima" h e r a u s f ü h r e n soll. — H.s Wille
zur A u f k l ä r u n g der V e r f ü h r t e n wird spürbar behindert
durch seinen Konservatismus. Seiner Meinung nach sollte
den Menschen gerade „genug über Propaganda-Analyse ge-
lehrt werden, um vor einem unkritischen Glauben an glat-
ten Unsinn bewahrt zu bleiben, aber nicht soviel, daß sie
die nicht immer rationalen Ergüsse der wohlmeinenden
Hüter der Tradition zurückwiesen" (S. 139). H.s Forderung
einer alle Manipulation verbietenden Gesetzgebung scheint
wenig Aussicht auf Verwirklichung zu haben, angesichts
einer Regierung, von der H. schreibt: „Theoretisch sind sie
die Diener des Volkes; tatsächlich aber sind es diese Diener,
die Befehle geben, und es ist das Volk tief unten an der
Basis der großen Pyramide, das gehorchen muß" (S. 74).
Auch hierin zeigt sich — verschränkt mit geschichtsfrem-
dem Pessimismus — die ganze Naivität des konservativen
Kritikers, der Politik f ü r die letzte Instanz hält und über-
sieht, daß die politisch Regierenden meist selbst n u r bes-
sere Befehlsempfänger sind. Für die ökonomischen Verhält-
nisse ist H.s Kulturkritik blind. Gerd Ziob (Berlin)

K o f 1 e r , Leo, Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Hu-


manismus und Nihilismus. A. J. Schotola-Verlag, Ulm/
Donau 1960 (392 S., Ln. DM 27,—).
S a m p s o n , Anthony, Wer regiert England? Anatomie
einer Führungsschicht. Mit einem Vorwort von Theodor
Eschenburg. R. Piper & Co. Verlag, München 1963 (580 S.,
Ln. DM 26,—).
Um die J a h r h u n d e r t w e n d e vollzog sich was zur Blütezeit
des „Manchestertums" unwahrscheinlich geklungen hätte:
die „Versöhnung" zwischen Kapitalismus und Bürokratis-
mus. In Deutschland, wo die Vormacht der absolutistischen
Bürokratie auch 1848 nicht gebrochen worden war, erwies
sich diese Ursache chronischer wirtschaftlicher Rückständig-
keit mit einem Male als Potential f ü r einen steilen Auf-
stieg, der alsbald an die Spitze der europäischen Industrie-

54
mächte f ü h r t e . Demgegenüber hatte England mit der Ent-
faltung des Systems großbetrieblicher Produktion und ano-
n y m e r Kapitalkonzentration erhebliche Umstellungsschwie-
rigkeiten; diese w a r e n nicht zuletzt in der Schwäche der
bürokratischen Institutionen und Traditionen begründet.
Der organisierte Kapitalismus und die Maschinerie des
bürgerlichen Staates sind seit der J a h r h u n d e r t w e n d e in
einem Maße gewachsen und miteinander verfilzt, daß de-
mokratische Kontrolle immer mehr ins Hintertreffen ge-
raten ist.
Angesichts der weltweiten Auseinandersetzung zwischen
dem Block des bürokratischen Kapitalismus und dem Lager
des bürokratischen Sozialismus, in E r w a r t u n g der w a h r -
scheinlich umfassendsten industrietechnischen Umwälzung
der neueren Geschichte wird die Frage nach dem Wesen
und der Z u k u n f t von Herrschaft zur Schicksalsfrage der
Menschheit. Zur Beantwortung dieser Frage liefern die bei-
den hier besprochenen Bücher interessantes Material.
In seiner Untersuchung ü b e r den Zusammenhang zwischen
dem modernen bürgerlichen Staat und der herrschenden
Klasse stellt Leo K o f 1 e r fest, daß die sozialkonser-
vativen meinungs- und willensbildenden Kreise der Kon-
frontation mit der konkreten Gesamtheit unserer Gesell-
schaft ausweichen, als w ä r e es der leibhaftige Gottseibei-
uns. Eben diese Totalität bemüht sich der dezidierte
Marxist K. aktuell zu rekonstruieren.
Seine Auffassung vom Staat k n ü p f t an die klassische von
Marx an, der den Staat der Klassengesellschaft als Unter-
drückungsinstrument im p r i m ä r e n Interesse einer oder ei-
niger herrschender Klassen interpretierte. Das besaß im
19. J a h r h u n d e r t noch unmittelbare Plausibilität. Nicht ohne
Zutun kautskyanischer und stalinistischer Versimpelung
wirkt diese Formel heute zu abstrakt. Inmitten einer bis
zur Undurchdringlichkeit bürokratisierten Ordnung reali-
siert sich Herrschaft n u n m e h r viel vermittelter und hinter-
gründiger als f r ü h e r . Dem inneren Zusammenhang von
Staat und Gesellschaft auf der Spur, kommt K. zu Ein-
sichten, die nicht n u r f ü r gegenwärtige, sondern auch f ü r
vergangene Verhältnisse aufschlußreich sind. Der Verfas-
ser definiert den Staat nach zwei komplementären Ge-
sichtspunkten.
Zum einen: Als Lebenssphäre durchdringt der Staat die
ganze Gesellschaft. Als der „Bau", als das alle Lebensbe-
reiche zusammenfassende und vermittelnde Organisations-
gefüge der Gesellschaft ist der Staat ein „besonderes Sein"
dieser Gesellschaft. Er ist mit dieser identisch und zugleich
im Widerspruch. Als Zusammenfassung der Gesellschaft ist
er zugleich auch das Résumé ihres Bewußtseins.
Zum anderen: Als Macht- und Einflußzentrum prägt er
ideologisch und praktisch-politisch im Interesse der ökono-
misch-politisch herrschenden Klasse alle ihm unterstellten
sozialen Kommunikationen. Staatliche Einrichtungen „in-
strumentaler" (Polizei, Militär, technische Instanzen) oder
„politischer" (Verbände, Parteien, Organe) Art besitzen in
dieser Hinsicht n u r sekundäre Bedeutung. Für den ent-
scheidenden herrschaftlichen Inbegriff des Staates hält
K. jene Gruppen, die der von divergierenden und kon-
k u r r i e r e n d e n Interessen zerklüfteten Gesellschaft in Theo-
rie und Praxis das Ganze vermitteln; dabei dreht es sich
um die Trinität von herrschender, vor allem ideologisch

55
tonangebender, großbürgerlicher „Elite", ihr zugeordneter
ideologisch produktiver konservativer Intelligenz und der
„das menschliche Objekt" manipulierenden Bürokratie.
Obwohl K. das Wort „Elite" nicht im wertenden Sinne
verwendet, ist zu fragen, ob dieser Begriff nach seinem
Wortsinn sowie nach seiner Anwendungsgeschichte f ü r r a -
tionale Gesellschaftswissenschaft praktikabel ist. Man kann
ihn zur Bezeichnung des politisch aktiven und gesellschaft-
lich bewußten Teiles der herrschenden Klasse belassen,
wenn das in ironisch den antihumanen Anspruch apostro-
phierender Weise geschieht, aber zur Benennung des enga-
gierten und militanten Teiles der unterdrückten Klasse
scheint er uns ungeeignet zu sein, nicht zuletzt weil eben
der formale Vergleich inhaltlich nicht stimmt. An Georg
Lukäcs anknüpfend schildert K. den irrationalen, reali-
tätsscheuen, sich in „Verinnerlichung", „Verjenseitigung"
und Formalisierung der Wirklichkeit erschöpfenden Gei-
steszustand der „dekadent" gewordenen bürgerlichen
„Elite". I h r zur Seite stehe eine Intelligenz, die unter dem
Druck des herrschaftlichen Dienstes ihre geistige Schöpfer-
k r a f t nur in die Kleinmünze privatisierender E r f a h r u n g e n
oder hohler Allgemeinheit umzusetzen vermag. „Elite" wie
Intelligenz erstarren im Gegensatz von rationalisiertem
Geschäft und egozentrischer Kontemplation. Human kom-
munizierende Praxis und Theorie ist ihnen verwehrt. Ihnen
gegenüber stellt er die „Elite" (wir würden einen anderen
Begriff vorziehen) und die Intelligenz der Progressiven,
mit denen er sich im abschließenden Teil des Buches be-
faßt. K. registriert den Zusammenbruch der alten Ar-
beiterbewegung, den er besonders durch den Übertritt
vieler Aktivisten in gesellschaftlich neutralisierte oder inte-
grierte Positionen bürokratischer Art verursacht sieht. J e -
doch glaubt er die Konturen einer neuen humanistischen
Bewegung w a h r n e h m e n zu können, die ohne die Begrenzt-
heit und Borniertheit der traditionellen Linken am Ziel
der gegensatzbefreiten Sozietät orientiert ist.
Zur Untersuchung der Bürokratie greift K. die These
des jungen Marx auf, wonach die Bürokratie die wider-
spruchsvolle Gesamtheit der gesellschaftlichen Interessen
als herausgehobene, „besondere" Formation verwaltet und
damit zugleich repräsentiert. In diesem Zusammenhang
kommt es zur Klarstellung, daß der historische Gegensatz
zwischen bürokratischem „Obrigkeitsstaat" und kapitali-
stischer „Marktgesellschaft" n u r scheinbar besteht und ideo-
logischen Charakter hat. Ohne das ständige Eingreifen und
Regulieren der gesetzformalistisch vorgehenden Bürokratie
würde sich diese Gesellschaft k r a f t ihres „Wolfsgesetzes"
alsbald selbst in die L u f t sprengen. Die durch den Markt
zustande kommende Interessen-Harmonie war deshalb im-
mer ein f r o m m e r Wunsch. Die große Zunahme der öffent-
lichen Bürokratie in letzter Zeit bestätigt nur, daß ohne sie
der immer krisenanfälliger gewordene Kapitalismus nicht
mehr funktionieren würde.
Kritisch w ä r e an K.s Buch noch zu vermerken, daß —
wie bei Lukécs — die progressiven Tendenzen innerhalb
der avantgardistischen Kunst übersehen werden. Auch wäre
zu erwägen, ob die ideologischen Funktionen von h e r r -
schender „Elite" und Intelligenz nicht schärfer als Bestand-
teil des allgemeinen gesellschaftlichen Arbeitsprozesses zu

56
charakterisieren wären, damit das unglückliche Bild des
„Überbaues" ganz vermieden wird.
Anthony S a m p s o n s Bericht über die „Führungsschicht"
Englands mutet wie eine detaillierte Illustration der
Analysen des Buches von Leo Kofier an. Das traditio-
nelle und — in England — perfekt unauffällige, eingeübt
informale Zusammenspiel von Besitz- und Einkommens-
elite, konservativer Intelligenz und Staatsbürokratie wird
hier konkret evident. Wir halten es, im Gegensatz zu einer
anderen Besprechung dieses Buches, f ü r keinen Nachteil,
daß der Verfasser bei der Behandlung aller politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Sphären stets die Namen
und persönlichen Hintergründe der „very important per-
sons" nennt. Gewiß ist dadurch schon jetzt die Aktualität
des Buches in Frage gestellt, aber seine Wirkung als intime
M o m e n t a u f n a h m e eines Herrschaftssystems in Aktion geht
deswegen nicht verloren. Auch die von Kofier diagnostizier-
ten ideologischen und institutionellen Dekadenzsymptome
werden durch S. bestätigt. Sie e r f a h r e n in England durch
den Schwund des „Empires" noch eine besondere Prägung.
I m Vergleich mit deutschen Verhältnissen imponiert, daß
England nach wie vor ein Land der gelebten Toleranz und
Liberalität ist. Michael Mauke (Berlin)

G e i g e r , Theodor, „Demokratie ohne Dogma", Szczesny-


Verlag, München 1963, (376 S., Ln. DM 19,80).
L i p s e t , Seymour Martin, „Soziologie der Demokratie",
Luchterhand-Verlag, Neuwied 1962 (388 S., Glanzfol. DM
29,—).
Geigers Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft k n ü p f t an
bei der verlorengegangenen A u f k l ä r u n g (11 ff.), der nicht
zu Ende geführten „Rationalisierung des Daseins" (246). Es
gilt, den „Aufruhr der Gefühle", „die U n f ä h i g k e i t . .., sich
in dem weiträumigen Gefüge der Hochzivilisation zurecht-
zufinden" (246), einer „kritischen Aufklärung" weichen zu
lassen. Damit sollen f ü r Geiger nicht „Gefühle . . . ausge-
rottet" (284) oder „ W ü n s c h e . . . verhindert" werden (285),
jedoch die „Ideologien" dem Verdikt verfallen, die in I n -
teressen- oder Gefühlsengagement behaupten, es gäbe „mo-
ralische, politische, soziale Wahrheit" (263), oder „Wert-
urteile" seien nicht „sinnlos" (182).
„Wenn . . . Millionen sich in der heutigen Gesellschaft un-
befriedigt f ü h l e n . . . " (35), dann b e r u h t das f ü r Geiger
„nicht auf einer Fehlentwicklung der heutigen Gesellschaft
und ihrer Zivilisation" (70). Der „objektive . . . Prozeß . . .
der Kultur" ist eigentlich nicht beklagenswert verlaufen,
der „Zustand unserer K u l t u r und G e s e l l s c h a f t . . . ermög-
licht . . . den Menschentypus der freien Persönlichkeit nicht
nur, sondern heischt (ihn) gebieterisch" (129). Aber der
„Mensch ist in seiner persönlichen Entwicklung zurückge-
blieben!" (117). Gegenüber der Gesellschaft, die von isolier-
ten Individuen unabhängig ein „unpersönliches System von
Zielen, Mitteln und Funktionen", einen „sachlichen Ar-
beitsapparat" darstellt (56), müßte „planmäßige Intel-
lektualisierung des Menschen und seine Schulung in Ge-
fühlsaskese betrieben werden" (118).
Die von Geiger geforderte „Demokratisierung der Ver-
n u n f t " (249) bedeutet die Aufgabe menschlicher Interessen
zugunsten von Anpassung an die Eigenmächtigkeit des Ge-

57
sellschaftsapparates. Individuum und Gesellschaft fallen
in der unhistorischen Darstellung hoffnungslos auseinan-
der, der zuständliche Mechanismus gesellschaftlicher Ver-
hältnisse wird schlechthin als u n ü b e r t r e f f b a r idealisiert.
Auf der Ebene eines solchen vorgeblich erreichten Ideal-
zustandes gegenwärtiger Gesellschaft handelt Lipset's Ver-
such, „Demokratie" in ihren „Strukturen" und „Funktio-
nen zu erfassen. Diese — als praktisch unkritisierbar ver-
standene Gesellschaftsform — wird rein formal auf ihre
Voraussetzungen untersucht. Sie gilt als legitim, wenn es
ihr gelingt, „im Volke die Überzeugung zu schaffen und
zu erhalten, daß die bestehenden Institutionen f ü r die be-
t r e f f e n d e Gesellschaft die bestmöglichen sind" (70). Ist auch
„die Verteilung des Reichtums die bedeutendste Quelle des
Interessenkonflikts in komplexen Gesellschaften" (28), so
kommt es doch darauf an, „die Intensität des P a r t e i e n -
kampfes" — trotz der „Notwendigkeit" des „Auseinander-
klaff ens der Meinungen" (14) — zu mildern (77). Mäßi-
gung der Parteien ist das „Kriterium" der „stabilen Demo-
k r a t i e (89), wenn auch ein „Regierungswechsel durch Aus-
wechseln der Regierungsparteien" möglich sein soll (14).
D e r a r t erscheint Lipset zur „demokratischen Version des
Klassenkampfes" erhoben und „friedlichen" Spielregeln un-
terworfen, was einst als Klassenantagonismus sich darbot
(242). Ihm wie Geiger gegenüber gilt der Vorwurf, daß er
als „Gleichheit" apologisiert, was realiter gleiches Unter-
legensein bedeutet. Wolfram Burisch (Tübingen)

R o s e n b e r g , Arthur, Demokratie und Sozialismus, Eu-


ropäische Verlagsanstalt Frankfurt/Main 1962 (312 S., Pap.
DM 12,80).
L ö w e n t h a l , Richard (Hrsg.), Die Demokratie im Wan-
del der Gesellschaft, 8 Vorträge, gehalten am Otto-Suhr-
Institut der Freien Universität Berlin. Colloquium Verlag,
Berlin 1963 (192 S., Ln. DM 20,—).
Nach A r t h u r R o s e n b e r g s ausgezeichneten Büchern über
die Weimarer Republik liegt mit „Demokratie und Sozialis-
mus" (zum ersten Mal 1938 erschienen) ein historischer Bei-
trag zur Diskussion über die Demokratie vor, der die im Ge-
dächtnis der Wissenschaft verschüttete Verschränkung der
Begriffe Demokratie und Sozialismus wieder ins Bewußt-
sein der Zeitgeschichte rufen will. Da die Demokratie im-
m e r eine politische Bewegung ist, die von bestimmten ge-
sellschaftlichen K r ä f t e n und Klassen getragen wird, ent-
scheidet über die verfassungsrechtliche Kodifizierung be-
stimmter Freiheitsrechte hinaus das Klassenverhältnis über
den Anspruch eines Staates auf den Titel Demokratie.
R. • beläßt es nicht bei einer Strukturanalyse. Die Be-
deutung, die er dem Klassenkampf innerhalb jeder politi-
schen Ordnung beimißt, ermöglicht es ihm, die Formen der
verschiedenen demokratischen Bewegungen der letzten 150
J a h r e gegeneinander abzugrenzen. Besondere Beachtung
verdient ihm neben dem Sozialismus die „soziale Demo-
kratie", die in der Geschichte der bürgerlichen demo-
kratischen Bewegung den Gefahren des Bonapartismus und
des Faschismus am ehesten widerstehen konnte. Die „so-
ziale Demokratie", v e r k ö r p e r t etwa in den politischen P r o -
grammen Robespierres, Jeffersons, der demokratischen In-

58
ternationale vor 1848 und erneuert in Lenins Schriften von
1903 bis 1914 und Roosevelts „New Deal", beruht auf dem
gemeinsamen Kampf der Lohnarbeiter und Kleinbürger ge-
gen die feudale oder kapitalistische Oberschicht. Dennoch
greift sie die Gesellschaftsordnung auf der Basis des P r i -
vateigentums nicht an. Die politische Macht dieses Klassen-
bündnisses v e r h i n d e r t aber eine Herrschaft privilegierter
Schichten. (Das P r o g r a m m der sozialen Demokratie gehört
deshalb keineswegs zu dem „Ballast der Vergangenheit",
den eine sozialdemokratische Partei heute ablegen könnte.)
Die ältere Form der sozialen Demokratie erlebte ihre ent-
scheidende Krise nach dem Scheitern der Revolutionen
von 1848. Danach zerfiel das Klassenbündnis aus der Zeit
des „Kommunistischen Manifestes". Die späteren Formen
der bürgerlichen Demokratie, die imperialistische (Eng-
land) und die liberale beschritten den Weg der Klassen-
versöhnung, entweder mit Hilfe des imperialistischen Na-
tionalismus als integrierendem Faktor oder auf der Grund-
lage von Frieden und f r e i e r Konkurrenz. Beide Formen
unterlagen als demokratische Bewegungen den ökonomi-
schen Verhältnissen des Monopolkapitalismus. Die liberale
Demokratie verkannte, daß gerade ihr ökonomisches P r i n -
zip die von ihr b e k ä m p f t e Form des Kapitalismus hervor-
bringt. Der Faschismus als moderner Imperialismus siegte
schließlich dort, wo sich der friedliche Parlamentarismus
den ökonomischen Gewalten unterlegen zeigte und das
einstmals demokratische Bürgertum sich auf die Seite der
Gegner des Proletariats schlug. Aber auch die sozialisti-
schen Parteien der II. Internationale scheiterten, weil sie
sich darauf beschränkten, mit den friedlichen Methoden
der liberalen Demokratie auf die Staatspolitik Einfluß zu
nehmen. In ihrer scheinradikalen, berufsmäßigen Verkap-
selung der proletarischen Organisationen machten sie zu-
dem den Sozialismus unfähig zur Revolution. Das g e f ä h r -
lichste Dogma der älteren Demokratie, der absolute Pazi-
fismus, w u r d e den Arbeiterparteien in der Auseinander-
setzung mit dem gewalttätigen, nationalistischen Mono-
polkapitalismus zum Verhängnis. — R.s Betonung der
sozialen Demokratie ist vor dem zeitgeschichtlichen Hin-
tergrund zu verstehen. Zur Zeit, da das Buch geschrie-
ben wurde, w a r der Faschismus dabei, Europa zu erobern.
Nur ein Klassenbündnis im Stile der älteren Demokratie
w ä r e seiner Auffassung nach fähig gewesen, den Faschis-
mus zu überwinden.

Daß R.s Einschätzung der liberalen Demokratie durch die


Entwicklung nach der Niederlage des Faschismus nicht wi-
derlegt wurde, wie der Verlag es meint, zeigt die Vortrags-
reihe D i e D e m o k r a t i e i m W a n d e l d e r G e s e l l -
s c h a f t . Acht Professoren der Wissenschaft von der Poli-
tik (S. Neumann, Ehrmann, McKenzie, Duverger, Huber,
Bracher, Meissner, Löwenthal) geben einen Abriß der Situa-
tion der Demokratie in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der
zugleich Aufschluß gibt über den Stand der politikwissen-
schaftlichen Forschung im Bereich der Theorie und der
vergleichenden Geschichte politischer Herrschaftssysteme
(comparative government). Der einleitende Vortrag von
Sigmund Neumann legt — laut Vorwort — die Grundlagen
f ü r eine vergleichende Fragestellung. Die Charakteristik
der Merkmale der „modernen freiheitlichen Demokratie"
in einem „Demokratischen Dekalog" soll die repräsentati-

59
ven Kriterien der Wissenschaft darlegen, der die beteilig-
ten Professoren angehören. Eine Kritik daran gilt demnach
auch f ü r die anderen Vorträge. Die Gefahren, mit
denen sich die Demokratie heute auseinanderzusetzen hat,
sind: die ausgedehnte Machtposition und Selbstidentifizie-
rung der Regierungspartei mit dem Staat, der Einfluß ano-
n y m e r Führungsgruppen (sub-systems) und die mangelnde
Integration „entwurzelter Massenschichten", die das „Roh-
material und die Massenbasis" f ü r den erfolgreichen Durch-
bruch des „totalen Staates" sind, der in der „gleichge-
schalteten Organisation a m o r p h e r Massen" seine schließ-
liche Konsolidierung findet. Die Heilmittel, die die politi-
sche Wissenschaft zu bieten hat, sind die der liberalen De-
mokratie: Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz der Minori-
täten, „maßvolle Volksbeteiligung und Zivilverantwortung"
und „menschlicher Einsatz". — Aber dem Neo-Liberalismus
fehlt die notwendige Einsicht in politisch-ökonomische P r o -
zesse. Sein Ziel ist wie ehedem die Minoritätendemokratie
auf der Basis einer gesicherten sozialen Rangordnung, die
m a n jetzt Pluralismus nennt, der „aktiven Beteiligung in
den vielfältigsten Gruppen". Wo diese durch die „Groß-
stadtnivellierung" zerstört werden, muß eine „wache, u n -
ternehmungsbereite Gesellschaft neue Formen der Sozial-
bindung schaffen". Auch wenn Neumann und die anderen
Autoren die ökonomischen Gründe der „Aushöhlung der
Gesellschaft" erkennen, so verschweigen sie doch, daß diese
Aushöhlung und „Desintegration" durch den Abbau öko-
nomischer Herrschaft und durch erweiterte Mitbestimmung
der von der „Entwurzelung" bedrohten Schichten im Staat
und vor allem in der Wirtschaft verhindert w e r d e n könnte.
Der Begriff der sozialen Demokratie ist ihrer Wissenschaft
f r e m d . „Sozial" bedeutet f ü r sie allenfalls weitgestreuter
Lebensstandard, auch wenn dieser mit politischer E n t m ü n -
digung, mit Anpassung und Eingliederung in ein überholtes
gesellschaftliches Herrschaftssystem bezahlt wird. T ü r die
Eingliederung steht das Wort „Consensus", die A n e r k e n -
nung der Verbindlichkeit der bestehenden Gesellschaftsord-
nung, ohne die dieser Staat bedroht ist. Dieses Stichwort
legt schließlich untergründiges ständisches Denken frei,
o f f e n b a r t die uneingestandene Angst des modernen Kon-
servatismus vor der Dynamik einer möglichen Demokra-
tisierung. Zweifellos garantiert der Consensus den „sub-
stantiellen und unbezweifelten Bestand der Staatsgemein-
schaft", der Inhalt dieser „Gemeinschaft" aber ist allemal
Herrschaft und Ausbeutung, allerdings hinter einem
Schleier „lügenhafter Wahlfreiheit" (H. Marcuse).

Bernhard Blanke (Berlin)

R i n g s , Werner: Die 5. Wand: Das Fernsehen. Econ-Ver-


lag, Düsseldorf 1962 (416 Seiten. Ln. DM 19,80). — So lobens-
w e r t der Versuch einer objektiven Analyse des Phänomens
Fernsehen ist, so unbefriedigend bleibt eine Objektivität,
die einzig darauf abgestellt ist, möglichst umfangreiches
statistisches Material zusammenzustellen. Werner Rings
gelingt es in seinem Buch nicht, die Enge der Beschreibung
zu überwinden. Seine Kritik, angedeutet in (meist unbe-
antworteten) Fragen, erschöpft sich in der Mahnung zur
Sachlichkeit. Eine genaue Untersuchung der Kulturindu-
strie „steht . . nicht zur Diskussion", da er sich nur mit
„den Erscheinungen als solchen und nicht mit ihrem Wert"

60
(S. 160) beschäftigt. Dieser Mangel wird an vielen Stellen
des Buches deutlich. In der Analyse der Bedeutung des
Fernsehens in der Politik fehlt beispielsweise jeder Hin-
weis auf das gaullistische Frankreich, wie auch die w i r t -
schaftliche Macht der amerikanischen Fernsehfinanziers
f ü r den Verfasser keine politische Funktion zu haben
scheint. K a u m angedeutet wird der durch die verschärfte
Konkurrenz zwischen den Massenmedien eintretende Mono-
polisierungsprozeß etwa im Zeitungswesen. Die wichtigsten
Fragen, die der Manipulation (im scheinbar außerpoliti-
schen Bereich), erscheinen als Arbeitsgebiet der Sozial-
psychologen, f ü r das sich der Verfasser nicht zuständig
fühlt. Dagegen versäumt er es nicht, in kurzen A n m e r k u n -
gen dem Fernsehen in Osteuropa all die Fähigkeiten zuzu-
schreiben, die er dem westlichen abspricht: Massenbeein-
flussung, Meinungslenkung, Herrschaft über das Publi-
kum. Der Grund h i e r f ü r ist, neben der mangelnden Ein-
sicht in politische Prozesse, das Hauptanliegen des Ver-
fassers, die E h r e n r e t t u n g des vielfach geschmähten (west-
lichen) Fernsehens, das er als eine der drei Schwungkräfte
(neben Kernphysik und Astronautik) unserer Zeit bezeich-
net. — Die Fülle von wesentlichen Informationen über Ge-
schichte, Technik, Finanzierung und Ausdehnung des F e r n -
sehens macht das Buch dennoch informativ.
Bernhard Blanke (Berlin)

P a c k a r d , Vance: Die Pyramidenkletterer. (The Pyramid


Climbers). Düsseldorf: Econ-Verlag 1963. 400 Seiten. Lei-
nen DM 19.80. — Wer in den Managerhierarchien der ame-
rikanischen Konzerne aufsteigen will, muß einen ganzen
Katalog von Voraussetzungen erfüllen. In seinem neuesten
Buch befaßt sich P. mit diesen Voraussetzungen. „Manager"
sind dabei alle Angestellte etwa vom Abteilungsleiter (4 —
6 „Untergebene") a u f w ä r t s bis zum Präsidenten des Be-
triebes. Der Weg selbst zu niedrigen Managerposten ist —
mit Ausnahme weniger Wirtschaftszweige — zunächst ver-
sperrt f ü r alle Frauen, f ü r Männer ohne Hochschuldiplom
und f ü r „Nicht-WASPer" (Non White Anglo Saxon Pro-
testants. So sind etwa acht Prozent aller Akademiker in
Amerika jüdisch; ihr Anteil am gesamten Führungsper-
sonal der Wirtschaft beträgt jedoch weniger als ein halbes
Prozent). Von den Übrigbleibenden wird als mindestes
erwartet, „flexibel, umgänglich, freundlich, konventionell,
berechenbar" (S. 106) zu sein. Wer von ihnen zur Führungs-
schicht bestimmt und „ausgesondert" werden möchte, sollte
daneben noch „Selbstvertrauen, aber nicht in aggressiver
Form", „vielseitige Interessen", „Spannkraft", und andere
„Führerqualitäten" mitbringen, „seine Fehler freimütig
eingestehen können" und sich mit „seinem" Betrieb noch
besser identifizieren als die Vertreter des „Middle Mana-
gement". Die Spitze zu erreichen, gelingt nur über Selbst-
aufgabe: „Flexibilität" ist in Wirklichkeit die Bereitschaft,
seine intimsten Freunde aufzugeben, die das Sozialprestige
gefährden könnten, wenn man eine Stufe höher gehoben
wurde; „Freundlichkeit" die unter Schmerzen erlernte
Fähigkeit, alle menschlichen Regungen zu unterdrücken;
„Konvention" die Aufgabe des letzten Rests von Privat-
sphäre und Individualität. Der Protest gegen den unmensch-
lichen Apparat verhallt an der freundlichen Verständnis-
losigkeit angepasster Kollegen und wird als Zacke auf der

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Lochkarte im Personalbüro registriert; diese Karte wird
von der Hollerithmaschine nie wieder ausgespuckt werden,
wenn es einen vakanten Posten zu besetzen gilt. An die
Stelle von Probezeiten sind „psychologische Tests" getreten.
Auf die f r a g w ü r d i g e n Methoden dieser Persönlichkeits-,
Tiefen-, Reaktions- und Projektionstests — jedes Ergebnis
eine neue Zacke auf der K a r t e des Anwärters — w i r f t der
Verf. ein gehöriges Licht. Am Rande werden die ökonomi-
schen Machtverhältnisse („im großen und ganzen ist die
Abtrennung des Managements von den Aktionären voll-
kommen" — S. 329), geografische Mobilität, Sexualität der
Manager und Stellung der M a n a g e r - F r a u untersucht. Das
scheinbar Paradoxe wird einem k l a r : Die Manager und
Berufsmanipulatoren sind die „am meisten manipulierten
und am stärksten ausgebeuteten Arbeitnehmer im ganzen
Land" (S. 21). Uber die Bedeutung seiner Ergebnisse scheint
sich P. völlig im unklaren zu sein. Wie bisher (s. die Be-
sprechung in „Argument" Nr. 25, S. 56) fordert er auf, die
Integrität des Individuums doch zu respektieren. Bis zur
nächsten Managergeneration könne sich dann alles zum
Guten wenden und die amerikanische Gesellschaft mit ihrer
besten aller möglichen Wirtschaftsformen sehe glücklichen
Zeiten entgegen. — Die Untersuchungen genügen nicht im-
m e r den Postulaten der empirischen Sozialforschung —
Kontrollierbarkeit und Repräsentanz — sondern sind oft
das Resultat zufälliger Befragungen und privater Be-
obachtungen. Reimut Reiche (Berlin)

L i n d , Jakov, Landschaft in Beton. Roman. Luchterhand


Verlag, Neuwied und Berlin 1963 (242 S., Ln. DM 14,80).
Unter dem Motto „es gibt eine Seuche, die Mensch heißt"
läßt der Verf. aus den persönlichen und unvermittelten
Kriegserlebnissen seines Helden die „Landschaft in Beton"
erstehen. Der Held hat bei einem russischen Bombardement
an der „Ostfront" einen Schock erlitten und gerät nun in
seinem Trancezustand nacheinander: in die Erdhütte eines
cretinhaften Deserteurs; in die Hände eines Offiziers, des-
sen Homosexualität „nicht das Resultat einer körperlichen
Veranlagung, sondern das einer intellektuellen Arroganz"
ist (S. 51); wird von der in Schwierigkeiten geratenen Offi-
ziersclique hinterher dazu mißbraucht, den vorher miß-
brauchten Cretin zu ermorden; wird abgeschoben nach
Narvik; gerät in die Hände eines mit den faschistischen
Quisling-Leuten kollaborierenden f r ü h e r e n Sozialdemokra-
ten, f ü r den er eine Widerständler-Familie umbringt; etc. —
Die Fäden der Handlung laufen beim allwissenden Schrift-
steller-Subjekt zusammen, das souverän über Charakter
und Motive seiner Figuren Auskunft gibt; es stehen ihm
dazu sowohl beziehungslose sozialkritische Einschiebsel als
auch böse Irrationalismen zu Gebot. Die Frage bei der Lek-
türe, was der Verf. wohl noch alles mit diesen Figuren
vorhat, enthüllt, wie der Schriftsteller hier unter der Hand
zum Helden über seine Marionetten und zum einzigen Han-
delnden geworden ist. Aus den reißerisch angelegten
Kriegsepisoden, die die Welt i h r e r Schlechtigkeit über-
f ü h r e n sollen, wird dadurch und wegen der kurzatmigen
und modernistischen literarischen Anläufe ein sehr lang-
weiliger Lesestoff; aus der Grausamkeit des zweiten Welt-
kriegs hat Lind ein Greuelmärchen aus einer längst v e r -
gangenen Zeit gemacht. Reimut Reiche (Berlin)

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