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Leitgedanken zur Vitamin-K-Prophylaxe


im Säuglingsalter
Stand: Januar 2014

Aktuelle Situation
2007 haben wir im Merkurstab eine Leitlinie und ein Patientenmerkblatt zur Vitamin-K-Prophylaxe veröf-
fentlicht (1). Hier wurde damals als alternative Möglichkeit zu der üblichen Empfehlung die tägliche Gabe
von 25 µg Vitamin-K-Lösung über 12 Wochen ohne hohe Anfangsdosis besprochen. Dieses Merkblatt wurde
nicht nur in den anthroposophischen Entbindungsabteilungen an Eltern abgegeben, sondern auch vielfach
über Hebammen und Geburtshäuser in Umlauf gebracht. Die Ernährungskommission der Deutschen Gesell-
schaft für Kinder- und Jugendmedizin erstellte ausgehend von Beobachtungen einer stärkeren Verbreitung
von niedrigdosierten Empfehlungen zur Vitamin-K-Prophylaxe, die von den deutschen Empfehlungen abwi-
chen, ein Konsensuspapier (2), in dem die beiden niedrigdosierten Vorgehensweisen des Merkblattes ab-
gelehnt werden. Die Autoren stützen sich auf eine Evaluation der Prophylaxe in Holland, die von 1990-2008
mit einer einmaligen Dosis von 1 mg Vitamin K nach der Geburt, gefolgt von täglich 25 µg über zwölf Wo-
chen oral durchgeführt wurde. In Widerspruch zur ersten Evaluation 1992-1994 zeigte die Reevaluation
2005, dass mit dieser Prophylaxe gesunde Säuglinge, nicht jedoch Säuglinge mit einer bisher nicht erkann-
ten Cholestase ausreichend geschützt sind (3). In Holland wurde die niedrigdosierte Prophylaxe inzwischen
verlassen, sodass es international momentan keine Empfehlungen mehr gibt, die den von uns angebotenen
Alternativen ähneln.

Dies nehmen wir zum Anlass, grundlegende Aspekte einer Vitamin-K-Prophylaxe noch einmal durchzuden-
ken, um den Boden für eine individuelle Entscheidung, die im persönlichen Gespräch zwischen Arzt und
Patient getroffen werden muss, zu bereiten.

Physiologie
Vitamin K ist eine fettlösliche Substanz, die als Coenzym die für die Blutgerinnung notwendigen Faktoren II,
VII, IX und X aktiviert. Es ist ebenso notwendig für die Bildung von Osteocalcin, einer Substanz der Kno-
chenmatrix mit einer hohen Affinität zu Apatit. So fördert Vitamin K wie das ebenfalls fettlösliche Vitamin D
die Bildung von mineralischer Knochenmasse. Neuere Arbeiten (4) weisen darauf hin, dass hohe Dosen von
Vitamin K zu einer erhöhten Knochendichte führen. Der Schwerpunkt der Vitamin-K-Wirksamkeit liegt in
seiner Schlüsselrolle bei sogenannten Carboxylierungsreaktionen; die Richtung seiner Wirksamkeit liegt
darin, den Übergang von einem flüssig-beweglichen in einen physisch-fixierten Zustand zu fördern. Auch
Atherocalcin ist ein Vitamin-K-abhängiges Protein: Wahrscheinlich steht Atherocalcin im Zusammenhang
mit der Entstehung der Atherosklerose.

Bemerkenswert ist der relativ niedrige Gehalt menschlicher Muttermilch an Vitamin K, der übereinstimmt
mit der beim Menschen gegenüber den Primaten verlängerten Kindheitsdauer und retardierten Ossifizie-
rung (vgl. z. B. den beim Menschen sehr viel später erfolgenden Fontanellenschluss, der gleichzeitig das
menschliche Wachstum des Großhirns z. B. gegenüber dem Schimpansen erst ermöglicht).

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Blutungsgefahr voll gestillter Säuglinge
Bei voll gestillten Säuglingen im Vergleich zu künstlich ernährten Kindern treten bei ca. einem von 10.000
Kindern Blutungen, in ca. einem Drittel der Fälle bedrohliche Hirnblutungen mit der Folge des Todes oder
einer lebenslangen Behinderung auf. Das Blutungsrisiko liegt bei Durchführung einer konventionellen Vita-
min-K-Prophylaxe für Kinder ohne Cholestase bei 0,6/100 000, für die Gesamtgruppe mit und ohne Cho-
lestase bei 1,4/100 000. Besonders niedrige Vitamin-K-Konzentrationen in der Muttermilch können auftre-
ten bei Fehl- und Unterernährung, durch Einnahme lebertoxischer Arzneimittel und Laxantien, Antibiotika
und Erkrankungen an Leber, Galle und Darm der Mutter. Vitamin-K-Resorptionsstörungen beim Säugling
können die Folge subklinischer (unbemerkter) Gallensekretionsstörungen sein: Funktionsschwächen und
toxische Belastungen des Leber-Galle-Systems von Mutter und Kind stehen im Fokus der Genese von Vi-
tamin-K-Mangelblutungen. Eine befriedigende präventive Diagnostik von Vitamin-K-Mangel gestillter Säug-
linge konnte bisher nicht etabliert werden.

Obwohl ein Neugeborenes mit extrem niedrigen und kaum messbaren Vitamin-K-Spiegeln auf die Welt
kommt, kommt es in aller Regel dennoch bei den meisten Kindern zu keinen Blutungen, es herrscht sozusa-
gen ein Gleichgewicht gerinnungshemmender und gerinnungsfördernder Faktoren auf niedrigem Niveau.
Tierexperimentelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass der scheinbare Vitamin-K-Mangel intrauterin
möglicherweise vor Chromosomenbrüchen schützt (5).

Prophylaxeempfehlungen
Um gestillte Säuglinge vor Vitamin-K-Mangelblutungen zu bewahren, wurde in Deutschland ab 1980 zu-
nehmend empfohlen, allen Neugeborenen 1 mg Vitamin K nach der Geburt i.m. zu spritzen. Diese Dosis
entspricht dem 1000-fachen des täglichen physiologischen Bedarfs und führt vorübergehend zu exzessiv
erhöhten Vitamin-K-Spiegeln im Blut des Kindes. Alternativ wurde eine 1–3-malige orale Prophylaxe mit
derselben, später der doppelten Dosis empfohlen. Nach Publikationen von Golding und Mitarbeitern (6)
ergab sich der Verdacht, dass durch diese Vitamin-K-Prophylaxe für die betroffenen Kinder ein zweifach
erhöhtes Risiko bestand, im Laufe der folgenden Jahre an Leukämie und anderen Malignomen zu erkranken.
Daraufhin wurde 1992 die hochdosierte parenterale Vitamin-K-Prophylaxe in Deutschland aufgehoben und
auf Hochrisikokinder (Frühgeborene, Kinder mit kompletter parenteraler Ernährung, Kinder mit Cholestase)
beschränkt. In weiteren Studien konnte der Zusammenhang zwischen parenteraler Vitamin-K-Gabe und
erhöhtem Malignom-Risiko nicht bestätigt werden. Nicht zuletzt deshalb bleibt die Frage offen, ob es ge-
rechtfertigt ist, eine unphysiologische und hochdosierte Vitamin-K-Prophylaxe, auch in der jetzt in
Deutschland propagierten Form mit 3 x 2 mg bei der ersten, zweiten und dritten Vorsorgeuntersuchung,
oral durchzuführen.

Eine physiologische Möglichkeit, die Vitamin-K-Zufuhr für das Kind zu erhöhen, ist dadurch gegeben, dass
die Muttermilch bei Vitamin- K-reicher Ernährung mit viel Gemüse, insbesondere Blattgemüse, Karotten
und gut verträglichen Kohlsorten, etwa doppelt so viel Vitamin K enthält wie ohne eine derartige Ernäh-
rungsform (7). Kinder, die überwiegend mit Pulvermilch ernährt werden, bekommen über diese eine tägli-
che Dosis von 25–50 µg Vitamin K. Offensichtlich wird es im Zusammenhang der Nahrung sehr viel besser
resorbiert als in Tropfenform, denn so ernährte Kinder sind auch bei Cholestase gut vor Blutungen ge-
schützt (10).

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Anthroposophisch-menschenkundliche Gesichtspunkte
Aus der anthroposophischen Menschenkunde, insbesondere aus der Darstellung Rudolf Steiners im 16.
Kapitel des Buches Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen
Erkenntnissen (8), können wir schließen, dass das Gleichgewicht auf niedrigem Niveau im Gerinnungssys-
tem des Neugeborenen Kräfte fördert, durch die der kindliche Organismus, insbesondere das Blutsystem,
sich der Ich-Organisation leichter unterordnen kann. Es handelt sich um eine Reifungsverzögerung mit
damit verbundenen Labilitäten, wie wir sie als typisch für die menschliche Entwicklung ansehen können.
Gerade dadurch gliedert sich das Geistig-Seelische Ich-geführt in den menschlichen Organismus ein. Die
Anthroposophische Medizin beachtet in diesem Zusammenhang spezifisch das Leber-Galle-System, das in
Zusammenhang mit dem Wirksamwerden der geistig-seelischen Individualität im Stoffwechsel und der
Entfaltung individueller Willenskräfte gesehen wird (9, S. 114). Eine rasche Reifung physiologisch langsam
reifender Prozesse verhindert zwar Labilitäten in Richtung einer erhöhten Blutungsneigung, fördert jedoch
möglicherweise vorzeitige Calcifizierungsprozesse und sklerosierende Erkrankungen im weitesten Sinne (u.
a. auch Tumorbildungsprozesse).

Vor dem Hintergrund des heutigen Wissens stellt sich dem Arzt wie den Eltern die Frage: Ist das
Argument, dass menschliche Muttermilch nicht optimal zusammengesetzt sei und für jedes Kind
mit bestimmten Substanzen aufgewertet werden müsse, primär vertrauenswürdig? Handelt es
sich hier nicht vielmehr um eine Güterabwägung zwischen einem bekannten akuten Risiko und
einem in seinem Umfang unbekannten langfristigen Risiko, nämlich durch hohe Vitamin-K-Dosen
die natürliche Reifung des Organismus nachhaltig zu stören und damit möglicherweise ungewoll-
te und unbekannte Schäden zu setzen, die sich erst sehr viel später (und ebenfalls nur statistisch
erfassbar) manifestieren?

Angesichts der zeitlichen Tiefe der Evolution des menschlichen Organismus bedarf eine kollektive Abkehr
von der Muttermilch als „Goldstandard“ der Säuglingsernährung langfristig vergleichender Studien, die
über Jahrzehnte anzulegen sind und offen jede Art von langfristigen Unterschieden registrieren, insbeson-
dere hinsichtlich einer Förderung der Sklerosierungstendenz im weitesten Sinne. – Bisher hat sich jeder
Optimismus hinsichtlich einer vermeintlichen Verbesserung der Muttermilch historisch nicht halten lassen;
gerade die Erforschung der kindlichen Adipositas hat z. B. alle Versprechen der Hersteller industrieller
Säuglingsmilchen aus den letzten 30 Jahren widerlegt, dass deren Nahrung ein gleichwertiger Ersatz von
Muttermilch sei. – Angesichts der fehlenden prospektiven Langzeitforschung zur Vitamin-K-Substitution
von Muttermilch ist hier weiterhin ein ungeklärter Forschungsstand festzuhalten. Das eigentliche Problem
ist das Fehlen einer geeigneten Screeningmethode, um rechtzeitig die (wenigen) Kinder identifizieren zu
können, die einen bedrohlichen und klinisch relevanten Vitamin-K-Mangel entwickeln.

Vor diesem Hintergrund erscheint es berechtigt, dass Eltern gesunder gestillter Säuglinge nach ausführli-
cher und rechtzeitiger(!) Information durch den Arzt verantwortlich eine Entscheidung über verschiedene
Formen der Prophylaxe schwerer Vitamin-K-Mangelblutungen treffen. Da alle Abweichungen von in
Deutschland bestehenden offiziellen Empfehlungen mit den Eltern der Kinder möglichst vor der Geburt
eines Kindes besprochen werden müssen, wurde dazu für die GAÄD ein Merkblatt mit Varianten einer Vita-
min-K-Prophylaxe entworfen:

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Individuelle Möglichkeiten einer Vitamin-K-Prophylaxe
1. Gabe von jeweils 2 mg Vitamin K oral bei der ersten, zweiten und dritten Vorsorgeuntersuchung (derzei-
tige deutsche Empfehlung).
2. Kontinuierliche Gabe einer verdünnten Lösung mit 25 oder 50 µg täglich. Dies kann zum Schutz vor Blu-
tungen in der ersten Lebenswoche mit einer einmaligen Dosis von 1 oder 2 mg nach der Geburt kombi-
niert werden. Die Wahl einer höheren oder niedrigeren Dosis hängt davon ab, inwieweit der allgemeine
Trend zu höheren prophylaktischen Dosen aufgegriffen wird.
3. Vitamin-K-reiche Ernährung der stillenden Mutter.

Die erste Variante ist durch epidemiologische Studien in ihrer Effektivität abgesichert, die beiden letzten
Varianten bieten im ersten Fall einen weitgehenden, im zweiten Fall einen verbesserten Schutz vor einer
Vitamin-K-Mangelblutung und greifen damit weniger stark in den kindlichen Stoffwechsel ein.

Es sollte betont werden, dass es sich bei jeder Abweichung von den deutschen Empfehlungen um eine
individuelle, vom behandelnden Arzt gemeinsam mit den Eltern gefällte Entscheidung handelt und es kein
einheitliches, spezifisch anthroposophisches Vorgehen gibt.

Rezeptur und Bezugsquelle


Vitamin K1, ölige Tropfen 12,5 µg/Tropfen 20 ml
Rp. Phytomenadion (nach Pharmakopoe) 6,26 mg
Oleum amygdalarum ad 20,0
Dosierung: Täglich 2-4 Tropfen vor einer Stillmahlzeit über 12 Wochen geben.
Eine darin erfahrene Apotheke ist z. B.:
See-Apotheke, Untere Steig 2, 88131 Bodolz
Tel. 08382/26866, Fax -24106
seeapotheke@seeapotheke.de

Eine weitere, im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke eingeführte Rezeptur


Vitamin K1, ölige Tropfen 50 µg/5 Tropfen 25 ml
Rp. Phytomenadion (Nach Pharmakopoe) 5,9 mg
Mittelkettige Triglyceride 23,744 g
Dosierung: Täglich 5 Tropfen vor einer Stillmahlzeit über 12 Wochen geben.

Verantwortliche Autoren
Priv.-Doz. Dr. med. Alfred Längler, Leitender Kinderarzt, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke
Dr. med. René Madeleyn, Leitender Kinderarzt Filderklinik, Filderstadt
Dr. med. Bartholomeus Maris, Frauenarzt, Krefeld
Dr. med. Christoph Meinecke, Kinder- und Jugendarzt, Berlin
Georg Soldner, Kinder- und Jugendarzt, München

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Literatur
1 Längler A, Madeleyn R, Maris B, Meinecke C, Soldner G. Leitlinie und Merkblatt zum Thema Vitamin-K-
Prophylaxe. Der Merkurstab 2007;60(1):62−65.
2 Bührer C, Genzel-Boroviczeny O, Jochum F et al. Vitamin-K-Prophylaxe bei Neugeborenen. Monatsschr
Kinderheilkd 2013;161:351-353.
3 Ijland MM, Pereira RR, Cornelissen E. Incidence of late vitamin K deficiency bleeding in newborns in the
Netherlands in 2005: evaluation of the current guideline. Eur J Pediatr 2008; 167(2):165−169.
4 Iwamato J, Takeda T, Ichimura S, Sato Y. Differential effect of vitamin K and vitamin D supplementa-
tion on bone mass in young rats fed normal or low calcium diet. Yonsei Medical Journal
2004;45:314−324.
5 Israels L, Friesen E, Jansen A, Israels E. Vitamin K 1 increases sister chromatid exchange in vitro in
human leukocytes and in vivo in fetal sheep cells: a possible role for “vitamin K deficiency” in the fe-
tus. Pediatric Research 1987;22(4):405−409.
6 Golding J, Greenwood R, Birmingham K et al. Childhood cancer, intramuscular vitamin K, and pethidine
given during labour. BMJ 1992;305:341−346.
7 Von Kries R. Untersuchungen zur Bedeutung der Muttermilchernährung für Vitamin-K-
Mangelblutungen bei Neugeborenen und Säuglingen. Stuttgart: Thieme Verlag; 1991.
8 Steiner R, Wegman I. Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftli-
chen Erkenntnissen. GA 27. 7. Aufl. Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1991.
9 Steiner R. Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaften. GA 314. 3. Aufl.
Dornach: Rudolf Steiner Verlag; 1989.
10 Hasselt P, Koning T, Kvist N et al. Prevention of vitamin K deficiency bleeding in breastfed infants:
lessons from the Dutch and Danish biliary atresia registries. Pediatrics 2008;121(4):857−863.

Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e.V. (GAÄD)


Herzog-Heinrich-Str. 18, 80336 München
Telefon 089 – 716 777 60 | Fax 089 – 716 777 649 | E-Mail info@gaed.de | www.gaed.de

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