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Aktuelle Situation
2007 haben wir im Merkurstab eine Leitlinie und ein Patientenmerkblatt zur Vitamin-K-Prophylaxe veröf-
fentlicht (1). Hier wurde damals als alternative Möglichkeit zu der üblichen Empfehlung die tägliche Gabe
von 25 µg Vitamin-K-Lösung über 12 Wochen ohne hohe Anfangsdosis besprochen. Dieses Merkblatt wurde
nicht nur in den anthroposophischen Entbindungsabteilungen an Eltern abgegeben, sondern auch vielfach
über Hebammen und Geburtshäuser in Umlauf gebracht. Die Ernährungskommission der Deutschen Gesell-
schaft für Kinder- und Jugendmedizin erstellte ausgehend von Beobachtungen einer stärkeren Verbreitung
von niedrigdosierten Empfehlungen zur Vitamin-K-Prophylaxe, die von den deutschen Empfehlungen abwi-
chen, ein Konsensuspapier (2), in dem die beiden niedrigdosierten Vorgehensweisen des Merkblattes ab-
gelehnt werden. Die Autoren stützen sich auf eine Evaluation der Prophylaxe in Holland, die von 1990-2008
mit einer einmaligen Dosis von 1 mg Vitamin K nach der Geburt, gefolgt von täglich 25 µg über zwölf Wo-
chen oral durchgeführt wurde. In Widerspruch zur ersten Evaluation 1992-1994 zeigte die Reevaluation
2005, dass mit dieser Prophylaxe gesunde Säuglinge, nicht jedoch Säuglinge mit einer bisher nicht erkann-
ten Cholestase ausreichend geschützt sind (3). In Holland wurde die niedrigdosierte Prophylaxe inzwischen
verlassen, sodass es international momentan keine Empfehlungen mehr gibt, die den von uns angebotenen
Alternativen ähneln.
Dies nehmen wir zum Anlass, grundlegende Aspekte einer Vitamin-K-Prophylaxe noch einmal durchzuden-
ken, um den Boden für eine individuelle Entscheidung, die im persönlichen Gespräch zwischen Arzt und
Patient getroffen werden muss, zu bereiten.
Physiologie
Vitamin K ist eine fettlösliche Substanz, die als Coenzym die für die Blutgerinnung notwendigen Faktoren II,
VII, IX und X aktiviert. Es ist ebenso notwendig für die Bildung von Osteocalcin, einer Substanz der Kno-
chenmatrix mit einer hohen Affinität zu Apatit. So fördert Vitamin K wie das ebenfalls fettlösliche Vitamin D
die Bildung von mineralischer Knochenmasse. Neuere Arbeiten (4) weisen darauf hin, dass hohe Dosen von
Vitamin K zu einer erhöhten Knochendichte führen. Der Schwerpunkt der Vitamin-K-Wirksamkeit liegt in
seiner Schlüsselrolle bei sogenannten Carboxylierungsreaktionen; die Richtung seiner Wirksamkeit liegt
darin, den Übergang von einem flüssig-beweglichen in einen physisch-fixierten Zustand zu fördern. Auch
Atherocalcin ist ein Vitamin-K-abhängiges Protein: Wahrscheinlich steht Atherocalcin im Zusammenhang
mit der Entstehung der Atherosklerose.
Bemerkenswert ist der relativ niedrige Gehalt menschlicher Muttermilch an Vitamin K, der übereinstimmt
mit der beim Menschen gegenüber den Primaten verlängerten Kindheitsdauer und retardierten Ossifizie-
rung (vgl. z. B. den beim Menschen sehr viel später erfolgenden Fontanellenschluss, der gleichzeitig das
menschliche Wachstum des Großhirns z. B. gegenüber dem Schimpansen erst ermöglicht).
Obwohl ein Neugeborenes mit extrem niedrigen und kaum messbaren Vitamin-K-Spiegeln auf die Welt
kommt, kommt es in aller Regel dennoch bei den meisten Kindern zu keinen Blutungen, es herrscht sozusa-
gen ein Gleichgewicht gerinnungshemmender und gerinnungsfördernder Faktoren auf niedrigem Niveau.
Tierexperimentelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass der scheinbare Vitamin-K-Mangel intrauterin
möglicherweise vor Chromosomenbrüchen schützt (5).
Prophylaxeempfehlungen
Um gestillte Säuglinge vor Vitamin-K-Mangelblutungen zu bewahren, wurde in Deutschland ab 1980 zu-
nehmend empfohlen, allen Neugeborenen 1 mg Vitamin K nach der Geburt i.m. zu spritzen. Diese Dosis
entspricht dem 1000-fachen des täglichen physiologischen Bedarfs und führt vorübergehend zu exzessiv
erhöhten Vitamin-K-Spiegeln im Blut des Kindes. Alternativ wurde eine 1–3-malige orale Prophylaxe mit
derselben, später der doppelten Dosis empfohlen. Nach Publikationen von Golding und Mitarbeitern (6)
ergab sich der Verdacht, dass durch diese Vitamin-K-Prophylaxe für die betroffenen Kinder ein zweifach
erhöhtes Risiko bestand, im Laufe der folgenden Jahre an Leukämie und anderen Malignomen zu erkranken.
Daraufhin wurde 1992 die hochdosierte parenterale Vitamin-K-Prophylaxe in Deutschland aufgehoben und
auf Hochrisikokinder (Frühgeborene, Kinder mit kompletter parenteraler Ernährung, Kinder mit Cholestase)
beschränkt. In weiteren Studien konnte der Zusammenhang zwischen parenteraler Vitamin-K-Gabe und
erhöhtem Malignom-Risiko nicht bestätigt werden. Nicht zuletzt deshalb bleibt die Frage offen, ob es ge-
rechtfertigt ist, eine unphysiologische und hochdosierte Vitamin-K-Prophylaxe, auch in der jetzt in
Deutschland propagierten Form mit 3 x 2 mg bei der ersten, zweiten und dritten Vorsorgeuntersuchung,
oral durchzuführen.
Eine physiologische Möglichkeit, die Vitamin-K-Zufuhr für das Kind zu erhöhen, ist dadurch gegeben, dass
die Muttermilch bei Vitamin- K-reicher Ernährung mit viel Gemüse, insbesondere Blattgemüse, Karotten
und gut verträglichen Kohlsorten, etwa doppelt so viel Vitamin K enthält wie ohne eine derartige Ernäh-
rungsform (7). Kinder, die überwiegend mit Pulvermilch ernährt werden, bekommen über diese eine tägli-
che Dosis von 25–50 µg Vitamin K. Offensichtlich wird es im Zusammenhang der Nahrung sehr viel besser
resorbiert als in Tropfenform, denn so ernährte Kinder sind auch bei Cholestase gut vor Blutungen ge-
schützt (10).
Vor dem Hintergrund des heutigen Wissens stellt sich dem Arzt wie den Eltern die Frage: Ist das
Argument, dass menschliche Muttermilch nicht optimal zusammengesetzt sei und für jedes Kind
mit bestimmten Substanzen aufgewertet werden müsse, primär vertrauenswürdig? Handelt es
sich hier nicht vielmehr um eine Güterabwägung zwischen einem bekannten akuten Risiko und
einem in seinem Umfang unbekannten langfristigen Risiko, nämlich durch hohe Vitamin-K-Dosen
die natürliche Reifung des Organismus nachhaltig zu stören und damit möglicherweise ungewoll-
te und unbekannte Schäden zu setzen, die sich erst sehr viel später (und ebenfalls nur statistisch
erfassbar) manifestieren?
Angesichts der zeitlichen Tiefe der Evolution des menschlichen Organismus bedarf eine kollektive Abkehr
von der Muttermilch als „Goldstandard“ der Säuglingsernährung langfristig vergleichender Studien, die
über Jahrzehnte anzulegen sind und offen jede Art von langfristigen Unterschieden registrieren, insbeson-
dere hinsichtlich einer Förderung der Sklerosierungstendenz im weitesten Sinne. – Bisher hat sich jeder
Optimismus hinsichtlich einer vermeintlichen Verbesserung der Muttermilch historisch nicht halten lassen;
gerade die Erforschung der kindlichen Adipositas hat z. B. alle Versprechen der Hersteller industrieller
Säuglingsmilchen aus den letzten 30 Jahren widerlegt, dass deren Nahrung ein gleichwertiger Ersatz von
Muttermilch sei. – Angesichts der fehlenden prospektiven Langzeitforschung zur Vitamin-K-Substitution
von Muttermilch ist hier weiterhin ein ungeklärter Forschungsstand festzuhalten. Das eigentliche Problem
ist das Fehlen einer geeigneten Screeningmethode, um rechtzeitig die (wenigen) Kinder identifizieren zu
können, die einen bedrohlichen und klinisch relevanten Vitamin-K-Mangel entwickeln.
Vor diesem Hintergrund erscheint es berechtigt, dass Eltern gesunder gestillter Säuglinge nach ausführli-
cher und rechtzeitiger(!) Information durch den Arzt verantwortlich eine Entscheidung über verschiedene
Formen der Prophylaxe schwerer Vitamin-K-Mangelblutungen treffen. Da alle Abweichungen von in
Deutschland bestehenden offiziellen Empfehlungen mit den Eltern der Kinder möglichst vor der Geburt
eines Kindes besprochen werden müssen, wurde dazu für die GAÄD ein Merkblatt mit Varianten einer Vita-
min-K-Prophylaxe entworfen:
Die erste Variante ist durch epidemiologische Studien in ihrer Effektivität abgesichert, die beiden letzten
Varianten bieten im ersten Fall einen weitgehenden, im zweiten Fall einen verbesserten Schutz vor einer
Vitamin-K-Mangelblutung und greifen damit weniger stark in den kindlichen Stoffwechsel ein.
Es sollte betont werden, dass es sich bei jeder Abweichung von den deutschen Empfehlungen um eine
individuelle, vom behandelnden Arzt gemeinsam mit den Eltern gefällte Entscheidung handelt und es kein
einheitliches, spezifisch anthroposophisches Vorgehen gibt.
Verantwortliche Autoren
Priv.-Doz. Dr. med. Alfred Längler, Leitender Kinderarzt, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke
Dr. med. René Madeleyn, Leitender Kinderarzt Filderklinik, Filderstadt
Dr. med. Bartholomeus Maris, Frauenarzt, Krefeld
Dr. med. Christoph Meinecke, Kinder- und Jugendarzt, Berlin
Georg Soldner, Kinder- und Jugendarzt, München