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In Dropbox gespeichert • 25.01.2019, 02A52
Zwecke liegen entweder in der Zukunft oder jenseits des aktuellen Tuns, das sich als blosses Mittel für etwas Erstrebenswertes
versteht. Zur Erreichung eines wünschenswerten Zwecks nimmt man ohne weiteres belastende Mittel in Kauf, mithin
Tätigkeiten, die man ohne die Aussicht auf den erfreulichen Zweck bleiben lassen würde.
Sinnhaftes Tun hingegen fragt nicht zuerst nach der Zukunft, sondern ist beglückende Gegenwart, Erfüllung an sich; das
Erfreuliche liegt nicht jenseits der Tätigkeit, sondern in ihr selber.
Lernen kann beides sein: zweckgerichtetes Bemühen oder sinnerfülltes Tätigsein. Im ersten Fall ist der Lernprozess das Mittel, und
der Lernertrag – was immer das heissen mag – ist der Zweck. Im zweiten Fall lernt man aus reiner Freude am Tun, und der
Lernertrag ist dann nicht der Zweck, sondern – was wesentlich ist – die Folge sinnhaften Tuns.
Ein Beispiel: Wenn ein paar Schüler dem Lehrer helfen, ein Aquarium einzurichten, zu bepflanzen und mit Tieren zu bevölkern, so
denken sie wohl kaum, dass sie jetzt lernen. Sie finden einfach das Tun an sich (vorausgesetzt, dass sie den Lehrer mögen)
spannend, und gegebenenfalls überschütten sie den kundigen Lehrer mit tausend Fragen. Sie haben jetzt nicht den Zweck verfolgt,
demnächst in Biologie eine gute Note zu erzielen oder als Erwachsene viel zu wissen; ihr Wissen beruht auf Erlebnissen und kann als
Folge sinnerfüllten Tuns kaum mehr vergessen werden. Es ist zwar möglicherweise unsystematisch und noch ungeordnet, aber es ist
erlebt und belebt, es ist ein Teil ihres seelisch-geistigen Lebens geworden.
Angesichts dieser Unterscheidung (Lernen als zweckgerichtetes Mittel oder Lernen als Folge sinnhaften Tuns) scheinen mir die drei
folgenden Feststellungen zutreffend:
1. Sinnerfülltes Tätigsein, das primär nicht ausserhalb dieses Tuns liegenden Zwecken dient und darum die Lernergebnisse
lediglich als Folgen zeitigt, ist geprägt durch Lebens- und Lernlust und ist für die Schüler zumeist erfreulicher und beglückender
als zweckgerichtetes Lernen. Dieses wird oft als mühselig erlebt und stellt hohe Ansprüche an die Motivationskünste des
Lehrers.
2. Es wäre unrealistisch, sich eine Schule vorstellen zu wollen, die ohne zweckgerichtetes Lernen auskäme, aber je mehr es uns
Lehrern gelingt, den Lernprozess so zu gestalten, dass er als sinnerfülltes Tun erlebt wird, desto freier und glücklicher fühlen
sich alle.
3. Der Lernprozess, der dem Erreichen solcher Lernziele dient, die von aussen gegeben werden, wird von den Schülern (und oft
auch von den Lehrern) zumeist als zweckhaftes Tun erlebt. Die Abertausende vorformulierter Lernziele in Lehrplänen und
Lehrmitteln sind ein Hinweis darauf, dass viele Didaktiker und Bildungspolitiker Lernen grundsätzlich oder zu mindest sehr
einseitig als zweckgerichtetes (und primär zukunftsgerichtetes) Tun verstehen. Man scheint es allgemein für berechtigt zu
halten, die Lebensaktivität eines Kindes während Jahren als Vorbereitung auf eine spätere Zeit zu interpretieren und sie dadurch
zu verzwecken. Doch die einseitige Ausrichtung auf ein nicht fassbares Ziel in später Zukunft entspricht nicht der kindlichen
Natur, weshalb man sich nicht wundern muss, wenn viele Schüler das Lernen verweigern und dem gesellschaftlich verordneten
Ansinnen immer neue Widerstände entgegensetzen.
So wie ein vernünftiger Mensch im Bereiche des Leiblichen eine gesunde Ernährung anstrebt und Unter-, Über- und
Fehlernährung vermeidet, ebenso trachtet er im Bereich des Seelisch-Geistigen nach ‘gesunder’ Ernährung und vermeidet den
Mangel, die Übersättigung und die Abirrung.
So wie bei gesunder Ernährung des Körpers der Nahrungsaufnahme Hunger und Durst vorausgehen, ebenso ist die Ernährung
der Seele und dem Geist nur dann zuträglich, wenn sie hungrig und durstig sind.
So wie es schädliche körperliche Süchtigkeiten gibt, kann sich jemand bei der süchtigen Einverleibung seelischer oder geistiger
Gehalte Schaden zufügen.
So wie der Körper die Nahrung nicht bloss aufnimmt, sondern sie verdaut und das Unbrauchbare oder Verbrauchte ausscheidet,
ebenso bedarf die seelisch-geistige Ernährung eines natürlichen Wechsels von Aufnahme, Verdauung und Ausscheidung.
So wie dem Menschen nicht in jedem Alter dieselbe Nahrung zuträglich ist, ebenso gibt es im Bereiche des Seelischen und
Geistigen altersgemässe Kost.
So wie leibliche Nahrung materiell ist, ist seelische Nahrung seelisch und geistige Nahrung geistig.
So wie Speise und Trank zugleich schmackhaft und ungesund oder bitter und gesund sein können, ebenso kann seelisch-
geistige Nahrung als bekömmlich empfunden werden und gleichzeitig schaden oder Widerwillen erzeugen und trotzdem nützen.
So wie es eine Kultur des Essens und Trinkens gibt, ebenso ist die Art, wie wir Menschen seelische und geistige Nahrung
aufnehmen, ein Stück Lebenskultur.
So wie eine liebevolle Zubereitung der Nahrung durch einen Mitmenschen die Ernährung erleichtert und erfreulich macht,
ebenso ist es sinnvoll, einem Mitmenschen bei der seelisch-geistigen Nahrungsaufnahme durch liebevolle Zubereitung behilflich
zu sein.
So wie sich der wahre Geniesser immer wieder auf neue Rezepte einlässt, ebenso geschieht seelisch-geistige Ernährung immer
wieder in der Öffnung auf Neues hin.
So wie es dem Menschen entspricht, sich im gemeinschaftlichen Mahl zu ernähren, ebenso gibt es gemeinschaftliche
Mahlzeiten im Seelischen und Geistigen.
Und so, wie die Dankbarkeit gegenüber dem Ernährer den Ernährten adelt, ebenso ist es eine Noblesse der Seele und des
Geistes, für die Ernährung dankbar zu sein.
Wollen wir als Erzieher, dass das Kind im Sinne der funktionalen Erziehung seelisch-geistig ernährt wird, so müssen wir die
Umwelt und die Lebensatmosphäre des Kindes dementsprechend gestalten.
Wollen wir das Kind im Sinne der intentionalen Erziehung seelisch-geistig ernähren, so erfordert dies bewusste Handlungen, die
von einem Wissen um das wahrhaft Nährende getragen sind.
Halt geben
Ein Kind gedeiht in der Regel wohl besser in einer Umwelt, in der es Halt findet, an dem Massstäbe durch das Leben der
Bezugspersonen gesetzt werden und in der es eine selbstverständliche Führung erfährt. Mit andern Worten: Nicht nur die intentionale
Erziehung beruht – was ja ganz offensichtlich ist – auf der Autorität des Erziehers, sondern auch im Bereiche der funktionalen
Erziehung bildet die selbstverständliche Autorität des Lehrers oder der Eltern einen atmosphärischen Rahmen, der die positiven
Kräfte im Kinde anregt und seine Bereitschaft zur Selbstentwicklung fördert. ‘Autorität’ darf freilich nicht mit physischer Gewalt oder
psychischem Druck gleichgesetzt werden, sondern gründet letztlich im geistigen Leben des Erziehers (siehe hierzu Nr. 2 unter
"Aufsätze zu pädagogischen Themen": Macht und Autorität in der Erziehung). Es geht somit nicht um Dreinschlagen, Herumbrüllen
und hartherzige Konsequenz, sondern um geistige Stärke, um Glaubwürdigkeit, um einfühlsame Führung, um ein Wort und einen
Willen des Erziehers, die vom Kinde geachtet werden, weil es in ihnen Liebe, Verständnis, Vertrauen und Festigkeit verspürt.
Emotionale Geborgenheit
Seelisch-geistige Ernährung setzt ferner einen Rahmen voraus, in dem sich das Kind allgemein emotional geborgen fühlt. Dies
wiederum ist nur möglich, wenn seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt werden und wenn es angenommen wird, so wie es ist, d.h.
mit all seinen angenehmen und unangenehmen Eigenheiten. Nur in einer solchen Atmosphäre kann das Kind ein gesundes
Selbstwertgefühl entwickeln, was wiederum eine Voraussetzung dafür ist, dass all dies, was seelisch-geistig ernährend sein kann,
vom Kind auch aufgenommen und verarbeitet werden kann.
Ruhe
Es ist offensichtlich: Wir leben in einer lauten Zeit, und wir haben daher allen Grund, uns Pestalozzis Wort „Das Wesen der
Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe“ (Sämtliche Werke, Band 28, S. 23) zu Herzen zu nehmen. Ich erinnere an den Vergleich
mit der leiblichen Ernährung: Essen kann (oder sollte) der Mensch nur, wenn er Hunger hat. Auch unsere Seele und unser Geist
können sich nicht Neuem und Bereicherndem gegenüber öffnen, solange sie ständig in Beschlag genommen sind durch überflüssige
oder aufputschende Reize ohne wirklichen Nährwert. Es ist darum eine der vornehmsten Erziehungsaufgaben, die Kinder immer
wieder innerlich zu beruhigen und ihnen Zeiten der Stille zu ermöglichen. In der Stille entwickelt der Mensch ein feines Sensorium für
verborgenes Leben und verborgene Werte. In der Stille beginnt das Kind sich ganz einer Sache hinzugeben, es verliert sich an sein
Spiel oder seine ihm gemässe Arbeit. In der erfüllten Stille entfaltet sich im Menschen Innenleben, das dann die Grundlage bildet,
damit er in der äusseren Welt fruchtbar wird.
Ein konkreter Hinweis: Für viele Lehrer ist es im Rahmen ihres persönlichen Lebensstils selbstverständlich geworden, dass pausenlos
von irgendwo her Musik ertönt, weshalb sie ebenso selbstverständlich den Wünschen der Schüler nachgeben, z.B. im Werken und
Zeichnen die Musikanlage laufen zu lassen. Ich möchte daran erinnern, dass wir in der Schule nicht nur die Möglichkeit, sondern auch
die Pflicht haben, die Schüler ungewohnte, aber ihr Innenleben stärkende Erfahrungen machen zu lassen. Die Stille ist ja das
Ursprüngliche, und die konzentrierte Hingabe an eine Aufgabe in der Stille ist eine elementare Erfahrung. Wenn die Kinder diese
schon nicht mehr im Elternhaus machen können, so haben wir Lehrer um so mehr Ursache, die Schulstube als eine Gegenwelt zum
allgegenwärtigen Geplärr zu gestalten.
1. Schon in der Wiege beginnt das Kind mit dem Funktionsspiel: Es spielt mit seinen Gliedern, schaukelt bunte Gegenstände an
der Schnur hin und her und lallt die neu entdeckten Laute vor sich hin. Später stellt es Klötze aufeinander, greift nach dem Ball,
fährt mit dem Roller oder den Rollschuhen oder übt sich gar auf dem Einrad. Das Kind selbst weiss dabei um keinen Zweck;
bloss seine Natur bedient sich seiner Spielfreude, um seine Funktionen (Pestalozzi würde sagen: Kräfte und Anlagen)
auszubilden: Muskelkraft, Gewandtheit, Wahrnehmung, Koordination der Bewegungen, Abstimmung von Wahrnehmung und
Bewegung, Gleichgewicht, Einsicht in statische Gesetze, Zählen, Sprache, Gedächtnis, Vorstellung usf.
2. Nach dem Funktionsspiel setzt das Rollenspiel ein: Das Kind lässt seiner Phantasie freien Lauf. Gegenstände werden beliebig
umgedeutet: Der Stuhl ist ein Haus, ein Auto oder ein Pferd. Auch das Kind selbst schlüpft in alle möglichen Rollen oder drängt
sie seinen Spielkameraden auf: Es ist Briefträger, Doktor, Mutter, Gärtner – wie es gerade seinem Bedürfnis entspricht. Im
Rollenspiel übt sich das Kind in das Leben und das Zusammenleben der Menschen ein; es entwickelt seine Vorstellungskraft,
seine Sprache und seine Kreativität; es verarbeitet aber auch Probleme und Konflikte, indem es seine Aggressionen, Ängste
und Schuldgefühle stellvertretend im Rollenspiel ausagiert.
3. Etwa gleichzeitig mit dem Rollenspiel beginnt sich das werkschaffende Spiel zu entwickeln – zuerst im Kritzeln und Zeichnen.
Hier erlebt das Kind zum ersten Mal, dass sich etwas von ihm abspaltet, dass es bleibende Spuren hinterlässt, dass es durch
sein Handeln Dinge gibt, die es zuvor noch nicht gab. Im Kind scheint der homo faber, der kulturschaffende Mensch auf, der
Mensch, der dazu berufen und verurteilt ist, die Welt des Habens zu schaffen. Das Kind modelliert in Sand, Erde oder Ton, es
baut Häuser und ganze Dörfer aus Klötzen, es beginnt zu basteln und zu bauen und erfährt sich so erstmals als arbeitender
Mensch. Kinder, die sich mit Eifer dem werkschaffenden Spiel hingeben, die in einem fortgeschritteneren Alter Modelle bauen
und mit Werkzeugen aller Art umzugehen verstehen, bewähren sich im allgemeinen später als Menschen, die arbeiten können
und wollen und ihre Arbeit lieben.
4. Schliesslich wird das Kind reif für das Regelspiel. Es spielt mit Karten, Würfeln, Spielfiguren. Es lernt, sich einer Spielidee
unterzuordnen. Es lernt, Regeln zu beachten, auch wenn sie sich gegen den eigenen Vorteil richten. Es begegnet seinen
Spielpartnern auf zwei Ebenen: in der freien Kommunikation und in der an die Spielregeln gebundenen Auseinandersetzung. Es
lernt den Unterschied zwischen Streit und Kampf. Kurz: Es erwirbt sich grundlegend jene Fertigkeiten, die gebildet sein müssen,
um sich als Mensch in der Gesellschaft bewegen zu können.
Das Spiel gehört aber nicht nur in die Familie, sondern auch in den Schulunterricht. Die Kinder würden in der Schule – insbesondere
(aber nicht nur) in den unteren Klassen – verkümmern, gewährten wir dem Spiel keinen Raum. Gelegenheiten zum wirklichen Spiel
finden wir nicht bloss auf dem Pausenplatz und im Turnen; auch die Tätigkeiten im Singen, Zeichnen und Werken können vom Kind
als ‘werkschaffendes Spiel’ erlebt werden, wenn wir Lehrer eine entsprechende Atmosphäre aufkommen lassen. Der Unterricht in
Mutter- und Fremdsprache und auch in Welt- und Lebenskunde kann durch Rollen-, Theater- und andere Spiele bereichert werden,
und mit einiger Phantasie gelingt es, vieles, was es zu üben gibt, in altersgemässe Spiele einzukleiden.
Das Natürliche und Elementare
Unsere Kinder wachsen in einer hochgradig künstlichen Welt auf, die im allgemeinen zu komplex ist, um noch ohne Spezialkenntnisse
durchschaut werden zu können. All diesen komplizierten Gebilden und Abläufen liegen indessen elementare Naturgegebenheiten
oder Prozesse zu Grunde, die – sind sie als solche erkannt und durchschaut – eine verstehende Sicht auf das Komplexe ermöglichen.
Es drängt sich daher schon von dieser Seite her auf, die heranwachsenden Menschen mit dem Elementaren vertraut zu machen. So
haben sie z.B. vom Wesen des Brotes und der menschlichen Ernährung mehr verstanden, wenn sie selbst Korn gesät, geschnitten,
gedroschen und gemahlen und selbst ein Brot gebacken haben (wie dies z.B. der Lehrplan der Rudolf Steiner-Schulen vorsieht), als
wenn sie einem Mähdrescher zugeschaut und mit dem technischen Direktor einer Brotfabrik ein Interview geführt haben (wobei
natürlich auch das seinen Sinn haben kann).
Das Elementare ist darüber hinaus oft auch das Lebendige, und das Künstliche ist das Tote. Mag z.B. eine Wachsblume, die
wochenlang ohne zu verblühen ein Schaufenster schmückt, noch so kunstvoll gemacht sein, die Begegnung mit ihr kann niemals
dieselbe Qualität haben wie die Begegnung mit einer lebendigen Blume als einem natürlichen Lebewesen. Eine solche Aussage ist
natürlich nicht zu ‘beweisen’, aber wer einen intimen Umgang mit Pflanzen und Blumen pflegt, vermag zu spüren, dass uns in der
rechten Begegnung mit diesen geheimnisvollen Wesen Kräfte zufliessen, die unsere Seele als ‘nährend’ erlebt. Unverbildete Kinder
haben für solche Zusammenhänge ein ganz natürliches Gespür und sind darum auch ansprechbar für das Bestreben der Lehrer, sich
intensiver auf die Welt des pflanzlichen Lebens einzulassen.
Als ‘elementar’ lassen sich somit Sachverhalte bezeichnen, die dem Kinde das Grundlegende des Komplexen sowie das Wesen des
Lebendigen erschliessen. In der Begegnung mit Elementarem liegt nährende Kraft für Seele und Geist. Diese Einsicht sollte als
allgemeine Richtschnur für die Gestaltung des Unterrichts in der Volksschule gelten.
Elementare Erlebnisse sind auch intensive Erfahrungen mit den ‘klassischen’ Elementen: Erde (Sand, Lehm), Wasser (Regen,
Schnee, Gewässer), Luft (Wind und Wetter) und Feuer. Dazu gehört aber auch das Erfahren der Landschaft durch Wandern, das
Erleben des Sternenhimmels, der Tages- und Jahreszeiten, der rhythmischen Gestaltung des Zeitlaufs durch Wochen, Monate, Jahre
und Feste. Elementar sind – nebst vielem andern, das hier nicht erwähnt ist – schliesslich auch das eigene Arbeiten und – dort wo
dies noch möglich ist – die Begegnung mit der durchschaubaren Arbeit von Handwerkern und Bauern. (Nochmals: Es geht nicht um
Nostalgie, nicht um Rückwendung, sondern ums Elementare.)
1. Bruno Bettelheims Buchtitel ‘Kinder brauchen Märchen’ ist berühmt geworden, und ich möchte diese Aussage gerne mit
Nachdruck unterstreichen. Märchen und entsprechend ausgewählte oder erfundene Geschichten sind, wie die Erfahrung immer
wieder lehrt, auch besonders für den Aufbau von moralischen Begriffen und religiösen Zusammenhängen geeignet. So kann
man z.B. das Wesentliche des Christentums als einer Erlösungs-Religion kaum besser und bildhafter in die Seelen der Kinder
einsenken, als dass man ihnen das Rotkäppchen erzählt. Auch abstrakte Begriffe wie Mut, Treue, Zuverlässigkeit, Tapferkeit,
Ehrlichkeit usf. lassen sich besonders gut durch das Erzählen entsprechender Geschichten ausbilden.
Es dürfte klar sein: Wir erzählen den Kindern Märchen nicht, weil sie diese ‘später einmal brauchen’ können, sondern weil ihr
Seelenleben sie jetzt nötig hat. Aber eben: In dem Masse, wie es uns gelingt, den Schülern die Gehalte der Märchen als
belebende innere Bilder mitzugeben, in dem Masse werden diese – aus dem Unbewussten heraus – in ihrem
Erwachsenendasein wirksam.
Selbstverständlich lässt sich die Beschäftigung mit Märchen mit eigentlich schulischen Lernzielen verbinden, aber selbst wenn
die Schüler dabei nicht sprechen, lesen, nacherzählen, zeichnen, dramatisieren lernen würden, wäre das blosse Anhören und
seelische Verarbeiten von Märchen für die gegenwärtige Existenz der Kinder wesentlich. Vielen Didaktikern scheint es zwar ein
Greuel zu sein, wenn ein Lehrer erzählt und Schüler schlicht zuhören, da die Schüler dabei angeblich in die Passivität gedrängt
würden. Ich teile diese Ansicht nicht, denn das richtige Zuhören – Worte in lebendige innere Bilder umsetzen – ist geistig-
seelische Aktivität, ganz abgesehen davon, dass ‘passiv sein’, d.h. etwas auf sich einwirken lassen, eine von zwei legitimen
Lebensmöglichkeiten darstellt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Gepflogenheit eingehen, die sich da und dort breit macht: Man glaubt in
besonderer Weise die Kreativität der Schüler zu fördern, indem man sie die Märchen verulken und beliebig bis zur
Unkenntlichkeit verformen lässt. Wer sich einmal etwas tiefer mit dem Gehalt der überlieferten Märchen befasst hat, wird spüren
können, dass es Dinge gibt, die man mit einer gewissen Behutsamkeit und Ehrfurcht in die Hände nehmen sollte.
2. Für ähnlich nährend wie Märchen – und natürlich andere gute Geschichten – halte ich die richtige Beschäftigung mit guten
Gedichten. Gedichte sollten eigentlich wie Lieder behandelt werden: Man spricht nicht einfach über sie, um zu wissen, was drin
steht und wie es gemacht ist, sondern man taucht emotional in die musikalische bzw. sprachliche Gestalt ein, man gestaltet mit
den Mitteln der Stimme und sprachlichen Artikulation und lernt es schliesslich auswendig, um frei darüber verfügen zu können.
Erst dann hat eine Verbindung von Mensch und Kunstwerk stattgefunden.
Meines Erachtens entspricht es nicht dem kindlichen Bedürfnis nach Ernährung von Seele und Geist, wenn man ein Gedicht,
statt es nachzuempfinden und nachzugestalten, bloss rational auf Distanz nimmt. Das sprachliche Kunstwerk verliert in der
Analyse zu einem guten Teil seine Funktion. Primär wurde es von einem ergriffenen Menschen geschaffen, um Mitmenschen in
seine Ergriffenheit hereinzuziehen. In der rationalen Analyse wird es zum blossen Exemplum einer Literaturgattung, einer
psychischen Verfassung, einer gesellschaftlichen Situation, eines literaturgeschichtlichen Augenblicks. Soll der Unterricht das
Innenleben der Schüler wirklich nähren, muss die Analyse immer im Dienste des Erlebens stehen, die Erlebnismöglichkeit
erhöhen. Ich denke, dass sich hier Saint-Exupéries Satz bewahrheitet: "Man sieht nur mit dem Herzen gut."
3. Von vielen Didaktikern in seinem hohen pädagogischen Wert erkannt und empfohlen, aber in der Praxis noch zu wenig
angewandt, ist das Theaterspiel. In der Verkörperung einer Rolle entwickelt das Kind das Wagnis, aus sich herauszutreten und
in eine andere (in ihm verborgene) Lebensmöglichkeit zu schlüpfen. Dabei übt es sich in der Gestaltung der Sprache, der
Bewegungen, Mimik und Gestik und setzt sich intensiv mit einem Sachproblem, einem Stück Welt auseinander. Die Gestaltung
von Kleidern und Requisiten bietet Ansatzmöglichkeiten für handwerkliche und ästhetische Erziehung. Wesentlich ist, dass die
Schüler alles als lustvolle, Freude bereitende Tätigkeit erleben, die ihre Seele und ihren Geist im Augenblick des Tuns ganz
erfüllt.
Viele Lehrer schwören darauf, die Texte von den Kindern spontan erfinden zu lassen, während andere mit festgeschriebenen
Rollen arbeiten. Ich halte es für falsch, diese beiden, je berechtigten Formen des Theaterspiels gegeneinander auszuspielen.
Man beginne mit dem, was einem liegt; man braucht ja auch nicht gerade ein Schiller zu sein, um zu aktuellen Sachthemen oder
entlang einer erarbeiteten Geschichte ein Kindertheater selbst zu schreiben. Das eigene Bemühen des Lehrers um etwas
Gefälliges und Brauchbares wirkt an sich schon nährend für die Schüler, immer vorausgesetzt, dass sie miteinander in einer
guten Beziehung stehen.
Musik
Als ein besonders hochwertiges ‘Nahrungsmittel’ für die Seele galt seit eh und je die Musik. Sie ist heute jedoch in einer solch
penetranten Weise allgegenwärtig, dass noch ein paar Worte darüber zu verlieren sind, unter welchen Umständen sie wirklich
nährend sein kann.
Zu unterscheiden ist vorerst zwischen Musik machen und Musik hören. Ganz gewiss gebührt dem eigenen Tun der Vorrang. Musik
machen beginnt natürlicherweise mit dem Singen. Lehrer, die mit ihren Schülern regelmässig (möglichst täglich) singen, legen zur
musikalischen Bildung einen wesentlichen Grundstein. Auch hier gilt: Man muss sich in die Welt des Kindes einlassen. Kinderlieder
tönen anders als lüpfige Schlager oder ... (Adjektiv bitte selber einsetzen) Rock-Songs. Sie sind einfach, elementar und kaum dem
Wechsel des Zeitgeschmacks unterworfen. Glücklicherweise sind heute auch die Möglichkeiten zum Erlernen eines Instruments so
reich, dass wohl kaum ein Kind auf diese Bildungsmöglichkeit verzichten muss, sofern in ihm der Wille zum Üben geweckt oder wach
gehalten werden kann. Wir Lehrer können die Instrumentallehrer in ihrer Arbeit wesentlich unterstützen, indem wir immer wieder
Gesang und Instrumentalspiel miteinander verbinden.
Das wirkliche Hören der Musik setzt die Stille als Normalzustand voraus. Wo tagelang Musik ‘läuft’ (ganz gleich welcher Art), kann von
wirklichem Hören nicht mehr gesprochen werden. Ich möchte hier auch nicht meine Überzeugung verschweigen, dass ich durchaus
nicht alles, was als Musik konsumiert werden kann, als gleichwertig hinsichtlich der seelisch-geistigen Ernährung des Kindes
betrachte. Ich bin hier genauso wie im Bereich der bildenden Kunst und der Literatur der Ansicht, dass es eine wesentliche
Entwicklungsaufgabe des Menschen ist, sensibler zu werden, um allmählich das Echte vom Unechten und das Tiefe vom
Oberflächlichen unterscheiden zu können. Ich weiss freilich auch, dass niemand den Kindern mehr ‘geben’ kann als das, was er
selbst erarbeitet hat.