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Das verdrängte Andere torischer Linien“ zu bezeichnen, wie frü­

here Versuche, den „Mythos Scelsi“ mit


Grazer Symposionsbeiträge zu Giacinto Scelsi einer plakativ aufklärerischen Haltung zu
entmystifizieren und zu normalisieren,
von Leopoldo Siano gezeigt haben.3 Im Willen zur histori­
Eine ernsthafte musikwissenschaftliche wendet werden sollten. Scelsi hat zwar schen „Normalisierung“ eines Künstlers
Rezeption des Werks von Giacinto Scelsi „improvisiert“, aber auch „komponiert“, steckt immer eine gewisse Tücke: das,
hat erst seit den achtziger Jahren im indem er mit Hilfe elektroakustischer was Nietzsche „Ressentiment“ (oder
deutschsprachigen Raum angefangen.1 Mittel Tonbandmontagen erstellt hat, um „Wille zur Gleichheit“) nannte. Nicht
Nachdem Aufsätze zur Musik Scelsis zu­ sie dann von seinen Mitarbeitern tran­ „Entmythisierung“ und „Entmystifizie­
letzt vor allem auf Italienisch und Fran­ skribieren zu lassen, während die Assis­ rung“ wären notwendig, sondern Klärung
zösisch erschienen sind,2 setzt der Sam­ tenten Scelsis zwar „transkribiert“ haben, dessen, was Begriffe wie „Mythos“ und
melband „Klang und Quelle“, der aus aber nicht nur. Vor allem bei den größer „Mystik“ in Bezug auf die Musik Scelsis
dem im Januar 2012 von der Kunstuni­ besetzten Werken fiel ihnen die Aufgabe eigentlich bedeuten. In der Absicht, diese
versität Graz veranstalteten Symposion zu, die „akustischen Skizzen“ in sorgfäl­ Musik zu „normalisieren“ (lies: „anästhe­
„Giacinto Scelsi heute: Ästhetik und tig notierte Partituren umzusetzen und tisieren“), zeigt sich die unbewusste
kompositorischer Prozess“ hervorgegan­ weiterzuentwickeln. Angst vor ihrem geistigen Inhalt.
gen ist, den Faden der Scelsi-Studien in Dank der Veröffentlichung der Ton­ Im grundsätzlichen Beitrag, der den
deutscher Sprache wieder auf. Nach der bänder konnte auch Christian Utz sein Band eröffnet, betont Federico Celestini,
Veröffentlichung der Übersetzung der theoretisches Konzept zur Interaktion dass die analytische Auseinandersetzung
Schriften Scelsis im letzten Jahr („Die von auditiver Echtzeitwahrnehmung und mit Scelsis Musik „Probleme sichtbar
Magie des Klangs“, MusikTexte, Köln Formimagination in Scelsis Musik entwi­ werden“ lässt, „die nicht nur diese betref­
2013) stellt dieser Band einen weiteren ckeln, das allerdings – trotz seiner Origi­ fen“, und dass Scelsis Werk „die westli­
Beitrag zur Scelsi-Forschung dar, wobei nalität und ihrer möglichen Nützlichkeit che Musikwissenschaft vor die Wieder­
er deren aktuelle Haupttendenzen treu für die Aufführungspraxis – von einem kehr des Verdrängten“ stellt (28). Hier
widerspiegelt. für das Thema weniger geeigneten philo­ wird das Verdrängte im Sinne Sigmund
Der Titel „Klang und Quelle“ deutet die sophischen Jargon belastet ist. Freuds als das Unheimliche (das ver­
zentralen Themen des Symposions be­ Während im kurzen Beitrag von Ales­ traute und später vergessene Altbe­
reits an. Für den italienischen Komponis­ sandra Carlotta Pellegrini über einige kannte) gedeutet: Dieses Verdrängte wäre
ten war die direkte Arbeit mit dem Klang „musikalische Schätze“ beziehungsweise die „Klanglichkeit“ und ferner das „An­
„an sich“, in den verschiedenen Beiträgen Scelsis unveröffentlichte Werke, die im dere“. Die Musik Scelsis stellt in der Tat
auch als „Präsenz“ beziehungsweise als römischen Archiv aufbewahrt sind, be­ eine Herausforderung dar. Sie konfron­
primäre ästhetische Erfahrung bezeich­ richtet wird, beschäftigt sich Johannes tiert den Hörer unmittelbar mit dem
net, essentiell. Das Wort „Quelle“ ist hier Menke mit der Analyse der Satztechnik Klang, mit der prima materia nicht nur
sowohl als „Inspirationsquelle“ (die Be­ in Scelsis Vokalkompositionen, indem er der Musik, sondern – aus der Perspektive
ziehungen Scelsis zum Orient und zur provokativ vom „Scelsianischen [richtig Scelsis – der gesamten Schöpfung (in sei­
Theosophie) als auch konkret, im philolo­ wäre: Scelsischen] Kontrapunkt“ spricht ner analytischen Betrachtung von „Xnoy­
gischen Sinn, zu verstehen: Wichtiger und die gewagte These aufstellt, dass bis“ stellt Sandro Marrocu dazu einen in­
Gegenstand des Symposions waren die Scelsi sich bewusst mit der Krise des teressanten Zusammenhang mit den
Tonbänder mit Scelsis Improvisatio­nen, Kontrapunkts beschäftigt hat, wobei er klangkosmogonischen Gedanken des
die bis zur Eröffnung des römischen „dessen elementare Grundlagen themati­ Musikethnologen Marius Schneider her).
Scelsi-Archivs im Jahr 2009 der Wissen­ sierte und dabei zu ganz unterschiedli­ Celestini schreibt mit Recht, dass „eine
schaft unzugänglich waren. chen Lösungen“ gelangte, „deren bekann­ sinnvolle Kontextualisierung von Scelsis
„Die Musik Scelsis existiert. Sie ist, teste, aber sicher nicht interessanteste die Werk die Grenzen der westlichen Musik­
und sie ist so wie sie ist – weil sie so ent­ Totalverweigerung durch Reduktion auf kulturen überschreiten sollte. […] Wenn
standen ist, wie sie gemacht wurde“ einen Ton […] geworden ist“ (107). man bedenkt, wie oft und offen Scelsi
(178), stellt der Komponist Georg Fried­ Ein weiterer Schwerpunkt des Sympo­ sein Interesse für außereuropäische Mu­
rich Haas zu Recht in seinem perspektiv­ sions war der historischen Verortung der sikkulturen bekundet hat, ist zweifellos
reichen Aufsatz über Scelsis Arbeitsme­ Musik Scelsis gewidmet: mit erhellenden überraschend, dass diese bei den Versu­
thode fest. Eine der aktuellen Hauptfra­ Beiträgen über die Beziehungen Scelsis chen, Scelsis Musik zu kontextualisieren,
gen für die Forscher ist das Verhältnis zur Zweiten Wiener Schule (Elfriede erst spät und gewissermaßen zögerlich
zwischen Tonbändern und Partituren. In Reissig) und zur italienischen Improvisa­ berücksichtigt worden sind“ (18–20). Das
dieser Erforschung hat sich insbesondere tionsgruppe Nuova Consonanza (Ingrid Hören dieser „anderen“ Musiken eröffnet
der Komponist und Scelsi-Experte Fried­ Pustijanac) sowie zu anderen Richtungen eine wesentlich andere Hörerfahrung als
rich Jaecker ausgezeichnet, der nach des zwanzigsten Jahrhunderts (Markus das Hören eines „Werks“ im abendländi­
mehreren einschlägigen Publikationen Bandur). Historische Verortungen lassen schen Sinn. Bedauerlicherweise sind west­
hier einen weiteren bedeutsamen Essay sich immer (er)finden (das ist übrigens liche Musikwissenschaftler mit den Mu­
zum Verständnis des Kompositionspro­ die kreative Aufgabe des Geschichts­ siktraditionen der Welt oft wenig ver­
zesses der Werke Scelsis vorgelegt hat. schreibers); jeder Versuch einer Kontex­ traut. Hier macht sich die – zunehmend
Jaecker weist darauf hin, dass hinsicht­ tualisierung Scelsis in der abendländi­ obsolet gewordene – strenge Trennung
lich der Entstehung dieser Werke die Be­ schen Musikgeschichte bleibt jedoch pro­ zwischen historischer Musikwissenschaft
griffe „Improvisation“ und „Transkrip­ blematisch. Zweifellos ist es nicht ange­ und Musikethnologie als Resultat eines
tion“ lediglich in Anführungszeichen ver­ bracht, Scelsis Musik als „Treffpunkt his­ beschränkenden Spezialistentums, be­

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sonders bemerkbar.
Leider haben die spärlichen Versuche,
die Musik Scelsis in Verbindung mit asia­
tischen Musiktraditionen und Philoso­
phien zu bringen, bisher wenig Erfolg ge­
habt (allein der Beitrag des Musikethno­
logen Giovanni Giuriati hat im Januar
2006 bei einem Symposion in Palermo
ins Schwarze getroffen 4). Auch der infor­
mative Aufsatz von Ursula Baatz über die
Asien-Rezeption Scelsis geht kaum über
die Auflistung von Scelsis außereuropäi­
schen Inspirationsquellen hinaus, ohne
daraus Konsequenzen zu ziehen.
Die Auseinandersetzung mit östlichen
Musiktraditionen erfordert nicht zuletzt
ein gründliches Studium ihrer geistigen
Hintergründe. In den meisten Fällen han­
delt es sich dabei um zeremonielle oder
kultische Musik. Wenn man die Klang­
lichkeit als „Träger des Seelischen“ ver­
steht, lässt sich konsequenterweise fol­
gern, dass das Seelische das eigentliche
„Verdrängte“ in der westlichen Musik –
und Musikwissenschaft – darstellt, das
durch das Werk Scelsis auf ungestüme
Weise wiederkehrt und neu erfahrbar
wird.
Klang und Quelle. Ästhetische Dimension und
kompositorischer Prozess bei Giacinto Scelsi,
herausgegeben von Federico Celestini und El­
friede Reissig, Wien/Berlin: Lit Verlag, 2014.

Anmerkungen
1 Vergleiche Giacinto Scelsi (= Musik-Kon­
zepte 31), herausgegeben von Heinz-Klaus
Metzger und Rainer Riehn, München: text
+ kritik, 1983; siehe auch: Giacinto Scelsi:
Im Innern des Tons. Symposionsberichte
des Musikfestes Hamburg, herausgeben von
Klaus Angermann, Hofheim: Wolke Verlag,
1992.
2 Giacinto Scelsi aujourd’hui. Actes des jour­
nées européennes d’études musicales con­
sacrées à Giacinto Scelsi (1905–1988). Paris,
Cdmc, 1–18 janvier 2005, herausgegeben
von Pierre-Albert Castanet, Paris: Centre de
documentation de la musique contemporai­
ne, 2008; Giacinto Scelsi nel centenario del­
la nascita. Atti die Convegni Internazionali.
Roma, 9–10 dicembre 2005; Palermo, 16
gennaio 2006, herausgegeben von Daniela
M. Tortora, Roma: Aracne, 2008.
3 Vergleiche Giacinto Scelsi: Im Innern des
Tons, vergleiche Anmerkung 1, 12.
4 Vergleiche Giovanni Giuriati, Suono, improv­
visazione, trascrizione, autorialità, Oriente,
… e Scelsi. Alcune riflessioni di un etno­
musicologo, in: Giacinto Scelsi nel centena­
rio della nascita, vergleiche Anmerkung 2,
263–279.

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