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13/07/2021 Nietzsche Source — Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB)

Digitale Kritische Gesamtausgabe (eKGWB)

Ein Neujahrswort an den Herausgeber der


Wochenschrift
„Im neuen Reich“.

[1]

Herrn A l f r e d D o v e ist das Unglück widerfahren, in einem stelzbeinig


geschriebenen und in jedem Betracht Befürchtungen erregenden „Neujahrsworte an die
deutsche Geistesarbeit“ zuletzt wahrhaft schmählich auszugleiten und fallend in
folgenden Tönen zu explodiren:

„Da muss man nun von dem vergangenen Jahre anmerken, dass es auch
hier wieder wirksame Mahnungen hervorgebracht: seinen Fachgenossen hat der
namhafte Physiker Zöllner in einem freilich im Gesammteindrucke
wunderlichen Buche, das aus Astronomie, Erkenntnisstheorie und ethischer
Lehre zusammengemischt ist, vom reinsten Eifer getrieben eine ernste
Busspredigt zur Einkehr in sich selbst und zur Rückkehr in die alte Einfalt ihrer
Sitten gehalten. Bitterer, ja grausam scharf hat der Münchener Arzt Puschmann
kürzlich Richard Wagner’s Grössenwahnsinn theoretisch nachzuweisen und zu
zergliedern versucht, zu verwegen offenbar für ein menschliches Gericht über
den Lebendigen, doch darf man sagen, dass er den Schuldigsten
herausgegriffen. Beide Bücher, so manchen unheilvollen Anstoss sie gegeben,
sind um ihrer warnenden Kraft willen entschieden hochzuhalten; keineswegs
werden sie ohne nützliche Wirkung bleiben.“

Zuerst drücken wir unser ernstes Bedauern aus, dass der edle Name Zöllner’s durch
die unbefugtesten Hände in eine so widerliche Gemeinschaft gezogen ist. Dann aber
bleibt uns nur übrig, in Erstaunen und immer neues Erstaunen auszubrechen. Wie?
Sollte nicht der Redacteur Dove, oder mindestens sein von ihm bedachter Leserkreis, ein
Unicum, ein erstaunliches Unicum sein? Kein anderer Redacteur, auch der
bedenklichste und verderbteste nicht, hat es gewagt, seinen Geschmack an Puschmann
so frei und so pathetisch zu bekennen, offenbar in dem Glauben, dass dies wider den
Anstand sein würde. Zu welcher Sorte von Publicum condescendirt also Herr Dove mit
seinem „freien“ Pathos? Zu den Lesern des „Neuen Reichs“: innerhalb der vier Wände
dieses „Neuen Reichs“, wenn Redacteur und Leser unter sich sind, ergötzt man sich, wie
es scheint, an solchen Freiheiten —, anderwärts würden sie nur indigniren oder Ekel

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erregen. Selbst der eigentliche Gründer i n s c a n d a l o s i s , Paul Lindau, hat ein
vielleicht ähnliches Gelüst nur indirect zu verrathen vermocht, dadurch dass er jenen
bewährten Skandal-Puschmann unter die Liste seiner Skandal-Mitarbeiter aufnahm. Zur
Entschuldigung dürfte man sogar hier noch sagen, dass hier ein Bedürfniss vorlag. Die
„Gegenwart“ bedarf Puschmann’s — das Gründerthum auf den Skandal hat seine
Bedürfnisse; Verzeihung dem Bedürfnisse! Aber so ohne Bedürfniss, in der Manier
Alfred Dove’s, Puschmann „anzugreifen“, Puschmann öffentlich die Hände zu schütteln
— ist das möglich, wenn es doch nicht nöthig war? Welcher „Seelenarzt“ kann hier
Auskunft geben? Oder war es doch nöthig? Welchen Zwang übten vielleicht jene Leser
auf den impressionabeln Alfred Dove aus? — Inzwischen, bevor diese gar nicht
rhetorisch gemeinten Fragen beantwortet sind, gratuliren wir dem Münchener
„Specialisten für Psychiatrie“ zu diesem neuen Kameraden Alfred Dove, der sich ja in
jenem Neujahrswort ebenfalls als Heilkünstler und Specialist gebärdet. Mögen sie
zusammen wachsen und gedeihen, Puschmann und Dove, Dove und Puschmann, p a r
n o b i l e f r a t r u m ! Mögen sie besonders, wie wir Beiden zum Neujahr wünschen,
sich baldigst mit einander, zu gegenseitiger Förderung, über die wirksamsten
Geheimmittelchen, durch wissenschaftlich klingende Marktschreierei sich (oder ihr
bedrucktes Blatt Papier) in Umlauf zu bringen, recht intim verständigen. Gewisslich wird
der so feierlich angeredete Geist Puschmann’s nicht umsonst beschworen sein; fürderhin
wird er Herrn Alfred Dove in der beschwerlichen Aufgabe unterstützen müssen, den
unnatürlichen Geschmacksgelüsten der Leser des „Neuen Reiches“ psychiatrisch in
befriedigender Weise beizukommen.

Prof. Dr. Friedrich Nietzsche

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