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ÖSTERREICHISCHE MUSIKZEITSCHRIFT

die die Persönlichkeit des A u s f ü h r e n d e n f ü r überflüssig, ja störend hält u n d


auf diese Weise die alleinige u n d allen Wünschen des Komponisten entsprechende
I n t e r p r e t a t i o n zu f i n d e n h o f f t . Als Schlagworte dienen der ersten P a r t e i : „ge-
fühlsbetont", „wie ein M a l e r " , „schöpferische Reproduktion", „persönliche
Faszination"; der zweiten: „Sachlichkeit", „Demut", „wie ein Photograph",
„ W e r k t r e u e " . Beiden ist zweierlei gemeinsam: d a ß sie sich auf ein starres,
doktrinäres E n t w e d e r - O d e r versteifen, u n d (in den meisten Fällen) ein be-
dauernswerter Mangel a n Praxis. Beide haben aber wieder teilweise recht:
Die persönliche U b e r z e u g u n g s k r a f t ist jedenfalls f ü r den Künstler unerläßlich,
ebenso bedeutet aber die W e r k t r e u e heute eine verpflichtende Forderung. D a ß
die Persönlichkeit u n d alles, was damit angeblich zusammenhängt, v o n der
ersten Partei gutgeheißen, von der zweiten dagegen v e r w o r f e n w i r d , ist dem
D e n k f e h l e r zuzuschreiben, dem beide verfallen sind, nämlich: d a ß die Per-
sönlichkeit n u r im Dienste ihrer selbst stehen könne.

Beethovensonaten k a n n u n d darf m a n nicht v e r ä n d e r n ; sie sind konstant,


u n d die Persönlichkeiten der Interpreten sind in W a h r h e i t die veränderlichen
G r ö ß e n , deren jede sich aus einer anderen Richtung dem Ziele n ä h e r n m u ß .
In diesem K a m p f e ist die Werkliebe der Antrieb, die Persönlichkeit das Mittel
u n d die w a h r e W e r k t r e u e das Ziel. M i t anderen W o r t e n : Diejenigen, die glau-
ben, große eigene Persönlichkeit f ü h r é v o m W e r k weg, sind im U n r e c h t , mögen
sie nun diesen V o r g a n g billigen oder ablehnen. Gerade die Persönlichkeit ist
ja dasjenige, was allein zur w a h r e n W e r k t r e u e f ü h r e n k a n n . Je größer jene ist,
desto eher w i r d sie sich das W e r k einverleiben können? N e i n ! Desto eher w i r d
sie w ü r d i g sein, v o m W e r k aufgenommen u n d besessen zu werden. Es gibt also
eine erstrebenswerte, aber unerreichbare Idealinterpretation. Die Verschiedenheit
der „Versionen" ein und desselben Werkes erklären sich daraus, d a ß die betref-
f e n d e n Interpreten auf dem Wege zur Werktreue verschieden weit vorge-
schritten sind. Möge uns diese letzte Feststellung ein A n s p o r n sein, auf diesem
P f a d e weiterzugehen, selbst w e n n wir wissen, d a ß er niemals enden wird.

Hans Swarowsky, Wien

WAHRUNG DER GESTALT


Zur Bildung einer Stilkommission in der Akademie für Musik

Die hohe Einsicht in das Kunstwollen der verschiedenen Kulturepochen,


die uns die Kunsthistoriker (und insbesondere die der Wiener Schule) e r ö f f n e t
haben, hat die Kunstgeschichte längst z u r f ü h r e n d e n Disziplin auf dem Sektor
der Kulturgeschichte gemacht. Grundlegende Erkenntnisse sind ihr zu
danken. Demgegenüber besteht ein großer Prozentsatz dessen, was über Musik

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