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Kardiologe 2011 · 5:443–457 J. Leick1 · J. Vollert2 · M. Möckel2 · P. Radke3 · Task Force „Patientenpfade“ der
DOI 10.1007/s12181-011-0378-3 Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- Kreislaufforschung · C. Hamm1, 4
Online publiziert: 9. September 2011 1 Abteilung Kardiologie, Herz- und Thoraxzentrum,
© Springer-Verlag 2011
Kerckhoff-Klinik GmbH, Bad Nauheim
2 Medizinische Klinik m. S. Kardiologie, Charité – Universitätsmedizin
Task Force „Patientenpfade“ der Kommis- Patienten, die sich in einer Notaufnah- nostische Vorgehensweise bei Patienten
sion für Klinische Kardiologie der DGK me mit dem Symptom des akuten Brust- mit akutem Brustschmerz [5, 6, 7, 8, 9, 10,
(Leitung: P. Radke und M. Möckel) schmerzes vorstellen, ein akutes Koronar- 11]. Die Umsetzung dieser Leitlinien ge-
C. Bode1, A. Elsässer2, C. Hamm3,8, M. Haude4, syndrom (ACS) diagnostiziert. Das klini- staltet sich im klinischen Alltag nicht im-
J. Leick3, T. Lickfeld4, M. Möckel5, M. Moser1, sche Spektrum umfasst den ST-Strecken- mer einfach. Da jedoch eine hohe Leitli-
P. Radke6, V. Schächinger7, H. Schunkert6, hebungsinfarkt (STEMI) sowie das ACS nienadhärenz mit einem verbesserten kli-
T. Trepels7, J. Vollert5, S. Wolfrum6 ohne ST-Elevation (NSTE-ACS). Das nischen Ergebnis der Patienten verbun-
1Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung In-
NSTE-ACS beinhaltet die instabile Angi- den ist, sollten die formulierten Empfeh-
nere Medizin III Kardiologie und Angiologie, na pectoris und den Nicht-ST-Hebungs- lungen in konkrete Handlungsanweisun-
Freiburg
2Klinikum Oldenburg gGmbH, Integriertes infarkt (NSTEMI) mit Freisetzung myo- gen übersetzt werden. Die in den Leitli-
Herzzentrum, Klinik für Kardiologie kardialer Nekrosemarker. Bis zu 5% der nien geltenden Empfehlungen wurden be-
3Kerckhoff-Klinik, Herz- und Thoraxzentrum, Patienten erfüllen die Diagnosekriterien reits zum Teil in den bisher publizierten
Bad Nauheim eines STEMI. Weiterhin konnte bei bis Arbeiten der Task Force „Patientenpfa-
4Städtische Kliniken Neuss – Lukaskranken-
zu 25% der Patienten mit akuten Thorax- de“ durch prozessorientierte, anwender-
haus – GmbH, Medizinische Klinik I, Neuss
5Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow- schmerzen im Verlauf die Diagnose eines freundliche Schemata in Form von „stan-
Klinikum, Arbeitsbereich Notfallmedizin und NSTEMI gestellt werden. Andererseits be- dard operating procedures (SOPs) darge-
Medizinische Klinik m. S. Kardiologie, Berlin steht das Risiko, mehr als 2% der ACS in stellt [12, 13, 14, 15, 16]. Ein erklärtes Ziel
6Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, der Notaufnahme nicht zu erkennen. Dies der Task Force „Patientenpfade“ ist es,
Campus Lübeck, Medizinische Klinik II führt zu einer Erhöhung des Letalitätsri- neben einer Erstellung von etablierten Pa-
7Klinikum Fulda gAG, Medizinische Klinik I,
sikos um den Faktor 2 und somit zu einer tientenpfaden, die von den Kliniken ent-
Fulda
8Zentrum Innere Medizin, Abteilung Kardio- potenziellen vitalen Gefährdung dieser sprechend der bestehenden Infrastruktur
logie, Universitätsklinikum Gießen Patienten [4]. Der akute Thoraxschmerz sowie personellen und inhaltlichen Vor-
kann ebenso Ausdruck anderer vital be- aussetzungen modifiziert, adaptiert und
drohlicher Erkrankungen, wie z. B. der aktualisiert werden können, eine Anbin-
Aortendissektion oder der Lungenarte- dung an Klinikinformationssysteme zu
Der akute Brustschmerz zählt sowohl in rienembolie, sein. Somit stellt es eine He- erreichen. Dies hat zum Vorteil, dass ein-
der ambulanten Patientenversorgung als rausforderung für den klinisch tätigen zelne Prozessschritte auch hinsichtlich
auch in der Notaufnahme zu einem der Arzt dar, die Patienten zu identifizieren, einer Qualitätskontrolle mess- und aus-
häufigsten Gründe einer ärztlichen Kon- die einer sofortigen weiterführenden Dia- wertbar werden [12].
sultation. Jährlich suchen 1,5% der All- gnostik und Behandlung zugeführt wer- In der vorliegenden Arbeit wird eine
gemeinbevölkerung ärztliche Hilfe auf- den müssen. prozessorientierte Darstellung des ersten
grund des Symptoms Brustschmerz auf. Die Leitlinien der nationalen und medizinischen Kontaktes (EMK) bei sta-
Die Mehrheit dieser Patienten leidet nicht internationalen Gesellschaften formulie- bilen Patienten mit Brustschmerz in Form
an einer lebensbedrohlichen Erkrankung ren diesbezüglich auf Basis der bestehen- einer erweiterten ereignisgesteuerten Pro-
[1, 2, 3]. Jedoch wird bei ca. 20–30% aller den Evidenz Empfehlungen für die diag- zesskette (eEPK) abgebildet. Im Rahmen
^
2 6 10 14
SOP: SOP:
SOP: SOP: Fokussierte Vitalparameter
körperliche
EKG Anamnese Untersuchung bei und
Brustschmerz Basismaßnahmen
3 7 11 15
5 9 13 17
Ärztliche Anamnese körperliche Basismaßnahmen verantwortliche
verantwortliche EKG anfertigen verantwortliche verantwortliche
Organisations- erheben Untersuchung durchführen Organisations-
Organisations- Organisations-
einheit einheit durchführen einheit einheit
4 8 12 16
18 20 21 22 23
Patient mit Patient mit Patient nach Patient mit
Patient mit EKG-
Verdacht auf erhobener ärztlicher körperlicher durchgeführten
Untersuchung
STEMI Anamnese Untersuchung Basismaßnahmen
liegt vor
liegt vor liegt vor liegt vor liegt vor
^
19 27
verantwortliche
Algorithmus Organisations-
Verdacht auf einheit
STEMI 24 25
SOP:
klinische
Klinische Erst-
Einschätzung 26
einschätzung und
durchführen
Risikostratifizierung
Information
XOR
28 33
29 Patient mit Patient mit
SOP: Brustschmerz ohne Verdacht auf
Hinweis auf ACS NSTE-ACS
Kriterien einer liegt vor liegt vor
vitalen Bedrohung
30
32
verantwortliche Vital bedrohliche
Organisations- Differential- 34
einheit diagnosen prüfen Algorithmus
Verdacht auf
NSTE-ACS
31
Information
XOR
35 42
Verdacht auf eine 36 Verdacht auf eine 43
vitalbedrohliche vitalbedrohliche SOP:
Erkrankung liegt Erkrankung liegt DD Lungenembolie
nicht vor Information vor
SOP:
DD Aortendissektion
37 44
39 46
Verdacht verantwortliche Verdacht verantwortliche
Organisations- konkretisieren Organisations-
konkretisieren einheit einheit
38 45
Information Information
^
47 49 51 53
V.a. andere V.a. andere
V.a. Lungen- V.a. Aorten- vitalbedrohliche vitalbedrohliche
XOR dissektion liegt vor nicht kardiovasku-
embolie liegt vor kardiovaskuläre
Erkrankung läre Erkrankung
liegt vor liegt vor
40 41 48 50 52 54
Sonstige Sonstige Sonstige Sonstige
Maßnahmen: Maßnahmen: Algorithmus Algorithmus Maßnahmen Maßnahmen
stationäre ambulante Verdacht auf Verdacht auf planen, planen,
Behandlung Behandlung Lungenembolie Aortendissektion Verlegung, ITS
Verlegung, ITS
Abb. 1 8 Erweiterte Ereignisprozesskette (eEPK) zum Vorgehen bei Patienten mit Brustschmerz
Klinische Ersteinschätzung
bei einem stabilen Patienten
mit Brustschmerz
Fokussierte körperliche
Untersuchung (eEPK
Feld 11, SOP . Abb. 4)
Im Vordergrund der fokussierten körper-
lichen Untersuchung steht der Ausschluss
nichtkardialer Ursachen (. Abb. 4). Sie
liefert zusätzlich entscheidende Informa-
tionen zur Risikobewertung. Patienten
mit einer unmittelbar vital bedrohlichen
Ursache der thorakalen Schmerzen fallen
häufig durch Unruhe, ausgeprägte Angst,
Kaltschweißigkeit sowie Dyspnoe auf.
Es ist wichtig, eine Systematik in der
Untersuchung zu entwickeln. Sie sollte
mit dem Thorax beginnen, sich über das
Abdomen sowie die Beurteilung der Ex-
tremitäten fortsetzen und abschließend
einen orientierenden neurologischen Abb. 4 8 Checkliste SOP zur fokussierten körperlichen Untersuchung bei Patienten mit Brustschmerz
Untersuchungsstatus beinhalten. Die
Untersuchung des Thorax zielt darauf ab,
Zeichen einer Instabilität oder eines Trau- schall hinweisend auf einen Pleuraerguss. tenvergleichende Beurteilung von Quali-
mas zu identifizieren. In der Auskultation Die Bestimmung der Atemfrequenz, eine tät und Intensität ab. Ein Pulsdefizit kann
des Herzens sind die Herztöne zu beurtei- mögliche Seitendifferenz der Atemexkur- hinweisend auf eine Aortendissektion
len und Herzgeräusche zu identifizieren. sion sowie der Einsatz der Atemhilfsmus- sein. Abschließend sollten zusätzlich zu
So kann eine akute Mitralklappeninsuffi- kulatur liefern klinische Hinweise über einer Untersuchung von Kopf und Hals
zienz auf dem Boden einer Papillarmus- das Atemmuster und die Atemmechanik. im orientierenden neurologischen Status
keldysfunktion im Rahmen eines akuten Da sich ein ACS auch mit epigastrischen neben der Vigilanz (z. B. durch die Glas-
Myokardinfarktes als neu aufgetretenes Beschwerden äußern kann, sollte zu wei- gow Coma Scale) die grobe Kraft, Sensibi-
Systolikum imponieren. Die Auskulta- teren differenzialdiagnostischen Überle- lität, Sprache und Hirnnerven untersucht
tion der Lunge beinhaltet die Beurteilung gungen auch die Palpation und Auskul- werden.
der Qualität und Intensität der Atemge- tation des Abdomens erfolgen. Hier ist
räusche. Die Identifizierung von etwai- auf eine mögliche Abwehrspannung so- Erhebung der Vitalparameter
gen Nebengeräuschen kann wertvolle In- wie Schmerzlokalisation zu achten. In und Durchführung von
formationen über die Ätiologie des Brust- der Untersuchung der Extremitäten kön- Basismaßnahmen (eEPK
schmerzes liefern. Inspiratorisch auftre- nen Zeichen einer kardialen Dekompen- Feld 15, SOP . Abb. 5)
tende, feuchte Rasselgeräusche können sation oder einer tiefen Beinvenenthrom- Die Überprüfung der Vitalparameter ist
als Zeichen einer Linksherzinsuffizienz bose dem Untersucher weitere Hinweise im Rahmen des EMK innerhalb der ers-
gewertet werden. In der Perkussion des zur Symptomursache liefern. Die Über- ten 10 min durchzuführen. In Abhängig-
Thorax ist ein basal gedämpfter Klopf- prüfung des Pulsstatus zielt auf eine sei- keit von der klinischen Situation und den
Differenzialdiagnostisches
Vorgehen bei einem Patienten
mit Brustschmerz ohne
klinische Hinweise auf ein
akutes Koronarsyndrom
Der Kardiologe 6 · 2011 | 457