Martin Luther
[WA 1, 224–228]
glauben.
50. Kurz, der ganze Aristoteles verhält sich zur
Theologie wie die Finsternis zum Licht. (Gegen die
Scholastiker.)
51. Es ist stark zu bezweifeln, ob das rechte Ver-
ständnis des Aristoteles bei den Lateinern ist.
52. Es wäre besser für die Kirche gewesen, wenn
Porphyrius mit seinen »Universalien«5 den Theolo-
gen nie geboren worden wäre.
53. Die gebräuchlicheren Erklärungen des Aristote-
les scheinen das als bewiesen vorauszusetzen, was sie
erst beweisen sollten.
54. Zu einer verdienstlichen Handlung ist entweder
das Vorhandensein der Gnade genügend, oder dieses
Mitvorhandensein bedeutet nichts. (Gegen Gabriel
Biel.)
55. Die Gnade Gottes ist niemals so mit da, daß sie
müßig ist, sondern sie ist ein lebendiger, geschäftiger
und wirkender Geist.
Es kann selbst durch Gottes unumschränkte Voll-
macht nicht geschehen, daß es eine Handlung der
Freundschaft gibt und die Gnade Gottes nicht dabei
ist. (Gegen Gabriel Biel.)
56. Gott kann keinen Menschen ohne die rechtferti-
gende Gnade Gottes annehmen. (Gegen Occam.)6
57. Gefährlich ist es zu sagen: das Gesetz gebietet,
daß die Erfüllung des Gebotes in der Gnade Gottes
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
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Gnade fehlt.
78. Der Wille, der dem Gesetz ohne die Gnade
Gottes zugekehrt ist, ist es nur mit Rücksicht auf den
eigenen Vorteil.
79. Verflucht sind alle, die Werke des Gesetzes
wirken.
80. Gesegnet sind alle, die Werke der Gnade Got-
tes wirken.
81. Das Kapitel »Falsas poenitentias«7 bestätigt,
daß Werke außerhalb der Gnade nicht gut sind –
wenn es nicht falsch verstanden wird.
82. Nicht nur das Zeremonialgesetz ist ein Gesetz,
das nicht gut ist und Gebote, durch die man nicht das
Leben haben kann, (Gegen viele Lehrer.)
83. sondern auch die Zehn Gebote selbst und alles,
was innerlich und äußerlich gelehrt und vorgeschrie-
ben werden kann.
84. Das gute Gesetz, d.h. dasjenige, durch das man
das Leben hat, ist die Liebe Gottes, die »ausgegossen
ist durch den heiligen Geist in unsere Herzen« (Röm.
5,5).
85. Der Wille jedes Menschen wollte, wenn es
möglich wäre, lieber, daß es kein Gesetz gäbe und er
ganz frei wäre.
86. Der Wille jedes Menschen haßt es, daß ihm ein
Gesetz auferlegt wird, oder er wünscht nur aus Eigen-
liebe, daß es ihm auferlegt wird.
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87. Wenn das Gesetz gut ist, kann der Wille, der
ihm feind ist, nicht gut sein.
88. Und daraus geht klar hervor, daß jeder natürli-
che Wille ungerecht und böse ist.
89. Als Mittlerin ist die Gnade notwendig, die das
Gesetz mit dem Willen versöhnen soll.
90. Die Gnade Gottes wird gegeben, um den Wil-
len zu leiten, daß er nicht auch in der Liebe zu Gott
irre. (Gegen Gabriel Biel.)
91. Sie wird nicht gegeben, um häufiger und leich-
ter Handlungen (der Liebe) zuwege zu bringen, son-
dern weil ohne sie gar keine Handlung der Liebe zu-
wege gebracht wird. (Gegen Gabriel Biel.)
92. Der Beweis ist unwiderleglich, daß die Liebe
überflüssig wäre, wenn der Mensch von Natur aus
eine Handlung der Freundschaft zu tun vermöchte.
(Gegen Gabriel Biel.)
93. Es ist scharfsinnig, aber böse zu sagen, Genuß
und Gebrauch seien ein und dieselbe Handlung.
(Gegen Occam, Pierre d'Ailly und Gabriel Biel.) 94.
Desgleichen (wenn man sagt), daß die Liebe zu Gott
bei einer auch noch so heftigen Liebe zur Kreatur be-
stehen könne.
95. Gott lieben heißt sich selbst hassen und außer
Gott nichts wissen.
96. Wir sind gehalten, unser Wollen ganz dem
Willen Gottes gleichförmig zu machen. (Gegen Pi-
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erre d'Ailly.)
97. Wir sollen nicht nur das (wollen), was Gott uns
wollen will, sondern wir müssen überhaupt alles wol-
len, was Gott auch immer will.
Damit wollen wir nichts sagen und glauben auch
nichts gesagt zu haben, was der katholischen Kirche
und den Kirchenlehrern nicht entspräche.
Editorische Bemerkung
Anmerkungen
war.
5 Der Universalienstreit des Mittelalters geht zurück
auf die Übersetzung der Einleitung des Porphyrius
(neuplatonischer Philosoph des 3. Jh.) zu den logi-
schen Schriften des Aristoteles durch Boethius (†
535). Jahrhundertelang ging im Mittelalter der Streit
darüber zwischen den scholastischen Schulen hin und
her, ob die Gattungsbegriffe (universalia) ante rem
(platonischer Realismus), in re (aristotelischer Realis-
mus) oder post rem (Nominalismus) seien, d.h. ob sie
gesondert von den sinnlich wahrnehmbaren Objekten
real existierten, oder in ihnen ihr Dasein hätten, oder
nur Abstraktionen des menschlichen Denkens seien.
6 Wilhelm von Ockham (um 1285-1349), Begründer
des Nominalismus des 14./15. Jahrhunderts, Schul-
haupt der »via moderna«, die Luthers theologische
Ausbildung in Erfurt bestimmte.
7 Das geht auf das Decretum Gratiani, pars III (de
poenitentia), dist. 5 cap. 6 (»Falsas poenitentias dici-
mus«). Friedberg I, 1241.