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5044 Erster Sonntag im Advent. Matth.

21, 1-9 1

Martin Luther

Erster Sonntag im Advent


Matth. 21, 1-9

[HP 1–3;
WA 36, 375–379]

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Da sie nun nahe an Jerusalem kamen, nach Beth-


phage an den Ölberg, sandte Jesus seiner Jünger
zwei und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken,
der vor euch liegt, und alsbald werdet ihr eine Ese-
lin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; bindet
sie los und führet sie zu mir! Und wenn euch jemand
etwas wird sagen, so sprecht: Der Herr bedarf
ihrer. Alsbald wird er sie euch lassen. Das geschah
aber, auf daß erfüllt würde, was gesagt ist durch
den Propheten, der da spricht: »Saget der Tochter
Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig
und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der
lastbaren Eselin.« Die Jünger gingen hin und taten,
wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die
Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider dar-
auf, und er setzte sich darauf. Aber viel Volks breite-
te die Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige
von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das
Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie
und sprach: Hosianna dem Sohne Davids! Gelobt
sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosi-
anna in der Höhe!

Dieses Evangelium hat zwei Stücke. Das erste Stück


ist von des Herrn Christus Einzuge, da er zu Jerusa-
lem einreitet. Das andere Stück ist, daß der Herr, wie
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Lukas schreibt, als er nahe hinzukommt, die Stadt Je-


rusalem ansieht und über sie weint (Luk. 19, 41-44).
Vom ersten Stück müssen wir zuerst reden.
Ihr habt oft gehört, daß ein Christ nicht deshalb so
heißt, weil er von Vater und Mutter geboren ist; auch
nicht deshalb, weil er Johannes, Petrus, Paulus heißt,
sondern deshalb, weil Christus ihm seinen Namen an
die Stirne, ja ins Herz geschrieben hat. Denn durch
die Taufe sterben wir, und da wird zu uns gesagt: Du
Mensch, der du bisher ein Adamskind gewesen bist,
Hans, Peter, Paul geheißen hast, du sollst nicht mehr
allein ein Mensch, sondern sollst auch ein Christ hei-
ßen, Ein Mensch heißt, wer aus Fleisch und Blut ge-
boren wird; aber ein Christ heißt, wer getauft und mit
Christi Blut in der Taufe von Sünden abgewaschen
ist: der soll diesen Namen führen und ein Christ hei-
ßen. Wenn man dich fragt und spricht: Wie heißt du
so mit dem neuen Namen ein Christ? heißt du doch
sonst Hans, Peter, Paul? Kannst du also antworten
und sagen: Ja, von meinem Vater bin ich Hans, Peter,
Paul genannt worden, aber ein Christ bin und heiße
ich deshalb, weil ich mit Christi Blut getauft und ge-
waschen bin. Von dem Mann Christus heiße ich ein
Christ. Er heißt Christus, ich heiße ein Christ, nicht
von meinem heiligen Leben, sondern deshalb, weil
ich Christus in der Taufe angezogen habe und mir
sein Name an meine Stirne geschrieben, ja in mein
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Herz gedrückt ist.


Das will nun dieses Evangelium, daß wir den
König, von dem wir den Namen haben, daß wir Chri-
sten heißen, empfangen sollen. Denn wenns zum Ster-
ben kommt, so stirbt Johannes, Petrus, Paulus dahin,
aber ein Christ stirbt nicht. Ich sehe, daß Johannes,
Petrus, Paulus begraben wird, aber ein Christ stirbt
nicht, wird auch nicht begraben, sondern lebt. Darum
wenn ich als Petrus, Paulus sterbe, da kommts nicht
drauf an. Weil ich aber ein Christ bin, soll der Petrus,
Paulus wieder aus dem Grabe hervorkommen. Denn
Christus, von dem ich den Namen habe, sagt es
selbst, daß wir als Christen wieder aus dem Grabe
hervor müssen, auf daß wir so glauben lernen, was
wir durch diesen König haben: nämlich Erlösung von
Sünde, Tod und Hölle. Und das ists auch, was der
Prophet Sacharja, welchen der Evangelist hier an-
führt, sagt (9, 9): Siehe, dein König, der dich retten
und schützen will, kommt zu dir sanftmütig, fromm
und hilfreich. Er ist voll Gerechtigkeit und kommt zu
dir, dich fromm zu machen; er ist voll Lebens und
kommt zu dir, das Leben zu schenken. Das heißt
Christus, und daher heißen wir Christen.
Das ist die hohe Predigt, die wir gerne hören und
Gott dafür danken sollen, auf daß wir, wenn wir ster-
ben sollen, zuverlässigen Trost haben und sagen kön-
nen: Ich, Hans, Paul, Peter, liege hier und bin krank;
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aber weil ich ein Christ bin, will ich auf Christus, von
dem ich den Namen führe, sterben und bleiben, wo er
ist. So fährt Hans, Paul, Peter nicht in die Hölle,
bleibt auch nicht im Tode, sondern fährt in Christi
Schoß und lebt.
Das ist eine andere Predigt als die, welche man von
guten Werken lehrt. Wahr ists: Hans, Paul, Peter
müssen und sollen gute Werke tun, aber diese Predigt
geht höher. Wenn du, Hans, Nickel, Paul, Peter,
fromm bist und gute Werke tust, so mußt du noch
etwas mehr haben, nämlich daß du ein Christ seiest
und von Herzen sprechest: Ich glaube an Jesus Chri-
stus. Dieser König kommt zu mir mit aller Sanftmut
und Gnade und hilft mir von Sünden, Tod, Teufel und
Hölle; auf den bin ich getauft, an den glaube ich, bei
dem bleibe ich und sterbe so dahin. So entläuft man
dem Tod und aus diesem Leben und kommt in das
ewige Leben.
Dies ist das erste Stück, das der Prophet Sacharja
und der Evangelist aus dem Propheten verkündigen:
Saget der Tochter Zion, siehe dein König kommt zu
dir, barmherzig, gerecht und ein Helfer, er will dich
fromm und gerecht machen. Daraus folgt, daß dieser
König nicht dazu kommt, daß er die Menschen richte
und in die Hölle stoße. Mose kommt, daß er anklage
und richte, Joh. 5, 45. Der Teufel kommt auch, daß er
verklage, richte und töte. Richter, Könige, Kaiser
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kommen, daß sie richten und töten. Denn das ist der
weltlichen Obrigkeit Amt, ihnen von Gott befohlen.
Aber dieser König kommt nicht, daß er richte, son-
dern daß er helfe, von Sünden erlöse, verzeihe und
vergebe. So sollen wir ihn erkennen lernen, und zu
solchem Könige sind wir berufen. Gott gebe, daß wir
ihn empfangen und bei ihm bleiben, Amen.
Das andere Stück ist, daß Lukas sagt, Christus
habe über die Stadt Jerusalem geweint. Das Volk, das
vorauszieht und nachfolgt, ruft ihm zu und spricht:
Hosianna dem Sohn Davids; Gott sei gelobt, der
König ist vorhanden, es hat nun keine Not (Luk. 19,
37 f.). Aber er, der Herr, hebt an und sieht die Stadt
an und weint. Ach, wenn du es wüßtest, sagt er, so
würdest du auch zu dieser deiner Zeit bedenken, was
zu deinem Frieden dient (19, 42). Er weint über die,
welche diese Predigt nicht achten. Billig hätte er zür-
nen, mit Donner und Blitz drein schlagen sollen; er
hätte das auch getan, so er sie nach ihrem Verdienst
hätte richten wollen. Aber er weint, daß sie so ver-
stockt sind und die Zeit ihrer Heimsuchung nicht an-
nehmen wollen und sagt: Man wird dich, Jerusalem,
erstürmen und jung und alt, alles erwürgen und dich
schleifen (19, 43 f.).
Das sagt er vor Jerusalem mit betrübtem Herzen
und setzt die Ursache dazu und sagt: Solches wird dir
widerfahren, »darum daß du nicht erkennet hast die
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Zeit, darinnen du heimgesucht bist« (Luk. 19. 44).


Das ist, als wollte er sagen: Ich komme und suche
dich mit Barmherzigkeit heim, bringe dir Hilfe und
Trost, bringe dir Erlösung von Sünde und Tod und
dazu das ewige Leben. Das tue ich aus lauter Güte
und Barmherzigkeit, wäre dazu nicht verpflichtet
noch schuldig. Und du solltest dagegen so voller Teu-
fel sein, daß du solche Güte und Gnade, dir von mir
angeboten, nicht nur nicht annehmen willst, sondern
auch meiner dazu spottest? Das wird an dir kräftig ge-
rächt werden.
Ebenso wird heutigen Tages das Evangelium ge-
predigt, man hörts reichlich, daß Christus solcher
König sei, wie ihn dies Evangelium abmalt. Aber
Bürger, Bauern und die vom Adel, die Fürsten und
großen Herren dieser Welt verfolgen das Evangelium.
Was will daraus werden? Christus besucht sie gnädig,
bringt ihnen das Geschenk vor die Tür; sie schlagen
ihn tot. Wie könnte einer toller sein, als wenn man
ihm vor sein Haus Silber und Gold trüge und spräche:
Das alles soll dein sein, tue die Hand auf und nimm
hin – und er führe zu und stieße alles von sich und
schlüge den tot, der ihm das Silber und Gold bringt?
Da würden alle, die das sehen, sagen: Dieser ist be-
sessen; es wäre auch die lautere Wahrheit. Aber hier
ist nicht ein Sack voll Gulden, sondern ein anderer
Schatz, nämlich: wenn du nicht mehr leben kannst
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und nun sterben sollst, will dir Christus zuvorkom-


men, dir solche Hilfe bringen, daß du das ewige
Leben haben sollst. Und indem er dir solchen Schatz
anbietet, wird er doch von dir weggestoßen und ver-
achtet. Das beklagt er hier.
Darum wollen wir uns gut vorsehen. Gnadenreich
ist dieses Königs Einreiten und Ankunft, und die
Gabe, die er bringt, ist tröstlich. Aber wenn er verach-
tet und dazu verfolgt wird und man nicht glauben
will, so weint er. So habe ich oft gesagt: Deutschland
muß eine Plage treffen, es wird ein solch Blutvergie-
ßen werden, daß niemand wissen wird, wo er daheim
sei. Alsdann wird dieser König zu dir sagen: Ich kam
vor dein Haus, bot dir das ewige Leben an, du aber
gingest dieweil hin und soffst dich voll, tatest, was du
wolltest, und verfolgst mein Evangelium noch dazu.
So habe nun auch dies Unglück zum Lohn.
So ging es zu Jerusalem auch zu. Da Christus
dahin kam und sprach: Liebe Tochter, tue die Tür auf,
hier kommt dein König. Was tat sie? Die Braut ging
hin und hängte ihren König an den Galgen. Da mach-
te ers auch so mit ihr, daß man nun nicht weiß, wo Je-
rusalem geblieben ist. Darum, ihr meine lieben Kin-
der, Jung und Alt, Klein und Groß, lasset euch nicht
in den Sinn kommen, daß ihr denken und sagen wol-
let: Ich wills wohl noch lernen, sondern brauchet die
Zeit, weil der Herr nahe ist, wie der Prophet Jes. 55, 6
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sagt:
»Suchet den Herrn, solange er zu finden ist, rufet
ihn an, solange er nahe ist«. Werden wirs mißachten,
da er die Tür zutut, so wird nichts mehr daraus; er
wird uns wieder schreien und umsonst anklopfen las-
sen wie die törichten Jungfrauen, welche kommen, da
die Tür verschlossen war, und sprechen: »Herr, Herr,
tu uns auf«. Er aber antwortet: »Wahrlich, ich sage
euch, ich kenne euch nicht« (Matth. 25, 11 f.).
Darum sage ich: Hütet euch! Ihr seid jung, es kann
geschehen, daß ihr das zukünftige Unglück über
Deutschland erleben, sehen und erfahren werdet.
Denn es wird ein Wetter über Deutschland kommen,
und wird nicht ausbleiben. Gott hats der Stadt Jerusa-
lem nicht schenken können, da so viel heilige Leute
gelebt hatten und begraben waren, David und alle
Propheten, ja da Gott selbst gewohnt hat. Jerusalem
war sein Schlößlein und Kämmerlein, davon er selbst
sagt: Hier wohne ich, mein Himmel ist hier; und den-
noch hat Gott diese Stadt um der Sünde willen, wel-
che heißt: die Zeit der Heimsuchung nicht achten, so
greulich gestraft und verwüstet.
Das sind Gottes Strafen für die teuflische Sünde,
die da heißt: die Zeit der Heimsuchung nicht erken-
nen. Es ist wohl große Sünde, daß Bauer, Bürger, die
vom Adel und jedermann so geizig sind; aber daß sie
über diese Sünde hinaus Gottes Wort so verachten,
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das wird ihnen den Hals brechen. Da hütet ihr euch


vor. Will uns unser Herrgott fallen lassen, so lasse er
uns nur nicht in diese ewige Teufelssünde fallen.
Denn über diese Sünde hat unser Herrgott hier selbst
geweint. Dem jüdischen Volk hätten alle ihre Sünden
nicht geschadet, wenn nur diese greuliche Sünde, die
Verachtung der Heimsuchung, nicht dazu gekommen
wäre. Denn Christus, ihr König, kam ihnen zu helfen.
Aber wenn man nicht fromm sein will und Gottes
Wort verachtet, da ist kein Rat. Darum seht euch vor,
laßt euch Gottes Wort wohlgefallen, hörets, lesets,
redet gerne davon, so tut ihr Gott den höchsten Dienst
und euch den besten Nutzen. So es die Welt verachtet,
das laßt euch nicht ärgern; sie wird dermaleinst erfah-
ren und fühlen, was sie gemacht hat.
So umfaßt dies Evangelium zwei Stücke: das erste,
daß Christus ein Helfer zu jenem Leben ist, das ande-
re, daß man Gottes Wort nicht verachte. Es jammert
Christus der Stadt Jerusalem, als wollte er sagen: Je-
rusalem will geschleift sein und die Juden wollen in
alle Welt zerstreut sein, dagegen hilft kein Bitten, das
sehe ich. Sie wollen die Zeit der Heimsuchung nicht,
sie fragen nicht danach, wie süß man ihnen auch pre-
digt. Wohlan, wem nicht zu raten ist, dem ist auch
nicht zu helfen. Wer nicht allein schwach ist, sondern
auch noch dazu die mit Füßen treten will, die ihn füh-
ren und leiten, wer will dem helfen? Es ist zu viel,
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daß wir Sünder sind; wollen wir noch dazu den er-
würgen, der uns selig machen und uns tragen will?
Das ist nicht eine menschliche, sondern eine teufli-
sche Sünde; solche Leute sind mit viel Schock Teu-
feln besessen. Denn den totschlagen, der da kommt
selig zu machen, das soll niemand tun als der leidige
Teufel und die da voller Teufel sind. So mein Sohn
mich totschlagen und erwürgen wollte, deshalb weil
ich ihm helfe, so müßte ich sagen, er wäre toll und tö-
richt.
So will nun unser Herrgott sein Wort geehrt haben,
dies und nichts anderes; wo nicht, so soll es nicht un-
gerächt bleiben. Wir haben der Exempel genug, die
Sintflut, die Städte Sodom und Gomorra, die Stadt Je-
rusalem. Vor dem Jüngsten Tage werden auch neue
Irrtümer kommen, daß, wie Christus sagt, auch die
Auserwählten in Irrtum werden verführet werden, wo
es möglich wäre. Gott behüte uns und gebe uns seine
Gnade, daß wir das Häuflein sind, die Christus gerne
annehmen und singen wollen: Hosianna, Gott sei ge-
lobet, daß wir diesen König haben und Christen sind
und heißen, und daß wir wissen, warum und woher
wir so heißen, nämlich von diesem Könige Christus,
daß wir in seinem Namen getauft und in seinem Blut
gewaschen sind. Nun, wir wollen das Hosianna sin-
gen und Gott bitten, daß wir dabei bleiben, Amen.

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Editorische Bemerkung

Von den fünfzehn Nachschriften Rörers hat die


H(aus) P(ostille) Poachs für die erste der drei von ihr
für den ersten Advent aufgenommenen Predigten (alle
über diesen Text) die in WA 36, 375-379 abgedruck-
te als Vorlage gewählt, dabei wie Dietrich verfahrend,
aber »genauer als D(ietrich) der Vorlage folgend«.
Die Predigt ist am 1. Advent 1532 im Hause Luthers
gehalten.

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5056 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 1

Martin Luther

Zweiter Sonntag im Advent


Luk. 21, 25-36

[HP 14–16;
WA 37, 613–617]

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5057 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 2

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und


Mond und Sternen, und auf Erden wird den Leuten
bange sein, und sie werden zagen, denn das Meer
und die Wasserwogen werden brausen, und die
Menschen werden verschmachten vor Furcht und
vor Warten der Dinge, die kommen sollen über die
ganze Erde; denn auch der Himmel Kräfte werden
ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen
des Menschen Sohn kommen in einer Wolke mit gro-
ßer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses an-
fängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure
Häupter darum, daß sich eure Erlösung naht.
Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Sehet an den
Feigenbaum und alle Bäume: wenn sie jetzt aus-
schlagen und ihr sehets, so wißt ihr selber, daß jetzt
der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr dies
alles sehet angehen, so wisset, daß das Reich Gottes
nahe ist. Wahrlich, ich sage euch: Dies Geschlecht
wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe. Him-
mel und Erde werden vergehen; aber meine Worte
vergehen nicht.
Hütet euch aber, daß eure Herzen nicht beschwert
werden mit Fressen und Saufen und mit Sorgen der
Nahrung und dieser Tag nicht schnell über euch
komme wie ein Fallstrick; denn er wird unversehens
hereinbrechen über alle, die auf Erden wohnen. So
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5058 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 3

seid nun wach allezeit und betet, daß ihr stark wer-
den möget, zu entfliehen diesem allem, was gesche-
hen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn.

In diesem Evangelium predigt der Herr vom Kommen


des letzten Gerichts und warnt und lehrt die Seinen,
wie sie sich verhalten sollen. Er hält diese Predigt
nicht den Gottlosen und Unchristen, sondern allein
seinen Jüngern und Christen und teilt diese Predigt
selbst in zwei Teile: der erste Teil ist eine Weissa-
gung, darin er verkündigt, wie es gehen werde, wenn
der Jüngste Tag kommen soll. Der zweite Teil ist eine
Vermahnung, daß man beten und allezeit wach sein
soll, auf daß man würdig sei diesem allem zu entflie-
hen, was geschehen soll, und vor des Menschen Sohn
zu stehen.
Die Gottlosen fragen nichts nach dem Jüngsten
Tage, wenn er ihnen gleich jetzt auf den Fersen wäre.
Solche völlige Blindheit und unflätiger Aussatz ist in
der Welt, daß sich ein Mensch vor dem Tod nicht
fürchtet, obwohl er weiß, daß er sterben muß. Nun ist
eines jeglichen Tod, wie Augustin sagt, sein Jüngster
Tag. Darum ists ein schrecklich Ding, daß ein
Mensch so sicher sein und sich weder vor dem Tode
noch Jüngsten Tag fürchten soll, wie auch Augustin
sagt: Lies alle Bücher, so ist kein schrecklicheres und
greulicheres Bild auf Erden als der Tod, den man mit
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Sicherheit vor sich weiß, daß einer sterben muß, und


dennoch in solchem Stand und Wesen lebt, darin er
nicht gern sterben wollte. Ein zufälliger Tod ist nicht
schrecklich im Vergleich zu solchem Tod. Es ist wohl
schrecklich, wenn einer den Hals bricht, im Wasser
ertrinkt oder sonst durch Zufall und plötzlich um-
kommt. Aber viel schrecklicher ists, wenn einer weiß,
daß er ewig verloren sein soll, und sich gleichwohl
nicht daran kehrt. So ist der Tod dem nicht schreck-
lich, der sich vor dem Tode nicht fürchtet und vom
Tode nichts weiß, wie die kleinen Kinder und Gläubi-
gen sich nicht vor dem Tode fürchten und nichts vom
Tode wissen. Aber das ist ein schrecklicher Tod, den
man vor sich hat und in den man hinein muß, wie die
Gottlosen und Ungläubigen den Tod vor sich haben
und wissen, daß sie hinein müssen.
Obgleich nun der Tod und das Jüngste Gericht, das
auf den Tod folgt und den Gottlosen mit Sicherheit
und allein gilt, schrecklich ist, verachten die Gottlo-
sen dennoch auch in aller Sicherheit das Jüngste Ge-
richt gleichwie sie den Tod nicht achten, den sie doch
zu jeder Stunde erwarten müssen. Diese Sicherheit
aber ist desto größer und schwerer, weil sie solches in
bezug auf den ewigen Tod tun und ohne alle Sorge
und Furcht dahinleben, ihr Saufen, Fressen, Geiz und
andere Sünden und Laster um nichts mindern, bis sie
der Jüngste Tag überfalle und sie mit Leib und Seele
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in die Hölle fahren und ewig verloren sind. Darum


ists jetzt ein schrecklich Ding in der Welt, daß das
Saufen, Fressen, Prahlen, Geldzusammenkratzen und
andere Laster so überhand nehmen, daß dem niemand
mehr steuern kann. Es graut einem, daß einer unter
diesen Menschen leben soll. Etliche gedenken sich zu
bessern, heben aber langsam an, etliche aber geden-
ken sich gar nicht zu bessern.
Darum predigt Christus hier allein seinen Christen
und Gläubigen und tröstet sie, daß sie nicht erschrek-
ken sollen, durch was für einen Tod sie auch umkom-
men. Denn sie haben einen gnädigen Gott, der seinen
lieben Sohn für sie gegeben hat, warum wollten sie
sich denn fürchten? Glaubst du nun an Christus, und
brichst du gleich den Hals oder ertrinkst im Wasser
oder kommst auf andere Weise um, oder der Jüngste
Tag nimmt dich dahin, so schadets dir nicht. Denn du
hast einen gnädigen Gott und einen treuen Erlöser,
warum wolltest du dich denn fürchten, da Gott dein
Freund ist und Christus für dich gestorben ist? Sol-
chen Menschen, die sich darein ergeben haben zu
sterben, ist dieses Evangelium gepredigt, den Gottlo-
sen aber ists nicht gepredigt. Denn wenn sie gleich
die Zeichen der Zeit mit den Händen greifen, fragen
sie gleichwohl nichts danach.
Darum lasse man sie an den Galgen dahinfahren.
Uns aber laßt unter dem Häuflein gefunden werden,
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5061 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 6

welches an Gott glaubt und ihn fürchtet, nicht als


einen Richter, sondern als einen Vater. Denn es ist
genug an dem, daß die Gottlosen ihn als einen Richter
fürchten müssen.
So sagt nun Christus, werde es vor dem Jüngsten
Tage zugehen. Die Welt wird runzlig und gar scheuß-
lich und schrecklich werden. Das Auge der Welt ist
die Sonne. Eben nun wie ein Mensch runzlig wird und
verfällt, wenn er sterben soll – die Augen heben an zu
brechen, der Mund beginnt bleich zu werden: so wird
auch, wenn die Welt zerbrechen und ein Ende nehmen
soll, die Sonne dunkel werden, und Erdbeben werden
geschehen, und den Leuten wird bange sein. In
Summa: Himmel und Erde werden sich stellen, als
wollten sie sterben. Fürchtet euch aber nicht, wenn-
gleich das Meer brausen wird und die Wellen daher-
fahren werden, als wollten sie über euch zusammen-
schlagen.
Wenn ihr nun solches werdet geschehen sehen (sagt
Christus zu seinen Christen, denn die Gottlosen ver-
stehen nichts davon), so erschrecket nicht, sondern
sehet fröhlich auf und hebet die Köpfe in die Höhe;
denn es gilt euch, eure Erlösung nahet sich. Denn
bald darauf wird der Tag des Herrn kommen. Alsdann
wird sich das Spiel umkehren: die zuvor hier auf
Erden in diesem Leben reich, gewaltig, fröhlich und
glücklich gewesen sind, werden alsdann traurig und
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verdammt sein. Und umgekehrt werden die Frommen


und Gottesfürchtigen, die hier auf Erden unterdrückt
und elend sind, alsdann herrschen. Darum laßt danach
die traurig sein, die jetzt Geld sammeln, zusammen-
scharren und -kratzen, dem Evangelium gar nichts
glauben, nichts vom Tode hören wollen und sagen,
sie wollten hundert Jahre hier gut leben und unserem
Herrgott sein Himmelreich überlassen. Ihr aber seid
fröhlich und guter Dinge, denn der Tag eurer Erlö-
sung ist nahe.
Diese süßen und lieblichen Worte wollte unser
Herr Christus den Jüngern und seinen Christen gerne
ins Herz prägen, daß sie vor den Zeichen nicht er-
schrecken, sondern daran denken sollen, daß dies den
bösen Buben gelte und nicht den Christen.
Das Gleichnis von den Bäumen, das Christus sei-
nen Jüngern und Christen gibt, damit er ihnen den
Trost desto besser einprägen möchte, ist lieblich.
Unser Herrgott hat den Jüngsten Tag nicht allein in
die Bücher, sondern auch in die Bäume hinein ge-
schrieben, damit wir, so oft wir die Bäume im Lenz
ausschlagen sehen, stets an dieses Gleichnis und an
den Tag des Herrn denken. Die Blätter an den Bäu-
men zeigen nicht den Winter an, daß es frieren,
schneien und kalt werden soll, sondern zeigen die
fröhliche Zeit an, nämlich den Lenz und den Sommer.
So sollt auch ihr, sagt Christus, wenn ihr diese Zei-
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5063 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 8

chen sehet, fest der Meinung sein, daß die Zeit eurer
Erlösung da ist, daß ihr von allem Unglück und aus
diesem Jammertal erlöst werden sollt. So lehrt uns
Christus hier, daß wir die Zeichen rechtschaffen anse-
hen lernen und wissen, daß wenn die Zeichen erschei-
nen werden, uns unser Herrgott aus der Welt und aus
diesem Jammertal nehmen und in ein solch Leben set-
zen wolle, da kein Unglück noch Traurigkeit sein
werde. Die Gottlosen sehen die Zeichen nicht so an,
aber die Christen folgen der Lehre Christi, ihres
Herrn, und sehen die Zeichen an als sichere Anzei-
gung ihrer Erlösung.
Es folgt nun die Warnung und Vermahnung, daß
die Christen wach sein und beten sollen. Christus
sagt, daß die Welt vor dem Jüngsten Tage fressen und
saufen und der Nahrung halber scheußlich sorgen, zu-
sammenkratzen und -scharren werde, wie wir denn
jetzt vor Augen sehen. Man sagt in einem allgemeinen
deutschen Sprichwort: Je länger, je ärger, je älter, je
kärger. Die alten Leute sammeln Geld und könnens
nicht angreifen, da sie doch nicht wissen, ob sie heute
noch, geschweige denn morgen leben werden. So, sagt
Christus, wird es auch gehen, wenn die Welt alt wer-
den wird. Dann wird sie auch zusammenscharren
und -kratzen und sie wird bauen, pflanzen, freien und
sich freien lassen, wie er anderswo sagt (Luk. 17, 26
f.), gleichwie zu der Zeit Noahs vor der Sintflut. Gott
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ließ die Welt durch Noah warnen und die Sinflut hun-
dertundzwanzig Jahre zuvor verkündigen, aber was
tat die liebe, schöne Welt? Sie ließ es sich wie gegen
eine Mauer predigen, die Menschen aßen, tranken,
freiten und ließen sich freien, bis zu dem Tag, da
Noah zu der Arche einging. Da gings auch so zu: als
sie sich dessen am allerwenigsten versahen, überfiel
sie die Sintflut und nahm sie alle dahin. Zu dieser un-
serer Zeit ist auch ein solch Hantieren, Sorgen, Fres-
sen, Saufen, daß es über alles Maß ist; es ist keine
Treue, kein Glaube mehr in den Menschen auf Erden.
Darum warnt und vermahnt Christus seine Jünger
und Christen und sagt: Sehet euch vor, ihr lieben Kin-
der, »daß eure Herzen nicht beschwert werden mit
Fressen und Saufen und mit Sorgen der Nahrung«.
Denn wenn die Welt am höchsten prangen, zusam-
menscharren und -kratzen wird, wirds ein sicheres
Zeichen sein, daß der Tag meiner letzten Ankunft
nicht ferne sein wird. Und dieser Tag wird sie alsdann
schnell und in einem Hui überfallen. Einen wird er
Geld zählen finden, den andern saufen und schwelgen,
den dritten tanzen und springen. Gleichwie ein Fang-
netz die Vöglein schnell überfällt und sie, ehe sie es
gewahr werden, gefangen und erwürgt sind, so wird
auch dieser Tag schnell und unversehens über alle
kommen, die auf Erden wohnen. Darum hütet euch
vor Fressen und Saufen und Sorgen wegen der Nah-
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5065 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 10

rung.
Jemand möchte sagen: Soll man denn nicht essen
und trinken? Soll man sich denn nicht nähren? Soll
man nicht arbeiten und sorgen? Antwort: Ja, essen
und trinken muß man, ebenso ist die Nahrung und Ar-
beit nicht verboten; sondern der Geiz ist verboten.
Christus läßt seinen Jüngern und allen Christen zu,
daß sie sich nähren, den Acker bauen und arbeiten.
Denn er weiß wohl, daß seine Christen, dieweil sie in
der Welt sind, Essen, Trinken, Kleidung und Nahrung
bedürfen und haben müssen. Die Sorge aber und den
Geiz verbietet er. Wir sehen jetzt in der Welt, daß
alles hoch hinaus will und steigt, was ein sicheres
Zeichen dafür ist, daß der Jüngste Tag nicht weit ist.
Deshalb sagt Christus: Wenn ihr solche Zeichen,
dazu solche greuliche Sicherheit der Welt, Saufen,
Fressen, Zusammenscharren und -kratzen sehen wer-
det, sollt ihr denken, daß eure Erlösung da ist. Seid
nicht traurig, denn der Zorn geht über die Welt. Die
wird an dem Tage mit ihren Kindern in einem Augen-
blick ganz tot sein. Ihr aber, meine Jünger und Chri-
sten, sagt Christus, seid nicht in der Welt, sondern
seid allein Gäste und Fremdlinge darin, und die Welt
ist nur eure Nachtherberge. Darum seid allezeit wach
und vergesset das Vaterunser nicht, sondern betet,
daß Gottes Reich zu euch komme, wie ich euch ge-
lehrt habe.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5066 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 11

Es redet Christus hier aber nicht von natürlichem


Schlafen oder Wachen, daß der Leib immerdar wa-
chen und weder Tag noch Nacht schlafen solle, was
unmöglich ist. Sondern er redet von dem geistlichen
Wachen, daß unsere Seele und Geist allezeit wache
und daß wir fleißig beten und an den Jüngsten Tag
denken. Wenn wir das tun werden, wird uns dieser
Tag nicht schnell überfallen, wie er die Gottlosen
überfallen wird. Wie auch Paulus 1 Thess. Kap. 5
einen Unterschied macht zwischen den Kindern der
Finsternis und zwischen den Kindern des Lichts und
Vers 2-5 sagt: »Der Tag des Herrn wird kommen wie
ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen werden: Es ist
Friede, es hat keine Gefahr, dann wird sie das Verder-
ben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein
schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen. Ihr
aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß
der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle
seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir
sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis«.
So will nun Christus, daß wir wach sein und uns in
Gottesfurcht und gutem Gewissen halten und beten
sollen, daß wir aller Anfechtung und Jammer entflie-
hen und vor des Menschen Sohn würdig stehen kön-
nen. Petrus lehrt auch so und ermahnt (2. Petr. 3, 11
f.): »Wenn das alles soll so zergehen, wie müßt ihr da
geschickt sein in heiligem Wandel und gottesfürchti-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5067 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 12

gem Tun, die ihr wartet und eilet zu der Ankunft des
Tages Gottes«. Das verleihe uns allen unser Herr und
Erlöser Jesus Christus, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5068 Zweiter Sonntag im Advent. Luk. 21, 25-36 13

Editorische Bemerkung

Die dritte Predigt der HP (alle über diesen Text, zu


dem elf Nachschriften Rörers erhalten sind) folgt der
WA 37, 613-617 abgedruckten (nicht bei Dietrich).
Die Predigt ist am 2. Advent 1534 im Hause Luthers
gehalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5069 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 1

Martin Luther

Dritter Sonntag im Advent


Matth. 11, 2-10

[HP 17–20;
WA 36, 383–387]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5070 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 2

Da aber Johannes im Gefängnis die Werke Christi


hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihm sagen:
Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines
andern warten? Jesus antwortete und sprach zu
ihnen: Gehet hin und saget Johannes wieder, was
ihr höret und sehet: Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote ste-
hen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;
und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir.
Da die hingingen, fing Jesus an, zu reden zu dem
Volk von Johannes: Was seid ihr hinausgegangen in
die Wüste zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das
der Wind hin und her weht? Oder was seid ihr hin-
ausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen
in weichen Kleidern sehen? Siehe, die da weiche
Kleider tragen, sind in der Könige Häusern. Oder
was seid ihr hinausgegangen? Wolltet ihr einen
Propheten sehen? Ja, ich sage euch: er ist mehr als
ein Prophet. Dieser ists, von dem geschrieben steht:
»Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der dei-
nen Weg vor dir bereiten soll.«

In diesem Evangelium predigt und lehrt uns unser lie-


ber Herr Jesus Christus zwei Stücke: das erste, daß
wir sein Wort teuer, wert und heilig halten sollen,
denn es ist sehr viel daran gelegen, wie wir hernach
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5071 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 3

hören werden. Das andere, daß er das greuliche Laster


der Undankbarkeit derer anzeigt, die solch Wort
hören und die Wunderzeichen sehen und es dennoch
verachten und nicht glauben, was über die Maßen
schrecklich ist.
Das erste nun, daß die Menschen das Wort Christi,
welches ihnen gepredigt wird, fleißig hören sollen, ist
dadurch angezeigt, daß Johannes, als er schon im Ge-
fängnis lag, sobald er höret, daß Christus Wunder-
werke zu tun anfängt, seine Jünger zu ihm mit einem
solchen Befehl sendet, daß sie ihn fragen sollten, ob
er der Mann wäre, der da kommen sollte? Das heißt:
ob er der Christus wäre, von welchem Mose und die
Propheten im Alten Testament soviel geweissagt und
gepredigt hatten und der hernach im Neuen Testament
so viel gepredigt werden sollte.
Nun, was sagt Christus aber zu solcher Botschaft?
Er sagt weder Ja noch Nein, da sie ihn fragen, ob ers
sei. Sondern er antwortet bloß mit den Werken und
spricht: Ihr sehets, hörets und greifts mit Händen, daß
ichs bin. Denn eben wie Jesaia und andere Propheten
geweissagt haben, daß Christus die Lahmen gerade,
die Blinden sehend werde machen, so sehet ihrs jetzt
vor euren Augen, ihr bedürfet weiter keines Unter-
richts noch Antwort, wenn ihr euch nur sonst recht
dafür bereitmachen wollt.
Das ist nun eine wunderliche, seltsame Predigt. In
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5072 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 4

ihr ist alles sehr fein zusammengefaßt, was man von


Christus predigen soll und was sein Reich für ein
Reich und was sein Wort für ein teures Wort sei. Sein
Reich ist solch ein Reich, in das Blinde, Lahme, Aus-
sätzige, Taube, tote Leute und besonders die armen
Sünder und alles, was elend, bedürftig und nichts ist,
hineingehören und da Trost und Hilfe finden.
Diese Predigt von Christus und seinem Reich soll-
ten wir mit Fleiß merken und immerdar unter uns
klingen lassen, daß Christus ein solch Reich habe und
ein solcher König sei, der den elenden, armen Men-
schen an Leib und Seele helfen wolle, wo es sonst un-
möglich ist, daß alle Welt mit all ihrem Vermögen
helfen könnte.
Das Evangelium ist eine solche Predigt von Chri-
stus, die zu dem Sünder sagt: Mein Sohn, sei getrost
und fröhlich, erschrick nicht. Denn du sollst wissen,
daß Christus befohlen hat, den Armen, das ist den
elenden, betrübten Herzen, Gnade an- und zuzusagen,
daß er seine Reinheit, die göttlich und ewig ist, für
dich einsetzen, dich mit Gott in Frieden bringen,
deine Sünde abwaschen und vergeben wolle usw.
Diese Gnade läßt er dir durch sein Wort anbieten,
darum zweifle nicht an dem, was du hörst. Glaubst du
es nur, so wird dirs mit Sicherheit widerfahren.
So heißt nun »Evangelium« eine gnadenreiche, se-
lige Lehre, eine freundliche Nachricht und tröstliche
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5073 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 5

Botschaft. Es ist so, als wenn ein reicher Mann zu


einem armen Bettler sagte: Morgen sollst du hundert-
tausend Gulden haben. Das wäre ihm ein Evangelium,
eine fröhliche Botschaft, die er gern hören und über
die er von Herzen fröhlich würde. Aber was ist Geld
und Gut im Vergleich zu dieser tröstlichen und gna-
denreichen Predigt, daß Christus sich der Elenden an-
nimmt und ein solcher König ist, der den armen Sün-
dern, die unter dem Gesetz gefangen sind, zum ewi-
gen Leben und Gerechtigkeit helfen will? Das, sagt
Christus hier, ist mein Reich. Es ist weit anders als
der Welt Reich.
Das andere Stück in diesem Evangelium ist, daß
der Herr weiter sagt: »Selig ist, der nicht Ärgernis
nimmt an mir«. Ja freilich, selig! Denn an diesem
König und seiner Predigt, deren sich jedermann billig
freuen sollte, ärgert sich die ganze Welt. Wie wir in
der Historie des Evangeliums sehen, halten die Phari-
säer, Schriftgelehrten, Hohenpriester, Priester, Levi-
ten und alles, was nur hoch und groß ist, Christus für
einen Verführer und seine Predigt für Ketzerei und
verdammen sie. Er kann ihnen nirgends recht predi-
gen, es dünkt sie immerdar, er kehre es um und mache
es unrecht. Ei, sagen sie, daß doch der Teufel den
Ketzer wegführe! Denn er predigt und lehrt, unser
Herrgott solle die Frommen und Gerechten in die
Hölle stoßen und die Sünder in den Himmel heben.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5074 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 6

Heißt das, sagen sie, recht predigen, daß man die


guten Werke so gar nichts gelten lassen will und den
bösen Buben den Himmel so aufsperrt?
Aber hier stehts: »Selig ist, der nicht Ärgernis
nimmt an mir«. Nun, hörtest du Christus auf die rech-
te Weise, nähmest sein Wort an und kämest in sein
Reich, so würdest du erfahren, daß das Evangelium
gute Werke nicht verbietet. Sondern es lehrt und ver-
mahnt, man solle gute Werke tun, man solle sich mit
Ernst darum bemühen, daß man nichts wider Gottes
Wort und Gewissen vornehme. Es läßt die weltliche
Obrigkeit bestehen bleiben, läßt den Henker Schwert,
Rute und anderes brauchen, was zur Zucht gegehört.
Es sagt: Die Obrigkeit, Fürsten und Herren sollen das
Böse strafen, man solle nicht stehlen usw. Warum är-
gerst du dich denn an dem heiligen Evangelium und
lästerst es, als lehre es, man solle nichts Gutes tun?
Gute Werke verwirft oder verbietet das Evangelium
nicht. Das aber verbietets: wenn dies Leben aus ist
und wir in ein anderes Leben fahren sollen und kein
Rat noch Hilfe dagegen ist, daß wir alsdann auf unser
Leben und gute Werke bauen oder vertrauen. Sondern
wir sollen uns nach dem Herrn Christus umsehen und
uns mit festem Vertrauen auf sein Werk und Ver-
dienst verlassen, daß wir durch ihn Gnade und ewige
Seligkeit in jenem Leben finden sollen.
Denn eben deswegen hat uns Gott einen solchen
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5075 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 7

Leib mit so mancherlei Gliedmaßen gegeben, daß wir


hier auf Erden nicht müßig sein, sondern mit den
Füßen gehen, mit den Händen zugreifen, mit dem
Munde reden, mit den Augen sehen sollen usw. Über
das hinaus hat er auch sein Wort, die Zehn Gebote ge-
geben, daß wir unsere Werke alle danach richten,
nichts wider seine Ehre und unseres Nächsten Nutzen
tun sollen. Solches läßt das Evangelium nicht allein
geschehen, sondern verlangt auch, wir sollens nur
fleißig tun. Wenn der Mensch aber jetzt bloß und al-
lein ist und aus dieser Welt vor Gottes Gericht kom-
men soll, da heißt dich das Evangelium nach einem
andern Trost umsehen, worauf du deine Hoffnung und
Herz setzen und gründen kannst.
Hast du deshalb richtig gelebt, so ists recht und
gut, danke Gott dafür, aber verlasse dich im Sterben
nicht darauf, als sollte Gott dir dafür den Himmel
geben. Sondern halte dich hierher zu diesem König,
unserm Herrn Christus Jesus. Der soll, wie der Evan-
gelist hier berichtet, das Amt führen, daß er die Blin-
den sehend, die Lahmen gehend usw. macht und den
Armen das Evangelium predigt, das ist, die elenden,
verängstigten Herzen tröstet. Denn er ist von seinem
Vater nicht dazu gesetzt, daß er uns um unserer Sün-
den willen henken soll, sondern daß er den armen Ge-
wissen raten, sie aufrichten, trösten und ihnen ewig
helfen soll.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5076 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 8

Zum andern ärgert sich die Welt auch deshalb an


Christus, weil er so ganz arm und elend ist. Ebenso
wie er das Kreuz trägt und sich daran hängen läßt,
vermahnt er auch seine Christen, ihr Kreuz auf sich zu
nehmen und ihm so durch allerlei Anfechtung und
Trübsal nachzufolgen. Dem ist die Welt besonders
feind und scheut sich davor. Man sieht es: wenn wir
das Evangelium bekennen und um seinetwillen etwas
wagen oder leiden sollen, daß viele auf einmal dahin-
fallen, wie das wurmstichige Obst im Sommer von
den Bäumen.
Zum dritten ist das auch ein Ärgernis, wenn wir
uns mehr an unser Herz und Gewissen kehren, daran,
was wir fühlen, als an das Evangelium von Christus.
Und daß ich es von mir selbst bekenne: das ist mein
Ärgernis, daß mich mein Tun und Lassen mehr an-
ficht und bekümmert, als die Gnade unsers lieben
Herrn Jesus Christus mich tröstet, die im Evangelium
verkündigt wird. Solches Ärgernis ist nicht so allge-
mein wie die ersten zwei; denn allein die rechten
Christen werden damit angefochten. Aber es tut über
die Maßen wehe. Und wo es ohne des Heiligen Gei-
stes Beistand und Hilfe bliebe, würde unser keiner in
solchem Ärgernis bestehen können.
Das ists nun, was Christus sagt: »Selig ist, der
nicht Ärgernis nimmt an mir«. Denn damit weissagt
er zugleich, daß die Menschen an dieser Predigt des
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5077 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 9

Evangeliums sich stoßen und sie verachten und ver-


folgen werden. Solch Ärgernis, Verachtung und Ver-
folgung muß man leiden. Denn so es dazumal nichts
geholfen hat, als der Herr Christus selbst gepredigt
und unzählige Wunderzeichen vollbracht hat, daß die
Blinden sehend, die Tauben hörend, die Lahmen gera-
de, die Aussätzigen rein, die Toten lebendig geworden
sind, sondern das Wort ist gleichwohl verachtet und
er, der liebe Herr Christus, drüber ans Kreuz geschla-
gen worden. Die Apostel sind aus dem jüdischen
Lande verjagt worden und haben nirgends in der gan-
zen Welt um dieser Predigt willen sicher sein können:
Was solls jetzt helfen? Was wollen wir denn sehr dar-
über klagen? Und was kann es verwundern, daß die
Welt das heilige Evangelium und rechtschaffene Pre-
diger zu unserer Zeit so verachtet und gewissermaßen
mit den Füßen darüber hinwegläuft? Ists doch Chri-
stus, unserm Herrn selbst und den Aposteln dort nicht
anders gegangen, welche nicht allein das Wort ver-
kündeten, sondern auch außerordentlich große Wun-
derzeichen taten, dergleichen wir nicht tun, sondern
wir verkünden allein das bloße ärgerliche Wort. Des-
halb müssen wir uns daran gewöhnen und es gesche-
hen lassen. Denn dem Evangelium gehts nimmermehr
anders.
Dies ist nun das andere Stück: daß das Evangelium
eine Predigt ist, die man so jämmerlich verachtet, und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5078 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 10

daß wir uns nicht daran kehren sollen, daß Bürger


und Bauern nach dem Evangelium nichts fragen. Es
ist unserm lieben Herrn Christus Jesus selbst begeg-
net, daß sich sein eigenes Volk, dem er verheißen und
zum Heiland gesandt war, an ihm geärgert hat. Und
obwohl sie seine herrlichen großen Wunderzeichen
sahen, die er vor ihren Augen tat, haben sie sich den-
noch durch sie nicht bewegen lassen, seiner Predigt zu
glauben und ihn anzunehmen, ja haben ihn gekreuzigt
und ermordet. Darum sprich: Wohlan, lieber Herr
Christus, ist dir solches widerfahren, da du mit so ge-
waltigen Wunderwerken gekommen bist, so soll ich
wohl schweigen und nicht klagen, wenn ich um des
Evangeliums willen auch verachtet, verlacht und ver-
folgt werde.
So haben wir in dem heutigen Evangelium zwei
treffliche, hohe Lehren. Zum ersten, daß Christus ein
König der Gnade und allen Trostes sei, der den armen
betrübten Gewissen durch sein Evangelium freundlich
zusprechen und sie gegen die Sünde trösten und ihnen
zum ewigen Leben helfen will. Denn obwohl das
strenge weltliche Regiment auch Gottes Reich ist, so
ists doch nur sein Reich zur linken Hand, das aufhö-
ren soll. Dies ewige Reich aber ist sein rechtes Reich,
das zu uns durchs Wort kommt und darein wir uns ins
Wort schließen. Und wenn wir sterben sollen, sagen
wir mit fester Zuversicht: Ich glaube an Jesus Chri-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5079 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 11

stus, der mich aus dem Tode erretten kann und will,
der macht die Blinden sehend, die Aussätzigen rein,
die Toten lebendig. Auf den fahre ich dahin und bin
selig. – Zum andern, daß wir, obwohl alle Welt sich
an Christus und an seinem Evangelium stößt, ärgert
und fällt, uns an solch Ärgernis und Fallen nicht keh-
ren. Sondern wir nehmen diesen König ohne Ärgernis
an, halten an seinem Wort fest und werden durch ihn
selig, wie er sagt: »Selig ist, der nicht Ärgernis nimmt
an mir«. Das verleihe uns unser lieber Herr Jesus
Christus, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5080 Dritter Sonntag im Advent. Matth. 11, 2-10 12

Editorische Bemerkung

Die erste Predigt der HP (von zweien über den glei-


chen Text) wählt von den neun Nachschriften Rörers
die WA 36, 383-387 abgedruckte, wie Dietrich, aber
»genauer der Vorlage folgend«. Die Predigt ist am 3.
Advent 1532 im Hause Luthers gehalten. [Künftig
wird der Sonntag nicht mehr genannt, an dem Luther
die Predigt hielt, wenn er mit dem in der Überschrift
genannten übereinstimmt. Im Hause, Hauspredigt,
künftig immer = im Hause Luthers gehalten, ohne
diese Angabe = Predigt in der Kirche.]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5081 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 1

Martin Luther

Vierter Sonntag im Advent


Joh. 1, 19-28

[HP 24–26;
WA 36, 387–390]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5082 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 2

Und dies ist das Zeugnis des Johannes, da die Juden


zu ihm sandten von Jerusalem Priester und Leviten,
daß sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte
und leugnete nicht, und er bekannte: lch bin nicht
der Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist
du Elia? Er sprach: Ich bins nicht. Bist du der Pro-
phet? Und er antwortete: Nein. Da sprachen sie zu
ihm: Was bist du denn? daß wir Antwort geben
denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir
selbst? Er sprach: »Ich bin eine Stimme eines Predi-
gers in der Wüste: Richtet den Weg des Herrn!« wie
der Prophet Jesaja gesagt hat.
Und es kamen, die gesandt waren von den Phari-
säern. Die fragten ihn und sprachen zu ihm: Warum
taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist noch
Elia noch der Prophet? Johannes antwortete ihnen
und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten
unter euch getreten, den ihr nicht kennet. Der ists,
der nach mir kommen wird, des ich nicht wert bin,
daß ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu
Bethanien jenseits des Jordan, wo Johannes taufte.

Dies ist der rechten hohen Evangelien eins, von dem


höchsten Artikel unsers Glaubens. Darin wird nicht
gelehrt von den Zehn Geboten, was wir tun sollen,
oder von guten Werken, wie in etlichen andern Evan-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5083 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 3

gelien geschieht; sondern von Christus, wer er sei und


was er getan habe. Das vornehmste und nötigste
Stück in diesem Evangelium ist, daß der Evangelist
sagt: Johannes der Täufer sei ein Zeuge gewesen und
habe von Christus Zeugnis gegeben. Auf das Wort
»Zeugnis« kommt es ganz an. Bei uns Deutschen ist
das Wort »Zeugnis« nicht eindeutig, aber »Zeugnis«
heißt hier eine Predigt oder Rede von Christus. So
will nun der Evangelist lehren, daß es alles um das
Stück zu tun ist, daß man die Predigt Johannes des
Täufers höre, daß sein Zeugnis vorhanden sei und
seine Predigt von Christus in der Kirche bleibe.
Die Juden senden zu ihm Männer aus dem Hohen
Rat, Priester und Leviten von Jerusalem und lassen
ihn fragen, ob er Christus, Elias oder ein Prophet sei.
Aber Johannes bleibt beständig dabei und sagt, er sei
deren keiner. Da sagen sie zu ihm: »Was bist du
denn? Was sagst du von dir selbst?« Er antwortet:
»Ich bin eine rufende Stimme in der Wüste«, ich bin
eine Stimme, die da ruft und schreit: »Richtet den
Weg des Herrn«, das bin ich. Da habt ihr, was ich
bin, ich bin ein Zeuge und ein Prediger von dem
Mann, der da Christus heißt, ich bin nicht der Mann
selbst, ich will nicht Christus, noch Elias, noch ein
Prophet sein; ich lasse mir an der Ehre genügen, daß
ich eine Stimme und Prediger von dem Mann bin. Der
Mann ist nicht weit, den ihr sucht, der da Christus
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5084 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 4

und der in 5. Mose 18, 18 verkündigte Prophet und


der rechte Mann ist. Wollt ihr aber wissen, wer er sei,
so höret mich: Ich gehe vor ihm her und bereite ihm
den Weg, er folgt mir auf dem Fuße nach. Hört ihr
meine Predigt, so werdet ihr ihn treffen; hört ihr
meine Predigt nicht, so werdet ihr ihn verfehlen.
Hier siehst du ein fein, schön, herrlich Exempel,
mit dem Johannes alle die zurückstößt, welche die
christliche Kirche haben regieren wollen, wie da der
Papst und andere getan haben, welche selbst Christus
sein wollen. Johannes der Täufer ist höher und heili-
ger als alle Päpste, dennoch spricht er zu den Juden:
Ich weiß euch nicht zu helfen noch zu raten, auch mir
selbst nicht; sondern ich weiß und kenne einen, der
mir und euch helfen kann. Ich bin nicht wert, daß ich
ihm den geringsten Dienst tue. Lasset uns alle zu dem
Mann gehen. Ich taufe und predige von dem Mann:
das ist der Mann, er ist mitten unter euch; hänget euch
an ihn, ich wills auch tun. So weiset Johannes der
Täufer die ganze Welt von sich zu dem Mann, wel-
cher ist und heißt Christus, und sagt: Es steht in dem
Propheten Jesaja (40, 3) geschrieben, daß einer in der
Wüste schreien soll: »Richtet den Weg des Herrn«.
Das bin ich. Ich bin der vornehmsten Prediger einer;
aber ich soll nicht der Herr, sondern die Stimme vor
dem Herrn sein. Ich bin der Prediger, der das predigt:
Weichet, der Herr kommt, macht des Herrn Steige
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5085 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 5

richtig, tut Steine, Holz und alle Hindernisse aus dem


Wege, macht Platz, hier kommt der Herr. Solcher Pre-
diger bin ich, ich bin nicht der Herr selbst, sondern
ich lehre, daß der Herr kommt.
So rufen und schreien wir auch in unserer Wüste,
dürfen auch nicht aurhören zu rufen, sondern müssen
stets und ohne Unterlaß die Menschen zu Christus
weisen. Denn dies Zeugnis von Christus will der Teu-
fel nicht leiden, legt sich mit aller Macht dagegen und
hört nicht auf, bis daß ers zu Boden stoße und dämp-
fe. Dazu sind wir Menschen noch schwach und ver-
kehrt und können an allen Heiligen eher festhalten als
an Christus. Im Papsttum hat man von dem Dienst der
Heiligen gepredigt, daß man sich auf ihr Verdienst
verlassen sollte. Und ich selbst habe auch so geglaubt
und gepredigt. So ganz ist der Mensch von Natur ge-
neigt, von diesem Zeugnis Johannes des Täufers ab-
zufallen.
Darum ists vonnöten, daß man immerdar anhalte
und dies Zeugnis des Johannes von Christus einpräge.
Denn es kostet Mühe und Arbeit, bei dem Wort und
Zeugnis zu bleiben, daß man im Tode sagen könne:
Ich soll und muß sterben. Aber ich habe einen Hei-
land, von welchem Johannes der Täufer zeuget, auf
den verlasse ich mich und sonst auf keine Kreatur,
weder im Himmel noch auf Erden. Daß man aber auf
den Mann, zu welchem allein Johannes der Täufer
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5086 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 6

weiset, so fröhlich sterben könnte, wie auf menschli-


che Satzungen, da wird nichts draus. Ebenso, daß
man so stark auf die heilige Taufe bauen könnte wie
auf eigene Werke, das ist hoffnungslos. Das kommt
daher, das sage ich, daß wir Menschen alles andere
leichter glauben und unser Vertrauen und Herz drauf
setzen können. Allein dem Mann Christus, welcher
allein alles ist und in welchem und durch welchen wir
alles haben, können wir nicht vertrauen. Geld und Gut
ist ein vergänglich Ding, dennoch kann man sich dar-
auf verlassen, daß man um Geldes und Gutes willen
mordet, stiehlt und raubt und Leib und Leben waget.
Man wird fröhlich, wenn mans hat und traurig, wenn
mans nicht hat. Aber auf Johannes des Täufers Zeug-
nis und Predigt kann man nichts tun noch wagen. Ist
das nicht eine böse, verkehrte Art?
Darum klagt der Evangelist Johannes in seinem
Evangelium, daß Johannes des Täufers Zeugnis von
Christus gepredigt und gelehrt werde, aber die Welt
nehme es nicht an. Ja auch die, welche es hören und
billig Freude, Hoffnung und Trost davon haben soll-
ten, gaffen auf etwas anderes und lassen dies Zeugnis
fahren. So gehts in der Welt. Hat jemand einen Hut
voll Taler, machen ihn die so stolz, daß er nicht weiß,
ob er auf dem Kopf oder auf den Füßen gehen soll.
Sagt man ihm aber von Christus, so spricht er: Was
ist das? Ei, so schlage auch Tod, Donner und Blitz in
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5087 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 7

die Welt, daß man angesichts dieses Zeugnisses Jo-


hannes des Täufers so schlafen will! Bauern, Bürger,
Adel, Herren, Knechte werdens allesamt überdrüssig
zu hören und zu lernen. Sie sagen: Was, Zeugnis!
Was, Evangelium! Was, Christus! Hätten wir Joa-
chimstaler und schöne Weiber!
Das sieht man hier an den hochgelehrten Leuten
auch: Sie gucken auf Johannes den Täufer, ob er Chri-
stus, Elias oder ein Prophet sei; denn sie hätten gerne
Christus, Elias, Propheten, wie sie wollen. Ja, da hat
unser Herrgott Lust zu! Das Gegenteil hat er, meine
ich. Es heißt: Lieber Mensch, du sollst Christus so
annehmen, wie ihn Gott sendet, nicht wie du ihn
haben willst. Ich wollte mir wohl auch gern einen
Christus machen, wie michs gut dünket, drei Tage fa-
sten oder etwas anderes tun und danach sagen: Das
gefällt Gott wohl, dadurch will ich selig werden. Aber
Christus will das nicht. So warten die Juden auf Chri-
stus, er solle als ein weltlicher König mit viel Rossen,
Wagen und Reitern kommen, und warten auf Elias, er
solle mit einem feurigen Wagen kommen, und die
Propheten sollen mit viel und großen Wunderzeichen
kommen. Nein, nicht so. Gott sendet Johannes mit
dem Zeugnis und mit der Lehre und sagt: Werdet ihr
Johannes mit seinem Zeugnis haben, so werdet ihr
Christus vor der Tür haben; darum nehmet Johannes
mit seinem Zeugnis an. Aber die Juden habens nicht
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5088 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 8

tun wollen, ja, sie haben des Johannes mit seiner


Taufe gespottet, darum haben sie auch Christus selbst
verspottet.
So gehts dem Zeugnis des Johannes noch heutigen
Tages: sein Wort und seine Predigt wird verachtet.
Wir predigen: der Herr ist da, nehmt ihn an, aber da
wird nichts draus, ja, Christus und sein Evangelium
wird weggeworfen. Darum schickt unser Herrgott den
Verächtern seines Evangeliums auch so viele Rotten,
daß sie Christus verlieren. So wirds in der Welt
gehen: wenn unsere Bürger, Bauern, Adel nun genug
Taler haben, wird ihnen das widerfahren, daß Predi-
ger kommen werden, die ihnen Christus werden ver-
leugnen helfen. Johannes der Täufer schüttelt die
Juden von sich und sagt: Ich bin nicht Christus, ich
bin nicht Elias noch ein Prophet. Aber diese Veräch-
ter, die Johannes mit seinem Zeugnis nicht annehmen
wollen noch unserer Predigt glauben, werden andere
Prediger bekommen, die werden sagen: Ich bins. So
gehts und kanns nicht anders gehen, wenn das Wort
weg ist. Wir predigen jetzt, aber ihr hört nicht; wenns
hernach hinweg ist, so ists dahin.
Deshalb kommts darauf an, daß man am Beispiel
Johannes des Täufers lerne, dies Zeugnis von Christus
zu behalten. Denn sobald dies Zeugnis und diese
Lehre hinweg ist, so hebt man von Stund an von
Menschenwerken und falscher Heiligkeit zu predigen,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5089 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 9

so daß man den Menschen mit äußerlichem Gepränge


eine Nase macht. Alsdann hört aller rechte Trost auf
und wird der rechte Weg zur Seligkeit verfehlt. Denn
wenn Johannes mit seinem Zeugnis schweigt, so ist
der Himmel zu und müssen die Menschen zur Hölle
fahren. Denn es ist kein anderer Weg zum Himmel
und zur Seligkeit als dies Zeugnis des Johannes von
Christus.
So behandelt dies Evangelium den hohen Artikel
von Christus, daß wir ihn annehmen sollen, ihn küs-
sen und herzen, uns an ihn hängen, uns von ihm nicht
reißen noch ihn uns nehmen lassen. Das ist das
Hauptstück christlicher Lehre, und darauf steht der
Grund unserer Seligkeit. Wenn man das Hauptstück
hat, so folgen alsdann die guten Werke, daß man
fromm, den Eltern gehorsam, der Obrigkeit untertan
sein und ein jeder in seinem Stande dem Nächsten
dienen soll. Wenn mans so unterscheidet und eine
jede Lehre an ihrem Ort gelten läßt, so ists recht. Die
Zehn Gebote lehren, was in diesem Leben gut ist;
aber um von jenem Leben zu reden, soll allein das
Zeugnis des Johannes gelten. Da heißts: Ich bin nicht
wert, daß ich seine Schuhriemen auflöse; weiter: Die-
ser ists, der mit dem Heiligen Geist und mit Feuer
tauft (Matth. 3, 11). Das ist: Christus, der mitten
unter euch getreten ist, wird mit dem Heiligen Geist
eure Herzen erleuchten und anzünden, für euch ster-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5090 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 10

ben und euch das ewige Leben geben. Zu diesem


Leben gehören die Zehn Gebote, aber zu dem ewigen
Leben gehört das Evangelium und dies Zeugnis des
Johannes von Christus.
Das ists, daß Johannes so fest gestanden und be-
kannt und nicht geleugnet hat. Gott gebe, daß wir
auch so feste stehen und solch Zeugnis nicht ändern,
weder im Predigen noch im Hören. Es ist auch sehr
nötig. Denn von Natur sind wir dazu geneigt, daß wir
leicht anderen Dingen zufallen. Alles, was in der Welt
ist, das ist eitel Anfechtung und Hindernis wider dies
Zeugnis des Johannes. Geld, Gut, Weib, Kind, falsche
Heiligkeit sind eitel Hindernisse, die uns aufhalten
oder auch gar von diesem Zeugnis wegführen. Darum
vermahne ich euch auch, daß ihr zusehet und euch die
Lehre nicht nehmen lasset. Eßt und trinkt, wie ihr
wollt; laßt euch allein nur diese Lehre nicht nehmen.
Gott wolle uns dabei gnädig erhalten, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5091 Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19-28 11

Editorische Bemerkung

Die erste Predigt der HP (von dreien über den glei-


chen Text) wählt von den acht Nachschriften Rörers
die zu Predigten über diese Perikope WA 36,
387-390 abgedruckte Hauspredigt von 1532, nicht
bei Dietrich.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5092 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 1

Martin Luther

Erster Weihnachtstag
Jes. 9, 1-6

[HP 434–437;
WA 34, II, 515–523]

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5093 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 2

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes


Licht, und über denen, die da wohnen im finstern
Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du
machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freu-
en, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich
ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drük-
kendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und
den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage
Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daher-
geht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird
verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns
gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schul-
ter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-
Vater, Friede-Fürst; auf daß seine Herrschaft groß
werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron
Davids und in seinem Königreich, daß ers stärke
und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun
an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des
Herrn Zebaoth.

Das ist ein recht güldenes Kapitel, darin der Prophet


Christus mit trefflichen, herrlichen Worten abmalt,
was er für eine Person und Herr sei, nämlich daß er
mich und dich und alle, die an ihn glauben, trägt mit
allen unsern Sünden, Jammer und Herzeleid. Und das
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5094 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 3

hat er nicht allein zu der Zeit getan, da er zu uns auf


Erden gekommen ist und unsere Sünde auf sich gela-
den und am Kreuz getragen hat, wie 1. Petr. 2, 24
sagt: »Er hat unsere Sünde selbst hinaufgetragen an
seinem Leibe auf das Holz«. Er trägt uns auch noch
täglich durch sein Wort und Evangelium. Damit ist
das geistliche und leibliche Reich trefflich unterschie-
den. Das weltliche Regiment soll ein solch Regiment
heißen und sein, da wir den Herrn und König tragen.
Denn der Welt ist not, daß sie gedrückt und gezwun-
gen werde. Aber das geistliche Regiment und Reich
Christi soll heißen und ist auch ein solch Regiment,
da der Herr und König uns trägt. Denn wie es dem
rohen, wilden Haufen in der Welt notwendig ist, daß
sie den Herrn auf dem Halse haben, den sie fürchten
und tragen müssen, so ist es den betrübten Herzen
und verzagten Gewissen umgekehrt notwendig, daß
sie getragen und von ihrer Bürde und Last befreit
werden. Das ist ein großer Unterschied zwischen den
zwei Königreichen. Im weltlichen Regiment müssen
so viel tausend Menschen ein Haupt, einen weltlichen
König und Herrn tragen. Aber im geistlichen Regi-
ment trägt ein Haupt und König, nämlich Christus,
unzählige Menschen. Ja, er trägt der ganzen Welt
Sünde, wie der Prophet Jesaja Kap. 53, 6 sagt: »Der
Herr warf unser aller Sünde auf ihn«, und Johannes
der Täufer Joh. 1, 29: »Siehe, das ist Gottes Lamm,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5095 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 4

welches der Welt Sünde trägt«. Und heute läßt er von


sich predigen, daß er ein König der Gnade und Barm-
herzigkeit sei. Das ist ein Stück in der Weissagung
unseres Textes.
Es folgen nun die sechs Namen, die der Prophet
diesem König gibt, mit welchen Namen er weiter ab-
malt, wie sein Reich gestaltet sei. Bisher hat er den
König so gemalt, daß er ein solcher Herr und König
sei, der sein Königreich auf seiner Schulter trage.
Aber mit den sechs Namen lehrt er uns, welches die
Gestalt und Farbe der heiligen christlichen Kirche sei.
Willst du die christliche Kirche recht abmalen, so
male sie so, daß sie Christus auf seiner Schulter liege
und Christus sie tragen müsse. Wie aber Christus
seine Kirche trägt und wie die Kirche von ihm getra-
gen wird, das geht so zu, daß als erstes sein Name
und Werk sei: »Wunder-Rat«.
Und er heißt »Wunder-Rat«. Christus heißt »Wun-
der-Rat« von dem Werk, das er an seiner heiligen
christlichen Kirche übt, welche er so regiert, daß
mans mit keiner Vernunft begreifen noch merken
kann, daß sie die christliche Kirche sei. Er bindet sie
an keine Stätte, Zeit noch Person, er läßt sie nicht an
irgendeinem äußerlichen Ding, Kleidung oder Gebär-
de erkannt werden, daß man daran merken und eigent-
lich wissen könnte, wo sie sei und wie groß oder klein
sie sei. Willst du sie antreffen und finden, so liegt sie
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5096 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 5

nirgends anderswo als auf Christi Schulter. Willst du


sie fassen, so mußt du deine Augen und alle Sinne
zutun und allein hören, wie sie der Prophet hier be-
nennt und abmalt.
Seine Kirche ist ein verworfen Volk vor der Welt,
vor dem Teufel und auch vor uns selbst. Und das
wäre noch erträglich und leidlich, daß solcher Schein
allein vor der Welt und dem Teufel wäre. Aber daß es
auch vor unseren Augen oft so scheint, das ist schwer
zu überwinden. Denn die Kunst kann der Teufel, daß
er oft einem Christen die Augen so ganz von der
Taufe abwendet, vom Sakrament, von Christi Wort,
daß er sich selbst mit den Gedanken plagt, als sei er
von Gott verstoßen, wie David über solch inwendig
Zagen und Schrecken Psalm 31, 23 klagt: »Ich sprach
in meinem Zagen: Ich bin von deinen Augen versto-
ßen«.
Das ist unsere Hoffarbe, daß die christliche Kirche
vor ihren Augen und ich vor mir selbst so sein soll,
daß es nicht scheine, daß sie die Kirche ist und daß
ich ein Christ bin. Ich soll wissen und glauben, daß
dies die heilige christliche Kirche ist und daß ich ein
Christ bin, und soll doch sehen, daß beide, Kirche
und ich, zugedeckt sind mit der dicken Decke, daß wir
von aller Welt ketzerisch und teuflisch gescholten
werden; ja, ich soll hören, daß mein eigen Herz zu
mir sagt: Du bist ein Sünder. Diese dicken Decken,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5097 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 6

Sünde, Tod, Teufel und Welt, decken die Kirche und


Christen so zu, daß man nichts sehen kann, weder von
Kirche noch von Christen, man sieht eitel Sünde und
Tod und hört eitel Lästerung des Teufels und der
Welt. Da steht die ganze Welt und alles, was weise
und klug ist in der Welt gegen mich, ja, meine eigene
Vernunft sagt mir ab, und ich soll dennoch fest darauf
bestehen und sagen: ich bin ein Christ, ich bin gerecht
und heilig.
Was soll ich nun hierzu sagen? Anderes nicht als
das, was hier steht: Mein Herr Jesus Christus, der mir
geboren und gegeben ist, heißt »Wunder-Rat«, der re-
giert seine Kirche und Christen verwunderlich, so daß
sie gerecht, heilig, weise, rein, stark, lebendig und
Gottes Kinder sind, obwohl doch das Gegenteil der
Fall zu sein scheint, nicht allein vor aller Welt, son-
dern auch vor uns selbst. Woran soll man sich aber
halten, auf daß man solchen Schein überwinden
könne? An das Wort. Denn gleichwie es Christus in
seiner Person seltsam und verwunderlich macht: da er
zum Vater ins ewige Leben gehen will, geht er in den
Tod; da er Sünde, Tod und Teufel fangen will, läßt er
diese über sich herfahren, läßt er sich anklagen, lä-
stern, verdammen, würgen und töten usw. So müssen
wir auch die Augen unsers Herzens auftun, daß wir
uns nicht nach dem äußeren Schein, sondern nach
dem Wort einschätzen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5098 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 7

Deshalb soll ich so sagen: Ich halte die Christen


und mich selbst für heilig, nicht um meiner eigenen
Gerechtigkeit willen, sondern um der heiligen Taufe,
um des heiligen Sakraments, um des Worts und um
des Herrn Christi willen, an den ich glaube. Wenn ich
mich ohne die Taufe, ohne das Sakrament und Wort
ansehe, so finde ich eitel Sünde und Ungerechtigkeit,
ja, den Teufel selbst, der plagt mich ohne Unterlaß.
Ebenso ist es auch, wenn ich euch außerhalb der
Taufe, außerhalb des Sakraments und Worts ansehe.
Dann sehe ich keine Heiligkeit an euch. Wenn ihr
schon hier in der Kirche seid, Gottes Wort hört und
betet, seid ihr dennoch nicht heilig, außerhalb des
Worts und Sakraments gerechnet. Darum tuts der äu-
ßere Schein nicht, aber das tuts, daß ich sage: dieser
Mensch ist getauft, hört gern Gottes Wort, glaubt an
Christus. Das sind rechte Wahrzeichen, an denen ich
erkenne, daß er ein rechter Christ und heiliger Mensch
ist.
Die äußerliche Gestalt und Larve tuts nicht. Wo
das Evangelium lauter und rein gepredigt wird, wo
die heiligen Sakramente in ihrem rechten Brauch
gehen und ein jeder sein ihm befohlenes Amt und
Werk in seinem Stande ausrichtet, da findet man be-
stimmt Gottes Volk und rechte Christen. Deshalb
sollst du dich nicht nach dem äußeren Schein richten,
sondern nach dem Wort. Richtest du dich nach dem
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5099 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 8

äußeren Schein und nicht nach dem Wort, so wirst du


bestimmt fehlgehen. Ursache ist diese: an einem Chri-
sten findet man von außen nichts Besonderes von
einem andern Menschen, ja, es soll wohl ein Unchrist
und Heide oft eine sittsamere Gebärde und ehrbarere
Gestalt aufweisen, als ein Christ. Darum trügen die
äußere Gestalt und der Schein.
Darum soll man die christliche Kirche recht ken-
nenlernen und nicht auf die äußere Larve sehen, son-
dern auf das Wort. Ein Weib, das getauft ist, das
Evangelium hört, an Christus glaubt, einen Ehemann
hat, Kinder zeugt, das ihr anbefohlene Amt tut, ist
heilig, ob man schon ihre Heiligkeit nicht sieht. Denn
ich kann mit den leiblichen Augen ihre Taufe nicht
sehen, mit der sie vor Gott geschmückt ist, noch ihren
Glauben an Christus, den sie im Herzen hat, sondern
ich sehe, daß sie im Hause herumgeht, die Kinder rei-
nigt, spinnt, näht, kocht. Darum scheint nichts Beson-
deres an ihr; doch wo sie am Evangelium und im
Glauben an Christus bleibt und ihr Amt treulich aus-
richtet, so ist sie heilig und ein Glied der christlichen
Kirche, nicht ihrer Frömmigkeit halben, sondern um
der Taufe, um des Evangeliums willen, welches sie im
Herzen hat, und um des Herrn Christi willen, der in
ihrem Herzen wohnt. Niemand siehts solchem Weibe
an, daß sie eine Christin und ein heilig Weib ist.
Darum soll man sich vor den äußeren Larven hüten
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5100 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 9

und lernen, daß das die christliche Kirche ist, die ge-
tauft ist und den Glauben an Christus im Herzen hat
und äußerlich in den allgemeinen Werken dahergeht,
wie sie eines jeden Stand und Beruf erfordert. So soll
man die christliche Kirche ansehen und erkennen.
Wer sie so ansieht, der kann nicht fehlgehen noch
irren. Wer aber solche Erkenntnis nicht hat, an der es
der ganzen Welt und aller Vernunft mangelt, der muß
irren.
So heißt nun Christus »Wunder-Rat« deshalb, weil
alles verwunderlich und seltsam ist, was er an seiner
christlichen Kirche tut. Die christliche Kirche hat, wie
gesagt, eine verwunderliche Gerechtigkeit und Heilig-
keit, die aller Vernunft verborgen ist. Wenns aber
zum Kreuz kommt, da gehts viel wunderlicher und
seltsamer zu. Denn ein Christ, der getauft ist und
Christus bekennt, muß in der Welt leiden und verfolgt
werden, um Christi und des Evangeliums willen. Das
sieht vor aller Welt so aus, als sei er von Gott verlas-
sen, und er selbst denkt in seinem Herzen nicht anders
nach der Vernunft. So läßt Christus seine Kirche mit
Kreuz, Verfolgung und allerlei Ärgernis zudecken,
auf daß er alle Welt zum Narren mache. Da ist aber-
mals alle Vernunft gefangen und kann sich hierein
nicht schicken. Aber ein Christ ergreift das Wort und
denkt so: wenn ich schon verachtet und verfolgt
werde, bin ich dennoch getauft, habe das Evangelium,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5101 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 10

glaube an Christus und achte meine Taufe, Evange-


lium, Christus in meinem Herzen so groß, daß ich da-
gegen die ganze Welt für einen Splitter halte.
Und das ist bestimmt wahr: Wer das Evangelium
und Christus im Herzen hat, der hat solche Gerechtig-
keit vor Gott, daß wenn er schon der ganzen Welt
Sünden auf sich hätte, sie wären dagegen doch wie ein
Tröpflein Wassers im Vergleich zu einem ganzen
Meer. Es ist nicht eine kleine Sache, wenn man Got-
tes Wort ansieht und sich daran hält. Sondern es ist so
groß, daß dagegen alle Kreaturen wie ein kleines
Stäublein sind. So ist nun die christliche Kirche ge-
recht und heilig, ob sie schon vor der Welt nicht das
Ansehen hat, daß sie gerecht und heilig sei, ja auch
dazu mit Kreuz und Ärgernis zugedeckt ist. Und nie-
mand kann der Kirche Gerechtigkeit und Heiligkeit
mit dem Glauben genugsam ergründen und fassen, ge-
schweige denn, daß er sie mit menschlicher Vernunft
ergründen und fassen können sollte. Und wer die
christliche Kirche und die Christen erkennen will, der
muß sie am Wort, Evangelium, Glauben und Früchten
des Evangeliums und Glaubens erkennen. Wenn du
das Evangelium hast, getauft bist, an Christus
glaubst, so bist du ein Christ und heilig. Wenn du da-
nach in deinem Stande so wandelst, hältst deine Ehe,
ehrst Vater und Mutter usw., das sind Früchte des
Evangeliums und des Glaubens.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5102 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 11

Läuft aber zuweilen ein Vergehen mit unter, das


muß nicht schaden. Gedenke an deine Taufe, halte
dich an das Evangelium, hole die Absolution, emp-
fange das Sakrament, sage: Mir sind böse Gedanken
eingefallen, ich bin gestrauchelt, habe da und da Un-
recht getan. Aber ich bin getauft, ich habe das Wort,
die Absolution, das heilige Sakrament: das ist mir
eine größere Heiligkeit als die ganze Welt mit allen
Kreaturen. Christus Jesus ist mein gütigster, barmher-
zigster Fürsprecher, daß wenn mich schon alle Teufel
schrekken wollten, so sind sie doch kaum ein Fünk-
lein gegen ihn.
Hieraus sehen wir nun, warum Christus »Wunder-
Rat« heißt, nämlich deshalb, weil er alles, was er an
der christlichen Kirche tut, aus unsern Augen, Ver-
nunft und Sinnen reißt und in seinem Wort verbirgt.
Gerechtigkeit, Heiligkeit, Weisheit, Stärke, Leben,
Seligkeit und alles, was die Kirche in Christus hat, ist
der Vernunft unbegreiflich und der Welt verborgen.
Willst du die Kirche nach der Vernunft und nach dem
äußerlichen Ansehen beurteilen, so ists falsch. Denn
da wirst du solche Leute sehen, die sündhaft, gebrech-
lich, erschrocken, betrübt, elend, verfolgt und verjagt
sind. Wenn du aber darauf siehst, daß sie getauft sind,
an Christus glauben, ihren Glauben mit rechtschaffe-
nen Früchten beweisen, das Kreuz in Geduld und
Hoffnung tragen, so ists recht. Denn das ist die rechte
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5103 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 12

Farbe, daran man die christliche Kirche erkennen


kann. Die Vernunft sieht die Taufe als bloßes Wasser
und das Wort als einen Ton an. Deshalb kann sie die
christliche Kirche nicht kennen noch finden, weil sie
die Taufe und das Wort so gering achtet. Aber wir
Christen sollen die Taufe und das Wort so hoch ach-
ten, daß wir auch aller Welt Gut dagegen für nichts
halten sollen. Wenn wir das tun, so können wir die
christliche Kirche erkennen und auch uns selbst trö-
sten und sagen: In mir bin ich ein Sünder, aber in
Christus, in der Taufe, im Wort bin ich heilig.
So sollen wir uns diesen Namen »Wunder-Rat« zu-
nutze machen, auf daß wir uns durch äußeren Schein
nicht betrügen lassen. Das ist uns auch sehr vonnöten.
Denn die Welt kanns nicht lassen, sie will die christli-
che Kirche äußerlich malen, mit Gebärden und Lar-
ven. Aber die Kirche läßt sich nicht anders malen, als,
wie gesagt, mit dem Evangelium, Wort, Taufe, Sakra-
ment, Glauben und Früchten des Glaubens. Die Taufe
ist die rechte weiße Farbe, das Wort und der Glaube
sind die herrliche blaue Farbe am Himmel; die Früch-
te des Evangeliums und des Glaubens sind die andern
mannigfaltigen Farben, mit denen wir geschmückt
sind, ein jeder in seinem Stande und Beruf.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5104 Erster Weihnachtstag. Jes. 9, 1-6 13

Editorische Bemerkung

Die dritte Predigt von den fünf, welche die HP über


diesen Text in ihrem 3. Teil enthält, wählt von den
mehr als zehn Nachschriften Rörers die WA 34, II,
515-523 abgedruckte, nicht bei Dietrich. Die Predigt
ist am 26. Dezember 1531 gehalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5105 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 1

Martin Luther

Erster Weihnachtstag
Luk. 2, 1-14

[HP 32–36;
WA 34, II, 501–508]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5106 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 2

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von


dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt ge-
schätzt würde. Und diese Schätzung war die allerer-
ste und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger
in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich
schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da
machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der
Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Da-
vids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem
Hause und Geschlecht Davids war, auf daß er sich
schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe,
die war schwanger.
Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie
gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und
wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe;
denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf
dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts
ihre Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu
ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie;
und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach
zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige
euch große Freude, die allem Volk widerfahren
wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, wel-
cher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und
das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5107 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 3

Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und


alsbald war da bei dem Engel die Menge der himm-
lischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und
den Menschen ein Wohlgefallen.

Dies ist die Erzählung von diesem Fest und von der
Geburt unseres lieben Herrn Jesus Christus, darüber
jetzt zu predigen ist. Und es ist sehr fein geordnet,
daß man den Bericht in der christlichen Kirche so fei-
ert, besonders weil auf den Bericht so viel ankommt
und der Grund unsers christlichen Glaubens drauf ste-
het.
In diesem Evangelium sind zwei Stücke: das erste
ist die Geschichte, wie es heute zugegangen ist, daß
unser lieber Herr Jesus Christus zu Bethlehem gebo-
ren ist. Das andere Stück ist die Engelpredigt von
dem Nutzen und Kraft der Geschichte, wie wir uns die
Geburt unsers Herrn Jesu Christi sollen zu Nutzen
machen.
Lukas beschreibt die Geschichte so, daß er anzeigt,
zu welcher Zeit, in welchem Jahr, an welchem Ort
und auf welche Art und Weise Christus geboren sei,
nämlich zu Bethlehem im jüdischen Lande zu der
Zeit, da das römische Reich am besten stand, der fein-
ste Kaiser regiert hat und da die erste Schätzung über
das ganze Land gegangen ist. Der Kaiser läßt das
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5108 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 4

Gebot ausgehen, alle Welt zu schätzen und nimmt


von einem jeglichen Haupt etwas zur Schätzung. Auf
solch Gebot machen sich auch Joseph und Maria im
Gehorsam des Kaisers auf, daß sie sich schätzen las-
sen, kommen deshalb aus Galiläa ins jüdische Land
nach Bethlehem. Da kommt die Zeit, daß Maria gebä-
ren sollte, und sie gebiert auch ihren Sohn, den Hei-
land aller Welt, da sie in einem fremden Lande und in
einer fremden Stadt sind, wo sie weder Haus noch
Hof haben, und als die Stadt so voll ist, daß sie gar
keinen Raum in der Herberge haben.
Dies ist der Hergang in Kürze beschrieben, daraus
man sieht und lernen soll, daß der Herr flugs nach sei-
ner Geburt auf Erden mit der Tat anfängt, sein und
der Welt Reich zu unterscheiden. Er stellt sich nicht
anders, als kennte er die Welt und ihr Reich nicht;
und umgekehrt stellt sich die Welt auch, als kennte
sie diesen König und sein Königreich nicht. Doch
wird Christus gleichwohl zu Bethlehem geboren und
hat eine natürliche Mutter, hat eine Krippe und Win-
deln, gebraucht die Welt, ob er schon unter dem Kai-
ser Augustus geboren wird und der Kaiser Augustus
zu Bethlehem die Gewalt und das Regiment hat. So
ist auch kein Christ auf Erden, der diese Welt nicht
gebrauche. Darum ist Christus und des Kaisers Reich
so zu unterscheiden: Christi Reich ist und soll kurzum
sein ein geistlich Reich, und doch geht dieses geistli-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5109 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 5

che Reich mitten in der Welt Reich, und Christus


samt seinen Christen gebrauchen die Welt, wie Paulus
lehrt, 1. Tim. Kap. 6. Des Kaisers Reich ist ein welt-
lich Reich, der richtet und schlichtet weltliche Sachen,
spricht Reden, führt Krieg, braucht das Schwert usw.
Christus hat mit solchen Weltsachen nichts zu tun,
sondern sein Reich und Amt ist, daß die Seelen von
Sünde und Tod erlöset werden und daß er helfe, wo
die Welt nicht helfen kann.
Wahr ists, die Christen essen und trinken mit in der
Welt, gebrauchen dieses Leben auf Erden, gleichwie
ihr König Christus in der Welt auch mit gegessen und
getrunken und dieses Leben gebraucht hat. Aber sol-
ches tun die Christen alles als Pilger und Fremdlinge
und als Gäste in der Herberge, gleichwie Christus
auch getan hat. In der Herberge gehts so zu: der Wirt
sorgt dafür, wo er Speise, Trank, Brot, Fleisch, Wein,
Bier nehme, der Gast sorgt nicht dafür. Der Gast leh-
ret nicht den Wirt, wie er haushalten solle. Er sagt
nicht: Lieber Wirt, wenn ihr Speise kauft, so tut so
und so, sondern so sagt er: Lieber Wirt, habt ihr nicht
Brot und Fleisch? Traget her, laßt mich essen, ich bin
reisefertig. Ebenso ist Christus auch nicht darum auf
Erden gekommen, daß er dem Kaiser Augustus in sein
Regiment eingreife und ihn lehre, wie er regieren
solle. Aber dennoch gebraucht er des weltlichen Regi-
ments und der Krippe, solange bis er sein Amt vollen-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5110 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 6

de, dazu er gesandt ist. So lehrt Paulus 1 Kor. 7, 29 –


31: »Fortan müssen auch die, welche da Frauen
haben, sein, als hätten sie keine; und die da weinen,
als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten
sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es
nicht; und die diese Welt brauchen, als gebrauchten
sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht«.
Das ist soviel gesagt wie: Das Ziel des Strebens der
Christen ist: nicht auf Erden sein, nicht freien und
sich freien lassen, nicht essen, trinken, sich kleiden,
freuen, kaufen und verkaufen (obwohl dies das Be-
dürfnis des Leibes für eine Stunde oder zwei, so wie
ein Gast, gebraucht), sondern ein anderes, das da
bleibt, wenn solches alles aufhört.
Diesen Unterschied soll man gut merken: des welt-
lichen Regiments Endziel ist zeitlicher Friede; der
christlichen Kirche Endziel ist nicht Friede und Ge-
mächlichkeit auf Erden, nicht schöne Häuser, Reich-
tum, Gewalt und Ehre, sondern ewiger Friede. Die
Obrigkeit sorgt nicht dafür, wie ich selig sterbe und
ewig lebe, kann mir auch wider den Tod nicht helfen,
sondern sie muß selbst auch dran, und wenn ich ster-
be, mir schließlich folgen; der Tod kommt über sie
ebensowohl wie über den ärmsten Bettler. Des Staates
Regiment dient zu diesem zeitlichen, vergänglichen
Leben, aber wenn dies zeitliche Leben aufhört, fängt
der christlichen Kirche Regiment erst recht an. Daß
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5111 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 7

sie den betrübten, geängstigten Gewissen den Schatz


verkündigen lasse, von Christus erworben und der
Kirche von Christus befohlen: nämlich Vergebung der
Sünden und ewigen Frieden, das soll das Ziel und
Ende sein, da das christliche Regiment hinzielen und
hinstreben soll.
Das andere Stück in diesem Evangelium ist die En-
gelspredigt, welche auch der Hauptspruch in diesem
Evangelium ist und klar anzeigt, daß Christi Reich
ein ganz anderes ist als der Welt Reich. Denn so
unser lieber Herr Christus ein weltlicher König hätte
sein wollen, würden die Hohenpriester von Jerusalem,
Hannas und Kaiphas, oder andere große Leute von
Bethlehem gekommen sein und von seiner Geburt ge-
predigt und gesungen haben: »Ehre sei Gott in der
Höhe«. Nun aber kommen zu seiner Geburt die
himmlischen Geister und heiligen Engel Gottes, eben
die Fürsten, da solch Reich hingehört. Und diese
Himmelsfürsten wenden ihre Augen nicht auf die
Welt, sondern sehen auf diesen König, der im Stall
geboren ist und in der Krippe liegt. Damit zeigen sie
an, daß dieser König ein solch Königreich habe, darin
nicht der Kaiser Augustus noch der König Herodes zu
regieren hat, sondern darüber Gott selbst König und
Herr ist und darin eitel Engel und heilige Menschen
sind.
Es ist hier auch angezeigt, wer diejenigen sind, die
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5112 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 8

in dieses Königs Reich gehören, nämlich die betrüb-


ten Herzens und zerschlagenen Gemüts sind. Die nach
dem weltlichen Reich, nach Gewalt und Hoheit rin-
gen, die gehören in dies Reich nicht. Wahr ists, ein
Christ mag und kann wohl weltliche Obrigkeit sein,
Land und Leute regieren. Aber das tut er aus Gehor-
sam Gott gegenüber und aus christlicher Liebe, daß er
seinem Beruf Folge tue und der Welt mit seinem Re-
giment diene; er hält sich doch wie ein Knecht im
Hause und ein Gast in der Herberge, wie David Ps.
39, 13 sagt, obwohl er ein König ist: »Ich bin ein
Gast bei dir, ein Fremdling, wie alle meine Väter«.
Welche aber nach Gewalt und Herrschaft dieser Welt
trachten und ringen, die gehören nicht hierher in die-
ses Königs Reich. Hierher gehören eitel arme, bedürf-
tige Leute. Um ihretwillen ist dieser König auf Erden
gekommen, deshalb ist sein Reich ein Reich für die
erschrockenen, betrübten, elenden Leute.
Um dieser Ursache willen kommen die Engel mit
großem Glanz und herrlicher Klarheit, welche die
Hirten in einen großen Schrecken versetzt, auf daß of-
fenbar werde, daß es wahr sei, daß allein elende, be-
trübte Leute, die nicht nach großem Reichtum, Ge-
walt und Hoheit trachten, in dieses Königs Reich
kommen. Sie gebrauchen den Reichtum dieser Welt,
die Gewalt und Herrschaft wohl, wenn sie ihnen zu-
fällt, gleichwie ihr König Christus die Windeln,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5113 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 9

Milch, Krippe gebraucht. Aber sie trachten und rin-


gen nicht danach, sondern sehen auf jenes ewige
Reich, darin ewiger Friede und ewiges Leben ausge-
teilt wird. Das ists, was der Text meint: Die Hirten
fürchteten sich sehr. Denn die Engel kamen zu ihnen
mit hellem Glanz und großem Licht, so daß das Licht
in der finstern Nacht leuchtete, als wäre der Himmel
eitel Feuer, und daß die Hirten nicht anders meinten,
als wäre es der Blitz. Damit ist angezeigt, daß dieser
König denen geboren sei, die in Furcht und Schrecken
sind, und auch diese allein in sein Reich gehören.
Denen soll man auch predigen, wie der Engel den
armen, erschrockenen Hirten predigt: »Siehe, ich ver-
kündige euch große Freude«.
Was ist das für Freude? Höre, was der Engel sagt:
»Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem
Volk widerfahren wird«. Das ist, als wollte er sagen:
Es wird diese Freude wohl allem Volk angeboten,
aber doch sind dieser Freude allein die fähig, die er-
schrockenen Gewissens und betrübten Herzens sind.
Diese gehören zu mir und zu meiner Predigt, denen
will ich etwas Gutes verkündigen. Ist das nicht ein
großes Wunder, daß diese Freude da am nächsten sein
soll, wo die größte Unruhe des Gewissens ist? Wo
man in Furcht und Schrecken steckt, da soll so herrli-
che, liebliche, süße Freude hinkommen, so daß es ein
menschlich Herz schwerlich ergreifen und annehmen
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5114 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 10

kann? Zu den Hirten kommt so ein schönes Licht und


ein Glanz, davor alle Finsternisse der Welt weichen
müssen, dennoch erschrecken sie davor und fürchten
sich sehr. Soll man denn vor Freude erschrecken und
sich vor so schönem Licht fürchten? Wohlan, da
stehts geschrieben, daß die Hirten sich vor des Herrn
Klarheit, welche um sie geleuchtet hat, gefürchtet
haben. Und so solls auch sein und nicht anders.
Merke aber dies sehr gut und erfasse es fest und
sicher, daß der Engel sagt: Christus, zu Bethlehem
geboren, sei nicht schreckliche Traurigkeit, sondern
große, tröstliche Freude, die ein erschrocken Herz
wünschen und begehren kann. Die Welt ist fröhlich
und guter Dinge, wenn sie Geld und Gut, Gewalt und
Ehre hat. Aber ein elendes, betrübtes Herz begehrt
nichts anderes als Frieden und Trost, daß es wissen
möge, ob es einen gnädigen Gott habe. Und diese
Freude, durch die ein betrübtes Herz Ruhe und Frie-
den hat, ist so groß, daß aller Welt Freude dagegen
stinkt. Darum soll man den armen Gewissen so predi-
gen, wie der Engel hier predigt: Höret mir alle zu, die
ihr elenden und betrübten Herzens seid, ich bringe
euch eine fröhliche Botschaft. Ihr sollt nicht anneh-
men, daß Christus mit euch zürne. Denn er ist nicht
deshalb auf Erden gekommen und Mensch geworden,
daß er euch in die Hölle stoße, viel weniger ist er
darum für euch gekreuzigt worden und gestorben,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5115 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 11

sondern deshalb ist er gekommen, damit ihr große


Freude in ihm hättet.
Das ist die rechte Definition und Entscheidung.
Willst du Christus recht definieren und eigentlich be-
schreiben, wer und was er sei, so merke darauf, wie
ihn der Engel hier definiert und beschreibt, nämlich
daß er ist und heißt: »Große Freude«. Wer nun diese
Definition gut lernen und fest erfassen könnte! Denn
da kommt es drauf an. Ein menschliches Herz kann es
nicht von sich aus festsetzen, daß Christus mit seinem
rechten Namen heiße: »Große Freude«. Welche diese
Definition so machen können, daß sie in ihrem Her-
zen Christus nicht anders malen als lauter Freude,
sind deshalb seine rechten wahrhaftigen Schüler.
Wenn diese gleich hören, daß die erste Welt durch die
Sintflut vertilgt ist, daß Sodom und Gomorra mit
Schwefel und Feuer zerstört ist, und was dergleichen
solcher schrecklicher Exempel göttlichen Zorns und
Gerichts mehr sind, dann sagen sie: Das alles gehe
seinen Weg, ich aber sehe dahin, wer Christus ist und
glaube, daß sein rechter Name heißt: »Große Freude«.
Solches wollte uns der Engel in dieser Predigt
gerne lehren, auf daß alle betrübten Herzen und ge-
ängstigten Gewissen Christus in seinem rechten Bilde
erkennen und fassen lernen. Wo Christus zornig sieht,
da ersäuft er die Welt mit der Sintflut und schlägt Kö-
nige und Tyrannen danieder; aber hier sieht er nicht
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5116 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 12

zornig, sondern freundlich und lieblich und heißt:


»Große Freude«. Wem zugut? allen betrübten Herzen.
Das ist der goldene Text, den wir gut merken sollen,
auf daß wir uns damit in Traurigkeit und Anfechtung
zu trösten wissen. Welche ohne Furcht und Anfech-
tung sind, bedürfen dieses Heilandes nicht; die armen
Sünder aber, die in Furcht und Schrecken liegen, be-
dürfen sein. Denen kann sonst niemand helfen, als al-
lein dieser Heiland, Christus der Herr, heut zu Bethle-
hem geboren.
Darum soll man den Engel mit seiner Predigt recht
haben lassen und ihn nicht zum Lügner machen. Denn
er gibt Christus die rechten Namen, die ihm allein ge-
bühren. Er ist und heißt der einige Heiland. Denn
auch am Jüngsten Tage, da er kommen wird zu rich-
ten die Lebendigen und die Toten, wird er erst ganz
der rechte Helfer sein und uns die rechte Hilfe bewei-
sen, uns erlösen von Teufel, Tod und von diesem
schändlichen Leben. Wenn er am Jüngsten Tage nicht
käme, so wäre er nicht ein rechter Heiland. Nun aber
wird er am Jüngsten Tage kommen, auf daß er sich
als ein rechter Heiland erzeige: nicht, daß er die rich-
te, die eine Freude an ihm haben, sondern daß er die
richte und strafe, die ihn lästern und verfolgen. Er
wird kommen, daß er mit denen rechte, die ihm sein
Erbteil zerrissen haben. Das ist erstlich der Teufel,
danach die Tyrannen dieser Welt, böse Bauern, Bür-
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5117 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 13

ger, Adel, die uns plagen.


Deshalb sei Christus, wo er wolle, in der Krippe
oder zur Rechten Gottes, er heiße Herr oder Richter,
wie wir im Glaubensbekenntnis von ihm bekennen, so
ist er allezeit ein Heiland. Denn alles, was er getan
hat und noch tun wird, das gilt uns und geht dahin,
daß wir erlöset werden. Gott gebe uns seine Gnade,
daß wir solches fassen und behalten mögen, Amen.

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5118 Erster Weihnachtstag. Luk. 2, 1-14 14

Editorische Bemerkung

Die erste der vier Predigten der HP über die Perikope;


von den über dreißig zur Verfügung stehenden Nach-
schriften Rörers ist die WA 34, II, 501-508 abge-
druckte als Vorlage gewählt, nicht bei Dietrich. Die
Predigt ist 1531 gehalten.

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5119 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 1

Martin Luther

Zweiter Weihnachtstag
Luk. 2, 15-20

[HP 50–52;
WA 37, 245–248]

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5120 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 2

Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren,


sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun
gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen,
die da geschahen ist, die uns der Herr kundgetan
hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria
und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da
sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort
aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede,
die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber be-
hielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Her-
zen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und
lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen
hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.

Zum ersten sieht man hier an den Hirten, daß der


Engel Predigen und Singen nicht vergebens gewesen
ist. Denn so lieb lassen sie sich ihre Herden nicht
sein, sie machen sich auf und wollen das Kindlein
sehen, welches die Engel selbst einen Herrn nennen.
Das ist eine Frucht, die da aus der Engel Predigt folgt.
Die andere Frucht ist, daß die Hirten auch zu Predi-
gern werden und jedermann sagen, was sie von die-
sem Kindlein gehört haben. Sie gehen hin und predi-
gen in dem Wirtshause und anderswo, was sie gehört
und gesehen haben. Solchem Vorbild sollen wir fol-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5121 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 3

gen, Christus im Wort suchen, an ihn glauben und ihn


öffentlich vor jedermann bekennen.
Zum zweiten sieht man, wie sich das Volk zu dem
neugeborenen Kindlein stellt. Denn der Evangelist
sagt: »Alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede,
die ihnen die Hirten gesagt hatten«. Sie verwundern
sich alle, aber sehr wenige glaubens. Bei dem größten
Teil ists ein solch Wundern gewesen, das nicht lang
gedauert hat. Denn das weiß man aus Erfahrung, daß
Gott unter seinem Regiment solche Menschen hat; er
tue ihnen gut oder übel, er stäupe sie oder gebe ihnen
gute Worte, so ists bald vergessen. So ein schändlich
Ding ists um eines Menschen Herz, daß es so schnell
eine Sache vergißt und unsern Herrgott immerdar aus-
treibt, so daß er stets neue Wunderzeichen und Stra-
fen ergehen lassen muß, sollen wir wach sein und sei-
ner Wohltat gedenken, sonst wirds gar bald verges-
sen. So ist auch dies hier zu verstehen, daß der Evan-
gelist sagt: »Alle, vor die es kam, wunderten sich der
Rede«. Man hat von dieser Geschichte etwa ein Vier-
teljahr geredet, daß ein Kindlein zu Bethlehem gebo-
ren sei, von dem die Engel in den Lüften gepredigt
und zu dem die Weisen aus dem Morgenland gezogen
sind und es angebetet haben. Aber ehe zwei, drei oder
vier Jahre vergangen sind, hats jedermann vergessen.
Und hernach, über dreißig Jahr später, als der Herr
auftrat, predigte und Wunderzeichen tat, ists ganz
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5122 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 4

vergessen gewesen und hat niemand etwas mehr


davon gewußt, daß zu Bethlehem je solch Kind gebo-
ren worden sei.
Zum dritten wird uns hier an der Maria ein Beispiel
derer hingestellt, die Gottes Wort recht hören und be-
halten. »Maria«, sagt der Evangelist, »behielt alle
diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen«. Das
ist, sie bedachte es fleißig, eben wie die tun, die Got-
tes Wort festhalten, darüber nachsinnen und es beden-
ken, die finden je länger je mehr größere Bedeutung
und Trost darinnen und werden von Tag zu Tag ihres
Glaubens gewisser. Die ruchlosen Geister aber, die es
mit einem Ohr hören und zum andern wieder hinaus-
lassen, man predige ihnen solange und soviel man
wolle, behalten es so lange, wie ein Schlag ins Was-
ser zu sehen ist. Das tut Maria nicht; der ist daran ge-
legen gewesen, darum behält sie es, schreibt es in ihr
Herz, bewegts, das ist, sinnt ihm nach, denkt bei sich
selbst: Was bedeutet das? Es ist ein überaus groß
Ding, daß ich des Kindes Mutter sein soll, bei dem
die himmlischen Engel sind, von dem sie predigen
und singen: Es sei der Welt Heiland, Christus der
Herr. Mit solchen Gedanken ists ihr so tief ins Herz
hineingesunken, daß sie es hat behalten müssen, und
wenn gleich die ganze Welt dagegen gewesen wäre
und gesagt hätte, dies Kind sei nicht der Welt Hei-
land, so hätte es ihr doch niemand nehmen noch aus-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5123 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 5

reden können, sie wäre fest darauf geblieben, ihr Sohn


wäre Gottes Sohn und der ganzen Welt Heiland und
Herr.
Diesem Beispiel der heiligen lieben Mutter des
Herrn sollen wir folgen (denn darum ists uns vorge-
schrieben) und auch mit solchem Fleiß und Ernst das
Wort in unser Herz einprägen, daß gleichsam ein gan-
zes daraus werde. Wie im 8. Kapitel des Hohenliedes
(V. 6) steht: »Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz,
wie ein Siegel auf deinen Arm«. Da will er, daß sein
Wort uns nicht allein auf der Zunge schwebe wie ein
Schaum auf dem Wasser oder Geifer im Munde, den
man ausspeit, sondern daß es ins Herz hineingedrückt
werde und ein solch Kennzeichen bleibe, welches nie-
mand abwaschen kann, gerade als wäre es drin ge-
wachsen und ein natürlich Ding, das sich nicht her-
auskratzen läßt. Ein solch Herz ist das der Jungfrau
Maria gewesen, in welchem diese Worte wie hinein-
gegraben geblieben sind. Alle nun, die das Wort so
erfassen, die haben das rechte Kennzeichen Christi,
das rechte Siegel und Merkmal, lassen sich das Wort
nicht nehmen, es stehen gleich Rottengeister auf oder
der Teufel selbst. Wie sie einmal davon gehört und
geglaubt haben, so bleiben sie dabei. Bei den andern,
ob sie es gleich hören und sich darüber verwundern,
bleibts doch nicht lange, sondern es ist bald verges-
sen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5124 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 6

Nun folget weiter: »Die Hirten kehrten wieder um,


priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und
gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war«. Zum
vierten: Nachdem die Hirten das Kindlein Jesus gese-
hen und das Geschrei von ihm allenthalben verbreitet
haben, daß die ganze Stadt Bethlehem davon zu sagen
weiß, da gehen sie wieder hin zu ihren Herden, prei-
sen und loben Gott, singen auch und sprechen: Gott
sei Lob und Dank, der uns das neugeborene Kindlein
hat offenbar werden und finden lassen, wie sie denn
von den Engeln gehört und gelernt hatten, die da san-
gen: »Ehre sei Gott in der Höhe« usw.
Dies ist auch eine feine, gute Lehre, daß die Hirten,
nachdem sie erleuchtet und zur rechten Erkenntnis
Christi gekommen sind, bei ihrem Beruf bleiben und
so ihrem Nächsten dienen. Denn der rechte Glaube
macht nicht solche Leute, die das äußerliche Leben
fahren lassen und ein neues anheben, wie z.B. die
Mönche meinten. Christus kommt nicht so, daß er äu-
ßerliche Dinge ändern oder seine Schöpfung zerstören
und anders machen wolle. Darum soll man den Leib
nach Notwendigkeit, und wie es überall ist, kleiden,
seine Nahrung geben und zur Arbeit brauchen. Das ist
Gottes Schöpfung und Ordnung, da läßt ers bei blei-
ben. Er ist nicht gekommen, daß er etwas daran än-
dern wolle.
Das ist aber die rechte Änderung, um welcher wil-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5125 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 7

len Christus gekommen ist: daß ein Mensch inwendig


im Herzen anders werde. Gleichwie ich nun ein ander
Herz, Mut und Sinn habe als damals, bevor das liebe
Evangelium wieder an den Tag kam. Damals meinte
ich, Gott nehme sich meiner nicht an, dachte auch
nicht, daß ich Gott dienete, wenn ich in meinem Beruf
bliebe und mein Amt ausrichtete. In Summa, ich
kannte Gott nicht, ich wußte nicht, wie ich Sünde und
Tod überwinden, in den Himmel kommen und ewig
selig werden sollte. Ich meinte, ich müßte das alles
mit meinen Werken ausrichten. Daran aber liegts, daß
das Herz erleuchtet werde und, wie oben gemeldet,
ein neues Siegel kriege, daß es sagen könne: Ich weiß,
daß Gott sich meiner annimmt und mich mit Treue
meint, denn er hat seinen Sohn gesandt, ihn Mensch
werden lassen, daß ich durch ihn Sünde und Tod
überwinden und das ewige Leben haben soll.
Das ist nun die rechte Änderung. Denn so etwas
hat mein Herz zuvor nicht gewußt noch geglaubt. Nun
aber weiß es und glaubt, ist deshalb auch ganz und
gar anders gesinnt als zuvor. Das richtet unser lieber
Herr Christus an, daß das Herz und die Seele ein ganz
neues und anderes Verständnis, Willen, Lust und
Liebe kriegen. Das ist z.B. so: Wo zuvor der Mensch
nach Geld und Gut getrachtet hat, setzt er jetzt, nach-
dem er zur Erkenntnis Christi gekommen ist, nicht al-
lein Geld und Gut, sondern auch Leib und Leben aufs
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5126 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 8

Spiel, ehe er Christus und sein Wort lassen wollte.


Zuvor hätte sein Herz nicht einen Heller um des Glau-
bens willen verlieren wollen, jetzt ließe er sich Chri-
stus nicht nehmen, wenn es schon tausend Welten ko-
sten sollte.
Den Hirten fiel es nicht ein, daß Christus, der Hei-
land, geboren sein sollte. Nun sie es aber von den En-
geln hören, laufen sie in die Stadt und suchen das
Kindlein. Da sie es gefunden, von ihm gepredigt und
Gott für solche Gnade und Offenbarung gedankt
haben, kommen sie wieder zu ihrer Herde, haben nur
einen Rock und Stab wie zuvor, bleiben Schäfer, än-
dern an dem äußerlichen Wandel nichts. Das heißt
christlich gelehrt und gelebt. Denn Christus ist nicht
gekommen, die Schöpfung zu ändern, bis zum Jüng-
sten Tag. Wenn die Seele vorher vollkommen und neu
geändert ist (was hier auf Erden durch das Evange-
lium nur anfängt), dann wird auch der Leib geändert
werden, daß wir nicht mehr einer warmen Stube, Klei-
dung, Essen oder anderes bedürfen, sondern wir wer-
den in den Lüften schweben wie die Engel und leuch-
ten wie die schönen Sterne. Da wird das Äußerliche
auch anders werden, da werden wir nicht essen, nicht
ruhen, nicht schlafen, keinen Rock anhaben usw.
Aber vor diesem Tag soll alle äußerliche Kreatur blei-
ben, wie sie Gott geordnet hat und keine Änderung
geschehen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5127 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 9

Danach soll sich ein jeglicher in seinem Stande und


Beruf richten, züchtig, gerecht und gottselig leben und
wissen, daß solch äußerliches Wesen den christlichen
Glauben nicht hindert. Auch fragt Christus nicht da-
nach, ob du äußerlich ein Mann oder Weib seiest,
Kaiser oder Stallknecht, Bürgermeister oder Scherge;
solches läßt er alles bleiben und sagt: Du sollst Gott
in solchem Stand und Leben gehorsam sein und
davon nicht abstehen.
Darum taten die Hirten auch nicht mehr, als daß sie
Gott lobten und priesen. Sie sagen nicht: Ich will fort-
an Gott so dienen, daß ich in eine Wüste laufen und
in der Welt unter den Leuten nichts mehr tun, sondern
allein in einem beschaulichen Leben Gott mit Fasten
und Beten dienen will. Nein. Ursache: solches heißt
nicht Gott dienen, sondern aus dem Gehorsam treten
und dir selbst dienen. Gott aber dienen heißt, wenn
man in dem Stand bleibt, in den dich Gott eingesetzt
hat, daß Mann Mann, Weib Weib bleibe, Kaiser Kai-
ser, Bürger Bürger bleibe, und ein jeder in seinem
Stand Gott erkennen lerne und ihn preise, so dient er
ihm recht.
Denn er bedarf deiner Mönchstracht und deines Fa-
stens nicht, sondern daß du in deinem Stand und
Beruf gehorsam seiest und seinen Sohn preisest, so
dienst du ihm recht.
So sehen wir auch in den Propheten, daß unser
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5128 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 10

Herrgott zornig drüber ist, wo das Herz ungeändert


bleibt und die Menschen sich dennoch um ihrer äu-
ßerlichen Werke und Gottesdienst willen für fromm
halten. Was plagt ihr mich mit eurem Opfer? sagt Je-
saja 1 (1 ff.), Jeremia 7 (21 ff.) und Psalm 50 (9 ff.):
Gehet hin, fresset euer Fleisch selbst und habt ein
böses Jahr dazu. Wenn ichs brauche, will ichs immer
eher kriegen, als ihr es mir opfert; habe ichs euch
doch nicht aufgetragen. Das aber habe ich euch gebo-
ten, daß ihr meiner Stimme gehorchen, mich loben
und mir danken sollt. Schafe, Kühe, Ochsen habe ich
euch gegeben, damit ihr sie essen sollt. Ihr aber wollt
mir damit schmeicheln, als müßte ichs von euch er-
betteln. So ist es den Propheten also auch allenthal-
ben darum zu tun, daß das Herz geändert und wir vor
allen Dingen gegen Gott recht gesinnet seien.
So wills sich Gott gefallen lassen. Denn daß du ein
Christ seiest und Gott wohlgefallest, das ist nicht am
äußerlichen Leben gelegen, sondern an deinem Her-
zen, daß du wissest, daß Jesus der rechte Heiland sei
und dich sein tröstest, Gott dafür dankest und lobest.
Alsdann will Gott sich das andere äußerliche Leben
oder Stand gefallen lassen. Darum sollen wir gar wohl
lernen und fleißig merken, daß wir den christlichen
Glauben nicht vom Wort noch die Gottseligkeit auf
äußere Werke setzen. Solches ist wider den Strom
und die eigentliche Meinung des christlichen Glau-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5129 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 11

bens: der will das Herz haben. Auswendig soll es


gehen, wie Gott einen jeden gefordert hat und es üb-
lich ist. Solches soll bis in jenes Leben bleiben, da
soll der Leib auch schön und rein werden. In diesem
Leben mögen wir die unreine Haut tragen, aber dort
werden wir ganz rein werden. Dazu helfe uns Chri-
stus, unser Heiland, Amen.

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5130 Zweiter Weihnachtstag. Luk. 2, 15-20 12

Editorische Bemerkung

Die dritte Predigt der zweiten Serie der HP von Weih-


nachtspredigten; von den vier Nachschriften Rörers
ist die WA 37, 245-248 abgedruckte gewählt, wie bei
Dietrich, der jedoch 19 Druckseiten frei hinzufügt,
während die HP »die Predigt genau nach der Vorla-
ge« bringt. Sie ist 1533 im Hausge gehalten.

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5131 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 1

Martin Luther

Sonntag nach Weihnachten


Luk. 2, 33-40

[HP 53–56;
WA 34, II, 537–546]

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5132 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 2

Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich


des, das von ihm geredet ward. Und Simeon segnete
sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, die-
ser wird gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Is-
rael und zu einem Zeichen, dem widersprochen
wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert
dringen – auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar
werden. Und es war eine Prophetin, Hanna, eine
Tochter Phanuels, vom Geschlecht Asser; die war
hochbegabt und hatte gelebt sieben Jahre mit ihrem
Manne nach ihrer Jungfrauschaft und war nun eine
Witwe bei vierundachtzig Jahren; die kam nimmer
vom Tempel, diente Gott mit Fasten und Beten Tag
und Nacht. Die trat auch hinzu zu derselben Stunde
und pries Gott und redete von ihm zu allen, die auf
die Erlösung Jerusalems warteten.
Und da sie es alles vollendet hatten nach dem Ge-
setz des Herrn, kehrten sie wieder heim nach Gali-
läa in ihre Stadt Nazareth. Aber das Kind wuchs
und wuchs und ward stark, voller Weisheit, und Got-
tes Gnade war bei ihm.

Man hat aber dies Evangelium deshalb auf den heuti-


gen Sonntag gelegt, weil hier steht: Joseph und Maria
haben sich des verwundert, daß von dem Kindlein ge-
redet war. Der Altvater Simeon tritt hinzu und kann
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5133 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 3

altershalber kaum den Weg vor sich sehen, dennoch


sieht er so scharf, daß er dies Kindlein erkennt und
rühmt, es sei aller Welt Heiland und Licht. Alle Kai-
ser, Könige und Fürsten, sagt er, sind eitel Finsternis,
aber dies Kindlein ist aller Welt Licht. Alle Welt
steckt im Tode und Verdammnis, aber durch dies
Kindlein wird die Welt selig werden. In Summa: dies
Kindlein ist der, von dem alle Propheten geweissagt
haben.
Die andern, die solches im Tempel auch gehört
haben, werdens als eine Narrenrede verachtet und ge-
dacht haben, Simeon sei trunken oder das Alter mache
ihn toll, darum rede er als ein alter schwachsinniger
Mann. Wie könne dies Kindlein der ganzen Welt Hei-
land und Licht sein, welches arm ist und nichts hat als
geringe Windeln, und seine Mutter hat kaum einen
Groschen im Beutel? So werden die andern Leute die
Rede des alten Simeon verachtet und in den Wind ge-
schlagen haben. Aber Maria und Joseph verwundern
sich darüber nicht aus Unglauben, sondern aus mäch-
tigem Glauben und hohem Verständnis. Denn das ist
des Glaubens eigentliche Art: je fester einer eine
Sache glaubt, desto mehr verwundert er sich und
desto fröhlicher wird er darüber. Wo ers aber umge-
kehrt nicht glaubt, so nimmt er sich dessen nicht an
und hat weder Freude noch Lust dazu. Zum Beispiel:
Wenn dies in meinem Herzen gewiß würde und ich
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5134 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 4

ohne allen Zweifel glaubte, daß das Kindlein Jesus,


von der Jungfrau Maria geboren, sei mein nächster
Freund, mein Bruder, ja mein Fleisch und Blut, und
seine Gerechtigkeit, sein Leben sei mein Leben, wie
wir diese Tage über von der Geburt Christi gehört
haben – wenn ich solches, sage ich, von Herzen
glaubte, so würde ich mich so darüber verwundern
und freuen, daß ich mich nicht genug freuen und ver-
wundern, noch genug an dies Kindlein denken könnte.
Aber wo findest du einen, der es recht glaubt und
zu Herzen nimmt? Wir könnens alle zumal nachspre-
chen, aber daß wirs nicht glauben, des sind wir bald
zu überführen, denn es folgt keine Freude, keine Ver-
wunderung, keine Änderung bei uns. Wenn man das
einen Glauben nennen will, so ists wahrlich ein kalter
und halb erstorbener Glaube, sonst würden wir nicht
erschrecken noch zornig werden, sondern fröhlich und
zuversichtlich sein. Denn ein Christ ist ein fröhlicher,
zuversichtlicher, seliger Mensch, der weder nach dem
Teufel noch nach allem Unglück fragt. Denn er weiß,
daß er durch Christus über solches alles ein Herr ist.
Solches predigen wir täglich, und viele unter uns
lassen sich leider dünken, sie könntens allzugut. Aber
wollte Gott, wir lernten es von ganzem Herzen und
wären sicher, daß es wahr sei, daß wir durch Christus
zu Herren über alles gemacht sind. Von Petrus und
Paulus kann sich ein jeder leicht denken, daß sie an
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5135 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 5

der Erbschaft Christi teilhaben und mit ihm in Ewig-


keit leben. Aber daß ich das auch von mir und du von
dir so kräftig glaubte, wie wir glauben sollten, da
fehlt es dran, weil wirs in uns noch nicht sehen, nicht
fühlen noch empfinden. Wir denken so: Petrus, Pau-
lus ist ein Herr und Fürst über Himmel und Erde.
Aber ob ich auch ein Herr und Fürst über Himmel
und Erde sei, das weiß ich nicht. Was heißt das aber
geglaubt? Weil ich von mir nicht glaube, daß ich
durch Christus ein Herr und Fürst über Himmel und
Erde geworden bin, so glaube ich solches auch gewiß
nicht von Petrus und Paulus. Ebenso weil ich nicht
glaube, daß mir durch Christus die himmlische Erb-
schaft geschenkt ist, so glaube ich auch nicht, daß
Christus mir zugut Mensch geworden und geboren ist
und daß ich in Christus getauft bin.
Denn wo solcher Glaube da wäre, der es für sicher
hielte, daß wir arme Sünder in ein ewiges Leben und
Gerechtigkeit gesetzt sind, das sollte ja zum wenig-
sten mit einem Fünklein gefühlt werden, von dem das
Herz fröhlich und mutig würde, daß wir in Anfech-
tung und Verfolgung nicht so verzagt wären, sondern
beiden, Teufel und Welt, noch dazu trotzten und sag-
ten: Es sei Sünde, Tod, Teufel, Welt, Papst, Kaiser so
böse und zornig sie immer wollen, was frage ich da-
nach? Nimmt mir der Papst und der Kaiser das
Leben, so müssen sie viel mehr daran setzen und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5136 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 6

haben größern Verlust als ich. Sie nehmen mir die


Hülse und Schale, aber den Kern und Schatz, daß ich
durch Christus von Sünden ledig gemacht und dem
ewigen Tod und Zorn Gottes entlaufen bin, können
sie mir nicht nehmen. Wenn mir nur dies Kindlein
bleibt, so fahre das andere dahin, was ich nicht behal-
ten kann. Denn ein Christ ist nicht auf dies zeitliche
und vergängliche Leben ausgerichtet, wie die Welt
das ist, sondern auf das zukünftige, ewige Leben.
Also sollten wir uns über das verwundern, was wir
von Christus hören und getrost und unverzagt sein.
Daß wir aber noch so erschrecken und uns fürchten,
das ist ein Zeichen dafür, daß wir nicht fest genug
glauben, daß uns durch Christus das ewige Leben und
Himmelreich erworben und geschenkt ist. Wohlan,
wers kann, der kanns, wers nicht kann, der lerne es.
Es werden doch etliche sein, die sich verwundern und
über das überschwengliche Gute freuen, durch Chri-
stus uns erworben und geschenkt.
Denen ist diese Predigt eine ewige Speise, von der
sie nimmermehr genug haben können, wie Petrus (1.
Petr. 1, 12) sagt, daß auch die Engel Lust haben, daß
sie es anschauen sollen. Aber ein verdrossener, fauler
Geist fragt nichts danach, sondern kehrt sich zu dem
fleischlichen Trost. Wenn er seinen Gott Mammon,
Wein, Korn, Essen und Trinken hat, so meint er, er
habe alles.
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5137 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 7

Nun wollen wir auch die Weissagung Simeons be-


sehen: »Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria,
seiner Mutter: Siehe, dieser wird gesetzt zu einem
Fall und Aufstehen vieler in Israel«.
Dies ist auch ein seltsamer Segen. Nachdem der
alte Simeon gesagt hat, dies Kindlein werde ein treff-
licher, mächtiger Mann werden, ein Heiland, bereitet
zum Heil der ganzen Christenheit, und ein Licht zum
seligen Schein der Heiden, über welch hohe Worte Jo-
seph und Maria sich verwundert haben, spricht er nun
weiter: Dies Kindlein werde auch ein Fall und Auf-
stehen vieler in Israel sein. Das ist, es werden sich an
dem Herrn Christus viele, nicht allein aus den Heiden,
sondern auch aus dem Volk Israel stoßen und ärgern,
daß sie an ihm anlaufen und fallen; umgekehrt werden
sich viele auch an ihm bessern und aufstehen. Das ist
nun des Kindleins, unsers lieben Herrn Christus, be-
sonderer Name: so soll es ihm gehen, so soll er auf
der Welt gehalten werden, daß viele an ihm anlaufen
und fallen, dagegen auch viele sich an ihn halten und
an ihm aufstehen sollen.
Dies ist ein sehr nötiger Unterricht, daß wir Chri-
stus nicht allein so ansehen sollen, daß er den Juden
ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist (1
Kor. 1, 23), sondern auch, daß er ein Aufstehen vieler
in Israel ist. Darüber dürfen wir uns nicht beküm-
mern, daß der große Haufe an ihm zu Fall kommt und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5138 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 8

sein Evangelium aufs schändlichste mißbraucht; wie


wir jetzt vor Augen haben, daß Bauern und Bürger
sich an dem Herrn Christus leider so bessern, daß sie
tun, was sie gelüstet. In der Welt wirds nimmermehr
anders werden: Wo dieser König mit seinem Wort
und Reich ist, da wird der meiste Teil sich ärgern und
fallen. Daran mußt du dich gewöhnen und es so gehen
lassen, wo du ein Christ bleiben willst, und daneben
auf das kleine Häuflein sehen und dich dazu halten,
das nicht fällt, sondern an diesem König festhält und
aufsteht. Wenn es nun so zugeht, daß die Leute häufig
dahinpurzeln und fallen, so lasse es gehen, denn so
gehts recht, wie Simeon hier sagt.
Willst du nun ein Christ sein, so schicke dich so
drein und sei des nur gewiß, daß dein Herr Christus,
du, deine Lehre und all dein Tun der Welt nicht gefal-
len werden. Denn hier hörst du, daß dein Herr Chri-
stus selbst denen, die Gottes Volk sind, ein Stein des
Anlaufens und ein Fels des Ärgernisses sei, daran
sich alle ärgern, stoßen und darüber fallen, die da
groß, gewaltig, klug und heilig sein wollen. Willst du
nun auch von diesen und ihrem Anhang für einen
Narren, Ketzer und Verführer – denn anderes wird
nicht draus – gehalten sein, so nimm diesen Herrn
und König an und sei ein Christ. Wo nicht, so kannst
du ihn außer Acht lassen und dich immer zum Teufel
hin bewegen, dann wird die Welt dich loben und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5139 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 9

ehren. Wer ein Christ sein und nach diesem Leben


ewig leben will, der muß so in dieser Welt mit seinem
Herrn Christus den andern ein Ärgernis und Fall sein
und für ein Teufelskind, Ketzer, Verführer und Narren
gehalten werden. Das ist das erste Bild.
Das andere Stück aber ist wieder ein schönes,
tröstliches Bild, daß Simeon sagt, er sei nicht allein
zum Fall gesetzt, sondern auch zum Aufstehen vieler
in Israel. Die sinds nun, die diesen König annehmen,
an ihm aufstehen und ihren Leib und Leben, wenns
die Not erfordert, um seinetwillen lassen. Die fallen
ab von ihrem weltlichen Wesen, eigener Weisheit,
Gewalt, Gerechtigkeit und Heiligkeit. Denn sie wis-
sen, daß sie sich selbst durch ihre Weisheit, Werk und
Verdienst nicht helfen können. Soll ihnen aber gehol-
fen werden, so müsse es allein der tun, von dem ge-
schrieben steht, daß er der Welt Heiland und Licht
sei. Darum ist ihnen Christus ein erwünschter Mann,
und sie richten sich an ihm auf und werden durch ihn
selig. So zeigt nun dies Kindlein zweierlei Bilder: ein
ärgerliches Bild und ein schönes, tröstliches Bild. Et-
lichen ist es ein Fall, wie ein Stock in den Weg ge-
legt, über den sie fallen; etlichen ist es ein Aufstehen,
wie ein Fels am Wege, daran man sich lehnt und auf-
richtet. Die stolzen, hoffärtigen und klugen Heiligen
laufen mit dem Kopf wider ihn, prallen zurück, lä-
stern und fluchen ihm. Aber die Toren, Narren und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5140 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 10

armen Sünder stehen an ihm auf und glauben an ihn.


Was liegt, das steht an ihm auf. Was steht, das fällt
an ihm. Was verloren und verdorben ist, wird durch
ihn selig. Was närrisch ist, wird weise, was sündhaf-
tig ist, wird gerecht und heilig. Des lerne dich trösten,
es will mit diesem Kinde doch nicht anders werden,
Amen.

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5141 Sonntag nach Weihnachten. Luk. 2, 33-40 11

Editorische Bemerkung

Die erste der zwei Predigten der HP über die Periko-


pe, am 31. Dezember 1531 gehalten, die Vorlage zu
dieser Predigt ist nicht erhalten (von den in der Uni-
versitätsbibliothek Jena aufbewahrten Bänden mit
dem handschriftlichen Nachlaß Rörers sind im Laufe
der Jahrhunderte einige verloren gegangen), parallel
dazu ist WA 34, II, 537-546.

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5142 Neujahr. Luk. 2, 21 1

Martin Luther

Neujahr
Luk. 2, 21

[HP 65–68;
WA 34, I, 12–19]

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5143 Neujahr. Luk. 2, 21 2

Und da acht Tage um waren und man das Kind be-


schneiden mußte, da ward sein Name genannt Jesus,
wie er genannt war von dem Engel, ehe denn er im
Mutterleibe empfangen ward.

Der Evangelist hat mit besonderem Fleiß beschrieben,


daß das Kindlein Jesus nicht allein am achten Tage
beschnitten worden ist, sondern auch in der Beschnei-
dung seinen Namen empfangen hat, welcher Name
ihm nicht von Menschen aufgelegt, sondern von Gott
geordnet und gesetzt ist. Denn er ist vom Himmel her-
untergebracht und vom Engel angesagt worden, als er
der Jungfrau Maria verkündigt und (Luk. 1, 31)
spricht: »Du wirst schwanger werden und einen Sohn
gebären, des Namen sollst du Jesus heißen«. Darum
sagt der Evangelist, das Kindlein sei so genannt wor-
den, ehe es im Mutterleibe empfangen worden ist.
Von dem Namen wäre viel zu predigen für den, der
es könnte, doch wollen wir davon reden, soviel Gott
Gnade geben wird. Das Kindlein heißt und soll hei-
ßen Jesus. »Jesus« aber heißt auf Deutsch ein »Hei-
land«. Maria hat einen Sohn geboren, der heißt »Hei-
land«, Das wäre sein rechter Name auf Deutsch. Etli-
che verdeutschen es: ein »Seligmacher«, das ist aber
nicht gut Deutsch. »Heiland« ist rechtes, gutes
Deutsch. Warum aber dies Kind diesen Namen führe,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5144 Neujahr. Luk. 2, 21 3

deutet der Engel Gabriel, da er (Matth. 1, 21) zu Jo-


seph spricht: »Du sollst seinen Namen Jesus heißen,
denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden«.
Darum heißt er »Jesus«, ein »Heiland«, daß er den
Menschen in allen Nöten beistehen kann, hier und
dort, äußerlich und inwendig, zeitlich und ewiglich.
Wie wir das Wort »Messias« als ein »König« oder
»Gesalbter« verdeutschen, so verdeutschen wir das
Wort »Jesus« mit »Heiland«. Glauben sollen wir, daß
er unser Heiland sei, der uns von des Teufels Gewalt
helfe.
Diesen Namen laßt uns mit Fleiß lernen und mer-
ken, daß dies Kindlein allein »Jesus« heiße, sonst nie-
mand, und laßt uns gut die Deutung erfassen, die der
Engel Gabriel gibt, daß er ein solcher Jesus und Hei-
land sei, der sein Volk von ihren Sünden rette, der
nicht aus geringen Nöten und kleinen Anfechtungen
hier auf Erden helfe, wenn einer z.B. ein böses Wort
von seinem Nachbarn hört oder einem eine Kuh stirbt.
Solche geringen Fehler hat Gott der Welt anbefohlen,
die hat Kaiser, Könige und Obrigkeit, welche Land
und Leuten helfen können, hat Vater und Mutter, wel-
che ihren Kindern vorstehen, hat Ärzte, die bei leibli-
chen Krankheiten raten und helfen.
Wer sich nun dieses Kindleins annehmen und es
seinen Jesus oder Heiland sein lassen will, der sehe
ihn so an, daß er ein Heiland und Helfer sei, nicht be-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5145 Neujahr. Luk. 2, 21 4

sonders für dieses Leben, welches er (wie jetzt gesagt)


andern befohlen hat, sondern für das ewige Leben,
daß er von Sünden, und was auf die Sünde folgt wie
Tod, Teufel, Hölle, helfen will. Gegen diese Feinde
heißt er ein »Heiland«. Denn wo die Sünde weg ist,
da muß der Tod und Teufel auch hinweg sein. Wo du
nun an diesen Heiland glauben willst, so beschließe
bei dir, ob du auch glaubest, daß nach diesem Leben
ein anderes Leben sei. Willst du nicht glauben, daß es
ein anderes und zukünftiges Leben gebe, so hast du
am Kaiser, an deiner Obrigkeit, an Vater und Mutter
Heilande genug, die werden dir wohl helfen, was
Leib, Geld und Gut betrifft. Wo du aber glaubst, daß
nach diesem Leben ein anderes Leben sei, so bedarfst
du dieses Heilandes und seiner Hilfe; der hilft bei grö-
ßerem Unglück, bei dem weder Kaiser, Vater, Mutter
noch jemand anders helfen kann.
Zwar ists wahr: wenn Kaiser, Vater und Mutter
und andere Menschen nicht helfen wollen oder kön-
nen, so will der Herr Jesus da sein und den Seinen
auch in leiblichen Nöten beistehen. Aber sein beson-
deres und vornehmliches Amt ist nicht, daß er in zeit-
lichen Dingen helfe, sondern das ist sein vornehmli-
ches Amt, daß er von Sünde und ewigem Tode helfe.
Da kommt es auch eigentlich drauf an. Darum ist
daran gelegen, ob du auch glaubst, daß nach diesem
Leben ein anderes Leben sei. Wer das nicht glaubt,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5146 Neujahr. Luk. 2, 21 5

der kann diesen Heiland nicht recht erkennen. Und wo


du in dem Glauben bist, daß nach diesem Leben kein
anderes Leben sei, so wollte ich auch um deinen Gott
nicht einen Pfifferling geben; dann tue, was dich gelü-
stet. Denn wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es
auch keinen Teufel noch Hölle. Und dann ist es das-
selbe, wenn ein Mensch dahinstirbt, als wenn ein
Baum umfällt oder eine Kuh; wenn sie stirbt, so ists
alles aus. So lasset uns guter Dinge sein, fressen und
saufen, denn morgen sind wir tot, wie Paulus 1. Kor.
15, 32 sagt.
Wenn aber ein Gott existieren soll, wie er wahrhaf-
tig existiert, da muß etwas mehr vorhanden sein als
allein dies zeitliche Leben. Dafür sollten uns die Zehn
Gebote Zeugnis genug sein, wenn wir schon nichts
mehr von Gottes Wort hätten. Weil uns nun Gott sein
Wort gibt und in seinem Wort mit uns redet und uns
lehrt, was er von uns haben will, so ists ein Zeichen,
daß wir Menschen etwas mehr haben müssen als dies
zeitliche Leben. Wo aber Gott nicht mit den Men-
schen redet und die Menschen wiederum sich seiner
nicht annehmen, da kanns nicht anders zugehen, als
daß sie entweder zu Epikuräern und Säuen werden
oder daß ein jeder sich einen neuen Glauben erdichtet.
Zwar stellt er sich, als hätten wir ihn nicht in diesem
Leben zum Gott. Denn er läßt uns in allerlei leiblicher
Not stecken, wehrt den bösen Buben nicht, die uns
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5147 Neujahr. Luk. 2, 21 6

verfolgen und plagen, sondern gestattet, daß sie ihren


Mutwillen treiben und hier auf Erden alle Fülle
haben. Darum scheints, als sei er nicht ein Gott dieses
zeitlichen Lebens. Aber er hat uns verheißen, daß wir
etwas Besseres haben sollen als dies zeitliche Leben.
Er will wohl uns auch auf Erden regieren, uns
Essen, Trinken, Kleidung geben, und was wir bedür-
fen. Dennoch will er uns auf Erden allerlei Ungemach
leiden lassen, wie er selbst Joh. 16, 33 sagt: »In der
Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die
Welt überwunden«. So lerne nun ein jeder mit Fleiß,
daß dies Kindlein »Jesus«, ein »Heiland« heißt, und
merke die Deutung, was für ein Heiland er sei, näm-
lich wenn man in Nöten steckt, da ist kein Geld,
Vater und Mutter verlassen uns, gute Freunde fallen
ab, und kommt dazu die Zeit und Stunde, daß man der
Sünden Last fühlt, das Gewissen erschrickt und ver-
zagt, der Teufel tut seine feurigen Pfeile hervor, und
in Summa, da ist keine menschliche Hilfe noch Rat:
in solcher Not ist dies Kindlein ein Heiland, der hel-
fen kann und will.
Außerhalb dieses Stündleins, wenn man den Beutel
voll Geld hat, die Sünde und den Tod nicht fühlt, da
begehrt man dieses Heilandes nicht viel, bedarf auch
seiner Hilfe nicht. Denn er heißt nicht ein Geld-Hei-
land, sondern ein Heiland, der sein Volk von Sünden
selig macht und vom Tode errettet. Geld kann helfen,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5148 Neujahr. Luk. 2, 21 7

daß du Brot, Bier, Wein, Kleider dafür kaufest, kann


aber von Sünden und Tod nicht erretten. So ists auch
mit andern zeitlichen Gaben: Vernunft, Weisheit,
Kunst, Gewalt, Freundschaft und was auf Erden ist,
kann alles in den Sachen helfen, wozu es geordnet
und geschaffen ist. Eine Mutter kann die Kinder mit
Essen, Trinken und anderm versorgen, ein Arzt einen
Kranken betreuen, ein Jurist einer verlorenen Sache
helfen. Aber wenns mit diesem zeitlichen Leben ein
Ende haben wird und man sterben soll, wenn das Ge-
wissen seine Sünden vor Gottes Gericht nicht leugnen
kann und deshalb in Sorgen und Gefahr der ewigen
Verdammnis stehen muß, da ist die rechte Zeit, daß
dieser Heiland Jesus komme. Wenn da gleich alle
Winkel im Hause voll Goldes wären, so ists dennoch
alles verloren. Wenn da gleich alle Kaiser, Könige,
Fürsten, Väter, Mütter, Ärzte, Juristen, Weisen und
Klugen stünden und helfen wollten, so können sie
doch nicht helfen. Sondern dies Kindlein heißt und ist
allein Jesus, ein Heiland, der allen helfen kann und
will, die solche Not erkennen und Hilfe bei ihm su-
chen.
Weiter kommt auch alles darauf an, daß du gut
Acht darauf gebest und dies Kindlein deinen einzigen
Heiland sein lassest wider alle Theologen, die diesen
Namen verkehren und eigene falsche Heilande auf-
werfen außerhalb und gegen diesen rechten einzigen
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5149 Neujahr. Luk. 2, 21 8

Heiland. Da hüte du dich vor und siehe zu, daß du


diesem Kindlein seinen Namen rein lassest. Denn es
ist beschlossen, daß wider die Sünde und den Tod
kein anderer Heiland sein solle, auch niemand anders
helfen könne, weder im Himmel noch auf Erden, es
sei Papst oder gute Werke, Engel oder irgendeine
Kreatur, als dies einzige Kindlein der Jungfrau Maria,
das Jesus heißt. Gute Werke soll man tun, aber gute
Werke sind nicht Jesus, machen nicht selig, erretten
nicht vom Tode. Dies Kindlein aber macht selig und
errettet vom Tode.
Wer nun bei Anfechtung durch die Sünde und in
Todesnöten aus festem Glauben sagen könnte: das
Kindlein, der Jungfrau Maria Sohn, heißt Jesus, das
macht mich von meinen Sünden selig, auf ihn verlasse
ich mich und auf sonst niemand weder im Himmel
noch auf Erden, der wäre gewiß selig. Den Worten
nach hat man das bald gelernt, aber daß mans von
Herzen und wahrhaftig ohne allen Zweifel glaube, da
wills mit uns nirgends voran. Darum soll mans gut
merken: wenn dir irgend ein Übel auf Erden wider-
fährt, kannst du davon durch menschliche ordnungs-
gemäße Hilfe frei werden, wohl gut. Wenn du aber
auf den Tod liegst und sterben sollst, so verzichte auf
alles, sieh allein nach diesem Heiland und sprich: Ich
weiß noch einen Arzt, Juristen, Kaiser, König, Theo-
logen, nämlich das Kindlein Jesus, das kann und will
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5150 Neujahr. Luk. 2, 21 9

mich vom ewigen Tode erretten.


Diese Deutung des Namens »Jesus« ist nicht von
Menschen erfunden, sondern von Gott durch den
Engel Gabriel vom Himmel herabgebracht. Und allein
dies Kindlein soll diesen Namen führen und damit
alles ausrotten, zurückstoßen und wegwerfen, was
sich vor Gott ein Heiland und Helfer zu sein unter-
steht. Alles nun, was die Menschen außerhalb Christi
vornehmen, daß es zur Vergebung der Sünden und
dem ewigen Leben dienen und helfen soll, das ist
hiermit verworfen und verdammt. Darum sehe ein
jeder zu, daß er diesen Namen keinem andern gebe
noch geben lasse, er sei wer und wie groß er wolle.
Wer dies Kind für seinen Heiland hält, der tut Gott
die größte und höchste Ehre, wie Christus selbst Joh.
5, 23 sagt: »Damit sie alle den Sohn ehren, wie sie
den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt
den Vater nicht, der ihn gesandt hat.« Hältst du den
Sohn für deinen Heiland, so ist dir Gott der Vater
hold und ist kein Zorn bei ihm. So dir aber Gott hold
ist, was schadet dirs denn, wenn schon die ganze Welt
mit dir zürnt? Hältst du aber den Sohn nicht für dei-
nen Heiland, sondern suchst andere Helfer oder
denkst, deine Sünden seien zu groß, als daß dies
Kindlein dich davon erlösen könnte, so tust du Gott
die größte und höchste Unehre und bist deiner Selig-
keit aufs höchste ungewiß. Denn Gott hat nirgends
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5151 Neujahr. Luk. 2, 21 10

gesagt, daß deine guten Werke dein Heiland sein sol-


len. Wenn du aber an den Sohn glaubst, so hast du
Gott in seiner Verheißung gefangen. Denn er hat sei-
nen Sohn dazu bestimmt, daß er aller Welt Heiland
sein solle.
Das ist nun der Name »Jesus«, der dem Kindlein
zuerst von dem Engel vor seiner Empfängnis, danach
auch von der Mutter in seiner Beschneidung am ach-
ten Tage gegeben ist. Solcher Name dient dazu, wie
wir gehört haben, daß wer da glaubt, daß es ein ande-
res Leben nach diesem Leben gebe, wisse, wo er das
ewige Leben finden solle, nämlich bei dem Kindlein
Jesus allein, welches deshalb »Jesus« heißt, das heißt
»Heiland«, weil es zum ewigen Leben hilft, da keine
Kreatur helfen kann.
Und so haben wir aus dem heutigen Evangelium
gehört: zum ersten, daß das Kindlein am achten Tage
beschnitten worden ist und sich unter das Gesetz
getan hat, auf daß es alle, die an ihn glauben, vom
Fluch des Gesetzes erlösete, zum zweiten, daß das
Kindlein »Jesus« heißt, deshalb weil es ein Heiland
ist, der wider die Sünde und böses Gewissen, wider
den Tod und alles Unglück, das aus der Sünde folgt,
helfen soll. Dazu verleihe uns Gott seine Gnade,
Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5152 Neujahr. Luk. 2, 21 11

Editorische Bemerkung

Die zweite der von HP zu diesem Text gebotenen Pre-


digten wählt von den sechs Nachschriften Rörers die
WA 34, I, 12-19 abgedruckte als Vorlage, wie Diet-
rich, der jedoch einen zwei Seiten langen eigenen
Schluß hinzufügt, während die HP »genau ... ihrer
Vorlage folgt«. Die Predigt ist 1531 gehalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5153 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 1

Martin Luther

Sonntag nach Neujahr


1. Petr. 4, 12-19

[WA 12, 381–386]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5154 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 2

Ihr Lieben, lasset euch die Hitze nicht befremden,


die euch widerfährt, daß ihr versucht werdet. Meinet
nicht, es widerführe euch etwas Seltsames, sondern
freuet euch, daß ihr mit Christus leidet, auf daß ihr
auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit
Freude und Wonne haben möget. Selig seid ihr,
wenn ihr geschmäht werdet über dem Namen Chri-
sti; denn der Geist, der ein Geist der Herrlichkeit
und Gottes ist, ruht auf euch. Niemand aber unter
euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter
oder der in ein fremdes Amt greift. Leidet er aber
als ein Christ, so schäme er sich nicht, sondern ehre
Gott mit diesem Namen. Denn es ist Zeit, daß anfan-
ge, das Gericht an dem Hause Gottes. Wenn aber
zuerst an uns, was wills für ein Ende werden mit
denen, die dem Evangelium Gottes nicht glauben?
Und wenn der Gerechte kaum gerettet wird, wo will
der Gottlose und Sünder erscheinen? Darum, wel-
che da leiden nach Gottes Willen, die sollen ihm als
dem treuen Schöpfer ihre Seelen befehlen in guten
Werken.

Wenn der Glaube anfängt, so unterläßt es Gott nicht,


er schickt uns das heilige Kreuz zu, daß es uns stärke
und den Glauben in uns kräftig mache. Das heilige
Evangelium ist ein kräftig Wort. Deshalb kann es
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5155 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 3

nicht zur Wirkung kommen ohne Anfechtung, und


niemand wird es gewahr, daß es eine solche Kraft hat,
als wer es schmeckt. Wo Leiden und Kreuz ist, da
kann es seine Kraft beweisen und üben. Es ist ein
Wort des Lebens, darum muß es alle seine Kraft im
Sterben üben. Wenn nicht Sterben und Tod da ist, so
kann es nichts tun und kann niemand gewahr werden,
daß es solche Kraft hat und stärker ist als Sünde und
Tod. Darum sagt er: »daß ihr versucht werdet«, das
ist: Gott verhängt keine Glut oder Hitze (das ist
Kreuz und Leiden) über euch als deshalb, damit ihr
versucht werdet, ob ihr auch an seinem Wort hänget.
Der Brief redet nicht davon, daß wir das Leiden
Christi fühlen sollen, damit wir sein durch den Glau-
ben teilhaftig werden, sondern so will er sagen: Chri-
stus hat gelitten, also wisset, daß ihr auch leidet und
versucht werdet. Wenn ihr so leidet, so habt ihr mit
dem Herrn Christus Gemeinschaft. Denn wollen wir
mit ihm leben, so müssen wir auch mit ihm sterben.
Will ich mit ihm im Reich sitzen, so muß ich auch
mit ihm leiden, wie auch Paulus oft saget (Röm. 6, 5;
2. Tim. 2, 11).
Wenn ihr in die Marter kommt, so sollt ihr fröhlich
sein. Denn ob es wohl ein leibliches Leiden ist, soll es
doch eine geistliche Freude sein, auf daß ihr euch
ewig freuen möget. Denn die Freude hebt hier im Lei-
den an und währt ewig. Wer das Leiden nicht fröhlich
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5156 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 4

trägt und verzagt wird und mit Gott zürnen will, der
wird sonst beides, ewige Marter und Leiden haben,
hier und dort.
»Christus« ist vor der Welt ein häßlicher Name.
Wenn man von ihm predigt, muß man es leiden, daß
die Besten auf Erden seinen Namen lästern und
schmähen. Aber das ist zu unseren Zeiten gefährlicher
und größer: daß die, welche uns verfolgen, auch den
Namen Christi führen. Sie sagen, sie seien Christen
und getauft, verleugnen und verfolgen aber doch Chri-
stus mit der Tat. Darum bedürfen wir des Trostes jetzt
wohl, daß wir stehen bleiben und fröhlich seien, ob
uns gleich die allerweisesten und frömmsten Leute
verfolgen. Warum das?
Ihr, sagt er, habt bei euch einen Geist, der ein Geist
Gottes und der Herrlichkeit ist, das heißt ein solcher
Geist, der uns herrlich macht. Aber das tut er hier auf
Erden nicht, er wird es aber tun, wenn die Herrlichkeit
Christi am Jüngsten Tage offenbar werden wird. Die-
ser Geist, sagt er, ruhet auf euch, deshalb weil der
Name Christi auf euch ruhet. Dieser wird von ihnen
verlästert, denn er muß leiden, daß man ihn aufs
höchste lästert und schmähet. Darum kümmert euch
um die Lästerung nicht, sie betrifft den Geist, der ein
Geist der Herrlichkeit ist: sorget ihr nicht, er wird es
wohl rächen. Das ist der Trost, den wir Christen
haben, daß wir sagen können: das Wort ist ja nicht
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5157 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 5

mein, der Glaube ist nicht mein, es sind alles Gottes


Werke; wer mich verschmähet, der verschmähet Gott,
wie Christus Matth. 10, 40 sagt: »Wer euch auf-
nimmt, der nimmt mich auf« und Luk. 10, 16: »Wer
euch verachtet, der verachtet mich«.
Nun setzt er eine Warnung dazu: »Niemand aber
unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übel-
täter« usw. Das will er sagen: ihr habt gehört, wie ihr
leiden und euch darin verhalten sollt. Aber sehet zu,
daß es nicht deshalb geschehe, weil ihr es wegen eurer
Übeltat verdient habt, sondern um Christi willen.
Aber jetzt geht es mit uns nicht so zu. Denn wir müs-
sen leiden ohne Rücksicht darauf, daß jene, die uns
verfolgen, auch den Namen Christi haben. Niemand
stirbt (angeblich) deshalb, weil er ein Christ sei, son-
dern (wie sie behaupten) als ein Feind Christi, und die
ihn verfolgen, sagen, sie seien rechtschaffene Chri-
sten, und sagen gleichzeitig, daß der selig sei, der um
Christi willen stirbt. Da kann allein der Geist Gottes
die Unterscheidung machen. Das mußt du wissen, daß
du vor Gott ein Christ seist. Da ergehet Gottes Ge-
richt heimlich. Er hat es jetzt umgekehrt: er will nicht
mehr allein nach der Zugehörigkeit zum Christentum
richten wie zu jener Zeit, da das Christentum anfing.
Nun sagt Petrus: Wenn ihr so leidet, so sollt ihr
euch nicht schämen, sondern Gott preisen. Da erhebt
er das Leiden und die Marter hoch, daß sie groß seien,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5158 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 6

damit wir Gott dafür preisen sollen, auch dann, wenn


wir es nicht wert sind. Ich muß wohl an das Kreuz
Christi glauben, aber ich muß selber mein eigenes
Kreuz tragen. Sein Leiden muß ich ins Herz fassen,
so habe ich den rechten Schatz.
Am Schluß des Textes rührt er mehrere Propheten-
sprüche auf einmal an: Jer. 25, 29: »Denn siehe, bei
der Stadt, die nach meinem Namen genannt ist, fange
ich an mit dem Unheil, und ihr solltet ungestraft blei-
ben?« und Hes. 9, 6: da sah er etliche geharnischte
Männer mit ihren Waffen, die sollten jedermann tot-
schlagen, zu denen sprach Gott: »Fanget aber an bei
meinem Heiligtum«. Das meint hier Petrus. Darum
sagt er: die Zeit ist da, von der die Propheten gesagt
haben, daß das Gericht bei uns anfangen müsse.
Wenn das Evangelium gepredigt wird, hebt Gott an
und straft die Sünde, daß er töte und lebendig mache.
Die Frommen schlägt er väterlich. Was will aber mit
denen werden, die nicht glauben? Als wollte er sagen:
gehet mit solchem Ernst mit seinen lieben Kindern
um, so könnt ihr euch ausrechnen, was über die für
eine Strafe ergehen wird, die nicht glauben. Wer ge-
recht ist, wer da glaubt, der hat dennoch Mühe im
Glauben genug, daß er hindurchkomme und selig
werde. Denn er muß durch die Glut (durch Verfol-
gung und Kreuz) hindurchgehen. Wo will dann der
bleiben, der nicht glaubt?
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5159 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 7

Welchen Gott ein Leiden zufügt, das sie sich nicht


selber gesucht und erwählt haben, die sollen ihm ihre
Seele befehlen. Die tun recht, bleiben in den guten
Werken, treten nicht ab um des Leidens willen, son-
dern befehlen sich ihrem Schöpfer, der da getreu ist.
Das ist uns ein großer Trost. Gott hat deine Seele ge-
schaffen ohne dein Sorgen und Zutun, deshalb kann er
sie auch erhalten. Deshalb vertraue sie ihm; doch so,
daß es unter guten Werken geschehe. Nicht daß du
denkest: Ei, ich will dahinsterben, ohne etwas zu tun.
Du mußt sehen, daß du ein guter Christ seiest und mit
Werken deinen Glauben beweisest. Wenn du aber so
roh dahinfährest, wirst du wohl sehen, wie es dir
gehen wird, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5160 Sonntag nach Neujahr. 1. Petr. 4, 12-19 8

Editorische Bemerkung

Zu diesem Sonntag wie zu diesem Text hat die HP


keine Vorlage, so daß die Wochenpredigt Luthers von
1523 über 1. Petr. 4, 12 nach WA 12, 381-386 als
Vorlage gewählt wurde.

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5161 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 1

Martin Luther

Epiphanias
Matth. 3, 13-17

[HP 77–80;
WA 37, 250–253]

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5162 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 2

Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu


Johannes, daß er sich von ihm taufen ließe. Aber Jo-
hannes wehrte ihm und sprach: Ich bedarf wohl,
daß ich von dir getauft werde, und du kommst zu
mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Laß
es jetzt also geschehen, denn so gebührt es uns, alle
Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ ers ihm zu. Und
da Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus
dem Wasser. Und siehe, da tat sich der Himmel auf,
und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herab-
fahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stim-
me vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber
Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.

Das höchste, vornehmste und tröstlichste Stück, von


dem man an diesem Fest predigen soll, ist die Offen-
barung, die am Jordan bei der Taufe Christi gesche-
hen ist. Und ich wollte, daß man diesen Tag unseres
Herrn Christi Tauftag nennte oder das Fest, an dem
der Herr an getauft und am Jordan offenbart worden
ist, da er dreißig Jahre alt war.
Das ist uns zum Trost und Beispiel geschehen, daß
sich der Sohn Gottes taufen läßt, der doch keine
Sünde hatte und tut, was er zu tun nicht schuldig war.
Wann wollen wir dahin kommen, daß wir etwas tun,
was wir zu tun nicht schuldig sind, weil wir so böse
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5163 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 3

Buben sind und nicht tun, was wir zu tun schuldig


sind? Christus, Gottes Sohn, ist heiliger als die Taufe
selbst. Dennoch läßt er sich taufen und hat die heilige
Taufe gestiftet und eingesetzt und ferner befohlen, daß
solche Taufe fortan in der Christenheit bleiben solle
und alle, die selig werden wollen, sich auch taufen
lassen sollen.
Deshalb müssen das in den Abgrund der Hölle ver-
fluchte Menschen sein, die die Taufe entweder verach-
ten oder spöttisch davon reden. Der Teufel hat sie ge-
schändet und geblendet, daß sie nicht so viel Ohren
und Augen haben, daß sie hören und sehen können,
was doch hier geschieht. Warum wolltest du dich oder
deine Kinder nicht taufen lassen? Läßt sich doch der
Sohn Gottes taufen, wie kannst du denn so hoffärtig,
ja, so blind und töricht sein, daß du die heilige Taufe
verachtest? Solltest du nicht der Taufe allein deshalb,
wenn sie gleich sonst nichts gäbe oder nützte, alle
Ehre erweisen, weil du hier hörst, daß der Sohn Got-
tes selbst sich hat taufen lassen, daß du dich ihm zu
Ehren auch taufen ließest, wenngleich die Taufe dir
sonst nichts nützte?
Zudem steht auch dies hier, was wir bei solcher
Taufe erwarten und wie sie uns nützen soll. Denn da
sieht man, daß Gott im Himmel bei solcher Taufe sei-
nes Sohnes sich selbst mit aller Gnade ausschüttet.
Der Himmel tut sich auf, der zuvor geschlossen war,
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5164 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 4

und wird nun über der Taufe Christi ein Tor und Fen-
ster, daß man hineinsehen kann und fortan zwischen
Gott und uns kein Unterschied mehr ist, sintemal Gott
selbst sich da zum Jordan herunterläßt. Der Vater läßt
sich in der Stimme hören, der Sohn heiligt die Taufe
mit seinem Leibe, der Heilige Geist fährt in der Ge-
stalt der Taube hernieder. Ist das nun nicht eine große
Offenbarung und ein sicheres großes Zeichen, daß
Gott die Taufe lieb habe und nicht davon bleiben
könne?
Daher heißt dieser Tag Epiphanias, das Fest der
Offenbarung, daß Gott Vater, Sohn und Heiliger
Geist sich so offenbart, zum Zeichen, daß er nicht mit
uns zürnen, sondern uns durch Christus dazu helfen
wolle, daß wir fromm und selig werden.
Der Sohn, der es seiner Person halber nicht bedarf,
ist persönlich hier, läßt sich taufen und offenbart sich
nicht allein uns zum Vorbild, sondern auch zur
Gnade, daß wir solche Taufe genießen und glauben
sollen, wir haben dadurch einen gnädigen Gott, wenn
wir solchem Vorbild folgen und uns dem Befehl Chri-
sti nach auch taufen lassen.
Der Vater läßt sich mit der Stimme hören: »Dies ist
mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen
habe«. Das ist eine neue Stimme, dergleichen vom
Himmel niemand jemals zuvor gehört hat. Wunder
wäre es nicht, daß Himmel und Erde vor der Stimme
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5165 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 5

erzitterte, wenn Gott redet. Ich fiele auf mein Ange-


sicht, wenn ich Gottes Stimme hörte. Aber dies ist
eine andere Stimme als jene am Berge Sinai, da Gott
auch vom Himmel redet. Dort läßt er sich mit so
schrecklicher Stimme hören, daß das Erdreich davor
erzittert und die Berge erschüttert werden und die
Menschen vor Furcht zu sterben fürchten. Aber hier
ist eitel Freundlichkeit, Gnade und Barmherzigkeit.
Das ist, als wollte Gott so sagen: Ihr Menschen,
wendet eure Augen und Ohren hierher und merket mit
Fleiß. Da habt ihr einen Menschen, der ist getauft.
Wollt ihr wissen, wer er sei? Er ist mein lieber Sohn,
an dem ich alle Freude und herzlich Wohlgefallen
habe. Ihr dürft euch vor ihm nicht fürchten. Denn da
steht er nackt wie ein anderer Mensch, führt kein
Schwert noch weltliche Gewalt. Vor mir dürft ihr
euch auch nicht fürchten. Denn ich komme jetzt nicht
mit Donner und Blitz, mit Kanonen und Posaunen,
wie am Berge Sinai, sondern mit einem freundlichen
Bilde und einladender Gebärde.
Was ist hier Unfreundliches? Der Sohn Gottes, der
ohne Sünde und ganz unschuldig ist, steht im Jordan
und läßt sich taufen, tut mehr, als er zu tun schuldig
ist. Der Heilige Geist kommt in einer freundlichen
Gestalt, wie eine Taube, über ihn, so daß Johannes
ihn mit seinen Augen sieht. Der Vater redet auf das
allerfreundlichste mit uns und verkündigt uns, wie er
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5166 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 6

uns nicht einen Propheten, Apostel, Engel sende, son-


dern seinen eingebornen Sohn, an dem er alles Wohl-
gefallen hat.
Das heißt ja, meine ich, uns auf den Sohn zu sehen
befohlen, weil Gott selbst sich nicht hat verdrießen
lassen, uns allen zu verkündigen und zu sagen: Höret
zu alles, was Mensch ist, dies ist mein lieber Sohn, an
dem ich Lust und Freude habe. Wollt ihr einen gnädi-
gen Vater an mir haben, so könnet ihrs leicht tun.
Haltet euch nur an meinen Sohn, dem kann ich nicht
feind sein, so werdet ihr, wo ihr seiner Stimme gehor-
chet, mir um seinetwillen auch lieb sein. Darum höret
ihn und tut, was er euch sagt.
Dieser Stimme sollte man, wo möglich selbst auf
Nadelspitzen nachgehen und diese herrliche Offenba-
rung nimmermehr aus den Augen und Herzen lassen,
daß unser Herrgott den Himmel aufreißt, den Heiligen
Geist in der Gestalt einer Taube herunterschickt, und
er selbst läßt sich mit einer lieblichen Stimme hören
und spricht: Hier habt ihr meinen Sohn, mein Herz
und höchsten Schatz und alles, was ich bin. Und der
Sohn stellt sich als ein armer, bedürftiger Sünder und
läßt sich von Johannes am Jordan taufen.
So hat sich heute die ganze Gottheit, Gott Vater,
Sohn und Heiliger Geist, auf das allergnädigste und
freundlichste offenbart, dem Unterschied der Personen
entsprechend in dreierlei Gestalt, auf daß jedermann
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5167 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 7

wisse, wie er Gott erkennen und was er von ihm glau-


ben soll, und besonders wie er sich gegen Christus
verhalten soll, nämlich: wer sich zu ihm hält, sein
Wort annimmt und seiner Werke sich tröstet, daß
Gott solchem Menschen nicht feind sein könne noch
wolle. Denn hier stehts: was der Sohn fordert, sagt
oder tut, das sei alles des Vaters herzlich Wohlgefal-
len.
O wie selig wären wir, so wir solches nur tun und
uns von Herzen an den Sohn halten wollten. Umge-
kehrt sind das heillose und verfluchte Leute, die sol-
che Stimme erschallen lassen und doch vorübergehen,
als hörten sie es nicht. Darum lernet, ihr lieben Kin-
der, solange ihr lernen könnt und diese Stimme er-
schallen hört. Lasset uns doch unserm Herrgott für
diese Wohltat danken, daß er heute sein Herz und sei-
nen Schatz uns offenbart hat, den Heiligen Geist in
Gestalt einer Taube, seinen Sohn am Jordan in der
Taufe, und sich selber in einer herrlichen, lieblichen
Stimme.
Darum lernet dies Fest hoch halten. Es ist ein gro-
ßes Wunder, daß diese herrliche Offenbarung eben
über der Taufe Christi am Jordan geschehen ist. Wo
Gott gewollt hätte, wäre solche Offenbarung in der
Wüste oder im Tempel zu Jerusalem geschehen. Aber
bei der Taufe hat es uns zur Lehre geschehen sollen,
daß wir die Taufe hoch halten sollen, und weil wir ge-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5168 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 8

tauft sind, uns nicht anders ansehen noch beurteilen,


denn als gemachte, ja neugeschaffene Heilige.
Die Wiedertäufer sagen heutigen Tages, die Taufe
sei nur einfaches Wasser. Der Teufel hole solche Lä-
stermäuler! Ein Tier soll so urteilen, das nichts als
den Geschmack von Wasser hat. Ein Christ aber soll
nicht nach dem Geschmack, sondern nach dem Wort
urteilen. Denn da ist nicht allein Wasser, sondern
auch Gottes Wort und Kraft. Wie man hier bei der
Taufe Christi sieht, daß da ist Gott Vater, Sohn und
Heiliger Geist und alle heiligen Engel. Deshalb ists
nicht einfaches Wasser, sondern ein solches Wasser,
da Gottes Sohn drinnen badet, da der Heilige Geist
drüber schwebet und Gott der Vater drüber predigt.
So daß also die Taufe nicht ein einfaches Wasser,
sondern ein gnadenreiches Wasser ist, durch Gott
Vater, Sohn und Heiligen Geist geweiht und geheiligt.
Das bezeugen auch die Worte, daß Christus auf die
Weise zu taufen befohlen hat, wie er Matth. 28, 19
sagt: »Taufet sie auf den Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes«. Wasser ohne diese
Worte ist einfaches Wasser; aber wenn diese Worte:
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heili-
gen Geistes« zum Wasser kommen, so ists nicht ein-
faches Wasser, sondern eine Taufe.
Darum ist es noch heutigen Tages so: Wenn ich im
Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen
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5169 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 9

Geistes die Taufe habe, so ist da der Sohn, welcher


mit seinem Leibe, der Heilige Geist, der mit seiner
Gegenwärtigkeit, und Gott der Vater, der mit seiner
Stimme die Taufe heiligt. Darum kann man auf keinen
Fall sagen, daß es allein schlichtes Wasser sei, sinte-
mal die ganze Gottheit da vorhanden ist. Wir sollen
deshalb auch die Taufe nicht als ein Menschenwerk
ansehen. Denn obwohl ein Mensch tauft, so tauft er
doch nicht in seinem Namen, sondern im Namen des
Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes. Die kommen
von sich selbst und sind bei solchem Werk, sonst
würde die Taufe schwerlich das ausrichten, was sie
ausrichten soll.
Wer will nun des Vaters, Sohnes und Heiligen Gei-
stes Wort verachten? Wer will des Vaters, Sohnes
und Heiligen Geistes Taufe einfaches Wasser nennen?
Sehen wir denn nicht, was für Gewürz Gott in dies
Wasser wirft? Wenn man Zucker ins Wasser wirft, so
ists nicht mehr Wasser, sondern eine Limonade oder
sonst etwas. Warum wollen wir denn hier das Wort so
sehr vom Wasser scheiden und sagen, es sei ein einfa-
ches Wasser? Gleich als wäre Gottes Wort, ja, Gott
selbst nicht bei und in solchem Wasser, wie dort am
Jordan, da Christus im Wasser stand, der Heilige
Geist drüber schwebte und Gott der Vater dabei pre-
digte.
Deshalb ist die Taufe ein solches Wasser, das die
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5170 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 10

Sünde, den Tod und alles Unglück hinwegnimmt, uns


in den Himmel und zum ewigen Leben hilft. So ein
köstlich Wasser und Heiltrank ist daraus geworden,
da Gott sich selbst eingemischt hat. Gott aber ist ein
Gott des Lebens und kann lebendig machen. Weil nun
der in diesem Wasser ist, so muß dies das rechte Le-
benswasser sein, das den Tod und Hölle vertreibt und
ewig lebendig macht.
So sollen wir die Taufe recht erkennen und hoch
halten lernen. Denn man tauft nicht im Namen eines
Engels oder Menschen, sondern im Namen Gott Va-
ters, Sohnes und Heiligen Geistes, oder wie Apg. 2,
38 steht, im Namen Jesu, was ebensoviel ist. Denn
wer Jesus Christus bekennt, muß auch Gott Vater und
den Heiligen Geist bekennen, sintemal Christus klar
sagt, er komme vom Vater und wolle den Heiligen
Geist senden. Wer nun Christus mit dem Herzen be-
kennt, der wird sein Wort nicht Lügen strafen, son-
dern glauben, daß der Sohn nicht allein, sondern der
Vater und der Heilige Geist bei ihm sei, ob man
gleich den Vater und den Heiligen Geist mit Namen
nicht nennt.
Solches sollen wir recht lernen und das Wort von
der heiligen Taufe oder dem Wasser, mit dem man
tauft, nicht abtrennen, sondern bekennen und sagen,
daß es von Gott dazu geordnet sei, daß es uns um un-
sers Herrn Christus willen durch den Heiligen Geist
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5171 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 11

rein von Sünden machen und uns vom ewigen Tode


erretten soll. Denn was wollte sonst Gott Vater, Sohn
und Heiliger Geist dabei machen?
Wer nun in Sünden ist, den stecke man in die
Taufe, so ist der Tod verschlungen. Denn die Taufe
hat eine göttliche Kraft, daß sie die Sünde abwaschen
und den Tod tilgen soll.
Darauf sind wir nun getauft. Wenn wir aber in
Sünde gefallen sind und Unrecht getan haben, so soll
dennoch die Taufe und das, was uns drin zugesagt ist,
fest und gewiß bleiben, nur daß man umkehre und
nicht in Sünden beharre. Denn das geht nicht an,
wenn du Vergebung der Sünden begehrst, daß du in
Sünden beharren und davon nicht ablassen wolltest.
Sondern Buße sollst du tun und im rechten Glauben
sagen: Gott hat mich in des Vaters, Sohnes und Heili-
gen Geistes Taufe gesteckt, zu der kehre ich zurück
und verlasse mich darauf, daß meine Sünden von mir
weggenommen sind, nicht um meinet- oder irgendei-
nes Menschen oder Kreatur willen, sondern um des
Mannes Christi willen, der es befohlen und eingesetzt
hat und sich selbst als ein Sünder hat taufen lassen.
So übertrifft diese Offenbarung jene weit, da den
Weisen der Stern erschienen ist. Darum sollt ihr ler-
nen und fleißig merken, wie Gott sich heute an diesem
Tag mit einer schönen Predigt von seinem Sohn of-
fenbart hat, damit was er mit uns tut und wir mit ihm,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5172 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 12

ihm solches alles wohlgefallen soll. Denn wer dem


Sohn folgt und sich nach seinem Wort hält, der soll
auch das liebe Kind sein. Der Sohn hat sich in seiner
zarten Menschheit offenbart, da er sich von Johannes
hat taufen lassen. Der Heilige Geist hat sich offenbart
in der Gestalt der Taube. So hat sich unser Herrgott
mit aller Freundlichkeit und Gnade ausgeschüttet. Be-
sonders der Vater läßt sich aufs freundlichste hören
und spricht: Hier habt ihr nicht einen Engel, Prophe-
ten, Apostel, sondern meinen Sohn und mich selbst.
Wie könnte Gott sich höher offenbaren? Denn wenn
er selbst predigt, so kann er keinen größeren Diener
zum Prediger haben. Wie könnten wir ihm besser die-
nen, als daß wir seinen Sohn, unsern Heiland, hören
und uns danach richten, wie er uns predigt und vor-
sagt? Wer solches nicht zu seiner Seligkeit glaubt, der
ist nicht wert, daß ers höre, sondern soll den Teufel
und seine Apostel hören zu seinem ewigen Verderben.
Gott gebe uns seine Gnade, daß wir ihm dafür danken
und ihn zu kommen bitten, daß er uns dabei erhalten
und selig machen wolle, Amen.

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5173 Epiphanias. Matth. 3, 13-17 13

Editorische Bemerkung

Es handelt sich hier um die dritte Predigt zum Epi-


phaniasfest in der HP; sie hat von den drei Nach-
schriften Rörers die WA 37, 250-253 abgedruckte als
Vorlage gewählt, wie Dietrich, der »die Predigt in
ziemlich genauem Anschluß an seine Vorlage bietet«.
Die HP lehnt sich anscheinend an einigen Stellen an
ihn an. Die Predigt ist 1534 im Hause gehalten.

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5174 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 1

Martin Luther

1. Sonntag nach Epiphanias


Luk. 2, 41-52

[HP 81–84;
WA 37, 240–258]

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5175 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 2

Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem


auf das Osterfest. Und da er zwölf Jahre alt war,
gingen sie hinauf nach Jerusalem nach dem Brauch
des Festes. Und da die Tage vollendet waren und sie
wieder nach Hause gingen, blieb das Kind Jesus zu
Jerusalem, und seine Eltern wußtens nicht. Sie mein-
ten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen
eine Tagesreise weit und suchten ihn unter den Ver-
wandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fan-
den, gingen sie wiederum nach Jerusalem und such-
ten ihn. Und es begab sich, nach drei Tagen fanden
sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern,
wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die
ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes
und seiner Antworten. Und da sie ihn sahen, entsetz-
ten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein
Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein
Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Und er sprach zu ihnen: Was ists, daß ihr mich ge-
sucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in
dem, das meines Vaters ist? Und sie verstanden das
Wort nicht, das er zu ihnen redete. Und er ging mit
ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen
untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte
in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit,
Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5176 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 3

Dies ist ein hohes Evangelium, wenn man es hoch


und gelehrt auslegen und davon reden will, daß die
Jungfrau Maria ihren Sohn verloren hat, und wie es
zugeht, wenn man das Kindlein Jesus aus dem Herzen
verliert. Aber wir wollen solche Auslegung auf eine
andere Zeit sparen und uns jetzt das vornehmen, was
am klarsten und leichtesten und für den gemeinen
Mann am nützlichsten ist.
Dies alles, was uns unser heutiger Text erzählt, ist
uns zugute geschehen, unsern Glauben zu unterrich-
ten, daß wir Christus recht erkennen lernen, daß er
mehr als ein Mensch, nämlich auch wahrhaftiger Gott
sei. Darum entzieht er sich dem Gehorsam seiner El-
tern, bleibt zu Jerusalem und will deshalb von seinen
Eltern ungestraft sein, auf daß er sich uns mit solcher
Offenbarung recht zu erkennen gäbe und unsern Glau-
ben unterrichtete, damit wir wüßten, was wir von ihm
halten sollten. Zum andern hat er mit dieser Offenba-
rung uns auch ein Vorbild geben und uns lehren wol-
len, daß wir Gott mehr gehorsam sein sollen als den
Menschen, ob es schon unsere Eltern selbst sind.
Denn eine Frucht unserer verderbten Natur ist dies,
nämlich unsere Unwissenheit und große Blindheit, die
immer dahin geneigt ist, daß sie den Menschen eher
als Gott dient. Darum sollen wir aus diesem Exempel
unsers lieben Herrn Jesus Christus lernen: Wenn es
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5177 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 4

dahin kommt, daß wir entweder Gott oder den Eltern


und der Obrigkeit ungehorsam sein müssen, daß wir
mit Christus sprechen: »Ich muß sein in dem, das
meines Vaters im Himmel ist«. Außerhalb dessen will
ich gern und von Herzen Vater und Mutter, Kaiser,
König, Herrn und Frau im Hause gehorsam sein.
Aber hier in diesem Fall heißts so: Lieber Vater, liebe
Mutter, ich habe einen andern Vater, auf den soll ich
mehr als auf euch sehen. Solches hatten Maria und Jo-
seph hier vergessen, darum mußte er sie daran erin-
nern und sie es lehren.
Das ist nun auch um unseretwillen geschrieben.
Denn die Unart haben wir, wie gesagt, von Natur:
Wenn wir Gott dienen und ihm seinen Gehorsam aus-
richten sollen, daß wir uns mit der Welt entschuldigen
und sagen: Ich darf nicht, denn Gott hat mir befohlen,
ich soll meiner Obrigkeit gehorsam sein. So tun jetzt
die Verfolger des Evangeliums. Sie habens von uns
gelernt, daß wir schuldig sind, der Obrigkeit gehor-
sam zu sein, und wer der Obrigkeit gehorsam ist, der
ist Gott gehorsam. Diesen Gehorsam rühmen sie
hoch. Da fahren denn die Untertanen zu und lassen
den Gehorsam, den sie Gott schuldig sind, anstehen
und sagen: Wir müssen unserer Obrigkeit gehorsam
sein. Da ist Vater und Mutter, da ist mein Fürst, der
wills nicht haben, darum darf ichs nicht tun.
Wer ist aber eure Obrigkeit? Es ist mein Landes-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5178 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 5

fürst, mein Vater und Mutter. Recht. Welches ist aber


die rechte Obrigkeit? Hast du denn neben deinem
Landesfürsten, Vater, Mutter auf Erden sonst keine
Obrigkeit mehr? Wofür hältst du denn diesen, der da
im ersten Gebot sagt: »Ich, der Herr, dein Gott«?
Sollte es nun hier nicht so sein, wenn er sagt: Das ge-
fällt mir, das will ich so haben, daß du, unangesehen
deinen Fürsten, ja König, Kaiser, Vater und Mutter,
mit Christus sagest: »Ich muß in dem sein, das mei-
nes Vaters ist«! Denn Gottes Wort und Befehl soll
stets billig vorangehen. Wenn der ausgerichtet ist, so
soll man danach auch tun, was Vater und Mutter,
Kaiser und König haben wollen, damit man nicht den
Wagen vor die Pferde spanne.
Das ists nun, was unser lieber Herr Jesus Christus
in diesem Evangelium nicht allein zum Glauben of-
fenbart, uns zu Trost, daß er unser Herrgott und Hei-
land ist, sondern auch zum Vorbild, daß wir in den
Sachen, die
Gott betreffen, niemand ansehen sollen, es sei
Vater, Mutter, Fürst oder wie mans nennen will. Denn
da ist ein anderer Herr und höhere Obrigkeit, die
heißt: Ich bin dein Gott. Dem sollst du gehorchen und
tun, was er dich heißt, und ihm vor allen dienen.
Wenn dieser Gehorsam ausgerichtet ist, so tue da-
nach, was dein Vater und Mutter, dein Fürst und Ob-
rigkeit haben will; doch laß sie dich an diesem höhe-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5179 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 6

ren Gehorsam nicht hindern, welcher, wie gesagt, vor


allen Dingen ausgerichtet sein muß.
Nun beschließt Lukas das heutige Evangelium
damit, daß er sagt, er sei mit ihnen nach Nazareth hin-
abgegangen und ihnen untertan gewesen. So wird also
dies Kind, das um seines Vaters im Himmel willen
sich seiner Mutter entzogen hat, weil es das Wort
gern rein gesehen hätte, jetzt wiederum der Mutter ge-
horsam und dem Joseph, ob ers wohl nicht schuldig
war. Wie denn Lukas das fein damit berichtet, daß er
sagt: »Er war ihnen untertan«, als wollte er sagen: Er
tat es aus freiem Willen, nicht aus Not; denn er war
Gott und ein Herr Marias und Josephs. Daß er aber
ihnen gehorsam war, das tat er nicht um Vaters und
Mutters willen, sondern um des Beispiels willen.
Denn dafür soll mans achten, daß das Kind Jesus im
Hause alles getan hat, was man ihn geheißen hat:
Späne aufgelesen, Wasser, Fleisch und anderes geholt
und sich nichts verdrießen lassen.
Dies Beispiel soll die Jugend fleißig merken, daß
der Herr, der unser aller Gott ist, solches in seiner
Kindheit getan hat und sich nichts hat verdrießen las-
sen, was ihn seine Mutter geheißen hat, ob es gleich
geringe, kleine und unansehnliche Werke gewesen
sind, auf daß sie auch dergleichen tue und sich sol-
chen Gehorsams und Demut befleißigen lerne. Denn
solches gefällt Gott gut und, wie das vierte Gebot
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5180 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 7

sagt, will ers von allen Kindern so haben, daß sie den
Eltern gehorsam und willig sollen sein.
Aber wenn du eigentlich wissen willst, was Chri-
stus in seiner Jugend getan habe, so höre dem Evan-
gelisten hier zu, da er sagt: »Er war ihnen untertan«.
Mit solchen Worten faßt der Evangelist die ganze Ju-
gend unsers lieben Herrn Christus zusammen. Was
heißt aber: »Er war ihnen untertan«? Nichts anderes,
als daß er in den Werken des vierten Gebots geblie-
ben ist. Das sind aber solche Werke, deren Vater und
Mutter im Hause bedürfen: daß er Wasser, Trinken,
Brot, Fleisch geholt, Feuer gemacht, das Haus be-
wacht und dergleichen mehr getan hat, was man ihn
geheißen hat, wie ein anderes Kind. Das hat das liebe
Jesuslein getan. Wenn seine Mutter gesagt hat: Sohn,
lauf hin und hole mir Wasser, hole Holz, Stroh usw.,
so ist er hingelaufen und hats geholt.
Weil man nun gut weiß, was Jesus getan hat, so
sollten billig alle Kinder so rechtschaffen sein und
sagen: Ach, ich bins nicht wert, daß ich zu den Ehren
kommen und dem Kindlein Jesus gleich werden soll
in dem, was ich tue, wie er, mein Herr Christus, getan
hat. Hat er Späne aufgelesen, vielleicht auch das Vieh
ausgetrieben, ihm Futter gegeben und anderes getan,
was ihm seine Eltern befohlen haben, und sonst nichts
Besonderes vorgenommen: ei, welch feine Kinder
wären wir, wenn wir seinem Beispiel folgten und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5181 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 8

auch täten, was uns unsere Eltern auftragen, es wäre


auch so einfach und gering, wie es sein könnte.
Solches sollen wir fleißig merken, auf daß wir nicht
allein wissen, was das Kindlein Jesus in seiner Ju-
gend getan hat, und wir seinem Vorbild nachfolgen,
sondern daß wir auch ohne allen Zweifel glauben, daß
solche Werke, die da Gehorsam der Eltern heißen,
durch das Kindlein Jesus geheiligt und gesegnet sind.
Weil er nun mit seiner Person solche Werke geheiligt
hat, sollten wir diese Geschichte mit Fleiß lernen und
uns für selig achten, wenn wir in solchem Gehorsam
und Werken hergingen.
So ist also dies die Summe des heiligen Evangeli-
ums: Zum ersten, daß Christus nicht allein Marias
Sohn, sondern auch ihr Gott und Herr, ja ein Herr
über alles ist und sich in dem finden läßt, das seines
Vaters ist. Danach, ob er schon ein Herr über alles ist,
läßt er sich dennoch uns zum Vorbild herunter, ist
Mutter und Vater gehorsam, auf daß wir ihm im
Leben und Werken nachfolgen und beides lernen, zu-
erst den Gehorsam gegen Gott treulich leisten, danach
auch gegen Vater, Mutter und alle Obrigkeit. So kön-
nen wir zu beiden Teilen rühmen, wir haben recht
getan und wird deshalb alles Glück und Segen bei uns
sein. Dazu helfe uns Gott durch Christus, unsern
Herrn, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5182 Erster Sonntag nach Epiphanias. Luk. 2, 41-52 9

Editorische Bemerkung

Von den fünf Nachschriften Rörers ist die WA 37,


254-258, 5 abgedruckte gewählt (Predigt im Hause
1534), wie bei Dietrich, der »in ziemlich genauem
Anschluß an seine Vorlage« arbeitet und von der HP
anscheinend auch benutzt wird.

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5183 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 1

Martin Luther

2. Sonntag nach Epiphanias


Joh. 2, 1-11

[HP 85–87;
WA 37, 9–12]

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5184 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 2

Und am dritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in


Galiläa, und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und
seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen.
Und da es an Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu
zu ihm: Sie haben nicht Wein. Jesus spricht zu ihr:
Weib, was gehts dich an, was ich tue? Meine Stunde
ist noch nicht gekommen. Seine Mutter spricht zu
den Dienern: Was er euch sagt, das tut. Es waren
aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesetzt nach
der Sitte der jüdischen Reinigung, und es gingen in
jeden zwei oder drei Maß. Jesus spricht zu ihnen:
Füllet die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten
sie bis obenan. Und er spricht zu ihnen: Schöpfet
nun und bringets dem Speisemeister! Und sie brach-
tens. Als aber der Speisemeister kostete den Wein,
der Wasser gewesen war, und wußte nicht, woher er
kam – die Diener aber wußtens, die das Wasser ge-
schöpft hatten – ruft der Speisemeister den Bräuti-
gam und spricht zu ihm: Jedermann gibt zuerst den
guten Wein und, wenn sie trunken geworden sind,
alsdann den geringern; du hast den guten Wein bis-
her behalten. Das ist das erste Zeichen, das Jesus
tat, geschehen zu Kana in Galiläa, und offenbarte
seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an
ihn.

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5185 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 3

Dies ist das erste Wunderzeichen, das unser lieber


Herr Jesus auf Erden getan hat, mit dem er, wie Jo-
hannes selber berichtet, seine Herrlichkeit seinen Jün-
gern hat offenbaren wollen, auf daß sie ihn an sol-
chem Wunderzeichen kennenlernten und für den Sohn
Gottes und rechten Heiland hielten; sintemal er das
kann, was sonst kein Mensch auf Erden kann, näm-
lich die Schöpfung ändern und aus Wasser Wein ma-
chen. Solche Kunst ist allein Gottes Kunst, der ein
Herr über die Schöpfung ist; die Menschen können es
nicht.
Deshalb soll dies Wunderwerk vornehmlich dazu
dienen, daß wir unsern lieben Herrn Christus recht er-
kennen lernen und mit fester Zuversicht zu ihm lau-
fen, wo sich Mangel und Not bei uns findet, Hilfe und
Gnade bei ihm suchen; die soll uns bestimmt zu rech-
ter Zeit widerfahren. Das ist das vornehmste Stück
aus dem heutigen Evangelium.
Weil man aber bei allen Wunderwerken Christi
solchen Trost und Lehre findet, wollen wir jetzt be-
sonders davon handeln, daß der Herr solch Wunder-
zeichen auf der Hochzeit tut, auf daß die Lehre vom
Ehestand auch unter den Christen bleibe. Denn es ist
viel daran gelegen.
Der Herr tut sein erstes Wunderzeichen eben auf
einer Hochzeit in dem armen kleinen Städtlein Kana.
Das ist ein außerordentlich nützliches Beispiel gegen
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5186 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 4

alle Irrtümer und Sekten, nicht allein wider die, die


vor uns gewesen sind, die nun zum Teil tot und hin
sind, sondern auch wider die zukünftigen, welche
keine andere noch größere Heiligkeit gehabt haben
und noch haben, als den Ehestand und andere bürger-
liche Wesen zu verlassen und hin in die Wüste und
Einöde zu laufen. Alle Ketzer sind gegen den Ehe-
stand gewesen und haben etwas Neues und Besonde-
res gesucht und angefangen.
Deshalb lernet hier, daß unser Herrgott das vierte
Gebot ehret. Denn wo Hochzeit ist, Vater und Mutter
ist, da muß eine Haushaltung sein, da wird Weib und
Kind, Knechte und Mägde, Vieh, Acker, Handwerk
und Nahrung sein. Dies alles zusammen will uns der
Herr hiermit als ein heiliges Leben und seligen Stand
befohlen haben, daß wir den Ehestand nicht verach-
ten, sondern ehren und als Gottes Kreatur und Ord-
nung für groß halten, wie er ihn ehret.
Deshalb ist dies Evangelium eine rechte Predigt für
das junge Volk, daß es lerne, wie man unserm Herr-
gott auch im Hause gut dienen kann und es nicht von-
nöten sei, etwas Besonderes anzufangen. Denn ein
Hausvater, der sein Haus in Gottesfurcht regiert, seine
Kinder und Gesinde zu Gottes Furcht und Erkenntnis,
zu Zucht und Ehrbarkeit erzieht, der ist in einem seli-
gen, guten, heiligen Stande. Ebenso braucht eine
Frau, welche die Kinder mit Essen, Trinken versorgt,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5187 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 5

mit Wischen, Baden, nach keinem heiligeren, gottseli-


geren Stande zu fragen. Mit Knecht und Magd im
Hause ist es auch so: Wenn sie tun, was Herr und
Frau ihnen auftragen, so dienen sie Gott, und sofern
sie an Christus glauben, gefällt es Gott viel besser,
wenn sie auch nur die Stube kehren oder Schuhe put-
zen, als aller Mönche Beten, Fasten, Messehalten und
was sie mehr für hohe Gottesdienste rühmen.
Darum soll man diese Lehre und Exempel gut mer-
ken, auf daß man, wenn dergleichen tolle Geister wie-
derkämen, gewarnt und gerüstet sei und wisse, daß
der Ehestand und das Hausregiment von Christus ge-
lobt und bestätigt sind. Denn hier stehts klar, wie der
Herr Christus selbst, da er auf die Hochzeit kommt,
Braut und Bräutigam nicht voneinander geschieden,
sondern sie beieinander gelassen hat, sie hat lassen
Haushalten und das Gesinde dienen, auch selbst dazu
geholfen habe, daß die Hochzeit umso ansehnlicher
ausgerichtet würde. Mit solchem schönen Beispiel hat
er uns lehren wollen, daß es ihm auch gut gefallen
wird, wo man treulich zum Haushalten hilft und dient.
Denn ob sich da schon Mangel finden würde, laß
dichs nicht erschrecken, siehe nur, daß du Christus
bei dir habest und nicht gottlos seiest. Dann will er
aus Wasser Wein machen und deinen Stand so seg-
nen, daß du genug haben sollst, und es soll sich end-
lich finden, dessen man bedarf. Wenn es gleich eine
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5188 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 6

Weile mangelt und schwierig ist, es soll sich Hilfe


und Trost zu seiner Zeit wohl finden.
Dennoch hat solch Vorbild im Papsttum nichts ge-
holfen und hilft auch bei dem ungehorsamen, untreuen
Hausgesinde nichts. Das macht der Teufel, daß es nie-
mand lernen, glauben noch für wahr halten will, daß
es unserm Herrn Gott gedient heiße, wenn man in
Haus und Beruf treulich und fleißig dient. Sonst wür-
den Knecht und Magd, Kind und Gesinde zu aller Ar-
beit lustig und guter Dinge sein und sich aus ihrem
Hausdienst ein reines Paradies machen und sagen: Ich
will gern tun, was ich tun soll, meinem Herrn, meiner
Frau zu Gefallen sein, und unterlassen, was sie wol-
len. Wenn ich gleich zuweilen gescholten werde, was
schadets? Sintemal ich das fürwahr weiß, daß mein
Stand unserm Herrgott ein Dienst und wohlgefällig
Leben ist. Denn mein Erlöser, Christus selbst, ist zur
Hochzeit gegangen und hat die mit seiner Gegenwart
und seiner Mutter Maria Dienst geehrt. Sollte ich nun
solchem Stande zu Ehren und Dienst auch nicht gern
etwas tun und leiden? Aber man findet solcher Men-
schen sehr wenig. Der meiste Teil ist verstockt und
härter als Stahl; wenn er gleich diese Geschichte hört,
will er sie dennoch nicht bedenken, noch sich davon
bewegen lassen, daß ers in Haus und Beruf bekomme
und haben kann, daß er dort unserm Herrgott aufs
beste diene, mehr als irgendeine Nonne oder Mönch
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5189 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 7

im Kloster, wenn es ihnen gleich noch so sauer


würde. Weils aber niemand zu Herzen nimmt noch
glaubt, so geschieht auch alles mit Unwillen und Un-
lust, und ist es nicht möglich, daß bei solchem unwil-
ligen Gesinde Glück und Heil sein könne.
Denn sollte sich nicht eine gottesfürchtige und
fromme Magd im Hause, die kochen und anderes tun
muß, an einem solchen Beispiel der Mutter Gottes
trösten und freuen und sagen: Daß ich kochen und an-
deres tun muß, das ist genauso der lieben Jungfrau
Maria Dienst auf der Hochzeit gewesen; die machte
sich auch zu schaffen, sah zu, wie es alles wohl ver-
richtet würde usw. Und ob es wohl ein geringes Werk
ist, das ich im Hause tue, und kein Ansehen hat, so
tue ichs doch Gott zu Ehren, der da befohlen hat und
will, daß ich solchen Gehorsam und Fleiß tun soll.
Ich weiß, daß es ihm wohlgefällt, wo ich dem nach-
komme. Es achte nun die Welt solchen Gehorsam,
wofür sie wolle, so sollen doch die, die da Christen
sein wollen, ihn für groß und einen rechten Gottes-
dienst halten und mit allem Willen ausrichten. So
könnte eine Magd oder Knecht im Hause sich selbst
in seinem Stande und über seiner Arbeit eine Freude
schöpfen und Gott einen Wohlgefallen tun und sagen:
Ich danke dir, Herr, daß du mir diesen Stand und
Dienst verordnet hast, da ich weiß, daß ich dir wohl-
gefalle und dir diene mehr als alle Mönche und Non-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5190 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 8

nen, die für ihren Dienst keinen Befehl haben. Ich


aber habe Gottes Befehl im vierten Gebot, daß ich
Vater und Mutter ehren, Herrn und Frau mit allem
Fleiß und Treue dienen und zu der Haushaltung hel-
fen soll. Ich will dem deshalb mit Lust und Liebe
nachkommen.
Wer sich so in die Sache schickte, der hätte an sei-
nem Stand und Dienst eitel Freude und Lust, und
wäre hier bereits im Paradies, und unser Herrgott mit
allen seinen Engeln würde auch ein Wohlgefallen
dran haben. Desgleichen hatten auch Herr und Frau
einen Gefallen dran und würden wiederum solche
Treue und willige Dienste reichlich und gern vergel-
ten. Denn treu, fromm Gesinde wird allenthalben wert
gehalten.
Darum laßt uns dies Beispiel gut lernen, daß jeder-
mann willig und gern diene und helfe zu dem Stande,
welchen unser Herrgott selbst hoch gesetzt und ge-
ehrt, und zu einem Brunnen und Quelle aller andern
Stände auf Erden gemacht hat. Denn das Haushalten
oder der Ehestand muß alle Könige und Fürsten erhal-
ten, nicht allein deshalb, weil Könige und Fürsten aus
dem Ehestande kommen, sondern daß man weder
Menschen noch Steuern haben würde, wenn nicht
Eheleute wären. Denn der Haushalter, Hausvater,
Hausmutter muß es erwerben, wovon alle Stände in
der Welt, vom höchsten bis auf den geringsten, erhal-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5191 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 9

ten werden. Deshalb hat unser Herrgott den Ehestand


ja zu einem Brunnquell aller leiblichen Güter auf
Erden gesetzt, wie 1. Mose 3, 20 geschrieben steht:
»Eva ist eine Mutter aller, die da leben«.
Besonders sollen aber die Eheleute hier den Trost
fassen, wenn sie fromm und gottesfürchtig sind, daß
Gott sie nicht verlassen, sondern mit seinem Segen
gern bei ihnen helfen und allen Mangel wenden will,
wie er hier tut. Denn da wird nichts andres draus,
Eheleute müssen viel Anstöße haben, der Nahrung
und anderer Dinge wegen. Aber hat man Christus auf
der Hochzeit, weil man gottesfürchtig ist, so soll der
Segen und die Hilfe nicht ausbleiben. Das sollt ihr
heute lernen, daß ihr wisset, warum man euch solches
vorpredigt, nämlich, daß ihr desto williger in dem
Werk der Haushaltung bleiben und euch nicht verfüh-
ren lassen sollt, wenn sie wiederkommen und sagen
würden: Haushalten, ehelich werden ist ein weltlich
Ding; wer Gott dienen will, muß sich anderes zumu-
ten, daß es ihm wehe tue.
Das aber heißt wehe tun, daß einer nach Gottes Be-
fehl an sein Weib, Fürsten, Nachbarn, Dienstboten
gebunden sein muß, da er auf allen Seiten alle Hände
voll zu tun hat, christliche Liebe und Geduld zu be-
weisen. Denn da muß einer hören, sehen, leiden, was
er lieber entbehren wollte, muß dennoch bleiben und
darf nicht davonlaufen, sondern sagen: Ich will es
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5192 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 10

alles gern tun und leiden; denn ich weiß, daß Gott bei
dem Haushalten mit seiner Gnade sein will. Ja, ich
danke Gott von Herzen, der mich in diesen seligen
und ihm wohlgefälligen Stand gesetzt hat. Wird etwas
mangeln, so kann er helfen und beweist es hier auf
dieser Hochzeit, daß ers gern und mit Lust tun wolle.
Das sollt ihr aus dem heutigen Evangelium lernen
und Gott um seine Gnade anrufen, daß wir es behal-
ten und uns so christlich in unsern Beruf schicken
können, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5193 Zweiter Sonntag nach Epiphanias. Joh. 2, 1-11 11

Editorische Bemerkung

Von den zwölf Nachschriften Rörers ist die WA 37,


9-12 abgedruckte als Vorlage gewählt worden, wie
bei Dietrich, der die HP anscheinend zusätzlich be-
nutzt hat. Die Predigt ist 1533 im Hause gehalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5194 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 1

Martin Luther

3. Sonntag nach Epiphanias


Matt. 8, 1-13

[HP 88–92;
WA 37, 13–16]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5195 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 2

Als er aber vom Berge herabging, folgte ihm viel


Volks nach. Und siehe, ein Aussätziger kam und fiel
vor ihm nieder und sprach: Herr, so du willst,
kannst du mich wohl reinigen. Und Jesus streckte
seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich wills
tun; sei gereinigt! Und alsbald ward er von seinem
Aussatz rein. Und Jesus sprach zu ihm: Siehe zu,
sage es niemand, sondern gehe hin und zeige dich
dem Priester und opfere die Gabe, die Mose befoh-
len hat, ihnen zum Zeugnis.
Da aber Jesus hineinging nach Kapernaum, trat
ein Hauptmann zu ihm, der bat ihn und sprach:
Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gichtbrü-
chig und hat große Qual. Jesus sprach zu ihm: Ich
will kommen und ihn gesund machen. Der Haupt-
mann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht
wert, daß du unter mein Dach gehst, sondern sprich
nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn
auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan,
und habe unter mir Kriegsknechte; und wenn ich
sage zu einem: Gehe hin! so geht er; und zum an-
dern: Komm her! so kommt er; und zu meinem
Knecht: Tu das! so tut ers. Da das Jesus hörte, ver-
wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm
nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen
Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5196 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 3

Aber ich sage euch: Viele werden kommen vom


Osten und vom Westen und mit Abraham und Isaak
und Jakob im Himmelreich sitzen; aber die Kinder
des Reichs werden ausgestoßen in die Finsternis
hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappen.
Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Gehe hin, dir
geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht
ward gesund zu derselben Stunde.

In diesem Evangelium sind zwei Wunderwerke: das


erste von einem Aussätzigen, den der Herr vom Aus-
satz reinigt; das andere von einem Hauptmann, dessen
kranken Knecht der Herr gesund macht. Das höchste
aber und vornehmste Stück, das drinnen ist, ist, daß
unser lieber Herr Jesus Christus des Hauptmanns
Glauben, welcher ein Heide war, so hoch rühmt und
preist und sagt, daß er in Israel solchen Glauben nicht
gefunden habe. Denn ein großes Wunder ists, daß der
Heide, welcher solche Verheißung nicht gehabt hat,
welche die Juden hatten, so großen, trefflichen Glau-
ben haben soll, daß er auch den des ganzen Israel
übertrifft. Solchen Glauben nimmt der Herr an und
tut, was er begehrt, und spricht zu dem Hauptmann:
»Gehe hin, dir geschehe, wie du geglaubet hast«.
Da sehen wir, welches der beste und Gott wohlge-
fälligste Gottesdienst ist, daß wir nämlich unserm
Herrgott nichts Lieberes tun können, als ihm von Her-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5197 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 4

zen vertrauen und glauben. Unser Herrgott will nicht


nach schönen Tempeln, glänzenden, nach außen hin
etwas scheinenden Werken fragen. Nach dem innerli-
chen Dienst des Herzens fragt er, nach dem Glauben
nämlich wie der Prophet Jeremia 5, 3 sagt: »Herr,
deine Augen sehen auf Wahrhaftigkeit«. Darum sol-
len wir wissen: wenn wir Gott mit dem Dienst des
Herzens, mit dem Glauben dienen, daß wir seine Die-
ner, Priester, Kinder und Erben sind und im Himmel
sitzen sollen.
Der Evangelist berichtet aber, daß der Hauptmann
in seinem Glauben zwei besondere Stücke bewiesen
habe. Erstens ist bei seinem Glauben eine große, tiefe
Demut, daß er sagt: »Herr, ich bin nicht wert, daß du
unter mein Dach gehst«. Das ist, als wollte er sagen:
O Herr, was willst du bei mir machen? Ich bin böse,
du bist heilig, ich bin ein Sünder, du bist gerecht. Ich
habe wohl gehört, daß du große Wunder in Israel tust,
die Kranken gesund machst, und ich wollte von Her-
zen gerne meinem kranken Knecht geholfen haben,
aber ich erachte mich für unwürdig, daß du in mein
Haus zu mir eingehest. Zum zweiten ist bei seinem
Glauben ein besonderes Licht, daß er erkennt, daß
Christus wahrhaftiger Gott ist und ihm solche Gewalt
und Kraft zuschreibt, daß er seinen Knecht auch ab-
wesend gesund machen könne. Er bekennt nicht al-
lein, daß er unwert sei, daß Christus in sein Haus ein-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5198 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 5

gehe, sondern daß es auch solcher Mühe ganz und gar


nicht bedürfe. Denn Christus könne das, worum er ihn
gebeten habe, mit einem Wort ausrichten, ob er schon
nicht persönlich gegenwärtig sei.
Das heißt nicht allein glauben, sondern auch vom
Glauben und seiner Natur und Art aufs beste und
herrlichste predigen und lehren. Denn des Glaubens
rechte Art ist, sich aufs Wort, als auf den einzigen
Schatz und Trost mit ganzem Vertrauen verlassen und
nicht daran zweifeln, es werde Ja und Amen sein, was
das Wort zusagt, gleichwie der Hauptmann sich ohne
alles Wanken auf das Wort stützt und am Wort sich
genügen läßt. Darum sagt er auch zu Jesus: »Sprich
nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund«, als woll-
te er sagen: Wenn ich nur das Wort habe, so habe ich
alles und fehlt meinem Knecht nichts mehr, sondern
er wird frisch und gesund sein.
Solches ist nun ein so großer, trefflicher Glaube
und so schöne, tiefe Demut im Hauptmann, daß Chri-
stus sich selbst drüber verwundert und mit fröhlichem
Herzen spricht: »Wahrlich, ich sage euch, solchen
Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden. Aber
ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und
Westen« usw. Er will also sagen: Die Juden wollen
nicht glauben, die Heiden aber beginnen zu glauben.
Was gilts, das Spiel wird sich umkehren: die Juden,
die des Reiches Kinder sind und die Verheißung
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5199 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 6

haben, werden ihres Unglaubens halber verworfen


werden. Und die Heiden, welche die Verheißung nicht
haben, werden zum Himmelreich angenommen wer-
den, deshalb weil sie glauben.
So sehr ist der Herr zufrieden und läßt sich des
Hauptmanns schöne Demut und feinen Glauben so
gefallen, daß er flugs bereit ist, alles zu tun, was der
Hauptmann begehrt. »Gehe hin«, spricht er, »dir ge-
schehe, wie du geglaubt hast«. Der Hauptmann
braucht nichts weiter zu bitten, noch anzuzeigen, wel-
cher Art des Knechts Krankheit sei. Der Herr hat den
Mann so lieb, daß es alles bewilligt ist, ehe er recht
darum bittet. So gut gefällt ihm der schöne Glaube,
obwohl der Hauptmann ein Heide und unwürdig ist.
Nicht daß er an Unwürdigkeit Gefallen habe, sondern
an der Erkenntnis der Unwürdigkeit, daran daß der
Hauptmann seine Unwürdigkeit fühlt und bekennt.
Solch Demut und Glaube macht, daß der Herr nicht
allein den Knecht gesund macht, sondern auch an-
fängt, des Hauptmanns Glauben hoch zu rühmen und
zu preisen.
Das ist ein Stück in diesem Evangelium, uns zur
Lehre und zum Anreiz vorgeschrieben, auf daß wir
glauben lernen und uns für unwürdig halten und uns
dennoch aufraffen und sprechen: Bin ichs nicht wür-
dig, so nehme ichs unwürdig, hab ichs nicht verdient,
wie ich mich keines Verdienstes zu rühmen weiß, so
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5200 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 7

nehme ichs als ein Geschenk. Das heißt denn ein


rechter Glaube und rechte Demut, daß man sich der
Unwürdigkeit halber fürchtet und dennoch nicht ver-
zagt, wie der Psalm 147, 11 sagt: »Der Herr hat Ge-
fallen an denen, die ihn fürchten, die auf seine Güte
hoffen«.
Den Aussätzigen macht der Herr von seinem Aus-
satz rein und befiehlt ihm, zum Priester zu gehen. So
tut er nicht mit des Hauptmanns Knecht noch mit an-
dern Kranken, die er gesund macht, wie er mit dem
Aussätzigen hier tut. Die Ursache dafür, weshalb er
so handle, zeigt er selbst an, da er sagt: »Gehe hin,
zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, die
Mose befohlen, ihnen zum Zeugnis«, als wollte er
sagen: Sie haben ein Zeugnis, das will ich ihnen nicht
nehmen. Sie haben ein Gesetz und Recht, daß sie die
Aussätzigen besichtigen und für sie Gaben opfern;
dieses Gesetz und Recht will ich ihnen nicht nehmen.
Daß er aber hernach Jerusalem mit Tempel, Gottes-
dienst und Königreich zerstört, das deshalb, weil sie
ihn nicht annehmen wollten. Denn so pflegt er zu tun:
wenn man ihn nicht haben will, so zerstört ers ganz.
Den Juden wollte er den Tempel lassen, nur sollte ihn
das Volk anerkennen und ihm dienen. Da sie aber das
nicht tun wollten, ließ er alles ganz zerstören. Gleich-
wie ein großer König und Herr eine Stadt nicht mit
der Absicht erstürmt, daß er sie zerstöre, verheere und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5201 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 8

vertilge, sondern daß sie sich ergebe, ihm untertänig


und zinsbar werde und ihm den Dienst leiste, den sie
vorher seinem Widersacher und Feinde geleistet hat.
Wenn die Stadt sich aber nicht ergeben, sondern den
König vernichten will, so zerstört er sie. Ebenso woll-
te Christus mit seinem Evangelium der Juden Regi-
ment, ehelich Leben und äußerlichen Stand nicht zer-
stören. Sondern er sagte allein zu ihnen: Ihr sollt mich
zum Herrn annehmen, mir dienen, so will ich euch
bleiben lassen. Aber sie wollten ihn nicht zum Herrn
annehmen noch ihm dienen. Er warnte sie getreulich,
vermahnte, bat, flehte und sprach: Ich rate es nicht,
daß ihr euch mir widersetzt; ich will euch bestehen
bleiben lassen, lasset mich auch bleiben und euern
Herrn sein. Aber sie wollten nicht und sprachen: »Wir
wollen nicht, daß dieser über uns herrsche«. Ja, sie
fuhren zu und wollten ihn zerreißen. Was geschah
aber? Sie schlugen ihn wohl ans Kreuz, aber er blieb
dennoch vor ihnen bestehen und zerriß sie.
Kurz: Christus und sein Evangelium sollen wir vor
allen Dingen annehmen. Tun wir das, so wird uns das
andere wohl bleiben; und so wirs schon verlören, so
werden wirs dennoch wiederfinden. Nehmen wir aber
Christus und sein Evangelium nicht an, sondern ver-
folgens, so werden wir das andere nicht lange behal-
ten. Wenn deshalb eine Not kommt, in der ich entwe-
der Christus verleugnen, oder Weib und Kind fahren
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5202 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 9

lassen soll, so solls so heißen: Kann ich Christus be-


halten, daß man mir gleichwohl Weib und Kind lasse,
so ists gut. Kann mir aber Weib und Kind, Herr-
schaft, Gewalt usw. nicht bleiben, ich veuleugne denn
Christus, so lasse ich Weib und Kind, Herrschaft, Ge-
walt, Leib und Leben fahren, ehe ich Christus ver-
leugne.
Aber die Welt kann und will Christus nicht zum
Herrn haben noch ihm dienen. Darum werden auch
Land und Leute zerstört und verwüstet. Wenn unsere
Stadt den nicht zum Herrn haben wollte, der sie erret-
tet hätte, dann geschähe ihr nicht Unrecht, wenn der-
selbe Herr und Erretter sie zerstörte und zu Grund
vertilgte und zu ihr spräche: Willst du das? Du willst
nicht allein alle erzeigten Wohltaten vergessen, son-
dern mich dazu für die Güte aus dem Lande jagen,
daß ich dich errettet habe, und einem andern Herrn
dienen? Wohlan so gehe es mit dir hinaus, weil du so
untreu bist. Ebenso geschieht auch denen nicht Un-
recht, die Christus, ihren Erlöser, verwerfen, wenn sie
gestraft und verwüstet werden.
Große Blindheit ists, wenn man ein christliches
Leben von anderm äußerlichen, weltlichen Leben
nicht unterscheiden kann. Darum, wie ich gesagt
habe, sollen wir dies gut lernen, auf daß wirs recht
unterscheiden und sagen: ein christliches Leben ist,
wenn wir den unsichtbaren Christus annehmen und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5203 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 10

glauben, daß er unser einziger Herr und Heiland ist,


der uns von Sünden, Tod, Teufel und Hölle erlöst hat.
Danach, wenn wir ihn so für unsern Herrn erkannt
haben, daß wir ihm auch mit dem ganzen Leben die-
nen und ihm als unserm Herrn zinsen und sprechen:
Herr, zuvor bin ich unter des Teufels Gewalt und
Dienst gewesen und habe deine Gaben, die ich dazu-
mal zum Teil noch gehabt habe, unter dem Teufel
aufs schändlichste mißbraucht. Aber nun habe ich ge-
lernt und weiß bestimmt, daß du allein mein Gott und
Herr bist. Ich glaube an dich, darum will ich dir auch
in diesem Glauben dienen, von Herzen glauben, daß
du mein Herr und Heiland bist und dir in meinem
Stande gehorsam sein und tun, was dir wohlgefällig
ist. Das heißt, das christliche und das äußerliche
Leben recht unterscheiden. Doch sollen beide Chri-
stus untertan sein und bleiben, obwohl ein Christ dem
Leibe nach der weltlichen Obrigkeit unterworfen ist.
Denn wir sollen eher Leib und Leben, Gut und Ehre,
und alles, was wir haben, fahren lassen, ehe wir Chri-
stus fahren lassen.
Wenn wir nun solches lernten und täten, so handel-
ten wir Gott zu Gefallen und würden selig. Aber wer
solches nicht tut, das ist die Welt. Ja, spricht die
Welt, wenn ich Christus zum Herrn annehmen und
ihm dienen sollte, so würde auf die Weise alles zer-
rüttet und fiele alles über einen Haufen. Wohlan, sagt
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5204 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 11

Gott zu der Welt, es soll so geschehen, wie du sagst,


es soll alles über einen Haufen fallen: nicht durch die
Schuld meines Worts, sondern durch die Schuld dei-
ner Halsstarrigkeit, weil du mein Wort nicht anneh-
men, noch meinen Sohn zum Herrn haben willst. So
sprachen die Juden (Joh. 11, 48): »Lassen wir ihn, so
werden die Römer kommen und nehmen uns Land
und Leute«. Ich meine ja, die Römer kamen richtig
über sie, und die Juden weissagten sich selbst, daß
kein Stein auf dem andern bliebe. Und die Römer
sprachen hernach auch so: Weil diese zwei Bettler Pe-
trus und Paulus hergekommen sind, so ists mit uns
Römern aus. Ich meine ja, es war richtig mit ihnen
aus, und sie waren Propheten über ihren eigenen Hals.
Unsere Widersacher sagen jetzt auch so: Wo wir die
Verkündigung der Evangelischen annähmen und an
ihren Christus glaubten, so müßte unser ganzes Regi-
ment, Land und Leute untergehen. Solches reden sie
frei öffentlich, und wissen doch wohl, daß es nicht
wahr ist; denn unser Evangelium ließe sie wohl blei-
ben, wenn sie selbst wollten. Weil sie aber nicht wol-
len, so soll ihnen widerfahren, was sie fürchten. Wir
wollen Christus und sie zusammenkommen lassen
und sehen, wer da stärker sein werde.
Der liebe Gott verleihe uns seine Gnade, daß wir
solches fassen und behalten mögen. Darum wir ihn
wollen anrufen und beten, Amen.
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5205 Dritter Sonntag nach Epiphanias. Matt. 8, 1-13 12

Editorische Bemerkung

Von den sieben Nachschriften Rörers ist die WA 37,


13, 3 bis 16, 14 als Vorlage gewählt worden. Poach
bringt die Predigt, welche 1533 im Hause gehalten
ist, »in genauem Anschlusse« an die Vorlage, wäh-
rend Dietrich »eine ziemlich selbständige Bearbei-
tung« des entsprechenden Abschnittes in Luthers An-
notationes in aliquot capita Matthaei bietet.

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5206 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 1

Martin Luther

4. Sonntag nach Epiphanias


Matth. 8, 23-27

[HP 92–96;
WA 34, I, 126–136]

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5207 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 2

Und er trat in das Schiff, und seine Jünger folgten


ihm. Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm
im Meer, so daß auch das Schiff mit Wellen bedeckt
ward. Und er schlief. Und die Jünger traten zu ihm
und weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf uns,
wir verderben! Da sagte er zu ihnen: Ihr Kleingläu-
bigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf
und bedrohte den Wind und das Meer. Da ward es
ganz stille. Die Menschen aber verwunderten sich
und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm
Wind und Meer gehorsam sind?

Wir sehen, daß uns im heutigen Evangelium eine sol-


che Geschichte vor Augen gestellt wird, aus welcher
wir nicht lernen, was man tun soll. Denn von unsern
Werken wird hier nichts gesagt, sondern was man in
Nöten und Widerwärtigkeit glauben und wie man sich
trösten soll. Darum ists der Evangelien eines, welches
uns den hohen Artikel lehrt, nämlich den vom Glau-
ben, den wir allezeit treiben und als das Hauptstück
christlicher Lehre rühmen, obwohl das die einfältigste
Kunst ist, von welcher sich jedermann dünken läßt, er
könne sie gut. Und doch kann sie niemand außer den
rechten Christen und hohen Heiligen.
Wir wollens so aufteilen: erstlich reden vom Kreuz
und Leiden, wie es denen geht, die von Christus und
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5208 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 3

dem Glauben predigen, zum zweiten vom Glauben


und von seiner Natur und Art, zum dritten von dem
Herrn Christus und von seiner Person, und zum vier-
ten von der Frucht und dem Nutzen, die nach der An-
fechtung und aus dem Glauben folgen. Solche Stücke
werden fein anzeigen, eine wie tröstliche Geschichte
uns der Evangelist mit so wenig Worten vorhält, die
wir ja nicht gern entbehren sollten.
Das erste Stück ist vom Kreuz, wie es Christus und
seinen Jüngern geht. Da der Herr mit seinen Jüngern
in das Schiff tritt, da ists noch fein still, ist kein Un-
gewitter, sondern scheint die Sonne, und das Meer ist
auch sanft und freundlich anzusehen. Sobald sich aber
Christus mit seinen Jüngern in das Schiff setzt und sie
vom Lande abgestoßen sind und auf das Meer kom-
men, da wird der Himmel finster und erhebt sich ein
so großes Ungestüm, daß das Schifflein mit Wellen
bedeckt wird, als ob es jetzt untergehen sollte. Die an-
dern Schiffe greift der Wind nicht so schnell an, aber
das Schiff, darin Christus und seine Jünger sitzen,
muß herhalten.
Diese Geschichte sollen wir gut merken, auf daß
wir wissen, wie es sich anläßt, wenn die Lehre vom
Glauben auf den Plan kommt, und gleich ein Sprich-
wort daraus machen und sagen: So gehts, kommt
Christus in das Schiff, so wirds nicht lange still blei-
ben, es wird ein Wetter und Ungestüm kommen, die
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5209 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 4

Sonne scheint nicht mehr, und das Meer wütet und


tobt. Christus sagts selbst, Luk. 11, 21f., daß der star-
ke Gewappnete seinen Palast in Ruhe und Frieden be-
sitzt, bis ein stärkerer kommt; alsdann geht der Un-
friede an und erhebt sich ein Schlagen und Kämpfen.
So sieht man es auch allenthalben in der Geschichte
des Evangeliums. Wenn zuvor alles still ist: sobald
Christus sich mit einer Predigt hören und mit einem
Wunderwerk sehen läßt, da brennt es in allen Gassen,
da wird der Teufel erst recht zornig und erregt und
hetzt gegen ihn die bösen Buben, Pharisäer, Schrift-
gelehrten, Hohenpriester auf, welche ihn schlechter-
dings tot haben wollen. Christus hats selbst lange
vorher gesagt, Matth. 10, 34-36: »Ihr sollt nicht wäh-
nen, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen, son-
dern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Men-
schen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter
wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider ihre
Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden
seine eignen Hausgenossen sein«.
Das dient alles miteinander dazu: wenn du ein
Christ sein und diesem Herrn nachfolgen und mit ihm
in das Schiff treten willst, daß du dein Herz darauf
einrichtest und deine Seele in Geduld fassest. Denn
sobald du dich zu diesem Herrn begibst und mit ihm
in das Schuf kommst, so fängt bestimmt Wind, Unge-
witter und Unfriede an. So vermahnt Jesus Sirach 2,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5210 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 5

1f. alle Gläubigen und spricht: »Mein Sohn, willst du


Gottes Diener sein, so bereite dich auf Anfechtung
vor. Sei standhaft und leide es«. Als wollte er sagen:
Wenn du Gottes Diener nicht sein willst, so fahre
immer hin, der Teufel wird dich wohl zufrieden las-
sen. Wenn du aber umgekehrt begehrst Gott zu dienen
und ein Christ zu sein, so gib dich willig dahin und
verzichte auf gute Tage, die Verfolgung wird nicht
ausbleiben.
Fasse einen Mut: obschon die Wellen über das
Schiff schlagen und das Meer toll und töricht wird
und braust, dennoch fürchte dich nicht. Sondern
denke so: Um der Welt Gunst willen habe ichs nicht
angefangen, um ihrer Ungunst und Zorns willen will
ichs auch nicht unterlassen.
Das ists, was der Evangelist uns damit lehren will,
daß er sagt, das Ungestüm habe sich zuerst erhoben,
da Christus in das Schiff getreten und auf das Meer
vom Lande weg gekommen sei, auf daß wir ein
Sprichwort draus machen und sagen: Willst du ein
Christ sein, so mußt du erwarten, daß der Wind und
das Meer ein Ungestüm anrichten werden. Willst du
Christus und den Glauben predigen und bekennen, so
wirds in der Welt wüst zugehen.
Das zweite Stück ist von der rechten Art des Glau-
bens, wenn er in seinem rechten Werk und Kampf
steht. Es ist ein gering Ding, wenn man das Wort
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5211 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 6

»Glauben« hört; gleichwie unsere Widersacher unser


lachen und spotten, wenn sie uns vom Glauben predi-
gen hören. O, sagen sie, was ist Glauben? Dagegen
aber halten sie viel vom freien Willen. Ich wollte
ihnen aber wünschen, daß sie mit den Jüngern im
Schiff gewesen wären und versucht hätten, was der
freie Wille in solchen Ängsten und Nöten vermöchte.
Die Apostel habens hier fein gelernt, und der freie
Wille hat hier schändlich bestanden. Es sei der Glau-
be bei ihnen so schwach und gering gewesen, wie er
wolle: wo dennoch solcher schwacher, geringer Glau-
be nicht gewesen wäre, so hätten sie des freien Wil-
lens halber verzweifeln müssen und wären in den Ab-
grund des Meeres gesunken. Aber weil ein kleiner
Glaube da ist, wie Christus selbst bezeugt, da er sagt:
»Ihr Kleingläubigen!« so haben sie eine Zuflucht, daß
sie nicht ganz verzagen, und laufen zu Christus, wek-
ken ihn auf und begehren seiner Hilfe.
So nun die, welche den Glauben haben, wie
schwach und gering er auch sei, in Nöten nicht aus-
halten können und die Apostel nicht bestehen, wenn
es um die letzten Atemzüge geht: was sollte denn dein
freier Wille und menschliche Vernunft tun? Ich be-
kenne und sage auch, daß du einen freien Willen ha-
best, die Kühe zu melken und ein Haus zu bauen,
aber nicht weiter. Wenn du in Sicherheit und Freiheit
sitzt, ohne Gefahr bist und in keinen Nöten steckst,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5212 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 7

lassest du dich wohl dünken, du habest einen freien


Willen, der etwas vermöge. Wenn aber die Not ge-
kommen ist und es weder zu essen noch zu trinken
gibt, weder Vorrat noch Geld: wo bleibt hier dein
freier Wille? Er verliert sich und kann nicht bestehen,
wenn es darauf ankommt. Der Glaube aber steht und
sucht Christus.
Deshalb ist der Glaube eine ganz andere Sache als
der freie Wille. Ja, der freie Wille ist nichts und der
Glaube ist alles, der freie Wille ist ein ohnmächtig
Ding, der Glaube aber ists ganz und gar nicht. Das
sieht man hier fein an den Jüngern, welche in Gefahr
sind. Da ist Trost, Freude und alles dahin. Das heißt
auf gut Deutsch: Der Mensch vermag doch gar nichts,
die Kraft aber ist Gottes. Was nun die Jünger ver-
sucht haben, das wird ein jeglicher zu seiner Zeit auch
erfahren. Versuche es, so du keck bist, und führe es
hinaus mit deinem freien Willen, wenn Pest, Krieg,
Hungersnot kommt. Zur Pestzeit kannst du vor Furcht
nichts beginnen, da denkst du: Ach, Herrgott, wäre
ich da oder da, könntest du dich hundert Meilen Wegs
davonwünschen, so fehlte es am Willen nicht. In
Hungersnot denkst du: Wo soll ich zu essen herneh-
men? Das sind die großen Taten, die unser freier
Wille ausrichtet, daß er das Herz nicht tröstet, son-
dern je länger je mehr verzagt macht, daß es sich auch
vor einem rauschenden Blatt fürchtet.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5213 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 8

Aber im Vergleich dazu ist der Glaube die Herrin


und Kaiserin. Wenn er auch klein und schwach ist, so
steht er dennoch und läßt sich nicht ganz zu Tode
schrecken. Er hat wohl große Dinge vor sich, wie man
hier an den Jüngern sieht. Wellen, Wind, Meer trei-
ben alle miteinander zum Tode zu, das Schifflein ist
ganz mit Wellen bedeckt. Wer sollte in solcher Not
und tödlicher Gefahr nicht erblassen? Aber der Glau-
be, wie schwach er auch ist, er hält doch wie eine
Mauer und stellt sich wie der kleine David wider Go-
liath, das heißt Sünde, Tod und alle Gefährlichkeit.
Besonders streitet er aber ritterlich, wenns ein starker,
vollkommener Glaube ist; ein schwacher Glaube
kämpft auch gut, ist aber nicht so mutig.
Die Jünger im Schiff haben einen schwachen Glau-
ben. Dennoch suchen sie Hilfe da, wo sie zu suchen
ist, nämlich bei dem Herrn Christus, wecken ihn auf,
schreien ihn an: »Herr, hilf uns, wir verderben!« Der
Herr nennt sie kleingläubig. Er bekennt damit, daß sie
einen Glauben haben, aber es sei ein kleiner, schwa-
cher Glaube. Denn wo sie gar keinen Glauben gehabt
hätten, würden sie Christus in der Not nicht aufge-
weckt haben. Daß sie ihn aber aufwecken, das ist ein
Stück des Glaubens. Denn niemand kann Gott anru-
fen, besonders in der Not, er habe denn den Glauben.
Ob nun in den Jüngern schon nur ein Fünklein des
Glaubens ist, leuchtet er dennoch hervor und ergreift
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5214 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 9

die Person, welche auch dem Tode gebieten kann.


Denn daß sie rufen: »Herr, hilf!« das sind des Glau-
bens Worte. Wo der Glaube stark gewesen wäre, wür-
den sie sich vor dem Wind und Meer nicht entsetzt
sondern gedacht haben: Wir wollen vor dem Wind
und Meer wohl bestehen bleiben, gleichwie Jonas
mitten im Meer, ja, in des Walfisches Bauch erhalten
geblieben ist. Denn wir haben den Herrn des Meers
bei uns, und dieser unser Herr kann uns helfen und
uns erretten, nicht allein über dem Meer, sondern
auch in und unter dem Meer.
Darum ists eine große Gnade Gottes, wenn wir
auch einen schwachen Glauben haben, daß wir nicht
unter dem Haufen derer sind, die an Gottes Hilfe ver-
zweifeln. Der freie Wille sieht allein auf das Gegen-
wärtige, der Glaube aber sieht auf das Künftige. Er
hat wohl das Gegenteil allen Trostes, allen Heils und
aller Freude vor sich, er sieht des Todes Zähne und
der Hölle Rachen, dennoch ermannt er sich und hält
sich an den Trost, es könne ihm noch geholfen wer-
den, gleichwie hier die Jünger sich an des Herrn Hilfe
und Trost halten. Es ist beides beisammen, das »Wir
verderben« und »Herr, hilf!«. Aber das »Herr, hilf!«
gewinnt endlich und behält den Sieg.
Das ist des Glaubens Kunst, von welcher sich je-
dermann dünken läßt, er könne sie sehr wohl. Wer sie
aber recht kann und erfahren hat, dem will in der Not
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5215 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 10

alles zu enge werden. Umgekehrt sind die, welche


sich dünken lassen, sie haben einen starken Glauben,
wohl kühne, freche, stolze Geister, solang das Meer
stille und das Wetter schön ist. Wenns aber mit ihnen
Dreck regnen und übel zugehen will, da fällt Mut,
Trost und alles hinweg, und sie wollen schlechthin
verzweifeln. Das ist der herrliche freie Wille.
Das dritte Stück des heutigen Evangeliums handelt
von des Herrn Christi Person. Diese Geschichte be-
schreibt Christus so, daß er im Schiff geschlafen
habe. Solches geschieht noch heutigen Tages, daß der
Herr sich gegen seine Christen stellt, als sähe er uns
nicht und wüßte nicht um unsere Anfechtung, frage
auch nichts danach, ja als hätte er uns ganz aus der
Acht gelassen; wie er hier im Schiff tut: er liegt und
schläft, bekümmert sich gar nicht um das Wetter, für
seine Jünger noch für das Schiff. Aber er ist doch mit
im Schiff, ob er gleich schläft. Ob es schon vor der
Vernunft scheint, als sähe und hörete Christus das
Ungewitter, Wind und Meer nicht, sieht und hört ers
dennoch. Deshalb sollen wir ein allgemeines Sprich-
wort draus machen: Christus ist dennoch im Schiff,
wenn er gleich schläft.
Das sind nun die Anfechtungen, die immer dazu-
kommen, daß unser lieber Herr Christus die Wellen
über das Schifflein läßt, das ist, er läßt den Teufel und
die Welt wider die Christen toben, so daß man be-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5216 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 11

sorgt sein muß, es werde ganz und gar zu Boden


gehen. Wir fühlen ihre Wellen, Zorn und Macht, und
der Teufel schlägt auch mit zu. Da sprechen unsere
Weltweisen: Was tun wir nun? Wir sitzen im Schiff
und sehen nichts vor uns als den sicheren Tod. Dazu
sitzt der Herr still und läßt sich nicht merken, daß er
uns helfen wolle.
Aber da müssen wir uns ermannen und denken, es
habe noch nicht Not. Denn er, der Herr, ist auch bei
uns im Schiff. Ob er schon schläft, das ist, sich stellt,
als sehe er uns nicht, so sollen wir uns doch stellen,
daß wir ihn sehen, ihm glauben und ihn dafür halten,
daß er ein Herr über Kaiser, Türke, Papst, Teufel,
Pest und alles Unglück sei, welcher dem allen wehren
könne.
Ebenso sollen wir auch in unserer eigenen Gefahr
und Anfechtung tun, die einem jeglichen insbesondere
begegnet. Denn ein jeglicher, der ein Christ ist, findet
bei sich selbst, daß der Teufel auf ihn einschlägt, so
wie die Wellen in das Schiff schlugen. Wenn nun sol-
che Anfechtungen kommen und der Teufel dir deine
Sünde vorhält und dich mit dem Zorn Gottes schreckt
und dir die ewige Verdammnis androht, so verzweifle
nicht, sondern glaube fest, daß Christus bei dir im
Schiff sei, welcher, ob er schon schläft, dich gewiß er-
hören und retten werde, wenn du zu ihm schreist und
ihn anrufst. Hilft er nicht sofort, wenn das Unglück
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5217 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 12

anfängt, das schadet nicht. Halte nur fest und wanke


nicht, sondern glaube gewiß, Christus sei bei dir im
Schiff. Denn er hilft zu seiner Zeit; unterdes mußt du
herhalten und den Teufel sein Werk treiben lassen,
auf daß du des Glaubens Kraft erkennest, wie er
kämpft und sich wehret, und auch damit du sehest,
was der freie Wille vermöge, wenn Christus die Hand
abzieht und nicht hilft. Das heißt nun den Glauben
geübt und gestärkt, wenn man in Anfechtung fest und
bis zu Ende steht und es fröhlich und getrost auf Chri-
stus wagt, die Not sei so groß, wie sie immer wolle.
Anfechtung müssen wir haben, aber dennoch muß
auch Glück und Heil bei uns sein. Denn diese Person,
Christus, wahrhaftiger Gott und Mensch, hilft in aller
Gefahr und Not allen, die an ihn glauben und ihn an-
rufen. Diesen Trost, Schutz und Schirm haben alle
Gläubigen. Wenn sie schon viel drüber leiden und
wagen müssen, da kommt es nicht drauf an. Haben
doch die Gottlosen auch ihre Widersacher und Feinde,
wenn es ihnen schon in der Welt besser als den Gläu-
bigen geht. Warum wollten wir denn nicht in unsern
Trübsalen und Leiden Geduld haben? Wennschon un-
sere Trübsale größer sind als der Gottlosen Leiden, so
haben wir auch im Vergleich dazu größere Gaben und
Güter als sie. Der Teufel setzt ihnen nicht so hart zu
wie uns Christen. Aber was haben sie denn mehr? Sie
haben doch ein böses Gewissen und müssen endlich
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5218 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 13

die ewige Verdammnis erwarten.


Das vierte Stück des heutigen Evangeliums ist von
der Frucht, die aus dem Glauben entsteht, nämlich
daß auch andere solches Wunderwerk wahrnehmen,
sich bekehren, verwundern und sprechen: »Was ist
das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam
sind?« Diese haben ihn bisher vielleicht für einen
schlichten Zimmergesellen angesehen und für Josephs
Sohn und einfachen Menschen gehalten und nicht ge-
wußt noch geglaubt, daß man bei ihm in Todesnöten
Hilfe suchen und finden soll. Aber jetzt lernen sie ihn
kennen, daß er da der höchste und beste Nothelfer sei,
wo sonst kein Mensch helfen kann. So geht es allewe-
ge, daß die Anfechtung, je größer sie ist, desto grö-
ßere Frucht mitbringt. Darum sind die Anfechtungen
den Christen sehr nützlich und notwendig.
So ist nun dieses Evangelium ein treffliches, schö-
nes Evangelium für die, die mit Ernst Christen sein
wollen, daraus wir lernen sollen, wenn das Ungewitter
angeht, daß Christus nicht allein da sein und uns her-
aushelfen wolle, sondern daß auch großer Nutzen und
herrliche Frucht daraus folgen werde, daß wirs nicht
wünschen sollten, wir hättens denn versucht und
durch eigene Erfahrung des Worts und Glaubens
Kraft und Tugend erlernt. Es heißt, wie der 50. Psalm
(V. 15) sagt: »Rufe mich an in der Not, so will ich
dich erretten, und du sollst mich preisen«, und der
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5219 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 14

Psalm 91, 15: »Er ruft mich an, darum will ich ihn er-
hören, ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn heraus-
reißen und zu Ehren bringen«. Willst du ein Christ
sein, so mußt du in die Not hineinkommen. Wenn du
aber in der Not Christus anrufst, so will er dich erhö-
ren und herausreißen mit Frucht und großer Ehre, und
du sollst hier von dem, was du brauchest, genug
haben und hernach das ewige Leben. Es tut aber dem
alten Adam von Herzen wehe, er begibt sich nicht
gern in Wind und Wellen aufs Meer, wollte lieber
davon wegbleiben. Aber es wird nichts anderes draus:
in die Not müssen wir zuerst kommen, danach folgt
das Erretten und Preisen.
Solches verleihe uns allen unser lieber Vater im
Himmel um Christi willen durch seinen Heiligen
Geist, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5220 Vierter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 8, 23-27 15

Editorische Bemerkung

Von den vier Nachschriften Rörers ist die WA 34, I,


126 bis 136 als Vorlage gewählt worden, ebenso wie
bei Dietrich, welcher dem Text allerdings eigene Zu-
taten einfügt, während Rörer/Poach »genau seiner
Nachschrift« folgt, den Schlußabsatz dagegen wie
Dietrich (und in Anlehnung an diesen?) entweder
selbst oder von anderswoher hinzufügt. Die Predigt
ist 1531 gehalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5221 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 1

Martin Luther

5. Sonntag nach Epiphanias


Matth. 13, 24-30

[HP 97–101;
WA 52, 828–839]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5222 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 2

Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und


sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Men-
schen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Da
aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte
Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Da
nun aber die Saat wuchs und Frucht brachte, da
fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte
zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht
guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er
denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein
Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du
denn, daß wir hingehen und es ausjäten? Er sprach:
Nein! auf daß ihr nicht zugleich den Weizen mit aus-
raufet, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasset beides
miteinander wachsen bis zur Ernte; und um der
Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt
zuvor das Unkraut und bindet es in Bündel, daß
man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in
meine Scheune.

In diesem Gleichnis warnt uns unser lieber Herr Jesus


Christus, daß wir uns nicht daran stoßen und ärgern
sollen, wenn wir sehen und erfahren, daß es dem lie-
ben Evangelium so ergeht, daß Unkraut zwischen den
guten Samen gesäet ist, das heißt, daß Böse und Gute,
falsche Christen und rechtschaffene Christen unterein-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5223 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 3

ander gemengt sind. Vornehmlich aber redet er von


denen, die Bischöfe und Lehrer in der Kirche sein
wollen, und doch das Unkraut und Christi Feinde
sind, die Christus und sein Evangelium gern unter-
drücken wollten. Als wollte der Herr sagen: Wer das
Evangelium hat, der rüste sich und schicke sein Herz
in Geduld. Denn neben der rechten, reinen Lehre des
Evangeliums werden viele Spaltungen, Ketzereien
und Ärgernisse aufkommen. Da habe er Achtung auf,
daß er sich nicht ärgere.
Es ist ein allgemeines Sprichwort: Wo Gott eine
Kirche baut, da baut der Teufel eine Schänke dane-
ben. Und vor Zeiten sagte man eine Fabel: Da Gott
den Menschen aus dem Erdenkloß gemacht und ihm
den lebendigen Atem in seine Nase eingeblasen hätte,
so daß der Mensch eine lebendige Seele geworden ist,
habe der Teufel Gott das nachtun wollen. Er habe
auch einen Erdenkloß genommen und Menschen dar-
aus machen wollen, es sei aber eine Kröte draus ge-
worden. Damit hat man anzeigen wollen, daß der
Teufel allzeit unsers Herrgotts Affe ist, sich immer in
göttlicher Gestalt darstellt und den Schein erweckt,
als sei er Gott.
Das sieht man heutigen Tages gut, wie der Teufel
durch seine Schwarmgeister und Rotten Gottes Wort
rühmt und unter dem Schein und Namen des Worts
Gottes sein Gift ausgießt und alle Welt verführt. So
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5224 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 4

will der Teufel allezeit Gott nachahmen. Wenn er


sieht, daß Gott redet, so kann ers nicht leiden. Kann
ers nicht wehren, noch Gottes Wort mit Gewalt hin-
dern, so legt er sich mit einem schönen äußeren
Schein dagegen, nimmt eben dieselben Worte an sich,
die Gott führt und verkehret sie, damit er seine Lüge
und Gift darunter verkaufe.
Solches ärgert sehr viele Menschen und verführt
auch wohl die, welche Gottes Wort haben und wissen.
Da wir predigen: Der Glaube macht allein selig, die-
ses Wort nimmt er und verkehrts, deutets fälschlich
wider die heilige Taufe und stärkt damit die Wieder-
täufer. Weil der Glaube allein selig macht, spricht er,
so tuts die Taufe nicht; deshalb ist die Taufe bloß
Wasser und hilft der Seele nicht. Eben unter dem
Schein, daß sich der Teufel so stellt, als predige er
den Glauben, zerstört er den Glauben. Das ist des
Teufels Kunst.
Wenn nun unter den Christen solche Teufelsmäuler
auftreten, die alles verkehren und fälschlich deuten,
Sekten und Spaltungen anrichten, das ist ein so gro-
ßes Ärgernis, daran sich alle Welt stößt und Augen,
Ohren und Herz vom Evangelium abwendet. Denn
was Vernunft hat, klug und weise ist, das spricht von
Stund an: Wer wollte die Lehre annehmen, dieweil
die Lehrer selbst untereinander uneins sind? Das hat
denn solchen trefflichen äußeren Schein, den keine
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5225 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 5

menschliche Vernunft überwinden kann. Auch unter


uns, wenn wir schwach und mit Gottes Wort nicht
genug gerüstet sind, kann der Teufel solchen Schein
aufbringen, daß es über alle Maßen ist, wie z.B.: Got-
tes Wort lehrt so, man solle an den einzigen Christus
glauben, unter den Christen solle ein Glaube, ein
Herz, einerlei Sinn und Mut sein. Diese Lehre kann
wohl keine Vernunft schelten noch tadeln. Wenn aber
die Vernunft sieht, daß dieser rühmt, er sei ein Christ
und lebt doch als ein Unchrist, jener rühmt, er habe
den rechten Glauben und lehrt doch wider den rechten
christlichen Glauben und so fortan, wie denn die Är-
gernisse unzählig sind, da kann es nicht fehlen, Ver-
nunft muß sich daran stoßen, ob sie schon die Lehre
an sich selbst nicht schelten kann.
Das ist aber besonders deshalb so, weil das Wort
lehrt, Christen sollen eins sein, und doch findet sich
unter denen, die sich Christen rühmen, größere Unei-
nigkeit, Zwietracht und Spaltung. Dieweil das Wort
lehrt, Christen sollen sich nicht verdammen, geht es
doch so zu, daß die den Namen führen und Christen
heißen, sich untereinander mehr verdammen als frü-
her. Hier folgert die Vernunft und spricht: Die Lehre
ist vom Teufel und ist deshalb so hübsch erdacht, daß
nur solcher Jammer und Not in der Welt angerichtet
würde. Der Vernunft und aller Weisheit dieser Welt
ists nicht möglich, daß sie über solche Ärgernisse
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5226 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 6

springe. Denn sie kann nicht anders folgern, als so:


Wo sichs mit der Lehre auch in der Tat so fände, so
wäre es die rechte Lehre; weil sich aber in der Tat das
Gegenteil findet, wie kanns dann die rechte Lehre
sein? Aus dieser Ursache geschiehts auch, daß unsere
Widersacher auf ihrer eigenen Gerechtigkeit fester
bleiben und die Lehre des Glaubens, die wir predigen,
immer mehr und mehr verachten, hassen und verflu-
chen. Denn die Spaltungen schrekken sie vom
Evangelium ab und stärken sie in ihrer Heuchelei, so
daß sie immer härter werden.
Darum ärgern unsere Spaltungen vielmehr beide,
uns selbst und andere, tun auch unserm Evangelium
größeren Schaden, als die Tyrannen und Verfolger des
Evangeliums. Denn die Tyrannen müßten sich endlich
schämen, würden müde werden und aufhören zu ver-
folgen, wenn unter uns selbst Einigkeit wäre. Weil
aber unter uns Uneinigkeit, Zwietracht und Trennung
ist und doch auch die, welche solche Trennung anrich-
ten, allesamt gute Christen und evangelisch sein wol-
len, meinen die Tyrannen, sie hätten gut Fug und
Recht, uns zu verfolgen und zu töten. Deshalb tun un-
sere Spaltungen und Schwärmer nichts anderes, als
daß sie unsere Feinde und Tyrannen stärken. So tat
der Verräter Judas dem Herrn Christus und seinen
Jüngern: als sich der Schalk von Christus trennte und
sich zu den Pharisäern und Hohenpriestern hielt, da
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5227 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 7

wurden diese mutig. So gehts uns heutigen Tages


auch.
Darauf geht nun dieses Gleichnis und warnt, daß
man sich vorsehe und solche Ärgernisse nicht dem
Wort und der christlichen Kirche, sondern dem Fein-
de, dem Teufel zumesse, der durch seine Apostel das
Unkraut zwischen den guten Weizen säet. Denn hier
stehts, daß das Unkraut vom Feinde gesäet werde,
nicht an einen besonderen Ort auf dem Acker, sondern
zwischen den Weizen. Darum sollst du klug sein, dich
hüten und nicht sagen: »Auf dem Acker ist Unkraut,
darum taugt der Acker nichts«, oder »Auf dem Acker
steht viel Unkraut zwischen dem Weizen, darum steht
kein Korn noch Weizen drauf«, sondern sprich: »Der
Teufel säet sein Unkraut nirgends lieber hin, als zwi-
schen den Weizen, und seine Ärgernisse wirft er nir-
gends lieber hin, als unter die rechten Christen«. Man
darf nicht darauf hoffen noch warten, daß, gleichwie
die Lehre des Evangeliums gut und einig ist, ebenso
auch alles Volk, das es hört, gut und einig sein werde.
Es wird wohl so bleiben, daß du ihrer viele zwischen
dem Weizen finden wirst, welche nicht Weizen, son-
dern Unkraut sind.
Ich wollte auch wohl gern, daß der Weizen auf
einer besonderen, reinen Stelle stände und kein Un-
kraut drunter gemengt wäre, wie es des Hausvaters
Knechte hier gern hätten. Es geht aber nicht an. Wo
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5228 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 8

der Weizen steht, da findet sich auch das Unkraut.


Wo Christen sind, da finden sich auch Rottengeister,
falsche Lehrer und falsche Christen. Wir brauchen
uns nicht weit danach umzusehen, ich meine ja, wir
haben ihrer genug neben uns auf allen Seiten. Wer
nun ein Christ sein will, der muß leiden, daß die sich
Christen nennen, seine ärgsten Feinde und daß falsche
Lehrer und falsche Christen unter den rechtschaffenen
Lehrern und Christen sein werden.
Was ist aber das, daß der Herr hier sagt: »Lasset
beides miteinander wachsen«? Soll man das Unkraut
gar nicht ausrotten? Das ist eine für uns Prediger nöti-
ge Lehre. Denn ich wäre auch gern der Knechte einer,
der dazu hülfe, daß man das Unkraut ausrottete. Aber
es kann und soll nicht sein. Soll man denn nichts dazu
tun und das Unkraut ungehindert wachsen lassen? Sie
sehen den Text nicht recht an. Denn der Herr sagt
nicht, man solle dem Unkraut nicht wehren, sondern
sagt, man solle es nicht ausrotten. Zum andern redet
Christus vom Wachsen und nicht vom Säen, Setzen
oder Pflanzen. »Lasset beides miteinander wachsen«,
sagt er und sagt nicht: »Lasset beides miteinander
säen oder pflanzen«. Das Unkraut soll man nicht
säen, setzen oder pflanzen. Wenns aber während un-
seres Schlafs gesäet, gesetzt oder gepflanzt ist und
zwischen dem Weizen wächst, so soll mans nicht aus-
jäten, sondern mit dem Weizen wachsen lassen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5229 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 9

Es hat ein großes Ansehen und scheint, als habe es


eine billige Ursache, daß man die Ketzer und Schwär-
mer mit dem Schwert ausrotten solle. Solchem Anse-
hen und Schein vorzukommen, sagt Christus: »Lasset
beides miteinander wachsen bis zur Ernte«, als wollte
er sagen: »Lassets doch so gehen, ihr sollts nicht mit
dem Schwert richten, geht ihr nur fort mit dem Wort
und predigt getrost wider die Ketzer und Spaltungen.
Könnt ihr dem Unkraut mit dem Wort nicht wehren,
sondern es wird gesäet, während ihr schlaft, so laßts
mit dem Weizen zugleich wachsen bis zur Ernte. Als-
dann wird sich wohl einer finden, der es ausrotten
wird«. Paulus lehrt auch so, Tit. 3, 10: »Einen ketze-
rischen Menschen meide, wenn er einmal und aber-
mals ermahnt ist«. Er sagt nicht, daß man einen ketze-
rischen Menschen töten soll, sondern sagt, man soll
ihn einmal oder zweimal ermahnen. Wenn er sich
aber nicht vermahnen lassen will, so soll man ihn als
einen meiden, der verkehrt ist und sich selbst verur-
teilt hat.
Christus aber spricht hier: »Meine Diener werden
zur Erntezeit das Unkraut sammeln und in Bündel
binden, gleichwie ein Ackermann das Unkraut sam-
melt und Bündel daraus macht«. Und wenn er das tut,
so gilts für das Feuer. So werden Gottes Engel auch
das Unkraut vom Weizen sondern und in Bündel bin-
den, das ist, sie werden die Bösen zum ewigen Tode
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5230 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 10

und Feuer verurteilen, daß sie darin ewig brennen.


Das ist die andere Ursache, weshalb Christus nicht
will, daß man das Unkraut mit dem Schwert ausrotten
solle. Denn es ist schon zum Feuer verurteilt, wie
Paulus Tit. 3, 11 auch sagt. Ein ketzerischer Mensch
ist verkehrt und hat sich selbst verurteilt. Des soll
man sich mehr jammern und erbarmen lassen, als daß
man einen Ketzer töten wollte. Die gottseligen, from-
men Prediger und Christen tun das. Die Gottlosen und
Heuchler können nicht mehr als erwürgen und töten.
So lehrt nur Christus in diesem Gleichnis, daß in
seinem Reich hier auf Erden auch Unkraut, Ketzer
und Schwärmer zwischen dem Weizen, den Aposteln
und Christen sein werden, und wie wir uns gegen
diese verhalten sollen. Gott gebe uns seine Gnade und
Geist, daß wir der gute Weizen seien und Gottes Wil-
len allezeit tun mögen, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5231 Fünfter Sonntag nach Epiphanias. Matth. 13, 24-30 11

Editorische Bemerkung

Die HP bringt hier eine am 9. Dezember 1528 gehal-


tene Predigt aus den Wochenpredigten über Matthäus,
die nur hier erhalten (und deshalb WA 52, 828-839
ediert) ist. Dietrich bringt hier eine Predigt offensicht-
lich eigener Komposition mit nur gelegentlichen An-
lehnungen an eine erhaltene Nachschrift. Sonstige
Nachschriften Rörers von Predigten Luthers über die-
sen Text sind nicht erhalten.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5232 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 1

Martin Luther

Letzter Sonntag nach Epiphanias


2. Petr. 1, 16-21

[WA 14, 26–32]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5233 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 2

Denn wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt, als wir


euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen
unsers Herrn Jesus Christus; sondern wir haben
seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing
von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine
Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlich-
keit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlge-
fallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört
vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf
dem heiligen Berge.
Und wir haben desto fester das prophetische
Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf
ein Licht, das da scheint an einem dunkeln Ort, bis
der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in
euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen,
daß keine Weissagung in der Schrift eine Sache ei-
gener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weis-
sagung aus menschlichem Willen hervorgebracht;
sondern von dem heiligen Geist getrieben haben
Menschen im Namen Gottes geredet.

Hier bezieht sich Petrus auf die im Matthäusevange-


lium im 17. Kapitel beschriebene Erzählung von der
Verklärung Jesu; wie Jesus drei von seinen Jüngern
zu sich nahm und sie beiseite auf einen hohen Berg
führte und sich vor ihnen erklärte. Sein Angesicht
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5234 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 3

glänzte wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß


wie ein Licht, und es erschienen ihnen Mose und
Elias, die redeten mit ihm. Und eine lichte Wolke
überschattete sie, und eine Stimme aus der Wolke
sprach: »Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich
Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören«.
Damit will nun Petrus sagen: Was ich euch von
Christus predige und von seiner Zukunft, das Evange-
lium, das wir verkündigen, haben wir uns nicht aus
den Fingern gesogen oder selbst erdacht. Wir predi-
gen nicht Menschentand, sondern wir sind gewiß, daß
es von Gott ist, denn wir sind es mit Augen und
Ohren innegeworden, da wir mit Christus auf dem
Berge waren und seine Herrlichkeit sahen und hörten.
So gewiß soll nun ein jeder Prediger sein, daß er Got-
tes Wort habe und predige, daß er darauf sterbe. Denn
so viel will Petrus sagen: Darauf kommt es mit dem,
was ich predige, ganz an, daß eure Gewissen sicher
seien und euer Herz fest darauf stehen könne und sich
nicht davon wegreißen lasse, auf daß wir beide, ich
und ihr, gewiß seien, daß wir Gottes Wort haben.
Denn es ist eine ernste Sache mit dem Evangelium,
daß man es rein und lauter ohne Zusatz und falsche
Lehre erfasse und behalte.
Warum sagt er aber: »wir haben desto fester das
prophetische Wort?« Antwort: Ich meine wohl, wir
werden forthin solche Propheten nicht haben, wie sie
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5235 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 4

die Juden vor Zeiten im Alten Testament hatten. Ein


Prophet aber soll eigentlich der sein, der von Jesus
Christus predigt. Obwohl viele Propheten im Alten
Testament von zukünftigen Dingen geweissagt haben,
so sind sie doch darum eigentlich gekommen und von
Gott geschickt worden, daß sie Christus verkündigen
sollten. Welche nun an Christus glauben, die sind alle
Propheten, denn sie haben das rechte Hauptstück, das
die Propheten haben sollen, ob sie gleich nicht alle
die Gabe der Weissagung haben. Denn wie wir durch
den Glauben des Herrn Christus Brüder, Könige und
Priester sind, so sind wir auch durch Christus alle
Propheten. Denn wir können alle sagen, was zur Se-
ligkeit und Gottes Ehre und christlichem Leben ge-
hört, dazu auch von den zukünftigen Dingen, so viel
uns zu wissen not ist, wie daß der Jüngste Tag kom-
men werde und wir von den Toten auferstehen wer-
den. Dazu verstehen wir auch die ganze Schrift.
So sagt nun Petrus: Wir haben ein solches »pro-
phetisches Wort«, das ist an sich selbst fest, sehet ihr
nur zu, daß es euch fest sei, »und ihr tut wohl, daß ihr
darauf achtet«, als wollte er sagen: es wird vonnöten
sein, daß ihr fest daran haltet, denn es ist mit dem
Evangelium so beschaffen, als wenn einer in einem
Hause mitten in der Nacht gefangen wäre, wo es
stockfinster ist. Da wäre es vonnöten, daß man ein
Licht anzündete, bis der Tag anfinge, damit man
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5236 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 5

sehen könnte. So ist das Evangelium eigentlich mitten


in der Nacht und Finsternis. Denn aller Menschen
Vernunft ist eitel Irrtum und Blindheit, und die Welt
ist auch nichts anderes als ein Reich der Finsternis. In
dieser Finsternis hat nun Gott ein Licht angezündet,
nämlich das Evangelium, in dem wir sehen und wan-
deln können, so lange wir auf Erden sind, bis die
Morgenröte komme und der Tag hervorbreche.
Dieser Text wendet sich mächtig gegen alle Men-
schenlehre, denn wenn das Wort Gottes Licht ist an
einem dunklen und finsteren Ort, so ist darin einge-
schlossen, daß alles andere Finsternis ist. Denn wenn
es ein Licht außer dem Wort gäbe, würde Petrus nicht
so reden. Darum siehe nicht darauf, wie »vernünftige«
Leute es sind, die da etwas anderes lehren, wie sehr
sie es behaupten: wo du nicht Gottes Wort spürest,
zweifle nicht daran, daß es eitel Finsternis sei. Und
laß es dich nicht anfechten, daß sie sagen, sie hätten
den heiligen Geist. Wie können sie Gottes Geist
haben, wenn sie Gottes Wort nicht haben? Darum tun
sie nichts anderes, als daß sie die Finsternis Licht
nennen und aus Licht Finsternis machen (Jes. 5, 20).
Das ist Gottes Wort, das Evangelium, daß wir durch
Christus von Tod, Sünde und Hölle erlöst sind: wer
das höret, der hat das Licht, das uns erleuchtet und
lehret, was wir wissen sollen. Wo das aber nicht ist,
da fahren wir zu und wollen mit selbst erdachtem
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5237 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 6

Wesen und Werken den Weg zum Himmel finden.


Darüber kannst du durch dein Licht urteilen und
sagen, daß es Finsternis ist. Dieses Licht müssen wir
so lange haben und daran hängen bis an den Jüngsten
Tag. Danach werden wir des Wortes nicht mehr be-
dürfen, so wie man das Licht auslöscht, wenn der Tag
anbricht.
»Und das sollt ihr vor allem wissen« usw. Hier
greift nun Petrus die falsche Lehre an. Weil ihr das
wisset, sagt er, daß wir Gottes Wort haben, so bleibet
darauf und lasset euch nicht durch andere falsche
Lehre verführen, wenn sie gleich kämen und behaup-
teten, daß sie auch den heiligen Geist hätten. Denn
»das sollt ihr vor allem wissen, daß keine Weissa-
gung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist«.
Da richtet euch nach und meinet nicht, daß ihr die
Schrift durch eigene Vernunft und Klugheit auslegen
werdet.
Petrus hat es verboten: du sollst nicht selbst ausle-
gen. Der heilige Geist soll es selbst auslegen, oder es
soll unausgelegt bleiben. Hier greift Petrus auch die
tüchtigsten und besten Lehrer an. Wir sollen gewiß
sein, daß niemand zu glauben sei, wenn er die Schrift
so darlegt, wie er sie selbst deutet und auslegt. Denn
es kann das rechte Verständnis durch die eigene Aus-
legung nicht getroffen werden. Nur die Auslegung ist
recht, die nicht vom Menschen erdacht, sondern aus
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5238 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 7

Gottes Wort genommen ist: »Denn es ist noch nie


eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorge-
bracht; sondern von dem heiligen Geist getrieben
haben Menschen im Namen Gottes geredet«, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5239 Letzter Sonntag nach Epiphanias. 2. Petr. 1, 16-21 8

Editorische Bemerkung

Die HP bietet nur Predigten für fünf Sonntage nach


Epiphanias. Deshalb wird hier aus Luthers Wochen-
predigten von 1523 über den 2. Petrusbrief die über
2. Petr. 1, 16-21 nach WA 14, 26-32 wiedergegeben
(andere Predigten Luthers über den 2. Petrusbrief sind
nicht überliefert).

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5240 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 1

Martin Luther

Sonntag Septuagesimae
Matth. 20, 1-16

[HP 102–104;
WA 37, 275–278]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5241 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 2

Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der


früh am Morgen ausging, Arbeiter zu dingen in sei-
nen Weinberg. Und da er mit den Arbeitern eins
ward um einen Silbergroschen zum Tagelohn, sand-
te er sie in seinen Weinberg. Und ging aus um die
dritte Stunde und sah andere an dem Markte müßig
stehen und sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in
den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist.
Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die
sechste und neunte Stunde und tat gleich also. Um
die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere
stehen und sprach zu ihnen: Was stehet ihr hier den
ganzen Tag müßig? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns
niemand gedingt. Er sprach zu ihnen: Gehet ihr
auch hin in den Weinberg. Da es nun Abend ward,
sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwal-
ter: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und
heb an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen,
die um die elfte Stunde gedingt waren, und empfing
ein jeglicher seinen Groschen. Da aber die ersten
kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen;
und sie empfingen auch ein jeglicher seinen Gro-
schen. Und da sie den empfingen, murrten sie wider
den Hausvater und sprachen: Diese letzten haben
nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns
gleich gemacht, die wir des Tages Last und die Hitze
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5242 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 3

getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu


einem unter ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht
Unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um
einen Groschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich
will aber diesem letzten geben gleich wie dir. Habe
ich nicht Macht, zu tun, was ich will, mit dem Mei-
nen? Siehest du darum scheel, daß ich so gütig bin?
So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die
Letzten sein. (Denn viele sind berufen, aber wenige
sind auserwählt.)

Dies ist ein schweres Evangelium, aus welchem das


junge Volk und einfache Menschen nicht viel lernen
können. Dennoch wollen wirs auch durchlaufen und
etwas davon sagen, weil mans auf den heutigen Sonn-
tag liest.
Es ist ein Gleichnis von einem Hausvater, der zu-
erst am Morgen früh ausgeht und Arbeiter in seinen
Weingarten bestellt, die zwölf Stunden arbeiten. Da-
nach bestellt er andere, die arbeiten neun Stunden, da-
nach wieder andere, die nur sechs und drei Stunden
arbeiten, und zuletzt die nur eine Stunde arbeiten.
Aber am Abend gibt er den letzten ebensogut einen
Groschen wie den ersten. Da ist die Arbeit sehr un-
gleich und ist doch der Lohn gleich. Denn der Haus-
vater hat den Arbeitern nicht zugesagt, was er ihnen
geben wolle, außer den ersten. Er teilts aber gleich
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5243 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 4

aus, gibt denen nicht mehr, die zwölf Stunden gear-


beitet haben, und denen nicht weniger, die nur eine
Stunde gearbeitet haben, sondern gibt einem wie dem
andern. Das ist dieses Gleichnis. Was er erzählt, taugt
vor der Welt gar nichts, wäre auch nicht recht. Da
hats sein Maß und Regel: Wer viel arbeitet, dem gibt
man viel Lohn, wer wenig arbeitet, dem gibt man
wenig Lohn. Doch ist es so: wo einer seinen ausge-
machten Lohn hat, da soll und darf er dem Herrn nicht
dreinreden, ob er gleich einem andern etwas aus Gut-
willigkeit schenkt. Aber natürlich ists Unrecht, glei-
chen Lohn zu geben, wo ungleiche Arbeit ist.
Dies Gleichnis erzählt der Herr dazu, daß er damit
sein Reich von der Welt scheiden und uns lehren will,
daß es in seinem Reiche ganz anders zugehe als in der
Welt. In der Welt Reich kann es nicht gleich zugehen,
sintemal die Personen ungleich sind. Da soll man
dem, der viel gearbeitet hat, mehr geben als dem, der
wenig gearbeitet hat. Ebenso soll da der Herr im
Hause mehr Güter haben als sein Knecht und muß
doch der Knecht mehr arbeiten als der Herr. Solche
Ungleichheit muß in der Welt Reich sein und bleiben.
Aber in Christi Reich geht es so zu, daß alle Un-
gleichheit aufgehoben ist und alle gleich sein sollen,
einer wie der andere, und einer so viel haben und gel-
ten soll wie der andere.
Solches sollen wir fleißig lernen, auf daß wir Chri-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5244 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 5

sti Reich von der Welt Reich unterscheiden können.


Es ist zumal für die Christen ein tröstlich Evange-
lium, daß wir in Christus so ganz gleich sind. Vor der
Welt muß die Ungleichheit bleiben, daß der Vater
mehr sei als der Sohn, der Herr mehr als der Knecht,
daß ein König und Fürst mehr sei als seine Unterta-
nen. Das will Gott so haben; der hat die Stände so ge-
ordnet und unterschiedlich geschaffen. Wer da eine
Gleichheit machen wollte, daß der Knecht so viel gel-
ten sollte wie sein Herr, die Magd so viel Gewalt
haben wie ihre Herrin, ein Bauer so viel wie ein
Fürst, der würde ein sehr löbliches Regiment anrich-
ten. Es gehe nun in der Welt so ungleich zu, wie es
immer kann, so sollen wir uns doch dessen trösten,
wie hohen oder niedrigen Standes wir sind, daß wir
doch alle einen Christus haben, eine Taufe, ein
Evangelium, einen Geist, daß niemand ein besseres
Evangelium, eine bessere Taufe, einen anderen Chri-
stus hat als die geringste Magd und der geringste
Knecht. Denn obschon ein anderer mehr Geld, Gut
und anderes hat als du, so hat er doch darum nicht
einen andern oder bessern Gott, auch nicht einen an-
dern oder bessern Christus und Himmel, sondern sie
sind alle gleich.
Das soll unser Trotz und Trost sein, daß wir wis-
sen, im Reiche Christi sei keine Ungleichheit. Wir
sollen deshalb in solcher christlichen Hoffnung willig
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5245 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 6

hingehen und tun, was wir sollen. So könnte ein jegli-


cher in seinem Stande fröhlich sein und fromm dazu.
Denn da muß es alles mit Freuden abgehen, wenn ein
Christ von Herzen sagen kann: Was soll ich meines
Standes halber murren? Ist doch mein Stand ein guter,
köstlicher Stand, ob er gleich gering und mühsam ist.
Ists kein Fürstenstand, so ists doch ein Christenstand,
was will ich mehr haben oder begehren?
Danach sagen wir: Wenn du solche Gleichheit in
Christus hast, alsdann, du seiest ein Lehrer oder Pre-
diger, ein Herr oder eine Frau, ein Knecht oder eine
Magd, so arbeite und tue in deinem Stande, was du zu
tun schuldig bist. Da bleibe man in der Ungleichheit,
wie die Stände ungleich sind und der Beruf ungleich
ist. Aber in Christus sollen wir nicht ungleich, son-
dern gleich sein. An dem stößt sich die Welt. Und die
Juden wollen besonders darüber unsinnig und toll
werden, wenn sie hören, daß wir Heiden selig werden
sollen, die wir nicht beschnitten sind, nicht den Sab-
bat und andere Beschwerung des Gesetzes halten, wie
sie, die solche Last mit großer Mühe tragen, daß sie
drüber schwitzen. Wie es der Herr im Gleichnis fein
zur Sprache bringt und sagt: Die ersten meinten, sie
würden mehr empfangen und murreten deshalb, als
ein jeder seinen Groschen empfing, ebenso wie die,
welche nur eine Stunde gearbeitet hatten. Das ist das
Ärgernis, daran sich die Juden gestoßen haben und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5246 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 7

noch heutigen Tages stoßen. Sie trugen des Gesetzes


Last, daß schier nicht alles zu erzählen war. Darum
dachten sie so: Wir Juden lassen uns beschneiden, tra-
gen des Gesetzes Last. Die Heiden lassen sich nicht
beschneiden, tragen auch nicht des Gesetzes Last und
sollen uns doch gleich sein, die wir viel Gutes nach
dem Gesetz getan haben. Nein, nicht so, sondern
wenn Gott dies den Heiden gibt, so soll er uns Juden
billig mehr geben.
Aber Christus will gar keine Ungleichheit leiden.
»Freund«, sagt er, »ich tue dir nicht Unrecht, nimm,
was dein ist, und gehe hin«; das ist: Ihr habt euern
Lohn bereits hin, das Land Kanaan. Aber jetzt will
ich ein anderes und neues Reich anrichten, darin soll
alles gleich sein. Denn das Gut ist mein, ich kann des-
halb damit machen, was ich will. Ihr braucht mich
nicht zu lehren, wie ich meine Knechte halten soll. So
verloren die Juden dadurch das ewige Leben und wol-
len mit uns Heiden nicht gleich sein. Sie beschuldigen
unsern Herrgott deswegen, als tue er ihnen Unrecht,
so daß er sich verantworten und sagen muß: Hast du
doch deinen vereinbarten Groschen hinweg, dazu ist
das Gut mein, nicht dein. Was gehts denn dich an,
wie ich mit dem Meinen umgehe? Der Papst und sein
Haufe tun auch so, wollen mit uns im Reich Christi
nicht gleich sein, sondern wollen etwas Besonderes
sein und haben und verlieren dadurch das ewige
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5247 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 8

Leben.
Darum soll man diesen Unterschied zwischen welt-
lichem und himmlischem Leben oder zwischen der
Welt Reich und dem Reich Christi gut und fleißig
merken. Denn im Reich Christi soll es alles gleich
sein, sintemal wir alle nur einen einzigen Gott, Chri-
stus, Heiligen Geist, Evangelium, Taufe, Abendmahl,
Glauben haben. Solcher Gleichheit wegen ist einer
ebenso gut, fromm und heilig wie der andere.
Wenn wir das nun haben, so sollen wir Gott für
solche Gaben danken und diese recht erkennen, rüh-
men und sagen: Man sehe mich an, wofür man wolle,
man achte mich, so gering man wolle, so habe ich
doch so viel wie alle Kaiser und Könige, ja wie alle
Heiligen und Engel im Himmel. Wodurch? Durch
Christus! Darum will ich hingehen, ein Hausvater,
Hausmutter, Knecht oder Magd sein und mit Freude,
Mut, Lust und Liebe alles tun, was mein Stand erfor-
dert, sintemal ich so einen großen Schatz an meinem
Herrn Christus habe.
Das ist nun die Lehre aus dem heutigen Evange-
lium, daß wir hier auf Erden ungleich bleiben, gleich-
wie die Personen und Ämter mancherlei und ungleich
sind. Ein Fürst ist eine andere Person und hat ein an-
deres Amt als ein Prediger, ein Lehrer eine andere
Person und ein ander Amt als ein Bürgermeister.
Darum sollen oder können sie nicht einerlei Weise
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5248 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 9

oder Wesen führen. Solche Ungleichheit muß auf


Erden bleiben. Aber dort im Reich Christi heißts: Ich
will einem so viel geben wie dem andern. Ursache:
Das Himmelreich, die Erlösung von Tod und Sünden
hat mir niemand abverdient, darum bin ichs niemand
schuldig, gebe es aber aus Gnade, wem ich will. An-
gesichts dessen sollen wir uns hüten, daß wir nicht
murren, sondern Gott dafür danken und uns auf sol-
chen Trost in allerlei Gefahr, Mühe und Arbeit stüt-
zen, die wir in der äußerlichen Ungleichheit tragen, so
wird es uns alles sanft und leicht werden. Dazu helfe
uns allen unser lieber Herr Jesus Christus, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5249 Sonntag Septuagesimae. Matth. 20, 1-16 10

Editorische Bemerkung

Von den sechs Nachschriften Rörers wählt die HP –


wie Dietrich – die WA 37, 275-278 abgedruckte von
der 1534 im Hause gehaltenen Predigt.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5250 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 1

Martin Luther

Sonntag Sexagesimae
Luk. 8, 4-15

[HP 105–108;
WA 37, 293–294]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5251 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 2

Da nun viel Volks beieinander war und sie aus den


Städten zu ihm eilten, sprach er durch ein Gleichnis:
Es ging ein Säemann aus, zu säen seinen Samen.
Und indem er säte, fiel etliches an den Weg und
ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel
fraßens auf. Und etliches fiel auf den Fels; und da
es aufging, verdorrte es, darum daß es nicht Saft
hatte. Und etliches fiel mitten unter die Dornen; und
die Dornen gingen mit auf und ersticktens. Und etli-
ches fiel auf ein gutes Land; und es ging auf und
trug hundertfältige Frucht. Da er das sagte, rief er:
Wer Ohren hat, zu hören, der höre!
Es fragten ihn aber seine Jünger und sprachen,
was dies Gleichnis wäre. Er aber sprach: Euch ists
gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Reiches
Gottes, den andern aber in Gleichnissen, auf daß sie
es nicht sehen, ob sie es schon sehen, und nicht ver-
stehen, ob sie es schon hören.
Das Gleichnis aber ist dies: Der Same ist das
Wort Gottes. Die aber an dem Wege sind, das sind,
die es hören; danach kommt der Teufel und nimmt
das Wort von ihrem Herzen, auf daß sie nicht glau-
ben und selig werden. Die aber auf dem Fels sind
die: wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit
Freuden an. Doch sie haben nicht Wurzel; eine Zeit-
lang glauben sie, und zu der Zeit der Anfechtung
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5252 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 3

fallen sie ab. Das aber unter die Dornen fiel, sind
die, die es hören und gehen hin unter den Sorgen,
Reichtum und Freuden des Lebens und ersticken
und bringen keine Frucht. Das aber auf dem guten
Land sind, die das Wort hören und behalten in
einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht und
Geduld.

Eure Liebe hört im heutigen Evangelium, wie unser


lieber Herr Christus viererlei Schüler macht. Die er-
sten, sagt der Herr, sind der Same, der an den Weg
fällt. Der kommt nicht zur Frucht, denn er wird ent-
weder zertreten oder die Vögel fressen ihn auf. Die
andern sind die, welche es hören und anfangen, nicht
allein davon zu reden, sondern auch zu glauben. Sie
wachsen auch gut, wie das Korn, das auf den steini-
gen Acker oder Felsen fällt. Aber sobald ein wenig
ein heißer Sommertag kommt, fängt es an zu verdor-
ren, denn es hat nicht Wurzel noch Saft. So ist auch
bei diesen Menschen zu Anfang alles herrlich. Wenn
aber Verfolgung und Anfechtung kommt und sie
etwas deswegen leiden sollen, fallen sie dahin, ehe die
rechte Frucht des Glaubens durch Geduld folgt. Die
dritten sind hier am leichtesten erkennbar: das sind
Christen wie das Korn unter den Dornen, das zwar
aufwächst, dennoch aber nicht zur Frucht kommen
kann und ersticken muß, denn die Dornen überwach-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5253 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 4

sen es. Die vierten aber sind die rechten Schüler, da


das Wort in ein gutes Herz fällt und bleibt darin, bis
es Frucht bringt durch Geduld. Da werden heilige
Leute draus, welche um des Worts willen leiden, sich
in Gehorsam gegen Gott und in Liebe gegen den
Nächsten üben, geduldig sind, und etliche bringen
hundertfältige, etliche sechzigfältige, etliche dreißig-
fältige Frucht.
Das sind die viererlei Schüler. Da gehe nun ein
jeder in sein Herz, bedenke sich, unter welcher Grup-
pe er doch sei. Die ersten drei Schüler hören das Wort
ohne Nutzen und Frucht. Besonders die ersten sind
aber die ärgsten, die das Wort hören. Und wenn sie es
hören, spricht der Herr, so »kommt der Teufel, nimmt
ihnen das Wort von dem Herzen«, daß sie nicht glau-
ben und selig werden. Das merke ja fleißig.
So hätte ich nimmermehr richten noch urteilen dür-
fen, daß die Herzen mit dem Teufel besessen sein
sollten, die das Wort hören und sein doch nicht ach-
ten, vergessen es und denken nimmer dran. Uns dün-
ket, es sei ohne Gefahr, Gottes Wort zu hören und es
doch nicht zu behalten, und die es tun, seien schlech-
te, unachtsame Leute, und es gehe natürlich zu, daß
sie die Predigt hören und sie dennoch vergessen. Aber
Christus urteilt hier anders und sagt, der Teufel
nehme den Menschen das Wort aus dem Herzen.
Darum müssen auch andere Untugenden folgen, daß
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5254 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 5

sie ungehorsam, untreu, eigensinnig, eigennützig,


stolz, unversöhnlich, geizig sind, die da gern haben,
daß jedermann ihnen diene, sie aber umgekehrt kei-
nem Menschen dienen. Denn wo das Wort im Herzen
bliebe und sie es mit Fleiß hörten, würde es feine, ge-
horsame, treue, willige, dienstbereite, demütige, milde
Herzen machen.
Das sind die ersten und Ärgsten. Und solche Unart
verdrießt den Herrn sehr übel, er schilt auch keine
Gruppe so sehr wie diese. Darum, wo du einen sol-
chen Menschen siehst oder du selbst ein solcher
Mensch bist, der in sich hinein reden und predigen
läßt, wie in einen Klotz: denke nicht anders, denn der
Teufel sei ihnen ins Herz gesessen, der läßt ihnen
nicht ins Herz kommen, was sie Gutes hören, sondern
frißt es von Stund an auf, daß sie nicht glauben und
selig werden. Denn wo der Teufel nicht da wäre, oder
solches eine natürliche, angeborene Vergesslichkeit
wäre, wie denn immer ein Mensch gelehriger ist als
der andere, so würde doch das Verlangen da sein, daß
ein Mensch gedächte: Ach Gott, daß ich so gar nichts
behalten kann! Gib mir doch auch deine Gnade und
tue mir mein Herz auf, daß ich darauf Acht haben
möge und behalten könne, was ich in der Predigt dei-
nes Wortes höre. Bei solchen Leuten, die ein Verlan-
gen nach dem Wort haben und es gern behalten woll-
ten, hat der Teufel keinen Platz noch Raum, sonst
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5255 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 6

würde solch Verlangen wohl dahinten bleiben. Aber


jene kümmern sich nicht drum und lassen sich dün-
ken, wenn sie einen Groschen oder Pfennig oder
etwas, das noch geringer ist, einer Predigt halber ver-
säumen sollten, es wäre ein großer Schade. Da ist
gewiß der Teufel bei, und denke nur niemand anders.
Das ist die größte Gruppe, die das Wort hören und
achtens nicht. Die andern zwei Gruppen sind nicht so
ganz böse. Aber schwach sind sie, fangen ein wenig
an und behalten etwas, lassens sich auch gefallen.
Darum gibt sie der Herr nicht so ganz dem Teufel hin,
wie die ersten, obschon die Frucht bei ihnen noch
nicht folgt. Die zweite Gruppe nun sind die, welche in
der Verfolgung nicht beharren noch beständig blei-
ben. Sie sind wie das wurmstichige Obst, es bleibt am
Baum hängen, solange es still ist, sobald aber ein
Wind kommt, fällt es haufenweise ab. »Eine Zeit-
lang«, spricht der Herr, »glauben sie«, aber sobald
das Kreuz kommt, lassen sie sich abschrecken und
wollen nichts leiden. Da muß die Frucht des ewigen
Lebens auch ausbleiben samt andern guten Früchten,
die aus dem Wort und Glauben herwachsen.
Die dritte Gruppe sind die, welche des Worts vor
Geiz, Sorge und vor Wollust dieses Lebens nicht ach-
ten. Denn wer mit zeitlichen Sorgen umgeht, Geld zu-
sammenscharrt und -kratzt und allein denken will, wie
er angesehen und reich werde, der beschweret das
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5256 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 7

Herz, wie Christus Luk. 21, 34 sagt, daß das Wort so


bei ihm erstickt, wie das Korn unter den Dornen. Ar-
beiten soll man und ein jeder sich in seinem Beruf auf
das fleißigste und emsigste halten. Das ist nicht ver-
boten, sondern geboten. Aber daß man so Geld zu-
sammenscharren und -kratzen und allein auf das Zeit-
liche, auf Taler und Gulden denken wollte, das sind
die Dornen, die Gottes Wort im Herzen ersticken, daß
es nicht über sie wachsen und Frucht bringen kann.
Denn man denkt nicht dran und läßt sich an anderm
mehr gelegen sein.
Bei diesen drei Gruppen ist das Wort umsonst und
vergebens. Das ist aber nicht ein geringer, sondern ein
großer, greulicher Schade, den ein menschlich Herz
nicht genugsam bedenken kann.
Darum vermahnt der Herr (wie Matth. 13, 12
schreibt) mit Fleiß uns alle und sagt: So sehet nun
drauf, wie ihr zuhöret. »Denn wer da hat, dem wird
gegeben, wer aber nicht hat, von dem wird auch ge-
nommen, was er hat«. Mit solchen Worten gibt er ge-
nügend zu verstehen, daß er nicht von einfachen Sa-
chen, sondern von Gottes Wort rede. Diejenigen, die
es im Herzen haben, werden selig, die es nicht haben,
werden verdammt. Darum soll man zusehen und mit
Gottes Wort nicht scherzen wie mit einer einfachen
Sache. Denn es ist kein Scherz, man darf nicht den-
ken, daß man eine Weile so hingehen wollte, sorgen
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5257 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 8

und Geld zusammenscharren und sagen: Ha, ich will


Gottes Wort noch gut lernen und glauben, wenn ich
einmal mehr Zeit haben werde und zuvor gesammelt
habe, was mir vonnöten ist. Siehe zu und täusche dich
nicht selbst.
So laßt uns nun Fleiß anwenden, daß wir unter dem
kleinen vierten Häuflein erfunden werden, darum auch
mit Ernst bitten, daß wir gute Herzen haben, Gottes
Wort annehmen und behalten und gute Frucht bringen
mögen. Die aber das Wort hören, die bringen hun-
dertfältige, das ist: viel und unzählige Frucht; oder,
wie es Matthäus (13, 8) teilt, etliche bringen hundert-
fältige, etliche aber sechzigfältige und etliche dreißig-
fältige Frucht. Das heißt: einer bringt mehr Frucht als
der andere. Denn gleichwie die äußerlichen Ämter un-
gleich sind, sind auch die Früchte ungleich. Ein Predi-
ger dient der Kirche mehr als ein Handwerksmann,
der nur seinem eigenen Hause vorsteht, und doch sind
beide Christen, durch Christus von Sünden und Tod
erlöset und Erben des ewigen Lebens. Unter dies
Häuflein, welches das kleinste ist, laßt uns auch kom-
men.
Es gehört aber ein feines, reines Herz dazu, wie
Christus sagt, das ist ein solches Herz, das erstens
nicht unachtsam ist, sondern sichs einen rechten Ernst
mit dem Wort Gottes sein läßt. Ein solches Herz muß
vor allen Dingen da sein, wo mit Sicherheit Frucht
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5258 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 9

folgen wird, aber doch in Geduld. Denn ohne Kreuz


und Anfechtung, ohne Widerwärtigkeit und Anstöße
gehts nicht ab, wie Paulus 2. Tim. 3, 12 sagt: »Alle,
die in Christus Jesus gottesfürchtig leben wollen,
müssen Verfolgung leiden«. Da sollen wir uns und
unsere Seelen, wie Christus sagt, mit Geduld fassen
und des Gebets dabei nicht vergessen.
Da ists vonnöten, daß wir auf solchen Mangel und
Gebrechen unserer Natur gut Acht haben, nicht in Si-
cherheit fortfahren, sondern Gott um seinen Heiligen
Geist bitten, auf daß wir Gottes Wort hören und be-
halten und die rechte Frucht, den Glauben an Chri-
stus, bringen können, durch welchen Glauben wir
nicht allein im Gehorsam Gottes leben, sondern auch
Gottes Kinder und Erben werden. Denn das ist die
vornehmste Ursache dafür, daß dieser Same gesäet,
das ist, das heilige Evangelium in aller Welt gepre-
digt wird, daß es eine solche Frucht in uns schaffen
und wirken soll, die da ewig bleibet.
Über das hinaus dient uns dies Gleichnis auch
dazu, daß man sich nicht wundere, wenn das Wort
nicht allenthalben Frucht bringt. Denn hier hören wir,
daß es der Herr selber so teilt und vier Gruppen
macht, von denen nur die eine und die kleinste recht-
schaffen ist. Die andern drei großen Gruppen taugen
gar nichts. Die soll man gehen lassen und sich nicht
ärgern, wenn man sieht, daß mehr sind, die das Wort
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5259 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 10

verachten als die es annehmen. Des Evangeliums


Natur und Art ist, daß wo es gepredigt wird, da hats
drei verlorne Schüler und der vierte erst ist gut und
fromm. Und ist doch die Schuld weder des Worts
noch des, der es führt oder predigt. Denn obgleich die
Predigt recht und der Prediger fromm ist, bleibt die
Welt dennoch böse und bessert sich durch das Wort
nicht. Denn da steht nicht allein diese Predigt Christi,
daß nur der vierte Teil des Samens Frucht bringe,
sondern auch sein eigenes Beispiel (wollen von dem
des Johannes und der Apostel schweigen), daß ers
nicht dahin bringen kann, daß jedermann glauben und
das Wort annehmen wollte. Der größte Teil ist und
bleibt böse und ohne Frucht, der kleinste und gering-
ste Teil bessert sich und glaubt.
Ist nun das Christus, Gottes Sohn und höchstem
Prediger, widerfahren, was ists Wunder, daß es Jo-
hannes dem Täufer, den Aposteln und uns heutiges
Tages auch widerfährt? Will man deshalb die Lehre
schelten und sagen, sie sei unrecht, so sage man auch,
der Same sei nicht rechtschaffen, der auf den Weg,
den Felsen und unter die Dornen fällt. Aber man soll
es umkehren und Gott nicht lästern. Sein Wort ist der
Same, der gesäet wird, dieses Wort ist rechtschaffen
und gut und kann seiner Natur halber nichts anderes
als Frucht bringen. Daß es aber nicht allenthalben
Frucht bringt, deswegen beschuldige ja Gott und sein
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5260 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 11

Wort nicht, sondern das Land, das nicht gut ist, wes-
halb auch dieser Same darin verderben und ohne
Frucht bleiben muß.
Deshalb sollen die Katholiken unsere Lehre nicht
schelten noch unrecht heißen, deshalb weil viel Ärger-
nisse sich dabei finden; sondern sie sollen sich selbst
und alle anderen Leute schelten, die kein feines, reines
Herz haben. Denn die Schuld ist nicht des Worts,
sondern der Herzen, die sind unrein und untüchtig,
verachten entweder das Wort oder fallen zur Zeit der
Anfechtung davon ab oder erstickens unter den Sor-
gen, Reichtum und Wollust dieses Lebens.
So lerne nun jedermann hier, daß es mit dem
Evangelium nimmermehr anders zugehen wird, als es
der Herr hier durch dies Gleichnis anzeigt, nämlich,
daß etliche sich daraus bessern und frömmer werden,
aber da sind immer dreimal mehr, die sich ärgern.
Daher kommt es auch, daß nicht allein viel äußerliche
Sünden und Ärgernisse sind, sondern auch, wie der
Herr sagt, solche Unart mit Blindheit gestraft wird,
daß die verlornen Schüler des Evangeliums mit sehen-
den Augen nicht sehen und, was sie hören, nicht ver-
stehen noch sich danach richten können.
Zuletzt ist auch darauf zu merken, daß der Herr, da
er dies Gleichnis beschließt, ruft und spricht: »Wer
Ohren hat zu hören, der höre«, als wollte er sagen:
Höret Gottes Wort, dieweil ihrs habt; es kommt die
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5261 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 12

Zeit, da ihrs gern hören wolltet, wenn ihrs haben


könntet. Darum hörets mit Fleiß, dieweil ihrs habt.
Denn wers verachtet, den ergreifen die Finsternisse,
wie der Herr (Joh. 12, 35) auch sagt: »Wandelt, so-
lange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis
nicht überfalle«. Unser lieber Herr Jesus Christus ver-
leihe uns seine Gnade, daß wir sein liebes Wort mit
Fleiß hören und behalten in einem feinen, guten Her-
zen und Frucht bringen in Geduld, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5262 Sonntag Sexagesimae. Luk. 8, 4-15 13

Editorische Bemerkung

Auch für diesen Teil existieren sechs Nachschriften


Rörers, die HP hat – wie Dietrich – die WA 37,
293-294 abgedruckte (Predigt von 1534 im Hause)
gewählt.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5263 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 1

Martin Luther

Sonntag Estomihi
Luk. 18, 31-43

[HP 112–115;
WA 37, 295–299]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5264 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 2

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu


ihnen: Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und
es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist
durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn
er wird überantwortet werden den Heiden, und er
wird verspottet und geschmäht und verspeit werden,
und sie werden ihn geißeln und töten; und am drit-
ten Tage wird er auferstehen. Sie aber verstanden
der keines, und die Rede war ihnen verborgen, und
wußten nicht, was das Gesagte war.
Es geschah aber, als er nahe an Jericho kam, saß
ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber hörte
das Volk, das vorbeiging, forschte er, was das wäre.
Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge
vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, du Sohn Da-
vids, erbarme dich mein! Die aber vornean gingen,
bedrohten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie
viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich mein!
Jesus aber stand still und hieß ihn zu sich führen.
Da sie ihn aber nahe zu ihm brachten, fragte er ihn
und sprach: Was willst du, daß ich dir tun soll? Er
sprach: Herr, daß ich wieder sehen möge. Und
Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat
dir geholfen. Und alsbald ward er sehend und folgte
ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das sol-
ches sah, lobte Gott.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5265 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 3

In dem heutigen Evangelium sind zwei Stücke. Das


erste ist die Prophezeiung oder Weissagung, in wel-
cher der Herr seinen zwölf Aposteln allein von seinem
zukünftigen Leiden verkündigt. Aber der Evangelist
sagt wohl dreimal, daß die Jünger diese Weissagung
nicht verstanden haben. Denn sie dachten, er redete
mit ungewöhnlichen, verdeckten Worten, die eine be-
sondere Bedeutung hätten. Daß er zu Jerusalem leiden
würde, davon verstanden sie nichts, es war ihnen so,
als hörten sie eine fremde, unbekannte Sprache, von
der sie kein Wort verstehen konnten.
Damit ist nun angezeigt, daß alle Worte und Werke
Gottes die Art haben: wenn man davon redet, ehe sie
geschehen, so sind sie nicht zu begreifen. Aber wenn
sie geschehen sind, alsdann versteht man sie und
siehts. So sagt Johannes (Kap. 2, 22), daß seine Jün-
ger dran gedacht haben, daß er solches gesagt hätte,
als nun Jesus von den Toten auferstanden war, und
der Schrift und der Rede geglaubt hätten, die er gesagt
hatte. Darum gehört zu Gottes Wort von natürlichem
und göttlichem Recht der Glaube. Denn Gottes Wort
redet und kann nicht anders reden als von Sachen,
welche die Vernunft nicht versteht noch fassen kann.
Darum soll mans glauben, und wenn mans geglaubt
hat, alsdann soll mans auch erfahren, daß es wahr sei,
und recht verstehen.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5266 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 4

Damit ich ein Beispiel dafür gebe: Gottes Wort


lehrt uns von der Auferstehung der Toten. Das ver-
steht die Vernunft nicht. Darum sieht man, daß welt-
weise Leute unser spotten und uns für Narren halten,
daß wirs glauben und uns bereden lassen, es gebe eine
Auferstehung der Toten und ein Leben nach diesem
Leben. Weiter: daß Gott Mensch geworden und von
einer Jungfrau in die Welt geboren ist, das verträgt
sich auch nicht mit der Vernunft, welche Nein dazu
sagt. Darum muß es geglaubt sein, bis wir dorthin
kommen und es sehen und sagen werden: Nun verste-
he ichs ja sehe auch, daß es wahr ist, was ich zuvor
geglaubt habe. Weiter: daß man durch das Wasserbad
der Taufe und durch die Absolution Vergebung der
Sünden, Gottes Huld und Gnade, ohne alles Ver-
dienst, empfangen soll, das lautet vor der Vernunft
auch sehr unglaublich. Sie sagt so: Die Christen sind
toll und töricht, die so etwas glauben. Soll man Gott
versöhnen, so gehört etwas Höheres und Besseres
dazu, nämlich gute Werke, die uns sauer werden und
wehe tun.
Es will der Vernunft nicht eingehen, daß sie glau-
ben soll, daß allein durch die Taufe und den Glauben
an Christus ganz ausgerichtet sein soll, was zur Selig-
keit gehört; das hält die Vernunft für eine Lüge. Denn
sie weiß nicht, was Glaube ist, sie hälts für ein gering
Ding: glauben an Christus. So scheint das Wort auch
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5267 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 5

eine geringe Sache zu sein, und der es führt und pre-


digt, ist auch ein armer, gebrechlicher Mensch und
Sünder. Daß man nun auf den Glauben und das Wort,
welches beides gering Ding zu sein scheint, Leib und
Leben in Ewigkeit setzen und wagen soll, das ist der
Vernunft lächerlich. Ob man gleich Gottes Wort den
Menschen noch so deutlich vorsagt, so gehts deshalb
doch der Vernunft nicht ein, sie glaubts doch nicht,
sie sagt, es sei nicht wahr. Und deshalb muß das liebe
Evangelium vor der Welt den Namen haben und be-
halten, es sei Ketzerei und Teufelslehre, damit man
die Leute verführt und sie lehrt, daß sie nichts Gutes
tun sollen. Anders kann die Vernunft nicht urteilen.
Darum sollen wir nur einfältiglich glauben lernen,
und sagen: Ist es Gottes Wort, so habe ich keinen
Zweifel dran. Ob ichs schon noch nicht sehe, greife
oder fühle, daß es so sei, so höre ich doch, daß Gott
es sagt. Er ist ja so groß und mächtig, daß ers wahr
machen kann, daß ichs zu seiner Zeit oder wenigstens
in jenem Leben fassen und verstehen, ja, sehen und
greifen werde, ob ichs gleich jetzt nicht verstehe.
So geht es immer wieder. Gottes Wort und Werk
hält man allezeit für unmöglich, ehe es geschieht.
Wenn es aber ins Werk gekommen und geschehen ist,
so sieht mans, daß es über die Maßen leicht und ge-
ring zugeht. Ehe es aber ins Werk kommt, soll man es
nicht wissen noch verstehen, sondern einfältig glau-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5268 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 6

ben. Was sind doch wir vor hundert, ja sechzig Jahren


gewesen? Ebensowenig wie das Kind, das zwanzig,
dreißig, vierzig Jahr nach uns geboren werden soll.
Weil nun Gott die Kunst kann, aus nichts alle Dinge
machen, so wird er ja das auch können, daß er aus
dem, das etwas gewesen, wieder etwas machen wird.
Darum soll man nicht danach sehen, ob ein Ding
möglich sei, sondern so soll man sagen: Gott hats ge-
sagt, deshalb wird es geschehen, wenn es sonst schon
unmöglich wäre. Denn ob ichs gleich nicht sehen
noch greifen kann, so ist er doch der Herr, der aus
einem Unmöglichen ein Mögliches und aus nichts
alles machen kann.
Die Jünger hier konnten das nicht, sonst würden sie
nicht lange darüber disputiert oder sich verwundert
haben, sie würden beschlossen und gesagt haben:
Eben wie ers sagt, also wird es auch zugehen, denn
der Mann kann nicht lügen, es geschehe gleich, wann
oder wie es wolle. Aber der Blinde, von dem der
Evangelist hernach berichtet, der kann solche Kunst
überaus gut. Seine Augen sind stockblind, daß er
nicht das Geringste damit sieht. Aber sobald da das
Wort erklingt: »Sei sehend«, glaubt ers. Deshalb wi-
derfährt ihm auch, wie er glaubt. Solch Wort, da es
noch allein ist, redet von einer Sache, die nicht vor-
handen ist, denn die Augen sind dem Blinden noch
zu. Aber auf das Wort, weil ers glaubt, folgt sogleich
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5269 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 7

das Werk, wie ers geglaubt hat, daß ers auch greifen
und fühlen konnte. So sollten die Jünger auch getan
haben: ob sie gleich nicht sahen, wie es möglich war,
sollten sie dennoch geglaubt haben, weil sie sein
Wort hatten. Denn auf das Wort gehört nichts als der
Glaube. Was geschieht aber? Christus sagt ihnen
wohl, wie es ihm zu Jerusalem ergehen werde, aber
sie verstehens nicht; darum glauben sie es auch nicht,
daß es wahr sei. Sie hielten den Herrn wohl nicht für
einen Lügner, aber sie meinen, seine Wort haben eine
andere Bedeutung.
Das andere Stück im heutigen Evangelium ist das
vom Blinden. Da lehrt uns der Evangelist die rechte
Bettlerkunst, daß man vor Gott gut betteln lerne, un-
verschämt sei und immer damit fortfahre. Denn wer
schüchtern ist, der läßt sich bald abweisen und taugt
nicht zum Betteln. Das ist ein rechter Bettler, wie sie
unser Herrgott gern hat. Darum sollen wir dies Bei-
spiel gut merken und auch vor den Herrn Christus tre-
ten und ihn bitten: O Herr! ich bin ein armer Sünder;
gib, daß dein Reich auch zu mir komme und vergib
mir meine Schuld. Hilf hier, hilf da usw. Wer so bet-
telt und unverschämt damit anhält, der tut recht, und
unser Herrgott hats gern. Denn er ist nicht so heikel
wie wir Menschen. Uns kann man mit dem Bitten
müde, unlustig und unwillig machen; ihm aber ists
eine große Ehre, daß man ihn für einen milden Herrn
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5270 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 8

halte und nicht ablasse, sondern sage: Herr, es ist


deine Ehre und dein Gottesdienst, durch den du ge-
rühmt und geehret wirst, daß ich etwas von dir erbett-
le. Darum, lieber Herr, siehe nicht an, daß ich unwür-
dig, sondern daß ich deiner Hilfe bedürftig bin. Denn
daß ich unwürdiger Mensch und armer Sünder etwas
von dir erbitte, geschieht dir zu Ehren; so kann ich
deine Hilfe auch nicht entbehren, und du kannst und
willst denen geben, die dich bitten.
Wenn du so betest und fest damit anhältst, so wird
er bestimmt zu dir sagen wie zu diesem Blinden:
»Was willst du, daß ich dir tun soll? Sei sehend, dein
Glaube hat dir geholfen«. Denn beten und nicht glau-
ben, heißt unsers Herrgotts spotten. Der Glaube aber
fußt allein darauf, daß Gott uns um Christi, seines
Sohnes und unsers Herrn willen gnädig sein, uns er-
hören, schützen, retten und selig machen werde. Dazu
helfe uns unser lieber Herr und Erlöser Christus
Jesus, Amen.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5271 Sonntag Estomihi. Luk. 18, 31-43 9

Editorische Bemerkung

Von den fünf Nachschriften Rörers ist von der HP –


wie bei Dietrich – die WA 37, 295-299 abgedruckte
(Predigt 1534 im Hause) als Vorlage gewählt.

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5272 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 1

Martin Luther

Sonntag Invocavit
Matth. 4, 1-11

[HP 116–119;
WA 37, 304–307]

Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther


5273 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 2

Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf


daß er von dem Teufel versucht würde. Und da er
vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hun-
gerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und
sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese
Steine Brot werden. Und er antwortete und sprach:
Es steht geschrieben: »Der Mensch lebt nicht vom
Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das
durch den Mund Gottes geht«.
Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige
Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und
sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich
hinab; denn es steht geschrieben: »Er wird seinen
Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf
den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an
einen Stein stoßest«. Da sprach Jesus zu ihm: Wie-
derum steht auch geschrieben: »Du sollst Gott, dei-
nen Herrn, nicht versuchen«. Wiederum führte ihn
der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und
zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit
und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so
du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus
zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht
geschrieben: »Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn,
und ihm allein dienen«. Da verließ ihn der Teufel.
Und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5274 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 3

ihm.

In diesem Evangelium hört ihr, wie der Herr Jesus


nach seiner Taufe auf dreifache Weise versucht wor-
den ist, nachdem er vierzig Tage und vierzig Nächte
in der Wüste gewesen war und nichts gegessen hatte
Oder – wie Lukas davon redet – es haben diese drei
Anfechtungen die ganzen vierzig Tage über gedauert,
so daß er mit einer viele Tage umgegangen ist, und
vielleicht nicht in der Reihenfolge, wie Matthäus hier
erzählt.
Nun ist dies aber ein weitläufiges Evangelium, be-
sonders wenn man es auf die ganze Christenheit be-
ziehen will, die auch wie Christus durch Hunger und
Verfolgung, durch Ketzerei und endlich mit dem
Reich der Welt versucht ist, wie die Geschichte dem,
der Acht darauf hat, fein vor Augen führt. Aber wir
wollens für diesmal nicht so weitläufig behandeln,
sondern bei der allgemeinen Lehre bleiben. Und aufs
erste sollt ihr das Vorbild unsers lieben Herrn Chri-
stus merken und daraus lernen, daß ein jeder Christ,
sobald er getauft ist, hierher in das Heer wider den
leidigen Teufel geordnet wird und ihm durch die
Taufe der Teufel aufgeladen wird, der verfolgt ihn, so-
lange er lebt. Wenn es nun der giftige Feind durch
seine Anfechtung nicht dahin bringen kann, daß er die
Christen zu Fall bringe und über sie siege, so tut er,
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5275 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 4

wie er mit Christus getan hat, und sieht, daß er sie an


das Kreuz hänge und umbringe.
In solcher Gefahr stehen alle Christen. Denn der
Feind läßt nicht ab, sondern hält immerdar an und
versucht, ob er uns von Christus und der Taufe weg-
reißen könne durch Hunger oder Verfolgung, durch
weltliche Ehre und Reichtum oder durch Ketzerei und
falsche Deutung der Schrift, auf daß wir entweder in
Verzweiflung oder Vermessenheit fallen. Wenn nun
solches nicht helfen will, so schlägt er uns zu Tode
und erwürgt uns. Darum sollen wir das Vorbild Chri-
sti mit Fleiß merken, auf daß wir solchem Feinde
auch begegnen können, wie Christus ihm begegnet,
daß er von uns ablassen müsse. Solches aber ge-
schieht allein durch den rechten Glauben an Gott und
sein Wort. Wer solchen Harnisch hat und recht
braucht, der wird vor dem Teufel gut bestehen blei-
ben, wer ihn aber nicht hat oder unrecht braucht, dem
ist wider den giftigen Feind weder zu raten noch zu
helfen.
Deshalb soll ein jeder Christ sich fleißig zur Pre-
digt und dem Worte Gottes halten, das mit Fleiß ler-
nen und sich drinnen üben, daneben auch immerdar
Gott durch ein ernstlich Gebet in den Ohren liegen,
daß er sein Reich zu uns kommen lassen und uns
nicht in Versuchung führen, sondern vor allem Übel
gnädiglich bewahren wolle.
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5276 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 5

Nun wollen wir auch die Anfechtungen nacheinan-


der besehen. Die erste ist, daß der Teufel zum Herrn
Jesus sagt, da er sieht, daß ihn hungert: »Bist du Got-
tes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden«.
Das scheint keine so harte Anfechtung zu sein. Denn
wir denken so: Was hätte es Christus geschadet? Er
hätte leicht Steine zu Brot machen können, hat er
doch wohl mehr und Größeres getan! Aber er will es
deshalb nicht tun, weil er den Teufel in seiner Sprache
sehr gut versteht, der vornehmlich nicht das sucht,
daß Christus ein Wunder tun soll. Sondern er wollte
ihm gern, wie man aus des Herrn Christus Antwort
klar ersieht, den Glauben und das Vertrauen auf Got-
tes Barmherzigkeit nehmen und ihm den Gedanken in
das Herz stecken: Gott hat dein vergessen, er will sich
deiner nicht annehmen, er will dich Hungers sterben
lassen und dir nicht ein Stück Brots gönnen. Darum
antwortet der Herr: Ei, Teufel, nicht so! »Der Mensch
lebet nicht vom Brot allein, sondern von einem jegli-
chen Wort, das da durch den Mund Gottes geht«. So
ist also des Teufels Eingeben dies: er soll allein an
das Brot denken und Gottes Wort nicht weiter achten,
als daß er Brot habe.
Wer sich nun vor solcher Anfechtung bewahren
will, der lerne hier von Christus, daß ein Mensch
zweierlei Brot hat: das erste und beste Brot, das vom
Himmel kommt, ist das Wort Gottes; das andere und
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5277 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 6

geringere ist das zeitliche Brot, das aus der Erde


wächst. Wenn ich nun das erste und beste Himmels-
brot habe und lasse mich davon nicht abbringen, so
soll jenes zeitliche Brot auch nicht fehlen noch aus-
bleiben, es müßten eher die Steine zu Brot werden.
Die andern aber, die vom Teufel überwunden das
himmlische Brot fahren lassen und sich allein um das
zeitliche kümmern: wenn sie den Bauch gefüllt haben,
so legen sie sich danach hin und sterben. Sie können
es hier nicht aufessen, sondern müssen es hinter sich
lassen und dort ewig Hungers sterben. Es soll aber
nicht so sein. Deshalb: wenn dich schon der Teufel
durch Verfolgung, Mangel, Hunger und Kummer an-
ficht, füge dich drein und faste mit Christus, weil der
Geist dich doch so treibt, und laß das Vertrauen auf
Gottes Gnade nicht fallen; so werden alsdann die lie-
ben Engel kommen und deine Tischdiener werden,
wie der Evangelist am Ende sagt.
Das ist das erste Stück von der ersten Anfechtung,
daß man Gottes Wort hoch halten lernen soll wie das
ewige Leben. Denn es ist solch Brot und Speise, daß
wer davon isset, das ist, wer dem Wort glaubt, das
ewige Leben hat. Wie Christus auch zu den Juden
(Joh. 6, 27) sagt: »Speise, nicht die vergänglich ist,
sondern die da bleibt in das ewige Leben, welche
euch des Menschen Sohn geben wird«. Das merke
wohl. Umgekehrt währet das zeitliche Brot, nach dem
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5278 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 7

doch alle Welt strebt, nur so lange, bis das Stündlein


kommt. Dann ists aus und muß danach in Ewigkeit
Hungers gestorben sein.
Die andere Anfechtung ist, daß der Teufel den
Herrn Jesus in die heilige Stadt Jerusalem führt und
ihn zuoberst auf den Tempel stellt und spricht: Er
solle herabspringen, ihm werde kein Leid widerfah-
ren. Denn er sei Gottes Sohn, darum müßten eher alle
Engel auf ihn warten, ehe er sich an einem Steinlein
stoßen sollte usw.
Das ist eine schwere und geistliche Anfechtung des
Glaubens. Hier wird der Glaube auf der andern Seite
mit der Gnade Gottes angefochten, eben wie er vorher
mit der Sünde und dem Zorn Gottes angefochten wird.
Denn wo es der Teufel nicht dahin bringen kann, daß
wir an Gott verzagen, so versucht er es auf der andern
Seite, ob er uns vermessen, hoffärtig und zu kühn ma-
chen könne, daß wir uns auf eigene Gerechtigkeit ver-
lassen sollen. Das ist, als wollte der Teufel zu Chri-
stus sagen: Willst du mit mir aus Gottes Wort dispu-
tieren? Halt, ich kann es auch! Da hast du Gottes
Wort: Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, die
müssen dir eine Treppe bauen und sollen dich auf den
Händen tragen. Nun, so spring hinab, laß sehen, ob
du auch solcher Zusagung Gottes glaubst!
Aber Christus treibt ihn zurück und sagt: Es stehet
geschrieben: Du sollst Gott nicht versuchen. Denn da
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5279 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 8

ist eine Treppe, deshalb ist es unnötig, daß ich hinab-


springe. Weil ich nun ohne Gefahr die Treppe hinab-
gehen kann, wäre es unrecht, daß ich mich ohne Not
und ohne Befehl Gottes in Gefahr begeben und hinab-
springen wollte.
Das ist auch ein nötige und nützliche Lehre, daß es
Gott versuchen heißt, wo jemand von der Ordnung
abweichen und ohne Gottes Wort etwas Neues und
Besonderes vornehmen wollte, wie Mönche und Non-
nen tun. Die fahren aus eigenem Eifer zu, nehmen
sich ein besonderes Leben vor, zwingen danach die
Schrift dahin und sagen, Christus habe es befohlen,
da er sagt: Verlasse alles und folge mir nach. Da ist
nicht allein Vernunft, sondern auch Schrift. Aber hier
siehst du, daß der Teufel auch die Schrift anführen
und die Menschen damit betrügen kann. Aber den
Mangel hat es, daß er die Schrift nicht ganz anführt,
sondern nur so viel nimmt, als ihm zu seiner Sache
dient; was ihm nicht dazu dient, das läßt er aus und
schweigt still davon.
Deshalb widerspricht Christus dem Teufel auch
und antwortet: Wenn ich auf meinen Wegen gehe, die
mir Gott befohlen hat, so weiß ich wohl, daß die
Engel bei mir sind und auf mich achten und mich be-
wahren müssen. So ist es auch, wenn ein Kind in sei-
nem kindlichen Gehorsam geht, Vater und Mutter,
Knecht und Mägde in ihrem Amt und Beruf gehen: so
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5280 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 9

ihnen ein Unfall zustößt, da will Gott durch seine


Engel retten und helfen. Gehen sie aber außerhalb die-
ses Weges, so sollen die Engel nicht da sein, da kann
ihnen der Teufel alle Stunde den Hals brechen, wie er
denn oft aus Verhängnis Gottes tut; und geschieht
ihnen eben recht, denn sie sollten nicht neue Wege
machen, denn das heißt Gott versuchen.
Das ist nun eine solche Anfechtung, die niemand
versteht, er habe sie denn versucht. Denn gleichwie
die erste zur Verzweiflung treibt, so treibt diese zur
Vermessenheit und zu solchen Werken, die Gottes
Wort und Befehl wahrhaftig nicht haben. Da soll ein
Christ die Mittelstraße gehen, daß er weder verzweifle
noch vermessen sei, denn beides ist wider Gottes
Wort; sondern er bleibe einfältig bei dem Wort im
rechten Vertrauen und Glauben. Dann sollen die lie-
ben Engel bei ihm sein und sonst nicht.
Die dritte Anfechtung ist die menschlicher Überlie-
ferung. Die ist gar grob, daß der Teufel uns durch
Ehre und Gewalt wider Gottes Wort in Abgötterei zu
bringen sich untersteht. Zu solchem hilft das sehr viel,
daß die äußerliche, menschliche Heiligkeit vor der
Vernunft so einen großen äußeren Schein hat und weit
schöner gleißt, als aller Gehorsam gegen das Wort
Gottes. Unser Herrgott und die rechte Lehre macht
keinen gleißenden Heiligen, aber der Teufel und die
Menschenlehre machen eitel gleißende Heilige. Ob je-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5281 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 10

mand gleich hundertmal zur Predigt geht, Gottes


Wort hört, Vater und Mutter gehorsam ist und tut,
was ihm Gott befohlen hat, macht ihn das doch nicht
so ansehnlich, als wenn er hingeht und zieht sich
einen grauen Rock an, hält sich nicht wie andere
Leute, ißt kein Fleisch usw. In Summa, menschliche
Gerechtigkeit macht einen solchen äußeren Schein,
daß sich Kaiser und Könige davor bücken. Das nennt
Christus eine schwere und teuflische Anfechtung und
malet uns vor, welcherlei solche menschlichen Über-
lieferungen und Menschenlehren sind, nämlich des
Teufels Lehren, und sagt, daß solche dem Teufel die-
nen und ihn anbeten, die mit ungebotener Heiligkeit
umgehen. »Hebe dich weg von mir, Satan!« spricht
er, dennn dir soll man nicht dienen, sondern Gott al-
lein. Wenn man Gott nicht allein dient, so dient man
mit Sicherheit dem Teufel.
Was heißt aber Gott dienen? Gott dienen heißt,
wenn man tut, was Gott in seinem Wort befohlen hat.
Bist du ein Kind, so ehre deinen Vater und Mutter;
bist du Magd oder Knecht, so sei gehorsam und treu;
bist du Herr oder Frau, so ärgere dein Gesinde nicht
mit Worten noch Werken, sondern tue, was dein Amt
erfordert, und halte sie auch zur Furcht Gottes. Das
heißt alsdann Gott und seinem Wort gedient, und
nicht der Person. Denn da ist sein Wort, das solches
befiehlt und haben will. Man nenne es nun vor der
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5282 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 11

Welt, wie man wolle, daß es Herren oder Frauen,


Vater oder Mutter, Nachbarn oder Kindern gedienet
sei, so ists doch ein rechter Gottesdienst. Denn Gott
hat ja sein Wort über meines Nächsten Haupt ge-
schrieben und gesagt: Du sollst deinen Nächsten lie-
ben und ihm dienen.
Gott kannst du nicht dienen, du habest denn sein
Wort und Befehl. Ist nun sein Wort und Befehl nicht
da, so dienst du nicht Gott, sondern deinem eigenen
Willen. So sagt denn unser Herrgott: Wem du dienst,
der lohne dirs auch. Welcher Teufel hat dichs gehei-
ßen? Ich heiße dich, Vater und Mutter, deiner Obrig-
keit und deinem Nächsten dienen; das läßest du anste-
hen und tust dieweil, was ich nicht befohlen habe.
Das soll ich mir gefallen lassen? Nein, da wird nichts
draus. Wir aber sollen dem Teufel unter die Augen
treten und ihm sagen, wie Christus sagt: »Teufel, heb
dich weg von mir! Es steht geschrieben: Du sollst an-
beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen«, das
heißt: allein auf Gottes Wort sehen und dem folgen
und außerhalb seiner keinen Gottesdienst vornehmen.
Aller drei solcher Anfechtungen müssen wir gewärtig
sein, solange wir leben. Deshalb sollen wir uns mit
Gottes Wort gut rüsten, auf daß wir uns damit schüt-
zen und retten können. Unser lieber Herr Christus, der
diese Anfechtungen uns zugut selbst überwunden hat,
der gebe uns auch Stärke, daß wir durch ihn überwin-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5283 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 12

den und selig werden mögen, Amen.

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5284 Sonntag Invocavit. Matth. 4, 1-11 13

Editorische Bemerkung

Zwölf Nachschriften Rörers sind erhalten, die WA


37, 304 bis 307 abgedruckte (Predigt 1534 im Hause)
ist von HP wie Dietrich als Vorlage gewählt.

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5285 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 1

Martin Luther

Sonntag Reminiscere
Matth. 15, 21-28

[HP 120–122;
WA 37, 313–316]

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5286 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 2

Und Jesus ging fort von dannen und entwich in die


Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kanaa-
näisches Weib kam aus jener Gegend und schrie ihm
nach und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbar-
me dich mein! Meine Tochter wird von einem bösen
Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort.
Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn und spra-
chen: Laß sie doch von dir, denn sie schreit uns
nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur
gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Isra-
el. Sie kam aber und fiel vor ihm nieder und sprach:
Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist
nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und
werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber
doch essen die Hunde von den Brosamen, die von
ihrer Herren Tisch fallen. Da antwortete Jesus und
sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß. Dir ge-
schehe, wie du willst. Und ihre Tochter ward gesund
zu derselben Stunde.

Dies Evangelium ist eine hohe und schwere Lehre von


dem rechten Kampf und Todesangst im Glauben vor
Gott, daraus wir das lernen sollen, daß uns kein Ding
vom Rufen und Beten zu Gott abschrecken soll, ob er
schon selbst Nein dazu spricht, wie man in Todesnö-
ten erfährt. Da schürt der Teufel allenthalben mit Ge-
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5287 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 3

danken, daß sich unser Herrgott nicht anders ansehen


läßt, als wolle er uns nicht. Da gehts denn scheußlich
zu, wenn die schwarzen dicken Wolken so die liebe
helle Sonne dämpfen und decken; da ist dann Not
über alle Not.
Solcher Kampf ist uns hier in dem Weiblein vor
Augen gestellt, da nicht allein die Person, sondern
alle anderen Umstände so böse sind, daß sie nicht
böser sein könnten. Denn erstens ists ein heidnisches
Weib. Das ist der erste Umstand, welcher die Sache
schwer macht, daß sie kein Kind Abrahams noch von
Abrahams Samen ist. Deshalb hat sie kein Recht, hier
etwas zu bitten, denn sie ist fremd. Das sollte sie der-
maßen vor den Kopf gestoßen haben, daß sie gesagt
haben sollte: Was soll ich bitten? Es ist doch verlo-
ren. Ursache, ich bin fremd und dazu ein heidnisches
Weib, er aber ist ein Jude und zu den Juden gesandt
usw.
Wenn wir solchen Stoß so gewaltig in unserm Her-
zen fühlen sollten, so würden wir bald liegen und das
Gebet fallen lassen. Denn es ist kein Scherz, wenn
das Gewissen dasteht und spricht: Ach, du bist nicht
deren einer, der beten soll, du gehörst Christus nicht
an, laß Paulus, Petrus beten, dich hört unser Herrgott
nicht. Du hast keinen Glauben, bist vielleicht nicht er-
wählt, bist nicht wert noch genug zu solchem hohen
Werk, daß du vor Gott treten und ihn um etwas bitten
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5288 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 4

sollst. Mit solchen Gedanken kann der Teufel uns in


Verzweiflung bringen, denn es ist ein sehr großer
Stoß.
Darum ist diese Geschichte um unsertwillen ge-
schrieben, daß wir uns nicht daran stoßen, ob der
böse Feind uns vorhalten und sagen wollte: Du bist
kein Christ, dein Beten tuts nicht. Nein, kehre dich
beileibe nicht dran, sondern sprich so: Ich sei, wer ich
wolle, so frage ich nichts danach. Denn ob ich gleich
ein Sünder und böse bin, so weiß ich doch, daß mein
Herr Christus deshalb nicht ein Sünder noch böse ist,
sondern er bleibt gerecht und gnädig. Je sündhafter
und böser ich bin, je stärker will ich zu ihm rufen und
schreien und mich sonst an nichts kehren. Denn ich
habe jetzt nicht Zeit zu disputieren, ob ich erwählt sei
oder nicht. Das aber fühle ich, daß ich Hilfe bedarf,
komme deshalb und suche sie in aller Demut.
Solches heißt diesem Beispiel recht gefolgt, wenn
du die Gedanken, die dich am Gebet hindern wollen,
mit festem Glauben überwindest und sprichst: Das
kanaanäische Weiblein war auch nicht erwählt, denn
sie war eine Heidin; hat sie nun gebeten und am
Gebet sich dadurch nicht hindern lassen, so will ich
auch beten, denn ich bedarf Hilfe und muß dies und
jenes haben. Wo wollte ichs denn sonst nehmen oder
suchen als bei Gott im Himmel durch seinen Sohn
und meinen Erlöser Christus Jesus?
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5289 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 5

Nun steht im Text, daß sie schreit: »Ach, Herr, du


Sohn Davids, erbarme dich mein!« und ihre Not
klagt: »Meine Tochter wird von einem bösen Geist
übel geplagt«. Solch Geschrei hört Christus wohl,
aber er antwortet ihr nicht ein Wort. Das ist der ande-
re Stoß, daß sich Christus so stellt: sie ist eine Hei-
din, die nicht in das Erbe gehört, so soll sie auch die
Wohltat nicht genießen. Darum schweigt er stockstill,
als sie Christus nachläuft und ihn bittet, als habe er
nichts mit ihr zu schaffen. Von solchen zwei Kano-
nenschüssen sollte ein Turm, ja wohl eine eiserne
Mauer umfallen. Denn sie sollte doch gedacht haben:
Wo ist nun der Mann, der mir von jedermann so ge-
rühmt ist, wie barmherzig er sei, bald erhöre und gern
helfe? Aber wie ich sehe und erfahre, so hört er, wann
er will, und nicht, wann wir dessen bedürfen. Aber
das arme Weiblein läßt sich noch nicht abschrecken.
Was begegnet ihr aber weiter?
Zum dritten werden die Jünger des Geschreis
müde, sind, in ihrem Sinn, frömmer als Christus
selbst. Denn sie lassen sich dünken, er sei zu hart und
unfreundlich, fahren deshalb zu und bitten für das
Weiblein: Ach, Herr, gib und hilf ihr, sie läßt doch
sonst nicht ab usw. Das ist ein kostbares Beispiel
dafür, daß man im Gebet nicht ablassen soll.
Da findet sich die dritte Anfechtung oder der dritte
Stoß, daß Christus spricht: »Ich bin nur gesandt zu
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5290 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 6

den verlorenen Schafen des Hauses Israel«; schlägt


dadurch die Jünger auch vor den Kopf, will weder das
Weiblein noch sie hören, die für sie bitten.
Da sollte sie gedacht haben: Das muß doch ein har-
ter Mann sein, der auch andere Menschen, die von
sich selbst und ungebeten bitten, nicht hören will.
Und das ist die Wahrheit. Christus ist im ganzen
Evangelium nirgends so hart gemalt wie hier. Den-
noch läßt sie nicht ab, sondern bittet für und für.
Dennoch läßt sich der Herr noch nicht finden, wie
sie ihn gern hätte. Denn höre, was sagt er zu diesem
Weiblein? »Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr
Brot nehme und werfe es vor die Hunde«. Wenn er
solche Worte zu mir gesagt hätte, ich wäre schlechter-
dings davongelaufen und hätte gedacht: Es ist um-
sonst, was du tust, da ist nichts zu erreichen. Denn es
ist auch der härteste Stoß, daß der Herr sie so ver-
wirft. Er läßts bei dem nicht bleiben, daß sie kein
Kind oder eine Heidin ist, sondern nennt sie auch
einen Hund. Das ist ärger, als wenn er sie einfach eine
Heidin genannt hätte. Ja das ist ebensoviel gesagt, als
spräche er: Du bist des Teufels. Wie du gehst und
stehst, so troll dich nur immer hin, du hast hier nichts
zu suchen. Das heißt doch außerordentlich versucht.
Wenn er zu mir so sagte, wie sollte er mich erschrek-
ken! Ja, wenn Petrus oder Paulus oder ein anderer
großer, trefflicher Mann ein solches Wort zu mir
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5291 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 7

sagte, ich würde mich zu Tode fürchten. Was soll es


aber jetzt sein, da es Christus selbst zu diesem Weib-
lein sagt?
Darum ist dies ein hohes und vortreffliches Exem-
pel, an welchem man sieht, ein wie gewaltiges, mäch-
tiges und kräftiges Ding der Glaube sei. Der ergreift
Christus bei seinen Worten, da er am zornigsten ist,
und macht aus einem harten Wort eine tröstliche Um-
kehrung, wie wir hier sehen. Du sprichst, sagt sie, ich
sei ein Hund. Ich lasse es geschehen, will gern ein
Hund sein. So halte mich nun auch wie einen Hund.
Sie fängt ihn also mit seinem eigenen Wort, und Chri-
stus läßt sich auch gern so fangen. Wohlan, spricht
sie, weil ich denn ein Hund bin, so begehre ich nicht
mehr als Hundesrecht. Ich bin nicht ein Kind noch
von Abrahams Samen, aber du bist ein reicher Herr
und hältst einen herrlichen Tisch. Gib deinen Kindern
das Brot, setze sie zu Tisch; das begehre ich nicht,
lasse mich nur wie ein Hund unter dem Tisch die
Brotsamen auflesen und gönne mir das, dessen die
Kinder nicht bedürfen noch ohnehin genießen, daran
will ich mir genügen lassen. So fängt sie den Herrn
Christus mit seinen eigenen Worten und gewinnt
damit nicht allein der Hunde Recht, sondern auch der
Kinder Recht. Denn wo will er hin, der liebe Jesus?
Er hat sich selbst gefangen, er muß jetzt fort. Aber
wer es nur gut könnte, er läßt sich gern so fangen.
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5292 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 8

Das ist nun das rechte Meisterstück, ein besonderes


und seltsames Beispiel, das uns deshalb berichtet
wird, damit wirs lernen und uns von dem Mann nicht
abweisen lassen sollen, er stelle sich gegen uns, wie
er wolle, er nenne uns Hunde oder Heiden. Wie dies
Weiblein sagt: Hunde müssen Herren und Brosamen
haben, so müssen auch die Heiden einen Gott haben.
Mit solchem beständigen Bitten und festen Glau-
ben ist der Herr gefangen und antwortet: O Weib,
kannst du diese Stöße in deinem Herzen erleiden und
ausstehen, so geschehe dir, wie du glaubst. Das ist
mir ein seltsames Geschehen. Die andern Juden är-
gern sich schnell an mir und prallen nach einem Wort
zurück, wenn ich auch noch so heilsame Lehre zu
ihnen rede. Du aber hältst an der Hoffnung fest, ich
werde dir helfen, und willst nicht von mir ablassen.
Hier sieht man, warum sich der Herr so hart ge-
stellt und sich geweigert hat, sie zu hören, daß er
seine unfreundliche Gebärde nämlich nicht darum ge-
zeigt hat, als wollte er nicht helfen, sondern damit so
ihr Glaube offenbar würde, und die Juden, die Erben
an seinem Reich und Kinder waren, an der Heidin, die
kein Erbe noch Kind war, lernten, wie sie an Christus
glauben und alles Vertrauen auf ihn setzen sollten.
Denn das will Christus haben und gefällt ihm so gut,
daß er seine Güte und Freundlichkeit nicht länger ver-
bergen kann und sagt: »Dir geschehe, wie du willst«.
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5293 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 9

Er gibt ihr also nicht allein das Hunderecht und macht


nicht allein ihre Tochter gesund, sondern erbietet sich
zu geben, was sie begehrt und haben will, und setzt
sie unter Abrahams Samen. Zu solcher Gnade bringt
sie der Glaube, daß sie eine liebe Tochter und ein
recht heilig Weib heißt und ist.
Ebenso will Gott noch mit uns tun. Wenn er uns
lange unsere Bitte versagt und immer das Nein gege-
ben hat, wir aber an dem Ja festhalten, so soll es end-
lich Ja und nicht Nein sein. Denn sein Wort wird
nicht lügen, Joh. 16, 23: »Wenn ihr den Vater etwas
bitten werdet, das wird er euch geben in meinem
Namen«. Weil das Wort wahr ist, so wirds bestimmt
geschehen.
Aber unsere Vernunft ärgert sich sehr an solcher
Verzögerung und wollte gern, daß Gott uns alsbald
erhörte. Da ist vonnöten, daß man sich nicht ärgere.
Man lasse unsern Herrgott Nein sagen und die Bitte
ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre oder noch länger auf-
halten, und hüte sich nur davor, daß wir uns die Hoff-
nung und den Glauben an seine Verheißung nicht aus
dem Herzen reißen lassen; so wird zuletzt etwas draus
werden müssen, daß er weit mehr geben wird, als wir
zu geben gebeten haben. Wie diesem Weiblein ge-
schieht: hätte sie mehr begehrt und haben wollen, er
hätte es ihr auch gegeben.
So ist diese Geschichte ein besonderes, schönes
Digitale Bibliothek Band 63: Martin Luther
5294 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 10

Beispiel eines rechten Glaubens, daß derselbe geübt


sein will und doch endlich alles überwinden und er-
langen soll. Deshalb sollen wir das Wort nicht so ver-
achten, sondern fest daran halten und keinen Zweifel
daran haben, unser Gebet sei erhöret, ob Gott es
schon eine Zeitlang verzögert.
Wie dies Weiblein ruft und schreit und sich auch
vom Herrn Christus selbst das Jawort nicht aus dem
Herzen nehmen lassen will, daß er freundlich sei und
helfen werde.
Unser lieber Herrgott helfe uns, daß wir auch dort-
hin kommen, und uns mit festem Glauben auf sein
Wort und seine Zusage von ganzem Herzen verlassen
und durch Christus mit Hilfe des Heiligen Geistes
ewig selig werden, Amen.

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5295 Sonntag Reminiscere. Matth. 15, 21-28 11

Editorische Bemerkung

Von den acht erhaltenen Nachschriften Rörers ist von


HP wie Dietrich die WA 37, 313-316 abgedruckte
(Predigt 1534 im Hause) als Vorlage gewählt.

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