Sie sind auf Seite 1von 437

Armin Grunwald Hg.

Handbuch
Technikethik
1682 J.B.METZLER
Handbuch
Technikethik
Herausgegeben von
Armin Grunwald

Unter Mitarbeit von


Melanie Simonidis-Puschmann

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart ∙ Weimar
Der Herausgeber
Armin Grunwald ist Professor für Technikphilosophie und Technikethik
am Karlsruher Institut für Technologie (früher Universität Karlsruhe),
Leiter des dortigen Instituts für Technikfolgenabschätzung und System-
analyse (ITAS) sowie Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung
beim Deutschen Bundestag in Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-476-02443-5 ISBN 978-3-476-05333-6 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-476-05333-6

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2013
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
V

Inhalt

I. Einleitung und Überblick 3. Philosophische Anthropologie


(Mathias Gutmann) . . . . . . . . . . . . 94
(Armin Grunwald) . . . . . . . . . . . . 1
4. Lebensphilosophie
(Nicole C. Karafyllis). . . . . . . . . . . . 99
II. Grundbegriffe 5. Kulturalistische Technikphilosophie
(Peter Janich) . . . . . . . . . . . . . . . 102
1. Technik (Armin Grunwald) . . . . . . . 13
6. Kritische Theorie der Technik
2. Risiko (Julian Nida-Rümelin (Alexandra Manzei) . . . . . . . . . . . . 108
und Johann Schulenburg) . . . . . . . . . 18
7. Feministische Technikphilosophie
3. Sicherheit (Gerhard Banse) . . . . . . . . 22 (Waltraud Ernst) . . . . . . . . . . . . . 113
4. Fortschritt (Klaus Kornwachs) . . . . . . 28 8. Technik als Medium (Christoph Hubig) 118
5. Technikfolgen (Michael Decker) . . . . . 33 9. Technikdeterminismus
6. Verantwortung (Micha H. Werner) . . . 38 (Brigitte Falkenburg) . . . . . . . . . . . 123
10. Technik als soziale Konstruktion
(Raymund Werle) . . . . . . . . . . . . . 128
III. Hintergrund
11. Werthaltigkeit der Technik
1. Frühe Technikskepsis und -kritik
(Ibo van de Poel) . . . . . . . . . . . . . . 133
(Kurt Möser) . . . . . . . . . . . . . . . . 45
2. Entstehung des TÜV (Frank Uekötter) 50
3. Entwicklung und Einsatz der B. Ethische Begründungsansätze
Atombombe (Wolfgang Liebert) . . . . . 55 1. Menschenrechte (Felix Ekardt) . . . . . 138
4. Asbest (Wolfgang E. Höper). . . . . . . . 61 2. Prinzip Verantwortung
5. Krise des Fortschrittsoptimismus (Jan C. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . 143
(Rolf-Ulrich Kunze) . . . . . . . . . . . . 67 3. Klugheitsethik/Provisorische Moral
6. Technikkonflikte (Ortwin Renn) . . . . 72 (Christoph Hubig und Andreas Luckner) 148

7. Ethische Ingenieurverantwortung 4. Utilitarismus (Dieter Birnbacher) . . . . 153


(Johannes Reidel) . . . . . . . . . . . . . 76 5. Deontologische Ethik
(Micha H. Werner und Marcus Düwell) . 158

IV. Grundlagen 6. Diskursethik (Konrad Ott) . . . . . . . . 163


der Technikethik 7. Überlegungsgleichgewicht
(Neelke Doorn) . . . . . . . . . . . . . . 169
A. Technikphilosophie
8. Gutes Leben (Holmer Steinfath) . . . . . 174
1. Antike Technikphilosophie
(Klaus Erlach) . . . . . . . . . . . . . . . 83 9. Gerechtigkeit
(Dietmar von der Pfordten) . . . . . . . . 179
2. Marxistische Technikphilosophie
(Kurt Bayertz und Michael Quante) . . . 89 10. Nachhaltigkeit (Felix Ekardt) . . . . . . 187
VI Inhalt

C. Querschnittsthemen 13. Medien (Michael Nagenborg) . . . . . . 314


1. Leben und Technik (Nicole C. Karafyllis) 193 14. Medizintechnik (Johann S. Ach,
Dominik Düber und Michael Quante) . . 319
2. Natur und Technik (Konrad Ott) . . . . 198
15. Militärtechnik (Jürgen Altmann) . . . . 324
3. Tier und Technik (Arianna Ferrari) . . . 203
16. Mobilfunk (Peter Wiedemann) . . . . . 329
4. Kultur und Technik (Klaus Kornwachs) 208
17. Mobilität und Verkehr (Udo Becker) . . 332
5. Demokratie und Technik
(Matthias Kettner) . . . . . . . . . . . . 212 18. Nanotechnologie (Alfred Nordmann) . . 338

6. Arbeit und Technik 19. Neurotechniken (Dieter Sturma) . . . . 343


(Bettina-Johanna Krings) . . . . . . . . . 217 20. Raumfahrt (Stephan Lingner) . . . . . . 349
7. Risikobeurteilung/Risikoethik (Johann 21. Robotik (Michael Decker) . . . . . . . . 354
Schulenburg und Julian Nida-Rümelin) 223
22. Sicherheits- und Überwachungstechnik
8. Wirtschaft und Technik (Sandro Gaycken) . . . . . . . . . . . . . 359
(Matthias Maring) . . . . . . . . . . . . . 228
23. Synthetische Biologie (Joachim Boldt) . 364
9. Globalisierung und Interkulturalität
(Ole Döring) . . . . . . . . . . . . . . . . 233 24. Synthetische Chemie (Stefan Böschen) . 369

10. Abfall und Technik (Gerd Grübler) . . . 238 25. Ubiquitous Computing
(Klaus Wiegerling) . . . . . . . . . . . . . 374
11. Dual-use-Forschung und -Technologie
(Wolfgang Liebert) . . . . . . . . . . . . . 243
VI. Technikethik in der Praxis
1. Technik- und Innovationspolitik
V. Technikfelder (Stephan Bröchler) . . . . . . . . . . . . . 379
1. Agrartechnik (Stephan Albrecht) . . . . 249
2. Technikrecht (Martin Führ) . . . . . . . 384
2. Climate Engineering (Gregor Betz) . . . 254
3. Vorsorgeprinzip (Christian Calliess) . . . 390
3. Computerspiele (Simon Ledder) . . . . . 258
4. Technikfolgenabschätzung
4. Endlagerung hochradioaktiver Abfälle (Marc Dusseldorp) . . . . . . . . . . . . 394
(Peter Hocke) . . . . . . . . . . . . . . . 263
5. Bürgerbeteiligung (Ortwin Renn) . . . . 400
5. Energie
6. VDI-Richtlinie zur Technikbewertung
(Bert Droste-Franke und Georg Kamp) 269
(Wolfgang König) . . . . . . . . . . . . . 406
6. Geo- und Hydrotechnik sowie Bergbau 7. Ethikkodizes (Matthias Maring) . . . . . 410
(Thomas Potthast) . . . . . . . . . . . . 274
8. Ethikkommissionen (Alexander Bogner) 415
7. Gentechnik (Regine Kollek) . . . . . . . 279
9. Technische Bildung
8. Human Enhancement (Gerhard Banse und Bernd Meier) . . . . 421
(Johann S. Ach und Beate Lüttenberg) . . 288
9. Information (Jessica Heesen) . . . . . . . 293
10. Internet (Karsten Weber) . . . . . . . . . 298
VII. Anhang
1. Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . 427
11. Kernenergie (Dieter Birnbacher) . . . . . 303
2. Die Autorinnen und Autoren . . . . . . 429
12. Lebensmittelverarbeitung (Ludger Heid-
brink, Nora Meyer und Johannes Reidel) 308 3. Personenregister . . . . . . . . . . . . . 432
1

I. Einleitung und Überblick

Wissenschaft und Technik gelten als die vielleicht dustriellen Revolution auch für die Philosophie
mächtigsten Triebkräfte der modernen Gesellschaft. nicht mehr übersehbar waren. Theoretiker in den
Mit dem raschen wissenschaftlich-technischen Fort- Anfängen der Technikphilosophie wiesen der Tech-
schritt insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ist nik spezifische Rollen bei der Entwicklung der Ge-
eine Fülle neuer Fragen zur Gestaltung von und zum sellschaft zu: Karl Marx im Rahmen der ökonomi-
Umgang mit Technik aufgetreten. Parallel ist die schen Entwicklung und der Arbeit, Ernst Kapp und
philosophische Literatur zu ethischen Fragen der Arnold Gehlen in anthropologischer Hinsicht. Ge-
Technik stark angewachsen, ebenfalls ihre Wahr- sellschafts- und kulturkritische Deutungen der
nehmung in anderen Wissenschaften, in der öffent- Technik, beispielsweise von Martin Heidegger, Her-
lichen Debatte und in der technischen Praxis. Ein bert Marcuse oder Günther Anders beförderten die
Handbuch Technikethik erscheint somit überfällig. philosophische Diskussion über Technik. Alle diese
Dass Technik und Ethik heute oft in einem Atem- Ansätze betrachteten jedoch abstrakt ›die Technik‹
zug genannt werden, ist ein Ergebnis erst der letzten statt einzelner Techniken. Damit war die Perspektive
Jahrzehnte. Während viele Handlungsfelder wie Me- auf eine ethische Beurteilung von Technik bereits
dizin oder die Ordnung des gemeinschaftlichen Le- durch den zu stark abstrahierenden philosophischen
bens bereits seit langem Gegenstand ethischer Refle- und vielfach ›essentialistischen‹ Ansatz verbaut
xion sind, wird die Frage nach dem ›richtigen Han- (Lenk 1973).
deln‹ erst in jüngerer Zeit auf Technik bezogen. Hans Als Ursprung einer breiteren Befassung mit ethi-
Jonas ’ Aufsatz »Warum Technik ein Fall für die schen Fragen des wissenschaftlich-technischen Han-
Ethik ist: fünf Gründe« (1958) gehörte zu den ersten delns wird zumeist das Manhattan-Projekt zum Bau
Arbeiten in diesem Feld. Seitdem hat sich die Situa- der Atombombe genannt (s. Kap. III.3). Die Verant-
tion fundamental geändert. Sobald heute von neuen wortung der Wissenschaftler, thematisiert z. B. von
Technologien die Rede ist, wird sofort, fast schon re- Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich
flexartig, nach ihrer ethischen Beurteilung gefragt. von Weizsäcker, ist seitdem Thema auch der öffentli-
In dieser Einleitung werden drei Ziele verfolgt: chen Debatte. Ein weiterer Meilenstein der Wissen-
Erstens geht es darum, die vorstehend gegebene schafts- und beginnenden Technikethik war die
kurze Diagnose zu vertiefen, in historischer, in ge- Konferenz von Asilomar (1975), auf der Gentechni-
genstandsbezogener und in theoretischer Hinsicht. ker sich zu Verantwortungsübernahme und Vor-
Zweitens soll eine Charakterisierung der Technik- sorge verpflichteten. Sie fand in einer Situation statt,
ethik gegeben werden, die einerseits ein hinreichend in der in der Gentechnik eine weltweite Aufbruch-
klares Profil für dieses Handbuch erkennen lässt, die stimmung zu beobachten war, in der gleichzeitig
andererseits aber nicht die Diversität, den Reichtum aber auch erste Anzeichen öffentlicher Kritik, Risi-
und auch Heterogenität dieses noch jungen Feldes kobefürchtungen und Forderungen nach staatlicher
unter zu starken begrifflichen wie konzeptionellen Regulierung laut wurden (s. Kap. V.7).
Prämissen einebnet. Schließlich geht es drittens da- Ethische Fragen zum Ingenieurshandeln wurden
rum, einen Überblick über die Struktur und die In- zunächst von Ingenieuren selbst aufgeworfen. Be-
halte des Handbuchs zu geben. reits Friedrich Dessauer (1926) bestimmte den Sinn
der Technik im ›Dienst am Mitmenschen‹, für des-
sen Realisierung die Ingenieure verantwortlich
Entstehung und Entwicklung seien. In den 1970er Jahren setzten Diskussionen um
der Technikethik ein Standesethos für Ingenieure und seine Fixierung
in Ethikkodizes oder in einem dem Berufsstand der
Technik hat in Philosophie und Ethik lange Zeit Ärzte nachempfundenen ›hippokratischen Eid‹ der
praktisch keine Rolle gespielt. Dies begann sich erst Ingenieure ein (z. B. Lenk/Ropohl 1993, 194 ff.;
zu ändern, als die massiven und teilweise problema- Hubig/Reidel 2004; s. Kap. III.7). Den Durchbruch
tischen Effekte der Technisierung im Zuge der In- für eine philosophische Diskussion über ethische
2 I. Einleitung und Überblick

Fragen der Technik brachte das Prinzip Verantwor- Forschungsförderung. Aktuell wird aus soziologi-
tung von Hans Jonas (1979; s. Kap. IV.B.2). scher Perspektive von einer ›Ethisierung‹ der Tech-
Dass Technik moralisch relevante Gehalte haben nik gesprochen (Bogner 2009).
und damit überhaupt ein Gegenstand für ethische
Reflexion sein könnte, war lange Zeit durchaus um-
stritten. Bis in die 1990er Jahre hinein galt sie viel- Gründe für das Entstehen
fach als wertneutral. Technik habe ausschließlich der Technikethik
Mittelcharakter; moralische Probleme könne höchs-
tens ihr Gebrauch aufwerfen. Daher seien Entwick- Der wissenschaftlich-technische Fortschritt (s. Kap.
lung und Herstellung von Technik einschließlich der II.4) führt zu einer Erweiterung der menschlichen
vorgängigen wissenschaftlichen Forschung mora- Handlungsmöglichkeiten. Das, was menschlichem
lisch neutral; erst der Gebrauch von Technik könnte Zugriff bis dato entzogen war, was als unbeeinfluss-
ethische Fragen aufwerfen. In theoretischen Analy- bare Natur oder als Schicksal akzeptiert werden
sen und Fallstudien wurden jedoch mittlerweile mo- musste, wird zum Gegenstand technischer Gestalt-
ralische Gehalte von Entscheidungen über Technik barkeit. Dies ist eine Steigerung der Kontingenz in
erkannt und zum Gegenstand der Reflexion gemacht der conditio humana: eine Vergrößerung der Wahl-
(Radder 2009; Van de Poel 2009; s. Kap. IV.A.11). möglichkeiten zwischen verschiedenen Optionen
Seit den 1980er Jahren ist auf zwei Ebenen ein und damit eine Verringerung der menschlichen Ab-
starkes Anwachsen der Literatur zur Technikethik hängigkeit von der Natur und der eigenen Tradition.
zu verzeichnen: Zum einen geht es um eine Inge- Mit der Zunahme der Wahlmöglichkeiten steigen
nieursethik im engeren Sinne, die sich den spezifi- Möglichkeit und Notwendigkeit, Entscheidungen zu
schen Gegebenheiten und Herausforderungen die- treffen. Da der Fortschritt vielfach in den Debatten,
ses Berufsstandes widmet; zum anderen werden wie die Entscheidungen getroffen werden soll, auf
ethische Fragen neuer Technologien und ihrer Fol- Fragen führt, zu denen es bislang keine eingespielten
gen angesprochen. Dabei kommt es zu einer teilwei- Üblichkeiten wie z. B. klare Entscheidungskriterien
sen Konvergenz von Wissenschafts- und Technik- oder -verfahren gibt, kommt es aus seiner inhären-
ethik: Da moderne Technik grundsätzlich wissen- ten Logik heraus zu Orientierungsdefiziten, Kon-
schaftsgestützt ist, fällt eine klare Trennung von flikten und Unsicherheiten. Das Entstehen der
Wissenschaft und Technik immer schwerer. Nano- Technikethik lässt sich mit dieser, die Erfolge des
technologie (Allhoff et al. 2007) und Synthetische technischen Fortschritts notwendig begleitenden
Biologie sind typische Beispiele für sogenannte Verunsicherung (Höffe 1993; Lübbe 1997), insbe-
Technowissenschaften (s. Kap. V.18 und Kap. V.23). sondere mit der resultierenden ›normativen Unsi-
Wissenschafts- und Technikethik werden daher cherheit‹ (Grunwald 2008) korrelieren.
heute vielfach in einem Atemzug genannt (bereits Ein wesentlicher Teilaspekt dabei ist die fort-
Hubig 1993). schreitende Erkenntnis der Ambivalenzen des tech-
Die Nachfrage nach ethischer Reflexion zum wis- nischen Fortschritts. Spätestens seit den 1960er Jah-
senschaftlich-technischen Fortschritt, seinen Zie- ren sind erhebliche Probleme mit nicht intendierten
len, Ergebnissen und Folgen steigt weiter. In der For- Folgen von technischen Entwicklungen aufgetreten
schungsförderung ist ethische Begleitforschung (s. Kap. II.5). Hierzu gehören z. B. Unfälle in techni-
mittlerweile häufig Bestandteil wissenschaftlich- schen Anlagen (Tschernobyl, Bhopal, Fukushima),
technischer Programme. Ethikkommissionen wie Folgen für die natürliche Umwelt (Luft- und Gewäs-
beispielsweise die ›European Group on Ethics‹ serverschmutzung, Ozonloch, Klimawandel) und
(EGE) beraten politische Institutionen, in diesem negative soziale und kulturelle Folgen von Technik.
Fall die Europäische Kommission (s. Kap. VI.8). Von Fortschrittsoptimistische Zukunftserwartungen im
der UNESCO wurde die ›World Commission on the Zusammenhang mit Technik und Technisierung in
Ethics of Scientific Knowledge and Technology‹ der Gegenwart sind dadurch teilweise verlorenge-
(COMEST) eingesetzt. Eine erhebliche Zunahme gangen und haben zu schwierigen Abwägungspro-
von Ethikkodizes (Codes of Conduct) und ethischen blemen zwischen den erwarteten positiven und den
Leitlinien ist auf nahezu allen Ebenen im Wissen- nicht intendierten negativen Folgen geführt (z. B.
schaftssystem zu beobachten, von wissenschaftli- Kernenergie). Weitere Beispiele, denen sämtlich in
chen Institutionen wie Universitäten oder Akade- diesem Handbuch eigene Beiträge gewidmet sind,
mien über Verbände bis hin zu den Institutionen der sind der Umgang mit und die Zumutbarkeit von
I. Einleitung und Überblick 3

technikbedingten Risiken (Asveld/Roeser 2008; diese Weise zu ethisch reflektierten und verantwort-
Hansson 2009) wie Strahlenbelastungen oder Un- baren Entscheidungen beizutragen
fallrisiken durch nukleare Anlagen, Sicherheitsfra- Der Fokus der Technikethik, wie sie in diesem
gen der Endlagerung radioaktiver Stoffe, Elektro- Handbuch verstanden wird, liegt dabei auf der Ori-
smog, Datenschutzprobleme im Internet, Fragen entierung von Entscheidungen ›in der Sache‹: Wie
einer nachhaltigen Energieversorgung, die Proble- sind technische Innovationen und Visionen ethisch
matik der Freisetzung gentechnisch veränderter Or- zu beurteilen und was folgt daraus für anstehende
ganismen, die Diskussion um gentechnisch verän- Entscheidungen, z. B. in Forschungsförderung, Re-
derte Nahrungsmittel und um eine ›technische Ver- gulierung oder Anwendung. Technikethik befasst
besserung‹ des Menschen. Sogar Sorgen um den sich mit der Reflexion über alternative Optionen in
Fortbestand der Menschheit wurden und werden ge- Entscheidungen über Technik, fokussiert dabei auf
äußert (z. B. Jonas 1979). die involvierten moralischen Aspekte und umfasst
Etwa seit dem Jahr 2000 kam es angesichts visio- die ethische Reflexion auf die Bedingungen, Zwecke,
närer Überlegungen in Nanotechnologie und Gen- Mittel und Folgen von Technik und des wissen-
technik zu einer weit ausgreifenden Debatte über die schaftlich-technischen Fortschritts. Insbesondere
›Zukunft der Natur des Menschen‹ (Habermas bilden Technikkonflikte (s. Kap. III.6) und normative
2001), vor allem angesichts der mit diesen Entwick- Unsicherheiten mit ihren moralischen Implikatio-
lungen in den Blick geratenen Möglichkeiten seiner nen ihre Ansatzpunkte und Problemkonstellationen,
›technischen Verbesserung‹ (Grunwald 2007; s. Kap. zu deren Bewältigung sie beitragen soll und will
V.8). Auch andere Felder wie die Synthetische Biolo- (Höffe 1993; Gethmann/Sander 1999; Grunwald
gie oder das Ubiquitous Computing werfen grund- 2008). Diese Konflikte und Unsicherheiten sind
sätzliche Fragen nach den Verhältnissen von nicht nur Kontroversen um technische Artefakte
Mensch, Technik und Natur auf. Diese Debatten und ihre Entwicklung, Herstellung, Nutzung und
übersteigen im engeren Sinne ethische Fragen nach Entsorgung, sondern in ihnen zeigen sich häufig
der Verantwortbarkeit konkreter Technik und be- auch moralische und damit ethischer Reflexion zu-
rühren anthropologische, naturphilosophische und gängliche Fragen bis hin zu Auseinandersetzungen
technikphilosophische Fragen, die gleichwohl Aus- um Zukunftsvorstellungen, Menschenbilder und
druck der genannten Orientierungsprobleme ange- Gesellschaftsentwürfe.
sichts des technischen Fortschritts sind. In dieser Ausrichtung gehört Technikethik offen-
Insgesamt führen, so die übereinstimmende Dia- kundig zur Angewandten Ethik (Nida-Rümelin
gnose der Philosophie, die weiterhin zunehmende 1996). Ihre Themen kommen nicht aus ihr selbst,
Handlungsmacht des Menschen und die wachsende sondern aus einer externen Praxis, seien dies eine öf-
Eingriffstiefe technischer Intervention in Natur und fentliche Debatte, Sorgen von Wissenschaftlern und
Gesellschaft, schließlich auch in den menschlichen Ingenieuren oder der Politik. Technikethik ist eine
Körper und Geist, simultan zu einer Zunahme von typische ›problemorientierte Ethik‹ (Grunwald
Verantwortung (s. Kap. II.6) und der Notwendigkeit 2008) und reagiert auf eine gesellschaftliche Nach-
ethischer Reflexion. Die Entstehung und das rasche frage. Aus dieser bezieht sie ihre Themen, die sie in
Wachstum der Technikethik seit den 1970er Jahren ihrer eigenen Begrifflichkeit rekonstruiert und die
sind Ausdruck dieses Zusammenhangs. Ergebnisse ihrer Reflexion an die Praxis zurück gibt,
in der Erwartung und Selbstverpflichtung, dort zu
einer besseren Bewältigung der Probleme beizutra-
Was ist Technikethik? gen. Technikethik muss spezifisches Wissen über
den Gegenstand ›Technik‹ und über dessen gesell-
Das Aufgabenfeld der Technikethik liegt in den im schaftliche Kontextfaktoren erwerben und einbezie-
Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hen, um die normativen Unsicherheiten rekonstru-
notwendig entstehenden normativen Unsicherhei- ieren und analysieren zu können. Dies erfordert zum
ten. In der Situation der durch den Fortschritt gestei- einen interdisziplinäre Kooperation mit den Tech-
gerten Kontingenz gilt es, neue Orientierung zu nikwissenschaften, zum anderen die Zusammenar-
schaffen. Aufgabe der Technikethik ist es, die nor- beit mit den Sozialwissenschaften, die das Entstehen
mativen Hintergründe von Technikbeurteilungen von, die Entscheidungsprozesse über und die Ver-
und Technikentscheidungen nach Maßstäben ratio- breitung und Nutzung von Technik empirisch erfor-
naler Argumentation zu rekonstruieren, um auf schen. Je nach technikethischer Herausforderung
4 I. Einleitung und Überblick

kann dies das Wissen über Laborkontexte, über Un- Gegenstand der Technikethik
ternehmensführung, über politische und rechtliche
Prozesse zur Setzung der Rahmenbedingungen für Gegenstand der Technikethik ist nicht Technik für
Technik oder über zivilgesellschaftliche Verhältnisse sich genommen, sondern sind normative Unsicher-
sein, in denen Technik eine Rolle spielt. Technik- heiten im Umgang mit Technik, häufig entstanden
ethik ist daher notwendigerweise ein interdiszipli- im Rahmen des wissenschaftlichen Fortschritts. Da-
närer Dialog und kein Monolog philosophischer mit stellt der Begriff ›Technikethik‹ eine nicht unpro-
Experten, auch wenn deren Expertise eine zentrale blematische Verkürzung dar. Denn es geht strengge-
Rolle spielt. Diese Konstellation ist charakteristisch nommen nicht um eine Ethik der Technik, sondern
für Angewandte Ethik generell in ihren jeweiligen um eine ethische Reflexion des Umgangs mit sowie
›Bereichen‹ (Nida-Rümelin 1996; Stoecker et al. der Folgen und der Gestaltung von Technik. Einer-
2011). seits in konkreten Handlungskontexten, andererseits
Technikethik geht jedoch in dieser Zuordnung aber auch im Sinne genereller Reflexionen über die
zur Angewandten Ethik nicht auf. Es ist eine Eigen- Rolle von Technik in der gegenwärtigen und zukünf-
schaft des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, tigen Entwicklung der Menschheit, in der Verände-
immer wieder konkrete Ergebnisse, aber auch Visio- rung der Verhältnisse von Natur und Technik sowie
nen und Potentiale hervorzubringen, deren ethische von Mensch und Technik. Technik selbst ist nicht der
Reflexion nicht in dem praxisnahen Kontext Ange- Gegenstand der Technikethik, sondern Medium und
wandter Ethik erfolgen kann. Stattdessen werden aus Anlass, über bestimmte menschliche Handlungs-
dem technischen Fortschritt heraus immer wieder kontexte in ethischer Hinsicht zu reflektieren.
›große Debatten‹ angestoßen. Beispiele sind die Dis- Solange Regularien wie Gesetze und Ethikkodizes
kussion zur Zukunft der Natur des Menschen (Ha- oder auch eingespielte informelle Handlungsregeln
bermas) angesichts der in das Blickfeld geratenen im Rahmen eines kulturell verankerten Ethos die
Möglichkeiten seiner ›technischen Verbesserung‹, Beurteilung von Handlungsoptionen und das Tref-
die Auseinandersetzung über das ›Ende der Natur‹ fen von Entscheidungen erlauben, ohne dass es zu
angesichts ihrer fortschreitenden technischen Über- Konflikten oder Unsicherheiten kommt, gibt es kei-
formung, die wieder neu auflebende Debatte über nen Anlass für ethische Reflexion. Anders ist dies in
das Verhältnis von Technik und Leben in der Folge den Fällen mangelnder Akzeptanz von Teilen des
von Fortschritten und Visionen der Synthetischen normativen Rahmens, in Form eines handfesten
Biologie oder auch die Debatte um das Ende der In- Konflikts, von Orientierungslosigkeit oder auch nur
dividualität in der Folge zunehmender Vernetzung einer Unentschiedenheit oder Unentscheidbarkeit.
über elektronische Medien (zum Ubiquitious Com- Dann liegt normative Unsicherheit bereits vor. Sie
puting s. Kap. V.25, zum Internet s. Kap. V.10). Diese kann aber auch als eine zukünftig bloß mögliche
Debatten überschreiten die Randbedingungen und vorgestellt sein, um vorbereitend Orientierungsleis-
Möglichkeiten Angewandter Ethik, indem sie gerade tungen zu erarbeiten. Normative Unsicherheiten sind
nicht auf konkrete Orientierung zur verantwortli- der Ausgangspunkt der Technikethik.
chen Ordnung einer spezifischen Praxis zielen, son- Dabei geht es selten, vielleicht nie um die Technik
dern sehr grundsätzliche Herausforderungen an als solche, sondern immer um Technik in einem
Orientierung und Selbstvergewisserung in den Ver- konkreten Kontext. Ob nun neue Verfahren der Pro-
hältnissen zwischen Mensch, Technik und Natur in thetik zu einer »technischen Verbesserung« des
den Blick nehmen. Hier geht es nicht um diese oder Menschen genutzt werden könnten oder ob Nano-
jene Technik, sondern um die Reflexion bisheriger partikel zu Gefahren für Umwelt und Gesundheit
Perspektiven und Positionen zur Stellung des Men- führen können und inwieweit und nach welchen
schen in der Welt angesichts neuer wissenschaftlich- Kriterien dies zu beurteilen wäre, ist keine Angele-
technischer Möglichkeiten. Es sind beispielsweise genheit der betreffenden Technik als Technik, son-
eher Philosophische Anthropologie (s. Kap. IV.A.3) dern Element eines kontextbezogenen ›sozio-tech-
und theoretische Technikphilosophie gefragt als An- nischen Zusammenhangs‹ (Ropohl 1979). In diesen
gewandte Ethik im engeren Sinne. Die Aufgabe phi- Kontexten lassen sich moralische Aspekte von Tech-
losophischer Reflexion ist in diesen Fragen zualler- nik handlungstheoretisch auf (1) mit Technik ver-
erst die einer Hermeneutik der sich neu oder verän- folgte Ziele, (2) die zur Realisierung eingesetzten
dert stellenden Fragen, weit im Vorfeld konkreter Mittel und (3) die Folgen (einschließlich der nicht in-
ethischer Überlegungen. tendierten Nebenfolgen) beziehen (Grunwald 2012):
I. Einleitung und Überblick 5

(1) Ziele und Zwecke können einen direkten Pro- sikobeurteilung s. Kap. IV.C.7, zum Vorsorgeprinzip
duktbezug haben und z. B. die Sportlichkeit des Au- s. Kap. VI.3)? Soll Ethik nicht nur Reparaturethik
tofahrens oder den Energieverbrauch einer Wasch- (Mittelstraß 1989) sein, muss sie sich auch ex ante
maschine betreffen, sie können sich aber auch auf mit bloß vorgestellten bzw. systematisch antizipier-
gesellschaftliche Aspekte beziehen wie die Schaffung ten, nicht intendierten Folgen befassen. Da Technik-
von Arbeitsplätzen und die Erhöhung des Wohlstan- folgen prospektiv nur begrenzt erkennbar sind (s.
des. Sie sind Ausdruck individueller, korporativer Kap. II.5), führt dies zur Notwendigkeit, dass Tech-
oder gesellschaftlicher Befindlichkeiten mit Bezug nikethik sich mit Beurteilungen und Handeln unter
zu Defizitdiagnosen der gegenwärtigen Situation Unsicherheit befassen muss.
und Erwartungen an zukünftige Entwicklungen und Die ethisch-philosophischen Fragen übersteigen
technik- und technikentwicklungsbezogener Aus- immer wieder die konkreten Überlegungen zu den
druck verschiedenster Moralsysteme. Sie führen zu Folgen der Entwicklung und des Einsatzes einzelner
normativen Unsicherheiten und moralischen Kon- Techniken. Zum Gegenstand der Technikethik ge-
flikten. Darüber, dass es wünschenswert wäre, Alz- hören auch übergreifende Fragen nach den Folgen
heimer heilen zu können oder Körperbehinderten der fortschreitenden Technisierung für Mensch und
durch neuartige Prothesen zu mehr Bewegungsfrei- Gesellschaft, für Menschenbilder und die conditio
heit zu verhelfen, kann kaum ein moralischer Dis- humana, für das Verhältnis zur natürlichen Umwelt
sens bestehen. Das Ziel, eine bemannte Station auf und zum ›Leben‹. Gesellschaftstheoretische, kultur-
dem Mars einzurichten, dürfte erheblich umstritte- philosophische, anthropologische und geschichts-
ner sein, ganz zu schweigen vom Ziel einer ›techni- philosophische Argumentationsmuster verbinden
schen Verbesserung‹ des Menschen. sich hier mit ethischer Reflexion unter dem Ziel, in
(2) Moralisch relevante Instrumente und Mittel der Situation gesteigerter Kontingenz Orientierung
der technischen Entwicklung sind z. B. bestimmte zu schaffen.
Experimentalpraktiken wie Tierversuche (s. Kap.
IV.C.3) oder die Forschung am Menschen, mensch-
lichen Embryos oder Stammzellen oder bestimmte Technikethik als Beratung
Aspekte von Experimenten wie z. B. Freilandexperi-
mente mit gentechnisch veränderten Pflanzen. In Wie weitgehend nun Technikethik Orientierung ge-
der Standortfrage technischer Anlagen  – auch die ben kann, hängt vom übergeordneten Verständnis
Standortwahl gehört zu den Mitteln – tauchen gele- von Ethik ab. Um nicht als bloß subjektive Mei-
gentlich moralische Aspekte auf, wenn z. B. der Ab- nungsäußerung zu moralischen Fragen der Technik,
bau von Rohstoffen oder die Endlagerung von Ab- sondern als inter- und transsubjektiv gültig aner-
fällen in einem Gebiet erfolgen soll, das für indigene kannt zu werden, müssen Orientierungsangebote
Völker einen besonderen kulturellen oder religiösen der Technikethik sich in einem Diskurs bewähren
Status hat. Weiterhin sind die für Technik zu ver- (Gethmann/Sander 1999). Diese Bewährung ist
wendenden natürlichen Ressourcen wie Bodenflä- grundsätzlich daran gebunden, dass in der betref-
che, seltene Metalle oder nicht erneuerbare Energie- fenden Diskursgemeinschaft bestimmte Vereinba-
träger (s. Kap. V.5) unter Aspekten der Zukunftsver- rungen, z. B. über zentrale Begriffe und Diskursre-
antwortung von moralischem Interesse. geln, bereits getroffen worden sind, auf deren Basis
(3) Entwicklung, Produktion, Einsatz und Entsor- sodann ein Diskurs erst stattfinden kann. Je konkre-
gung von Technik haben Folgen über die Zielerrei- ter die zu verhandelnden Fragen sind, desto voraus-
chung hinaus. Hierzu gehören z. B. Risiken techni- setzungsreicher wird der Satz an substantiellen Ver-
scher Entwicklungen für Gesellschaft und Umwelt, einbarungen sein müssen, der bei Eintritt in den
die häufiger Gegenstand der Technikfolgenabschät- Diskurs bereits anerkannt werden muss. Dieser Satz
zung (Grunwald 2010; s. Kap. VI.4) und moralischer sei ›prädeliberatives Einverständnis‹ genannt (Grun-
Erwägungen sind (Durbin 1987; Unger 1993; As- wald 2008 mit Bezug auf Gethmann/Sander 1999).
veld/Roeser 2008; Hansson 2009): Welche Risiken Technikethische Resultate des entsprechenden
werden angesichts der erhofften positiven Folgen Diskurses sind in ihrer Geltung und Reichweite
akzeptiert, wie werden Risiko/Chance-Abwägungen dann an das prädeliberative Einverständnis gebun-
und vergleichende Risikobewertungen vorgenom- den. Daher können sie nur in konditional-normati-
men, wann greift das Vorsorgeprinzip angesichts ven Aussagen bestehen, nämlich in argumentativ
mangelnden Wissens (von Schomberg 2005; zur Ri- prüfbaren Wenn-Dann-Ketten. Dies hat erhebliche
6 I. Einleitung und Überblick

Folgen für die Übertragung technikethischer Orien- zentrales Anliegen der Technikethik – Entscheidun-
tierungsangebote in die gesellschaftliche Praxis. Ob gen treffen andere.
beispielsweise eine konditional-normative Aussage Der Beratungskontext enthält selbst unterschied-
zur Verantwortbarkeit des Einsatzes von Nanoparti- liche Erwartungen. Hierzu gehört die Sensibilisie-
keln in Lebensmitteln praktische Folgen hat, hängt rung von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik
davon ab, ob in dem entsprechenden Feld der Regu- gegebenenfalls auch Wirtschaft (s. Kap. IV.C.8), ge-
lierung die Antezedens-Bedingungen der entspre- genüber involvierten ethischen Fragen. Das mora-
chenden Wenn-Dann-Ketten als gültig anerkannt lisch relevante und möglicherweise konflikthafte im
werden. Wenn ja, folgt daraus, die Konklusion um- häufig vermeintlich rein Technischen zuallererst
zusetzen, und das technikethische Lösungsangebot aufzudecken, ist notwendige Vorbedingung jeder
würde in Praxis überführt. ethischen Reflexion und jeder ethisch aufgeklärten
Die Entscheidung, ob die Antezedentia akzeptiert öffentlichen und politischen Debatte. Die Klärung
werden, ist jedoch nicht Sache der Ethik, sondern da- moralischer Konstellationen und Konflikte ist so-
für ist die Gesellschaft in ihren dafür eigens einge- dann ein entscheidender Beitrag zur Lösung norma-
richteten, beauftragten und legitimierten demokrati- tiver Unsicherheiten, für die die Ethik gleichwohl
schen Institutionen zuständig. Dies meint der ›Pri- immer nur Vorschläge unterbreiten kann. Damit ist
mat der Demokratie vor der Philosophie‹ (Rorty Technikethik Aufklärer, Anreger, Förderer und In-
1998). Technikethik kann nicht Antworten auf die formierer »wirklicher Gespräche« (Schwemmer
Frage geben, was in Fällen normativer Unsicherheit 1986) über Technik und ihre gesellschaftliche Ein-
getan werden müsse. Die Gesellschaft bleibt in Bezug bettung. Vorgestellt werden muss dies in Konzepten
auf Zukunftsentscheidungen und Weichenstellungen der Politischen Philosophie, insofern es um Anlie-
im wissenschaftlich-technischen Fortschritt auf sich gen des Gemeinwesens geht. Dies kann beispiels-
selbst gestellt. Dies wird ihr von der Ethik nicht abge- weise die Ausrichtung an einem pragmatistischen
nommen, sondern Ethik gibt in derartigen Fragen le- Modell des Verhältnisses von Wissenschaft, Öffent-
diglich konditional-normativen Rat, z. B. in demo- lichkeit und Politik sein (Habermas 1968) oder an
kratischen Entscheidungsprozessen. Ethische Exper- seinen Weiterentwicklungen in Richtung auf eine
tise in Situationen normativer Unsicherheit fungiert deliberative Demokratie sein.
als Informierung, Orientierung und Aufklärung der
entsprechenden Debatten und Entscheidungspro-
zesse in normativer Hinsicht, determiniert aber nicht Technikethik und Praxis
deren Ergebnisse. Aufklärung der moralischen Hin-
tergründe, nicht Vorwegnahme von Entscheidungen Die Art und Weise des Praxisbezugs der Technik-
ist das, was aus technikethischer Reflexion folgt. ethik und ihrer Einbeziehung in Debatten zum wis-
Diese Erkenntnis hat Folgen dafür, was berechtig- senschaftlich-technischen Fortschritt hängt stark
terweise von Technikethik erwartet werden darf und von den Kontexten der jeweiligen normativen Unsi-
was nicht erwartet werden sollte. Auf keinen Fall eig- cherheit ab. Dem weiten Spektrum der Themen der
net sich Technikethik als eine Art Genehmigungsbe- Technikethik entspricht die große Vielfalt der prak-
hörde, die so etwas wie ethische Unbedenklichkeits- tischen Konstellationen, in denen sie tätig ist oder
erklärungen ausstellen kann. Technikethische Refle- sein kann. Diese reicht von der Begleitung konkreter
xion mündet nicht in kategorische Aussagen über Laborforschung bis zur Forschungsförderung, von
moralisch richtiges Handeln in technischen Kontex- der Politikberatung bis zu Debatten in den Feuille-
ten und kann z. B. nicht darüber befinden, ob der tons, von der Wirtschaft bis zur Nachhaltigkeitsde-
Einsatz der Kernenergie verantwortbar ist oder batte. Folgende Konstellationen mit je verschiede-
nicht. Darüber muss die Gesellschaft entscheiden, in nen Fragestellungen, Akteurskonstellationen und
öffentlichen Debatten und politischer Entschei- Technikbezügen dürften den größten Teil der Pra-
dungsfindung. Technikethik kann und soll jedoch xisbezüge der Technikethik umfassen.
diese Debatten und Entscheidungsprozesse beraten, Politik: Die Beeinflussung von Technik durch
d. h. insbesondere in Bezug auf die moralischen Hin- staatliche Technikpolitik ist (s. Kap. VI.1), da sie
tergründe aufklären und die Argumentationsstruk- Verbindlichkeiten für jedermann schafft, in einer
turen transparent aufdecken. Beratung an den unter- moralisch pluralistischen Gesellschaft stets eine
schiedlichsten Stellen in der Ausgestaltung des wis- Bühne mit wahrscheinlich auftretenden normativen
senschaftlich-technischen Fortschritts ist ein Unsicherheiten. Beratung durch Technikethik kann
I. Einleitung und Überblick 7

z. B. im Vorfeld politischer Entscheidungen erfolgen, Technikethische Reflexion und ihre Ergebnisse


in denen die Möglichkeit besteht, durch ethische Re- müssen in die jeweils betroffenen Bereiche gesell-
flexion Aufklärungsarbeit hinsichtlich der involvier- schaftlicher Praxis eingebracht werden. Dies kann
ten Normativität zu leisten. Dies betrifft alle Kon- über Ethikkommissionen, rechtliche Kodifizierung
stellationen, in denen staatliches Handeln Technik (s. Kap. VI.2), Ausbildung von Wissenschaftlern und
beeinflusst, vor allem aber Forschungsförderung Ingenieuren (s. Kap. VI.9), Interventionen von Tech-
und Regulierung. nikethikern in öffentlichen Debatten oder durch
Wirtschaft: In der Produktentwicklung werden ihre Mitwirkung in interdisziplinären Entwicklungs-
eine Fülle von Annahmen über spätere Konsumen- projekten erfolgen.
ten der Technik gemacht. In diese gehen Menschen-
bilder und Zukunftsentwürfe über die gesetzten
Ziele und Zwecke der Technik ein, genauso wie auch Einwände gegen Technikethik
Folgenüberlegungen, die einer ethischen Reflexion
zugänglich sind. Insofern normative Unsicherheiten Möglichkeit und Erfolgsaussichten von Technik-
in diesen Bereichen eine Rolle spielen, ist hier ein ethik sind nicht unumstritten, wenngleich ca. seit
Feld für Technikethik. dem Jahr 2000 die Kritik deutlich leiser geworden
Forschung: Ingenieure und Wissenschaftler/innen ist. Häufig wird Kritik aus sozialwissenschaftlicher
sind durch ihre enge Verbindung mit den Prozessen Perspektive vorgebracht und bezieht typische Kon-
der Erforschung, Entwicklung, Produktion, Nut- fliktfelder zwischen Soziologie und Philosophie auf
zung und Entsorgung von Technik in besonderer diesen Bereich (Grunwald 1999). Immer wieder
Weise mit Verantwortungszuschreibungen konfron- wird skeptisch angemerkt, dass die Innovationsge-
tiert (Durbin 1987). Insofern es dort zu normativer schwindigkeit der globalen Technisierung dazu
Unsicherheit kommt – z. B. in Fällen von Konflikten führe, dass die Ethik oftmals der technischen Ent-
zwischen Ingenieuren als Arbeitnehmer und Unter- wicklung ohnmächtig hinterherlaufe und den Cha-
nehmern als Arbeitgeber in der Beurteilung von Si- rakter einer »Fahrradbremse am Interkontinental-
cherheits- oder Umweltfragen –, stellt die Reflexion flugzeug« (Ulrich Beck) habe. Auch sei die Technik-
der moralischen Grundlagen des Handelns ebenfalls entwicklung in der funktional differenzierten und
eine Aufgabe der Technikethik dar (Beispiele in pluralistischen Gesellschaft nicht normativ beein-
Lenk/Ropohl 1993; s. Kap. III.7). flussbar, sondern einer Evolution nach Eigengesetz-
Nutzerverhalten: Nutzer und Konsumenten von lichkeiten unterworfen (Halfmann 1996). Insbeson-
technischen Systemen und Produkten entscheiden dere die Globalisierung verhindere, dass Ethik über-
auf der Basis ihrer individuellen Präferenzen auf haupt Einfluss auf den weiteren Gang des
zwei Weisen mit über Technikentwicklung und -ein- wissenschaftlich-technischen Fortschritts nehmen
satz mit: einerseits über das Kauf- und Nutzerverhal- könne. Vielfach wird auch die Möglichkeit argumen-
ten, andererseits (wenig beachtet) über ihre Äuße- tativer Auseinandersetzung über moralische Fragen
rungen im Rahmen der Marktforschung. Technik- grundsätzlich bezweifelt. Stattdessen könne es, so
ethik kann hier über moralische Implikationen subjektivistische Positionen, nur darum gehen, un-
bestimmter Nutzungsformen aufklären. terschiedliche moralische Positionen und Interessen
Öffentliche Debatte: Über den Gang der techni- auszuhandeln, ohne damit argumentative Ansprü-
schen Entwicklung entscheiden auch öffentliche, che zu erheben (kritisch dazu Gethmann/Sander
d. h. vor allem über Massenmedien laufende Debat- 1999).
ten. So hat die öffentliche Diskussion zur Kernener- Diese Einwände sind wenig spezifisch für Technik-
gie die politische Meinung beeinflusst und damit ethik, sondern stellen generell in Frage, dass Technik-
den Atomenergieausstieg maßgeblich mit herbeige- entwicklung und -nutzung überhaupt in irgendeiner
führt. Ebenso hat die öffentliche Diskussion über Weise intentional gesteuert werden könne. Spezifi-
gentechnisch veränderte Organismen die regulatori- scher auf Technikethik beziehen sich folgende drei
sche Haltung der Europäischen Union und die Ver- Einwände (Grunwald 1999):
ankerung des Vorsorgeprinzips beeinflusst. Auch (1) Ähnlich wie zur Technikfolgenabschätzung
haben die meist medial geführten öffentlichen De- (Grunwald 2010) kommt es auch in Bezug auf Tech-
batten Einfluss auf die Ausgestaltung der politischen nikethik immer wieder zu Vorwürfen oder wenigs-
Rahmenbedingungen mit ihrem indirekten Einfluss tens Befürchtungen in divergierenden Richtungen:
auf Technik. Technikethik könne entweder kleinste mögliche Ri-
8 I. Einleitung und Überblick

siken oder ethische Bedenken aufbauschen oder gar allem unterschiedlichen Zwecken. Ist die Frage z. B.
selbst konstruieren und damit technischen Fort- nach der Verantwortbarkeit des Einsatzes von Nano-
schritt und seine Akzeptanz gefährden; oder aber partikeln in Lebensmitteln eine konkrete Frage im
Technikethik könne moralische Bedenken klein ar- Rahmen von Überlegungen zu Verbraucherschutz,
gumentieren und damit auflösen, vielleicht gar ei- Regulierung, Kennzeichnungspflicht, Selbstver-
nen ethischen ›Persilschein‹ ausstellen. pflichtung von Unternehmen oder individueller
(2) Die Kritik an Verantwortungsethik in der Verantwortung mit ihren jeweiligen ethisch relevan-
Technik arbeitet vielfach mit dem Begriff der ›Ver- ten Hintergründen, so dienen Überlegungen zur
antwortungsverdünnung‹. In einer hochgradig ar- Synthetischen Biologie eher der gesellschaftlichen
beitsteiligen Gesellschaft sei der Begriff der Verant- und ethischen Selbstverständigung und zur herme-
wortung kaum noch sinnvoll einzusetzen, stattdes- neutischen Aufklärung dessen, worum es dabei geht,
sen herrsche eine ›organisierte Unverantwortlichkeit‹ was moralisch auf dem Spiel steht und in welcher
(Ulrich Beck). Verantwortungsethik erschöpfe sich Weise unsere Urteilsbildung herausgefordert werden
in bloßer Rhetorik zum Zweck der Legitimationsbe- können, ohne dass bereits konkrete Maßnahmen
schaffung oder Beruhigung der Öffentlichkeit. Dies einzuleiten wären.
gelte besonders in der Technikentwicklung, die Technikethik ist also als begleitend im Entwick-
heute in komplexen Arbeitsprozessen organisiert ist. lungsprozess zu konzeptualisieren. Sind in sehr frü-
Wenn aber niemand ›verantwortlich‹ sei, komme ei- hen Entwicklungsstufen zunächst nur eher abstra-
ner Verantwortungsethik ihr Adressat abhanden. hierte Überlegungen zu technischen Entwicklungs-
(3) Schließlich wird vielfach die mangelnde Pro- linien möglich und stehen hermeneutische Fragen
gnostizierbarkeit der Technikfolgen thematisiert und dessen, worum es geht, im Vordergrund, so können
daraus abgeleitet, dass eine prospektive ethische Re- gegebenenfalls aber auch bereits wertvolle Hinweise
flexion sich nicht auf belastbares Wissen stützen für den weiteren Entwicklungsweg gegeben werden,
könne (Bechmann 1993). Stattdessen sei sie darauf z. B. durch frühzeitige Hinweise auf mögliche Tech-
verwiesen, mit Wissensbeständen mit einem unkla- nikkonflikte und Wege zur Deeskalation (s. Kap.
ren epistemologischen Status zu operieren und laufe III.6) oder im Hinblick auf Gerechtigkeits- und Be-
Gefahr, sich mit bloßen Spekulationen zu befassen teiligungsfragen (s. Kap. IV.B.9). Im Verlauf der fort-
(Nordmann 2007 am Beispiel der Nanotechnologie). währenden Konkretisierung der Anwendungsmög-
Diese Einwände sind erstens konzeptionell ernst- lichkeiten der jeweiligen Technik in diesem Prozess
zunehmen. Technikethik muss sie reflektieren und und mit entsprechend verbessertem Folgenwissen
darauf reagieren (Grunwald 1999). Dies hat die ist es dann möglich, die zunächst abstrakten Bewer-
stärksten Auswirkungen in Bezug auf die letztge- tungen und Orientierungen durch das jeweils neu
nannte Problematik. Wenn aus dieser der Schluss verfügbare Wissen immer weiter zu konkretisieren.
gezogen würde, dass ethische Reflexion erst dann Auf diese Weise trägt Technikethik durch frühzeitige
unternommen werden könne, wenn das Wissen si- Untersuchungen und Reflexionen zu einem gesell-
cher sei, also die Technikfolgen Realität geworden schaftlichen Lernprozess bei.
und ebenso reale Probleme erzeugt haben, führt dies
jedoch zu der absurden Konsequenz, dass sie grund-
sätzlich strukturell zu spät komme und damit wir- Zum Handbuch
kungslos wäre. Technikethik als ›Reparaturethik‹
(Mittelstraß 1998) bereits eingetretener Schäden Das Handbuch Technikethik ist das erste Handbuch
könnte die Erwartungen an Orientierung nicht ein- dieser Thematik in deutscher Sprache. Technikethik
lösen. im hier gemeinten Sinn zielt primär darauf, durch
Statt jedoch zu fragen, ob Technikethik möglichst ethische Reflexion zu ›richtigen‹ Entscheidungen in
früh oder eher spät, prospektiv oder erst nach Vor- der Sache beizutragen, also in der Gestaltung und
liegen belastbaren Folgenwissens einsetzen sollte, Nutzung von Technik und zum Umgang mit ihren
geht es um Differenzierungen ethischer Reflexion je Folgen. Technik wird als embedded technology von
nach Entwicklungsphase, Problemstellung und Vali- Beginn an in einem gesellschaftlichen Kontext gese-
dität des verfügbaren Folgenwissens. Ethische Refle- hen, in dem bereits von ersten Designüberlegungen
xion fällt konzeptionell und methodisch anders aus, über die Produktion, Nutzung bis zur Entsorgung
ob sie nun angesichts empirisch messbarer oder nur jeweils Entscheidungen zu treffen sind, die eine
vorgestellter Technikfolgen erfolgt, und sie dient vor moralische Dimension haben und damit einer ethi-
I. Einleitung und Überblick 9

schen Reflexion offenstehen oder sie sogar ver- • Technikethik vollzieht sich in der Regel im inter-
langen. In der Technikethik geht es primär um disziplinären Dialog. Professionelle ethische und
›politikpflichtige‹ Elemente an Technik wie z. B. Si- philosophische Expertise bildet das Fundament,
cherheit- und Umweltstandards, den Schutz der das gleichwohl auf interdisziplinäre Kooperation
Bürger vor Eingriffen in Bürgerrechte, Prioritäten- angewiesen ist, sowohl in Richtung Technik als
setzung in der Forschungspolitik, die Gestaltung auch zu Gesellschaftswissenschaften.
von Rahmenbedingungen für Innovation etc., so
wie sie hier verstanden wird. Die diesem Handbuch
vor dem genannten Hintergrund zugrundeliegen- Aufbau und Überblick
den Prämissen können wie folgt zusammengefasst
werden: Die Gliederung des Handbuchs Technikethik folgt
• Technikethik stellt eine Teildisziplin der Ethik einfachen Überlegungen im Nachgang zu dieser
und damit der Philosophie dar; entgegen einem Einleitung.
aktuellen Wortgebrauch, der unter ›Ethik‹ häufig Kapitel II dient der Einführung einiger zentraler
nur noch Befindlichkeiten, Werthaltungen, Präfe- Grundbegriffe der Technikethik. Hierzu gehören
renzen, Runde Tische, Kommissionen oder sons- selbstverständlich der Technikbegriff selbst und der
tige ›weiche‹ Seiten der Technik bezeichnet Begriff der Technikfolgen, die komplementären Be-
• Zwischen Moral und Ethik ist zu unterscheiden: griffe ›Risiko‹ und ›Sicherheit‹ sowie die Begriffe
Während Moralen deskriptiv beschreibbar sind ›Fortschritt‹ und ›Verantwortung‹. Diese werden in
und die faktischen Werthaltungen, Überzeugun- vielen Beiträgen immer wieder aufgenommen.
gen, Handlungsregeln und Präferenzen bezeich- In Kapitel III werden einige geschichtliche Statio-
nen, stellt die Ethik die Reflexionstheorie über nen der Technikethik erläutert mit dem Ziel, die
diese Moralen dar, insbesondere in Konfliktfällen Hintergründe und Motivationen für das Entstehen
• Damit ist der Anspruch verbunden, dass norma- der Technikethik zu beleuchten. Die Beiträge umfas-
tive Sätze, z. B. Technikbeurteilungen, nicht ein- sen die frühe Technikskepsis und -kritik, die Entste-
fach der Sphäre des subjektiven Glaubens und hung des TÜV, das Manhattan-Projekt, die Ge-
Meinens überantwortet, sondern argumentati- schichte des Asbests, die Krise des Fortschrittsopti-
onszugänglich sind (Gethmann/Sander 1999). mismus, Technikkonflikte und die Entwicklung der
• Technikethik ist keine rein akademische Übung, Ingenieursethik.
da sie einen doppelten Praxisbezug hat, indem sie Kapitel IV ist der Technikethik selbst und ihren
ihre Fragen aus der Praxis bezieht und ihre Ant- Grundlagen gewidmet. Letztere bestehen zunächst
worten dorthin zurückgibt. Gleichwohl ist der in den technikphilosophischen Traditionen, ange-
akademisch-professionelle Hintergrund entschei- fangen von der Antike über Marx bis hin zum
dend als kognitives Fundament ihrer Aussagen 20.  Jahrhundert und aktuellen Deutungen der Tech-
und Legitimation. nik. Weiterhin geht es um die ethischen Begrün-
• Technikethik ist einerseits ein Teilgebiet der An- dungsansätze wie Menschenrechte, Klugheitsethik,
gewandten Ethik und ist darauf verwiesen, in ih- Utilitarismus und Nachhaltigkeit sowie die Herstel-
rem ›Bereich‹ (Nida-Rümelin 1996; Stoecker et al. lung von Beziehungen zur Technik. Schließlich wer-
2011) konkret zu wirken. Jedoch wird sie auch den einige Querschnittsthemen der Technikethik
mit Fragen konfrontiert, die darüber weit hinaus- eingeführt und diskutiert wie z. B. Arbeit und
reichen – mit grundsätzlichen Fragen des wissen- Technik, Abfall und Technik, Natur und Technik
schaftlich-technischen Fortschritts, in denen häu- sowie Globalisierung.
fig keine konkrete Orientierungsarbeit, sondern In Kapitel V geht es um konkrete Technikfelder.
hermeneutische Aufklärung gefragt ist. Einerseits kommen die ›Klassiker‹ der Technikethik
• Technikethik kann die Orientierungsfragen zum zu Wort wie Kernenergie, Nanotechnologie, Gen-
technischen Fortschritt nicht selbst beantworten. technik und Internet. Es werden aber auch Felder
Sie kann gesellschaftliche Meinungsbildung und berührt, die in der Technikethik eher selten disku-
politische oder wirtschaftliche Entscheidungs- tiert werden wie die Lebensmitteltechnologien,
prozesse nur beraten. Das Engagement der Tech- Computerspiele, Agrartechnik und Raumfahrt.
nikethik in den gesellschaftlichen und politischen Das abschließende Kapitel VI stellt die Verbin-
Debatten über Technik ist Bedingung ihrer Wirk- dungen der Technikethik in die unterschiedlichen
samkeit, aber keine Garantie. Praxisfelder her. Diese umfassen Technikpolitik und
10 I. Einleitung und Überblick

Politikberatung, rechtliche Kodifikationen wie z. B. Danksagung


im Vorsorgeprinzip, Umsetzungsformen wie Partizi-
pation, Ethikkommissionen und ethische Leitlinien Dieses Handbuch verdankt seine Entstehung der ko-
und Aspekte ethischer Technikbildung. ordinierten Mitwirkung vieler Personen. Zunächst
sei dem Metzler Verlag, insbesondere Frau Ute
Hechtfischer, für die Initiative zu diesem Handbuch
Zum Gebrauch und für die kompetente Betreuung während des ge-
samten Herstellungsprozesses gedankt. Frau Mela-
Dieses Handbuch soll ›zur Hand‹ sein und genom- nie Simonidis-Puschmann hat über die gesamte Ent-
men werden, immer wenn Bedarf nach Information stehungszeit hinweg den Überblick über den Status
zu Teilbereichen der Technikethik besteht. Dies ge- aller Beiträge behalten, ist dabei in der Fülle der E-
schieht durch ein großes und thematisch stark auf- Mails vielleicht manchmal verzweifelt, aber nie
gefächertes Angebot an einzelnen Beiträgen indivi- durcheinander gekommen, und hat auch noch im
dueller Autorinnen und Autoren. Redaktions- und Lektoratsprozess durch viele Hin-
Ein Handbuch ist keine Monographie. Die weise mitgewirkt.
Autorinnen und Autoren bringen im Rahmen des Der größte Dank jedoch gebührt den Autorinnen
oben geschilderten Rahmens der Technikethik ihre und Autoren, die diesem Handbuch die fachliche
je eigenen Begriffe, Konzeptionen, Diagnosen und Substanz geben. Ich war im Vorhinein gewarnt wor-
Perspektiven ein. Eine strikte Vereinheitlichung den, die Aufgabe des Herausgebers zu übernehmen.
etwa der Verwendungsweise von Begriffen wie ›Ri- Das sei ein undankbares Geschäft, man habe es mas-
siko‹ oder ›Verantwortung‹ wäre weder möglich senweise mit säumigen Autoren und schlechten Ent-
noch wünschenswert gewesen, da sie auf Kosten des würfen zu tun, und so manches mehr. Das alles war in
Reichtums der Perspektiven gegangen wäre. Wo not- keiner Weise der Fall. Vielmehr war die Zusammen-
wendig, wurden Hinweise des Herausgebers auf un- arbeit eine Freude, von der ich in vielerlei Weise ge-
terschiedliche Begriffsverwendungen eingefügt. lernt habe. Und es war überhaupt kein Problem, den
Die Autorinnen und Autoren stammen aus unter- von Anfang an vorgesehenen Zeitplan einzuhalten.
schiedlichen Disziplinen und institutionellen Kon- Damit bleibt mir nur noch, den Leserinnen und
texten. In einigen Teilen des Handbuchs, vor allem in Lesern zu wünschen, dass sie in diesem Handbuch
der Entfaltung der Grundlagen der Technikethik, erstens das finden, was sie suchen, und zweitens,
dominiert selbstverständlich die Philosophie. In an- dass sie noch viel mehr darin finden!
deren Bereichen kommen auch andere Wissenschaf-
ten zu Wort, etwa aus der Geschichtswissenschaft, Literatur
Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaft und Technik-
Allhoff, Fritz/Lin, Patrick/Moor, James/Weckert, John
folgenabschätzung, aber auch Natur- und Technik- (Hg.): Nanoethics. The Ethical and Social Implications of
wissenschaft. In Bezug auf die disziplinäre Zusam- Nanotechnology. New Jersey 2007.
mensetzung wohl am buntesten ist das Kapitel zu den Asveld, Lotte/Roeser, Sabine (Hg.): The Ethics of Technolo-
Technikfeldern. Die oben geäußerte Einordnung der gical Risk. London 2008.
Technikethik als interdisziplinäres Gespräch zeigt Bechmann, Gotthard: Ethische Grenzen der Technik oder
technische Grenzen der Ethik? In: Geschichte und Gegen-
sich auf diese Weise auch im vorliegenden Handbuch. wart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschafts-
Querverweise innerhalb des Handbuchs schaffen analyse und politische Bildung 12 (1993), 213–225.
Bezüge zu thematisch verwandten Fragen sowie ge- Bogner, Alexander: Ethisierung und die Marginalisierung
meinsame, aber auch möglicherweise divergierende der Ethik. In: Soziale Welt 60/2 (2009), 119–137.
Perspektiven und Herausforderungen hin. Naturge- Dessauer, Friedrich: Philosophie der Technik. Das Problem
der Realisierung. Bonn 1926.
mäß betrifft dies vor allem die Relationen zwischen
Durbin, Paul T. (Hg.): Technology and Responsibility.
den Querschnittthemen und den Beiträgen zu kon- Dordrecht 1987.
kreten Technikfeldern. Aber auch viele andere the- Gethmann, Carl Friedrich/Sander, Torsten: Rechtferti-
matische oder methodische Beziehungen zwischen gungsdiskurse. In: Armin Grunwald/Stephan Saupe
den Beiträgen zeigen, dass jenseits der Unterschied- (Hg.): Ethik in der Technikgestaltung. Praktische Relevanz
und Legitimation. Berlin u. a. 1999, 117–151.
lichkeit und Individualität der Einzelthemen durch-
Grunwald, Armin: Ethik in der Dynamik des technischen
gehende Fragen und Themen einen Zusammenhang Fortschritts. Anachronismus oder Orientierungshilfe?
herstellen, der es letztlich rechtfertigt, von einem In: Christian Streffer/Ludger Honnefelder (Hg.): Jahrbuch
Feld ›Technikethik‹ überhaupt zu sprechen. für Wissenschaft und Ethik 1999. Berlin 1999, 41–59.
I. Einleitung und Überblick 11

– : Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalis- – /Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart 1993.
mus. Das Beispiel der »technischen Verbesserung« des Lübbe, Hermann: Modernisierung und Folgelasten. Berlin
Menschen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/6 u. a. 1997a.
(2007), 949–965. Mitcham, Carl: Thinking through Technology: The Path be-
– : Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philo- tween Engineering and Philosophy. Chicago 1994.
sophisch-ethische Fragen. Freiburg 2008. Mittelstraß, Jürgen: Auf dem Weg zu einer Reparaturethik?
– : Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung. Berlin In: Jean-Paul Wils/Dietmar Mieth (Hg.): Ethik ohne
²2010. Chance? Tübingen 1998.
– : Was ist ein moralisches Problem der Technikethik? In: Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Angewandte Ethik. Die Be-
Michael Zichy/Jochen Ostheimer/Herwig Grimm (Hg.): reichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Stuttgart
Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegen- 1996.
standes angewandter Ethik. Freiburg 2012, 412–435. Nordmann, Alfred: If and then: A critique of speculative
Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als Ideologie. nanoethics. In: Nanoethics 1 (2007), 31–46.
Frankfurt a. M. 1968. Radder, Hans: Why technologies are inherently normative.
– : Die Zukunft der menschlichen Natur. Frankfurt a. M. In: Antonie Meijers (Hg.): Philosophy of Technology and
2001. Engineering Sciences. Volume 9. Amsterdam 2009, 887–
Halfmann, Jost: Die gesellschaftliche »Natur« von Technik. 922.
Opladen 1996. Ropohl, Günter: Eine Systemtheorie der Technik. Frankfurt
Hansson, Sven Ove: Risk and safety in technology. In: An- a. M. 1979.
tonie Meijers (Hg.): Philosophy of Technology and Engi- Rorty, Richard: Truth and Progress. Philosophical Papers.
neering Sciences. Volume 9. Amsterdam 2009, 1069– Cambridge 1998.
1102. Schomberg, René von: The precautionary principle and its
Höffe, Otfried: Moral als Preis der Moderne. Frankfurt a. M. normative challenges. In: Edwin Fisher/Jim Jones/René
1993. von Schomberg (Hg.): The Precautionary Principle and
Hubig, Christoph: Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Public Policy Decision Making. Cheltenham, UK/North-
Leitfaden. Berlin u. a. 1993. ampton, Mass. 2005, 141–165.
– /Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Ingenieurverantwor- Schwemmer, Oswald: Ethische Untersuchungen. Rückfragen
tung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifi- zu einigen Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1986.
zierung. Berlin 2004. Stoecker, Ralf/Neuhäuser, Christian/Raters, Marie-Luise
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer (Hg.): Handbuch Angewandte Ethik. Stuttgart/Weimar
Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 2011.
1979. Unger, Stephen: Controlling Technology. Ethics and the Re-
– : Warum die Technik ein Gegenstand für die Ethik ist: sponsible Engineer. New York u. a. ²1993.
fünf Gründe [1958]. In: Hans Lenk/Günter Ropohl Van de Poel, Ibo: Values in engineering design. In: Antonie
(Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart 1993, 21–34. Meijers (Hg.): Philosophy of Technology and Engineering
Lenk, Hans: Zu neueren Ansätzen der Technikphilosophie. Sciences. Volume 9. Amsterdam 2009, 973–1006.
In: Hans Lenk/Simon Moser (Hg.): Techne Technik Tech-
Armin Grunwald
nologie. Pullach 1973, 198–231.
13

II. Grundbegriffe

1. Technik der Meditation. Das Wort ›Technologie‹ wird häufig


verwendet, um wissenschaftlich hervorgebrachte
oder besonders komplexe Techniken zu bezeichnen,
Zum Begriff aber auch um Technikbereiche übergreifend zusam-
menzufassen. Der englische Sprachgebrauch unter-
Der Technikbegriff geht auf die aristotelische Unter- scheidet technology als Oberbegriff für ingenieurmä-
scheidung von ›natürlich‹ und ›künstlich‹ zurück. ßige und wissenschaftliche Technik von techniques
Während das Natürliche den Grund seines Entste- zur Bezeichnung von geregelten Verfahren.
hens und Werdens in sich selbst trägt, also ›Gewor-
denes‹ ist, bezeichnet techne das künstlich vom Men-
schen im Rahmen herstellender Tätigkeit (poiesis) Technik als Reflexionsbegriff
Hervorgebrachte (zu antiker Technikphilosophie s.
Kap. IV.A.1). Damit wurde der Begriff der Technik Der konstitutive Charakter des ›Gemacht-Seins‹ von
in die Sphäre menschlicher Kultur gestellt (s. Kap. Technik stellt einen unmittelbaren Bezug zwischen
IV.A.5 und IV.C.4). Wenn gelegentlich Honigwaben Technikbegriff und der Zweck-Mittel-Rationalität
oder Termitenbauten als technische Erzeugnisse der her. In der klassischen handlungstheoretischen Deu-
betreffenden Spezies dargestellt werden, handelt es tung dienen Techniken, sowohl geregelte Verfahren
sich bloß um eine metaphorische Redeweise. als auch Artefakte wie Werkzeuge oder Maschinen,
Seit Mitte des 19.  Jahrhunderts wurden in der zu außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecken. In die-
Philosophie verschiedene, teils sich ergänzende, teils ser Sicht stellt Technik das »System der Mittel« dar
konkurrierende Technikbegriffe entwickelt (Lenk (Hubig 2002, 28 ff.). Effektivität, also die Aussicht
1973; Rapp 1978; Hubig 2006). Techniksoziologie darauf, die intendierten Zwecke durch den Einsatz
und Technikwissenschaften verwenden eigene und der jeweiligen Technik zu erfüllen, und Effizienz,
selbst oft kontroverse Technikbegriffe. Ein philoso- also ein günstiges Verhältnis der eingesetzten Mittel
phisch und wissenschaftlich durchgehend aner- (z. B. Geld, aber auch Materialien) zur Zweckerrei-
kannter Technikbegriff liegt nicht vor. Auch die chung, sind in diesem Mittelverständnis von Tech-
Technikethik verwendet keinen einheitlichen Tech- nik die wesentlichen Kriterien, wenn eine Entschei-
nikbegriff, sondern verfährt in der Regel pragma- dung zwischen mehreren Techniken zur Erreichung
tisch, indem sie an vorfindliche Sprachgebräuche der Zwecke zu treffen ist. Kosten-Nutzen-Analysen
anschließt. In modernen Begriffsbestimmungen, so prägen diese Sicht auf Technik. Technikbewertung
generell auch in der Technikethik, wird Technik in und Technikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4 und
der Regel nicht als von der Gesellschaft isoliert, son- Kap. VI.6) haben darüber hinaus Technik und ihre
dern in sie eingebettet gefasst. Unter ›Technik‹ wer- Folgen in einen größeren gesellschaftlichen und
den dann technische Artefakte einschließlich der ethischen Zusammenhang gestellt; andererseits ha-
Handlungskomplexe der Technikentwicklung und ben sie die nicht intendierten Folgen der Entwick-
-herstellung (poiesis), der Nutzung und der Entfer- lung und des Einsatzes von Technik systematisch in
nung aus dem Verwendungszusammenhang (z. B. den Blick genommen.
Rezyklierung oder Deponierung) verstanden (Grun- Technik geht handlungstheoretisch jedoch nicht
wald 1998 in Erweiterung von Ropohl 1979). in ihrem Mittelcharakter auf. Denn der Mittelbegriff
In den meisten Bestimmungsversuchen ist eine weist in sich eine reflexive Komponente auf: »Für
zentrale Dualität festzustellen: als ›Technik‹ werden sich gesehen sind Gegenstände oder Ereignisse keine
zum einen hergestellte Artefakte wie Maschinen, Mittel« (Hubig 2002, 10 f.). Der Mittelcharakter er-
Werkzeuge und Infrastrukturen verstanden, zum schließt sich nur reflexiv aus dem Kontext als Be-
anderen aber auch geregelte Verfahren wie chirurgi- standteil einer Zweck-Mittel-Relation, die Interpre-
sche Operationstechnik, mathematische Beweis- tationen und ggf. auch Umdeutungen ausgesetzt ist.
technik oder auch Techniken des Musizierens oder Nicht nur wird neue Technik als Mittel zu vorab fest-
14 II. Grundbegriffe

gelegten Zwecken hergestellt, sondern es werden zu schen im Unterschied zum Gewordensein des Na-
vorhandenen Techniken auch neue Zwecke erfun- türlichen. Dabei kann z. B. auch nach der Rolle des
den, und es kommt zu Zweckumwidmungen. So wie Gewordenen (z. B. natürlicher Ressourcen) im tech-
es verschiedene Mittel zu dem gleichen Zweck geben nisch Gemachten gefragt werden. Diese Unterschei-
kann, kann der gleiche technische Gegenstand Mit- dung wurde von Günter Ropohl angesichts der
tel zu unterschiedlichen Zwecken sein. Die hand- großen und weiter zunehmenden Eingriffstiefe des
lungstheoretische Struktur des Technikbegriffs ist Menschen in die Natur – nach der z. B. Landschaften
daher viel reicher als es das einfache Zweck-Mittel- ebenso Merkmale menschlichen Eingriffs aufweisen
Bild suggeriert. Technikentwicklung und -einsatz wie gezüchtete oder genetisch veränderte Lebewe-
weisen grundsätzlich über die ursprünglich inten- sen – zur These von der Technik als Gegennatur ver-
dierten Zweck-Mittel-Relationen hinaus und bergen schärft (Ropohl 1991).
vielfach sogar ein Überraschungspotential. Innerhalb des Bereichs der Artefakte wird häufig
Daher ist eine ontologische Einteilung der Welt in eine Unterscheidung zwischen dem instrumentellen
technische und nichttechnische Einheiten nicht (Werkzeug-)Charakter von Technik und dem Selbst-
möglich. Stattdessen kann etwas als Technik oder als zweckcharakter der Kunst vorgenommen. Eine
etwas anderes thematisiert werden, und in diesen Waschmaschine und ein Bronzeguss von Ernst Bar-
Thematisierungen kommt es zu Zuschreibungen des lach sind beide Artefakte, werden jedoch üblicher-
Attributs ›technisch‹ (Grunwald/Julliard 2005). An weise in Kunst und Technik unterschieden. Kunst-
den Gegenständen oder Verfahren wird »das Tech- werke sind zwar Artefakte, dienen jedoch der ästhe-
nische« durch die Identifikation von Zweck-Mittel- tischen Anschauung und nicht dem instrumentellen
Zusammenhängen bestimmt. Diese als Technik be- Einsatz für ihnen selbst äußere Zwecke. Gleichwohl
stimmten Gegenstände und Verfahren ist dann zeigt sich der Technikbegriff als Reflexionsbegriff
Technik »zu etwas«. In einem anderen Kontext kann auch hier, denn diese Zuschreibungen sind nicht on-
der betreffende Gegenstand z. B. nicht als Technik, tologisch an den beiden Gegenständen festzuma-
sondern als Kunstwerk, als persönliches Andenken chen: die Bronzestatue kann durchaus als techni-
oder als Ware thematisiert werden. Daher ist der sches Gerät verwendet werden, z. B. um einen Ein-
Technikbegriff kein Sammelbegriff über einzelne brecher niederzuschlagen, und die Waschmaschine
Techniken, sondern stellt einen Reflexionsbegriff dar könnte ein Element in einer modernen Kunst-Instal-
(Janich 2001, 151 f.). Die Reflexion kann auf ver- lation sein.
schiedene Weise erfolgen: als Differenzbestimmung Eine andere, lebensweltlich häufig verwendete
durch unterscheidende Abgrenzung der Technik Unterscheidung lässt besser an den Adjektiven tech-
von Nichttechnik, als Funktionsdeutung durch An- nisch/nichttechnisch erläutern. Es geht um die ›tech-
gabe von (z. B. anthropologischen) Funktionen der nische Rationalität‹, die vielfach, allerdings wenig
Technik, durch Bestimmung ihres Ortes in Hand- spezifisch, mit Kontrollierbarkeit, Berechenbarkeit,
lungskontexten und Kulturen und durch den Bezug Kosten-Nutzen-Denken und kühler Logik assoziiert
auf Reproduzierbarkeit und Regelhaftigkeit. wird. Gegenübergestellt wird ihr die Welt der Emoti-
onen, der Empathie, der Spontaneität und der Über-
raschungen. Gelegentlich wird an dieser Stelle ein
Differenzbestimmungen Gegensatz zwischen der ›kalten‹ Welt des Techni-
schen und der Wärme des Humanen hergestellt.
Durch Unterscheidungen werden Einschließungs- Technikeinsatz im Gesundheitssystem ist hier ein
und Ausgrenzungsverhältnisse definiert: spezifische geeignetes Beispiel. So wird im erstgenannten Sinn
Differenzen (differentiae specificae) zwischen dem in moderne Medizin gelegentlich als technisch-ratio-
Bezug auf den jeweiligen Technikbegriff Ein- und nale ›Apparatemedizin‹ abqualifiziert und mehr
dem Ausgeschlossenen sind zu bestimmen und ge- menschliche Zuwendung und Empathie angemahnt.
ben die Perspektive an, in der diese Unterscheidung
gemacht wird. Ihnen liegt jeweils ein spezifisches Er-
kenntnis- und Unterscheidungsinteresse zugrunde. Funktionsdeutungen
Eine klassische differentia specifica ist die bereits
erwähnte, auf Aristoteles zurückgehende Unter- Funktionszuschreibungen geben Antworten auf Fra-
scheidung zwischen technisch (künstlich) und na- gen, was Technik leistet, wofür sie unverzichtbar ist
türlich. Sie reflektiert das Gemachtsein des Techni- und was ihr spezifischer Beitrag zu historischen
1. Technik 15

oder kulturellen Verläufen ist. Hierbei geht es nicht tes oder des Weltgeistes (Friedrich Dessauer), bzw.
um die Funktionen einzelner technischer Gegen- zur Idee der materiellen Freiheit. José Ortega y Gas-
stände und Verfahren, sondern abstrahierend um set sieht Technik als »Anstrengung, Anstrengung zu
Funktionen ›der Technik‹. Dies kann z. B. in anthro- sparen« (1978, 24). Kulturpessimistische Deutungen
pologischer Perspektive bzw. in soziologischem oder hingegen befürchten in unterschiedlichen Variatio-
ökonomischem Erkenntnisinteresse erfolgen, in de- nen eine aufkommende oder bereits eingetretene
nen der Technik abstrakt eine Funktion und damit Vormacht der Technik oder des technischen Den-
Bedeutung in den jeweiligen Theorien und Diszipli- kens über den Menschen. Beispielsweise sieht Gün-
nen zugeschrieben wird. ther Anders (1956) den modernen Menschen hilf-
Die Deutung der Technik als anthropologische und aussichtslos hinter seinen eigenen technischen
Notwendigkeit geht von der Prämisse des Menschen Geschöpfen herlaufen, gegenüber denen er bereits
als Mängelwesen aus (Gehlen 1962; Ortega y Gasset hoffnungslos antiquiert sei. Martin Heidegger
1978; s. Kap. IV.A.3). Technik dient danach der Per- (1953) sieht Technik in der Moderne als Ausdruck
fektion des Menschen und kompensiert dessen un- der existenziellen Situation des modernen Men-
vollkommene natürliche »Grundausstattung«. Sie ist schen, in der alles zum ›Gestell‹ werde. Herbert Mar-
Organersatz, Organverlängerung und Organüber- cuse, auf dem Boden der Kritischen Theorie (s. Kap.
bietung (Kapp 1978). Technik ist Konkretisierung IV.A.6), diagnostiziert das Aufkommen ökono-
und Objektivierung von Körperfunktionen. Sie er- misch-technischer Systeme, die die Menschen in-
laubt in weitestem Sinn die Weltbemächtigung, in- strumentalisieren und unterjochen, und gegen die
dem sie unvollkommene Handlungsmöglichkeiten es nur die Verteidigung durch eine, freilich sehr un-
des Menschen ergänzt. Dabei wird sowohl die Funk- spezifisch gehaltene ›große Weigerung‹ gebe (1967).
tion der Technik zur Erweiterung der individuellen Freilich ist zu allen diesen Deutungen nicht nur
Fähigkeiten des Menschen gesehen als auch ihr Bei- zu sagen, dass sie mit starken Voraussetzungen und
trag in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht. Interpretationen operieren (Lenk 1973), sondern
Auch Kulturtechniken wie Schrift und Sprache und auch, dass sie in der Regel zum Begriffsverständnis
die staatliche Organisationsform werden als Funkti- von ›Technik‹ wenig beitragen. Denn um Funktio-
onsbestandteile der technischen Kultur bezeichnet nen, seien es intendierte oder sich erst allmählich in
(Kapp 1978). der historischen Entwicklung zeigende, zu bestim-
In soziologischer Perspektive wird Technik vorwie- men, muss vorab bereits eine Bestimmung von
gend als Medium der Kommunikation aufgefasst ›Technik‹ erfolgt sein. Diese bleibt jedoch in fast al-
(z. B. Halfmann 1996, 109–147). Demnach dient die len derartigen Deutungen intransparent.
Technik der Entlastung von fortwährender Refle-
xion auf den Sinn alltäglicher Handlungen. Routine-
bildung und daran anschließende Kommunikatio- Technik als Medium
nen reduzieren Kontingenz und eröffnen Anschluss-
möglichkeiten. In ökonomischer Perspektive wird die Gegenwärtig wird Technik vielfach als Medium
Funktion von Technik als wesentlicher gesellschaft- (Gamm 2002; Hubig 2006), z. B. als »instrumentelles
licher Produktivkraft betont (zur Marxistischen Vermittlungsverhältnis von Gesellschaft und Natur«
Technikphilosophie s. Kap. IV.A.2), die in geschichts- (Krämer 1982, 10) begriffen (s. Kap. IV.A.8) oder,
philosophischen Konzeptionen wiederum aufge- Ernst Cassirer (1985) folgend, als Form menschli-
nommen wird, um Gedanken über die Zukunft der chen Handelns (Gutmann 2003, 54 ff.) diskutiert.
menschlichen Entwicklung anzustellen (z. B. Bloch Technik ist danach Medium der Weltaneignung
1934). (z. B. durch Werkzeuge), aber simultan auch eine
Geschichts-, kultur- oder sozialphilosophische Funk- Form menschlichen Handelns, die bestimmte As-
tionsbestimmungen stellen ›die Technik‹ in den Zu- pekte des Verhältnisses des individuellen Handelns
sammenhang der menschlichen Zivilisationsent- zur Gemeinschaft thematisiert, insbesondere im
wicklung. Die ältere Technikphilosophie, wie bei Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktion. Die
Ernst Zschimmer (1914) und Friedrich Dessauer Deutung von Technik in der Perspektive der klassi-
(1926) prägt eine optimistische bis euphorische Hal- schen Theorie der Zweckrationalität im Rahmen ei-
tung gegenüber den Möglichkeiten der Technik: ner Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung wird dabei
Technik wird im Extremfall zur »Selbsterlösung« des überschritten. Technik stellt nicht mehr ein En-
Menschen bzw. zum Ausdruck des göttlichen Geis- semble technischer Artefakte und Verfahren dar,
16 II. Grundbegriffe

sondern eben ein Medium, mit dessen Möglichkei- begriff als Reflexionsbegriff auf die Reichweite die-
ten, aber auch in dessen Grenzen und Restriktionen ses Geltungsbereichs verstanden werden, wobei das
die individuellen wie gesellschaftlichen Prozesse ›Ideal des Technischen‹ auf der Seite maximaler In-
stattfinden und Rückwirkungen wiederum auf die- varianz liegt (Grunwald/Julliard 2005). In diesem
ses Medium haben. Sinne nimmt die Unterscheidung des Technischen
Die Ausgangsbeobachtung ist, dass Technik eine vom Nicht-Technischen den Bogen vom historisch-
systemische, die gesamte Lebenswelt des Menschen singulären Einmaligen (nichttechnischen) bis zum
umspannende und prägende Dimension ausgebildet beliebig oft und streng Reproduzierbaren in den
habe. Der Mensch begegne nicht mehr einzelnen Blick und fragt nach der Position eines gerade be-
technischen Artefakten als solchen, sondern bewege trachteten spezifischen Handlungskontextes in die-
sich in einer technisch grundlegend präformierten sem Kontinuum.
›Zweiten Natur‹ oder in einer ›technologischen Tex- Diese Deutung des Technikbegriffs ermöglicht es,
tur‹ (Grunwald/Julliard 2005). Die Metapher der den Blick weit über die ›Ingenieurtechnik‹ hinaus
Textur bezeichnet ein Geflecht von Interdependenz- auf die Funktionen und Ambivalenzen ›des Techni-
beziehungen, die einerseits gesellschaftliche Praxen schen‹ in Kultur und Gesellschaft zu richten. Die
und andererseits materielle und soziale Techniken Wiederholbarkeit von Handlungsschemata, z. B. in
umfassen. Bei Infrastrukturtechniken kann die Ver- Verfahren, und das Reproduzieren von Zuständen
webung soweit gehen, dass ihre Auslösung aus der sind unzweifelhaft ein Element technischer Arte-
gesellschaftlichen Praxis nicht mehr möglich ist, fakte, in Herstellung, Nutzung und Entsorgung. Re-
ohne den Lebensvollzug einer Gesellschaft insge- gelhaftigkeiten sind jedoch auch in sozialen Kontex-
samt zu gefährden. Die Rede vom Internet als dem ten etabliert. Institutionen stellen geregelte Hand-
›Nervensystem‹ der modernen Gesellschaft ist ein lungszusammenhänge dar, die Verlässlichkeit und
aktuelles Beispiel dieser Verwebung. Das Ubiquitous Erwartungssicherheit erzeugen. Insofern die Refle-
Computing (s. Kap. V.25), die Schaffung einer Welt, xion auf das Technische in Handlungen und Ent-
in der wir von Technik umgeben sind, ohne diese scheidungen auf Regelhaftigkeiten bezogen wird,
noch zu bemerken, wäre in gewisser Weise eine Voll- thematisiert sie Verlässlichkeiten, Berechenbarkei-
endung des Gedankens einer zweiten, d. h. vollstän- ten und Erwartungssicherheiten als Grundlagen ko-
dig technisch gewordenen Natur. operativen Handelns (Claessens 1993). Regeln des
Handelns, sei dies im Zusammenhang mit inge-
nieurhafter Technik oder in Form regelgeleiteter
Technik als Reflexion Institutionen, entlasten davon, ständig in jeder
auf Regelhaftigkeit Situation von Grund auf neu über Handlungsmög-
lichkeiten, Handlungsnotwendigkeiten und Hand-
Technische Artefakte und Verfahren einschließlich lungsrationalität nachdenken zu müssen.
der daran anschließenden menschlichen Hand- Regelhaftigkeit ist allerdings ambivalent. Einer-
lungsweisen sind durch ein hohes Maß an Regelhaf- seits bedarf die Sicherung kultureller Vollzüge der
tigkeit und Reproduzierbarkeit geprägt. Regelhaftig- Regelhaftigkeit, andererseits kann letztere eine Be-
keit ist ein zentrales Merkmal des Technischen. drohung von Freiheit und Individualität werden.
Technische Regeln prägen Entwicklung und Herstel- Das Regelhafte bzw. Geregelte muss mit dem (histo-
lung von Technik und sind zentrales Element der risch) Einmaligen und den Möglichkeiten, außer-
Wissensweitergabe in Technikwissenschaften und halb etablierter Regeln zu operieren, in einer ausge-
Handwerk. Regeln prägen aber auch den Gebrauch wogenen Balance stehen. Widerstand gegen Technik
von Technik, z. B. durch Bedienungsanleitungen ist häufig nicht bloß Widerstand gegen technische
oder aus der Erfahrung im Umgang mit konkreten Artefakte, sondern verweist auf einen Grundzug
Artefakten heraus. Diese Regeln sind mehr oder we- menschlicher Gesellschaften: auf die Ambivalenzen
niger kontextabhängig. Der Grad der Universalität zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Sponta-
der Regeln des technischen Funktionierens sagt et- neität und Regelhaftigkeit, zwischen Planung als Er-
was aus über Situationsinvarianz oder Kontextab- öffnung von Handlungsoptionen und einer ›Verpla-
hängigkeit entsprechender Zweck-Mittel-Relatio- nung‹ als Schließung von Optionen.
nen. Technische Regeln und die Regeln des Ge-
brauchs von Technik sind gültig in je einem
Geltungsbereich. Entsprechend kann der Technik-
1. Technik 17

Technik, Technikwissenschaften Literatur


und Naturwissenschaften Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I:
Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revo-
Moderne Technik ist aus handwerklichen Anfängen lution. München 1956.
entstanden. Technikentwicklung wurde seit dem Banse, Gerhard/Grunwald, Armin/König, Wolfgang/Ro-
pohl, Günter (Hg.): Erkennen und Gestalten. Eine Theorie
19.  Jahrhundert rasch verwissenschaftlicht, vor al- der Technikwissenschaften. Berlin 2006.
lem in den neu gegründeten Technischen Hoch- Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1934.
schulen mit eigenen Ausbildungsgängen und später Cassirer, Ernst: Form und Technik. In: Ders.: Symbol, Tech-
mit einem eigenen Doktortitel. Die Verwissenschaft- nik, Sprache. Hamburg 1985, 39–90.
lichung erlaubte eine systematische Zusammen- Claessens, Dieter: Das Konkrete und das Abstrakte: soziolo-
gische Skizzen zur Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993.
schau des Wissens, eine erhebliche Verbesserung Dessauer, Friedrich: Philosophie der Technik. Das Problem
seiner Weitergabe und eine effizientere Erforschung der Realisierung. Bonn 1926.
neuer technischer Möglichkeiten. Gamm, Gerhard: Technik als Medium. Grundlinien einer
Vielfach wird die These geäußert, Technik sei an- Philosophie der Technik. In: Ders.: Nicht Nichts. Frank-
furt a. M. 2002, 275–307.
gewandte Naturwissenschaft und folge in ihren tech- Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
nischen Realisierungen dem naturwissenschaftli- in der Welt. Frankfurt a. M./Bonn 71962.
chen Erkenntnisprozess. Diese These impliziert so- Grunwald, Armin: Technisches Handeln und seine Resul-
wohl eine zeitliche als auch eine logische Reihenfolge tate. Prolegomena zu einer kulturalistischen Technik-
von Erkennen und Gestalten. Sie ist jedoch nicht philosophie. In: Dirk Hartmann/Peter Janich (Hg.): Die
kulturalistische Wende. Frankfurt a. M. 1998, 177–223.
haltbar (Banse et al. 2006). Zwar sind naturwissen- – /Julliard, Yannick: Technik als Reflexionsbegriff – Über-
schaftliche Erkenntnisse für die Technikwissenschaft legungen zur semantischen Struktur des Redens über
wichtig und unverzichtbar, aber dies gilt auch um- Technik. In: Philosophia naturalis Jg. 42 (2005), 127–157.
gekehrt (s. Kap. IV.A.5). Die Naturwissenschaften Gutmann, Mathias: Technik-Gestaltung oder Selbst-Bil-
dung des Menschen? Systematische Perspektiven einer
sind keine kontemplative Versenkung in die Natur,
medialen Anthropologie. In: Armin Grunwald (Hg.):
sondern bestehen aus experimentellem, intervenie- Technikgestaltung zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
rendem und manipulierendem Handeln, das ohne Berlin u. a. 2003, 39–69.
Technik nicht denkbar ist. Ein Extrembeispiel sind Halfmann, Jost: Die gesellschaftliche Natur der Technik. Op-
die großtechnischen Anlagen der Elementarteil- laden 1996.
Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre [1953]. Neu-
chenphysik wie der Large Hadron Collider (LHC) am druck, Stuttgart 2002.
CERN. Unmittelbar erkennbar ist dies aber auch in Hubig, Christoph: Mittel. Bibliothek dialektischer Grundbe-
den modernen Biowissenschaften und in der medi- griffe. Bd. 1. Bielefeld 2002.
zinischen Forschung. Daher besteht zwischen Tech- – : Die Kunst des Möglichen. Grundlinien einer Philosophie
nik und Naturwissenschaft kein einseitiges, sondern der Technik, Bd. 1: Philosophie der Technik als Reflexion
der Medialität. Bielefeld 2006.
generell ein Wechselverhältnis (Banse et al. 2006). Janich, Peter: Logische Propädeutik. Weilerswist 2001.
In der neueren Diskussion wird häufig darauf Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur
hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Na- Entstehung der Cultur aus neuen Gesichtspunkten
tur- und Technikwissenschaften zusehends proble- [Braunschweig 1877]. Neudruck Düsseldorf 1978.
Krämer, Sibylle: Technik, Gesellschaft und Natur. Versuch über
matisch wird. Die Abhängigkeit des naturwissen- ihren Zusammenhang. Frankfurt a. M./New York 1982.
schaftlichen Fortschritts von der Verfügbarkeit kom- Lenk, Hans: Zu neueren Ansätzen der Technikphilosophie.
plexer Technik nimmt zu, z. B. im Hinblick auf die In: Hans Lenk/Simon Moser (Hg.): Techne Technik Tech-
immer größeren Anforderungen an die rasche Erhe- nologie. Pullach 1973, 198–231.
bung, Verarbeitung, Auswertung und Speicherung Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Neuwied/
Berlin 1967.
riesiger Datenbestände. Umgekehrt sind die Tech- Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie. Freiburg/
nikwissenschaften immer stärker auf enge Koopera- München 1978.
tion mit den Naturwissenschaften und auf den dor- Ropohl, Günter: Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grund-
tigen Fortschritt angewiesen, vorwiegend im Be- legung der Allgemeinen Technologie. Frankfurt a. M. 1979.
– : Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphiloso-
reich der sogenannten new and emerging science and
phie. Frankfurt a. M. 1991.
technology (NEST). Entsprechende Forschungsfel- Ortega y Gasset, José: Betrachtungen über die Technik.
der wie die Nanotechnologie und die Synthetische Stuttgart 1978.
Biologie werden vielfach, einem Vorschlag von Zschimmer, Ernst: Philosophie der Technik. Vom Sinn der Tech-
Bruno Latour folgend, als Technowissenschaften nik und Kritik des Unsinns über die Technik. Jena 1914.
(technosciences) bezeichnet. Armin Grunwald
18 II. Grundbegriffe

2. Risiko eindeutig. Zunächst wird ›Risiko‹ häufig in einer


umfassenden Bedeutung gebraucht, um Entschei-
dungssituationen zu kennzeichnen, in denen eine
Begriffsgeschichte mögliche Handlung ex ante, also zum Entschei-
dungszeitpunkt, zu mindestens zwei verschiedenen
Der Risikobegriff ist in modernen Gesellschaften all- Konsequenzen führen kann, wobei ex post nur eine
gegenwärtig. Risiken bzw. risikobehaftete Handlun- dieser möglichen Konsequenzen tatsächlich eintre-
gen sind ganz selbstverständlich Bestandteil der all- ten kann. Zudem muss das situationsbezogene Ent-
täglichen Praxis. Ein Blick in die Begriffsgeschichte scheiden bzw. Handeln eines Akteurs entweder für
verdeutlicht, dass dies nicht immer der Fall war, son- die Realisierung oder aber für Art oder Ausmaß
dern dass ›Risiko‹ bzw. das Attribut ›risikobehaftet‹ mindestens einer der Konsequenzen relevant sein.
als Bezeichnung einer Kategorie von Handlungen Die potentiellen Ergebnisse einer so beschriebenen
oder Handlungsweisen ein neuzeitliches Phänomen Risikosituation, also die möglichen Konsequenzen,
ist, das in traditionalen Gesellschaften entweder un- können dann qualitativ (als Nutzen oder Schaden)
bekannt oder doch nur in sehr viel geringerem Maße und gegebenenfalls auch quantitativ (in der Höhe
verbreitet war. Mit dem Auftreten des Risikobegriffs des Nutzens oder im Ausmaß des Schadens) spezifi-
als Kategorie der Handlungsbeschreibung ging die ziert werden. Auch kann jeder dieser möglichen
Ablösung vormoderner Denkmuster einher. Konsequenzen – zumindest prinzipiell und ggf. nur
Als von anderen Arten der Unsicherheitswahr- approximativ  – jeweils eine positive Eintrittswahr-
nehmung unterscheidbarer Begriff ist ›Risiko‹ spätes- scheinlichkeit zugeordnet werden. Wesentlich da-
tens am Ausgang des Mittelalters, d. h. im frühen bei ist, dass die einzelnen Eintrittswahrscheinlich-
14. Jahrhundert, in den italienischen Handelsstädten keiten der Konsequenzen jeweils geringer als 1 sind,
bzw. Stadtstaaten nachweisbar (vgl. Bonß 1995, 49). wobei die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller
Der Risikobegriff stand hier in enger Verbindung mit möglichen Konsequenzen 1 sein muss. Eine derart
dem zeitgenössischen Fern- und insbesondere See- beschriebene risikobehaftete Entscheidungssitua-
handel, der zu damaliger Zeit ein weitaus unsichere- tion ist somit folgendermaßen definiert: Mindestens
res Unterfangen war als heutzutage. Die Bezeichnung eine der Entscheidungsalternativen ist über Ein-
des Verlusts von Handelsgütern als ›Risiko‹ ist inso- trittswahrscheinlichkeiten mit mehr als einer Kon-
fern bemerkenswert, als damit implizit die Position sequenz verbunden. Unter diesen umfassenden Be-
eines rationalen Akteurs eingenommen wird, der die griff des Risikos fallen also alle unsicheren Entschei-
Unwägbarkeiten der wirtschaftlichen Aktivitäten dungssituationen, das heißt alle Entscheidungen
nicht mehr als schicksalhaft hinzunehmende Ereig- unter Unsicherheit.
nisse, sondern als (mehr oder weniger) kalkulierbare Der Risikobegriff wird aber auch in einem deut-
Unsicherheiten betrachtet. Die mit dem Risikobegriff lich engeren Sinne verwendet, wobei zwei Weisen
gegebene Einordnung von Ungewissheiten als prinzi- dieser Verengung unterschieden werden können.
piell planbare Größen setzte ein bestimmtes Natur- Zum einen wird ›Risiko‹ insofern als ein spezifischer
und Selbstverständnis voraus, »das für die Vormo- Fall von Unsicherheit aufgefasst, als eine ›risikobe-
derne cum grano salis untypisch bis befremdlich« haftete‹ Entscheidungssituation sich dadurch aus-
(Bonß 1995, 51) war. Seit den ersten Nachweisen des zeichne, dass sämtliche Wahrscheinlichkeiten mög-
Risikobegriffs in der italienischen Handelsschifffahrt licher Konsequenzen präzise zu benennen seien. In
ist eine enge Verbindung zwischen Risiko und ratio- einer solchen Differenzierung zwischen Unsicher-
naler Handlungsplanung gegeben, die – gewisserma- heit und Risiko verbirgt sich allerdings eine wahr-
ßen als Vorbote eines neuzeitlichen Rationalitätsver- scheinlichkeitstheoretische Problematik, weil diese
ständnisses – die Bedeutung von Erklärungsmustern Unterscheidung bei Zugrundelegung eines subjekti-
wie Schicksal oder anderen nicht kalkulierbaren Ein- vistischen oder personalistischen Wahrscheinlich-
flussgrößen für den Handlungserfolg zurückdrängte. keitsbegriffs keinen Sinn macht.
Der Risikobegriff wird in einem zweiten Sinne
verengt, wenn er sich lediglich auf solche Konse-
Semantik quenzen einer unsicheren Entscheidungssituation
bezieht, die als schädlich bewertet werden. Damit
So verbreitet die Rede von Risiken in der Gegenwart einher geht in der Regel eine Gegenüberstellung der
ist, die Bedeutung des Begriffs ›Risiko‹ ist nicht Begriffe ›Risiko‹ und ›Chance‹. Die Risiken einer
2. Risiko 19

Entscheidungssituation kennzeichnen dann ledig- ein Risiko nur in Verbindung mit Entscheidungen
lich Unsicherheiten hinsichtlich derjenigen mögli- bzw. Handlungen konkreter Akteure bestehen kann.
chen Konsequenzen, die negativ bewertet werden. Bestimmte potentielle Konsequenzen sind nur dann
Unsichere Konsequenzen einer Entscheidungsalter- als Risiken zu qualifizieren, wenn sie entweder durch
native, die positiv bewertet werden, werden demge- das Handeln von Akteuren hervorgerufen werden,
genüber unter dem Begriff der Chance subsumiert. oder aber wenn das Wissen um sie die Möglichkeit
Ein Beispiel dieser Begriffsverwendung ist etwa die schafft, die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung
Thematisierung der ›Chancen und Risiken der Gen- oder aber das Ausmaß ihrer Folgen durch entspre-
technologie‹. chendes Handeln zu beeinflussen. Risiken haben
Gegen eine Verengung des Risikobegriffs auf den demnach stets einen Entscheidungs- bzw. Hand-
Spezialfall einer über die Angabe exakter Werte für lungsbezug. Dies ist jedoch nicht in dem Sinne zu
Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten in quanti- verstehen, dass die Risiken, denen sich eine Person
tativer Hinsicht vollständig beschreibbaren Ent- ausgesetzt sieht, lediglich auf die Handlungen dieser
scheidungssituation spricht zunächst, dass ein sol- Person bezogen sein können und dass andernfalls
ches Vorgehen den Risikobegriff bei konsequenter von Gefahr zu sprechen wäre (anders: Luhmann
Anwendung fast vollständig aus der Lebenswelt ver- 1991, 117). Allerdings schließt es der Akteursbezug
drängen würde. Eine resultierende Risikotheorie von Risiken aus, beispielsweise das Eintreten be-
würde nur eine sehr begrenzte praktische Relevanz stimmter Naturkatastrophen als solche als Risiko zu
entfalten und wäre gezwungen, den Großteil unse- werten: »Das Risiko erwächst aus Entscheidungssi-
res alltäglichen Sprachgebrauchs abzulehnen. Wird tuationen, nicht aus der – isoliert gedachten – Mög-
der Risikobegriff hingegen als allgemeine Bezeich- lichkeit des Eintretens ungewisser, zufälliger Ereig-
nung eines Kontinuums unsicherer Entscheidungs- nisse. Aus dem möglichen Eintritt etwa einer Natur-
situationen zwischen den Extremen ›reines Risiko‹ katastrophe als solcher folgt noch keinerlei Risiko.
und ›vollständige Ungewissheit‹ aufgefasst, so stellt Erst mit dem möglichen Hineinwirken eines solchen
die versicherungsmathematische Formel [Risiko = Ereignisses in den Entscheidungsvorgang […]
Schadenswert x Eintrittswahrscheinlichkeit] den Ex- kommt das Risiko zur Entstehung« (Philipp 1967,
tremfall des ›reinen Risikos‹ dar. 6). So ist es beispielsweise nicht sinnvoll, undifferen-
Wie die Formel zeigt, ist die Beschränkung des ziert von einem Erdbebenrisiko zu sprechen. Die
Risikobegriffs auf negativ bewertete mögliche Kon- Entscheidung hingegen, in einem Gebiet mit be-
sequenzen insbesondere dann anzutreffen, wenn Ri- kannt starker seismischer Aktivität zu bauen oder
siko als in quantitativer Hinsicht vollständig be- ganz allgemein auf eine Anpassung der eigenen,
schreibbarer Extremfall unsicherer Konsequenzen d. h.  der individuellen oder kollektiven bzw. politi-
betrachtet wird. Im Hinblick auf eine rationale schen Praxis im Hinblick auf dieses Wissen zu ver-
Handlungsbewertung erscheint es allerdings nicht zichten, ist als riskant zu bezeichnen.
sinnvoll, von einer risikobehafteten Entscheidung zu Da nicht alle potentiellen Konsequenzen, die aus
sprechen, wenn diese nicht in Verbindung mit einem einer Risikosituation resultieren können, notwendi-
wie auch immer gearteten Vorteil steht. Wird also gerweise lediglich das Individuum oder das Kollektiv
davon ausgegangen, dass Risiken auf die Entschei- betreffen, das als Urheber dieses Risikos betrachtet
dungen von Akteuren zurückzuführen sind, so be- werden kann, sondern vielmehr einige Konsequen-
dingt dieser Akteursbezug, dass eine rationale Risi- zen den Risikourheber, andere hingegen unbeteiligte
koentscheidung das Ergebnis einer Abwägung von Dritte treffen können, ist eine weitere Differenzie-
Nutzen und Schaden darstellt, wobei mindestens rung zur Markierung des Bereichs normativer Risiko-
eine dieser zu bewertenden Konsequenzen mit Unsi- theorie sinnvoll: Risiken sind zu unterscheiden in
cherheit behaftet ist. Wo rationale Akteure Risiken individuelle und übertragene. Mit ersteren sind solche
eingehen, bestehen immer auch Chancen – zumin- Risiken gemeint, die ein Individuum selbst eingeht,
dest aus der Perspektive des Akteurs zum Entschei- ohne dass irgendwelche Externalitäten entstehen.
dungszeitpunkt. Risiken werden vernünftigerweise Wird vorausgesetzt, dass es Individuen als Ausdruck
um der Chancen willen eingegangen (s. Kap. IV.C.7). ihrer Autonomie grundsätzlich frei steht, Risiken für
Ein umfassender Risikobegriff trägt dem Ak- sich selbst einzugehen, so sollten lediglich solche
teursbezug von Risiken sowie dem weiten lebens- Risikosituationen Gegenstand der ethischen Refle-
weltlichen Bereich risikobehafteten Handelns Rech- xion sein, in denen die potentiellen oder sicheren
nung. Der Akteursbezug von Risiken besagt, dass Kosten risikobehafteter Entscheidungen bzw. Hand-
20 II. Grundbegriffe

lungen nicht vollständig bei dem Entscheider anfal- Ein weiterer Begriff, der in normativen Debatten
len, die also Externalitäten aufweisen. Im normativen um Risiko regelmäßig präsent ist, ist der eines ›Rest-
Sinne relevante Risiken sind somit dadurch gekenn- risikos‹. In seinem als »Kalkar I« bezeichneten
zeichnet, dass sie Externalitäten aufweisen: Einzelne Beschluss vom 8. August 1978 über die Zulässigkeit
Individuen oder Kollektive haben Risiken zu tragen, der Genehmigung eines Kernkraftwerks vom Typ
ohne als deren (Mit-)Urheber gelten zu können. »Schneller Brüter« auf der Grundlage von § 7 des
Aufgrund seiner starken Rezeption darf hier ne- »Gesetzes über die friedliche Verwendung der Kern-
ben den bereits erwähnten soziologischen Beiträgen energie und den Schutz gegen ihre Gefahren«
Wolfgang Bonß’ und Niklas Luhmanns nicht der (AtomG) äußerte sich das Bundesverfassungsgericht
Verweis auf die Risikogesellschaft Ulrich Becks ausdrücklich auch zur Frage eines von der allgemei-
(1986) fehlen. Allerdings ist kritisch anzumerken, nen Risikoabwägung zu unterscheidenden Restrisi-
dass Beck sich dort einer überzeugenden Begriffs- kos. Im Unterschied zu einer Sichtweise zeitgenössi-
arbeit enthält und nicht mit einer klaren und ana- scher Soziologen, wonach der Risikobegriff dazu
lytisch einsichtigen Terminologie operiert. Sein diene, Ungewissheiten in Gewissheit zu überführen,
Verständnis von Risiko ist infolge einer in der zeitge- stellte das Gericht dabei zunächst fest, dass die Exis-
nössischen Soziologie weit verbreiteten rationalitäts- tenz eines Restrisikos keineswegs zu verwechseln sei
kritischen Haltung mit der hier dargestellten Sicht- mit der Inkaufnahme eines Restschadens. Zwar lasse
weise weitgehend unvereinbar. das Gesetz Genehmigungen von Kernkraftanlagen
auch dann zu, »wenn die Wahrscheinlichkeit eines
künftigen Schadens nicht mit letzter Sicherheit aus-
›Gefahr‹ und ›Restrisiko‹ zuschließen ist« (BVerfGE 49, 89 [137]), jedoch sei
das Maß an Unbestimmtheit, das bei solchen Risiko-
Eine klare Abgrenzung der Begriffe ›Risiko‹ und beurteilungen verbleibt, insofern unvermeidlich, als
›Gefahr‹ spielte in der umfänglichen Literatur zur es in der Natur des menschlichen Erfahrungswis-
Risikoforschung lange Zeit keine nennenswerte Rolle sens begründet liege. Dementsprechend hieße es
(vgl. Luhmann 1991, 31). Die Unterscheidung zwi- die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens zu
schen entscheidungsbezogenem Risiko und entschei- verkennen, vom Gesetzgeber solche Regelungen zu
dungsunabhängiger Gefahr sollte jedoch nicht – wie fordern, die im Zusammenhang mit der Zulassung
Luhmann dies tut  – subjektivistisch überhöht wer- und dem Betrieb technischer Anlagen jegliches
den. Denn in einem geteilten Handlungsraum ist es Schadenspotential mit absoluter Sicherheit aus-
keineswegs so, dass »die Risiken, auf die ein Entschei- schließen. Eine solche Forderung würde vielmehr
der sich einlässt […], zur Gefahr für die Betroffenen jede staatliche Zulassung und Nutzung von Technik
[dieser Entscheidung] werden« (ebd., 117). Dies verbieten: »Für die Gestaltung einer Sozialordnung
würde ja bedeuten, die Handlungen anderer Indivi- muß es insoweit bei Abschätzungen anhand prakti-
duen zu naturalisieren. Verantwortung als Grundlage scher Vernunft bewenden. […] Ungewißheiten jen-
ethischer Beurteilung wäre dann nicht mehr zuzu- seits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben
schreiben. Ein Risiko bleibt vielmehr auch dann ein ihre Ursache in den Grenzen des menschliche Er-
Risiko, wenn es der Entscheidung eines (beliebigen) kenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und inso-
anderen Akteurs in einem gemeinsamen Handlungs- fern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu
raum zugerechnet und diesem Akteur somit auch tragen« (BVerfGE 49, 89 [143]).
eine entsprechende Verantwortung zugeschrieben Als ›Restrisiko‹ lässt sich also derjenige Teil eines
werden kann. Die Alternative wäre eine faktische mit einer bestimmten Praxis verbundenen Risikos
Selbstaufhebung der Unterscheidung zwischen Ri- bezeichnen, der sich durch geeignete und in ihrem
siko und Gefahr und damit der Verlust ihres großen Umfang vertretbare Vorsichtsmaßnahmen nicht
analytischen Werts für die Risikoethik. In ethischer weiter verringern lässt, ohne die Praxis als Ganze
Hinsicht ist somit ›Gefahr‹ der Gegenbegriff zu aufzugeben. Gerade der Verweis auf das Ausschöp-
›Risiko‹. Eine Gefahr per se ist aus ethischer Perspek- fen aller vertretbaren und zur Risikominderung ge-
tive unerheblich, das Wissen um eine Gefahr kann eigneten Vorsichtsmaßnahmen verdeutlicht dabei,
jedoch eine risikobehaftete Entscheidungssituation dass die Existenz eines Restrisikos nicht in eins zu
hervorrufen. Der bereits zuvor erwähnte Fall eines setzen ist mit der Inkaufnahme eines Restschadens
Erdbebens bzw. des Wissens um die Wahrscheinlich- (zum Technikrecht s. Kap. VI.2, zum Vorsorgeprin-
keit seines Auftretens verdeutlicht dies. zip s. Kap. VI.3).
2. Risiko 21

Objektive und subjektive Risiken der Ereignistypen stößt man jedoch auf die in der
Wahrscheinlichkeitstheorie bekannte Referenzklas-
In der einschlägigen Literatur wird oft von subjekti- sen-Problematik. Letztlich ist also die vermeintlich
ven und objektiven Risiken gesprochen. Einem ein- unmittelbare empirische Beobachtung objektiver
flussreichen Vorschlag von Kaplan und Garrick zu- Wahrscheinlichkeiten Fiktion.
folge beziehen sich objektive Risiken auf die Häufig- Es ist daher sinnvoller, zwischen Ungewissheits-
keit, d. h. die objektive Wahrscheinlichkeit, mit der situationen, d. h. Situationen, in denen das Wissen
ein Ereignis eintritt. Alle anderen Fälle sind Fälle um Wahrscheinlichkeiten so marginal ist, dass sub-
von subjektivem Risiko (vgl. Kaplan/Garrick 1993). jektive Wahrscheinlichkeitszuschreibungen an Will-
Kaplan und Garrick gehen so weit zu behaupten, kür grenzen, und Situationen des reinen Risikos,
dass bei Häufigkeiten eine klare empirische Grund- d. h. Situationen, in denen Wahrscheinlichkeitszu-
lage gegeben sei und sie daher wissenschaftlich er- schreibungen als so wohlbegründet gelten, dass sie
fassbar seien, während dies beim subjektiven Risiko mit dem Vorliegen objektiver Wahrscheinlichkeiten
nicht der Fall sei, das deshalb als ein ›weicher Be- identifiziert werden, ein Kontinuum anzunehmen.
griff‹ aufgefasst wird. Auch in der Risikotheorie Es gibt in der Tat ein interessantes entscheidungs-
schlägt sich damit die verbreitete Dichotomie zwi- theoretisches Modell des Schweden Peter Gärden-
schen Objektivität auf der einen und weitgehender fors, das subjektive Wahrscheinlichkeiten als Ab-
Subjektivität auf der anderen Seite nieder. Demge- schätzung von objektiven Wahrscheinlichkeiten
genüber sind jedoch die meisten Ökonomen und bestimmt – wie immer diese objektiven Wahrschein-
Entscheidungstheoretiker der Auffassung, dass je- lichkeiten zustande kommen (vgl. Gärdenfors 1979).
denfalls im Idealfall einer rational handelnden Per-
son relativ strenge Auflagen dahingehend gemacht
werden können, welchen Rationalitätsbedingungen Risikorealität und Risikowahrnehmung
die subjektiven Wahrscheinlichkeitsannahmen die-
ser Person genügen müssen. Beispielsweise kann es Eng verbunden mit der Unterscheidung zwischen
bei sich wechselseitig ausschließenden Umständen subjektiven und objektiven Risiken ist die Frage, in
nicht sein, dass die Summe der subjektiven Wahr- welcher Beziehung Risikorealität und Risikowahr-
scheinlichkeiten 100 Prozent überschreitet. Die sub- nehmung zueinander stehen bzw. wie sich das sub-
jektiven Wahrscheinlichkeiten müssen vereinbar jektive Risikobewusstsein vor dem Hintergrund ei-
sein mit den Grundsätzen des Wahrscheinlichkeits- ner bestimmten Risikorealität äußert. Hier liegt es
kalküls, die seit den 1933 veröffentlichten Grundbe- zunächst nahe anzunehmen, dass in der Befragung
griffen der Wahrscheinlichkeitsrechnung von Andrej eine einfache Methode bereitsteht, um herauszufin-
N. Kolmogorov in axiomatischer Form vorliegen den, wie Personen Risiken einschätzen. Wenn eine
(vgl. Kolmogorov 1933). Einige gehen noch einen Person die Frage, für wie wahrscheinlich sie es hält,
Schritt weiter und behaupten, dass zwei Personen, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, beantworten
die beide rational sind und beide die gleichen Infor- und darüber hinaus auch angeben kann, für wie gra-
mationen bezüglich der Abschätzung eines Risikos vierend sie den möglichen Schaden hält, so liegt ein
haben, zur gleichen subjektiven Wahrscheinlich- vermeintlich klares Maß der subjektiven Risiko-
keitseinschätzung kommen müssten  – andernfalls wahrnehmung vor. Empirisch lässt sich jedoch fest-
sei mindestens eine von beiden irrational. stellen, dass diese Methode der Messung der Risiko-
Die auf Wahrscheinlichkeitszuschreibungen be- einschätzung im Vergleich mit einer anderen Me-
ruhende Zweiteilung in einen weichen Begriff des thode der Messung subjektiver Risikowahrnehmung
subjektiven Risikos auf der einen Seite und einen zu deutlich divergierenden Ergebnissen führt. Nach
harten Begriff des über Häufigkeiten definierten ob- dieser anderen Methode wird nicht berücksichtigt,
jektiven Risikos auf der anderen Seite ist jedoch pro- was Personen hinsichtlich ihrer Risikoeinschätzung
blematisch. So sind objektive Wahrscheinlichkeiten sagen, sondern wie sie in bestimmten unsicheren
nicht etwa über die gemessenen Häufigkeiten defi- Entscheidungssituationen handeln. In der (zumeist
niert, sondern Häufigkeiten sind lediglich ein Indi- englischsprachigen) entscheidungstheoretischen Li-
kator dafür, welche objektiven Wahrscheinlichkeiten teratur wird dieses Konzept revealed preference ge-
vorliegen. Auch setzt die Bestimmung relativer Häu- nannt: Eine Person zeigt (to reveal sth.: etw. auf-
figkeiten voraus, dass von Fall zu Fall der gleiche Er- decken) ihre Präferenzen in ihrem Entscheidungs-
eignistyp vorliegt. Bei der Bestimmung entsprechen- verhalten. Wenn dieser Person viele mögliche
22 II. Grundbegriffe

Alternativen mit unterschiedlichen Wahrscheinlich- 3. Sicherheit


keiten der Konsequenzen angeboten werden und sie
jeweils eine Entscheidung treffen muss, so können
ihr – im Falle kohärenter Präferenzen – eine subjek- Mit ›Sicherheit‹ wird  – beginnend in der Antike  –
tive Wahrscheinlichkeitsfunktion sowie subjektive ein Zustand der Gewissheit, der Zuverlässigkeit und
Bewertungen der Konsequenzen zugeordnet wer- des Unbedrohtseins erfasst. Bezog sich das zunächst
den. vorrangig auf die Verfasstheit von Individuen (im
Bei der Anwendung dieses Verfahrens, das aller- Sinne von animi securitas, d. h. ›Seelenfrieden‹), so
dings sehr schwierig umzusetzen und nur in be- wurde Sicherheit bald zu einer politischen Idee und
stimmten, vereinfachten Situationen durchführbar fand sich auch im wirtschaftlichen und finanziellen
ist, zeigt sich, dass bezüglich der Wahrscheinlichkei- Bereich. Seither wird ›Sicherheit‹ ubiquitär verwen-
ten und der Bewertung der Konsequenzen die Ein- det und  – abhängig vom Bezug  – vielfältig konno-
schätzung auf Befragung hin und die in Gestalt der tiert; sie ist zu einem zentralen Bezugspunkt
vorliegenden Handlungspräferenzen aufgedeckte menschlichen Denkens und Handelns geworden.
Einschätzung bisweilen weit auseinanderklaffen.
Damit ergibt sich eine doppelte Divergenz: zwischen
Risikorealität (soweit diese über relative Häufig- Sicherheit – zentraler Bezugspunkt in
keiten oder durch komplexere probabilistische Me- Gesellschaft, Wissenschaft und Technik
thoden zu bestimmen ist) und Risikowahrnehmung
einerseits sowie zwischen geäußerter Risikoein- Die Geschichte der Menschheit ließe sich schreiben
schätzung und aufgedeckter Risikowahrnehmung als Bestreben, Gefahr zu beseitigen bzw. zu minimie-
andererseits. Interessanterweise deuten empirische ren und so gleichzeitig Sicherheit zu erhöhen bzw. zu
Daten darauf hin, dass zumindest bei längerfristi- maximieren. Das menschliche Leben  – sowohl das
gem Umgang mit vertrauten Risiken die aufgedeckte der Gattung wie das der Individuen – ist von Anfang
Risikowahrnehmung der Risikorealität besser ent- an mit Gefahren verbunden. Die Gattung homo
spricht als die geäußerte Risikoeinschätzung. wurde bedroht durch eigene Artgenossen (genannt
seien Kampf, Krieg, Kriminalität und Ausbeutung),
Literatur durch die Natur (verwiesen sei auf Dürren, Über-
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
schwemmungen, Hunger und Seuchen) sowie  – in
Moderne. Frankfurt a. M. 1986. zunehmendem Maße – durch die Technik (etwa Un-
Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit fälle, Havarien und Umweltbeeinträchtigungen).
in der Moderne. Hamburg 1995. Deshalb ist ›Sicherheit‹ ein zentrales Konzept in Ge-
Gärdenfors, Peter: Forecasts, Decisions and Uncertain sellschaft, Wissenschaft und Technik, das zu unter-
Probabilities. In: Erkenntnis 14 (1979), 159–181.
schiedlichen Ausprägungen von ›Sicherheitserwar-
Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie
und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtomG). tung‹ sowie von ›Sicherheitsgewährung‹ bzw. ›-ge-
Hájek, Alan: Interpretations of probability. In: Edward N. währleistung‹ geführt hat und führt. Dieses Konzept
Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. wird von unterschiedlichen Begriffsauffassungen,
Stanford 2012, http://plato.stanford.edu/archives/sum Kommunikationsstrategien und kulturellen Aspek-
2012/entries/probability-interpret/ (20.04.2013).
ten geprägt. Individuell gewendet, schlägt es sich in
Kaplan, Stanley/B. John Garrick: Die quantitative Bestim-
mung von Risiko. In: Gerhard Banse (Hg.): Risiko und einem zunehmenden Sicherheitsbedürfnis nieder;
Gesellschaft. Opladen 1993, 91–124. gesellschaftlich spiegelt es sich beispielsweise in ei-
Kolmogorov, Andrej N.: Grundbegriffe der Wahrscheinlich- ner forcierten Sicherheitspolitik wider. Sowohl die
keitsrechnung. Berlin 1933. Erwartung an als auch die Herstellung von Sicher-
Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin 1991. heit in allen Bereichen der Lebenswelt sind all-
Philipp, Fritz: Risiko und Risikopolitik. Stuttgart 1967.
Ramsey, Frank P.: Truth and probablity. In: Richard B. gegenwärtig. Man denke etwa – um die Vielfalt an-
Braithwaite (Hg.): F. P. Ramsey: Foundations of Mathe- zudeuten  – an Versicherungen, Rechtsvorschriften,
matics and other Logical Essays. London 1931, 156–198. Warnhinweise, Schutzvorrichtungen, Genehmi-
Julian Nida-Rümelin und Johann Schulenburg gungsverfahren und Armeen.
Man kann davon ausgehen, dass das Streben nach
Sicherheit eine zumindest abendländische Tradition
ist, die Sicherheit als menschliches »Urbedürfnis«
(vgl. z. B. Bachmann 1991), als »Menschenrecht«
3. Sicherheit 23

(vgl. z. B. Robbers 1987, 27 ff.), als »Wertidee hoch- handlungsleitenden Wertvorstellungen technischer
differenzierter Gesellschaften« (vgl. z. B. Kaufmann Welterzeugung einen herausragenden Platz ein.
1970) versteht. Damit ist als Konsequenz verbunden, Technisches Wissen und technisches Handeln zielen
zivilisatorische Risiken und Unsicherheiten (ver- auf funktionierende Technik, haltbare Bauwerke (s.
standen als Unwägbarkeit und Unkalkulierbarkeit Kap. V.6), geistvolle Vorrichtungen und effektive
zukünftigen Geschehens) weitgehend zu vermeiden, Verfahren. Funktionsfähigkeit, Zuverlässigkeit und
auszuschalten bzw. ganz oder teilweise auszuglei- Sicherheit technischer Sachsysteme sowie ein ge-
chen, indem sie auf ›große Solidargemeinschaften‹ fährdungsfreier Umgang mit ihnen waren und sind
oder ›breite Schultern‹ verteilt werden. Auf diese für technisches Handeln wichtige Zielvorstellungen.
Weise werden zwar nicht die lebensweltlichen Unsi- Eine der ältesten ›Unfallverhütungsvorschriften‹ ist
cherheiten beseitigt, es wird aber Vorsorge getroffen, wohl folgender Gedanke im 5. Buch Moses (22/8):
dass bei Eintritt eines Schadensereignisses der (oft- »Wenn Du ein neues Haus baust, so mache eine
mals nur finanzielle) Schaden selbst begrenz- und Lehne darum auf deinem Dache, auf daß Du nicht
ertragbar bleibt. Diese »Versicherungs-Gesellschaft« Blut auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfiele.«
(vgl. Ewald 1989, 1993) ist dadurch charakterisiert, Die Geschichte der Technik kennt aber genügend
dass man sich im Verlustfall oder gegenüber den Beispiele versagender Technik, einstürzender Bau-
Folgen unvorhergesehener Ereignisse gegenseitig werke, nichtfunktionierender Vorrichtungen und
stützt. Sicherheit ist jedoch keine feststehende uneffektiver Verfahren, kurz, Versagens- und Stör-
Größe, und vollständige (›hundertprozentige‹) Si- fälle, Pannen und Havarien unterschiedlichster Di-
cherheit ist nicht erreichbar. Insofern kann sich ›Si- mension und Auswirkungen. Tschernobyl, Bhopal,
cherheit‹ rasch als »destruktives Ideal« (Strasser Seveso und Fukushima stehen dafür als Beispiele der
1986) erweisen, zumal, wenn das vorhandene Si- Gegenwart mit katastrophalen Folgen. Sicherheit
cherheitsniveau nicht ausreichend reflektiert und und Beherrschbarkeit sowie Wissen über Schadens-
mögliche Gefahren unzureichend berücksichtigt erwartungen und Folgewirkungen werden auf viel-
werden. fältige Weise angestrebt, denn bei technisch beding-
Durch ihre Ubiquität ist Sicherheit ein zentraler ten Unfällen »wird vor allem der Verlust von Kon-
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Sicher- trolle über solche Zusammenhänge erfahren, deren
heit ist ein Versprechen, und gerade moderne, hoch- Beherrschung man angenommen hatte« (Vester
technisierte Gesellschaften versuchen zunehmend, 1988, 746). Bisher nicht bekannte oder bislang unbe-
dieses auch über Technik einzulösen. Allerdings ist rücksichtigt gebliebene Eigenschaften und Verhal-
›Sicherheit‹ ein schillernder Begriff mit verschiede- tensweisen von Systemen und ihren Elementen,
nen Bedeutungen (vgl. Kaufmann 1973, 67 ff.; er- Randbedingungen für Funktionsfähigkeit und Be-
gänzt um [d]): triebssicherheit, ungeprüfte oder unüberprüfbare
(a) ›Sicherheit‹ als Geborgenheit Annahmen hinsichtlich Funktionszusammenhän-
(b) ›Sicherheit‹ als Selbstsicherheit gen oder Belastungsfähigkeiten (etwa in extremen
(c) ›Sicherheit‹ als Systemsicherheit (das heißt Situationen) sowie Inkompatibilitäten im Mensch-
herstellbare, berechenbare Mittel für beliebige Maschine-System werden im Unfall schlagartig ak-
Zwecke) tualisiert. Da Technik so immer Unsicherheit in sich
(d) die Verlässlichkeit von Mensch-Maschine-Inter- birgt, wird durch unterschiedliche Wissenschafts-
aktionen disziplinen und mit verschiedenen Methoden Ursa-
chen, Wirkungen und Wahrscheinlichkeiten von
Wenn das Folgende – eingeschränkt – von Technik- Havarien und Schadensfällen sowie ihren Verläufen
sicherheit handelt, dann ist das ein Bereich, der vor ebenso nachgegangen wie Möglichkeiten ihrer Ver-
allem (c) und (d) zuzuordnen ist. hinderung bzw. Limitierung.
Im Zusammenhang mit der Verbesserung der Si-
cherheit technischer Systeme entwickelte sich im Be-
Techniksicherheit reich des technischen Wissens ab Mitte des 19. Jahr-
hunderts eine entsprechende Forschung – vor allem
Die Sicherheit technischer Handlungsvollzüge und vor dem Hintergrund gravierender Havarien und
technischer Hervorbringungen als weitgehender technischer Katastrophen, die als man-made-Ge-
Ausschluss von oder bewusster Umgang mit (mögli- fährdungen erkannt wurden. Sie hatte (und hat) zur
chen) Gefährdungen für ›Schutzgüter‹ nimmt in den Aufgabe, Gefährdungen ermöglichende Quellen zu
24 II. Grundbegriffe

identifizieren und Maßnahmen zur Minderung Das ›Herstellen‹ von Sicherheit ist in diesem Ver-
oder  – besser  – Beseitigung zu entwickeln und zu ständnis Überwindung nicht-handhabbarer Zusam-
verwirklichen. Die Schlagwetterexplosionen im menhänge (zum Beispiel in Form von Kontingenz
Bergbau und die großen Eisenbahnunglücke kon- und Ambiguität), deren Überführung in handhab-
frontierten die Öffentlichkeit des 19.  Jahrhunderts bare, strukturierte, ›systemische‹ Formen, womit  –
erstmalig mit dem Phänomen des technischen Mas- um Wolfgang Bonß zu zitieren – »aus einem Univer-
senunfalls. Die eigentliche ›Schule‹ der Sicherheits- sum denkbarer Möglichkeiten bestimmte Möglich-
technik im 19.  Jahrhundert waren jedoch Bau und keiten als handlungsrelevant ausgewählt, andere
Betrieb von Dampfkesseln bzw. deren häufige und hingegen als irrelevant ausgeblendet werden« (Bonß
folgenschwere Explosionen. Nach Frankreich erfolgt 1997, 24). Solche Aktivitäten wie das Aufweisen ei-
in Preußen 1831 eine Dampfkesselgesetzgebung, nes möglichen Ereignis- oder zukünftigen Zustands-
die, dem französischen Vorbild folgend, im Kern be- spektrums, das Ermitteln von Eintrittshäufigkeiten,
reits das gesamte Instrumentarium einer sicherheits- das Ableiten von Erwartungswerten, das Abwägen
technischen Spezialgesetzgebung umfasste (Sonnen- von Aufwand und Nutzen oder die Kalkulation von
berg 1985, 9). Zu den Dampfkesseln kamen alsbald ›Gewinnen‹ und ›Verlusten‹ (nicht allein im mone-
Hochöfen, Chemie-Fabriken, Energieerzeugungsan- tären Sinne) dienen der zielgerichteten Einfluss-
lagen, Fahrzeuge und Aufzüge hinzu. Technische nahme und produktiven Handhabung (›Beherr-
Überwachungsvereine (zur Entstehung des TÜV schung‹) von Unbestimmtheit. ›Mehrdeutigkeit‹
s.  Kap. III.2), Materialprüfanstalten, verbindliche wird auf diese Weise nicht in erster Linie in ›Eindeu-
Normen und Standards waren die Folge. Insgesamt tigkeit‹ überführt, ›Zufälligkeit‹ nicht auf ›Notwen-
zielten diese Aktivitäten sowohl darauf, »durch die digkeit‹ zurückgeführt  – obwohl das nicht ausge-
Bestimmung von Eigenschaften und des menschli- schlossen ist –, sondern als ›eindeutig‹ und ›wohlbe-
chen Handelns die von den Gegenständen ausge- stimmt‹ gefasst und behandelt. Auf diese Weise wird
henden Gefahren und ihre Realisierung in Schäden vor allem ein methodischer Gewinn erzielt, erlaubt
zu verhindern« (Lukes 1982, 11), als auch ein Regel- doch diese ›Idealisierung‹ und ›Reduzierung‹ (die
system im Umgang mit industriell erzeugten Unsi- allerdings immer auch eine ›Ausblendung‹  – mög-
cherheiten und Gefährdungen zu etablieren. licherweise relevanter Zusammenhänge o. Ä. – ist!)
Im Zusammenhang mit Technik signalisiert Si- die Anwendung spezifischer Methoden und ermög-
cherheit die Abwesenheit von Gefahr für Leib und licht (erst) einen rationalen Zugriff auf Situationen
Leben. Wenn Gefahr eine Lage bedeutet, »in der bei unvollständiger Information (s. Kap. IV.C.7).
ungehindertem Ablauf des Geschehens ein Zustand In diesem Kontext ist letztlich darauf zu verwei-
oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrschein- sen, dass die ›Herstellung‹ von Sicherheit in sich am-
lichkeit zu einem Schaden für die Schutzgüter der bivalent ist: Auf der einen Seite wird die Bandbreite
[…] Sicherheit […] führen würde« (Drews et al. und Variationsvielfalt des zukünftig Möglichen ein-
1986, 220), dann sind damit zwei wichtige Bestim- geschränkt (was einer faktischen Beschränkung von
mungsstücke für Sicherheit sichtbar gemacht: Ers- Freiheitsgraden und Wahlmöglichkeiten bedeutet);
tens bezieht sich Sicherheit auf etwas Zukünftiges, andererseits ist gerade die Schaffung und Gewähr-
auf einen Zusammenhang zwischen einer gegenwär- leistung dieser Sicherheit entscheidende Grundlage
tigen Lage und dem Ausschluss eines zukünftigen für die Stabilisierung von Verhalten und die Herstel-
Schadensereignisses. Zweitens erfasst Sicherheit den lung von Planungsmöglichkeit (zu Sicherheits- und
Ausschluss eines zukünftig nur möglichen Ereig- Überwachungstechnik s. Kap. V.22). Das Beispiel
nisse, dessen Eintritt weder gewiss noch unmöglich ›Videoüberwachung‹ macht diese Ambivalenz deut-
ist. Sicherheit zielt auf den Schutz vor Gefahren, die lich: Einerseits kann die Sicherheit gesteigert wer-
zukünftig auf- bzw. eintreten können, jedoch nicht den, wenn bestimmte (öffentliche wie private) Stel-
zwangsläufig müssen. Ziel bleibt die Erhöhung von len oder Einrichtungen videoüberwacht sind (›Ab-
Sicherheit, mithin die Überwindung von Unsicher- schreckung‹, Erhöhung der Aufklärungsrate von
heit und Risiko. Das kann sowohl bedeuten, dass Straftaten sowie Verbesserung der ›gefühlten‹ Si-
Gefahren tatsächlich abgeschafft bzw. reduziert wer- cherheit), andererseits bestehen die Möglichkeiten
den, als auch, dass sich veränderte Sicherheitsüber- der Einschränkung oder der Verletzung der Privat-
zeugungen oder gar -fiktionen im Sinne der »Umde- sphäre, der Erzeugung von Angst (vor dem ›Über-
finition und Verlagerung von Ungewissheit« (Bonß wachungsstaat‹) und der Verhaltensanpassung (weil
1997, 23) herausbilden. man sich ›beobachtet‹ fühlt).
3. Sicherheit 25

Technisches Handeln lungen sowie die Neigung von Individuen, auf


und (Un-)Sicherheit stereotype Deutungsmuster, bekannte Lösungen
und eingeübte Vorgehensweisen zurückzugreifen,
Technisches Handeln umfasst die Mensch-Technik- bis zu  verschiedenen individuellen und sozialen
Beziehungen vom Entwurf neuer Technik über ihre Blockierungen, z. B. in Form von mangelnder Selbst-
funktionsgerechte Herstellung bis zur sachgemäßen kontrolle, physischer oder psychischer Überbean-
Bedienung und Handhabung. Dabei sind sowohl ko- spruchung, Prestige-, Macht-, ökonomische Verwer-
gnitive als auch normative Probleme zu berücksich- tungs- u. a. Interessen, Delegierung von Entschei-
tigen. Kognitive Probleme ergeben sich daraus, dass dungen an Außenstehende oder Inkompetente.
aus ex post-Analysen nicht direkt auf Zukünftiges Normative Problemsituationen und damit Her-
geschlossen werden kann, dass die Erfassung mögli- ausforderungen an Technikethik resultieren in erster
cher Folgen und die Entscheidung über mögliche Linie aus dem Umstand, dass gegenwärtige wie vor
Handlungsstrategien stets unter Unsicherheit (d. h. allem zukünftige Technik auf menschliche Zielset-
infolge subjektiv begründeten Nichtwissens) und/ zungen, Entscheidungen und Handlungen zurück-
oder unter Ungewissheit (d. h. infolge objektiv vor- gehen, in denen bewusst oder unbewusst Werte und
handenen Nichtwissens) erfolgt, so dass die sachli- Wertvorstellungen, Hoffnungen, Erwartungen, An-
chen Voraussetzungen und die praktischen Folgen forderungen, ›Randbedingungen‹ u. Ä. zum Aus-
einer technikbezogenen Handlung oder Entschei- druck kommen. Da in vielen Phasen der Technikge-
dung nicht umfassend bestimmbar sind. Daraus er- nese und ihrer (sozio-)kulturellen, (sozio-)ökono-
gibt sich, dass infolge nicht-eleminierbarer Unbe- mischen und (sozio-)politischen Einbettung zumeist
stimmtheiten immer nichtvorhergesehene, mit dem mehrere Varianten und unterschiedliche Realisie-
gegenwärtigen Wissens- und Nichtwissensstand rungswege sowie unterschiedliche Vorstellungen
nicht vorauszubedenkende Ereignisse oder Verhal- über Zukünftiges nicht nur möglich, sondern auch
tensweisen technischer Objekte auf- bzw. eintreten sehr wahrscheinlich (und real!) sind (zu Technik als
können. Da auch der Grad dieser Unbestimmtheit soziale Konstruktion s. Kap. IV.A.10), müssen stän-
oftmals nicht genau abschätzbar ist, wird bereits dig Entscheidungen mit Blick auf das weiterhin Rea-
beim technischen Entwurf mit einem (zumeist em- lisierbare bzw. zu Realisierende gefällt werden. Da-
pirisch durch technisches Handeln ermittelten) ›Si- bei werden die häufig differierenden Sichtweisen,
cherheitszuschlag‹ gearbeitet. Er ist notwendig, um Interessen und Wertvorstellungen der Akteure der
das technische System »gegen ganz unvorhergese- Technikentwicklung, der Betreiber und Nutzer so-
hene Belastungen sowie gegen die Einflüsse der Un- wie weiterer (direkt und indirekt) Betroffener rele-
genauigkeiten der für eine statische Berechnung nö- vant, die die Gegenläufigkeit verschiedener Anfor-
tigen vereinfachenden Annahmen« sicher zu ma- derungen und damit die Notwendigkeit deutlich
chen (Liebmann et al. 1920, 332). Analoges gilt auch machen, mögliche Alternativen, unterschiedliche
für die Sicherheitsfaktoren oder Sicherheitsbeiwerte Entwicklungspfade und differierende Wertvorstel-
der Werkstofffestigkeit bzw. des Werkstoffverhaltens lungen frühzeitig zu bedenken. Das schließt u. a. ein,
sowie für die Sicherheitsaufschläge bei Grenzwert- ethische Probleme der Güterabwägung zu lösen (vor
bildungen für die Belastung mit Gefahrstoffen. allem Maßstäbe, Kriterien und Zeithorizonte).
Eingeschlossen darin ist die Ebene des techni- Bei der Wahl einer ›angemessenen‹ Handlungsal-
schen Handelns, sind die Mensch-Technik-Bezie- ternative ist zu berücksichtigen, dass sich oftmals
hungen, die den Entwurf neuer Technik, ihre funkti- unterschiedliche Ziele für und/oder Anforderungen
onsgerechte Herstellung sowie die sachgemäße Be- an Sicherheitslösungen entgegenstehen können
dienung und Handhabung umfassen. Hierbei geht es (›Zielkonflikte‹). Ein höheres Sicherheitsniveau
vor allem um die Fähigkeiten und Fertigkeiten des kann sich etwa negativ auf die Wirtschaftlichkeit
Menschen als Produzent (von der geistigen Antizi- (Kosten), die Bedienerfreundlichkeit oder die Ak-
pation bis zur technologischen Realisierung) und als zeptabilität der entsprechenden Lösung auswirken.
Konsument bzw. Nutzer technisch-technologischer Beispielsweise ist eine Tür mit mehreren unter-
Systeme. Die damit verbundenen vielfältigen per- schiedlichen Schlössern und dazugehörenden
sonen- und systembezogenen Gefährdungen und Schlüsseln umständlicher zu öffnen als wenn sie nur
Risikosituationen reichen von subjektiven Wahr- mit einem Schloss gesichert ist, und eine sechs- oder
nehmungs- und manuellen Handhabungsfehlern achtstellige PIN bringt zwar einen Sicherheitsge-
über das Nichtbeachten von Vorschriften und Rege- winn, lässt sich wohl aber schwerer als die jetzige
26 II. Grundbegriffe

vierstellige merken. Verwiesen sei auch auf den Be- genen Logik oder ihrer eigenen Interessen zu funkti-
reich der Informationstechnik mit der Kontroverse onieren […] ohne sich zu destabilisieren« (Perrow
zwischen Sicherstellung des (individuellen) Rechts 1989, 131).
auf informationelle Selbstbestimmung und der Die Perrowschen Überlegungen verweisen auf
(staatlichen) Pflicht zur Kriminalitätsvorbeugung eine Grenze technisch herstellbarer Sicherheit, die
und -bekämpfung (zur Informationsethik s. Kap. dann gegeben ist, wenn zusätzliche Komponenten
V.9, zu Sicherheits- und Überwachungstechnik im Mensch-Technik-System nicht die Sicherheit
s. Kap. V.22). Zentral ist somit die (auch ethisch rele- steigern, sondern – selbstreferentiell – ein mögliches
vante) Frage: Wie sicher ist sicher genug? neues Sicherheitsproblem durch zunehmende Kom-
Reduzierung, Limitierung oder Eingrenzung Ge- plexität schaffen: Ein beabsichtigtes Erhöhen der Si-
fahren verursachender Unbestimmtheit ist präventiv cherheit (vor allem) durch immer mehr Technik
möglich sowohl hinsichtlich der Eintrittswahr- führt in eine aussichtslose Spirale. Einzubeziehen
scheinlichkeit (ursachenorientiert) als auch des zu sind auch die Nutzer und deren Interaktion mit
erwartenden Schadensausmaßes (wirkungsorien- technischen Sachsystemen sowie das (rechtliche, so-
tiert) über technisch-organisatorische Maßnahmen, ziale, kulturelle etc.) ›Umfeld‹ der Technikherstel-
durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden lung. Die »Suche nach einer fehlerlosen Risikomini-
(z. B. durch die Schaffung von Systemstrukturen, die mierungsstrategie« (Wildavsky 1984) hat sich als Il-
ein ›Aufschaukeln‹ von Störfällen erschweren oder lusion erwiesen. Techniksicherheit besitzt also nicht
verhindern bzw. in denen Fehler keine katastropha- nur technische, sondern auch sogenannte ›nicht-
len Folgen nach sich ziehen) sowie durch die Aus- technische‹ Anteile und kann nur durch Einbezie-
prägung entsprechender Persönlichkeitseigenschaf- hung von Sozial- und Geisteswissenschaften ein-
ten auf der Grundlage umfassender Kenntnisse, Ein- schließlich der Technikethik realisiert werden.
sichten und Wertvorstellungen.
Der US-amerikanische Organisationssoziologe
Charles Perrow verweist indes auf strukturelle Zu- Ausblick
sammenhänge in Mensch-Technik-Interaktionen,
die die Möglichkeit (die ›Wahrscheinlichkeit‹) eines In den mit der Sicherheit technischer Hervorbrin-
Versagensfalls befördern (können). Diese sieht er in gungen und technischer Handlungsvollzüge befass-
spezifischen Formen sowohl von Interaktionen als ten wissenschaftlichen Disziplinen deutet sich all-
auch von Kopplungen in Mensch-Technik-Systemen mählich ein ›Paradigmenwechsel‹ an, den man als
gegeben. Bei den Interaktionen (sowohl zwischen den Übergang von der ›Illusion der Sicherheit‹ zu ei-
technischen Teilsystemen als auch zwischen diesen nem ›Management von Unsicherheit‹ bezeichnen
und Menschen) unterscheidet er (idealtypisch) zwi- kann. Veränderte forschungs- und handlungslei-
schen linearen und komplexen: Lineare Interaktio- tende Muster setzen sich allmählich durch, die vor
nen »treten im erwarteten und bekannten Betriebs- allem auf Einsichten in die Ambiguitäten von
ablauf auf oder sind für den Operator gut sichtbar, Mensch-Technik-Systemen gegründet sind. Stich-
auch wenn sie außerplanmäßig vorkommen«. Kom- worte sind vor allem: eine stärkere Berücksichtigung
plexe Interaktionen dagegen »sind entweder geplant, der Kontextabhängigkeit von Sicherheits- und
aber den Operateuren nicht vertraut, oder ungeplant darauf aufbauender Gefahrenabwehrbestimmun-
und unerwartet, und sie sind für das Bedienungs- gen, die Hinwendung zu Wahrscheinlichkeits- und
personal entweder nicht sichtbar oder nicht unmit- Possibilitätsmaßen unter Einbeziehung einer Zeit-
telbar durchschaubar« (Perrow 1989, 115). Bei den komponente sowie eine weitergehende Konzeptuali-
Kopplungen unterscheidet er (ebenfalls idealtypisch, sierung der Komplexität und Unvollständigkeit von
da es, wie bei den Interaktionen, mannigfaltige Aufgabenstellungen in Form von ›nicht-wohldefi-
Übergänge gibt) zwischen enger und loser Kopp- nierten‹ (wicked) Problemen.
lung: Enge Kopplung »ist ein technischer Begriff Aufbauend auf dem erreichten Stand der Sicher-
und bedeutet, daß es zwischen zwei miteinander heitsforschung, die sich vor allem auf Erkenntnisse
verbundenen Teilen kein Spiel, keine Pufferzone der Technikwissenschaften, der Psychologie und der
oder Elastizität gibt. Sämtliche Vorgänge des einen Arbeitswissenschaften stützt, bildet sich derzeit ein
Teils wirken sich unmittelbar auf die Vorgänge des breiteres Sicherheitsverständnis heraus, das in stär-
anderen Teils aus. Eine lose Kopplung ermöglicht es kerem Maße als bislang üblich kulturelle Aspekte
[…] bestimmten Teilen des Systems, gemäß ihrer ei- einschließt. Erwartet (und möglich) ist dadurch ein
3. Sicherheit 27

Zugewinn an Techniksicherheit bzw. – umgekehrt – setzungsmethoden. In: Gerhard Hosemann (Hg.): Ri-
eine Reduzierung von Gefahrenpotenzialen. Es siko  – Schnittstelle zwischen Recht und Technik. Berlin/
New York 1982, 11–43.
war – und ist teilweise noch – der Anspruch der (tra-
Perrow, Charles: Normale Katastrophen. Die unvermeidba-
ditionellen) Sicherheitsforschung, Unsicherheit und ren Risiken der Großtechnik. Frankfurt a. M./New York
Ungewissheit zu beseitigen. Vielfach ist dies gelun- 1989.
gen, und technische Lösungen wurden sicherer, zu- Robbers, Gerhard: Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte
verlässiger und gefahrloser. Vernachlässigt wurde der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grund-
indes, dass viele Überlegungen auf hypothetischen rechtsfunktion. Baden-Baden 1987.
Sonnenberg, Gerhard Siegfried: Historisches zur Sicher-
und Modellannahmen sowie auf einer eingeschränk- heitstechnik. In: Olaf H. Peters/Arno Meyna (Hg.):
ten Datenbasis gründeten, dass sich das Geschehen Handbuch der Sicherheitstechnik. Bd. 1. München/Wien
in der technischen Welt nicht nur nach Berechnun- 1985, 1–23.
gen und Simulationen richtet und das zukünftige Strasser, Johano: Sicherheit als destruktives Ideal. In: Psy-
›Verhalten‹ von Mensch-Technik-Systemen nur be- chologie heute (Mai 1986), 28–36.
VDI: Richtlinie 3780 »Technikbewertung  – Begriffe und
dingt prognostizierbar ist. Beinahe-Unfälle, Pannen, Grundlagen«. Düsseldorf (VDI) März 1991.
Havarien oder gar Katastrophen waren das Ergebnis. Vester, Heinz-Günter (1988): Die wiederkehrende Ver-
Hinzu kamen Einsichten einzelner Disziplinen (ver- gänglichkeit von Katastrophen. In: Universitas 7 (1988),
wiesen sei lediglich auf Psychologie und Arbeitswis- 745–756.
senschaften), die die Einlösbarkeit des ›Sicherheits- Wildavsky, Aaron: Die Suche nach einer fehlerlosen Risiko-
minimierungsstrategie. In: Siegfried Lange (Hg.): Er-
Paradigmas‹ infrage stellten und neue Denkanstöße mittlung und Bewertung industrieller Risiken. Berlin u. a.
und Lösungsmöglichkeiten für die Behandlung 1984, 244–234.
technischer Risiken und die ›Erzeugung‹ von (Tech- Gerhard Banse
nik-)Sicherheit nicht nur forderten, sondern (wenn
auch erst ansatzweise) vorlegten.
Der skizzierte Perspektivenwechsel kann die all-
mähliche Ausprägung eines ›Unbestimmtheits-Pa-
radigmas‹ genannt werden, für das der bewusste und
(ein-)geplante Umgang mit Unsicherheiten und Un-
gewissheiten der Technik infolge der Einsicht in de-
ren prinzipielle Unvermeidbarkeit charakteristisch
ist. Konsequenzen für das Verständnis von und den
Umgang mit Gefahren der Technik sind evident, bis-
lang allerdings in ihren  – auch technikethischen  –
Weiterungen kaum systematisch untersucht.

Literatur
Bachmann, Christian: Sicherheit. Ein Urbedürfnis als Her-
ausforderung für die Technik. Basel/Boston/Berlin 1991.
Bonß, Wolfgang: Die gesellschaftliche Konstruktion von
Sicherheit. In: Ekkehart Lippert/Andreas Prüfert/Gün-
ther Wachtler (Hg.): Sicherheit in der unsicheren Gesell-
schaft. Opladen 1997, 21–41.
Drews, Bill/Wacke, Gerhard/Vogel, Klaus: Gefahrenabwehr
II. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes
und der Länder. Köln 91986.
Ewald, Francois: Die Versicherungs-Gesellschaft. In: Kriti-
sche Justiz 4 (1989), 385–402.
– : Der Vorsorgestaat. Frankfurt a. M. 1993.
Kaufmann, Franz-Xaver: Sicherheit als soziologisches und
sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wert-
idee hochdifferenzierter Gesellschaften. Stuttgart 21973.
Liebmann, Heinrich/Lossow, Paul von/Steidle, Hans (Hg.):
Technischer Wortschatz. Stuttgart/Berlin 1920.
Lukes, Rudolf: 150 Jahre Recht der technischen Sicherheit
in Deutschland. Geschichtliche Entwicklung und Recht-
28 II. Grundbegriffe

4. Fortschritt Begriffsgeschichte
›Fortschritt‹ als Zuschreibung wird vielfach auch
Am Begriff des Fortschritt entzünden sich die meis- heute noch als gesetzesmäßig verlaufende Entwick-
ten Kontroversen, wenn es um die Frage geht, ob die lung in eine Richtung angesehen, in die sich die Ge-
Entwicklungen des technischen Wissens und Kön- schichte bewegen solle oder, wenn auch über Um-
nens, der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der wege, tatsächlich bewegt habe und bewegen wird
politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen (zur Begriffsgeschichte vgl. Ritter 1972; Rapp 1992,
nach den Totalitarismuserfahrungen und Havarien 73 ff.; Pollard 1968).
des 20. Jahrhunderts noch als Fortschritt zu bezeich- Ob in diesem Sinne der Fortschritt in die richtige
net werden können (Adorno 1964; Kuhn/Wide- Richtung gehe, bezweifelte schon Platon, da er jede
mann 1964). Wer definiert in einem Gemeinwesen, gesellschaftliche und soziale Änderung als eine Weg-
was schon oder noch als Fortschritt zu gelten habe? bewegung vom ursprünglichen Zustand des Golde-
Die Leitbegriffe des Fortschrittsgedankens sind nen Zeitalters ansah, d. h. jeder Fortschritt, da er
quantitatives und qualitatives Wachstum, d. h. quan- Veränderung ist, müsse ein Fortschreiten zum Ver-
titativ ein Mehr an extensiven Größen, die gesteigert fall der Gesellschaft sein (Politeia, 8. Buch, 545a ff.).
werden können und additiv sind. Dies setzt die Eher positiv gestimmt war Cicero, der über die aris-
Möglichkeit zum Vergleich voraus. Die zugehörigen totelische Hoffnung berichtet, die Philosophie werde
Adjektive finden sich auch in der Sprache der Re- in kurzer Zeit völlig zum Abschluss kommen (Tusc.
korde wieder: schneller, höher, tiefer, genauer, um- disp. III, 28, 69). Auch Seneca erwartete, dass noch
fangreicher. Eine fortschrittliche Entwicklung wird viel mehr unbekanntes Wissen den kommenden Ge-
verstanden als ein Mehr an Struktur, an größerem nerationen vorbehalten sein werde (Nat. quaest. Lib.
Reichtum erfüllbarer Funktionen, als die Steigerung VII, 25 u. 30).
von Effektivität und Effizienz, zuweilen auch als ein Die eher zyklische Geschichtsauffassung der An-
Mehr an Freiheitsgraden. Qualitativ bedeutet Fort- tike konnte keinen Fortschrittsbegriff entwickeln,
schritt durch Wachstum eine Zunahme an Möglich- der eine Entwicklung in einer bestimmten Ausrich-
keiten, an Potentialen; die Komparation drückt sich tung implizierte. Erst die christliche Theologie er-
aus mit Prädikaten wie besser, fortschrittlicher, ge- möglichte das Denken einer geraden Linie zwischen
eigneter, mächtiger, intensiver. Durch eine progres- Schöpfung und eschatologischer Erfüllung im Sinne
sive Entwicklung wird ein Umschlag von Quantität einer Heilsgeschichte. So spricht Augustinus von
in Qualität erhofft, man spricht von einem höherem der  fortschreitenden Erziehung des Menschenge-
Niveau und gesteigerter Komplexität. schlechts zu Gott hin (De civ. Dei XII, 14. MPL 41,
Dabei gibt es eine Doppelbedeutung des Fort- 362), was eine Distanz zwischen gestern und morgen
schrittsbegriffs, die anzeigt, dass sich Begriffe und schafft und der Zeit das Bild des Weges verleiht. Hier
deren Bedeutungen immer wieder im Laufe der ist Fortschritt noch deskriptiv, er beschreibt Ge-
Geschichte verändern, verschwinden oder neu ent- schichte, diese ist aber noch nicht mit Errungen-
stehen. Der allgemeine Begriff von Fortschritt wäre schaft oder den Leistungen des Menschen verbun-
mit der Vorstellung von Bewegung und Verände- den.
rung hin zu einem Zustand zu definieren, der im- Erst das Mittelalter schuf die Grundlage für einen
mer mit Hilfe eines Ziels oder eines Kriteriums fest- modernen Fortschrittsbegriff. Roger Bacon ging es
gelegt worden ist. Als historische Denkfigur ist darum, den Menschen die Angst vor den Maschinen
Fortschritt aber nur denkbar in einem zeitlichen zu nehmen  – sie seien keine Magie, sondern auf-
Horizont, und es müsste möglich sein zu sagen, was grund von Naturgegebenheiten möglich. Er greift
nicht Fortschritt ist. Ohne Bestimmung von Rück- die Vorstellung von Seneca auf, dass es künftiges
schritt bleibt der Begriff des Fortschritts leer. Vieles, Wissen gebe, das den heute Lebenden unbekannt ist,
was im 20.  Jahrhundert als Fortschritt angesehen die Nachkommen würden sich dereinst über die Un-
wurde, wird im 21. Jahrhundert als Rückschritt oder wissenheit der Altvorderen wundern (R. Bacon
Nicht-Fortschritt interpretiert. 1897, Bd. I, 6, 13 ff.). In seinen Projektionen und Zu-
kunftsvisionen sagte er die Verlängerung des Lebens
(R. Bacon 1909, Fasc. 9, 1 ff.), Flugmaschinen, selbst-
fahrende Wagen und Schiffe wie auch Unterseeboote
voraus (R. Bacon 1859, 523 ff.). Thomas von Aquin
4. Fortschritt 29

sieht eine Vermehrung des menschlichen Wissens dern dass immer wieder Revolutionen stattfinden,
mit der Zeit, da die Gründer einer Wissenschaft im- über die hinweg nicht von Fortschritt in einem un-
mer mangelnde Erkenntnisse gehabt haben müssen mittelbaren Sinne gesprochen werden kann. Die
(s. theol. II/II, q. 1, ad 7). Präzisierung dieser historischen Einsicht findet sich
Das Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen dann bei Wolfgang Stegmüller (1973): Eine Theorie
gab Anlass zu der Vermutung, dass die Leistungsfä- sei fortschrittlicher als eine andere, wenn die weni-
higkeit der menschlichen Vernunft unbegrenzt zu ger fortschrittliche oder alte Theorie als Spezialfall
steigern sei. Fortschritt als eine aus der Natur des der neuen hergeleitet werden kann. In der Physik
Menschen heraus von selbst stattfindende Entwick- dient u. a. die Newtonsche Mechanik als Beispiel  –
lung des Menschen und des Menschengeschlechts in man kann zeigen, dass man diese Theorie erhält,
die Richtung zum Besseren, Höheren, Vollkomme- wenn man in der Speziellen Relativitätstheorie die
neren (Schischkoff 1974, 183) wurde zum neuen Si- Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes gegen un-
gnet eines selbstbewussten Zeitalters, aus der die endlich gehen lässt. Niels Bohr (1985, 507), einer der
Moderne als Vernunftprojekt entsprang. So postu- Mitschöpfer der Quantentheorie, nannte dies das
lierte Immanuel Kant (1934, 611) »[…] die Tendenz Korrespondenzprinzip in der Physik. Man kann sol-
zum continuierlichen Fortschritt des Menschenge- che Korrespondenzbeziehungen auch in der Technik-
schlechts [als] […] eine moralisch-praktische Ver- entwicklung finden, d. h. alte Teiltechniken können
nunftidee«. in neuen Techniken durchaus Verwendung finden
Die Aufklärung glaubte auch an eine sich von und »funktionieren«. Dies ist eine Voraussetzung
selbst einstellende moralische Entwicklung von dafür, dass solche Entwicklungsmuster durch Kon-
Mensch und Gesellschaft – die Idee des Fortschritts vergenz von Technologien ergänzt werden können
verdichtete sich über den Optimismus von Gottfried (Kornwachs 2012, Kap. C).
Wilhelm Leibniz noch mehr bei Georg Wilhelm Der offenkundige Fortschritt der Wissenschaften,
Friedrich Hegel bis hin zum Prinzip des Weltgesche- wie auch immer definiert, spielte historisch die Rolle
hens überhaupt. Selbst Mao Tse-Tung übernimmt einer Leitidee für einen allgemeinen Fortschrittsbe-
diese Vorstellung direkt: »Die Welt schreitet vor- griff. Dieses allgemeine Fortschrittsdenken war ge-
wärts, die Zukunft ist glänzend, und niemand kann kennzeichnet durch eine progressive Auslegung des
diese allgemeine Tendenz der Geschichte ändern« historischen Prozesses: Wachsende Naturerkenntnis
(Mao 1968, Bd. IV). löste die traditionelle, religiös gebundene und über-
Der Fortschrittsbegriff ist uns heute wohl am ge- wiegend schriftlich fixierte Wissensautorität ab und
läufigsten in der Wissenschaft und Technik. Werner ersetzt sie durch Empirie. Der Natur wurden Fragen
Diedrichs (1974) sieht in der impliziten Unterstel- gestellt, auch wenn dies, wie bei Francis Bacon
lung ständigen Erkenntnisfortschritts eine Konse- (1966, 182 ff.), Fragen unter der Folter der Laborbe-
quenz aus dem sozialen Prozess der Wissensbegrün- dingungen sind, die sie zur Preisgabe ihrer Geheim-
dung und -korrektur durch ständige Kumulationen nisse zwingen sollen. Die Naturbeherrschung führte
und Revolutionen von Wissen – dies gilt zumindest zu einer für alle offenkundigen Verbesserung der
für die theoretischen und empirischen Wissenschaf- Daseinsverhältnisse, von der Hygiene über die Le-
ten (Kuhn 1979), dürfte aber auch für die techni- benserwartung bis zu gewissen zivilisatorischen An-
schen Erfahrungen gelten (s. Kap. IV.A.5). Bei Karl nehmlichkeiten und Sicherheiten. Der Fortschritt
Popper (1992) ist es die ständige Kritik an der Ratio- sei als eine Tendenz in der Geschichte zu beobachten
nalität des wissenschaftlichen Vorgehens, insbeson- und daher kaum zu bestreiten.
dere durch das Stellen der Methodenfrage, und nicht
eine autochthone Weltgeschichte, die das Wachstum
der Erkenntnis hervorruft. Vergleichbare Strukturen Systemische Grenzen des Fortschritts
sieht man in der Technik am Werk, insbesondere da,
wo Technik in Form von Technikwissenschaften Ge- Logistische Kurven stellen sich dann ein, wenn eine
genstand der Zuschreibung wird, Fortschritt zu sein Anstrengung, ein Ziel zu erreichen, mit der Annähe-
(Büchel 1981). rung an das Ziel immer größer ausfällt. Im Quali-
Die diachronische Wissenschaftstheorie, d. h. die tätswesen kennt man diesen Effekt sehr genau: um
Untersuchung der Theoriendynamik in den Wissen- eine Genauigkeit von 95 Prozent zu erreichen,
schaften, hat aber gezeigt, dass es keine eigentliche, braucht man etwa nur die Hälfte des Aufwandes,
sprich lineare, Akkumulation von Wissen gibt, son- den man für das Erreichen einer 99-prozentigen Ge-
30 II. Grundbegriffe

nauigkeit aufwenden müsste. Da der Aufwand nicht lung entsprechend an. Da jedoch die Kosten für das
beliebig gesteigert werden kann, ist klar, dass auch Wachstum der Rechenkapazität weniger schnell stei-
die erstrebte Genauigkeit erst recht nicht beliebig an- gen als für die apparative Ausstattung bei Test und
genähert werden kann. Experiment, verschieben sich die Bemühungen zu-
Nicholas Rescher (1982) hat den Fortschrittsge- nehmend auf die Seite der Simulation und der virtu-
danken unter dieser ökonomischen Sichtweise ana- ellen Tests.
lysiert. Sofern man wissenschaftlichen Fortschritt an Nun differenzieren sich Wissenschaft und Tech-
der Zahl der sogenannten Durchbrüche, also we- nik in verschiedene Felder aus, von denen einige
sentlicher Entdeckungen, revolutionierender Theo- auslaufen und sich andere neu entwickeln, bis auch
rien und überraschende Entdeckungen, messen sie ihren Sättigungsgrad oder einen nicht mehr ak-
kann, stellt man fest, dass diese Zahl pro Zeiteinheit zeptierbaren schlechten Wirkungsgrad erreicht ha-
abnimmt. Um wirklich etwas Neues zu finden, wird ben. Dann spricht man auch davon, dass in gewisser
gerade wegen des Fortschritts in der Wissenschaft Weise ein Feld abgeschlossen sei. Dort ist dann kein
der dafür erforderliche Aufwand immer größer – so- weiterer Fortschritt mehr zu erwarten. Innerhalb ei-
wohl in gerätetechnischer wie kapazitiver und per- nes Feldes haben wir jeweils Entwicklungen, die
soneller Hinsicht. Augenfälliges Beispiel ist die der- nach logistischen Kurven verlaufen. Die Frage ist, ob
zeit »Größte Maschine der Welt«, der Large Hadron dies für die Entwicklung des wissenschaftlichen und
Collider (LHC) in Genf, mit dessen Hilfe Elementar- technischen Fortschritts insgesamt gilt. Dies ist nach
teilchen, die das Bild der sogenannten Standardthe- wie vor offen.
orie der Materie vervollständigen könnten, nachge-
wiesen werden sollen. Mit anderen Werten – eine
Entdeckung vom Range der Relativitätstheorie wird Kritik am Fortschrittsbegriff
immer seltener und immer teurer. Nimmt man das
Bild der logistischen Kurve, dann folgt daraus, da Spätestens seit den Schlachtfeldern von Verdun wird
man den Aufwand nicht beliebig erhöhen kann, dass sichtbar, dass der technische – und hier in Sonderheit
der Quotient aus Ertrag der Forschung und dem der militärisch-technische – Fortschritt und das Be-
notwendigen Aufwand kleiner wird – der Fortschritt greifen des sozialen und gesellschaftlichen Fort-
der Wissenschaft verlangsamt sich. schritts nicht mit denselben Kategorien möglich ist.
Die Verlangsamung des wissenschaftlichen Fort- Den Versuch, die geeigneten Kategorien zu finden,
schritts hat eine Verlangsamung des technischen hat noch Karl Marx unternommen, auch wenn er
Fortschritts zur Folge. Der Grund besteht nach Ni- den Begriff des »Fortschritts« explizit gar nicht nennt
cholas Rescher darin, dass empirische Wissenschaft (s. Kap. IV.A.2). Für ihn war die Geschichte nicht
auf Technik im Labor, theoretische Wissenschaft auf eine Entwicklung zu immer jeweils besseren Zustän-
Rechenkapazität angewiesen ist. Wird jedoch die den, sondern eine Abfolge von Klassenkämpfen
Technik, die erforderlich wäre, immer teurer, weil (Marx/Engels 1981, MEW 462), die ihre Energien
aufwendiger, sinkt die Nachfrage nach ihr und damit aus den Widersprüchen in Gesellschaft und Produk-
auch ihre weitere Entwicklungsmöglichkeit. Umge- tionsweisen bezogen (Marx 1973 MEW 3, 30). Im-
kehrt kann sich die Wissenschaft aber nur so weit plizit steckt in diesem Bild der klassenlosen Gesell-
entwickeln, als ihr auch technische Möglichkeiten schaft ein zu erreichender Endzustand, der nur über
zur Verfügung stehen. Geht man in Erweiterung der einen mühseligen Weg erreicht werden kann.
Rescherschen Thesen davon aus, dass vorherge- Es war die klassische Fragestellung der idealis-
hende wissenschaftliche Erkenntnisse auch die tisch-romantischen Philosophie des 19.  Jahrhun-
Grundlage für die nachfolgende technische Ent- derts (s. Kap. III.1), ob nun eine Vorstellung von
wicklung darstellen, so folgt aus der Verlangsamung Fortschritt dadurch bedingt werde, dass dieser Fort-
des Fortschritts in der Wissenschaft auch eine Ver- schritt eben nur durch die Weiterentwicklung einer
langsamung der technischen Entwicklung. Es gab Idee vorzustellen sei. »Errungenschaften« wie Auf-
und gibt jedoch auch technische Entwicklungen, die klärung, Demokratisierung, Chancengleichheit,
von unmittelbar vorhergehenden wissenschaftlichen Wohlstandsvermehrung, mit denen sich immer
Erkenntnissen unabhängig betrieben werden bzw. schon Vorstellungen von geschichtlichem Fort-
die wissenschaftliche Begründung technischer Mög- schritt verknüpfte, lagen nach diesem Konzept einer
lichkeiten nicht abwarten. Allerdings steigt auch der sich entwickelnden Idee von Vernunft, Gleichheit,
Test- und Simulationsaufwand für solche Entwick- Gerechtigkeit und wohlverstandenen wahren Be-
4. Fortschritt 31

dürfnissen zugrunde. Will man also bei den natur- Zeitgenössische Interpretation
wissenschaftlichen Erkenntnissen, in der Technik,
den Produktionsweisen oder heute in den Bereichen Der Begriff wird heute vorwiegend normativ zur Be-
Gesundheit, Energie, Mobilität und Kommunika- urteilung von Entwicklungen oder Stadien verwen-
tion einen Fortschritt konstatieren, müsste man über det. Wissenschaftstheoretisch gesprochen stellt er
Maßstäbe und Vorstellungen verfügen. Diese müss- im modernen Kontext einen normativ-perspektivi-
ten zeigen, dass es eine sukzessive Annäherung an schen Begriff dar, der kennzeichnen soll, ob eine
die Realität in der Natur, an das Optimum in der Veränderung dahingehend stattgefunden hat, dass
Technik, an das Minimum an Belastung und Wider- sie mit den Interessen des so Urteilenden konve-
ständigkeit bei der Arbeit und an eine umfassende niert. Ist dies nicht der Fall, wird von »Rückschritt«
Befriedigung von Bedürfnissen gäbe. Auch die Fort- gesprochen.
schritte im Bereich der moralischen Freiheit, der Kritik am Fortschritt zu üben, gereicht mittler-
Freizügigkeit der vernünftigen Argumentation, der weile in einer gespaltenen Diskussion einerseits zum
förderlichen Organisationsformen bis hin zu den Lob, andererseits zum Vorwurf (s. Kap. III.5). Die
Fortschritten der Selbstbestimmung und der Men- Verknüpfung des Vorwurfs der Fortschrittsfeindlich-
schenrechte müssten dann hinsichtlich einer leiten- keit mit dem der Technikfeindlichkeit verbindet im-
den Idee, im Allgemeinen die der Aufklärung, der plizit den Fortschrittsbegriff reflexionslos mit der tat-
Vernunft und der Mündigkeit begriffen werden. sächlich stattfindenden technischen Entwicklung,
Insofern ist das Wortspiel »Idee des Fortschritts weiterhin unterstellt sie Kritikern einer bestimmten
als Fortschritt der Idee« geradezu ein Leitmotiv des Technikentwicklung (z. B. Kernkraft- oder Kohle-
Fortschrittgedankens gewesen. Allerdings war dann werke oder CO2-Verpressung), sich nicht aufgrund
jeder Zweifel, was denn Fortschritt sei, auch ein von rationalen Erwägungen gegen eine bestimmte
Zweifel am Rang und Gehalt dieser leitenden Idee. Technik zu stellen, sondern andere, sachfremde
Damit wurde Fortschrittskritik zur Ideenkritik und Gründe zu haben. Als derartige Gründe werden an-
zur Kritik der zugrunde gelegten, zumeist fraglos geführt: Man sei inkompetent, das segenreiche Poten-
übernommenen Werte (s. u.). Es wird an dieser tial einer solchen Technik zu erkennen, es gebe Vor-
Stelle klar, dass ein solch begründeter Fortschritts- behalte aufgrund eines ideologischen (ökologischen,
optimismus den Gedanken an eine Verantwortung weltanschaulichen, religiösen) Hintergrunds, man
für den Fortschrittsprozess nicht aufkommen lässt. verweigere sich, in einer durch ständigen technischen
Diese Vorstellung vom Fortschritt als festem Be- Fortschritt gekennzeichneten Gesellschaftsform le-
standteil des europäischen Weltbildes seit dem 18. ben zu wollen. Darunter fiel auch der Verdacht sys-
und 19.  Jahrhundert wurde im 20.  Jahrhundert in temkritischer Einwände wirtschaftlicher- und oder
eine Reihe inkommensurabler, d. h. gegenseitig un- kultureller Provenienz. Konnotiert wird auch heute
verträglicher Fortschrittsbegründungen aufgelöst. noch gelegentlich, dass es sich bei solchen Kritikern
Dem Gedanken des technischen Fortschritts als meistens um Personen handele, die einer modernen
einer säkularen Emanzipation vom Ausgeliefertsein Gesellschaft mit ihrem Leistungsdruck und Konkur-
an Natur- oder auch andere Gewalten widerspricht renz skeptisch gegenüberstehen und womöglich
eine Fortschrittsvorstellung, die heilsgeschichtlich staatliche Unterstützung oder gar eine wie auch im-
begründet ist und auf eine transzendente religiöse mer geartete parasitäre Existenzweise bevorzugten.
Sinngebung rekurriert. Den Verlusterfahrungen der Wenngleich dies leicht als Immunisierungsstrate-
Orientierung durch die Beschleunigung all unserer gie von Technologieproponenten erkennbar ist, so
technischen, ökonomischen und sozialen Vorgänge sind diese sowie auch die Argumente der Fort-
setzte ein bis in die 80er Jahre noch ungebrochener schrittskritiker normativ hoch aufgeladen. Es han-
Fortschrittsglaube die Einführung noch besserer delt sich dabei um eine Debatte, ob der Fortschritt
informationstechnisch unterstützter Orientierungs- wirklich ein Fortschritt sei, um die Frage, ob die als
systeme entgegen. Man glaubte, zu jedem Problem fortschrittlich bezeichneten Veränderungen mit den
eine naturwissenschaftlich-technische Lösung zu Interessen aller Beteiligten im Sinne des normativ-
haben. Eine etwas verunsicherte Technologiepolitik perspektivischen Begriffs wirklich konvenieren und
hat jedoch in den 1980er Jahren begonnen, sich damit ihnen das Urteil »Fortschritt« zugeschrieben
Frühwarnsysteme zur Orientierung in Form von  – werden kann.
wenngleich institutionell umstrittener – Technikfol- Fortschrittskritik erweist ist immer auch als Kul-
genabschätzung (s. Kap. VI.4) zuzulegen. turkritik, unabhängig davon, ob sie mit dezidierter
32 II. Grundbegriffe

Technikkritik verknüpft ist oder nicht (zu Kultur Bacon, Roger: Epistola de secretis operibus, artis et naturae
und Technik s. Kap. IV.C.4). Nicht jede Technikkri- et de nullitate magiae. In: Fr. Rogeri Bacon: Opera quaeda
hactenus inedita. Hg. von John S. Brewer. Bd. I. London
tik ist Fortschrittskritik, sie kann sich auch auf die
1859, 523 ff.
Verbesserung technischer Funktionalitäten bezie- – : Opus Maius. Hg. von John H. Bridges. 3 Bde. Oxford
hen, ohne die jeweilige Technik selbst in Frage zu 1897–1900.
stellen. Technikkritik, die gewisse großlinige Ent- – : Lib. (ep.) de retardatione accidentium senectus. In:
wicklungen zum Gegenstand hat, ist in der Regel Opera hactenus inedita. Hg. von Robert Steele. Oxford
dann doch Fortschritts- und Kulturkritik. 1909.
Bohr, Niels: Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Auf-
Die zugrundeliegenden gegensätzlichen Werte, sätze und Vorträge aus den Jahren 1930–1961. Braun-
die bei der Zuschreibung von Fortschritt oder Rück- schweig 1985.
schritt in Anschlag gebracht werden, spielen in der Büchel, Wolfgang: Die Macht des Fortschritts. Plädoyer für
Technikbewertung (VDI 1991; zur VDI-Richtlinie Technik und Wissenschaft. München 1981.
zur Technikbewertung s. Kap. VI.6) ebenso eine Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum (Tusculanae
disputationes, liber tertius). Übers. von Ernst A. Kirfel.
Rolle wie in der politischen Debatte. Die in der Me- Stuttgart 1997 [Tusc. disp.].
thode der Technikbewertung genannten Werte wie Diederich, Werner: Einleitung. In: Theorien der Wissen-
Gesundheit, Persönliche Entfaltung, Sicherheit, schaftsgeschichte  – Beiträge zur diachronische Wissen-
Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit etc. müssen – schaftstheorie. Hg. von Werner Diedrich. Frankfurt a. M.
methodisch gesehen – auf Kriterien und Indikatoren 1974, 7–51.
Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlaß. In: Kants Ge-
heruntergebrochen werden, um ihre Erfüllung beur- sammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie
teilen zu können; in der Formulierung von Kriterien der Wissenschaften. Bd. XIX. Berlin 1934.
drücken sich die Interessen der Beurteilenden meist Kornwachs, Klaus: Strukturen technologischen Wissens.
schon deutlich aus. Es zeigt sich, dass diese Werte in Analytische Studien zur einer Wissenschaftstheorie der
Konfliktbeziehungen stehen und damit die zugehö- Technik. Berlin 2012.
Kuhn, Helmut/Wiedman, Franz (Hg.): Die Philosophie und
rigen Kriterien Interessengegensätze repräsentieren. die Frage nach dem Fortschritt. Verhandlungen des sieb-
Priorisierungsvorschläge auf der Ebene von Werten ten Deutschen Kongresses für Philosophie, Münster
und Kriterien ergeben sich entweder aus einer mate- 1962. München 1964.
rialen Wertethik oder Grundsätzen, wonach z. B. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti-
eine universalmoralische Verantwortung (s. Kap. onen. Frankfurt a. M. 41979.
Lenk, Hans: Technikverantwortung. Güterabwägung – Risi-
II.6) der Rollenverantwortung vorrangig ist (Wer-
kobewertung  – Verhaltenskodizes. Frankfurt a. M./New
hane 1985, 72 f.; Lenk 1991, 64 ff.). Das würde auch York 1991.
bedeuten, dass eine Person, die in einer Entwicklung Mao Tse-Tung: Über die Verhandlungen in Tschungking
tätig ist, oder auch ein Team eine technische Ent- (17. Oktober 1945). In: Ausgewählte Werke Mao Tse-
wicklung nicht nur daran messen sollte, ob sie dem tungs. Bd. IV. Peking 1968–1969.
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunisti-
technischen Fortschritt (verstanden als Leitidee)
schen Partei. In: Dies.: Werke (MEW). Bd. 4. Berlin
dient. Vielmehr sollte man auch daran denken, ob 1981.
Nutzen, Missbrauchsmöglichkeiten und Folgen wie Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie. In:
Nebenfolgen sowohl von den Anbietern, den Betrei- Dies.: Werke (MEW). Bd. 3. Berlin 1983.
bern, den Nutzern wie auch der Gesellschaft verant- Platon: Der Staat (Politeia) In: Werke in acht Bänden. Hg.
wortet werden können in dem Sinne, dass die Betei- von Gunther Eigler, übersetzt von Friedrich Schleierma-
cher. Darmstadt 1990, Bd. 8, 639 ff.
ligten und Betroffenen jetzt und später noch verant- Pollard, Sidney: The Idea of Progress. London 1968.
wortungsvoll damit umgehen können. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde.
Tübingen 1992.
Literatur Rapp, Friedrich: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt ei-
ner philosophischen Idee. Darmstadt 1992.
Adorno, Theodor. W.: Fortschritt. In: Helmut Kuhn/Franz Rescher, Nicholas: Wissenschaftlicher Fortschritt. Berlin/
Wiedmann (Hg.): Die Philosophie und die Frage nach New York 1982.
dem Fortschritt. Verhandlungen des siebten Deutschen Ritter, Joachim: Fortschritt. In: Joachim Ritter/Karlfried
Kongresses für Philosophie. Münster 1964, 30–48. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie.
Augustinus, A.: De civitate Dei (Vom Gottesstaat). Hg. von Basel 1972, Bd, 2 (D-F), Sp. 1032–1059.
Carl J. Perl. Paderborn 1999 [De civ. Dei]. Schischkoff, Georgi: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart
Bacon, Francis: Über die Würde und Fortgang der Wissen- 1974.
schaft (De dignitate et augmentis scientiarum). Übers. Seneca, Lucius Annaeus: Naturwissenschaftliche Untersu-
von Johann Hermann Pfingsten, Nachdruck. Darmstadt chungen (Naturales quaestiones). Hg. und übers. von
1966. M. F. A. Brok. Darmstadt 1995 [Nat. quaest.].
5. Technikfolgen 33

Stegmüller, Wolfgang: Theorie und Erfahrung. Probleme 5. Technikfolgen


und Resultate der Wissenschaftstheorie und der Analyti-
schen Philosophie, Bd. II, 2. Halbbd.: Theorienstrukturen
und Theoriendynamik. Berlin/Heidelberg/New York
1973. Die Befassung mit Technikfolgen darf nicht nur in
Thomas von Aquin: Summa der Theologie. Stuttgart 1957 der Folge technischer Katastrophen wie der Reaktor-
[s. theol.]. unfälle in Tschernobyl und Fukushima als ein zen-
Verein Deutscher Ingenieure (VDI 1991): Technikbewer- trales Thema moderner Gesellschaften verstanden
tung – Begriffe und Grundlagen. VDI-Richtlinie 3780, werden. Das moderne Leben in den Industrielän-
VDI, Hauptgruppe »Der Ingenieur in Beruf und Gesell-
schaft«, Ausschuß Grundlagen der Technikbewertung. dern ist geprägt von Wohlstand, nahezu uneinge-
Düsseldorf/Berlin 1991. schränkter Mobilität, Globalisierungseffekten, ho-
Werhane, Patricia: Person, Rights and Cooperation. Engel- hen Gesundheitsstandards etc., die man auch als
wood Cliffs 1985. Technikfolgen beschreiben kann. Es gibt, verein-
Klaus Kornwachs facht ausgedrückt, ein gesellschaftliches Interesse,
dass die positiven Folgen der Technik letztendlich
deren negative Folgen überwiegen. Die Frage, was
dies jedoch bedeutet, führt in der Regel in pluralisti-
schen Gesellschaften zu Konflikten zwischen der ge-
sellschaftlichen Perspektive und den Ansichten ein-
zelner Interessengruppen und Individuen (zu Tech-
nikkonflikten s. Kap. III.6). Daher kommt es zu
Kontroversen darüber, ob eine Technikfolge als ne-
gativ oder positiv angesehen wird, und das gesell-
schaftliche Abwägen und letztlich auch Verhandeln
rückt in den Mittelpunkt, um zu gesellschaftlich ver-
tretbaren Entscheidungen über die Entwicklung und
den Einsatz von Technik zu gelangen.
Insofern ist es für Technikfolgen sinnvoll, den
Folgenbegriff auf Folgen technischen Handelns und
Entscheidungen über Technik (s. Kap. II.1.) zu be-
ziehen. Als Folgen einer Handlung werden im Allge-
meinen Sachverhalte bezeichnet, für die sich die
Handlung als Ursache ebendieser Sachverhalte re-
konstruieren lässt (Danto 1979; Abel 1983; Janich
2000). Somit werden die Folgen einer Handlung zu-
geschrieben, und diese Zuschreibung wird durch
Verweis auf Wirkungen und Beeinflussungen be-
gründet. Wird diese Begründung akzeptiert, dann
gilt die Zuschreibung einer Folge zu einer Handlung
als gelungen. Da auch das bewusste Unterlassen ei-
ner Handlung als eine Handlung anzusehen ist, man
denke beispielsweise an die Entscheidung, ein nu-
kleares Endlager an einem bestimmten Ort nicht
einzurichten, ist der Entscheidungsbezug durch die
Betrachtung technischen Handelns unmittelbar ge-
geben. Sowohl technisches Handeln als auch techni-
sches Nicht-Handeln sind in modernen Gesellschaf-
ten begründungspflichtig.
Während bisher nur retrospektiv von der Zu-
schreibung von Folgen zu Handlungen gesprochen
wurde, ist in der Beurteilung von Technikfolgen eine
prospektive Beschreibung nötig, wenn eine Argu-
mentationsbasis für gegenwärtige Entscheidungen
34 II. Grundbegriffe

gesucht wird. Mögliche Technikfolgen müssen ana- delt. Eine solche Aggregation allein, ohne eine Be-
lysiert werden, wobei prinzipiell Annahmen über rücksichtigung systemischer Dynamiken, wird die
die Zukunft in die Analyse einfließen müssen. So genannten Effekte kaum umfassend beschreiben
werden letztlich technikbezogene Zukünfte ausgear- können. Letztendlich kann hier eine Zuschreibung
beitet, in denen unterschiedliche Technikfolgenas- von Handlungsfolgen nicht mehr auf der individuel-
pekte kombiniert werden. Obwohl Aussagen über len Ebene erfolgen, weil entsprechende Wirkungs-
die Zukunft prinzipiell als unsicher angesehen wer- ketten nicht lückenlos darstellbar sind. Individuelle
den müssen (Japp 1997; Bechmann/Stehr 2000; und systemische Technikfolgen sind also zu unter-
Weingart 2006), kann argumentativ über Geltungs- scheiden. Dabei sind prinzipiell auch auf der syste-
ansprüche auch über zukunftsbezogenen ›Wissens‹ mischen Ebene Zuschreibungen möglich, wenn bei-
diskutiert werden. So können Technikzukünfte ein- spielsweise Folgen von Treibhausgasemissionen für
schließlich der enthaltenen Aussagen zu Technikfol- den Klimawandel den wesentlichen Emittenten die-
gen sowohl mit Blick auf die zugrundeliegenden  – ser Gase zugeschrieben werden. Die Zuschreibung
gegenwärtigen  – Annahmen analysiert, als auch von Technikfolgen zu Handlungen stößt über die
nach Konsistenz- und Plausibilitätskriterien beur- Länge der Kausalketten an andere Grenzen. Die
teilt werden. Aus den Ergebnissen dieser Zukünfte Rede von direkten bzw. indirekten oder auch primä-
vergleichenden Betrachtung erwächst die Orientie- ren und sekundären, gar tertiären Technikfolgen
rung für Entscheidungen in Technikfragen in der weist auf diesen Sachverhalt hin. Mit der Länge einer
Gegenwart. Kausalkette steigt zumeist die Wahrscheinlichkeit,
dass auch ein anderes Ereignis diese Folge nach sich
gezogen haben könnte, die ›Beweiskraft‹ nimmt also
Unterscheidungen von Technikfolgen in einem Maße ab, die eine Abstufung der Folgen
sinnvoll erscheinen lässt.
Technikfolgen über Zuschreibungen als Folgen tech- In der Diskussion über Technikfolgen sind wei-
nischen Handelns und Entscheidens zu verstehen, tere Unterscheidungen wesentlich, die mit unter-
führt bereits zu einer ersten Unterscheidung. Im Be- schiedlichen Rollen der unterscheidenden Sprecher
reich des individuellen Handelns werden Hand- und abweichenden Unterscheidungsintentionen, re-
lungs- und Entscheidungsfolgen einem Individuum, sultierend aus verschiedenen Perspektiven auf das
einer Person oder einem Akteur zugeschrieben. Ent- technische Handeln, verbunden sind:
steht bei einer Handlung ein Schaden, dann basiert • Intendierte versus nicht intendierte Folgen: Diese
das juristische Vorgehen darauf, den Akteur zu iden- Unterscheidung rekurriert auf die Intention tech-
tifizieren und durch eine lückenlose Beweisführung nischen Handelns. Als Sprecher lassen sich Inge-
den Schaden diesem Akteur zuzuschreiben bzw. an- nieure, die eine neue Technik entwickeln, oder
zulasten. Beispielsweise wird im Falle der Verunrei- die Anwender und Nutzer einer Technik nennen.
nigung eines Flusses geprüft, an welcher Stelle die Diese können normalerweise explizieren, welche
Verunreinigung stattfand (Austritt eines Kanals), es Intentionen, das heißt, welche Zwecke sie mit ih-
wird geprüft, welche Akteure durch das Leitungssys- rer technischen Handlung verfolgen. Wenn die
tem an diesen Kanal angeschlossen sind, und Resultate des Handelns intendiert waren, handelt
schließlich wird ermittelt, welchem Verursacher die es sich um realisierte Zwecke, die im Allgemeinen
Verschmutzung zugeschrieben werden kann. Diese das erfolgreiche technische Handeln im engeren
klassische Zuschreibungsfigur wirft wenig prinzipi- Sinne, das Funktionieren der Technik, einschlie-
elle Probleme auf. ßen. Ergebnisse anderer Art sind nicht inten-
Technikfolgen sind aber nicht notwendigerweise dierte Folgen.
einem individuellen Handelnden zuzuordnen, so • Erwünschte versus nicht erwünschte Folgen: Die
etwa in der Rede von Folgen des Mobilitätsverhal- Unterscheidungsabsicht besteht in der Beurtei-
tens der Bevölkerung, von den Folgen des durch die lung der Erwünschtheit der Folgen, die wiederum
Menschheit erzeugten Anteils am Klimawandel, und relativ zu einem normativen Kriteriensatz expli-
auch von Folgen des wissenschaftlich-technischen ziert wird. Die ›Betroffenen‹ einer technischen
Fortschritts im Allgemeinen. Hier ist kein individu- Handlung ziehen in ihren Sprechakten diese Un-
eller Akteur identifizierbar, auch wenn man theore- terscheidung heran und verbinden diese beispiels-
tisch davon ausgehen könnte, dass es sich um eine weise mit Hinweisen auf Nutzen und Schaden
Aggregation individueller Einzelhandlungen han- oder Chancen und Risiken, aus deren Abwägung
5. Technikfolgen 35

dann eine (Un-)Erwünschbarkeit resultiert. Eine treten. So ist beispielsweise in Deutschland nach den
Umgehungsstraße ist z. B. für die betroffenen An- Ergebnissen des Bürgerdialogs zur Energiewende
wohner weniger wünschenswert. Die sie nutzen- ein dezentrales Versorgungssystem erwünscht. Das
den Pendler stufen dagegen den ›Gewinn‹ der täg- heißt aber nicht, dass die Akzeptanz für ein damit
lichen Zeitersparnis als wünschenswert ein. verbundenes dichteres Stromnetz, das den Bau von
• Vorhersehbare versus unvorhersehbare Folgen: Hochspannungsleitungen nötig macht, im Einzelfall
Diese Unterscheidung zielt auf das Ausmaß der gegeben ist. »Not in my backyard« (NIMBY) be-
Erkennbarkeit der Folgen ex ante ab und damit schreibt diese Diskrepanz prägnant (zu Technikkon-
auf eine zentrale Bedingung der Möglichkeit, flikten s. Kap. III.6).
Technikfolgen wissenschaftlich prospektiv zu er- Folgenunterscheidungen sind folglich selbst zu
fassen. Manchmal auch entlang der Unterschei- unterscheiden und insbesondere zu Beobachter-
dung erwartbar versus unerwartbar ausgeführt, standpunkten zu relationieren: Von verschiedenen
ist sie insbesondere aus Beobachterperspektive Positionen aus fallen die Zuordnungen unterschied-
für die Festlegung des Beobachtungsbereichs re- lich aus. So ist auch die Unterscheidung zwischen
levant. Aus der Sicht der Technikfolgenabschät- Haupt- und Nebenfolgen keine ontologische Eintei-
zung (s. Kap. VI.4) ist diese Unterscheidung eine lung, sondern Resultat einer Zuschreibung. Folgen,
methodische Herausforderung. Denn es ist die für Handelnde oder Entscheidungsträger Haupt-
durchaus vorstellbar, dass sich ex post heraus- folgen sind, können für andere Nebenfolgen sein
stellt, dass es ex ante Hinweise auf Folgen gab – und umgekehrt. In diesen Unterscheidungen sind
diese also vorhersehbar waren – aber faktisch daher stets die jeweiligen Unterscheidungsabsichten
nicht gesehen wurden. und die sozialen Zusammenhänge zu beachten, un-
• Haupt- versus Nebenfolgen: Hier entscheidet die ter denen sie erfolgen. Das ist eine der zentralen Auf-
Bedeutung bzw. Relevanz der Folgen in einem be- gaben der Technikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4;
stimmten Bereich für bestimmte Personen oder Renn 1993; Gloede 2007; Grunwald 2010).
Gruppen über die Zuschreibung. Entscheidungs- In der Verwendung des Folgenbegriffs ist zwi-
träger beziehen sich auf diese Unterscheidung und schen einer Beobachterperspektive und einer Teil-
orientieren ihre Entscheidung dann an der von ih- nehmerperspektive zu unterscheiden. Beobachter
nen als Hauptfolge angesehenen Folge einer tech- können empirisch die Folgen von durchgeführten
nischen Handlung. Sie unterstellen dabei gleich- Handlungen und Entscheidungen untersuchen und
zeitig die Nebenfolgen als akzeptabel. Von ande- deuten. Diese Beobachtungen erstrecken sich somit
ren kann dies völlig anders eingeschätzt werden. auf die Perspektive ex post relativ zu den Handlun-
Die Bewertung nach Haupt- oder Nebenfolge ist gen, wie dies z. B. in der empirischen Wirkungsfor-
daher an die Teilnehmerperspektive gebunden. schung, aber auch in der Rekonstruktion von Krimi-
nalfällen Praxis ist. In der Teilnehmerperspektive
In der gesellschaftlichen Diskussion zu Folgen wer- spielen hingegen die noch nicht realisierten Folgen
den diese Begriffspaare nicht immer eindeutig, teils eigener Handlungen eine entscheidende Rolle, da sie
sogar synonym, teils in unklaren Abgrenzungen als Handlungsorientierungen und Entscheidungs-
voneinander verwendet. Die über die unterschiedli- hilfen verwendet werden. Antizipative Folgenüber-
chen Sprecherrollen explizierten Unterscheidungs- legungen orientieren das Handeln und Entscheiden,
absichten sind weder trennscharf noch eindeutig z. B. in Planungsprozessen (Grunwald 1999). Die
aufeinander abbildbar. Verbunden mit unterschied- Rolle des oben angesprochenen Beobachters, der
lichen Rollen im Diskussionsprozess lassen sich In- über wünschenswerte und nicht wünschenswerte
klusionen in diesen Unterscheidungen feststellen. Folgen einer Umgehungsstraße reflektiert, ist dann
Aus der Perspektive des Ingenieurs sind die inten- beobachtend auf den Planungsprozess und ggf. teil-
dierten Folgen sicherlich erwünscht, wobei im Sinne nehmend z. B. im Planfeststellungsverfahren, in dem
eines kleinsten Übels dieses ›erwünscht‹ auch ein er sich explizit äußern muss.
›am wenigsten unerwünscht‹ sein kann. Aber schon Die Unterscheidungen zwischen lang- und kurz-
im Bereich der technisch handelnden Nutzer ist fristig eintretenden und notwendig eintretenden und
nicht gesagt, dass alle dieselben Folgen als erwünscht kontingenten Folgen liegen quer zu den oben ge-
oder nicht erwünscht ansehen. Dieser Konflikt aus nannten und entwickeln in Entscheidungszusam-
Nutzerperspektive kann auch in Bezug auf gesell- menhängen besondere Relevanz. Notwendig eintre-
schaftliche und individuelle Folgen in Erscheinung tend sind z. B. Folgen, die sich aus dem Konstrukti-
36 II. Grundbegriffe

onsplan einer verwendeten Maschine deduzieren scheidungen bieten möchte. Mit der Frage, was in ei-
lassen, da die Verwendung der entsprechenden Ma- ner bestimmten gesellschaftlichen Situation getan
schine mit Notwendigkeit zu diesen Folgen führt. werden soll, findet ethische Reflexion technischen
Das Eintreten kontingenter Folgen dagegen hängt Handelns ihren Eingang in die Technikfolgenfor-
von den jeweiligen Situationsaspekten ab, unter de- schung (Gethmann/Sander 1999; Decker 2004).
nen das Handeln stattfindet. Insofern diese zur Zeit Über die Fokussierung auf Folgen rückt die Folgen-
der Handlungskonstitution noch zukünftig und ethik oder auch konsequentialistische Ethik ins Zen-
nicht mit Sicherheit absehbar sind, sondern nur pro- trum dieser ethischen Reflexion, wobei sie in kon-
spektiv eingeschätzt werden können, können Aussa- kreten technischen Kontexten von anderen ethi-
gen zu kontingenten Folgen des Handelns nur unter schen Begründungsformen flankiert wird bzw. auch
Unsicherheit gemacht werden. Dies gilt a fortiori, da mit ihnen in Konflikt gerät.
die Menge der nicht intendierten Folgen unab- Die vergleichende Analyse von Technikzukünften
schließbar und potentiell unendlich ist. Aus Prakti- und den aus ihnen resultierenden Handlungsop-
kabilitätsgründen müssen für Entscheidungen Ein- tionen kann für die Technikfolgenforschung me-
grenzungen unter Relevanzaspekten vorgenommen thodisch eine Vereinfachung darstellen, da relative
werden, die jedoch in sich wiederum riskant sind – Beurteilungen der Optionen möglich werden. Bei-
es könnten nicht intendierte Folgen ex ante als ver- spielsweise können weitreichende Ceteris-paribus-
nachlässigbar eingestuft werden, die sich ex post als Annahmen gemacht werden, weil begründet ange-
hoch relevant herausstellen. Diese Fragestellungen nommen werden kann, dass für die betrachteten Al-
sind von besonderem Interesse beim vorsorgenden ternativen manche Bewertungskriterien keinen bzw.
Handeln (Harremoës et al. 2002; s. Kap. VI.3). einen vernachlässigbaren Einfluss auf das Resultat
Schließlich lassen sich Technikfolgen nach inhalt- des Vergleichs mit sich bringen. Da eine Handlung
lichen Gesichtspunkten unterscheiden, die in einer ausgeführt oder unterlassen werden kann, sind im-
dritten Dimension quer zu den oben genannten Un- mer zumindest diese beiden Zukünfte vergleichbar.
terscheidungen liegen. Folgen für die Gesundheit In vielen Fällen ist das Unterlassen nicht damit ver-
von Mensch und Tier, für die Umwelt, für einen bunden, dass keine technische Lösung angestrebt
Wirtschaftsstandort, für Minderheiten einer Bevöl- wird, sondern damit, dass eine bestehende Technik
kerung, für eine aktuell bestehende politische Ge- weiterhin eingesetzt wird. Eine neue Technik, eine
samtkonstellation ordnen Folgen verschiedenen Ka- Innovation, tritt also in Konkurrenz zu einer beste-
tegorien zu, die typischerweise in entscheidungs- henden Technik. Dabei wird häufig schon durch die
bezogenen Debatten berücksichtigt werden. Sie aufkommende Konkurrenz auch die alte Technik
bringen medizinische, ökologische, ökonomische, verbessert, um im Wettbewerb bestehen zu können.
kulturelle, politische etc. Aspekte der Technikzu- Joseph Schumpeter zielt genau auf diesen Wettbe-
künfte in einen spezifischen Zusammenhang, der werb, wenn er Innovation einerseits beschreibt als
der Gesamtheit dieser Technikfolgen eine höhere ar- »The fundamental impulse that sets and keeps the
gumentative Kraft verleihen soll. Verlangt eine mög- capitalist engine in motion comes from the new con-
lichst umfassende Beschreibung der Technikzu- sumers ’ goods, the new methods of production or
künfte die Berücksichtigung aller relevanten As- transportation, the new markets, […]« und anderer-
pekte, so stellt deren Mannigfaltigkeit eine besondere seits darauf hinweist, dass Innovation das Beste-
methodische Herausforderung für die Technikfol- hende »kreativ zerstört«: »[This process] incessantly
genforschung dar, die sich auf allgemeiner Ebene in revolutionizes the economic structure from within,
der Herstellung einer Vergleichbarkeit der Technik- incessantly destroying the old one, incessantly crea-
zukünfte beschreiben lässt. ting a new one« (Schumpeter 1994, 82 f.).
Konkurrenzfähige technische Innovationen zu
entwickeln, kann in Industrieländern als ein zentra-
Technikfolgenforschung les Ziel der Wissenschafts- und Technikpolitik (s.
und Entscheidungsprozesse Kap. VI.1) angesehen werden. So wird beim deut-
schen Bundesministerium für Bildung und For-
Der Vergleich von Technikzukünften und die Ana- schung (BMBF) die Technikfolgenforschung unter
lyse der mit ihnen möglicherweise verbundenen dem Begriff der Innovations- und Technikanalyse
Konflikte rücken somit in den Mittelpunkt einer (BMBF 2001) geführt, und im kommenden europäi-
Technikfolgenforschung, die Orientierung für Ent- schen Forschungsrahmenprogramm wird »respon-
5. Technikfolgen 37

sible innovation« als einer der Schlüsselbegriffe an- man sich am Reaktorunglück in Fukushima drastisch
gegeben (von Schomberg 2012). Die Bewertung der verdeutlichen kann  – wie es aber auch für weniger
Technikfolgen stellt in beiden Konzeptionen eine spektakuläre Technologien wie Mülldeponien ausge-
wichtige Komponente in der Vorbereitung von Ent- führt wurde (Herbold et al. 1991). Die Rolle der
scheidungen in Forschung, Entwicklung und Inno- Technikfolgenforschung in der Vorbereitung einer
vation dar. Da es sich um Entscheidungen über Entscheidung für ein bestimmtes Zukunftsszenario
Technik in Bezug auf zukünftige Nutzung handelt, ist muss also diejenigen Handlungen in der Gegenwart
eine empirische Analyse der Technikfolgen nicht beschreiben, die in der Metapher des Realexperi-
möglich. Modellierungen, Simulationen und Ent- ments die notwendigen ›Anfangsparameter‹ herstel-
wicklung von Szenarien, die letztendlich die Wis- len. Nach der Entscheidung beobachtet sie das Expe-
sensbasis von Technikzukünften darstellen, ermög- riment mit Blick sowohl auf die intendierten als auch
lichen eine sowohl qualitative als auch quantitativ die nicht intendierten Folgen der technischen Hand-
differenzierte Analyse unter festgelegten Ausgangs- lung, um ein Lernen zu ermöglichen.
annahmen. Dennoch sind sie in ihrer Geltung kaum Damit steht die auf Technikfolgenforschung ba-
mit transsubjektiv gültigen Aussagen beispielsweise sierende Entscheidungsfindung, die die Risiken des
der Physik vergleichbar. Einsatzes neuer Technologien deren Chancen ge-
Damit ist ein grundlegendes und dauerhaftes For- genüber stellt (s. Kap. IV.C.7), im Einklang mit der
schungsfeld der Technikfolgenforschung identifi- Theorie der reflexiven Modernisierung (Beck 1986),
ziert: die Angabe der Geltungskriterien des prospek- die zwar auch Unterscheidungen festlegt und Gren-
tiven Wissens über Technikfolgen. Bereits die unter- zen zieht, das aber »provisorischer, moralisch und
schiedlichen Perspektiven auf Technikfolgen (s. o.) rechtlich pluraler, und unter dem Vorzeichen der in-
lassen Konfliktlinien aufscheinen. Dabei werden die neren Grenzflexibilisierung, die die sowohl-als-
Geltungsansprüche der Aussagen über Technikfol- auch-Logik eröffnet« (Beck/Lau 2005, 131). In die-
gen sowohl grundlegend in Frage gestellt, z. B. bei der sem Sowohl-als-auch werden die Erfolge einer
Frage, ob es überhaupt einen durch Menschen indu- technischen Modernisierung unter gleichzeitiger
zierten Einfluss auf den Klimawandel gibt, als auch, Berücksichtigung der nicht-intendierten Folgen be-
wenn die Existenz der Technikfolge nicht angezwei- urteilt (Böschen et al. 2006; Bechmann et al. 2007).
felt wird, in Bezug auf deren konkretes Ausmaß (wie Technikfolgenforschung wird damit im Idealfall zu
groß ist der Anteil am Klimawandel). Da Aussagen einem begleitenden Prozess der technischen und ge-
über die Zukunft prinzipiell nicht bewiesen werden sellschaftlichen Modernisierung, der sowohl vor der
können, sind Spekulationen und interessengeleiteten Entscheidung Handlungsoptionen in transparenter
Auslegungen sprichwörtlich Tür und Tor geöffnet. Weise argumentativ verhandelbar macht, als auch
Dieses Nicht-Wissen-Können führt zu der Not- vor diesem Hintergrund die Folgen der getroffenen
wendigkeit, dass für die Vorbereitung einer Entschei- Entscheidung analysiert und daraus wieder Hand-
dung auch eine Beurteilung des Nichtwissens in die lungsoptionen entwickelt.
Folgendiskussion einfließen muss (Böschen/Wehling
2004). Das Nicht-Wissen bzw. unsichere Wissen be- Literatur
züglich der toxikologischen Wirkung von Nanoparti-
Abel, Bodo: Grundlagen der Erklärung menschlichen Han-
keln für Mensch und Umwelt kann hier als Beispiel delns. Tübingen 1983.
dienen, in dem das Vorsorgeprinzip (s. Kap. VI.3) in Bechmann, Gotthard/Decker, Michael/Fiedeler, Ulrich/
die Entscheidungsfindung einbezogen wurde (De- Krings, Bettina-Johanna: Technology assessment in a
cker 2009). Das Nicht-Wissen-Können und trotzdem complex world. In: International Journal of Foresight and
Entscheidungen für Handlungen treffen zu müssen, Innovation Policy 3/1 (2007), 6–27.
Bechmann, Gotthard/Stehr. Nico: Risikokommunikation
bringt es mit sich, dass sich weder der Handlungser-
und die Risiken der Kommunikation wissenschaftlichen
folg noch die damit verbundenen Nebenfolgen sicher Wissens  – zum gesellschaftlichen Umgang mit Nicht-
einstellen. Die Handlungen bekommen experimen- wissen. In: GAIA 9/2 (2000), 113–121.
tellen Charakter, werden zum Realexperiment ver- Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
bunden mit einem learning by doing (Krohn 2007). Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
– /Lau, Christoph: Theorie und Empirie reflexiver Moder-
»Versuch und Irrtum« bei risikoreichen, großtechni-
nisierung. In: Soziale Welt 56 (2005), 107–135.
schen Anlagen, die faktisch erst im realen Einsatz am BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung
Bestimmungsort ›getestet‹ werden können, ist glei- BMBF, Hg.): Innovations- und Technikanalyse. Zukunfts-
chermaßen unvermeidbar wie unbefriedigend, wie chancen erkennen und realisieren. Bonn 2001.
38 II. Grundbegriffe

Böschen, Stefan/Kratzer, Nick/May, Stefan (Hg.): Nebenfol- 6. Verantwortung


gen Analysen zur Konstruktion und Transformation mo-
derner Gesellschaften. Weilerswist 2006.
Böschen, Stefan/Wehling, Peter: Wissenschaft zwischen Fol-
genverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspekti- In der Technikethik spielt das Verantwortungskon-
ven der Wissenschaftsforschung. Wiesbaden 2004. zept eine zentrale Rolle. Bei dem Begriff ›Verantwor-
Danto, Arthur C.: Analytische Handlungsphilosophie. Kö- tung‹ handelt es sich um ein Basiskonzept, vergleich-
nigstein 1979. bar etwa mit Begriffen wie ›Pflicht‹ oder ›Schuld‹,
Decker, Michael: The role of ethics in interdisciplinary weswegen es in vielen Kontexten zum Einsatz kom-
technology assessment. In: Poiesis & Praxis, Interna-
tional Journal of Ethics of Science and TA 2, 2/3 (2004), men kann. Entsprechend vielfältig sind seine Ge-
139–156. brauchsmöglichkeiten. Gleichwohl lassen sich einige
– : Nanopartikel und Risiko – ein Fall für das Vorsorgeprin- allgemeine Aussagen über die Bedeutung dieses Be-
zip? Betrachtungen aus der Perspektive der Technikfol- griffs treffen. Gerade Autoren, die im Bereich der
genabschätzung. In: Arno Scherzberg/Joachim H. Wen- Technik- und Wissenschaftsethik aktiv sind, haben
dorff (Hg.): Nanotechnologie – Grundlagen, Anwendun-
gen, Risiken, Regulierung. Berlin 2009, 113–137. sich in der Vergangenheit nachdrücklich um Be-
Gethmann, Carl Friedrich/Sander, Thorsten: Rechtferti- griffsklärung und die Differenzierung unterschiedli-
gungsdiskurse. In: Armin Grunwald/Stephan Saupe cher Gebrauchsweisen bemüht (z. B. Grunwald
(Hg.): Ethik in der technikgestaltung. Praktische Relevanz 1999; Hubig/Reidel 2003; Lenk/Maring 1991; Ott
und Legitimation. Heidelberg 1999, 117–151. 1997, 252–255; Ropohl 1994).
Gloede, Fritz: Unfolgsame Folgen. Begründungen und Im-
plikationen der Fokussierung auf Nebenfolgen bei TA.
In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 1/16
(2007), 45–54. Kausalverantwortung
Grunwald, Armin: Die rationale Gestaltung der techni-
schen Zukunft. In: Ders. (Hg.): Rationale Technikfolgen- Zunächst lässt sich zwischen Verantwortung als ei-
beurteilung. Konzepte und methodische Grundlagen. Hei-
delberg 1999, 29–54.
ner normativen Relation und der sogenannten Kau-
– : Technikfolgenabschätzung – Eine Einführung. 2. Auflage, salverantwortung unterscheiden. Der Begriff der
Berlin 2010. Kausalverantwortung bezeichnet lediglich ein Ursa-
Harremoës, Poul/Gee, David/MacGarvin, Malcolm/Stir- che-Wirkungsverhältnis und kann jederzeit durch
ling, Andy/Keys, Jane/Wynne, Brian/Guedes Vaz, Sofia: den Ursachenbegriff ersetzt werden. Die Aussage
The Precautionary Principle in the 20th Century: Late
Lessons from early Warnings. London 2002.
»Das Campingfeuer ist für den Waldbrand verant-
Herbold, Ralf/Krohn, Wolfgang/Weyer, Johannes: Technik- wortlich« besagt, so verstanden, nichts anderes als
entwicklung als soziales Experiment. In: Forum Wissen- »Das Campingfeuer hat den Waldbrand verursacht«.
schaft 4/91 (1991), 26–32. Beide Aussagen geben für ein erklärungsbedürftiges
Janich, Peter: Logisch-pragmatische Propädeutik. Ein Grund- Ereignis (Waldbrand) eine notwendige Antezedenz-
kurs im philosophischen Reflektieren. Weilerswist 2000.
bedingung (Campingfeuer) an. Es handelt sich hier-
Japp, Klaus P.: Die Beobachtung von Nichtwissen. In: Sozi-
ale Systeme 3/2 (1997), 289–312. bei um empirische Feststellungen und nicht um die
Krohn, Wolfgang: Realexperimente – Die Modernisierung Äußerung von Werturteilen oder normativen Er-
der ›offenen Gesellschaft‹ durch experimentelle For- wartungen: Ob das Campingfeuer unter den gegebe-
schung. In: Erwägen Wissen Ethik 18/3 (2007), 343–356. nen Randbedingungen ein für das Entstehen des
Renn, Ortwin: Technik und gesellschaftliche Akzeptanz: Waldbrandes notwendiger Kausalfaktor war, lässt
Herausforderungen der Technikfolgenabschätzung. In:
GAIA 2/2 (1993), 67–83. sich grundsätzlich durch Experimente überprüfen,
Schumpeter, Joseph: Capitalism, Socialism and Democracy. die nicht von normativen Erwartungen beeinflusst
[o. O.] 1994. werden.
Von Schomberg, René: Prospects for technology assess- Gerade in technikethischen Zusammenhängen ist
ment in a framework of responsible reserach and inno- allerdings der Hinweis angezeigt, dass Ursachenzu-
vation. In: Marc Dusseldorp/Richard Beecroft (Hg.):
Technikfolgen abschätzen lehren. Bildungspotentiale schreibungen regelmäßig in lebensweltlichen Kon-
transdisziplinärer Methoden. Wiesbaden 2012, 39–61. texten vorgenommen werden, innerhalb derer ihnen
Weingart, Peter: Erst denken, dann handeln? Wissen- eine praktische Bedeutung zukommt (vgl. Putnam
schaftliche Politikberatung aus der Perspektive der 1982). Indem wir auf das Campingfeuer als auf ›die‹
Wissens(chafts)soziologie. In: Svenja Falk/Dieter Reh- Ursache des Waldbrandes aufmerksam machen, se-
feld/Andrea Römmele/Martin Thunert (Hg.): Handbuch
Politikberatung. Wiesbaden 2006. lektieren wir aus der Fülle kausal notwendiger Be-
Michael Decker dingungen einen Kausalfaktor, den hervorzuheben
im Hinblick auf bestimmte lebenspraktische Zielset-
6. Verantwortung 39

zungen sinnvoll erscheint (etwa deshalb, weil er sich Wartung zu sehen ist, so mögen sich die Parteien im
besonders leicht beeinflussen lässt, um zukünftige Grunde darüber einig sein, dass alle diese Umstände
Waldbrände zu verhindern) und behandeln die übri- notwendige Kausalfaktoren für die Freisetzung wa-
gen Kausalfaktoren (z. B. die Existenz von Sauerstoff ren. Sie mögen jedoch unterschiedlicher Auffassung
in der Luft) als bloße Hintergrundbedingungen. Ob darüber sein, welche technischen Normen, rechtli-
wir es jeweils für angemessen halten, einen be- chen Regelungen oder technikethischen Prinzipien
stimmten Kausalfaktor in dieser Weise hervorzuhe- (bezüglich der notwendigen Auslegung der Anlage,
ben und entsprechend als ›die‹ Ursache eines Ereig- bezüglich der Verlässlichkeit der verbauten Anlage-
nisses zu bezeichnen, hängt im Allgemeinen sowohl teile oder bezüglich der erforderlichen Aufsicht und
von statistischen (Normalitäts-) Erwartungen wie Wartung) im vorliegenden Fall einschlägig sind und
auch von normativen (z. B. moralischen, rechtlichen, wie diese interpretiert werden müssen.
konventionellen) Erwartungen ab (Feinberg 1977).
Diesbezüglich erscheinen folgende Annahmen plau-
sibel: Normative Verantwortung:
Wenn wir E als ein Ereignis verstehen, das, bei Pro- und retrospektiv
Vorliegen bestimmter Hintergrundbedingungen H,
ein Ereignis E* hervorrufen kann und dies tatsäch- Halten wir fest, dass Zuschreibungen von ›Kausal-
lich tut, dann wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir verantwortung‹ an sich keinen normativen Sinn ha-
E alltagssprachlich als ›die‹ Ursache von E* auswei- ben, da sie lediglich notwendige Kausalfaktoren an-
sen, positiv beeinflusst durch (1) das Maß, in dem geben, dass jedoch die mit solchen Zuschreibungen
wir statistisch erwarten, dass E tatsächlich E* verur- getroffene Entscheidung, welche der notwendigen
sacht (beispielsweise, weil das Vorliegen von H sta- Kausalbedingungen jeweils in den Blick gerückt
tistisch zu erwarten war), und (2) das Maß in dem werden, neben statistischen auch normative Erwar-
wir entweder (a) statistisch oder (b) normativ erwar- tungen zum Ausdruck bringen kann. In einer weite-
ten, dass E nicht eintritt. So ist es wahrscheinlicher, ren Gruppe von Verwendungsweisen bringen Ver-
dass wir die Temperatur T einer Batterie als ›die‹ Ur- antwortungszuschreibungen auch unmittelbar nor-
sache eines Autobrandes bezeichnen, wenn es (ge- mative Erwartungen zum Ausdruck (nachfolgende
mäß l) statistisch wahrscheinlich ist, dass Batterie- Ausführungen enthalten Übernahmen aus Werner
temperatur T einen solchen Brand auslöst und wenn 2014). ›Verantwortung‹ bezeichnet dann eine grund-
(gemäß 2a) das Auftreten von T statistisch unwahr- legende normative Beziehung, die ihre Basis sowohl
scheinlich ist und/oder (gemäß 2b) einen Verstoß in moralischen und rechtlichen Normen als auch in
gegen gültige Normen darstellt, T also normativ als konventionellen oder rollenspezifischen Erwartun-
»Überhitzung« definiert ist. Machen wir die Gegen- gen haben kann. Während ›Kausalverantwortung‹
probe und stellen uns vor, dass die relevanten Nor- stets retrospektiv ist, hat die normative Verantwor-
men anders festgelegt sind, so dass T noch in den tungsbeziehung eine prospektive und eine retro-
Normbereich fällt, und dass die faktisch gewählte spektive Seite (u. v. a. Zimmerman 2001).
Anordnung der Batterien, die ebenfalls zu den not- In der prospektiven Bedeutung wird Verantwor-
wendigen Kausalfaktoren des Brandes gehört, gegen tung überall dort zugeschrieben, wo Personen nor-
gültige Normen für den Batterieeinbau verstößt. In mative Erwartungen an sich selbst oder andere
diesem Fall würden wir wohl nicht Batterietempera- handlungsfähige Entitäten richten. Eben indem sie
tur T, sondern vielmehr den Batterieeinbau als »die dies tun, schreiben sie  – gegebenenfalls nur impli-
Ursache« des Brandes bezeichnen  – obwohl alle zit – den Adressaten prospektive Verantwortung für
nicht-normativen Umstände beider Fälle identisch die Erfüllung ihrer jeweiligen Erwartung zu.
wären, schiene uns eine abweichende Ursachenzu- In der retrospektiven Bedeutung wird Verantwor-
schreibung angemessen. tung überall dort zugeschrieben, wo Akteure sich
Diskussionen über Ursachenzuschreibungen sind selbst oder anderen Intentionen, Haltungen, ein Tun
also manchmal nur der Deckmantel, unter dem in oder Unterlassen oder deren Ergebnisse oder Ne-
Wahrheit normative Fragen diskutiert werden. benfolgen in der Weise zurechnen, dass diese zum
Wenn Streit darüber aufkommt, ob ›die‹ Ursache für Gegenstand einer ›adressierten‹ Kritik, etwa eines
die Freisetzung radioaktiven Dampfs eher in einem Lobes, eines Tadels, eines Vorwurfs, einer adressier-
mangelhaften Überdruckventil, in der fehlerhaften ten Sanktion oder eines adressierten moralischen
Auslegung der Anlage oder in deren unzureichender Gefühls wie Empörung (vgl. Strawson 1962) werden
40 II. Grundbegriffe

können. Um eine ›adressierte‹ Kritik in dem hier ge- tungsobjekt) gegenüber wem (Verantwortungsin-
meinten Sinn handelt es sich genau dann, wenn die stanz) verantwortlich? Darüber hinaus wird man fra-
oder der Kritisierende mit seiner Kritik den An- gen dürfen, warum (Begründungsbasis) die fragli-
spruch verbindet, dass die oder der Kritisierte selbst che normative Verantwortungsrelation besteht, d. h.
die normativen Erwartungen, auf die sich die Kritik worin die betreffenden normativen Erwartungen be-
bezieht, akzeptieren und sich daran orientieren gründet sind. Um jede der vier genannten Fragen
sollte beziehungsweise dies hätte tun sollen. gruppieren sich teils umfangreiche Diskussionen.
Prospektive und retrospektive Verantwortungs- Bezüglich des Subjekts der Verantwortung lässt
zuschreibungen meinen offenbar ganz Verschiede- sich zunächst fragen, welche Eigenschaften eine En-
nes. Welche Zuschreibung jeweils gemeint ist, wird tität haben muss, um überhaupt ein möglicher Ver-
aus dem Kontext zumeist hinreichend deutlich antwortungsträger sein zu können. Die Grundzüge
(wahrscheinlich prospektiv: »Die Kraftwerksbetrei- einer Antwort lassen sich bereits aus dem Gesagten
ber sind verantwortlich für die Einhaltung der Emis- entwickeln: Um von einer Entität sinnvollerweise
sionsnormen«; wahrscheinlich retrospektiv: »Die (prospektiv) ein bestimmtes Verhalten oder die Rea-
Kraftwerksbetreiber sind verantwortlich für die lisierung bestimmter Zustände normativ erwarten
Überschreitung der Emissionsnormen«). Zugleich oder ihr (retrospektiv) als möglichen Gegenstand ei-
sind prospektive und retrospektive Verantwortung ner adressierten Kritik zurechnen zu können, muss
jedoch eng verknüpft: Die Annahme, dass es die diese Entität fähig (gewesen) sein, das Erwartete
Kraftwerksbetreiber sind, die prospektiv für die Ein- bzw. Zugerechnete selbst hervorzubringen oder dies
haltung von Emissionsnormen verantwortlich sind, zu unterlassen (»principle of alternative action«; vgl.
ist ein Prima-facie-Grund für die Annahme, dass die kritisch Frankfurt 1969; metakritisch Fischer/Ra-
retrospektive Verantwortung für eventuelle Norm- vizza 1998, 29 ff.). Zudem muss sie fähig (gewesen)
überschreitungen bei den Kraftwerksbetreibern sein, normative Erwartungen oder adressierte Kritik
liegt. Eben weil wir von den Betreibern ein bestimm- zu verstehen, hinsichtlich ihrer Gültigkeit und An-
tes Verhalten oder eine bestimmte Haltung normativ gemessenheit zu beurteilen und gegebenenfalls zur
erwarten, sind sie für Abweichungen vom norma- Grundlage ihres Handelns zu machen (vgl. etwa das
tiv  Erwarteten (prima facie) rechenschaftspflichtig. Konzept der »reasons-responsiveness« bei Fischer/
Auch die retrospektive Verantwortung hat hier also Ravizza 1998).
einen normativen Sinn. Als normative Zurechnung Die Notwendigkeit und genaue Interpretation
ist sie (entgegen Jonas 1979, 172 ff.) nicht auf ein rei- einzelner Kriterien für Verantwortungskompetenz
nes Kausalverhältnis zu reduzieren. Dass im Vorigen ist strittig, und viele der hier angesiedelten Kontro-
lediglich von einem Prima-facie-Grund und nicht versen sind von technikethischer Relevanz. Dies be-
von einem hinreichenden Grund die Rede war, liegt trifft etwa die Frage kollektiver Akteure, die sich in
daran, dass wir mit der Möglichkeit von besonderen den häufig arbeitsteilig vermittelten Zusammenhän-
(entschuldigenden) Umständen zu rechnen haben, gen technischen Handelns in besonderem Maße
die einen Akteur im Einzelfall von retrospektiver stellt. Diesbezüglich wird kontrovers diskutiert, ob
Verantwortung auch für dasjenige entlasten können, und in welchem Sinne Verantwortung nicht nur in-
wofür er  – prinzipiell und im Allgemeinen  – pro- dividuellen Personen, sondern auch Institutionen
spektiv verantwortlich war. Weil wir prospektive Ver- oder Kollektiven zugeschrieben werden kann oder
antwortung niemals so spezifisch formulieren kön- zugeschrieben werden sollte (zur Übersicht vgl.
nen, dass alle möglichen Entlastungsumstände von French/Wettstein 2006). In jüngerer Zeit wird zu-
vornherein ausgeschlossen werden, bleibt Verant- dem vermehrt gefragt, inwieweit auch ›intelligente‹
wortung stets defeasible (klassisch vgl. Hart 1949). technische Artefakte, etwa ›autonome‹ Roboter, als
Subjekte moralischer Verantwortung in Frage kom-
men (vgl. z. B. Floridi/Sanders 2004; zu Robotik s.
Verantwortung als Relationsbegriff Kap. V.21).
Der Frage nach der Ausdehnung des Objektbe-
Während sich Kausalverantwortung als zweistellige reichs moralischer Verantwortung ist in der Technik-
Relation verstehen lässt (X ist verantwortlich für Y), ethik ebenso große Aufmerksamkeit zuteil gewor-
sind alle normativen (pro- und retrospektiven) Ver- den. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg haben
antwortungsrelationen wenigstens dreistellig: Wer zahlreiche Autoren (etwa Karl-Otto Apel, Hans Jo-
(Verantwortungssubjekt) ist wofür (Verantwor- nas, Georg Picht oder Walter Schulz) auf die mit
6. Verantwortung 41

der  Technisierung menschlichen Handelns einher- dem autonomen Subjekt (Kant 1968), teils auch mit
gehende Expansion menschlicher Handlungsmacht der (mehr oder weniger stark idealisierten) morali-
hingewiesen und eine entsprechende Ausdehnung schen Gemeinschaft beziehungsweise der Diskursge-
des Bereichs moralischer Verantwortung gefordert. meinschaft (Apel 1988) identifiziert.
Im Rahmen dieses Diskurses hat der Verantwor- Was die Begründung retrospektiver Verantwor-
tungsbegriff den Pflichtbegriff weitgehend als nor- tung betrifft, so hat schon Aristoteles grundlegende
matives Leitkonzept abgelöst. Dies dürfte nicht zu- Zuschreibungskriterien benannt, die Recht und
letzt dadurch zu erklären sein, dass prospektive Ver- Ethik im Wesentlichen bis heute prägen (vgl. Aristo-
antwortung als eine offene, ergebnisorientierte (vgl. teles 2001, drittes Buch): Retrospektive Verantwor-
Max Webers Gegenüberstellung von »Verantwor- tung kann nur für Freiwilliges zugeschrieben wer-
tungs-« und »Gesinnungsethik«; Weber 1988) und den, das in der Macht des betreffenden Akteurs lag
flexibel auszufüllende Form moralischer Zuständig- und worüber er Tatherrschaft hatte. Fehlende Selbst-
keit verstanden wurde. Eine Haltung der Verant- kontrolle ist vorwerfbar, soweit sie selbstverschuldet
wortlichkeit für die konkreten (erwartbaren) Folgen ist; dasselbe gilt für Unwissenheit über ethische Nor-
der persönlichen Mitwirkung an arbeitsteiligen, men grundlegenden Charakters, deren Kenntnis
technologisch vermittelten Handlungszusammen- ihrerseits normativ erwartet werden kann. Durch
hängen erschien daher als überzeugendere Alterna- die zunehmende Komplexität, Interdependenz und
tive zu einer starren, quasi-legalistischen Regelori- Veränderlichkeit von Handlungs(folgen)zusammen-
entierung, die mit den Begriff der (›bloßen‹) Pflicht- hängen in modernen, enttraditionalisierten und
erfüllung assoziiert wurde. Die weitergehende arbeitsteiligen Gesellschaften wächst indes die Be-
Auffassung, dass der Krise der ›technologischen Zi- deutung rechtlich positivierter und prinzipiell än-
vilisation‹ (Jonas 1979) durch einen grundsätzlich derbarer prospektiver wie retrospektiver Verant-
neuen Typus von Verantwortung beziehungsweise wortlichkeiten. Regeln für die Zuschreibung solcher
durch eine ›neue Ethik‹ begegnet werden müsse (s. Verantwortlichkeiten müssen zumal normative Kri-
Kap. IV.B.2), hat sich hingegen in der Diskussion als terien für den Umgang mit Risiken und Ungewiss-
unhaltbar erwiesen. Auch wurden Plädoyers für eine heiten etwa hinsichtlich möglicher Fern- oder Spät-
gewissermaßen ›heroische‹ Ausdehnung ›der‹ mora- folgen von Handlungen umfassen. In rechtlicher
lischen Verantwortung etwa von Ingenieuren und Hinsicht ist dabei etwa an Kriterien der Fahrlässig-
Wissenschaftlern zunehmend abgelöst durch Über- keit bei der Verschuldenshaftung, Bestimmungen
legungen bezüglich der Frage, welche spezifischen der Gefährdungshaftung (zum Technikrecht s. Kap.
Verantwortlichkeiten welchen Akteuren effizienter- VI.2), oder das Vorsorgeprinzip (s. Kap. VI.3) zu
und fairerweise zugeschrieben werden sollten und denken.
inwiefern Institutionen reformiert oder allererst eta- Ein wichtiger Teil der jüngeren Verantwortungs-
bliert werden müssen, um eine Übernahme technik- debatte in der Technik- und Umweltethik ist faktisch
bezogener Verantwortung zu ermöglichen (zur In- eine Debatte über die Angemessenheit und morali-
genieursethik s. Kap. III.7). Beispiele für solche sche Rechtfertigbarkeit derartiger Regeln. Die erste
Überlegungen sind etwa die Diskurse über die Eta- Phase des technikethischen Verantwortungsdiskur-
blierung effizienter und demokratisch legitimierter ses war auch bezüglich unbekannter Technikfolgen
Institutionen der Technikbewertung (zur Technik- vor allem von Plädoyers für eine Ausdehnung von
folgenabschätzung s. Kap. VI.4) oder die Diskussio- Verantwortlichkeiten bestimmt. Ungewissheiten be-
nen über die Frage, wie sogenannte whistle-blower züglich potentiell schädlicher Handlungsfolgen
adäquat geschützt und unterstützt werden könnten sollte zum einen durch verbesserte Risikoforschung,
(für Beispiele konkreter »Verantwortungskonflikte« zum anderen aber auch durch eine ›vorsorglich‹ risi-
von Ingenieuren siehe etwa Ropohl 2011). koaversive Entscheidungsstrategie Rechnung getra-
Die Instanz von Verantwortlichkeiten hängt vom gen werden (»better safe than sorry«). In Situatio-
Verantwortungstypus ab: Im Fall rechtlicher Verant- nen, in denen alle verfügbaren Handlungsoptionen
wortung sind es Gerichte, im Fall vertraglicher Ver- mit ungewissen Gefahren verbunden sind, erweist
antwortung die jeweiligen Vertragspartner etc. Die sich letztere Strategie freilich als nur begrenzt hilf-
Instanz moralischer Verantwortung wird in verschie- reich. Zudem ist unklar, inwieweit sich die risiko-
denen normativ-ethischen Theorien unterschiedlich aversive Strategie prospektiver Verantwortungsüber-
modelliert und teils mit dem Objekt moralischer nahme auch in eine entsprechend extensive Aus-
Fürsorgeverantwortung (Jonas 1992, 131), teils mit legung retrospektiver Haftungsverantwortung auch
42 II. Grundbegriffe

noch für hochgradig ungewisse Folgeschäden über- scheinlichkeit sehen, mit der eben diese Zuschrei-
setzen lässt. bung dazu führen wird, dass das betreffende Ziel
Ganz generell stellt sich angesichts der zuneh- tatsächlich erreicht wird und unerwünschte Neben-
menden Differenzierung und Positivierung von Ver- folgen vermieden werden. Vertreter gerechtigkeits-
antwortlichkeiten die Frage, wie die gesamtgesell- orientierter Ethiken werden demgegenüber betonen,
schaftliche Globalverantwortung für kumulative dass die Effizienz der Verantwortungsdistribution
und langfristige Technikfolgen sowohl effizient als nicht auf Kosten der Fairness maximiert werden
auch fair organisiert werden könnte. Angesichts des darf, die auch hinsichtlich der Verteilung von ›Ver-
erhöhten Koordinationsbedarfs moderner Gesell- antwortungslasten‹ zu berücksichtigen ist. Bei dem
schaften wäre es wenig erfolgversprechend, der von Konzept moralischer Verantwortung handelt es sich
Ulrich Beck diagnostizierten »organisierten Unver- also nicht etwa um ein neuartiges normativ gehalt-
antwortlichkeit« eine ›unorganisierte Verantwort- volles ›Prinzip‹ normativer Ethik (vgl. die Beiträge in
lichkeit‹ gegenüberzustellen, in der jeder sozusagen Bayertz 1995) oder um einen eigenständigen Ethik-
›für alles‹ verantwortlich wäre. Vor diesem Hinter- ansatz. Wer etwa im Sinne von Hans Jonas oder Max
grund haben Autoren wie Hans Lenk, Matthias Weber von »Verantwortungsethik« spricht, bezieht
Maring und Karl-Otto Apel Bürger/innen über die sich damit immer schon auf eine bestimmte Inter-
bereits rechtlich positivierten oder konventionell pretation der moralischen Verantwortungsbezie-
festgelegten Rollenverantwortlichkeiten hinaus eine hung (dies betont Weber selbst; vgl. 1988, 551). Der
spezifische »Metaverantwortung« (Lenk/Maring Verantwortungsbegriff als solcher bezeichnet ledig-
2003, 67 ff.) beziehungsweise »Mitverantwortung« lich eine generelle normative Relation, die nur in
(Apel 1988) zugeschrieben, die zum gemeinschaftli- Abhängigkeit von substantiellen normativ-ethischen
chen Engagement für die Etablierung und Weiter- Annahmen so spezifiziert werden kann, dass hinrei-
entwicklung geeigneter Verantwortungsstrukturen chend klar ist, wer jeweils wofür, vor wem und
verpflichtet. warum moralische Verantwortung trägt.
Was aber sind ›geeignete‹ Verantwortungsstruk-
turen? Die oben thematisierten Mindestkriterien für Literatur
Verantwortungsfähigkeit und die im Ausgang von
Aristoteles entwickelten Grundprinzipien der Zu- Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung: Das Problem
des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt
rechnung geben zwar Randbedingungen vor, inner-
a. M. 1988.
halb derer sich sinnvolle Antworten bewegen müs- Aristoteles: Die Nikomachische Ethik: griechisch/deutsch.
sen. Wie der innerhalb dieser Randbedingungen be- Düsseldorf 2001.
stehende Spielraum auszufüllen ist, lässt sich aber Bayertz, Kurt: Verantwortung: Prinzip oder Problem?
nur in Abhängigkeit von substantiellen moralischen Darmstadt 1995.
Feinberg, Joel: Handlung und Verantwortung. In: Georg
Annahmen festlegen. Denn wie in der insbesondere
Meggle (Hg.): Analytische Handlungstheorie. Band 1:
an Jonas (1979) anschließenden (technik-)ethischen Handlungsbeschreibungen. Frankfurt a. M. 1977, 186–
Diskussion deutlich geworden ist, lassen sich dem 224.
Verantwortungsbegriff selbst nicht etwa schon die Fischer, John M./Ravizza Mark: Responsibility and Control:
normativen Kriterien entnehmen, an denen die kon- A Theory of Moral Responsibility. Cambridge, Mass. 1998.
krete Verantwortungszuschreibung orientiert ist Floridi, Luciano/Sanders, Jeff W.: On the morality of artifi-
cial agents. In: Minds and Machines 14 (2004), 349–379.
(Ott 1997, 252 ff.; hierzu differenzierend Grunwald Frankfurt, Harry G.: Alternate possibilities and moral
1999). responsibility. In: The Journal of Philosophy 66 (1969),
Entsprechend hängen die spezifischen Zuschrei- 829–839.
bungen moralischer Verantwortung von der jeweils French, Peter A./Wettstein, Howard K. (Hg.): Shared Inten-
vertretenen normativ-ethischen Theorie ab (vgl. die tions and Collective Responsibility. Boston 2006.
Grunwald, Armin: Verantwortungsbegriff und Verantwor-
unterschiedlichen Ansätze in Kap. IV.B in diesem tungsethik. In: Ders.: Rationale Technikfolgenbeurtei-
Handbuch). Wenn beispielsweise die Realisierung lung. Konzeption und methodische Grundlagen. Berlin/
eines bestimmten Ziels, etwa die Reduzierung des Heidelberg/New York 1999, 175–194.
CO2-Ausstoßes, moralisch geboten erscheint, so Hart, Herbert L.: The ascription of responsibility and
werden utilitaristische Ethiker den entscheidenden rights. In: Proceedings of the Aristotelian Society 44
(1949), 171–194.
Grund für die Zuschreibung prospektiver Verant- Hubig, Christoph/Reidel, Johannes: Ethische Ingenieurver-
wortung für die Realisierung des betreffenden Ziels antwortung: Handlungsspielräume und Perspektiven der
an einen bestimmten Akteur in der relativen Wahr- Kodifizierung. Berlin 2003.
6. Verantwortung 43

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik ring, Matthias (Hg.): Fallstudien zur Ethik in Wissen-
für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. schaft, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Karlsruhe
– : Philosophische Untersuchungen und metaphysische Ver- 2011, 133–149.
mutungen. Frankfurt a. M. 1992. Strawson, Peter F.: Freedom and resentment. In: Procee-
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. dings of the British Academy 48 (1962), 187–211.
In: Werke: Akademie Textausgabe. Berlin 1968, IV, 385– Weber, Max: Politik als Beruf. In: Gesammelte Politische
464. Schriften. Tübingen 1988, 505–560.
Lenk, Hans/Maring, Matthias: Technikverantwortung. Werner, Micha H.: Primordiale Mitverantwortung: Zur
Frankfurt a. M./New York: 1991. transzendentalpragmatischen Begründung der Diskurs-
Lenk, Hans/Maring, Matthias: Natur  – Umwelt  – Ethik. ethik als Verantwortungsethik. In: Karl-Otto Apel/Hol-
Münster 2003. ger Burckhart (Hg.): Prinzip Mitverantwortung: Grund-
Ott, Konrad: Ipso facto: Zur ethischen Begründung normati- lage für Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001, 97–122.
ver Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt a. M. – : Verantwortung. In: Konrad Ott/Barbara Muraca (Hg.):
1997. Handbuch Umweltethik. Stuttgart/Weimar 2014 (im Er-
Putnam, Hilary: Why there isn ’ t a ready-made world. In: scheinen).
Synthese 51 (1982), 141–167. Zimmerman, Michael J: Responsibility. In: Lawrence C.
Ropohl, Günter: Das Risiko im Prinzip Verantwortung. In: Becker/Charlotte B. Becker (Hg.): Encyclopedia of Ethics.
Ethik und Sozialwissenschaften 5 (1994), 109–120. New York 2001, Bd. 2, 1486–1492.
– : Verantwortungskonflikte in der Ingenieurarbeit. In: Ma- Micha H. Werner
45

III. Hintergrund

1. Frühe Technikskepsis vierung und De-Humanisierung der disziplinierten


und ihrer Autonomie beraubten Arbeiterschaft
und -kritik wahr. Die neuen, ›geschäftsmäßigen‹ Beziehungen
von Fabrikherren und Arbeitern, die Zerschlagung
In Deutschland bestand vor den 1830er Jahren noch der alten gesellschaftlichen Verhältnisse und die
keine Durchdringung der Lebenswelt mit Technik Verelendung großer Bevölkerungsschichten stand
und Industrie; es gab allenfalls punktuelle Erschei- im Mittelpunkt einer sozialen Kritik, während sich
nungen. Eine Kritik setzte daher noch nicht am wirtschaftliche Kritik von Produzierenden an den zu
»Maschinenwesen« an, sondern an der rationalen billigen, minderwertigen, auf inhuman scheinende
Durchdringung der Welt, die im Gegensatz zu den Weise anonym und arbeitsteilig, »unorganisch« her-
gewachsenen, traditionellen Strukturen der alten gestellten Waren entzündete. Moralische Kritik übte
Welt gesehen wurde. Vor allem die romantische an- man an der »Verderbnis« sozial entwurzelter Indus-
tikapitalistische Kritik, die sich in Deutschland mit triearbeiter mit verfügbarem Einkommen. Erste ne-
der Adelskritik an den preußischen Reformen nach gative Umweltfolgen der Technisierung riefen eine
1800 verbündete, sah in den gemeinsamen Wurzeln ökologische Kritik hervor, während vor allem in den
von Absolutismus, Aufklärung und Revolution »eine USA das Vordringen der Technisierung und Indus-
Negation wirklich bestehender Rechte« als Rahmen- trialisierung in die vermeintliche Wildnis, der ma-
bedingungen des »künstlichen Fabriksystems«, das chine in the garden, eine naturkonservierende Kritik
an die Stelle alter Rechte, Arbeitsbeziehungen und hervorrief, die in Deutschland vor 1900 mit verän-
Organisationsformen wie der Zünfte trat (Sieferle derter, eher kulturkonservativer Stoßrichtung ein-
1984, 52 f.). Die Kritik der Romantiker und ihrer tra- setzte (s. Kap. IV.C.2).
ditionalistischen Vorläufer wie Justus Möser erfolgte Diese Kritiktypen können konkretisiert werden.
aus antiaufklärerischer Perspektive und nahm nicht Zu unterscheiden sind neben den Zielrichtungen
primär Technik und Industrie in den Fokus, sondern und den Anlässen des Handelns die Träger der Kri-
eher die rationale Rekonstruktion der Gesellschaft tik beziehungsweise die handelnden Subjekte; die
und ihrer Ökonomie. Typen und Arten des Handelns; sowie die technisch-
industriellen Felder, die zum Zentrum der Ausein-
andersetzung wurden. Technik- und Industriefeind-
Industrie- und Modernisierungskritik schaft artikulierte sich in einem Spektrum, das von
literarischer oder tagesjournalistischer Kritik bis zu
In der Kritik an den neuen Rahmenbedingungen ei- gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Sachschä-
nes industriekapitalistischen Zugriffs spielte das Bild den, Toten und Verletzten reichte, von Skepsis bis zu
eines leidenden und verelendeten, aber auch ver- regional bürgerkriegsähnlichen Ereignissen.
kommenen und aggressiven Proletariats nur als Po- Bei der Betrachtung der Technikkritik ist nach
tential, aber noch nicht in der Anschauung eine der jeweiligen Zielrichtung zu fragen. Erfolgte eine
Rolle. Erst seit den 1830er Jahren, auch nach der Re- Feindschaft gegen genuine Technisierungsprozesse
zeption britischer Debatten und nach den bestürzten oder eher gegen die sozialen Folgen von sich wan-
Berichten von Reisenden, die englische Fabrikland- delnden Produktionsverhältnissen? Geht es um
schaften besucht hatten, wurde Industriekritik zum Technik oder um die vielfältigen Modernisierungs-
Thema. vorgänge im Prozess der Industrialisierung, die mit
Deren Zielrichtung war mehrfach: Es war ästheti- »Maschinisierung« verknüpft sind, von denen Tech-
sche Kritik an der Transformation der Städte, an nik ein Teil ist oder als Teil empfunden wird? In wel-
Landschaftszerstörung, hässlichen Fabriken und chen Aktionsformen äußerten sie sich? Welche Bil-
amorphem Stadtwachstum, aber auch an der Durch- der und Metaphern wurden für die Wahrnehmung
dringung der Warenwelt mit geschmacklosen Pro- und Darstellung von Technik und Industrie akti-
dukten. Anthropologische Kritik nahm die Depra- viert?
46 III. Hintergrund

Als typisch für die beginnende Sensibilität gegen- die sozialen Folgen der frühen Industrialisierung
über dem »Maschinenwesen« in einer Phase, als und weniger auf die Maschinisierung und das Indus-
technischer Wandel gerade sichtbar zu werden be- triesystem. Diskutiert wurde auch schon früh die
gann, wird immer wieder Johann Wolfgang von Frage, ob die Einführung von Maschinen und des
Goethes Diktum aus der 1829 erschienenen zweiten Fabriksystems letztlich Arbeit schafft oder vernich-
Fassung von Wilhelm Meisters Wanderjahren ange- tet. Schon 1817 hat David Ricardo die »Freisetzungs-
führt: »Das überhandnehmende Maschinenwesen theorie« unterstützt. Dies wurde von Karl Marx als
quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein objektiv akzeptiert.
Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Rich-
tung genommen, es wird kommen und treffen. […]
Man denkt daran, man spricht davon, und weder Gewaltsamer Protest in Großbritannien
Denken noch reden kann Hülfe bringen« (nach Lite-
ratur im Industriezeitalter, 1987, 95). Zugleich aber traten Protestformen auf, die sich an
Kurz darauf formierte sich in Deutschland ein konkreten Entwicklungen entzündeten, ohne dass
intellektuelles Argumentationsbündel, das abhängig prinzipielle Probleme der Industrie und Technisie-
von britischen Wahrnehmungen und Debatten war, rung im Zentrum standen. Auf der anderen Seite des
wobei es eher erwartete oder drohende Entwicklun- Handlungsspektrums sind die Ludditen als prototy-
gen ohne eigene Anschauung antizipierte. In dieser pische modernisierungsfeindliche gewalttätige Ma-
Phase gab es noch kaum Artikulation durch die Be- schinenstürmer interpretiert worden. Benannt nach
troffenen, in deren Arbeitswelt Maschinen einzogen. dem wohl fiktiven »Captain« oder »King« Ned Ludd
Die Kritik der Romantiker gegen die beginnende gab es zwischen 1811 und 1817 in mehreren briti-
Maschinisierung ist im Kontext einer gesellschafts- schen Regionen wie Yorkshire und Lancashire collec-
konservierenden, aufklärungsskeptischen Kritik zu tive action von Textilarbeitern, vor allem Tuchsche-
sehen, die auf die Umbrüche der zweiten Hälfte des rern, Strumpfwirkern und Webern, die Maschinen,
18. Jahrhunderts reagierte (Sieferle 1984). Nicht eine Garne und Fertigwaren, aber auch Wohnhäuser zer-
rationale, modernisierte Gesellschaft, Verwaltung störten und Arbeitgeber angriffen. Nach gewaltsa-
und Warenproduktion wurde als »natürlich« gese- men Einsätzen des Militärs und harten Strafen der
hen, sondern die überkommenen, hierarchisch ge- identifizierten Maschinenstürmer, von denen eine
ordneten Verhältnisse, die auf Handwerk und Land- Anzahl gehängt und weitere deportiert wurden, en-
wirtschaft basierten. Diese romantische Skepsis deten die Aktionen.
richtete sich damit auch gegen staatlich getriebene Während in der älteren Literatur dies als bor-
Förderung des »Gewerbfleißes« und die Moderni- nierte, fortschrittsfeindliche Aktion gegen Moderni-
sierung der Produktions- und Distributionsverhält- sierung interpretiert wurde, sieht man Maschinen-
nisse. Ambivalenter war die Haltung der Roman- zerstörung seit Eric Hobsbawm eher als »collective
tiker zur Technik in Form von mechanischen Arte- bargaining by riot«, als »Verhandeln durch Taten«,
fakten, etwa Spieluhren und Automaten: Einer und nicht als genuine Industrie- und Technikfeind-
Fasziniertheit durch den Zauber technischer Spiele- schaft (Hobsbawm 1952). Attacken auf Maschinen
reien stand eine Ablehnung der rationalen, schein- waren ein wirksamer Hebel zur Stärkung der Ver-
humanen »seelenlosen, verdammten Automaten« handlungsmacht und boten taktische Vorteile, wie
gegenüber, so E.T.A. Hoffmann in der Erzählung etwa einen Solidarisierungszwang: Auch die Nicht-
Der Sandmann (1816). Teilnehmer der gewaltsamen Zerstörung konnten
Um die Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts am Arbeiten gehindert wurden, auch wenn sie sich
kamen zahlreiche sozialkritische Arbeiten auf den nicht an der collective action beteiligten.
Markt. Nicht die Technik als solche war das Zen- Als Indizien für die These des Verhandelns durch
tralthema, sondern Technisierung und Industriali- die Zerstörung von Investitionen der Arbeitgeber
sierung als Produktionsmittel der »socialen Frage«, gelten, dass eben nicht nur Maschinen, sondern
von Verelendung und Depravierung der Klasse der auch Rohmaterial und Fertigprodukte zerstört wur-
Arbeiter, die sie hervorbrachte. Prominent wurde den; und dass es Angriffe auf Maschinen längst vor
Friedrich Engels ’ Schrift »Die Lage der arbeitenden einer wirksamen industriellen Transformation gab.
Klasse in England« (1845). Aber auch Sozialromane Diese gewaltsamen Sozialproteste werden zudem in
wie Charles Dickens ’ Hard Times (1854), angesiedelt den Kontext der subrevolutionären Protestbewegun-
in der fiktiven Industriestadt Coketown, zielten auf gen auf dem Kontinent gestellt; sie bekommen damit
1. Frühe Technikskepsis und -kritik 47

eher den Charakter sozialer Aufstände und Rebellio- (Hodenberg 1997). Als Kampf gegen Statusver-
nen, bei denen Maschinen als teure Investitionsgüter schlechterung und gegen als ungerecht empfunde-
ein lohnendes Angriffsziel boten. Auch im deut- nes »Lohndrücken«, aber auch gegen neue Organi-
schen Vormärz gab es gegen Maschinen gerichtete sationsformen war der Weberaufstand eine typische
»Excesse«, deren Stellvertretungscharakter für brei- frühindustrielle Auseinandersetzung. Dieses Ereig-
tere soziale Unzufriedenheit deutlich wird (Wirtz nis von 1844 erlebte eine breite kulturelle Verarbei-
1985). tung. So schrieb Heinrich Heine im gleichen Jahr ein
Für die nordenglischen »Maschinenstürmer« »Weberlied«, zugleich mit Ferdinand Freiligraths
ging es nach Edward Thompson nicht nur um öko- »Aus dem schlesischen Gebirge« (1844), gefolgt von
nomische Beeinträchtigungen wie den Verlust von Ernst Dronkes »Das Weib des Webers« und Georg
Einkommen und Arbeitsplätzen und um die Ab- Weerths »Sie saßen auf den Bänken« (beide 1846).
wehr von Pauperisierung. Die Mehrzahl der Han- Gerhard Hauptmanns Drama De Waber (1892), ge-
delnden – die Tuchscherer waren gelernte Arbeiter folgt durch den Grafikzyklus »Ein Weberaufstand«
und standen wie die aufständischen Weber und Wir- (1894–98) von Käthe Kollwitz, leitete in die expressi-
ker in einer langen Handwerkertradition (Thomp- onistische Sozial- und Technikkritik über.
son 1987, 607) – führte einen Kampf gegen den Ver-
lust von »symbolischem Kapital« der Handwerker-
ehre, der Gebräuche und des damit verbundenen Widerstand gegen Umweltzerstörung
sozialen Status (Griessinger 1985). Die Maschine
machte skills der Arbeiter, die ihren Stolz und ihren Mit dem verstärkten Auftreten von Manufakturen
Verdienst ausmachten, überflüssig, indem sie die und Industrien, die die Umwelt belasteten, mit der
Fertigkeiten der arbeitenden Menschen in ihre Me- Einleitung von Chemikalien in Gewässer, mit dem
chanik hinein verlagerte. Technikfeindschaft war da- Ruß und Rauch in der Luft, mit Geruchsbelästigun-
her in Auseinandersetzungen um Einkommen, Fä- gen und Pflanzenzerstörungen, formierten sich Kri-
higkeiten und Arbeitsprestige integriert. Der Wider- tik und Widerstände. Diese waren weder ein feuda-
stand richtete sich aber auch gegen die gewandelten les Hemmnis der Produktivkraftentwicklung noch
kapitalistischen Finanzierungs- und Organisations- waren sie auf »abergläubische Technikfeindschaft
formen, so Hobsbawm, der das machine breaking als zurückzuführen; es handelt sich nur um den Wider-
bewussten Widerstand gegen die Maschine in der stand dagegen, daß Kosten der industriellen Pro-
Hand der Kapitalisten interpretierte (Hobsbawm duktion auf Dritte abgewälzt werden« (Sieferle 1984,
1964,11). Auch Protest gegen eine Weitergabe von 63). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über-
transnationalem Konkurrenzdruck spielte wohl eine stiegen die Umweltbelastungen durch die Industrie
Rolle. So attackierten im Vormärz deutsche Hand- noch kaum die traditioneller Handwerke wie der
werksgesellen britische Konkurrenzprodukte, die Gerberei oder Färberei. Literarische Kritik, wie sie
nach dem Ende der Kontinentalsperre, die in Eng- von Wilhelm Raabe in Pfisters Mühle (1884) an der
land Rationalisierungsgewinne gebracht und fal- Gewässerbelastung durch eine Zuckerfabrik geübt
lende Preise erzeugt hatte, Europa erreichten. wurde, blieb vereinzelt, während bildende Künstler
eher Qualm, Dreck und belastete Landschaften zum
Thema machten. Nicht immer geschah dies mit kri-
Das exemplarische Gewaltereignis: tischer Absicht, wie in manchen Grafiken Albert Ro-
Der schlesische Weberaufstand bidas (»La vie électrique«, 1890); Rauchwolken
konnten auch als »industriell Sublimes« romantisch
Der Weberaufstand von 1844 war nicht singulär  – wirken, wie in Philip James de Loutherbourgs »Coal-
im späten 18. Jahrhundert gab es beispielsweise in brookdale by Night« (1801; Klingender 1976). Zu
Augsburg mehrere gewalttätige Aktionen –, aber er differenzieren ist zudem zwischen der Kritik fabrik-
wurde intensiv wahrgenommen, kulturell verarbei- externer Bürger, die ihre Lebensqualität beeinträch-
tet und wirkte im Vorfeld der 1848er Revolution po- tigt sahen, und den Umweltbelastungen, die die di-
litisierend. Es war kaum ein technikfeindlicher »Ma- rekt betroffenen Arbeiter in den Fabriken und Woh-
schinensturm«, sondern die Gewalt richtete sich ge- nungen spürten und die in der sozialkritischen
gen die Wohnhäuser und Lager einzelner Verleger, Literatur als Bestandteil der schockierenden proleta-
von denen die Weber für Lieferung des Rohmateri- rischen Lebensumstände und als Teil des Pauperis-
als und die Abnahme der Tuche abhängig waren mus zum Thema gemacht wurden.
48 III. Hintergrund

Eisenbahnskepsis Das Eindringen der machine


in the garden
Technik- und Industriekritik äußerte sich im
19. Jahrhundert durchwegs auf bestimmten Feldern In den USA nahm Technikkritik um 1850 eine spe-
und Gebieten, die symbolisch aufgeladen wurden. zifische Form an: als Kritik aus konservationisti-
Dabei blieben manche Bereiche ausgenommen, die scher Perspektive an der Zivilisation und Industrie,
›zivilisatorische Segnungen‹ ohne große negative die in eine wenig berührte Natur eindringen (s. Kap.
Konsequenzen versprachen, wie etwa Wasserversor- IV.C.2). Die Wildnis ist zwar noch als Rückzugs-
gung oder Fortschritte der Beleuchtungstechnik. raum vor den Zumutungen der technischen Zivilisa-
Ausgenommen blieben auch ›unsichtbare‹ Bereiche, tion möglich, aber gefährdet. In Henry David Tho-
zu denen bürgerliche Kritiker kaum Zugang besaßen reaus Walden, or, Life in the Woods (1854) wird das
und bei denen die betroffenen Arbeiter keine indus- Potential einer antizivilisatorischen Spiritualität mit
trial action führten, wie etwa die Hochofenarbeiter. einem Lobpreis der Selbstversorgung und der Pio-
Umgekehrt wurden sichtbare und offensichtlich fol- nierideale rekombiniert. Walden ist seitdem ein Be-
genreiche Technikfelder intensiv und über längere zugstext für antiurbane und antiindustrielle Haltun-
Zeiträume symbolisch aufgeladen und debattiert. gen und für das Leben im Einklang mit der Natur
Dazu gehörte die Eisenbahn, wobei eine Verwirrung geworden, der bis in die Hippiekultur und die heu-
und schließlich Modernisierung von Empfindungen tige self-reliance-Bewegung hinein wirkt. In der Me-
durch den neuen technisierten Reisetypus in die De- tapher der machine in the garden, das Eindringen der
batte geriet, aber auch die klassenegalisierenden Technik in eine ideale und spezifisch amerikanische
Wirkungen der Demokratisierung von Geschwin- Landschaft, kondensiert sich nach Leo Marx das
digkeit und die politischen Effekte der Netzbildung Verhältnis von pastoraler Landschaft und aggressi-
(Schivelbusch 1977). Dazu kamen die sozialen Be- ver Industrie in vielen Texten der amerikanischen
dingungen beim Bau und die sehr reale Unfallpro- Literatur des 19. Jahrhunderts. Darin erscheinen die
blematik für die Reisenden. Zum Gegenstand einer Widersprüche zwischen dem bukolischen Ideal der
expliziten Technikkritik wurde die Eisenbahn etwa unberührten Landschaft der frontier und der neuen
bei Nikolai Nekrasov, dessen Gedicht »Eisenbahn« Rolle der USA als industrielle Macht (Marx 1964, 26).
(»Zeleznia doroga«) von 1864 die Menschenopfer
beim Bau der Strecke St. Petersburg–Moskau, die
1851 eröffnet wurde, thematisiert. Technische Un- Artikulationsformen, Medien,
fälle wurden in der literarischen Verarbeitung wie- Bilder, Metaphern
derholt zum Fokus der Technikkritik. Theodor
Fontanes Ballade »Die Brück’ am Tay« (1880), eine Technikkritische Positionen thematisierten ihren
Verarbeitung des Einsturzes einer schottischen Ei- Gegenstandsbereich mit einer Reihe identifizierba-
senbahnbrücke samt eines Personenzugs, hat als rer, kulturell stabilisierter Metaphern und Bilder, die
handelnde Subjekte die Hexen aus Shakespeares allerdings nicht durchwegs konsistent waren. So
Macbeth, die das technische »Gebilde aus Men- konnte Technik als personifizierte, gewaltsam auf-
schenhand« zerstören. Der Unfall selbst erschien als tretende Macht erscheinen, die beispielsweise als
Dementi der menschlichen Naturbeherrschung Riese gegen die Menschen agiert und sie besiegt.
durch Technik. Ein Seitenpfad der an der Eisenbahn Umgekehrt konnte aber auch die Maschine der Ver-
sich konkretisierenden Technikskepsis konzen- sklavung unterworfen werden, um im Dienst der
trierte sich auf die Art des Reisens. Während man in Menschen Fronarbeit zu leisten. Dann aber war eine
der Frühphase das zu rasche »Fliegen« entlang fixer Rebellion gegen die Menschen allgegenwärtig, was
Eisenwege beklagte und mit der geruhsamen und mit der politischen Revolutionsfurcht der Jahrhun-
landschaftsgemäßen Kutsche oder dem »freien dertmitte korreliert sein konnte, so etwa in Emanuel
Schweifen« der Romantik kontrastierte, geriet mit Geibels »Mythus vom Dampf« (1856). Die Ambiva-
dem Aufkommen des Automobils um 1900 schließ- lenz der Versklavungs- oder Dienstbarmachungs-
lich das passive Transportiertwerden und die metapher zieht sich durch die Industrialisierungs-
Zwangsteilnahme an einem inhumanen und genuss- geschichte. Zum einen konkretisiert sich dies im
feindlichen Großsystem in die Kritik. industriesymbolisierenden Riesen, später dem Ro-
boter, der sich gegen seine menschlichen Herren
wenden kann, zum anderen erscheint später die
1. Frühe Technikskepsis und -kritik 49

Fließbandproduktion als ahumanes »Band, auf das feinde« in die Argumentationstradition der Moder-
die Menschen geflochten sind« (E.E. Kisch: Paradies nisierer eingingen, wurden sie von den folgenden
Amerika). Filmische Verarbeitungen, wie Charles zivilisationskritischen Strömungen als Helden auf-
Chaplins Modern Times (1936), folgen journalisti- gestellt. Die ȟberwiegend technikfeindliche bis ma-
scher und literarischer Kritik. schinenstürmerische Haltung der deutschen Expres-
Auch die Symbolik der Gottgleichheit war ambi- sionisten« brachte ludditische Tendenzen in die
valent. So können einerseits die Menschen als göt- Lyrik und auf die Bühne. Karl Otten formulierte
tergleiche Schöpfer mit typischer Hybris auftreten, 1917: »Nieder mit der Technik, nieder mit der
zum anderen agiert die Industrie und Technik göt- Maschine! […] Fluch dir, Zeitalter, glorreich lächer-
tergleich und dominiert die Menschen, wie in Georg liches, der Maschine – alles Fabrik, alles Maschine!«
Weerths »Die Industrie« (1845): (Literatur im Industriezeitalter, 1987, 121). Kritik an
der gesellschaftsverändernden Wirkung der »großen
»[…] Die Industrie ist Göttin unseren Tagen!
Zwar noch erscheint ’s , sie halte starr gefeit Maschinerie« übten auch Filme wie »Metropolis«
Mit Basiliskenblick der Herzen Schlagen: (1926) oder Theaterstücke wie Georg Kaisers »Gas«
Denn düster sitzt sie auf dem finstern Thron, (1918) und »Gas II« (1920). Ernst Tollers Drama
Und geißelnd treibt zu unerhörter Fron, »Die Maschinenstürmer« (1922) ist um 1815 wäh-
Tief auf der Stirn des Unheils grausen Stempel rend der ludditischen Aufstände angesiedelt. Arbei-
Den Armen sie zu ihrem kalten Tempel!«
(nach Literatur im Industriezeitalter, 1987, 100). tern drohen Entlassungen aufgrund neuer Dampf-
technik, in die der Fabrikant Ure investieren will:
Ein durchgängiges Bildreservoir für Technik und In-
»Georges: Fluch dem Tyrannen Dampf!
dustrie um 1850 liefert die schwarze Romantik, typi- Eduard: Die Pest über ihn!
siert etwa in Philip James de Loutherbourgs Ge- William: Ohnmächtig sind wir!
mälde »Coalbrookdale by Night« (1801) Das Instru- Rufe (dumpf): Ohnmächtig ---
mentarium düsterer Landschaften und Gebäude, John Wible: Ein Mittel gibt ’ s! Wir sagen Fehde der
nächtlicher höllengleicher Szenerien und der Dämo- Maschine. […] Zerstörung der Maschine!
Krieg dem Tyrannen Dampf!«
nisierung von Agierenden wurde zur Industriedar- (Literatur im Industriezeitalter 1, 143).
stellung adaptiert: »Dazu spieen die Hohöfen (sic),
in denen das Metall glühte, ihre Feuersäulen in die Bis heute fand immer wieder eine Aktivierung der
Luft, so daß es oft den Anschein hatte, als würde die Erinnerung an die historischen Maschinenstürmer
von der Spinnfabrik herabwallende breite und statt, auch zur Traditionsbildung und zur retrospek-
schwere Rauchwolkendecke von flammenden Pilas- tiven Begründung aktueller Technikskepsis (Pyn-
tern getragen. Es war der Baldachin der Industrie, chon 1984).
der zu jeder Tageszeit über dieser Gegend schwebte
und den Ort anzeigte, wo der Genius des materiellen
Literatur
Zeitgeistes seine Wohnung aufgeschlagen hatte«
(Ernst Adolf Willkomm: »Eisen, Gold und Geist«, Adas, Michael: Machines as the Measure of Men. Science,
1843, nach Literatur im Industriezeitalter, 1987, 102). Technology, and Ideologies of Western Dominance. Ithaca,
Generell aber differenzierte man in der Literatur of- NY u. a. 1990.
Fox, Nicholas: Against the Machine. The Hidden Luddite
fenbar zwischen Ursachen und Folgen, so dass »[…] Tradition in Literature, Art and Individual Lives. Wa-
eine recht große Zahl von Autoren gegenüber der in- shington D.C. 2004.
dustriellen Entwicklung durchaus nicht prinzipiell Griessinger, Andreas: Das symbolische Kapital der Ehre.
negativ eingestellt war, sondern nur deren frühkapi- München 1985.
talistische Auswüchse verurteilte« (Literatur im In- Hobsbawm, Eric: The Machine Breakers. In: Past and Pre-
sent 1 (1952), 57–70.
dustriezeitalter, 1987, 95). – : The Machine Breakers. In: Ders.: Labouring Men. Lon-
don 1964.
Hodenberg, Christina von: Aufstand der Weber. Die Revolte
Traditionsbildung und Rezeption von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997.
von Ludditen und Maschinensturm Jones, Steven: Against Technology. From the Luddites to
Neo-Luddism. London 2006.
Klems, Wolfgang: Die unbewältigte Moderne. Geschichte
Die historischen machine breakers erlebten immer und Kontinuität der Technikkritik. Frankfurt a. M. 1988.
wieder Aktivierungen und Neuinterpretationen. Klingender, Francis D.: Kunst und Industrielle Revolution.
Während die Ludditen als bornierte »Fortschritts- Frankfurt a. M. 1976.
50 III. Hintergrund

Literatur im Industriezeitalter. Ausstellungskatalog Bd. 1. 2. Entstehung des TÜV


Marbach a.N. 1987.
Marx, Leo: The Machine in the Garden. Technology and the
Pastoral Ideal in America. Oxford 1964.
Noble, David F.: Maschinenstürmer oder die komplizierten Ursprünge
Beziehungen der Menschen zu ihren Maschinen. Berlin
1986. Unter den Einrichtungen, die im 19. Jahrhundert für
Pynchon, Thomas: Is it o. k. to be a luddite? In: New York den Umgang mit den neuartigen technischen Gefah-
Times Book Review (28. Oktober 1984), 40–41. ren des Industriezeitalters geschaffen wurden, ragen
Sale, Kirkpatrick: Rebels Against the Future: The Luddites
and their War on the Industrial Revolution. Lessons for in Deutschland vor allem die Technischen Über-
the Computer Age. Cambridge, Mass. 1995. wachungsvereine (TÜV) als langfristig folgenreiche
Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur und im internationalen Kontext durchaus unge-
Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhun- wöhnliche Innovation hervor. Ihre historischen
dert. München 1977. Wurzeln haben sie in den Dampfkessel-Überwa-
Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen
Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegen- chungsvereinen, die seit der Mitte des 19. Jahrhun-
wart. München 1984. derts zur Bekämpfung gefährlicher Kesselexplosio-
Spehr, Michael: Maschinensturm. Protest und Widerstand nen entstanden. Nach einigen Jahrzehnten der Revi-
gegen technische Neuerungen am Anfang der Industriali- sionsarbeit in den Kesselanlagen des Deutschen
sierung. Münster 2000. Reichs begann eine sukzessive Ausweitung des Auf-
Thompson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbei-
terklasse. Frankfurt a. M. 1987. gabenspektrums, so dass sich die Vereine allmählich
Wirtz, Rainer: Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tu- zu einer zentralen Instanz in Fragen technischer Si-
multe und Skcandale. Soziale Bewegungen und gewalthaf- cherheit (s. Kap. II.3) entwickelten. Heute agieren
ter Protest in Baden 1815–1848. Berlin 1985. die Technischen Überwachungsvereine als internati-
Kurt Möser onal tätige Dienstleistungsunternehmen und rekla-
mieren eine Kompetenz als neutrale Gutachter weit
über technologische Fragen hinaus.
Gegründet wurden die Überwachungsvereine als
Organe der unternehmerischen Selbsthilfe. Mit der
Verbreitung der Dampfkessel und insbesondere dem
Anstieg des Betriebsdrucks entstand ein Gefahren-
potential, das alle bisherigen Erfahrungen sprengte.
Bei einer Kesselexplosion kamen Arbeiter zu Tode
oder wurden schwer verletzt. Durch die nahezu
zwangsläufige Zerstörung des Betriebsgebäudes flo-
gen Trümmer mitunter mehrere hundert Meter
durch die Luft. Mit den Gefahren für Mensch und
Material verband sich ein enormes unternehmeri-
sches Risiko. Dampfmaschinen wurden im 19. Jahr-
hundert zur entscheidenden Kraftquelle in Betrie-
ben aller Art, deren Ausfall zumeist den Stillstand
des gesamten Betriebs zur Folge hatte.
Das Modell für die Überwachungsvereine kam
aus England. In Manchester gründete sich 1855 die
Association for the Prevention of Steam Boiler Explo-
sions, die den Mitgliedern regelmäßige Untersu-
chungen ihrer Kesselanlagen anbot. Die englischen
Vereine entwickelten sich in harter Konkurrenz mit
Versicherungsgesellschaften, die die finanziellen
Folgen einer Kesselexplosion absicherten und erst in
Ergänzung dazu und zum Teil fakultativ Revisionen
anboten. Diese Versicherungsgesellschaften erwiesen
sich bei englischen Unternehmern als weitaus popu-
lärer und kontrollierten 1880 etwa 38.000 Dampf-
2. Entstehung des TÜV 51

kessel, während der Überwachungsverein zu diesem 1870er Jahren mit Bismarcks Wende zu den Konser-
Zeitpunkt lediglich 3500 Kesselanlagen beaufsich- vativen endete.
tigte. Insgesamt gab es in England um 1880 etwa Staatsbeamte und Vereinsingenieure arbeiteten
100.000 Dampfkessel. zunächst parallel, wobei Vereinskessel in der Regel
Der erste deutsche Überwachungsverein wurde von der staatlichen Kontrolle befreit waren. Das
1866 als Badische Gesellschaft zur Überwachung von Schwergewicht lag allerdings zunächst noch eindeu-
Dampfkesseln gegründet. Anlass war eine aufsehen- tig bei der staatlichen Aufsicht, 1884 waren in Preu-
erregende Kesselexplosion in der Brauerei »Zum ßen lediglich 21 Prozent der Dampfkesselbesitzer
großen Mayerhof« im Zentrum von Mannheim, die Mitglied eines Überwachungsvereins. Dieses Ne-
große Zerstörungen anrichtete und ein Menschenle- beneinander endete um 1900, als sich die meisten
ben forderte. Dass zunächst durchaus unterschiedli- Bundesstaaten aus der unmittelbaren Aufsicht zu-
che Entwicklungsrichtungen denkbar waren, zeigen rückzogen und die Aufgabe den Verbänden überlie-
die Statuten der Gesellschaft, in denen neben der re- ßen. Damit waren die Dampfkesselüberwachungs-
gelmäßigen Kontrolle, die dann zum Kern der Ver- vereine ein Musterbeispiel für eine korporatistische
einsarbeit wurde, auch die Wirtschaftlichkeit des Lösung, bei der die Verwaltung zur eigenen Entlas-
Kesselbetriebs sowie monetäre Versicherungen als tung Aufgaben an nichtstaatliche Akteure überträgt.
Vereinszweck vorgesehen waren. Zunächst war das Die Überwachungsvereine ersparten der Staatsver-
Interesse jedoch trotz energischer Unterstützung waltung schließlich den Aufbau eines eigenen Kon-
durch die badische Handelskammer gering. Erst als trollapparats mit den entsprechenden Kosten und
1868 ein Erlass des badischen Staates die Kesselbe- Problemen. Der korporatistische Ansatz vermied
sitzer zum Eintritt aufforderte, stiegen die Mitglieds- Konflikte mit Unternehmern, die die Staatsgewalt so
zahlen an, so dass der Verein im gleichen Jahr seinen weit wie möglich aus dem eigenen Betrieb herauszu-
ersten Vereinsingenieur anstellen konnte. Mit der halten suchten und bot zudem einen eleganten Aus-
Gründung ähnlicher Vereine in Hamburg und Mag- weg im Streit um die Qualifikation der breit ausge-
deburg 1869 begann eine dynamische Entwicklung, bildeten Baubeamten, deren Kompetenz von den
die bis 1914 zur Gründung von 36 Überwachungs- aufstrebenden Maschinenbauingenieuren angezwei-
vereinen in allen Teilen des Reiches führte. felt wurde. Tatsächlich wird man dieser Kritik rück-
blickend eine Berechtigung nicht absprechen kön-
nen, denn 1872 gab es in ganz Preußen nur zwei
Korporatismus im starken Staat Kesselrevisoren mit einer speziellen technischen
Ausbildung.
Als Unternehmerverbände mit quasi polizeilichen Das Professionsinteresse der Ingenieure erwies
Kontrollaufgaben waren die Dampfkessel-Überwa- sich im Folgenden als machtvoller Antrieb. Es ging
chungsvereine ein Fremdkörper in einem Land mit nicht nur um einen durchaus signifikanten Arbeits-
starker und selbstbewusster Staatsverwaltung. In markt – 1932 standen reichsweit 530 Ingenieure in
Preußen waren Dampfkesselanlagen schon seit 1831 Diensten der Überwachungsvereine –, sondern auch
Gegenstand eines besonderen Genehmigungsver- um das Selbstbild der Ingenieure als Problemlöser
fahrens, seit 1848 gab es eine Druckprobe mit dem im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Programma-
Anderthalbfachen des Betriebsdrucks, seit 1856 re- tisch erklärte einer der führenden Köpfe des Vereins
gelmäßige Kesselrevisionen durch Baubeamte. Im Deutscher Ingenieure in einer Diskussion über die
schwächer industrialisierten Baden fehlte eine ver- Dampfkesselrevision, sein Verein betrachte sich
gleichbare Kontrolle; erst dadurch entstand das Va- »immer mehr als Vertreter der technischen Interes-
kuum, in dem dann der erste Überwachungsverein sen unseres Vaterlandes« (zitiert nach Lundgreen
entstand. Zudem herrschte im Süden Deutschlands 1981, 78). Berufliches Interesse und Standesideolo-
eine liberalere politische Kultur, die sich in der Be- gie verband sich somit in einer Kritik am obrigkeitli-
teiligung der Handelskammer niederschlug. Auch chen Beamtenstaat, der de jure für die öffentliche
im weiteren Verlauf zeigte sich Preußen bei der Ordnung und Sicherheit zuständig war, aber im Um-
Übertragung von Aufgaben an die Vereine als Nach- gang mit technischen Herausforderungen immer
zügler, während die Vorreiter zumeist die süddeut- wieder an die Grenzen seiner Fähigkeiten zu gelan-
schen Bundesstaaten waren. Insofern waren die gen schien.
Überwachungsvereine ein Erbe der liberalen Peri- Die dahinter stehende Frage, ob das Gemeinwohl
ode der deutschen Geschichte, die in den späten bei Fragen der technischen Sicherheit besser durch
52 III. Hintergrund

juristisches Ordnungsdenken oder ingenieurtechni- lich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Auch mit
sche Kompetenz garantiert würde, blieb vordergrün- der Wärmewirtschaft beschäftigten sie sich nur ne-
dig unbeantwortet. Faktisch gewann die Expertise benher, bis der Kohlenmangel im und nach dem Ers-
der Techniker jedoch bald ein spürbares Überge- ten Weltkrieg die Bedeutung des Themas zeigte.
wicht. Besonders deutlich wurde dies im Bereich der Auffallend ist schließlich, wie sehr die Vereine
technischen Normen. Die Sicherheit der Dampfkes- sich in den ersten Jahrzehnten ihrer Arbeit auf die
sel hing entscheidend an zuverlässigen Standards, reine Technik konzentrierten. Zwar lag auf der
deren Entwicklung vor allem von Maschinenbauin- Hand, dass kompetente und verantwortungsbe-
genieuren vorangetrieben wurde. Der Staat zog sich wusste Bedienmannschaften für den sicheren Be-
hier auf den unbestimmten Rechtsbegriff des trieb einer Kesselanlage unverzichtbar waren, aber
»Stands der Technik« zurück, dessen konkreter Ge- die Vereinsingenieure widmeten sich solchen The-
halt das Resultat fachwissenschaftlicher Debatten men nur zögernd. Selbst Kursangebote für das Kes-
war. selpersonal entwickelten sich zunächst nur in be-
Das stetige Wachstum von Mitgliederzahlen, Mit- grenztem Umfang. Die Erkenntnis, wie sehr der
arbeitern und Kompetenzen im 19. Jahrhundert Mensch im Umgang mit technischen Herausforde-
lenkt leicht von der Tatsache ab, dass die wachsende rungen der Schulung und Förderung bedurfte und
Bedeutung der Revisionsvereine jahrzehntelang um- welche enormen Möglichkeiten sich hier für die Ver-
stritten blieb. Noch 1894 versuchte das preußische einsarbeit ergaben, durchzieht die TÜV-Geschichte
Ministerium für Handel und Gewerbe, die Kesselre- des 20. Jahrhunderts.
vision der eigentlich für den Arbeiterschutz geschaf-
fenen Gewerbeaufsicht zu übertragen und damit
den Vereinen die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Neue Aufgaben
Dabei sollte man diese Konkurrenz von staatlicher
und verbandlicher Problemlösungskompetenz nicht Seit den 1890er Jahren veränderte sich das Aufga-
nur negativ interpretieren. Die strenge Oberaufsicht benprofil der Überwachungsvereine, denen nun
der staatlichen Organe, die Unregelmäßigkeiten und weitere Aufgaben im Bereich der technischen Si-
Fehlern penibel nachgingen, stellte einen wichtigen cherheit übertragen wurden. Nach und nach rückten
Anreiz zur ständigen Verbesserung der Kontrolltä- Aufzüge, Azetylenanlagen und Mineralwasserappa-
tigkeit dar: Auch kleine Skandale drohten das korpo- rate, Tankanlagen und elektrotechnische Anlagen
ratistische Arrangement in seinen Grundfesten zu sowie Druckbehälter neben die traditionelle Auf-
erschüttern. Selbst die Übertragung der gesamten sicht der Dampfkessel, eine Entwicklung, die ver-
Kesselaufsicht an die Vereine, die 1897 zunächst in einsintern durchaus nicht unumstritten war. Mit ei-
Bayern und Württemberg und 1900 dann in Preu- ner gewissen Verzögerung spiegelte sich das expan-
ßen verfügt wurde, brachte in dieser Hinsicht keine dierende Aufgabenspektrum in einer wachsenden
endgültige Entspannung. Das Großherzogtum Hes- Spezialisierung der Mitarbeiter.
sen beschloss 1902 sogar die Verstaatlichung der Langfristig folgenreich war vor allem die Ab-
Dampfkesselaufsicht, wodurch der Frankfurter nahme und Prüfung von Kraftfahrzeugen, die ein-
Dampfkessel-Überwachungsverein fast die Hälfte zelne Vereine seit 1904 praktizierten und 1909 per
seiner Mitglieder verlor. Reichsgesetz allgemein vorgeschrieben wurde. Im
Insgesamt ist ein Erfolg der Aufsichtstätigkeit Zuge der Massenmotorisierung wurde das Kraft-
nicht zu verkennen. Von 1879 bis 1899 sank die Zahl fahrzeugwesen zum größten Arbeitsgebiet der tech-
der Kesselexplosionen in Deutschland von 18 auf 14 nischen Überwachung. Zugleich machte die seit
und die Zahl der Verletzten von 78 auf 35, während 1951 in regelmäßigen Abständen vorgeschriebene
sich die Zahl der Dampfkessel mehr als verdoppelte. Hauptuntersuchung den TÜV in der Bevölkerung
In Deutschland gab es im Jahr 1900 durchschnittlich allgemein bekannt und bei den Besitzern älterer
eine Kesselexplosion je 10.000 Dampfkessel, in Eng- Fahrzeuge auch berüchtigt. Weniger Beachtung fin-
land hingegen 2,5, in Frankreich 6,5 und in den USA det merkwürdigerweise die Rolle des TÜV bei der
sogar 12. Jenseits ihrer Kernzuständigkeit agierten Führerscheinprüfung, die ebenfalls schon vor 1914
die Vereine jedoch zunächst nur zögerlich. So blie- ihren Anfang nahm.
ben die Dampfkessel-Überwachungsvereine in der Zugleich erwuchs den Dampfkessel-Überwa-
Bekämpfung von Rauch und Ruß, die bei der Ver- chungsvereinen jedoch eine Konkurrenz in ihrem
brennung von Kohle massenhaft entstanden, deut- ursprünglichen Arbeitsfeld, als nach dem Ersten
2. Entstehung des TÜV 53

Weltkrieg die Vereinigung der Großkraftwerksbe- Eine deutsche Institution


treiber (VGB) als Prüforganisation speziell für
Hochleistungskesselanlagen entstand. Anlass der Die Herrschaft der Nationalsozialisten dokumen-
Gründung war eine Katastrophe im Kohlekraftwerk tierte sich für die Überwachungsvereine in einer Se-
Düsseldorf-Reisholz am 9. März 1920, die 27 Arbei- rie von staatlichen Erlassen, die in der Summe auf
tern das Leben kostete und 20 weitere schwer ver- Vereinheitlichung, Zentralisierung und Schwächung
letzte. Die daraufhin auf den Rheinischen Dampf- der Selbstverwaltung hinausliefen. Die beiden Dach-
kessel-Überwachungsverein hereinprasselnde Kritik verbände – aus historischen Gründen hatten sich se-
war umso heftiger, als das Ereignis zunächst Rätsel parate Verbände für Preußen und für Deutschland
aufgab. Der Kessel lief zum Zeitpunkt der Explosion entwickelt  – wurden in einem Reichsverband der
mit dem genehmigten Betriebsdruck, es gab keine Technischen Überwachungsvereine zusammenge-
Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf, und die An- führt und einer staatlichen Reichshauptstelle für
lage war erst seit vier Jahren in Betrieb. Technische Überwachung unterstellt. Die Überwa-
Vordergründig lag die Ursache der Katastrophe in chungsbezirke wurden 1938 neu zugeschnitten, pri-
einem Materialfehler, der durch eine ungünstige vate Sachverständige wurden in die Vereine einge-
Kesselkonstruktion verstärkt worden war. Dahinter gliedert und Ausnahmeregelungen etwa für Anlagen
verbarg sich jedoch ein technologischer Umbruch: in Staatsbesitz gestrichen, so dass die Überwa-
Während bis zum Ersten Weltkrieg fabrikeigene chungsvereine nun für sämtliche Betriebe mit über-
Dampfmaschinen dominiert hatten, ging der Trend wachungspflichtigen Anlagen zuständig waren; nur
nun zur Stromerzeugung in großen Kraftzentralen, bei Reichsbahn und Reichspost gab es Ausnahmen.
in denen die Kessel ungleich größeren Belastungen Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Dampf-
ausgesetzt waren. Der in Reisholz explodierte Kessel kessel-Überwachungsvereine nun auch offiziell
hatte einen Betriebsdruck von 14 atü; gegen Ende in Technische Überwachungsvereine (TÜV) umbe-
der 1920er Jahre wagte man sich bereits an 100 At- nannt.
mosphären heran. Rückblickend bemerkte einer der Die Reichshauptstelle verschwand nach dem
Pioniere der Dampfturbinentechnik, man könnte Krieg, und die Vereine kehrten zu den vertrauten
hier »fast von einer durch Sicherheitskoeffizienten Strukturen zurück. Wie sehr die Zeichen auf Restau-
gemilderten Ahnungslosigkeit sprechen«. Echte Er- ration standen, ist schon daran zu erkennen, dass die
fahrung gab es bei den neuen Hochleistungskesseln Zuständigkeitsbereiche nicht mit den Grenzen der
eigentlich nicht, allenfalls eine »auf Erfahrung ge- Bundesländer übereinstimmten; in Niedersachsen
stützte Intuition« (zitiert nach Radkau 2008, 311). arbeiteten zwei, in Nordrhein-Westfalen sogar drei
Die Entstehung der Vereinigung der Großkraft- verschiedene Vereine. Eine zunächst drohende Ver-
werksbetreiber spiegelt nachdrücklich die Grenzen staatlichung konnte abgewendet werden, nur in den
der Technischen Überwachungsvereine. Deren Er- Bundesländern Hamburg und Hessen wurde die
folgsgeheimnisse waren neben der unbedingten technische Überwachung zur Staatsaufgabe erklärt.
Neutralität und Gewissenhaftigkeit vor allem die Hessen setzte damit den 1902 vom Großherzogtum
Regelmäßigkeit der Kontrolle und die dadurch ak- eingeschlagenen Weg fort und schuf drei Technische
kumulierte Erfahrung. Diese war jedoch dort wenig Überwachungsämter in Darmstadt, Frankfurt und
hilfreich, wo sich Forschung und Entwicklung in Kassel, eine Entscheidung, die erst in den 1990er
bislang unerprobte Dimensionen vortasteten, ein Jahren revidiert wurde.
Problem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg be- Die Entwicklung in der Bundesrepublik war vor
sonders prägnant im Bereich der Kerntechnik allem von einer enormen Expansion geprägt. Hatten
zeigte. Die Technischen Überwachungsvereine wid- 1952 noch weniger als 2000 Personen für einen TÜV
meten sich den neuen Anforderungen des Atom- gearbeitet, lag die Zahl der Beschäftigten 1970 bei
zeitalters mit großer Aufgeschlossenheit, konnten 6781, wovon 4123 zum technischen Personal gehör-
in diesem Bereich jedoch nicht die aus anderen Be- ten. Dieser Aufschwung ging nicht nur auf die seit
reichen vertraute Vormachtstellung erringen. Der den 1950er Jahren an Dynamik gewinnende Mas-
inzwischen in VGB PowerTech umbenannte Kon- senmotorisierung und den Wirtschaftsboom zu-
kurrenzverband hat heute 466 Mitgliedsunterneh- rück, durch den sich zwangsläufig auch die Zahl der
men in 33 Ländern, die gemeinsam eine installierte zu prüfenden Anlagen vermehrte. Zunehmend
Kraftwerksleistung von 520.000 Megawatt repräsen- suchten die Überwachungsvereine nun Aufgaben
tieren. jenseits der traditionellen Aufgabenfelder, wobei
54 III. Hintergrund

einzelne Verbände wie etwa der TÜV Rheinland be- fahr von Rollenkonflikten bargen. Die im 19. Jahr-
sonders aggressiv vorgingen. 1978 machten die Ver- hundert noch spürbare Gegenmacht einer misstrau-
eine 9 Prozent ihres Umsatzes mit Prüf- und Über- ischen Staatsverwaltung hatte sich weitgehend
wachungsaufgaben im Rahmen der Gewerbeord- aufgelöst und einem Abhängigkeitsverhältnis Platz
nung und 41 Prozent im Kraftfahrzeugwesen, aber gemacht. Wirksame Kontrollmechanismen waren
50 Prozent mit sonstigen Aktivitäten. Die Umwand- kaum noch zu erkennen, schon die Mitarbeiterzah-
lung der eingetragenen Vereine in Aktiengesell- len lassen ein Ungleichgewicht erahnen: Die 2010
schaften und Gesellschaften mit beschränkter aufgrund einer EU-Verordnung eingerichtete Deut-
Haftung war rechtlicher Ausdruck dieses Wandels. sche Akkreditierungsstelle, die auch für die Überwa-
Zunehmend waren die TÜV auch jenseits der deut- chung der TÜV-Unternehmen zuständig ist, betreut
schen Grenzen tätig. Beim TÜV Rheinland arbeitet mit knapp 150 Angestellten etwa 4500 Akkreditie-
inzwischen mehr als die Hälfte der Belegschaft im rungsverfahren. Unter dem Gewicht der als Wirt-
Ausland. schaftsunternehmen geführten Verbände geriet die
Die sonstigen Aufgaben und die Internationali- tradierte Selbstverwaltung zur leeren Geste. 1975
sierung des Geschäfts führten zu einer wachsenden nahmen an der Jahreshauptversammlung des TÜV
Konkurrenz, die sich in einem komplizierten Ge- Norddeutschland nur 29 von 3500 Vereinsmitglie-
flecht von Kooperationen und Fusionen nieder- dern teil.
schlug. Von den 18 Überwachungsvereinen, die es Als brisantester und konfliktträchtigster Teil der
1943 in den Grenzen des Deutschen Reiches gab, TÜV-Arbeit galt der Bereich der Kernenergie (s.
waren in der alten Bundesrepublik 11 übriggeblie- Kap. V.11). Hier mussten die Prüfer von der Kon-
ben; in Ostdeutschland wurden die Vereine bis 1949 trolle der Einzelkomponenten zu einer Betrachtung
aufgelöst und Personal sowie verbliebene Ressour- des Gesamtsystems voranschreiten, während zu-
cen in die staatlichen Arbeitsschutzämter eingeglie- gleich Unfälle aufgrund der potentiell katastropha-
dert. Inzwischen gibt es trotz Wiedervereinigung len Folgen mit präzedenzloser Unbedingtheit zu un-
nur noch sechs Gesellschaften, darunter mit dem terbinden waren. Hinzu kam ein enormer Druck
TÜV Süd, dem TÜV Nord und dem TÜV Rheinland von Politik und Unternehmen, der seit den 1970er
drei global operierende Großunternehmen. Der Jahren durch eine hitzige öffentliche Kontroverse
TÜV Saarland, der TÜV Thüringen und die TÜV zusätzlich verschärft wurde. Historisch gesehen war
Technische Überwachung Hessen GmbH haben es eine bemerkenswerte Umkehrung der Fronten:
eher regionale Bedeutung. Während der Staat zunächst der zentrale Konkur-
rent für die TÜV gewesen war, klammerte er sich
nun in der nuklearen Kontroverse geradezu krampf-
Wer kontrolliert die Universalexperten? haft an deren Experten.
Inzwischen ist deutlich geworden, dass die Skep-
»Ein lupenreines Monopol« lautete die Überschrift sis der Öffentlichkeit kein vorübergehendes Phäno-
eines Artikels über den TÜV, der 1977 im Spiegel er- men der 1970er Jahre war. Das Vertrauen in die
schien. Gezeichnet wurde das Bild eines öffentlich- Kompetenz technischer Experten ist erodiert und
keitsscheuen Konglomerats mit kartellartigen Struk- professionale Selbstkontrolle mit Fragezeichen ver-
turen, das im Verborgenen wirkt und sich im We- sehen, ohne dass sich ein neuer gesellschaftlicher
sentlichen selbst kontrolliert. Allgegenwärtig sei der Konsens abzeichnen würde. Während die Ingenieure
TÜV und doch kaum zu greifen: »Selbst Insider tun im 19. Jahrhundert ihr Sozialprestige durch den
sich schwer, die Aufgaben des mächtigsten und Rückgang der Kesselexplosionen zementierten, se-
reichsten Vereinskartells Deutschlands zu definie- hen sie sich heute mit Forderungen nach hundert-
ren« (Der Spiegel Nr. 26 [1977], 42). prozentiger Sicherheit konfrontiert, die sensu stricto
Tatsächlich wurden die Vereine im Zuge des Ex- unerfüllbar sind und nur rhetorisch bedient werden
pansionsprozesses der Nachkriegszeit nicht nur grö- können (s. Kap. II.3).
ßer, sondern auch intransparenter. Das traditionelle Der Weg der Entpolitisierung durch technische
Aufgabenprofil, technische Anlagen gründlich und Expertise scheint insofern an die Grenzen seiner
regelmäßig zu prüfen, löste sich mit der zunehmen- Möglichkeiten zu gelangen. Der Atomkonflikt prä-
den Auffächerung des Dienstleistungsangebots in sentiert sich inzwischen eher als Variante einer allge-
einem Gewirr von Beratungs-, Schulungs- und gut- meinen Problemkonstellation, die den Umgang mit
achtlicher Tätigkeiten auf, die nicht selten die Ge- technischen Gefahren im 20. und 21. Jahrhundert
3. Entwicklung und Einsatz der Atombombe 55

prägt. Die Geschichte des TÜV liefert insofern ein 3. Entwicklung und Einsatz
Anschauungsbeispiel für das Dilemma technisch ge-
prägter Industriegesellschaften, die dringend der der Atombombe
unabhängigen Experten bedürfen, deren Neutralität
jedoch immer weniger zu überprüfen vermögen. »What has been done is the greatest achievement of
organized science in history«. Diese Aussage mit Be-
Literatur zug auf die Entwicklung der Atomwaffe findet sich
Feld, Ina vom: Staatsentlastung im Technikrecht. Dampfkes-
in der Erklärung des US-Präsidenten Harry Truman
selgesetzgebung und -überwachung in Preußen 1831– (Cantelon et al. 1991, 66), die am 6. August 1945,
1914 (Recht in der Industriellen Revolution 5). Frank- kurz nach Abwurf der ersten Bombe auf Hiroshima,
furt a. M. 2007. veröffentlicht wurde. Der wissenschaftlich-techni-
Hoffmann, Werner E.: Die Organisation der Technischen sche Erfolg bislang beispielloser, planvoller For-
Überwachung in der Bundesrepublik Deutschland (Ämter
schung ist aber zu kontrastieren mit den politischen
und Organisationen der Bundesrepublik Deutschland
59). Düsseldorf 1980. Folgen und der ethischen Problematik der Entwick-
– : Unabhängig und neutral – die TÜV und ihr Verband Vd- lung und des Einsatzes der Atombombe. Mit der
TÜV. Wiesbaden 1986. Bombe wurde die Debatte über die Verantwortung
Lundgreen, Peter: Die Vertretung technischer Expertise der Wissenschaft eröffnet. Diese erste große Debatte
»im Interesse der gesamten Industrie Deutschlands«
wird bis heute fortgeführt und fokussiert bereits wie
durch den VDI 1956 bis 1890. In: Karl-Heinz Ludwig
(Hg.): Technik, Ingenieure und Gesellschaft. Geschichte in einem Brennglas den modernen technikethischen
des Vereins Deutscher Ingenieure 1856–1981. Düsseldorf Diskurs.
1981, 67–132.
Radkau, Joachim: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahr-
hundert bis heute. Frankfurt a. M./New York 2008. Kernspaltung und die Idee
Sonnenberg, Gerhard Siegfried: Hundert Jahre Sicherheit.
Beiträge zur technischen und administrativen Entwick- der Kettenreaktion
lung des Dampfkesselwesens in Deutschland 1810 bis
1910. Düsseldorf 1968. Die Entdeckung der Kernspaltung in Deutschland
Uekötter, Frank: Der unvermeidliche Korporatismus. Zum im Jahr 1938 war kein Zufall (Wohlfahrt 1979). Sie
Verhältnis von Staat und Industrie in der Dampf- hatte eine lange Vorgeschichte in der konzentrierten,
kesselüberwachung. In: Jürgen Büschenfeld/Heike
Franz/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Wissenschafts- international durchgeführten Arbeit an der Aufklä-
geschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen. Bielefeld rung der Struktur der Atomkerne in den vorausge-
2001, 178–191. henden Jahren und Jahrzehnten. Erste Warnungen
Vec, Milos: Recht und Normierung in der Industriellen Revo- hinsichtlich der möglichen Konsequenzen einer rie-
lution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, sigen Energiefreisetzung aus dem Inneren der
staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnor-
mierung. Frankfurt a. M. 2006. Atomkerne wurden schon früh von beteiligten,
Weber, Wolfhard: Technik und Sicherheit in der deutschen höchst angesehenen Wissenschaftlern artikuliert, so
Industriegesellschaft 1850 bis 1930. Festschrift zum von den Nobelpreisträgern Ernest Rutherford, Wil-
100jährigen Bestehen des VdTÜV am 14. Juni 1984. Wup- helm Nernst oder Frédéric Joliot-Curie. Mit Entde-
pertal 1986. ckung des Neutrons (1932) durch James Chadwick
Welz, Heinz: Die Tüv Rheinland Geschichte. Köln 1991.
Wiesenack, Günter: Wesen und Geschichte der Technischen
wurde den Forschern schnell klar, welcher Weg sich
Überwachungs-Vereine. Köln 1971. eröffnete. Einer von ihnen, Leo Szilard, erinnert
Frank Uekötter sich: »im Oktober 1933 hatte ich den Einfall, daß
man eine Kettenreaktion erreichen könne, wenn ein
Element zu finden wäre, das zwei Neutronen aussto-
ßen würde, nachdem es ein Neutron geschluckt
hatte. Zuerst dachte ich an Beryllium, dann an an-
dere Elemente, einschließlich Uran, aber aus dem ei-
nen oder anderen Grund führte ich das entschei-
dende Experiment niemals aus« (Jungk 1964, 53).
1934 und 1935 macht Szilard eine die Kettenreak-
tion betreffende Patentanmeldung gegenüber der
britischen Admiralität in der Hoffnung, so einen
Geheimhaltungsschutz und eine Kontrolle über
56 III. Hintergrund

mögliche Anwendungen erreichen zu können. möglichen Wege zur Bombe sowie die Herstellungs-
Gleichzeitig schlägt er seinen Kollegen vor, freiwillig möglichkeiten der notwendigen Spaltstoffe zu erfor-
neue Resultate, die sich in dieser Zeit rapide fortent- schen. Die Entscheidung für ein zielgerichtetes, aus-
wickelten, nicht zu veröffentlichen. reichend finanziertes Projekt für die Entwicklung
Wenige Monate nach Entdeckung der durch Neu- der Atombombe fiel aber erst im Dezember 1941,
tronenbeschuss induzierten Kernspaltung in Uran etwa zeitgleich mit dem Kriegseintritt Amerikas
finden verschiedene experimentell arbeitende Wis- nach Pearl Harbor.
senschaftlergruppen (darunter Fermi, Joliot, Szilard)
Anfang 1939 heraus, dass tatsächlich mehr Neutro-
nen beim Uranbeschuss freigesetzt als eingefangen Das Manhattan-Projekt
werden und der genügend hohe Neutronenüber-
schuss eine Kettenreaktion möglich werden lässt. Zu diesem Zweck wurde schließlich von August
Die Konsequenzen beschreibt Siegfried Flügge im 1942 an (bis Ende 1946) unter größter Geheimhal-
Juli-Heft der Fachzeitschrift Die Naturwissenschaf- tung die bislang umfangreichste staatlich geförderte,
ten: enorme Energiefreisetzungen in bisher unbe- wissenschaftlich-technische Unternehmung durch-
kannter Größenordnung sind möglich, bei Einsatz geführt. Sie erfolgte, geleitet von General Leslie Ri-
schneller Neutronen erfolgt die Energiefreisetzung chard Groves, im Rahmen der US-Army unter dem
explosionsartig, bei langsamen Neutronen kann Codenamen Manhattan Engineer District (Manhat-
über eine kontrollierte Energiefreisetzung in ›Uran- tan-Projekt). Die Elite der US-Atomforschung (die
maschinen‹ nachgedacht werden. Am 29. April 1939 große Anzahl beteiligter Nobelpreisträger spricht für
hatte schon die New York Times von einer Sitzung sich), unterstützt durch ebenso befähigte europäi-
der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft be- sche Emigranten und Briten, arbeiteten unter der
richtet, in der bekannt wurde, dass unter Vorausset- wissenschaftlichen Leitung von Robert Oppenhei-
zung einer industriellen Realisierung der Urananrei- mer und zentralisierter militärischer Organisation
cherung eine ›nukleare Explosion‹ erzeugt werden zusammen. Ab 1942 mussten zusätzlich einige tech-
könnte, die eine Stadt wie New York City zerstören nische Großprojekte, die alle bisher bekannten Di-
würde. mensionen überschritten, aufgebaut werden. Dabei
Insbesondere unter den aus den faschistischen wurden wesentliche Firmen der Großindustrie (wie
Ländern Deutschland, Italien und Österreich ver- General Electric, Westinghouse, Union Carbide
triebenen oder geflohenen Atomforschern ging die oder Dupont) einbezogen, um auch die industrielle
Angst um, Deutschland könne die Atombombe als Realisierung der Spaltmaterialgewinnung erreichen
erster Staat der Welt entwickeln. Szilard bewegte Al- zu können, so die großen und energieintensiven Dif-
bert Einstein zu einem Brief (datiert vom 2.8.1939) fusionsanlagen zur Urananreicherung in Oak Ridge
an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in (Tennessee) oder die ersten Plutonium produzieren-
dem er auf die Gefahr aufmerksam machte und ei- den Kernreaktoren in Hanford (Washington). Im
nen ständigen Kontakt zwischen Wissenschaft und Frühjahr 1943 wurde das Labor zur Entwicklung der
Regierung hinsichtlich Beobachtung und aktiver ersten Atombomben in Los Alamos (New Mexico)
Unterstützung der weiteren wissenschaftlichen Ent- eingeweiht. Insgesamt 120.000 Menschen waren im
wicklung in Amerika anmahnte. Manhattan-Projekt beschäftigt. Bis Ende 1945 wur-
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs steht die Er- den knapp zwei Milliarden Dollar (das entspricht ei-
forschung der Anwendbarkeit der Kernenergie unter nem heutigen Wert von etwa 26 Milliarden US-Dol-
militärischen Vorzeichen. Das deutsche Heereswaf- lar) eingesetzt, eine damals unvorstellbar große
fenamt brachte direkt nach dem Überfall auf Polen Summe für ein Forschungs- und Entwicklungspro-
die wichtigsten der in Deutschland verbliebenen jekt.
Atomwissenschaftler in einem Geheimprojekt, dem Mit Fortschritt des Projekts, der einen Erfolg der
sog. ›Uranverein‹ zusammen. In den USA ließ Bemühungen um die neuartige Atombombe bislang
Roosevelt zunächst nur ein Uran-Beratungskomitee ungekannter Zerstörungskraft in greifbare Nähe
zusammenstellen, das später dem National Defense rückte, und bei gleichzeitiger Erwartung eines baldi-
Research Committee unterstellt wurde. Zunächst gen Endes des Weltkrieges, wuchsen die Skrupel bei
wurden größere Forschergruppen an einigen Uni- einigen beteiligten Wissenschaftlern. Bereits im Juli
versitäten eingerichtet (darunter insbesondere Chi- 1944 verfasste Niels Bohr ein Memorandum, dessen
cago, Columbia und Berkeley), um die prinzipiell Inhalt er mit Roosevelt diskutierte. Darin findet sich
3. Entwicklung und Einsatz der Atombombe 57

als zentrale Aussage der weitsichtige Satz: »Wenn nen vorzuführen« und keinesfalls ohne Vorwarnung
nicht so bald wie möglich ein Abkommen geschlos- auf Ziele in Japan.
sen wird, das eine Kontrolle über die Verwendung Bereits am 31. Mai und 1. Juni hatte ein sog. Inte-
dieser neuen, radioaktiven Elemente garantiert, rim Committee unter Vorsitz des Kriegsministers
könnte jeder gegenwärtig noch so große Vorteil Stimson – unter zeitweiliger Beteiligung des Science
durch eine ständige Bedrohung der allgemeinen Si- Panels (Oppenheimer, Fermi, Compton, Law-
cherheit aufgehoben werden.« Leo Szilard bat Ende rence) – den Weg frei gegeben für Atombombenein-
März 1945 nochmals Einstein, ein Zusammentreffen sätze ohne jede Vorwarnung gegen Japan. Eine Peti-
mit Roosevelt zu ermöglichen, bei dem er ihm die tion, die quasi in letzter Minute am Tag nach dem
düsteren Zukunftsaussichten für Amerika und die ersten Test, am 17. Juli, von 68 Chicagoer Wissen-
Welt bei Existenz der Atomwaffe deutlich machen schaftlern unter Führung von Szilard an den Präsi-
wollte. Statt eines Termins mit Roosevelt, der am denten gesandt wurde und den Einsatz über Japan
12.  April verstarb, kam nur ein Gespräch mit dem für moralisch ungerechtfertigt erklärte, zumindest
designierten neuen Außenminister James Francis solange nicht Japan zuvor die Gelegenheit zu einer
Byrnes zustande, das zu nichts führte. klar konditionierten Kapitulation gegeben werde,
Bei einer Reihe von Wissenschaftlern verdichtete verhallte ungehört.
sich die Sorge, dass Japan als neues Ziel eines ameri- Tatsächlich waren die Ansichten der an der Ent-
kanischen Atomwaffeneinsatzes auserkoren werde. wicklung beteiligten Wissenschaftler nicht einheit-
Dass Deutschland nicht in der Lage gewesen war, ein lich. Darauf deuten auch die Hinweise, die das Sci-
eigenes Atomwaffenprojekt zum Erfolg zu führen, ence Panel in seinen Empfehlungen vom 16. Juni gab
war überdies seit Herbst 1944 den Insidern bekannt. sowie eine Umfrage, die Arthur Holly Compton un-
Noch vor dem ersten erfolgreichen Test einer Pluto- ter den akademischen Mitarbeitern des Metallurgi-
niumbombe am 16. Juli 1945 in der Wüste von Al- cal Laboratory in Chicago am 12. Juli durchführen
mogordo (New Mexico) wandten sich Mitte Juni sie- ließ (Smith 1958). Viele beunruhigte anscheinend
ben prominente Chicagoer Wissenschaftler (dar- ein direkter militärischer Einsatz und sie waren of-
unter Rabinowitch, Seaborg und Szilard) unter fenbar der Ansicht, dass zunächst eine technische
Führung von James Franck an den US-Kriegsminis- oder auch bereits militärische Demonstration erfol-
ter Henry Lewis Stimson. Der als Franck-Report be- gen sollte, wobei nicht ganz klar ist, ob mit dem letz-
kannte Text sieht die Wissenschaftler selbst in der teren die tatsächliche Einsatzplanung gegen Hiro-
Verantwortung: shima gedeckt wäre. Die Hoffnung auf eine schnelle
Kapitulation der Japaner durch einen wie auch im-
»In der Vergangenheit […] konnten die Wissenschaftler mer gearteten Einsatz der Bombe spielte ebenfalls
jede unmittelbare Verantwortung für den Gebrauch,
den die Menschheit von ihren uneigennützigen Entde- eine große Rolle.
ckungen machte, ablehnen. Jetzt aber sind wir gezwun- Der aus Polen stammende Kernphysiker Joseph
gen, einen aktiven Standpunkt einzunehmen, weil die Rotblat ging einen anderen, außergewöhnlichen
Erfolge, die wir auf dem Gebiet der Kernenergie er- Weg. Direkt vor Kriegsausbruch wechselte er von
rungen haben, mit unendlich viel größeren Gefahren Warschau zu James Chadwick nach Liverpool. Im
verbunden sind als bei den Erfindungen der Vergangen-
heit. Wir alle, die wir den augenblicklichen Stand der Widerstreit mit seinen humanistischen Idealen und
Kernphysik kennen, leben ständig mit der Vision einer seiner Überzeugung, Wissenschaft müsse auch in ih-
jähen Zerstörung vor Augen, einer Zerstörung unseres rer Anwendung der Menschheit dienen, trieb ihn die
eigenen Landes, einer Pearl-Harbor-Katastrophe, die Sorge, die deutschen Wissenschaftler könnten für
sich in tausendfacher Vergrößerung in jeder Großstadt das Hitler-Regime die Bombe entwickeln, dazu, zu-
unseres Landes wiederholen könnte. […] Sollte kein
wirkungsvolles internationales Abkommen erzielt wer- sammen mit britischen Kollegen die Möglichkeiten
den, so wird bereits am Morgen nach unserer ersten De- für eine Atombombe genauer zu untersuchen.
monstration, daß wir Kernwaffen besitzen, das allge- Schließlich wirkte er in Los Alamos mit. Im März
meine Wettrüsten losgehen. […] Nukleare Bomben 1944 schockierte ihn die Aussage des Manhattan-
können keinesfalls länger als einige Jahre eine ›Geheim- Projektleiters, General Groves, die dieser bei Privat-
waffe‹ zum ausschließlichen Nutzen unseres Landes
bleiben.«
gesprächen in Chadwicks Haus machte, der wirkli-
che Zweck, die Bombe zu entwickeln, sei es, die So-
Insbesondere empfiehlt der Report, »die neue Waffe wjets unter Kontrolle zu bringen. Rotblat fühlte sich
in der Wüste oder auf einer unbewohnten Insel vor betrogen, da er bis dahin geglaubt hatte, das Ziel der
den Augen der Abgeordneten aller Vereinten Natio- Arbeit an der Bombe sei es gewesen, einen Nazi-Sieg
58 III. Hintergrund

zu verhindern. »Als gegen Ende 1944 deutlich des Todes vieler amerikanischer Soldaten. Erst wenn
wurde, daß die Deutschen ihr Bombenprojekt aufge- Frieden sei, wolle man sich an Bemühungen beteili-
geben hatten, endete der Zweck meines Aufenthalts gen, dass die Bombe nicht nochmals benutzt werde.
in Los Alamos und ich fragte um Erlaubnis, auszu- Sicher war es auch so, dass jenseits der Forscherelite
scheiden und nach Großbritannien zurückzukeh- die meisten Mitarbeiter der mehr als hunderttau-
ren« (Rotblat 1985). Weihnachten 1944 verließ er send Beteiligten am Manhattan-Projekt nicht wirk-
das Manhattan-Projekt und trat die Rückreise an. lich wussten, woran sie genau arbeiteten, wie der
In Anlehnung an den Historiker Gerard DeGroot US-Präsident in seiner Hiroshima-Erklärung wohl
kann man die Bedeutung der ›Bombe‹ im Kontext zu Recht bemerkte.
des Manhattan-Projekts folgendermaßen charakte-
risieren: Zunächst war die ›Bombe‹ keine Waffe,
sondern wurde (insbesondere von den Wissen- Hiroshima und Nagasaki
schaftlern) als eine Art Abschreckung gegen die Na-
zis angesehen. Ende 1944 verlor diese Sichtweise Die heftigen moralischen Skrupel kamen bei vielen
ihre Gültigkeit. Die ›Bombe‹ wurde real zur einsatz- Wissenschaftlern erst nach den Bombeneinsätzen
fähigen Waffe, da ihre Zerstörungskraft nunmehr auf japanische Städte am 6. und 9. August mit ihren
schlicht ins Kalkül politischer Macht einbezogen ersichtlichen dramatischen Konsequenzen für die
wurde. Gleichzeitig wurde der Sog durch das gewal- betroffenen Menschen (The Committee 1981). Als
tige Projekt, seine enormen wissenschaftlich-techni- General Groves im Oktober 1945 Los Alamos mit
schen Herausforderungen, die Faszination des voll- dem Army Certificate of Appreciation auszeichnete,
kommen Neuen, dessen Gelingen noch nicht bewie- während die Opfer in Hiroshima und Nagasaki lit-
sen war, deutlicher wirksam (sirens of discovery). ten, trat Oppenheimer ans Pult und sagte: »Wenn
Schließlich wurde die ›Bombe‹ eine Waffe, die ihre Atombomben in die Arsenale einer kriegführenden
Rolle suchte. Dementsprechend stellten sich neue Welt eingeführt werden oder in Arsenale von Natio-
moralische Herausforderungen. nen, die Krieg vorbereiten, dann wird die Zeit kom-
Die weltpolitischen Implikationen der Atom- men, daß die Menschheit die Namen von Los Ala-
bombe wurden zunächst von einigen der beteiligten mos und Hiroshima verfluchen wird« (Goodchild
Wissenschaftler benannt, ethisch-moralische Über- 1985, 172). Bekannt wurde auch Oppenheimers
legungen wurden  – zumindest der Politik gegen- Ausspruch »die Physiker haben die Sünde kennen-
über  – aber nicht artikuliert. Sie betonten eher die gelernt« (ebd., 174).
wachsende Lücke zwischen technischem Fortschritt Es wurden aber auch praktische Konsequenzen
einerseits und den statischen politischen Institutio- gezogen. Eugene Rabinowitch, als einer der nun trei-
nen andererseits. Später benannten sie auch die un- benden Chicagoer Wissenschaftler, ermutigte seine
ausgewogene Entwicklung von moralischer Verant- Kollegen, die weitgehende Aufhebung der Geheim-
wortlichkeit und technischem Wissen. Rotblat fragte haltung zu bewirken, um die Öffentlichkeit über die
sich im Nachhinein, warum er offenbar als einziger Bombe und ihre Folgen informieren zu können, die
der in das Ziel der Bombenentwicklung eingeweih- Rolle der Wissenschaftler in der Nachkriegswelt zu
ten Wissenschaftler das Manhattan-Projekt verließ, durchdenken sowie die Zukunft der Nuklearfor-
als klar wurde, dass der German factor, der doch für schung. Noch bevor das Manhattan-Projekt in neue
viele die Hauptmotivation gewesen war, entfallen Organisationsformen überführt wurde, erstellten die
war (Rotblat 1985). Seiner Einschätzung nach war Chicagoer Wissenschaftler am 14. September 1945
die Mehrheit überhaupt nicht von moralischen ein programmatisches Dokument. Ausgelöst durch
Skrupeln geplagt und sehr zufrieden damit, die Ent- die Atomkraft und mit deutlichem Bezug auf deren
scheidung über den Gebrauch ihrer Arbeit anderen Implikationen müssten die Wissenschaftler nun-
zu überlassen. Nur eine Minderheit habe ein ›sozia- mehr die Rolle und Verantwortlichkeit der Wissen-
les Bewusstsein‹ gehabt. Auch bei letzteren habe schaft erforschen und klären, sie müssten ihre Mei-
aber die wissenschaftliche Neugier überwogen. Man nungen öffentlich machen und die politische Ent-
wollte sehen, ob das theoretisch Erdachte auch prak- scheidungsfindung beeinflussen, die Öffentlichkeit
tisch funktionieren würde, erst danach könne man müsse vollständig über die wissenschaftlichen, tech-
in eine Debatte über die Verwendung der Bombe nischen und politischen Implikationen der neuen
eintreten. Auch hoffte man auf ein schnelleres wissenschaftlichen Entwicklung aufgeklärt werden
Kriegsende durch die Bombe und die Vermeidung (Smith 1958). Die Wissenschaftler, die die Erfah-
3. Entwicklung und Einsatz der Atombombe 59

rung des Manhattan-Projekts gemacht hatten, orga- Eine mittelbare Folge der Erfahrungen der Wis-
nisierten sich: Die Atomic Scientists of Chicago senschaftler im Zweiten Weltkrieg und in der An-
wurde gegründet und bereits im Dezember das bis fangsphase des Kalten Krieges war die Göttinger Er-
heute wirksame Publikationsorgan The Bulletin of klärung von 1957, in der die Elite der westdeutschen
the Atomic Scientists ins Leben gerufen. Gemeinsam Kernforscher  – angeführt von Carl Friedrich von
mit entsprechenden Vereinigungen an anderen Or- Weizsäcker – nunmehr entschieden die Beteiligung
ten wurde die Federation of American Scientists als an einem Atomwaffenprogramm der Bundesrepu-
eine erste größere Organisation der concerned scien- blik Deutschland verweigerte. Im selben Jahr erschien
tists gegründet. eine kleine Schrift Weizsäckers, Die Verantwortung
US-Präsident Truman, der letztlich den Einsatz- der Wissenschaft im Atomzeitalter, die den Beginn
befehl für die beiden Bomben gab, haben nach histo- einer weiterführenden wissenschafts- und technik-
rischen Berichten keine moralischen Skrupel ge- ethischen Debatte markiert. Darin fordert er eine
plagt. Der Einsatz der Atombombe habe den Krieg Ethik der technischen Welt, die darin bestehen soll,
beendet und damit Leben gerettet. Dies wurde die dass die geplante technische Fortentwicklung in der
offizielle Lesart. Aber es hat seit 1945 stets gewich- Hand der Menschen bleibt. Der Mensch solle Dis-
tige Stimmen gegeben, die dieser Sichtweise wider- tanz zu den vielfältigen neuen Apparaten behalten,
sprachen und eine ihr entgegenstehende Begrün- die sich insbesondere in der »Fähigkeit zum ruhigen,
dungslage herausgearbeitet haben (Alperovitz 1995; überlegenen Verzicht auf gewisse technische Mög-
Bernstein 1995). lichkeiten beweisen« müsse (Weizsäcker 1957, 10).
Für die persönliche Verantwortung des Wissen-
schaftlers findet Weizsäcker die – heute klassische –
Verantwortung der Wissenschaft Formulierung: »Jeder Naturwissenschaftler lernt die
Sorgfalt beim Experimentieren, ohne die seine Wis-
Als sicher kann gelten, dass das deutsche Parallel- senschaft in Geflunker ausarten würde. Ich glaube,
programm Auslöser für das Manhattan-Projekt, solange uns die Sorgfalt bei der Prüfung der Rück-
aber nicht für die letzte Entwicklungs- und Test- wirkungen unserer Erfindungen auf das menschli-
phase der Bombe ausschlaggebend war. Die deut- che Leben nicht ebenso selbstverständlich ist, wie
schen Anstrengungen in Richtung Atombombe wa- die Sorgfalt beim Experimentieren, sind wir zum Le-
ren in sich zersplittert, wurden von unterschiedli- ben im technischen Zeitalter nicht reif« (ebd., 15;
chen Institutionen Nazi-Deutschlands gelenkt und zur Verantwortung s. Kap. II.6).
verfolgten teilweise recht unterschiedliche techni- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die durch
sche Wege. Die entschiedene Förderung blieb aus, so die Entwicklung der Atombombe angestoßene De-
dass kein erfolgversprechendes Großprojekt entste- batte bereits einige wesentliche Grundlinien der
hen konnte. Während Robert Jungk noch die mora- neueren technikethischen Debatte vorgezeichnet
lische Integrität und eine Verhinderungsstrategie hat:
der wissenschaftlichen Kreise um Werner Heisen- Wer ist verantwortlich, nur der Nutzer oder be-
berg und Carl Friedrich von Weizsäcker ausmachte reits der Entwickler von Technik? Wann setzt die
(Jungk 1964), scheint die neuere historische For- Verantwortung der Entwickler ein? Immer dann,
schung dies nicht bestätigen zu können (Walker wenn besondere (neue) technische und nicht-tech-
1990 und 2005). Auch die Veröffentlichungen Bohr- nische Gefahren oder Konsequenzen sichtbar wer-
scher Briefentwürfe durch das Niels Bohr-Archiv im den? Aber wirklich nur dann? Betrifft die Verant-
Jahr 2002 nähren weitere Zweifel, ob die sagenum- wortung der Wissenschaftler und Techniker die Mit-
wobene Begegnung zwischen Bohr und Heisenberg hilfe bei der Behandlung sozialer und politischer
im besetzten Kopenhagen im Herbst 1941 tatsäch- Folgen beim Gebrauch der Technik durch neue Re-
lich, wie man aus Heisenbergs Lesart (Heisenberg geln oder politische Regulationen oder bezieht sie
1973, 211 ff.) schließen könnte, den internationalen sich auch auf die Wissenschafts- und Technikent-
Schulterschluss der Wissenschaftler gegen die Ent- wicklung selbst? Schließt die ethische Debatte auch
wicklung der Bombe bewirken sollte. Gleichwohl ist die Klärung inner- und außerwissenschaftlicher Mo-
das auf diese Begegnung anspielende Theaterstück tive und Interessen mit ein? Steht Geheimhaltung
Copenhagen von Michael Frayn ein gelungenes von wissenschaftlichen Resultaten im Widerspruch
neues Lehrstück über die Verantwortung der Wis- zum wissenschaftlichen Ethos? Ist die Verantwor-
senschaftler (Frayn 2001). tungsübernahme eine rein persönliche Angelegen-
60 III. Hintergrund

heit oder besteht auch eine institutionelle Verant- Frayn, Michael: Kopenhagen. Stück in zwei Akten. Mit ei-
wortung der Wissenschaft (und Politik?), die nach nem Anhang »Zwölf wissenschaftshistorische Lesarten zu
Kopenhagen«. Göttingen 2001.
entsprechenden Organisationsformen verlangt? Was
Goodchild, Peter: J. Robert Oppenheimer. Shatterer of
bedeutet Verantwortungsübernahme? Die Zurverfü- Worlds. New York 1985.
gungstellung rein wissenschaftlicher, unabhängiger Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze. München
Informationen oder auch die Beeinflussung politi- 1973.
scher Entscheidungen (inkl. der Entscheidung über Jungk, Robert: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der
Forschungsprioritäten) oder gar die frühzeitige Ana- Atomforscher [1963]. Reinbek 1964.
Lanouette, William: Genius in the Shadows. A Biography of
lyse von wissenschaftlich-technischen Entwick- Leo Szillard – The Man Behind the Bomb. New York 1992
lungstendenzen und -potenzialen? Wie einmütig Nathan, Otto/Norden, Heinz (Hg.): Albert Einstein. Über
und dem Ideal wissenschaftlicher Wahrheitsfindung den Frieden  – Weltordnung oder Weltuntergang? Köln
entsprechend können Wissenschaftler agieren, wenn 2004 (engl. 1975).
sie auf ethische Herausforderungen reagieren, oder Rhodes, Richard: The Making of the Atomic Bomb. New
York 1986.
sind sie Spielball politischer Interessen? Rotblat, Joseph: Leaving the bomb project. In: Bulletin of
Während Günther Anders in den 1960er Jahren the Atomic Scientists (August 1985), 16–19.
den Wissenschaftlern noch als alleinige Konsequenz Smith, Alice Kimball: Behind the Decision to Use the Ato-
das »Herausspringen ins Politische« anempfahl (An- mic Bombs: Chicago 1944–45. In: The Bulletin of the
ders 1972, 165) – gerade auch angesichts der nuklea- Atomic Scientists (Oktober 1958), 288–312.
The Committee for the Compilation of Materials on Da-
ren Bedrohung und der Rüstungswettläufe  – so ist mage Caused by the Atomic Bombs in Hiroshima and
heute zu fragen, ob nicht die damals noch singulären Nagasaki (Hg.): Hiroshima and Nagasaki. The Physical,
Vorgehensweisen von Joseph Rotblat, Leo Szilard Medical, and Social Effects of the Atomic Bombings. New
und den Göttinger 18 angesichts der Entwicklung York 1981 (jap. 1979).
der Atombombe heute auch andere Möglichkeiten Walker, Mark: Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit
der deutschen Atombombe. Berlin 1990 (engl. 1989).
des verantwortlichen Handelns von Forschern an- – : Eine Waffenschmiede? Kernwaffen- und Reaktorfor-
hand des historischen Beispiels nahelegen. Dazu schung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik. For-
gehört die Entscheidung zur bewussten Nichtbeteili- schungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-
gung an moralisch (und politisch) als nicht vertret- Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 26.
bar erachteten Forschungs- und Entwicklungspro- Berlin 2005.
Weizsäcker, Carl Friedrich von: Die Verantwortung der
jekten, der Aufruf an andere, sich ebenfalls nicht zu
Wissenschaft im Atomzeitalter. Göttingen 1957.
beteiligen, oder die Bemühung um innerwissen- Wohlfahrt, Horst (Hg.): 40 Jahre Kernspaltung. Eine Einfüh-
schaftliche Debatten über Folgen der Forschung und rung in die Originalliteratur. Darmstadt 1979.
die frühzeitige Abschätzung von möglichen Konse- Wolfgang Liebert
quenzen  – neben der Bemühung, transparente In-
formationen über den Entwicklungsstand und seine
-aussichten an Öffentlichkeit und Politik zu geben.
Dies könnte eine Zuspitzung der Frage nach verant-
wortlichem Handeln in der Technikentwicklung auf
innerwissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Ebene
befördern.

Literatur
Alperovitz, Gar: Hiroshima. Die Entscheidung für den Ab-
wurf der Bombe. Hamburg 1995 (engl. 1995).
Anders, Günther: Endzeit und Zeitenende. Gedanken über
die atomare Situation. München 1972.
Bernstein, Barton: The Atomic Bombings Reconsidered.
In: Foreign Affairs 74/1 (1995), 135–152.
Cantelon, Philip/Hewlett, Richard/Williams, Robert (Hg.):
The American Atom. A Documentary History of Nuclear
Policies from the Discovery of Fission to the Present
[1984]. Philadelphia, PA ²1991.
DeGroot, Gerard: The Bomb. A History of Hell on Earth
[2004]. London 2005.
61

4. Asbest wollt noch vorhergesehen wurde« (Beck/Bonß 2001,


13). Vor diesem Hintergrund prägte Ulrich Beck für
den Umstand, dass alle Gewissheiten der Ersten Mo-
Asbestfasern sind natürliche Mineralfasern als derne nicht mehr zählten und die Auswirkungen ei-
Ergebnis hydrothermaler Prozesse zwischen Ma- nes neuen Stoffes, Produktes oder Verfahrens nicht
gnesium und eisenreichem Gestein. Aus minera- mehr mit Gewissheit antizipiert werden können,
logischer Sicht ist Asbest gemeinhin eine Sammel- den Begriff der ›Risikogesellschaft‹ (Beck 1986).
bezeichnung für verschiedene, in der Natur vor- Oder aus einem anderen Blickwinkel: Die heute in
kommende, faserförmige Silikatminerale. Aus dem unserem Lebensraum noch weit verbreiteten As-
Blickwinkel der Ökonomie ist Asbest ein minera- best-Artefakte – z. B. in Gebäuden oder Produk-
lischer Rohstoff, der als Werkstoff einer wirtschaft- tionsanlagen – sind sichtbare Zeugnisse eines bei ih-
lichen Nutzung zugeführt wird. Aufgrund seiner rer Konzeption und Produktion nicht angewendeten
vielfältigen und zudem extremen Materialeigen- Vorsorgeprinzips (Harremoës et al. 2001; zu Risiko
schaften bei zugleich relativ leichter Verarbeitbarkeit s. Kap. II.2, zum Vorsorgeprinzip s. Kap. VI.3).
fand Asbest wie kaum ein anderer Werkstoff schnelle
und große Verbreitung. Sein zunächst bedenkenlo-
ser Einsatz als Universalwerkstoff ermöglichte tech- Entwicklung der industriellen Nutzung
nischen Fortschritt. Erst nach fast hundert Jahren
industriellem Einsatz wurde der Siegeszug gebremst. Nur in sehr geringem Umfang wurde und wird die
Während Asbest heute, zumindest in den Industrie- Rohfaser in direkter Anwendung genutzt. Erst durch
nationen der westlichen Welt, verboten ist und mit Veredelung ist die Gesteinsfaser industriell nutzbar.
großem Aufwand entsorgt wird, findet er in aufstre- So ermöglichte auch erst die Kenntnis über das je-
benden Schwellenländern und Entwicklungsländern weilige Eigenschaftsprofil einen zweckmäßigen Ein-
unverändert Anwendung (Höper 2008, 285 ff.). Die satz und zielgerichtete Verarbeitung. Hierzu wurde
Verwendung des Werkstoffes ›Asbest‹ steht exemp- das Anforderungsprofil des angestrebten Einsatzge-
larisch für den in den zurückliegenden Jahrzehnten bietes bzw. Fertigproduktes, z. B. Brandschutzklei-
erfolgten Meta-Wandel hin zu einer Zweiten Mo- dung, Hochdruck-Dichtungsplatten, Papiere, As-
derne, in der sich »die gesellschaftlichen Rahmenbe- bestzement, Schichtstoffe etc. mit den physikali-
dingungen sowie Zielvorgaben und entsprechend schen und chemischen Eigenschaften der jeweiligen
auch der wissenschaftliche Begriffsrahmen des Asbestgesteinsorten, wie Elastizität, Faserlänge und
Wandels in einer Weise veränderten, die weder ge- Verspinnbarkeit, elektrischem Widerstand, Säure-

5.000.000

4.500.000

4.000.000
metrische Tonnen

3.500.000

3.000.000

2.500.000

2.000.000

1.500.000

1.000.000

500.00

0 Abb. 1: Jährliche
Asbestproduktion
1900

1905

1910

1915

1920

1925

1930

1935

1940

1945

1950

1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

weltweit 1900–2004
(Einzeldaten aus:
Weltproduktion Virta 2003, 25 ff.;
2006, 8.6)
62 III. Hintergrund

und Laugenbeständigkeit, thermische Eigenschaften neue oder deutlich weitergehende Anwendungs-


sowie Schmelzpunkt, abgestimmt. möglichkeiten der jeweiligen Maschine, von Pro-
Trotz der bis 1996 bereits zahlreich geltenden na- dukten oder Verfahren eröffneten, wären ohne As-
tionalen Einsatzverbote für Asbest (Höper 2008, best nicht erfolgt bzw. nicht so früh möglich gewe-
199 ff.) betrug die Menge des in diesem Jahr abge- sen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde Asbest in
bauten Rohasbests mit über zwei Millionen Tonnen insgesamt über 3500 unterschiedlichen industriell
noch immer knapp die Hälfte der zu Hochzeiten in verarbeiteten Produkten verwandt (Alleman 1997,
den 1970/80er Jahren abgebauten Tonnage. Die be- 90; Eick 1975, 456). Mit dieser hohen Durchdrin-
eindruckende Mengenentwicklung des zwischen gung war Asbest in seiner Blütezeit ein Motor des
1900 und 2004 abgebauten Rohasbests veranschau- Fortschritts und damit auch der wirtschaftlichen
licht die in der Grafik abgebildete Weltproduktion Prosperität. Diese Interdependenz ist anhand soge-
an Asbestgestein (s. Abb. 1). nannter Vorwärts- und Rückwärtskopplungseffekte
Mit Hilfe von Maschinen wurden erstmalig 1808 nachweisbar (Höper 2008, 68). Ebenso ist eine Paral-
in Italien textile Asbesterzeugnisse, wie Asbestzwirn, lelität zwischen dem zunehmenden Einsatz von As-
-gewebe und -papier hergestellt (Vogel 1991, 142). In best einerseits und dem Wachstum im produzieren-
das Licht einer größeren Öffentlichkeit rückte As- den Gewerbe und Städtebau andererseits festzustel-
best als technisch nutzbarer Stoff 1855 im Rahmen len (Rantanen 2003, 1). In der Entwicklung der
der Weltausstellung in Paris. In den Folgejahren eta- Industriegeschichte der letzten 150 Jahre kann As-
blierte sich die industrielle Verarbeitung der Mine- best somit mit Sicherheit als einer der Werkstoffe des
ralfaser zügig in ganz Europa und Nordamerika. 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.
Ende des 19. Jahrhunderts drangen auf Asbest basie-
rende Produkte in alle Lebensbereiche vor. So fan-
den sie nicht nur Anwendung in der Produktions- Gesundheitliche Risiken
technik, sondern hielten auch Einzug als Hilfsmittel und Erkenntnisentwickung
in den privaten Haushalt. Beispielhaft hierfür sind
Dochte aus Asbestfasern für Ölbrenner und Lam- Vorsorgende Maßnahmen, welche sich zwar nicht
pen, Bügeleisengriffe oder asbesthaltige Dichtmas- explizit, aber u. a. auch auf Asbest beziehen, gehen in
sen zur Ofenauskleidung. Die zur Jahrhundert- Deutschland bis auf die Gewerbeordnung von 1869
wende entwickelten Verfahren zur industriellen und die dortigen Arbeitsschutzvorschriften zurück
Herstellung von Asbestzement und die darauf ein- (Gewerbeordnung 1869, 245; Alleman 1997, 91). Be-
setzende volumenreiche Produktion von Baustoffen kannt war die Gefährdung durch Asbeststaub ver-
aus Asbest, wie z. B. Dachschindeln, eröffneten den einzelt bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts; sie
Asbestgruben ungeahnte Absatzvolumina. wurde nur lange Zeit nicht in einer Weise bekannt
In der historischen Erfahrung wird deutlich, dass gemacht, die gesellschaftliche Reaktionen hervorge-
die sich formierende Industriegesellschaft bereit rufen hätte. Als Berufskrankheiten wurden durch
war, den Abbau und die Verarbeitung neuer und Asbest ausgelöste Erkrankungsformen in den 1930er
brauchbarer Werkstoffe so konsequent wie nur mög- Jahren erkannt, jedoch wurde hierüber nur im Rah-
lich zu betreiben, ohne sich durch mögliche Folgeer- men von Fachzirkeln publiziert. Auch die zuneh-
scheinungen beirren zu lassen. Weit mehr als in un- mende Flut an gesetzlichen Vorschriften, Verord-
serer Gegenwart war die Industriegesellschaft des nungen, technischen Regeln und Normen, mit de-
ausgehenden 19. Jahrhunderts bereit, mit vollem Be- nen in weiten Teilen Europas seit Mitte der 1930er
wusstsein Risiken auf sich zu nehmen und alle fort- Jahre die gesundheitsgefährdende Emission von As-
schrittlich und brauchbar erscheinenden Werkstoffe beststaub in den Asbest verarbeitenden Betrieben
für sich zu beanspruchen. Sicherlich trug diese reguliert wurde, schränkte die weiter rasch anstei-
Grundhaltung wesentlich dazu bei, dass jener in die gende Verbreitung der Mineralfaser nicht ein. As-
Moderne fallende Teil der jüngeren Asbestge- best war in der Gesellschaft aufgrund seiner heraus-
schichte wissenschaftlich nur mit Zurückhaltung be- ragenden Eigenschaften positiv belegt und von der
arbeitet und dokumentiert wurde. Industrie okkupiert, die die frühen Anzeichen einer
Asbest ermöglichte immer wieder die Überwin- möglichen Gefährdung der Gesundheit durch die-
dung jeweils bis dahin bestehender physikalischer sen Werkstoff schlicht verdrängte (Harremoës et al.
und chemischer Grenzen. Sowohl technische Inno- 2001, 53). Diese öffentliche, euphorische Wahrneh-
vationen als auch Leistungssteigerungen, die völlig mung ist hauptsächliche Ursache, dass schon früh
4. Asbest 63

als eindeutig erkannte Gefährdungen der Gesund- tierte er seine Arbeit Biological Effects of Asbestos
heit durch den Umgang mit Asbest verharmlost (Selikoff 1965). Entscheidend für die von Selikoff
wurden. erstmals erreichte mediale Resonanz auf die Asbest-
Auf Dauer jedoch konnte sich die Medizin patho- Thematik war die von ihm vorgenommene Verbin-
logischen Erscheinungen als Folge der Einatmung dung der gesundheitlichen Phänomene mit den
von Asbeststaub durch Arbeitnehmer, die sich durch Schlagworten ›Großkonzerne‹ und ›Krebs‹. Damit
die Ver- und Bearbeitung des Minerals einem feinen vermittelte er erstmals eine Ahnung über das Aus-
Flugstaub aussetzten, nicht entziehen. Zielorgane ei- maß der mit einem ungehemmten, wirtschaftlichen
ner bösartigen Entartung durch Asbestfasereinwir- Interessen geschuldeten Asbesteinsatz einhergehen-
kung sind beim Menschen Lunge und Rippenfell; in den Gesundheitsrisiken. Danach konnte auch die
selteneren Fällen das Bauchfell, das Perikard (Herz- Industrie nicht länger die mit der Mineralfaser ver-
beutel) und der Kehlkopf (Kraus/Raithel 1998). bundenen Risiken leugnen. Die in der Phase der
Durch Einatmen feinster, lungengängiger Asbest- Durchsetzung erlangte strategische und globale Be-
staubfasern kann es zu drei unheilbaren, zumeist deutung des Werkstoffes vermochte nicht länger
tödlich verlaufenden Erkrankungsformen kommen: darüber hinwegtäuschen, dass eine über Jahrzehnte
Asbestose, Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Ver- hinweg etablierte asbestfreundliche Einstellung
bindung mit Asbestose (Staublunge aufgrund von grundlegend überprüft werden musste.
Asbest) sowie Mesotheliom (diffus wachsender Tu- Der Absturz schien zunächst so tief zu sein, wie
mor) des Rippenfells, Bauchfells und Herzbeutels der bejubelte Aufstieg hoch war. Das Ende der Ver-
(Drechsel-Schlund 2002, 10 ff.; Catrina 1985, 60 ff.). wendung von Asbest erfolgte jedoch keinesfalls als
Die Gefährlichkeit von Asbest war zunächst um- übergreifende Ad-hoc-Entscheidung diverser natio-
stritten; es gab Vorwürfe und Gegenvorwürfe, Argu- naler Regierungen. Zu unterschiedlichen Zeitpunk-
mente für die Gefährlichkeit dieses Werkstoffes und ten begannen nationale Regierungen, aus wissen-
dagegen. Viele Mediziner und die asbestverarbei- schaftlichen Erkenntnissen Konsequenzen zu zie-
tende Industrie haben erheblich zur Verdrängung hen. Sukzessive verhängten sie im Zeitablauf immer
des Themas beigetragen. Anfangs wurde die Ge- enger gefasste Schutzmaßnahmen für den Umgang
sundheitsfrage noch aufgrund begrenzter wissen- mit Asbest und asbesthaltigen Produkten. Wobei
schaftlicher Diagnosemöglichkeiten, später vor- sich hier das grundsätzliche Dilemma von Grenz-
nehmlich in Anbetracht der Vorteilhaftigkeit des werten offenbarte (Höper 2008, 281 ff.; zur Syntheti-
Werkstoffes, immer wieder in den Hintergrund ge- schen Chemie s. Kap. V.24). So existieren auch für
drängt. Mögliche Anfänge der Ernüchterung wur- Asbest bis heute keine objektiven Schwellen- oder
den immer wieder blockiert durch die Sorge um das Grenzwerte, mit denen sich unbedenkliche von be-
Ende asbestbasierter Innovationen bzw. technisch denklichen Asbestkonzentrationen unterscheiden
einfacher und schneller Lösungen. Trotz zweifels- lassen. In Abhängigkeit von der Informationsver-
freier medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse breitung über die Gefahren von Asbest in Verbin-
mangelte es an notwendiger Sensibilität für eine dung mit der zeitlich versetzten Erkenntnisbereit-
qualifizierte Folgenabschätzung, geschweige deren schaft von Regierungen, Interessenvertretungen,
erfolgreiche Kommunikation in die Öffentlichkeit. Verbänden, dem jeweiligen Rechts- und Wertesys-
Der insgesamt zähe Wechsel von der Phase der Eu- tem und dem jeweiligen Grad der Demokratisierung
phorie in die der Ernüchterung lässt sich im Rah- wurden Grenzwerte zur maximal vertretbaren Fa-
men eines phasenorientierten Ordnungssystems serexposition an Arbeitsplätzen mit international
nachvollziehen (Höper 2008, 149 ff.). großen Unterschieden immer wieder nach unten
In der westlichen Hemisphäre führten letztlich korrigiert. Es entwickelte sich eine chaotische Situa-
zunehmende medizinische Erkenntnisse zum Ende tion unterschiedlicher Grenzwerte. Nachdem in den
der Euphorie gegenüber der Mineralfaser. Internati- Industrienationen schließlich das Repertoire der
onal gelang es erstmals 1965 dem Mediziner Irving sich anbietenden Schutz- und Vorsorgemaßnahmen
Selikoff, über die Medien einer breiten Allgemein- aufgebraucht war, verblieb letztlich nur noch das To-
heit die Gefahr bekannt zu machen. Im Rahmen ei- talverbot; zunächst sukzessive auf nationaler Ebene,
ner internationalen, multidisziplinären Konferenz in anschließend europaweit.
New York, an der erstmals gemeinsam Pathologen,
Onkologen, Physiologen, Epidemiologen sowie Ar-
beits- und Umweltmediziner teilnahmen, präsen-
64 III. Hintergrund

Substitution und Systemträgheit verstoßen wurde. Diese Beschuldigung ist haltbar,


denn die Anzeichen für sich verändernde Rahmen-
Der Substitutionsprozess gestaltete sich in Deutsch- bedingungen waren für alle, die mit Asbest hantier-
land mühselig. In Vorbereitung auf die angekündig- ten, bereits Jahre vorher deutlich sichtbar.
ten Verbote bewiesen lediglich kleine Asbest verar- Es konnte (bis heute) kein Ersatzstoff für Asbest
beitende Branchen außerhalb der Asbestzement- entwickelt werden, der das gesamte Eigenschaftspro-
industrie in ihren Nischen ein hohes Maß an fil abdeckt. Die notwendigen Merkmale für Asbest-
Innovationskraft und Flexibilität, stellten sich auf die substitute sind zwangsläufig so verschiedenartig, wie
veränderten Rahmenbedingungen zügig ein und die Anwendungsbereiche der Asbestfaser es waren.
tüftelten an einem zeitlich auf die Gesetzesänderung Ein gemeinsames Merkmal von Asbestsubstituten
abgestimmten Einsatz von Ersatzstoffen. Ganz an- war und ist allerdings, dass sie in Produktion, Verar-
ders verhielt sich die traditionelle asbestverarbei- beitung und Verwendung weitaus weniger gesund-
tende Industrie. Sie zeigte beachtliches Beharrungs- heitsschädlich sind als asbesthaltige Materialien. Be-
vermögen und Systemträgheit. Auch bei der organi- merkenswert ist allerdings, dass trotz aller Umsicht
sierten deutschen Asbestzementindustrie ist eine die präventiven Risikoabschätzungen bei den als
klare Verzögerungstaktik beobachtbar gewesen. Substitut bei der Dämmstoffproduktion entwickel-
Denn die von ihr gegenüber der Bundesregierung ten künstlichen Mineralfasern sowie bei Antimon
abgegebene Selbstverpflichtung zur Substitution (Ersatzstoff für Reibbeläge) fehlschlugen. Die ur-
hätte deutlich früher umgesetzt werden können als sprünglich unterstellte Umweltverträglichkeit stellte
es letztlich erfolgte. Der Forschungsstand zur Ersatz- sich nach einigen Jahren industriellem Einsatz auf-
stoffsuche war weiter als er gegenüber der Bundesre- grund verbesserter Erkenntnisse als nicht gegeben
gierung bekannt gegeben wurde. Auf der Arbeitneh- heraus. Deshalb wurde für die Bundesrepublik im
merseite war die Interessenslage gespalten. Die Füh- nationalen Alleingang ein entsprechendes Verbot
rungen der Gewerkschaften plädierten für ein für lungengängige künstliche Mineralfasern ver-
schnelles Verbot; die Arbeitnehmervertreter vor Ort hängt. Insofern ist zu konstatieren, dass aus dem
und Vertreter der für die Asbestzementindustrie zu- jahrzehntelangen zögerlichen Umgang mit Asbest
ständigen IG Chemie kämpften mit Blick auf mögli- Lehren gezogen wurden. Reaktionen hinsichtlich
cherweise bedrohte Arbeitsplätze für moderatere Antimon stehen jedoch noch aus. Zugleich wird an
Lösungen, obwohl gerade die Gesundheit der von diesen Fällen das Dilemma der Substitute erkennbar.
ihnen unmittelbar vertretenen Arbeitnehmer nach- Ihre Eigenschaften und Wirkungen können von der
weislich gefährdet war. Wissenschaft zum Zeitpunkt ihres beginnenden in-
Diese von mehreren Seiten verfolgte Hinhaltetak- dustriellen Einsatzes noch nicht so weit erforscht
tik hätte vermieden werden können, wenn die ge- sein, dass eine abschließende Risikoeinschätzung
sundheitlichen Risiken der Asbestfaser frühzeitiger über Folgewirkungen vorgenommen werden kann
ernstgenommen worden wären und die Suche nach (zu Risikobeurteilung s. Kap. IV.C.7). Hieraus lässt
Substituten rechtzeitig begonnen hätte. Letztlich sich die Notwendigkeit einer permanenten, rollie-
kann diese Unterlassung als ein klares Zeugnis für renden Risikoabschätzung von neuen Stoffen, Pro-
eine in der Ersten Moderne verhaftete Unterneh- dukten und Verfahren unter Anwendung und im
mensphilosophie als auch eine ungenügende und Abgleich mit jeweils verbesserten wissenschaftli-
selbstgefällige Unternehmensführung der Bran- chen Erkenntnisständen ableiten.
chenunternehmen gewertet werden (Harremoës et Das Gefährdungspotenzial von Asbest ist von
al. 2001). Anstatt Blockadepolitik wäre unternehme- hoch industrialisierten Staaten klar erkannt worden.
rischer Handlungsbedarf gefordert gewesen, da für Der Substitutionsprozess ist dort nahezu abgeschlos-
alle Beteiligten die veränderte Erkenntnislage und sen. Damit wurde der Nachweis erbracht, dass eine
damit der Wegfall der Legitimation der verfolgten Volkswirtschaft auch ohne die Asbestfaser aus-
Geschäftskonzepte und Lebensgrundlage deutlich kommt und mit den ihr heute, anders als im 19. und
erkennbar war. Was allerdings als Fehlverhalten weit in das 20. Jahrhundert hinein, zur Verfügung
noch schwerer wiegt ist der Umstand, dass mit der stehenden technologischen Kenntnissen und Fähig-
weiteren Vermarktung der Asbestfaser die Gesund- keiten weiteren Fortschritt generieren und wachsen
heit von Menschen über einen langen Zeitraum wis- kann. Entwicklungs- und Schwellenländer sind zwar
sentlich durch die Unternehmensleitungen gefähr- auch seit langem über die gesundheitliche Gefähr-
det und damit bewusst gegen ethische Grundsätze dung durch Asbest informiert, halten eine vollstän-
4. Asbest 65

dige Substitution jedoch für nicht angezeigt. Sie ste- (zu Nanotechnologie s. Kap. V.18) als Negativbei-
hen vor dem Dilemma des einfachen, universellen spiel herangezogen wird, gibt beispielhaft Anlass, in
Werkstoffes bzw. einer möglichst raschen Industria- jedem Einzelfall einer Innovation einen von Verant-
lisierung. Der Werkstoff ›Asbest‹ ist, neben allen ge- wortung geprägten ausgewogenen Weg der Risiko-
sundheitlichen Vorbehalten, eben auch ein nicht zu abschätzung (s. Kap. II.2 und Kap. IV.C.7) zu finden.
unterschätzender Beschleuniger des dortigen Fort- Diese Risikoabschätzung darf nicht nach der indus-
schritts. triellen Umsetzung der Innovation enden, sondern
muss als anhaltender, kritischer und vorausschauen-
der Prozess die jeweilige Innovation und ihre Deri-
Technikethische Einordnung vate unter Berücksichtigung der aufgezeigten Di-
lemmata begleiten. Inwiefern die für diese Aufgabe
Der Werkstoff ›Asbest‹ war ein unverzichtbarer Be- notwendigen wissenschaftlichen Kapazitäten in der
standteil der modernen Industriegesellschaft, ohne Grundlagenforschung ausreichend sind oder ange-
den sie so nicht hätte werden können, was und wie passt werden müssen, gilt es zu überprüfen.
sie geworden ist. Exemplarisch sei hier nur auf die Der Weg des Asbestminerals ist trotz seiner of-
durch Asbest mögliche Leistungssteigerung der fenkundig durch das Einatmen von Asbestfasern zu
Dampfmaschine verwiesen, wodurch sich eine Fülle potenziell tödlichen Krebserkrankungen führenden
neuer, bisher nicht realisierbarer technischer und in- Wirkungen kein bloßer Irrweg gewesen, sondern
dustrieller Möglichkeiten eröffnete. Finden durch eine letztlich korrigierte und in Teilen der Welt noch
diese Feststellung all jene durch die Einatmung von zu korrigierende Entwicklung, wobei die Notwen-
lungengängigen Asbestfasern geschädigten Opfer, digkeit zur Korrektur freilich zu spät erkannt wurde.
die zum Teil schon gestorben sind bzw. noch den As- An jenen im Verlauf der Debatte um Pro und Contra
besterkrankungen erliegen werden, ihre vollständige über Asbest entstandenen Meinungsverschiedenhei-
Berücksichtigung und Würdigung? Diese Frage ist ten, an der durch Misstrauen vergifteten Atmo-
mit ›Nein‹ zu beantworten. Zum einen können nicht sphäre und vor allem am Verlust der Glaubwürdig-
Leben und Gesundheit von Menschen gegen unbe- keit tragen Asbest verarbeitende Unternehmen so-
strittene Fortschritte in der technischen und wirt- wie die Arbeitsmedizin wesentliche Verantwortung.
schaftlichen Entwicklung aufgerechnet werden. Denn rückblickend bot die Asbestgeschichte allen
Zum anderen hatten sowohl die Entscheider über Akteuren ausreichend Anlässe, statt bedingungslo-
den Einsatz von Asbest als auch die Betroffenen ser Technikgläubigkeit auf das Prinzip der Vorsorge
selbst aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Er- (s. Kap. VI.3; Harremoës et al. 2001, 59 ff.) einzu-
kenntnisse, sehr langer Inkubationszeiten und auch schwenken: (1) Obwohl im 19. Jahrhundert eine Ge-
infolge mangelhafter Kommunikation erster gesi- fährdung nicht eindeutig nachweisbar war, lagen
cherter Erkenntnisse lange Zeit kein Wissen über die Ärzten und Behörden bereits Erfahrungen vor, die
mit der Bearbeitung und Verwendung von Asbest erstmalig zur Vorsicht im weiteren Umgang mit As-
verbundenen Gefahren. Letztlich haben die Betrof- best mahnten. (2) Trotz recht eindeutiger Beobach-
fenen den Preis dafür gezahlt, dass bestehende ge- tungen erfolgte keine systematische Erfassung von
sundheitliche Risiken an vielen Arbeitsplätzen und Erkrankungen, selbst dann nicht, als sich in den
privaten Haushalten erst durch den Einsatz von As- 1930er und 60er Jahren die medizinischen Er-
best erheblich verringert werden konnten. Indirekt kenntnisse verdichteten. (3) Eine Erhebung von
haben sie mit ihrem Einsatz das Leben und die Ge- Krankheitsdaten wurde aufgrund ökonomischer In-
sundheit anderer geschont. teressen blockiert. (4) Privatwirtschaftliche Unter-
Wer heute den Begriff ›Asbest‹ ausspricht, muss nehmen – im Fall Asbest waren es Versicherungen –
sich darüber im Klaren sein, dass er damit eine Faser lehnten es ausdrücklich ab, die mit dem Einsatz ver-
benennt, die erheblichen Schaden zufügen kann und bundenen finanziellen Risiken zu tragen. (5) Eine
aus diesem Grunde mit Nachdruck substituiert wer- reduzierte Faserexposition wurde bereits nur deswe-
den muss. Aber auch darüber sollte Klarheit herr- gen als ein sicherer Zustand angesehen, weil sie ge-
schen: Ohne das Mineral Asbest, das ohne Zweifel ringer war als zuvor. (6) Vorsorgemaßnahmen wur-
»ein Vorläufer, ein Exempel und ein Modellfall« (Ca- den lange Zeit ignoriert bzw. durch die Argumenta-
trina 1985, 235) ist, hätte die industrielle Entwick- tion abgelehnt, dass mit der Nichtnachweisbarkeit
lung nicht diesen Verlauf genommen. Dieser Mo- einer Gefährdung der Nachweis der Ungefährlich-
dellfall, der z. B. in der Debatte über Nanopartikel keit erbracht sei. Hinzu kam im Fall ›Asbest‹ eine be-
66 III. Hintergrund

1.400

1.200

1.000

800
Asbest- Mesotheliom
600 verbrauch
Maximum:
400 BRD 200.000 t/a (1978)
DDR: 74.000 t/a (1980)
200 Bronchialkarzinom
Abb. 2: Prognose der
0 Lungenkrebs- und
1965

1970

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

2010

2015

2020

2025

2030
Mesotheliom-
neuerkrankungen
(aus Kralj 2005)

sondere technikethische Herausforderung. Durch Literatur


die langen Latenzzeiten von bis zu 40 Jahren bei As-
besterkrankungen war der Zusammenhang zwi- Alleman, James E./Mossman, Brooke T.: Asbest: Aufstieg
schen Asbestexposition und Erkrankung und damit und Fall eines Wunderwerkstoffes. In: Spektrum der
das Ausmaß der Gefahr nicht unmittelbar offen- Wissenschaft (November 1997), 86–92.
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
sichtlich. Demzufolge wird, am Beispiel Deutsch- Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
lands, das Maximum der Lungenkrebs- und Meso- – /Bonß Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne.
theliomneuerkrankungen, jedoch ohne Asbesto- Frankfurt a. M. 2001.
seerkrankungen, erst im Laufe dieses Jahrzehnts Catrina, Werner: Der Eternit-Report. Stephan Schmidheinys
erreicht, also rund 40 Jahre nach dem Peak der Welt- schweres Erbe. Zürich/Schwäbisch Hall 1985.
Drechsel-Schlund, Claudia/Butz, Martin/Haupt, Bärbel/
jahresproduktion von Rohasbest (s. Abb. 2).
Drexel, Gerhard/Plinske, Werner/Francks, Heinrich-
Wie viele Todesfälle durch Asbest weltweit indu- Peter: Asbestverursachte Berufskrankheiten in Deutsch-
ziert sind und noch werden, ist nicht bestimmbar. Es land – Entstehung und Prognose. Hg. vom Hauptverband
fehlen zum einen entsprechende Aufzeichnungen, der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG).
zum anderen sind die Kontaktarten nicht nachvoll- Sankt Augustin 2002.
Eick, H.: Asbestzement. Herstellung und Eigenschaften. In:
ziehbar  – ob bei der Arbeit, zu Hause oder in der
Sonderdruck aus Tiefbau (Juli 1975), 456–462.
sonstigen Umwelt. Jedoch gehen alle Schätzungen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869. RGBl 1869.
von mehreren Hunderttausenden aus (Harremoës et Harremoës, Poul/Gee, David/MacGarvin, Malcolm/Stir-
al. 2001, 51; Huré 2004, 1). ling, Andy/Keys, Jane/Wynne, Brian/Guedes Vaz, Sofia:
Die in den vergangenen Jahrzehnten geführte, Late Lessons from Early Warnings: the Precautionary
kontroverse Diskussion über Asbest hat die dringli- Principle 1896–2000. European Enviroment Agency. Ko-
penhagen 2001.
che Forderung nach der richtigen Handhabung die- Höper, Wolfgang: Asbest in der Moderne. In: Günter Bay-
ses Stoffes bis zur endgültigen Entsorgung deutlich erl (Hg.): Cottbuser Studien zu Geschichte von Technik,
gemacht. Eine sachliche, nach wissenschaftlichen Arbeit und Umwelt. Münster/New York/München/Ber-
Grundsätzen geführte industriegeschichtliche De- lin 2008.
batte wird diesen markanten Werkstoff des 19. und Huré, Philippe: Erkrankungen der Atemwege stehen in Ver-
bindung zu Produkten wie Asbest: Reichen die präventi-
20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert derart verorten, ven Maßnahmen aus? Bericht anlässlich der 28. General-
dass die Asbestfaser endlich jenseits aller Emotiona- versammlung der ISSA (International Social Security
lisierung ihren in positiver wie in negativer Hinsicht Association). Peking 2004.
verdienten Platz in der Geschichte der Industrialisie- Kralj, Nenad: Vorlesung Arbeitsmedizin. Universität Wup-
rung sowie bei der Prägung der Ersten und Zweiten pertal, Sommersemester 2005.
Kraus, Thomas/Raithel, Hans J.: Frühdiagnostik asbestver-
Moderne erhält. ursachter Erkrankungen. Hg. Vom Hauptverband der ge-
werblichen Berufsgenossenschaften (HVBG). Sankt Au-
gustin 1998.
5. Krise des Fortschrittsoptimismus 67

Rantanen, Jorma: Inzidenz und Verwendung von Asbest 5. Krise des Fortschritts-
sowie technische Prävention. In: Asbestos. European
Conference. 2003. optimismus
Selikoff, Irving: Biological Effects of Asbestos. New York
1965.
Virta, Robert L.: Worldwide Asbestos Supply and Consump-
tion Trends from 1900 to 2000. U.S. Department of the Prämissen und Entstehung
Interior. U.S. Geological Survey 2003.
– : 2005 Mineral Yearbook. U.S. Department of the Interior. Die Krise des Fortschrittsoptimismus seit den
U.S. Geological Survey 2006.
Vogel, Sabine: Geschichte des Asbestes. In: Monika Bö- 1960er Jahren ist ein komplexer Teilprozess des so-
nisch/Udo Gößwald/Brigitte Jacob (Hg.): Z. B. Asbest. ziotechnischen, sozioökonomischen und soziokul-
Ein Stein des Anstoßes. Kulturelle und soziale Dimensio- turellen Wandels, durch den und in dessen Folge
nen eines Umweltproblems. Berlin 1991, 134–150. sich die moderne westliche Industriegesellschaft neu
Wolfgang E. Höper positioniert und Strukturen der postindustriellen
Gesellschaft und einer reflexiven ›zweiten Moderne‹
(Beck 1996, 19–112) auszubilden beginnt. Die fol-
genden Voraussetzungen der Krise scheinen im ge-
sellschaftsgeschichtlichen Rückblick besonders rele-
vant:
(1) Vor dem Hintergrund eines Effizienzschubs in
der großindustriellen Produktion seit den
1950er Jahren wurden Erkenntnisse und Inno-
vationen der technisch-naturwissenschaftlichen
Groß- und Industrieforschung vor allem in den
Bereichen Kernenergie, Informationselektronik/
Kybernetik und Biogenetik nutzbar und erhöh-
ten die Dynamik des sozialen Wandels deutlich.
(2) Die seit der Zwischenkriegszeit zunehmende, in
den USA seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte
institutionalisierte Interaktion des militärisch-
industriell-administrativen Komplexes bekam
vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens
der beiden Supermächte globale Bedeutung.
(3) Die Ausübung politischer Kontrolle geriet ge-
genüber der Dynamik der Märkte und den
mächtigen Sachzwängen von Wachstum und
Rüstung in die Defensive. Daraus folgte mittel-
fristig bei den Wählerinnen und Wählern in
ganz Westeuropa Politikverdrossenheit, in der
Politikwissenschaft eine Diskussion um die
Steuerbarkeit demokratisch-marktwirtschaftli-
cher Ordnungen sowie die Delegitimation de-
mokratischer Prozesse und Institutionen.
(4) Ab Ende der 1970er Jahre distanzierten sich die
westeuropäischen politischen Eliten unter Auf-
kündigung von Nachkriegskonsensen und po-
licy-Konzepten der Staatsintervention markant
von dem seit 1880 entstandenen Modell des eu-
ropäischen sozialen Wohlfahrtsstaats und dem
Leitbild sozialer Partizipation zugunsten von
Konzepten rigider Entstaatlichung.
(5) Die Folgen der neuen Qualität massenindustri-
eller Produktion betrafen durch Unfallereignisse
68 III. Hintergrund

und -risiken sowie durch die immer sichtbarer Humanität in einem Zeitalter der ›Antiquiertheit des
werdenden Langzeitwirkungen auf die Lebens- Menschen‹ (Günther Anders). In der Diskussion um
umwelt, später dann auch auf die natürliche Um- die Krise des Forschrittsoptimismus seit den 1960er
welt (z. B. durch das Ozonloch und den Klima- Jahren sind die historischen Erfahrungen des Ersten
wandel etc.), immer mehr Menschen, was in Weltkrieges und der NS-Herrschaft aufgehoben.
eine Diskussion um die ›Risikogesellschaft‹
(Beck 1986) und Technikfolgen (Grunwald
2010, 119–139; s. Kap. II.5) mündete. Begriffserklärung und Konzepte
(6) Ältere Formen der antimaterialistischen Kultur-
kritik (Kerbs/Reulecke 1998, 10–18) flossen als Der Begriff der Krise ist eine der zentralen histori-
Teil eines harten Generationskonflikts zwischen schen Kategorien zur Beschreibung der politischen
den Trägern des Wiederaufbaus nach dem Zwei- und industriellen Moderne seit 1750 (Koselleck
ten Weltkrieg und ihren Kindern in den 1960er 1959; Ulrich 1994, 398–400). Wesentlich sind dabei
Jahren mit der Kritik einer ökonomischen der dynamische Charakter des politischen Prozesses
Theorie des unbegrenzten Wachstums in der af- und die Kontinuität des Veränderungsdrucks durch
fluent society (Galbraith 1958/1963) zusammen. sozialen Wandel. Die Verstrickung der Historiogra-
phie in die Teleologisierung des Fortschritts vor al-
Die Krise des Fortschrittsoptimismus seit den lem bis 1914, aber auch in der Form der Legitima-
1960er Jahren lässt sich daher sinnvoll nur multifak- tion fortschrittsbetonter moderner Diktaturen im
toral und sozialkonstruktivistisch im Bemühen um 20. Jahrhundert wird methodologisch seit längerem
die Sichtbarmachung neuer Akteure und neuer The- kritisch reflektiert, (Rüsen 1983; Goertz 1995),
men auf mehreren Ebenen ohne Anspruch auf Voll- gleichwohl lässt sich auch bei der betont kritischen
ständigkeit beschreiben. Dies umso mehr, als auch Beschreibung der Krise des Fortschrittsoptimismus
die Frage, ob es sich hierbei um eine Narratio von z. B. in der historischen Umweltforschung bisweilen
der erfolgreichen oder aussichtslosen Neuerfindung eine Art ›Negativ-Teleologisierung‹ feststellen (Rad-
der modernen Industriegesellschaft und ihrer politi- kau 2000, 11–51). Der soziologische (Schäfers 2000,
schen Kulturen handelt, strittig bleibt. 194–196) und politikwissenschaftliche Krisenbegriff
(Jänicke 1973, 14–50) hat nur bedingt in der
deutschsprachigen historischen Darstellung Berück-
Frühere Krisen sichtigung gefunden.
In der deutschen Technikhistoriographie ist das
Der Erste Weltkrieg, der in englischsprachigen Län- Thema methodisch durch die breite Rezeption des
dern auch deshalb »The Great War« genannt wird, dreidimensionalen Technikbegriffs von Günter
beendete nicht nur das lange 19. Jahrhundert und Ropohl (1979) und inhaltlich in den Debatten um
Zeitalter des uneingeschränkten westlichen bürger- den Charakter der Industriegesellschaft, die Ener-
lichen Fortschrittsglaubens (s. Kap. II.4), sondern giewenden und die Rolle der Ingenieure dabei prä-
war der Präzedenzfall für die Möglichkeit totaler sent (Gleitsmann et al. 2009, 39–68). Die Berufs-
wissenschaftlich-technisch-administrativer Mobili- gruppe der Ingenieure erlebte im Kontext gesell-
sierung und Durchherrschung moderner Industrie- schaftlicher Diskurse um die Bedeutungen von
gesellschaften für einen Verschleiß- und Vernich- Technik seit den 1960er Jahren dabei nicht nur in
tungskrieg. Der nationalsozialistische Zivilisations- der Geschichtswissenschaft, hier sogar verhältnis-
bruch der industriellen Massenvernichtung der mäßig spät, eine so vollständige Umbewertung wie
europäischen Juden zwischen 1941 und 1945 ist keine andere Referenzgruppe. Aus den Hoffnungs-
ohne diese Präzedenz nicht verständlich, auch wenn trägern und wertgeschätzten Garanten von Wachs-
er bei weitem nicht vollständig daraus erklärt tum, Wohlstand, Frieden und Zukunftsoffenheit
werden kann (Diner 1999, 9–19). Alle modernen wurden nun die eindimensionalen Exekutoren von
Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts Wirkungsgradfetischismus ohne Interesse für die
gaben sich insbesondere in technischer Hinsicht sozialen, politischen und ökologischen Implikatio-
fortschrittsorientiert. Die totalitarismustheoretische nen ihres Tuns. An der medialen Vermittlung lässt
Kritik an ihnen, u. a. anknüpfend an Hannah Arendt, sich dies besonders gut zeigen: Erschien Technik in
war immer auch ein Beitrag zur Krise des Fort- den James Bond-Kinoepen der 1960er Jahre noch
schrittsoptimismus und zur Rekonstruktion von uneingeschränkt positiv, verkörperte sie in den beim
5. Krise des Fortschrittsoptimismus 69

Publikum nicht weniger erfolgreichen großen dysto- Industrie und Funktionseliten durch eine Gegenöf-
pischen Filmerzählungen der 1970er Jahre wie Star fentlichkeit von unten zu brechen (s. Kap. V.11). Der
Wars bereits die bedrohliche, tendenziell mensch- zivilgesellschaftliche Protest und Widerstand gegen
heitsvernichtende Allianz von Wissen und Macht. Kernenergieanlagen und technische Großprojekte
Zu diesem fundamentalen Perspektivenwechsel gehört daher zu den Grunderfahrungen alternativer
trugen Akteure bei, die sich vorher nicht oder jeden- Definitionen des Politischen vor allem in der Bun-
falls nicht kritisch zur Technik geäußert hatten. Von desrepublik. In der Ablehnung des Baus der Bundes-
nicht zu unterschätzender Bedeutung in den von reaktorstation bei Karlsruhe 1956, der Anti-AKW-
strukturellen Säkularisierungsprozessen zwar ge- Bewegung in Whyl und Brokdorf in den 1970er Jah-
zeichneten, aber noch nicht im heutigen Umfang ren bis zu den Demonstrationen gegen das geplante
dominierten westlichen Industriegesellschaften war Atommüllendlager Gorleben zeigte sich über alte
in den 1960er Jahren die Thematisierung der Ver- parteipolitische und sogar Generationengrenzen
antwortung für die Schöpfung in beiden großen hinweg ein Prozess der bürgergesellschaftlichen
Konfessionsgemeinschaften (Gleitsmann et al. 2009, Wiedergewinnung des Primats der Öffentlichkeit
63–65). Der protestantisch dominierte Ökumeni- und der Zivilgesellschaft, der die politische, auch
sche Rat der Kirchen in Genf und das II. Vatikani- parteipolitische Landschaft mit der Gründung der
sche Konzil wiesen die Industrienationen deutlich Grünen 1980 veränderte.
auf ihre Verantwortung in der Umweltfrage und der Die Reaktorunfälle von Windscale/Großbritan-
damit zusammenhängenden sog. Dritte-Welt-Pro- nien (1957), Harrisburg/USA (1979) und Tscherno-
blematik hin (zu Nachhaltigkeit s. Kap. IV.B.10). In byl/UdSSR (1986) trugen dazu bei, die Aktualität
den folgenden Jahren kamen diese kritischen Anfra- und Relevanz der Auseinandersetzung um die Kern-
gen im Gemeindeleben an und prägten Generatio- energie brennpunktartig zu schärfen und die stan-
nen von Christen, die sich auch öffentlich und poli- dardisierte Rhetorik der Beherrschbarkeit dieser
tisch zu artikulieren begannen. Die Kirchen und ge- Technologie mit dem stereotypen Hinweis auf die
mäßigt-linke politische Gruppierungen entdeckten statistische Unwahrscheinlichkeit eines GAU und
Gemeinsamkeiten in ihrer Kritik von Materialismus, die absolute Sicherheit deutscher Kernkraftwerke
Verschwendung, Konsumgesellschaft, Rüstungs- zunehmend als provozierende Parteimeinung im
wettlauf und der Nord-Süd-Schere, aber auch die für Unterschied zu einer gemeinwohlorientierten Ge-
die westeuropäische Nachkriegsentwicklung so cha- samtschau der Zusammenhänge erscheinen zu las-
rakteristischen zentristischen christdemokratischen sen (s. Kap. V.11). Dabei führten die Ölkrisen von
Parteien machten sich u. a. in der Diskussion um 1973 und 1979 vor Augen, wie ambivalent die Ener-
konservative Werte Positionen der Kritik am Fort- giefrage für die aufgrund ihrer strukturellen Ener-
schrittsoptimismus zu eigen bzw. reaktivierten sie. gieabhängigkeit verwundbaren Industrienationen
Auch die Literatur in West und Ost leistete seit blieb. Autofreie Sonntage mit leeren Autobahnen
den 1960er Jahren einen wichtigen Beitrag zur Eta- machten deutlich, dass auch Automobilität und
blierung des Themas der Krise des Fortschrittsopti- Energie nicht voneinander zu trennen sind. Für ein
mismus (Gleitsmann et al. 2009, 60–63). Die Litera- so stark auf den Automobilexport und auf individu-
turnobelpreise für John Steinbeck (USA, 1962), elle Massenmobilität setzendes Land wie die Bun-
Heinrich Böll (Bundesrepublik, 1972), Saul Bellow desrepublik war die Krise des Fortschrittsoptimis-
(USA, 1976) bestätigten das. Besonders in der deut- mus als Infragestellung von hochgradig pfadabhän-
schen Nachkriegsliteratur, u. a. bei Günther Grass, gigen Leittechnologien und Schlüsselartefakten eine
Günther Kunert und Christoph Hein, war die Dar- existenzielle Frage, die nicht nur die Organisation
stellung des gebrochenen Verhältnisses zum Fort- des Industriesystems, sondern die Verteilung und
schritt vor zeitgeschichtlichem Hintergrund ein zen- Definition von Wohlstand betraf.
trales Motiv. Auch konventionelle Industrieunfälle wie die
Von besonderer Bedeutung in Westeuropa, weni- Chemiekatastrophen von Seveso/Italien (1976) und
ger in den USA, war die Herausbildung von Formen Bhopal/Indien (1984) sowie die Tankerkatastrophen
bürgergesellschaftlichen Protests gegen Großtech- der Amoco Cadiz vor der bretonischen Küste/Frank-
nologien und insbesondere gegen die Kernenergie reich (1976) und der Exon Valdez (1989) vor Alaska/
seit den 1950er Jahren (Gleitsmann 2011, 17–26). USA unterstützten die Popularisierung einer zuneh-
Ihr gelang es bis Ende der 1970er Jahre, die absolute mend kritischen Grundhaltung gegenüber den Risi-
Diskurshegemonie der Atomeuphorie von Politik, ken des globalen industriellen Systems bis in die
70 III. Hintergrund

Mitte der Gesellschaft hinein und über die ohnehin tionsprägenden Standardwerk und antizipierte den
fließenden Grenzen der Umweltbewegung hinaus. von Ulrich Beck in den 1980er Jahren aufgegriffenen
Die Antwort der Industrien bestand u. a. neben einer sprachkritischen Ansatz der Analyse soziotechni-
neuen Form von Akzeptanzdesign und traditionel- scher Akteure.
lem Lobbyismus unter Hinweis auf die Standortfrage Die 1972 erschienene Studie des Club of Rome
in weiteren Innovationsspiralen, die sich u. a. im Au- über die Grenzen des Wachstums, erarbeitet von
tomobilbau gut nachvollziehen lassen. Donella Meadows (1941–2001) und Dennis L. Mea-
Versucht man, die Krise des Fortschrittsoptimis- dows (*1942), gehört trotz der Bestreitbarkeit eini-
mus seit den 1960er Jahren aus der Vogelperspektive ger Prämissen zu den einflussreichsten Dokumenten
zu beschreiben, könnte man von einer Frustrations- der Krise des Fortschrittsoptimismus überhaupt.
geschichte sprechen. Die Verheißungen der 1950er Die in Millionenauflage weltweit verbreitete und re-
und 1960er Jahre: unbegrenzte und saubere (Atom-) zipierte Studie, zu deren Leitthemen u. a. die End-
Energie, Wohlstand für viele, wenn auch nicht für lichkeit der fossilen Ressourcen, die unkontrollierte
alle, eine objektiv wie subjektiv wünschenswerte Umweltzerstörung, der Zusammenhang von Über-
Technik für die Konsumenten  – all dies war nicht bevölkerung und Unterernährung gehört, hatte
nur nicht in der versprochenen Weise eingetreten, nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaftspolitik,
sondern hatte ungeahnte und zum Teil schwer abzu- Politikformulierung und auf das individuelle Ver-
schätzende Folgewirkungen gezeitigt. halten in westlichen Ländern.
1973 erschien in den USA eine Untersuchung des
amerikanischen Soziologen Daniel Bell (1919–2011)
Vertreter und Grundprobleme über die nachindustrielle Gesellschaft (Bell 1975).
Bell analysiert den Übergang von der industriellen
Das Kriterium der Auswahl der folgenden Autoren Produktions- zur nachindustriellen Informations-,
und Werke ist nicht enzyklopädische Vollständig- Wissens-, Kommunikations- und Dienstleistungsge-
keit, sondern das der frühen Äußerung eines be- sellschaft als neue Phase der Industriemoderne.
stimmten Ansatzes und seiner lang anhaltenden, vor Diese sei »[…] gleichbedeutend mit dem Aufkom-
allem: massenwirksamen Rezeption. men neuer axialer Strukturen und Prinzipien: mit
Der Journalist Robert Jungk (1913–1994) machte dem Übergang von einer warenproduzierenden zu
seit den 1950er Jahren in seiner Publizistik, die einer Informations- und Wissensgesellschaft; und
schon früh von Publikumsverlagen in hohen Ta- im Bereich des Wissens selbst, mit einem Wandel
schenbuchauflagen vorlag, auf das Gefährdungspo- der Abstraktionsachse, der Ablösung des Empiris-
tential der Atomwirtschaft und die Illusion einer mus durch die Theorie, der ›Trial-and-Error‹-
Trennung zwischen militärischer und friedlicher Methode durch ein systematisches theoretisches
Nutzung der Kernenergie aufmerksam. Sein enga- Wissen, das die Neuerungen steuert und die Formu-
gierter Stil stand am Anfang der europäischen Frie- lierung der Politik bestimmt« (Bell 1975, 374). Bells
densbewegung und sensibilisierte für den Zusam- Konzept mit der Zentralstellung von Wissen und
menhang von Atom- und Umweltfrage (z. B. Jungk Kommunikation gewann der Krise der traditionel-
1979). len Industriegesellschaft auch positive Seiten ab und
Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Herbert wies sehr früh und Jahre vor der Verbreitung des In-
Marcuse (1898–1979) setzte sich in seiner 1964 in ternet auf die Notwendigkeit medialer Vernetzung
den USA, 1967 in der Bundesrepublik erschienenen, hin.
vielbeachteten Analyse Der eindimensionale Mensch Eine konstruktive technikethische Reaktion auf
(Marcuse 1967) kritisch mit den Folgen positivis- die Krise des Fortschrittsoptimismus ist auch das
tisch-pfadabhängigen Denkens und der techno- 1979 erschienene Hauptwerk des Philosophen Hans
kratischen Konstruktion von Sachzwängen in der Jonas (1903–1993) mit dem Titel Das Prinzip
fortgeschrittenen Industriegesellschaft auseinander Verantwortung. Jonas ’ verantwortungsethischer An-
(s. Kap. IV.A.6). Marcuse zeigte, wie eine dem Fort- satz  – Erweiterung der Ethik zur ›Fernstenliebe‹  –
schritt dienstbare Wissenschaft von Risiken und glo- machte die gesellschaftliche, politische und wissen-
balen Fragen wie der nuklearen Bedrohung ablenkte schaftliche Kritik am Fortschrittsoptimismus u. a.
und dabei ihre Autonomie und das Bewusstsein für für eine pro-aktive Auseinandersetzung mit den Fol-
ihre Verantwortung preisgab. Der Titel avancierte gen von Technik fruchtbar und wurde so nachhaltig
im Umfeld der 68er-Bewegung zu einem genera- wirksam (s. Kap. IV.B.2).
5. Krise des Fortschrittsoptimismus 71

1986 veröffentlichte der deutsche Soziologe Ul- schaften, wobei die Blickrichtung durchweg global
rich Beck (* 1944) eine Studie mit dem Titel Risiko- war. Stichworte waren Risikoverantwortung, Neu-
gesellschaft (Beck 1986). Die von ihrem Erscheinen formulierung der demokratischen Partizipation an
an weithin als grundlegend angesehene Analyse technischen Prozessen (s. Kap. IV.C.5), Ressourcen-
zeigt, auf welche Weise die nachindustrielle Gesell- und Klimabewusstsein, Kritik einseitiger Wachs-
schaft Risiken wie die der Atomwirtschaft inhären- tumsökonomien, Verantwortung für die Verbesse-
ten erfolgreich und profitabel für wenige rationali- rung der Lage in der Dritten Welt, Bewusstsein für
siert. Darin erkannte Beck eine neue Stufe der In- das Bevölkerungswachstum sowie Umweltschutz.
dustriemoderne: »In der fortgeschrittenen Moderne
geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum
systematisch einher mit der gesellschaftlichen Pro-
duktion von Risiken. Entsprechend werden die Ver- Offene Fragen der Forschung
teilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesell-
schaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, Eine historische, sozialwissenschaftlich aufgeschlos-
die aus der Produktion, Definition und Verteilung sene Analyse der Krise des Fortschrittsoptimismus
wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken seit den 1960er Jahren im Kontext der Epoche ist
entstehen« (Beck 1986, 25; s. Kap. II.2). Die Mo- noch zu leisten. Wichtige Grundlagen legte hier
derne, so Beck, wird reflexiv: »Es geht also nicht Rolf-Peter Sieferle mit seiner energiegeschichtlich
mehr oder nicht mehr ausschließlich um die Nutz- orientierten Epocheneinteilung (Sieferle 1987, 147–
barmachung der Natur, um die Herauslösung des 158). Zu welchen historiographischen Ergebnissen
Menschen aus traditionalen Zwängen, sondern […] die vor allem in den englischsprachigen Wissen-
wesentlich um Folgeprobleme der technisch-ökono- schaftskulturen geführte Debatte um die Global His-
mischen Entwicklung selbst. Der Modernisierungs- tory führen wird, bleibt abzuwarten. Einer ihrer Pio-
prozeß wird ›reflexiv, sich selbst zum Thema und niere im Bereich der Universalgeschichte ist der
Problem« (ebd., 26). deutsche Historiker Imanuel Geiss (2006). Wün-
schenswert ist vor allem eine neue Hinwendung zu
den Quellen des Themas. Dazu gehören die Litera-
Bezüge zur Technikethik tur in ihrer ganzen Breite einschließlich der Tech-
nikpublizistik und grauen Literatur des vorpoliti-
Der Bezug der Krise des Forschrittsoptimismus zur schen, ›alternativen Raums‹ bis auf die Ebene von
Technikethik lässt sich empirisch an einer Quellen- Ratgebern, Medienquellen aus Rundfunk und Fern-
gattung festmachen, die seit den 1960er Jahren ent- sehen, ingenieur- und technikwissenschaftliche
stand. Dabei handelt es sich um Sammelbände und Lehrbücher, die Berichte und Autobiographien von
Tagungsdokumentationen, die sich im Blick auf das Ingenieuren, Technikern und Naturwissenschaft-
Näherrücken der bevorstehenden Jahrtausend- lern, schließlich Werbung. Als weiterführend könnte
wende mit Aspekten des Fortschrittsproblems be- sich die zunächst transdisziplinäre und auf dieser
fassten. Der Aufbau dieser Sammelschriften hin- Grundlage dann vergleichende Beschäftigung mit
sichtlich der beteiligten Disziplinen und erkenntnis- dem Szenarienbegriff und der Szenarienkonstruk-
leitenden Fragen war bemerkenswert konstant. Das tion erweisen, der nicht nur in der technischen und
verbindende Interesse der Perspektiven aus Kyber- naturwissenschaftlichen Prognostik, sondern auch,
netik, Informatik bzw. Informationstechnologie, wenn auch bislang nicht methodisch reflektiert, in
Biologie, Soziologie, Ingenieurwissenschaften und den Geisteswissenschaften eine Rolle spielt. Ebenso
Psychologie war die ethische Herausforderung sinnvoll ist eine gegenüber der Technikfolgenab-
durch das Problem des Fortschritts heute, das die schätzung (s. Kap. VI.4) offene sozialkonstruktivisti-
Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutsch- sche Historiographie, die nicht in einem Retrospec-
land auf einem Kongress in Münster 1962 in den tive Technology Assessment (RTA) aufgeht.
Blick nahm (Meyer 1969). Die Suche nach Antwor-
ten angesichts der Krise des Fortschrittsoptimismus Literatur
führte in diesem Genre über die ideologiekritische
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
Perspektive hinaus zu ersten Versuchen einer Syn- Moderne. München 1986.
these der wesentlichen Problembereiche der Zu- – : Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der
kunftsgestaltung in den westlichen Industriegesell- Moderne. In: Ders./Anthony Giddens/Scott Lash (Hg.):
72 III. Hintergrund

Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt 6. Technikkonflikte


a. M. 1996, 19–112.
Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt
a. M./New York 1975.
Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhisto- Kernenergie, Kohlekraftwerke, grüne Gentechnik,
rische Deutung. München 1999. Nanotechnologie und Müllverbrennungsanlagen  –
Galbraith, John Kenneth: Gesellschaft im Überfluß. Mün- diese Technologien haben eines gemeinsam: Sie sind
chen/Zürich 1963 (amerik. New York 1958). umstritten. Sie stellen die Gesellschaft vor Konflikt-
Geiss, Immanuel: Geschichte im Überblick: Daten und Zu- situationen. Meistens geht es dabei um drei Konflikt-
sammenhänge der Weltgeschichte. Reinbek 2006.
Gleitsmann, Rolf-Jürgen: Der Vision atomtechnischer Ver- typen (Beck/Grande 2004):
heißungen gefolgt: Von der Euphorie zu ersten Protes- (1) Wie hoch sind die möglichen Nebenwirkungen
ten – die zivile Nutzung der Kernkraft in Deutschland und Risiken und welche Maßnahmen wären er-
seit den 1950er Jahren. In: Journal of New Frontiers in folgversprechend, um dieses Risiko zu verrin-
Spatial Concepts 3 (2011), 17–26. gern? (epistemischer Konflikt)
– /Kunze, Rolf-Ulrich/Oetzel, Günther: Technikgeschichte.
Konstanz 2009. (2) Welche Verteilungswirkungen gehen von diesen
Goertz, Hans-Jürgen: Umgang mit Geschichte. Eine Einfüh- Technologien aus? Wer hat den Nutzen und wer
rung in die Geschichtstheorie. Reinbek 1995. trägt die Risiken? Sind Dritte betroffen (etwa der
Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung – eine Einfüh- Nachbar, wenn eine Anlage giftige Gase in die
rung. Berlin 22010. Umgebung ablässt)? Können diejenigen, die den
Jänicke, Martin: Die Analyse des politischen Systems aus
der Krisenperspektive. In: Ders. (Hg.): Politische System- Nutzen haben, diejenigen, die das Risiko tragen,
krisen. Köln 1973, 14–50. angemessen kompensieren? Lässt sich die Tech-
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik nologie versichern? (distributiver Konflikt)
für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. (3) Ist das Verhältnis von Nutzen und Risiko ange-
Jungk, Robert: Der Atom-Staat. Vom Fortschritt in die Un- messen? Ist die Technologie akzeptabel? Wie si-
menschlichkeit. Reinbek 1979.
Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen: Einleitung. In: Dies.
cher ist sicher genug? Wer darf das bestimmen?
(Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, Wie kann man hier zu einer kollektiv verbindli-
1880–1933. Wuppertal 1998, 10–18. chen Entscheidung kommen? (normativer Kon-
Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pa- flikt)
thogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg/München 1959.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien
In pluralistischen Gesellschaften gibt es auf diese
zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.
Frankfurt a. M. 1967. Fragen nicht eine, sondern viele Antworten, und alle
Meadows, Donella/Meadows, Dennis L.: Die Grenzen des Antworten beanspruchen, für sich richtig und wahr
Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der zu sein. Oftmals sind sie innerhalb einer Gesell-
Menschheit. Aus dem Amerikanischen von Hans-Dieter schaft allein gar nicht zu lösen. Der Klimawandel
Heck. Stuttgart 1972.
macht ebenso wenig wie der atomare Super-GAU an
Meyer, Rudolf W.: Das Problem des Fortschritts  – heute.
Darmstadt 1969. nationalen Grenzen halt. Technikkonflikte können
Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der daher nicht allein mit technischen Überlegungen ge-
Umwelt. München 2000. löst werden, sondern erfordern zum einen interdis-
Ropohl, Günter: Eine Systemtheorie der Technik. Zur ziplinäre und normativ überzeugende Lösungen
Grundlegung der Allgemeinen Technologie. München/ und zum anderen länderübergreifende Ansätze.
Wien 1979.
Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik Um diese Herausforderungen in ihrer Komplexi-
I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen tät und Vielschichtigkeit zu bewältigen, braucht es
1983. einen umfassenden Ansatz der Technikfolgenab-
Schäfers, Bernhard: Krise. In: Ders. (Hg.): Grundbegriffe schätzung (TA; s. Kap. VI.4). Dieser muss einen Spa-
der Soziologie. Opladen 62000, 194–196. gat leisten: Einerseits müssen alle notwendigen Wis-
Sieferle, Rolf-Peter: Industrielle Revolution und die Um-
wälzung des Energiesystems. In: Theo Pirker/Hans Peter sensgrundlagen und gesellschaftlichen Erforder-
Müller/Rainer Winkelmann (Hg.): Technik und Industri- nisse einbezogen werden, andererseits muss ein
elle Revolution. Vom Ende eines sozialwissenschaftlichen solcher Ansatz gleichzeitig praktikabel, politisch
Paradigmas. Opladen 1987, 147–158. umsetzbar und sozial akzeptabel sein. Partizipative
Ulrich, Volker: Krise. In: Manfred Asendorf/Achatz von Technikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.5) ist ein An-
Müller/Volker Ulrich: Geschichte. Lexikon der geschicht-
lichen Grundbegriffe. Reinbek 1994, 398–400. satz, mit Technikkonflikten konstruktiv umzugehen.
Vorab ist eine begriffliche Klärung über Konflikt
Rolf-Ulrich Kunze
und Konflikttypen erforderlich.
6. Technikkonflikte 73

Soziale Konflikte monopol des Staates verliert Konfliktaustragung den


Charakter einer willkürlichen, zufälligen oder auch
Soziale Konflikte sind Gegensatzbeziehungen von lebensbedrohlichen Form der Auseinandersetzung.
Erwartungen im Rahmen eines sozialen Kontextes, Die Akzeptanz von kollektiv verbindlichen Rege-
an dem mindestens zwei Akteure (Personen, Par- lungen wie auch die ausgehandelten Kompromiss-
teien, Organisationen, Quasi-Gruppen) beteiligt formeln der Verteilungskämpfe sind in der jüngsten
sind und in dem das Verhalten der Akteure durch Zeit zunehmend unter Legitimationsdruck geraten
die Gegensatzbeziehung direkt oder indirekt beein- (Fuchs 2002; Gabriel/Völkl 2004). Das gilt in beson-
flusst wird (Dahrendorf 1961, 125). Zum Konflikt derer Weise für sogenannte externe Technik, d. h.
gehören drei Elemente: der Gegenstand des Konflik- technische Anlagen, Prozesse oder Produkte, die
tes (etwa Leistungsfähigkeit von Solarkollektoren), man nicht selber exklusiv nutzt (wie etwa eine Brot-
widersprüchliche Erwartungen, die mit diesem Ge- schneidemaschine), sondern die zu allgemeinen
genstand verbunden werden (etwa Solarkollektoren Dienstleistungen beitragen, aber Risiken für die in
können viel oder wenig zur Energieversorgung bei- der Umgebung lebenden Menschen bergen (Renn/
tragen) und Handlungsdruck, auf die widerspre- Zwick 1999, 42). Beispiele dafür sind Kraftwerke,
chenden Erwartungen in irgendeiner Form zu re- Staudämme, Chemieanlagen, Flughäfen oder auch
agieren (etwa Solarkollektoren genauer zu untersu- Bahnprojekte wie Stuttgart 21. Dabei lässt sich eine
chen, sie gleich mit anderen Energietechnologien zu zunehmende Akzeptanzverweigerung der betroffe-
ersetzen oder auf Energieautoritäten zu vertrauen). nen Bürger gegenüber den kollektiv festgelegten
Konflikte sind daran gebunden, dass die Interessen Beschlussverfahren (etwa Genehmigungsverfahren
einer Partei mit der anderer Parteien im Wider- oder Planfeststellungsverfahren) beobachten. Allein
spruch stehen und sich eine Partei benachteiligt die Tatsache, dass ein Beschluss demokratisch zu-
fühlt, wenn es der jeweils anderen Partei gelingt, das stande gekommen ist, reicht nicht mehr aus, um Ak-
eigene Interesse durchzusetzen (Giesen 1993, 92). zeptanz bei den Betroffenen auszulösen. Die Bürger
Man kann zwischen personalen und institutionel- verlangen darüber hinaus eine Nachvollziehbarkeit
len Konflikten unterscheiden. Personale Konflikte der zum Beschluss führenden Argumente und Ziel-
finden zwischen Individuen statt, institutionelle zwi- konflikte. Vor allem sind sie nicht mehr gewillt, Las-
schen Organisationen oder zwischen Gruppen von ten in ihrer Lebenswelt hinzunehmen, und zwar ge-
Personen. Technikkonflikte mit gesellschaftlicher rade dann, wenn Nutznießer und Risikoträger ausei-
Brisanz gehören in der Regel zu den institutionellen nanderfallen (Beispiel Müllverbrennungsanlage).
Konflikten. Um mit diesen Konflikten umzugehen, ist die Politik
Institutionelle Konflikte entzünden sich meist an auf neue Prozesse der Rückkopplung von Werten
Verteilungsproblemen knapper Ressourcen oder an und Interessen aus Sicht der betroffenen Bürgerin-
kollektiv verbindlichen Regelungen, die das Verhal- nen und Bürger an die Politik angewiesen. Die her-
ten von Menschen steuern (Pfeffer/Salancik 1978, kömmliche Form der Rückkopplung durch Mei-
92 ff.). Die besondere Errungenschaft demokrati- nungsbefragung oder persönliche Kontakte erweist
scher Gesellschaftssysteme liegt darin, dass im Falle sich in der politischen Praxis als ungenügend, oft so-
der Verteilungsprobleme Verfahren der Kompro- gar als irreführend. Vielmehr ist es angesichts der
missfindung nach einem als fair empfundenen oder Legitimationsdefizite notwendig und sinnvoll, die
ausgehandelten Schlüssel institutionell verankert legalen Formen der Konfliktaustragung durch deli-
sind. Im Falle der kollektiv verbindlichen Festlegun- berative Elemente zu ergänzen (Corrigan/Joyce
gen dürfen bestimmte Rechte von Individuen und 1997).
sozialen Minderheiten nicht angetastet werden, dar-
über hinaus aber entscheidet nach einer Debatte der
verschiedenen Handlungsoptionen ein dazu legiti- Beispiele für Technikkonflikte
miertes Gremium nach Maßgabe eines Abstim-
mungsschlüssels (etwa Mehrheitsprinzip). In beiden Wie in der Einleitung schon angesprochen, sind
Fällen geschieht Konfliktaustragung nach vorher Technikkonflikte meist auf drei Ebenen bezogen: das
festgelegten Spielregeln und im Rahmen von sub- Wissen über die Folgen des Einsatzes der Technolo-
stantiellen Gesetzen. Dadurch werden Orientie- gie, die zu erwartenden Konsequenzen für die Ver-
rungssicherheit, Regelhaftigkeit und Gleichheit vor teilung von Nutzen und Risiko sowie die Akzeptabi-
dem Gesetz erzielt. In Verbindung mit dem Gewalt- lität der Technik. Akzeptabilität untergliedert sich
74 III. Hintergrund

weiter in Akzeptanz, d. h. die empirisch vorfindbare • Wertdifferenzen (evaluative Konflikte)


Einstellung der Akteure zu der entsprechenden • Moralische Bewertungen (normative Konflikte)
Technologie und die unter normativen ethischen
Kriterien zu beurteilende Vertretbarkeit einer Tech- Bei Konflikten über Technologien, die gesellschaft-
nologie. lich umstritten sind, treten vor allem die epistemi-
Das kann am Beispiel der nuklearen Endlagerung schen, distributiven und normativen Konflikte her-
(s. Kap. V.4) aufgezeigt werden (Streffer et al. 2010). vor. Allerdings kommen auch die anderen Konflikt-
Zum Ersten gibt es einen Streit um die langfristigen typen immer wieder vor. Auf das Beispiel nukleare
Folgen der Endlagerung nuklearer Abfälle. Wie hoch Endlagerung bezogen, können Interpretationskon-
sind die Risiken und wie hoch ist die Wahrschein- flikte auftauchen (Was bedeutet es, wenn Salzforma-
lichkeit, dass radioaktive Partikel in den Wasser- tionen in den letzten 2–3 Millionen Jahren stabil
kreislauf geraten? Zudem gibt es einen Expertendis- geblieben sind für ihre zukünftiges Verhalten?), in-
sens um die beste Form der Konditionierung dieser tentionale Konflikte entstehen (Was hat die Nuklear-
Abfälle sowie zur Wahl eines Wirtsgesteins für die industrie alles versprochen und dann nicht gehal-
Tiefenlagerung. Zum Zweiten wird den Anwohnern ten?), affektive Konflikte entbrennen (Wie kann
von nuklearen Endlagerstätten das Risiko eines un- man nur eine Energiequelle nutzen, ohne die Frage
gewollten Austritts radioaktiver Strahlung zugemu- der Abfalllagerung gelöst zu haben?) oder evaluative
tet, während der Nutzen der Energieerzeugung der Konflikte aufbrechen (Wie kann man mir in meiner
ganzen Gesellschaft zugutegekommen ist. Darüber Heimat ein Endlager vor die Nase stellen?). Evalua-
hinaus werden kommende Generationen mit dem tive Konflikte sind häufig zu beobachten, wenn
Risiko belastet sein, obwohl sie nicht mehr am Nut- Menschen die Technologie zwar grundsätzlich beja-
zen der Stromerzeugung durch Kernkraftwerke par- hen, aber nicht in ihrer Umgebung dulden wollen
tizipieren werden. Sie tragen also die Altlast ihrer (Sankt-Florian-Prinzip oder englisch NIMBY: »not
Vorfahren. Schließlich ist die Frage der Akzeptanz in my backyard«).
und Akzeptabilität zu stellen: zum einen zeigt sich
bei nahezu allen geplanten Endlagerstätten großer
lokaler Widerstand, der bis heute in den meisten Neue Elemente der Konfliktaustragung
Ländern zu einer Blockade der geplanten Anlagen
geführt hat. Zum anderen gibt es eine intensive De- Wie kann man mit Technikkonflikten umgehen?
batte um die ethische Vertretbarkeit nuklearer End- Was kann die Gesellschaft oder die Politik leisten,
lager. Was dürfen wir den kommenden Generatio- um Technikkonflikte zu entschärfen oder sogar zu
nen als Altlast zumuten? Wie weit reicht die Verant- lösen? Zum einen ist es hilfreich, Konflikte, die auf
wortung für unser Tun? Dies sind Fragen, auf die es Ja/Nein-Alternativen beschränkt erscheinen, durch
keine eindeutigen Antworten gibt und um die in der neue Optionen zwischen den beiden Extremen auf-
Gesellschaft gerungen wird. zufächern (Susskind et al. 2000; Bonacker 2002, 24).
Konflikte, die nur Gewinner und Verlierer kennen,
sind wesentlich schwieriger zu behandeln, als solche,
Struktur von Technikkonflikten bei denen es eine Reihe von Zwischenlösungen gibt.
Albert Hirschmann (1994) hat diese beiden Kon-
Man kann Konflikte in unterschiedliche Typen ein- flikttypen als teilbare und unteilbare Konflikte be-
ordnen. In der Literatur wird in der Regel zwischen zeichnet. Eine wichtige Strategie der Politik muss es
folgenden Konflikttypen unterschieden (Bonacker sein, so weit wie möglich unteilbar erscheinende
2002): Konflikte durch die Schaffung neuer Varianten in
• Wissenskonflikte bzw. epistemische Konflikte teilbare zu transformieren. Sobald auch die potenti-
(Begründungen und Erwartungen) ellen Verlierer den Eindruck gewinnen, sich zumin-
• Interpretationskonflikte bzw. reflektive Konflikte dest in Teilen durchgesetzt zu haben, ist die Akzep-
(Was bedeutet das?) tanz der politischen Entscheidung wesentlich wahr-
• Handlungserwartungskonflikte bzw. intentionale scheinlicher (Ury et al. 1991).
Konflikte (Versprechungen, Absichten) Zum anderen geht es darum, die Konfliktparteien
• Emotionale Assoziationen und Beurteilungen mehr als früher in die Entscheidungsfindung ein-
(affektive Konflikte) zubeziehen (US National Research Council 2008,
• Interessengegensätze (distributive Konflikte) 43 ff.). Beteiligungsverfahren sollen dabei nicht in
6. Technikkonflikte 75

Konkurrenz zu demokratisch verfassten Entschei- Transparenz


dungsorganen treten, sondern vielmehr den Ent-
scheidungsprozess durch neue Formen von Partizi- Schließlich ist die Akzeptanz von politischen Ent-
pation und Mediation bereichern (Renn 2003; s. scheidungen von der Transparenz der Entschei-
Kap. VI.5). Gerade die Professionalisierung der Poli- dungsfindung selbst abhängig. Sozialwissenschaftli-
tik hat den für Akzeptanz notwendigen Nachvollzug che Studien zeigen deutlich, dass Menschen auch
von Konfliktlösungen immer schwieriger gemacht. unpopuläre Entscheidungen mittragen, wenn sie da-
Gleichzeitig ist das Misstrauen gegen die politischen von überzeugt sind, dass ihre Argumente fair behan-
Generalisten in einzelnen Lebensbereichen (etwa delt wurden und der Prozess der Entscheidungsfin-
Umwelt oder Bildung) gestiegen. So agieren Bürger- dung nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt ist
initiativen gegen die ihrer Meinung nach unnötigen (Kuklinski/Oppermann 2010). Dazu ist es notwen-
und schädlichen Veränderungen ihrer Lebenswelt dig, bei größeren Konflikten nicht nur die Ergeb-
oder stellen die Rationalität und Fairness von Ent- nisse der politischen Beratungen zu vermitteln, son-
scheidungen (vor allem bei der Planung von Infra- dern auch die Argumente, Gegenargumente und
struktureinrichtungen) infrage. Dieser Legitimati- Abwägungsurteile mitzukommunizieren. In einer
onsentzug ist nicht mit dem Hinweis auf die Sankt- Medienlandschaft, in denen politische Nachrichten
Florian-Mentalität abzutun (Troja 2001). Dahinter auf Häppchen (sound-bite-Größe) reduziert werden,
steht die berechtigte Sorge, dass bei der Abwägung ist diese Aufgabe kaum zu bewältigen. Hier müssen
von politischen Handlungsalternativen unmittelbare neue Kommunikationsformen gesucht und erprobt
kommunale oder regionale Belange in den Hinter- werden (Stirling 2008). Zum Beispiel kann das Inter-
grund gedrängt werden (Gabriel/Brettschneider net als politisches Forum des Austauschs von Argu-
1998). Aus diesem Grund ist es sinnvoll und zweck- menten genutzt, Stätten der direkten Begegnung
mäßig, die Vertreter der Konfliktparteien in den zwischen Politikern und Bürgern weiter ausgebaut,
Prozess der Entscheidungsvorbereitung einzubezie- Besuche in politischen Einrichtungen forciert und
hen. Hier können sie ihre Bedenken und Anliegen ein reger Personaltausch zwischen Wirtschaft, Wis-
frühzeitig äußern und die jeweiligen Gegenargu- senschaft und Politik gepflegt werden. Demokrati-
mente kennenlernen und ausdiskutieren. Die bisher sche Konfliktaustragung kann auf Dauer nicht ge-
üblichen Anhörungen erfolgen zu spät im Entschei- lingen, wenn die Distanz zwischen Entscheidungs-
dungsprozess, um noch wirkliche Impulse im Sinn trägern und Entscheidungsbetroffenen wächst.
neuer Optionen oder Variationen einzubringen. Dagegen können eine Beteiligung der Bürger an po-
Aufgrund ihrer starren Struktur (hier Podium, dort litischen Aufgaben, ein vermehrtes Engagement der
die Einwender) sind sie oft durch rituelle Konflikt- Bürger bei Gemeinwohlaufgaben und ein öffentlich
austragungsformen gekennzeichnet, bei denen ein wirksamer Erfahrungsaustausch zwischen Politik
sozialer Lernprozess für beide Seiten nicht stattfin- und anderen Lebensbereichen helfen, ein Stück weit
den kann (Hadden 1989, 124). Wesentlich effektiver Distanz abzubauen.
sind dagegen Verfahren der Bürgerforen, Bürger-
kommissionen, Konsensuskonferenzen oder ande- Literatur
rer Beteiligungsformen, bei denen die Konfliktpar-
Beck, Ulrich/Grande, Edgar: Das kosmopolitische Europa.
teien nicht gegeneinander, sondern miteinander an Gesellschaft und Politik in der zweiten Moderne. Frank-
einer gemeinsamen Lösung arbeiten (s. Kap. VI.5). furt a. M. 2004.
Dabei geht es nicht nur um die Wahl einer akzepta- Bonacker, Thomas: Sozialwissenschaftliche Konflikttheo-
blen Politikoption, sondern auch und gerade um das rien – Eine Einführung. Opladen 2002.
Einüben von Argumentations- und Aushandlungs- Corrigan, Karen P./Joyce, Patrick W.: Five arguments for
deliberative democracy. In: Political Studies 48/5 (1997),
prozessen, die einen wesentlichen Bestandteil sozia- 947–969.
len Lernens ausmachen (Papadopoulos/Philippe Dahrendorf, Rolf: Gesellschaft und Freiheit. München 1961.
2007). Solche Prozesse des sozialen Lernens und der Fuchs, Dieter: Politikverdrossenheit. In: Martin Greiffen-
frühzeitigen Einbindung von Bürgern in die Erar- hagen/Sylvia Greiffenhagen (Hg.): Handwörterbuch der
beitung von Entscheidungsgrundlagen werden politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.
Wiesbaden ²2002, 338–343.
heute an vielen Orten Deutschlands und des Aus- Gabriel, Oscar/Brettschneider, Frank: Politische Partizipa-
lands entwickelt und erprobt. tion. In: Otfried Jarren/Ulrich Sarcinelli/Ulrich Saxer
(Hg.): Politische Kommunikation in der demokratischen
Gesellschaft. Opladen 1998, 285–291.
76 III. Hintergrund

Gabriel, Oscar/Völkl, Kerstin: Politische und soziale Parti- 7. Ethische Ingenieur-


zipation. In: Oscar Gabriel/Everhard Holtmann (Hg.):
Handbuch Politisches System der Bundesrepublik verantwortung
Deutschland. München/Wien 2004, 523–573.
Giesen, Bernhard: Die Konflikttheorie. In: Günter Endru-
weit (Hg.): Moderne Theorien der Soziologie. Stuttgart Es gibt weder den Ingenieur(beruf) noch die ethi-
1993, 87–134. sche Konzeption; infolgedessen gibt es nicht die In-
Hadden, Susan: A Citizen ’ s Right to Know: Risk Communi- genieurethik bzw. nicht die Konzeption ethischer In-
cation and Public Policy. Boulder 1989. genieurverantwortung. Ethische Verantwortung des
Hirschmann, Albert O.: Social conflicts as pillars of demo-
cratic market society. In: Political Theory 22/2 (Mai Ingenieurs ist im Kern ausgerichtet auf dessen Pro-
1994), 203–218. fession (vgl. Harris/Pritchard/Rabins 2009; Unger
Kuklinski, Oliver/Oppermann, Bettina: Partizipation und 1982; Firmage 1980). Sie markiert den Fokus ethi-
räumliche Planung. In: Dietmar Scholich/Peter Müller scher Reflexion auf die spezifische Berufsgruppe
(Hg.): Planungen für den Raum zwischen Integration und und stellt damit nur eine notwendige aber nicht hin-
Fragmentierung. Frankfurt a. M. 2010, 165–171.
Papadopoulos, Yannis/Warin, Philippe: Are innovative, reichende Perspektive auf die ethischen Problem-
participatory and deliberative procedures in policy ma- stellungen, die mit der Technik – insbesondere mit
king democratic and effective? In: European Journal of technischen Innovationen und ihrer Diffusion – im
Political Research 46/4 (2007), 445–472. Zusammenhang stehen. Eine Konzeption ethischer
Pfeffer, Jeffrey/Salancik, Gerald R.: The External Control of Ingenieurverantwortung ist nur ein Bestandteil in
Organizations. A Resource Dependency Perspective. New
York 1978. dem allgemeinen Bestreben eine norm- und wert-
Renn, Ortwin: Die Zunahme von partizipativen Verfahren orientierte Reflexion über Technik bzw. einer ver-
als Ausdruck eines veränderten Staats- und Gesell- nünftigen Techniksteuerung im weitesten Sinne zu
schaftsverhältnisses. In: Johann-Dietrich Wörner (Hg.): ermöglichen.
Das Beispiel Frankfurter Flughafen. Mediation und Dia-
log als institutionelle Chance. Dettelbach 2003, 226–240.
– /Zwick, Michael: Risiko- und Technikakzeptanz. Heidel-
berg/Berlin 1999. Ingenieur(beruf)
Stirling, Andrew: »Opening up« and »closing down«: po-
wer, articipation, and pluralism in the social appraisal of Auch wenn die Berufsbezeichnung ›Ingenieur‹ im
technology. In: Science, Technology and Human Values deutschsprachigen Raum erst zu Beginn des 17. Jahr-
33/2 (2008), 262–294.
Streffer, Christian/Gethmann, Carl-Friederich/Kamp, Ge-
hunderts aufkam, so hat es schon immer Ingenieu-
org/Kröger, Wolfgang/Rehbinder, Ekahardt/Renn, Ort- rinnen und Ingenieure gegeben – ob in der Antike,
win/Röhling, Karl-Josef: Radioactive Waste. Technical in der Renaissance oder in der ersten Phase der In-
and Normative Aspects of its Disposal. Berlin/Heidelberg dustrialisierung. Archimedes (ca. 287–212 v. Chr.)
2011. als Konstrukteur zahlreicher Kriegsmaschinen oder
Susskind, Lawrance/Levy, Paul F./Thomas-Larmer, Jenni-
Leonardo da Vinci (1452–1519) als Festungs- und
fer: Negotiating Environmental Agreements. Washington,
D.C. 2000. Wasserbauingenieur stehen stellvertretend für viele
Troja, Markus: Umweltkonfliktmanagement und Demokra- (Scholl 1978, 15 ff.). Ihre Tätigkeiten beschränken
tie. Zur Legitimation kooperativer Konfliktregelungsver- sich anfänglich auf diejenigen Bereiche, in denen
fahren in der Umweltpolitik. Köln 2001. sich technisches Wissen besonders akkumuliert:
Ury, William L./Brett, Jeanne M./Goldberg, Stephen B.:
Bau-, Militär- und Agrartechnik. Bis zum 18. Jahr-
Konfliktmanagement. Wirksame Strategien für den sach-
gerechten Interessenausgleich. Frankfurt a. M./New York hundert handelte es sich jedoch vorwiegend um ein-
1991. zelne Personen und nicht um eine – und erst recht
US-National Research Council of the National Academies: nicht organisierte – Berufsgruppe. Erste berufsstän-
Public Participation in Environmental Assessment and dische Umrisse werden in Frankreich mit der Auf-
Decision Making. Washington, D.C. 2008. stellung eines Ingenieur-Korps für Straßen- und
Ortwin Renn
Brückenbau im Jahr 1716 und der Gründung einer
Schule für Zivilingenieure 1747 erkennbar. Gegen
Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Eng-
land und Holland der Stand der Ingenieure aus den
Berufen des Bergmanns und des Wasserbautechni-
kers (Scholl 1978, 15 ff.). Der entscheidende Durch-
bruch kam mit der Industriellen Revolution in der
die zunehmende Steigerung technischen Wissens
7. Ethische Ingenieurverantwortung 77

und die wachsende (volks-)wirtschaftliche Relevanz Nach einer im September 2012 von der Bundesin-
der Technik zur Entstehung eines neuen Berufsstan- genieurkammer veröffentlichten Statistik – auf Basis
des führten. Mit dem Aufkommen massenorientier- von Daten des Statistischen Bundesamtes  – gab es
ter maschineller Fertigung im Verlauf des 19. Jahr- im Jahr 2011 1.042.000 erwerbstätige Ingenieur/in-
hunderts stieg der Bedarf an Ingenieur/innen an, die nen in Deutschland. Auffällig ist die starke Un-
in entstehenden polytechnischen Schulen eine nahe gleichverteilung bei den Geschlechtern; die über-
an den Naturwissenschaften orientierte Ausbildung wiegende Mehrheit sind Männer (87 %). Außerdem
durchliefen. Die deutliche Verbreitung des Berufs- befindet sich die große Mehrzahl der Ingenieurin-
stands verlief parallel mit dem Wachsen von Groß- nen und Ingenieure in einem Angestelltenverhältnis
betrieben und deren Bürokratisierung. Allerdings (80 %). Mittlerweile gibt es eine kaum überschau-
waren die gesellschaftliche Anerkennung und der bare Vielfalt an Ingenieurberufen, was sich sowohl
Einfluss gegenüber anderen etablierten Berufsgrup- in den unterschiedlichen Fachrichtungen (Bergbau,
pen wie etwa den Juristen und Medizinern noch ge- Maschinenbau, Elektrotechnik, Bau- und Vermes-
ring (Laatz 1979, 87 ff.). Der Bedarf an Ingenieur/in- sungswesen, Verfahrenstechnik, Energietechnik, Ver-
nen mit wissenschaftlich-orientierter Ausbildung kehrstechnik, Umwelttechnik etc.), als auch in den
wuchs schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg mit verschiedenen Tätigkeitsfeldern (Forschung und
zunehmender Technisierung kontinuierlich an, was Entwicklung, Planung und Projektierung, Konstruk-
dazu führte, dass die Ausbildungswege stärker diffe- tion, Fertigung, Qualitätssicherung, Instandhaltung,
renziert und reglementiert wurden (ausführlich zur Vertrieb, Kundendienst, Verwaltung, Management
Geschichte des Ingenieurberufs vgl. auch z. B. Kai- etc.) widerspiegelt.
ser/König 2006; Lundgreen/Grelon 1994).
Es sind in erster Linie Ingenieur/innen, die sich in
Ausübung ihres Berufs mit der Erforschung von Systemfaktor ›Mensch‹
Technik beschäftigen, weshalb sie in ihrer Funktion
einen besonderen Einfluss auf die (Möglichkeiten Seit der Erfindung und Entwicklung einfachster
der) Technikentwicklung und -anwendung besitzen. Werkzeuge besteht das Problem der Ambivalenz der
Zu den klassischen Ingenieuraufgaben zählen die Technik (z. B. Ropohl 1991). Dies potenziert sich mit
Konstruktion, der Aufbau, die Überwachung des Be- der zunehmenden Komplexität technischer Arte-
triebs, die Wartung sowie der Umbau bzw. der Rück- fakte über Maschinen bis hin zu komplexen hoch-
bau von einzelnen Maschinen bis hin zu hochtech- technologischen Systemen. Spätestens im 20. Jahr-
nologischen Infrastrukturen. Daneben gewinnen die hundert setzt sich die Einsicht durch, dass wissen-
Projektierung, Implementierung und Integration schaftlich-technischer Fortschritt nicht unmittelbar
komplexer Systeme aus Hard- und Software zuneh- einen humangesellschaftlichen Fortschritt impli-
mend an Bedeutung. Hinzukommen vermehrt pla- ziert. So entfacht sich unmittelbar nach dem Zweiten
nerische Aufgaben sowie Marketing und Vertrieb. Weltkrieg – unter dem Eindruck des Zerstörungspo-
Dabei arbeiten Ingenieur/innen häufig projektbezo- tentials der Kriegstechnik im Allgemeinen und der
gen und in interdisziplinären, oft internationalen Atomwaffen (s. Kap. III.3) im Besonderen  – eine
Teams. Kontroverse über die berufsethische Verantwortung
Wie bei anderen Berufen setzt dies ein bestimm- von (Ingenieur-)Wissenschaftler/innen, welche sich
tes Fachwissen und Können voraus, das durch ein nicht zuletzt auch in der Verabschiedung von frei-
reglementiertes Ausbildungssystem angeeignet wer- willigen Selbstverpflichtungen in Form von Ethik-
den muss. Nach einer Empfehlung der Bundes- kodizes äußert (vgl. hierzu z. B. Lenk/Ropohl 1993,
ingenieurkammer für eine bundeseinheitliche ge- 311 ff.; s. Kap. VI.7).
setzliche Regelung darf dementsprechend die Das »veränderte Wesen menschlichen Handelns«
»Bezeichnung ›Ingenieur‹ allein oder in einer Wort- (Jonas 1984, 13), d. h. die ständige Erweiterung un-
verbindung […] führen, wer das Studium einer tech- serer Handlungsmöglichkeiten, hat zu neuartigen
nischen oder naturwissenschaftlichen Fachrichtung Wirkungen des wissenschaftlich-technischen Fort-
mit einer Regelstudiendauer von mindestens drei schritts geführt. Neuartig sind sie, weil sie mit einer
theoretischen Studienjahren an einer deutschen bisher »unbekannte[n] Gründlichkeit«, »höheren
staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule Effizienz der technischen Mittel«, »Akkumulation«
oder Berufsakademie […] mit Erfolg abgeschlossen und einem »verschärften Tempo« (Höffe 1993,
hat« (Bundesingenieurkammer 2004). 114 f.) die Handlungseffekte in immer schwerer
78 III. Hintergrund

überschaubare Dimensionen steigern und zu einer handelns intendiert; die Verantwortung muss sich
dauerhaften, großräumigen Gefährdung der ele- dementsprechend nicht nur auf dessen Entwicklung,
mentaren Lebensbedingungen führen können. Un- sondern auch auf die des Ge-(oder gar Miss-)
bestritten ist, dass der Mensch bzw. die Menschheit brauchs beziehen. Zweitens ist die Entwicklung ei-
heute »aktiver Systemfaktor von planetarischer Be- nes Produkts in der Regel nicht als isolierte Tätigkeit
deutung« ist (WBGU 1996, 111). Die Zukunft selbst Einzelner zu begreifen, sondern das Ergebnis einer –
ist zum Problem geworden. Wir wissen, dass unsere in einer globalisierten Welt zum Teil sehr komplex
Zukunft zugleich gestaltbarer und gefährdeter ge- organisierten – Zusammenarbeit. Technisches Han-
worden ist. Gestaltbarer, weil wir Menschen durch deln ist insofern meist kooperatives Handeln. Drit-
unsere wissenschaftlich-technische Weltverände- tens ist technisches Handeln zumeist in korporatives
rung mehr denn je »zum Produzenten [unserer] ei- Handeln eingebunden. Die technikethische Frage,
genen Zukunft geworden« sind (Picht 1967, 7), die ob ein Ingenieur die Entwicklung eines Produkts
herkömmliche individuelle und historische Erfah- verantworten kann, transformiert sich so auch in die
rungen übersteigt; gefährdeter, weil eben dieser zu- unternehmensethische Frage, ob die Unterneh-
nehmende Grad an Gestaltbarkeit mit unsicheren mensführung rechtfertigen und die ihr unterstellten
und ungewissen Handlungsfolgen einhergeht (vgl. Ingenieure beauftragen kann, Produkte zu entwi-
z. B. Beck 1986), die euphemistisch als – vermeint- ckeln, um sie auf dem Markt anzubieten (s. Kap.
lich unspektakuläre – ›Nebenfolgen‹ etikettiert wer- IV.C.8). Viertens ist technisches Handeln in der Re-
den. Euphemistisch deshalb, weil die ›Nebenfolgen‹ gel kollektives Handeln, d. h. es steht im Kontext von
nicht als Folge des zufälligen Versagens, sondern als technischen Systemen, und die daraus  – eventuell
die des wissenschaftlich-technischen Erfolgs auftre- räumlich wie zeitlich weit entfernten – kumulativen
ten. Die lange Zeit unterschätzten  – und teilweise Handlungsfolgen resultieren erst aus der Summe der
unbemerkten  – ›Nebenfolgen‹ der neuzeitlich wis- Aktivitäten eines Kollektivs, die der Einzelne nicht
senschaftlich-technischen industriellen Wohl- mehr überblicken kann und die gar in Widerspruch
standsproduktion sind aber gerade kein Problem der zu den Absichten der Akteure geraten können. Diese
außerhalb des Sozialen liegenden Umwelt, sondern knappen Ausführungen markieren deutlich, dass
markieren eine Krise, welche die strukturellen eine allgemeine Technikbewertung weit über eine
Grundlagen moderner Gesellschaften erfasst (s. Konzeption individueller ethischer Ingenieurverant-
Kap. II.5). Diese Gefährdung der Gesellschaft durch wortung hinausgeht.
sich selbst zeigt sich nicht nur bei der Anwendung
sogenannter Hochtechnologien, bei der sich das
technische Problem des sicheren Betreibens in das Spezifische Ingenieurverantwortung
soziale Problem der Akzeptanz und das ethische
Problem der Akzeptabilität von möglichen mensch- Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse moder-
lich erzeugten Katastrophen verwandelt, sondern ner Lebenswirklichkeiten arbeitete der vom Berufs-
ebenso bei den unspektakulären Folgen alltäglicher politischen Beirat des Vereins Deutscher 1997 be-
massenhafter (Konsum-)Handlungen. Gerade durch auftragte Ausschuss ›Ethische Ingenieurverantwor-
die Phänomene der Massenproduktion und des da- tung‹ deshalb deren Spezifika heraus. In dem
mit korrelierenden Massenkonsums entstehen viele Abschlussbericht (VDI Report 31; vgl. Hubig/Reidel
der globalen (Umwelt-)Probleme durch die Aggre- 2003) – auf dessen Basis der Verein Deutscher Inge-
gation massenhafter, unkoordinierter Handlungen – nieure (VDI) Anfang 2002 die »Ethischen Grund-
so reduziert(e) beispielsweise der alltägliche Ge- sätze des Ingenieurberufs« verabschiedet hat – wer-
brauch der Haarspraydose und der Gebrauch des den zunächst unterschieden zwischen interner Ver-
Kühlschranks durch Freisetzung von Fluorchlor- antwortung als Aufgaben- und Rollenverantwortung
kohlenwasserstoffe (FCKW) die stratosphärische für die Einhaltung und Aufrechterhaltung der Be-
Ozonschicht. rufsstandards und externer Verantwortung, deren
Hieraus wird deutlich, dass technisches Handeln Normen formell oder informell durch politische, ju-
weit über die individuelle ethische Ingenieurverant- ristische und soziale Instanzen gesetzt werden (zu
wortung hinausreicht (Ropohl 1996, Kap. 4): Erstens Verantwortung s. Kap. II.6). Die Übernahme der ex-
ist technisches Handeln intermediäres Handeln, d. h. ternen Verantwortung zeigt sich insbesondere darin,
mit der Herstellung eines Produkts ist selbstver- dass Ingenieur/innen aufgrund ihrer Sachkenntnis
ständlich zugleich ein bestimmtes Verwendungs- erstens den Gesetzgeber bei der Früherkennung von
7. Ethische Ingenieurverantwortung 79

Problemlagen unterstützen, zweitens im Rahmen in dem Maße, in dem die Konsequenzen unseres
von Technikfolgenabschätzungen alternative Hand- Handelns nicht allein uns, sondern auch die zukünf-
lungsoptionen aufzeigen (s. Kap. VI.4), drittens die tigen Generationen (be-)treffen, die Erweiterung
Anwendbarkeit sowie schließlich viertens den Inhalt des Verantwortungsbegriffs über das Einstehen für
staatlicher Regelungen kritisch hinterfragen und auf unmittelbar handlungsbezogene Folgen hinaus un-
eventuell bestehende bzw. absehbare Regelungslü- erlässlich ist. Daher ist gerade wegen der potentiell
cken hinweisen. hohen Wirkungsmacht heutiger Handlungen ange-
Darüber hinaus werden vier Verantwortungsty- messene Vorsorge geboten (gemäß dem Vorsorge-
pen differenziert, die sich jeweils auf verschiedene prinzip).
Verantwortungsebenen beziehen: (1) Die technische Dies impliziert unter der sich durchsetzenden
(produktimmanente) Verantwortung betrifft die Einsicht in die notwendige (welt-)gesellschaftliche
Produktqualität und somit die Berücksichtigung al- Transformation im Sinne der Leitvorstellung einer
ler relevanten Belange nach dem ›Stand der Tech- nachhaltigen Entwicklung (s. Kap. IV.B.10), dass
nik‹. (2) Die instrumentelle Verantwortung richtet technische Innovationen auf ihren Beitrag zum Ge-
sich auf die Verantwortung für den Umgang mit ei- lingen dieser Transformation hin zu überprüfen
nem Produkt, wozu neben der Festlegung von ›Nut- sind. Dieses ›Überprüfen‹, im Sinne einer umfassen-
zerpflichten‹ für den bestimmungsgemäßen Ge- den Technikbewertung (vgl. VDI-Richtlinie 3780, s.
brauch auch die Aufklärung über Risiken beim Be- hierzu Kap. VI.6), ist in einer wissenschaftlich-tech-
trieb und der Entsorgung gehören. Dies umschließt nischen Kultur pluralistischer Gesellschaften nur
die sorgfältige Berücksichtigung des intendierten angemessen durch partizipativ-diskursive Verfahren
Verwendungskontextes im Sinne der Vorsorge, um kollektiver Willensbildung zu bewerkstelligen. Hier-
so einen ›naheliegenden Fehlgebrauch‹ zu vermei- aus erwächst die Forderung an Ingenieur/innen, sich
den. (3) Die strategische Verantwortung betrifft die diskursfähig zu machen und entsprechende Kom-
Mitwirkung bei der Festlegung von Leistungsmerk- munikationskompetenzen zu erwerben, um ein all-
malen technischer Produkte, das Hinweisen auf gemeines Problembewusstsein zu schaffen und die
Fehlentwicklungen, das Aufzeigen von Alternativen, breite Öffentlichkeit über die verfügbare Bandbreite
um Amortisationslasten und ›Sachzwänge‹ zu mini- von Handlungsmöglichkeiten zu unterrichten sowie
mieren sowie das Mitbedenken der Möglichkeit ei- bei politischen Entscheidungen ihre Expertise bera-
nes vorsätzlichen Fehlgebrauchs. Jenseits dieser für tend einzubringen und beim Zustandekommen von
Ingenieur/innen einschlägigen Verantwortungsty- einschlägigen staatlichen Regulierungen mitzuwir-
pen unterliegt technisches Handeln  – wie jegliches ken.
Handeln – den Bewertungsmaßstäben (4) universal-
moralischer Verantwortung, welche gerade nicht auf
die spezifische Aufgaben- und Rollenverantwortung Institutionalisierung ethischer
eingeschränkt ist, sondern alle die mit Technik um- Ingenieurverantwortung und whistle-
gehen, betrifft. blowing
In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung
bei der Verantwortungszuschreibung zwischen re- Die Wahrnehmung dieser spezifischen Ingenieur-
trospektiver und prospektiver Verantwortung von verantwortung ist jedoch nur zumutbar, wenn auch
Bedeutung (s. Kap. II.6). Im retrospektiven Sinne die Bedingungen dafür geschaffen werden. Genau
trägt ein Akteur Verantwortung für seine Hand- dies, nämlich die Ermöglichung von individueller
lungsergebnisse und für die mittelbaren Folgen sei- Verantwortungsübernahme  – selbstverständlich
ner Handlungen. Danach wird ein Akteur erst mit ohne garantieren zu können, dass diese auch tat-
der retrospektiven Zurechnung einer Handlung sächlich wahrgenommen wird –, ist Ziel ihrer Insti-
durch eine Instanz zur Rechenschaft gezogen (ge- tutionalisierung, die im Wesentlichen drei Funktio-
mäß dem Verursacherprinzip). In dieser (rechtli- nen erfüllt: Sie dient erstens einer generellen Orien-
chen) Rechenschaftspflicht erschöpft sich Verant- tierung und zeigt auf, an welchen Normen, Werten
wortung aber nicht. Im prospektiven Sinne trägt ein und Kriterien sich Ingenieurhandeln ausrichten soll.
Akteur Verantwortung für Personen, Gegenstände Zweitens erfüllt sie eine präventive Schutzfunktion
oder Zustände. Im Vordergrund steht nicht die Ver- durch einerseits Vorbeugung von Entstehung und
antwortung für (negative) Folgen, sondern für (posi- Eskalation ethischer Konflikte und andererseits der
tive) Zustände. Sie geht aus der Einsicht hervor, dass Vermeidung individueller Nachteile moralisch auf-
80 III. Hintergrund

rechten Handelns. Schließlich geht es bei der Gestal- Zum anderen ist insbesondere im Kontext ethi-
tungsfunktion um die konkrete Umsetzung und so- scher Ingenieurverantwortung in Zusammenhang
mit auch um die Realisierung sowohl der Orientie- mit Technik-Katastrophen (z. B. Lenk 2011) damit
rungs- als auch der Schutzfunktion (VDI Report 31, diejenige Form des whistle-blowing gemeint, welche
64 ff.). Die Formen der Institutionalisierung, also von der Initiative des Arbeitnehmers ausgeht und in
die organisatorischen Gestaltungsmaßnahmen, sind der Regel das Fehlverhalten des Arbeitgebers be-
sehr vielfältig und reichen von Ethikkodizes (nicht trifft. Hier besteht eine Spannung zwischen der In-
nur auf Berufs-, sondern auch auf Unternehmens- formationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und
und Branchenebene) über die Schaffung einer der Loyalitätspflicht bzw. der Treuepflicht des Ar-
Ethik-Ombudsperson (in einem Unternehmen oder beitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Reagiert
einem Verband) bis hin zur Etablierung von Ethik- der unmittelbare Vorgesetzte nicht so, wie es ein
kommissionen (ausführlich hierzu z. B. Maring whistle-blower erwarten darf oder wünscht, kann es
2001, 353 ff.; vgl. Hubig/Reidel 2003, 221 ff.; s. Kap. sein, dass dieser es für notwendig erachtet, Hierar-
VI.8). chieebenen zu überspringen. Dieses interne whistle-
Ob und wenn ja wie Organisationen solche Ge- blowing bezieht sich auf illegale oder illegitime
staltungsmaßnahmen treffen, lässt sich am Beispiel Handlungen innerhalb der Organisation, die aber
des sogenannten whistle-blowing veranschaulichen. außerhalb der normalen Autoritätswege bekannt ge-
Der Begriff whistle-blower stammt aus den USA und macht werden. In extremen Fällen kann es sein, dass
beschreibt im engeren Wortsinne den Alarmpfiff ei- sich ein whistle-blower genötigt fühlt, sich außerhalb
ner Person, etwa eines Schiedsrichters oder eines Po- der Organisation an Behörden, Strafverfolgungsor-
lizisten, der mit einem schrillen Ton sein Umfeld auf gane, Interessengruppen und/oder Medien bzw. die
etwas aufmerksam machen will. Im hier gemeinten Öffentlichkeit zu wenden (sogenanntes externes
übertragenen Sinne bezeichnet er eine Person, die whistle-blowing; z. B. DeGeorge 1993). Viele Perso-
Fehlverhalten oder Missstände nicht einfach hin- nen, die als whistle-blower diesen Weg gewählt ha-
nimmt, sondern auf diese aufmerksam macht, um ben, mussten leider allzu oft erhebliche negative (be-
das Eintreten negativer Ereignisse zu verhindern. rufliche) Konsequenzen hinnehmen, weshalb für
Insbesondere unter arbeitsrechtlicher Perspektive diese Variante des whistle-blowing eine erhebliche
sind zwei Varianten von whistle-blowing zu unter- Hemmschwelle besteht.
scheiden. Zum einen versteht man darunter, wenn Da whistle-blowing seine »Ursachen oft in einer
ein Unternehmen die Arbeitnehmer verpflichtet, Mischung aus Ungleichzeitigkeit von Wissen und
Kenntnisse über Fehlverhalten von anderen Arbeit- Erkennen, in Differenzen bei der Bewertung von
nehmern dem Unternehmen anzuzeigen. Hierfür Fakten, und in individuellen Unterschiedlichkeiten
gibt es zunehmend meist im Rahmen der Etablie- bei der Sensibilität für Schwellen, die nicht über-
rung eines Compliance-Systems eine whistle- schritten, sowie Verantwortungen, die nicht ver-
blowing-Klausel als ein Bestandteil eines code of con- nachlässigt werden dürfen« hat (Leisinger 2003, 6),
duct. Damit verbunden ist in der Regel der Zugang sollte es in einer Organisation  – in beiden Varian-
zu einer whistle-blowing-Hotline, die entweder in- ten – aktiv als interne Risikokommunikation gestal-
tern von einer Ombudsperson oder extern mit ei- tet werden. Durch Gewährung eines (rechtlichen)
nem professionellen, unabhängigen Auftragnehmer Schutzes und einer entsprechenden Organisations-
besetzt ist (Fahrig 2011). Diese Form des whistle- kultur, könnte sich eine Alternative zur Kultur des
blowing gewinnt in den letzten Jahren zunehmend Schweigens entwickeln, die nicht in eine Kultur des
an Bedeutung und ist im Wesentlichen auf den in ›Verpfeifens‹ mündet, sondern auf lange Sicht als
den USA – als Reaktion auf Wirtschaftsskandale wie wichtige Vorbeugemaßnahme sowohl im Sinne des
Enron erlassenen Sarbanes Oxley Act von 2002 zu- Gemeinwohlinteresses als auch im Interesse der Re-
rückzuführen. Danach muss eine Unternehmens- putation einer Organisation fungieren und so ver-
führung – und dieses US-Bundesgesetz betrifft alle antwortungsvolles Handeln unterstützen könnte.
Unternehmen, die den Regeln des amerikanischen
Wertpapierrechts unterliegen  – schwerwiegende Literatur
Sanktionen befürchten, wenn sie entsprechende
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
Maßnahmen nicht einleitet und es so versäumt, Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
relevanten Hinweisen systematisch nachzugehen Bundesingenieurkammer 2004, http://www.bingk.de/html/
(Rohde-Liebenau 2005, 6). 917.htm (20.10.2012).
7. Ethische Ingenieurverantwortung 81

DeGeorge, Richard: Whistle-blowing. In: Georges Enderle/ – /Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart
2
Karl Homann/Martin Honecker/Walter Kerber/Horst 1993.
Steinmann (Hg.): Lexikon der Wirtschaftsethik. Freiburg Lundgreen, Peter/Grelon, André: Ingenieure in Deutsch-
1993, 1275–1278. land 1770–1990. Frankfurt a. M./New York 1994.
Fahrig, Stephan: Die Zulässigkeit von whistleblowing aus Maring, Matthias: Kollektive und korporative Verantwor-
arbeits- und datenschutzrechtlicher Sicht. In: Neue Zeit- tung: Begriffs- und Fallstudien aus Wirtschaft, Technik
schrift für Arbeitsrecht 28/1 (2011), 1–5. und Alltag. Münster 2001.
Firmage, David A.: Modern Engineering Practice. Ethical, Picht, Georg: Prognose, Utopie, Planung. Stuttgart 1967.
Professional, and Legal Aspects. London/New York 1980. Rohde-Liebenau, Björn: Whistleblowing – Beitrag der Mit-
Harris, Charles E./Pritchard, Michael S./Rabins, Michael J.: arbeiter zur Risikokommunikation. Edition der Hans
Engenieering Ethics. Conepts and Cases. Belmont, CA Böckler Stiftung 159. Düsseldorf 2005.
4
2009. Ropohl, Günter: Ob man die Ambivalenzen des techni-
Höffe, Otfried: Moral als Preis der Moderne. Frankfurt a. M. schen Fortschritts mit einer neuen Ethik meistern kann?
1993. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Technikverant-
Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Inge- wortung. Güterabwägung Risikobewertung – Verhaltens-
nieurverantwortung. Handlungsspielräume und Perspek- kodizes. Frankfurt a. M. 1991, 47–78.
tiven der Kodifizierung. Berlin 2003. – : Ethik und Technikbewertung. Frankfurt a. M. 1996.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Scholl, Lars U.: Ingenieure in der Frühindustrialisierung.
Ethik für die technische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1984. Göttingen 1978.
Kaiser, Walter/König, Wolfgang (Hg.): Geschichte des Inge- Unger, Stephan: Controlling Technology: Ethics and the Re-
nieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden. München/Wien sponsible Engineer. New York 1982.
2006. Verein Deutscher Ingenieure [VDI] (Hg.): Ethische Inge-
Laatz, Wilfried: Ingenieure in der Bundesrepublik Deutsch- nieurverantwortung. Report 31. Düsseldorf 2000.
land. Gesellschaftliche Lage und politisches Bewusstsein. Verein Deutscher Ingenieure [VDI] (Hg.): Technikbewer-
Studienreihe des Soziologischen Forschungsinstituts tung. Begriffe und Grundlagen. VDI-Richtlinie 3780.
Göttingen/Frankfurt a. M. 1979. Düsseldorf 2000.
Leisinger, Klaus: Whistleblowing und Corporate Reputation Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung globale
Management. München/Mering 2003. Umweltveränderungen [WBGU] (Hg.): Welt im Wandel.
Lenk, Hans: Einige Technik-Katastrophen im Lichte der Herausforderung für die deutsche Wissenschaft. Berlin
Ingenieurethik. In: Mathias Maring (Hg.): Fallstudien 1996.
zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Gesell- Johannes Reidel
schaft. Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe
2011, 149–155.
83

IV. Grundlagen der Technikethik

A. Technikphilosophie

1. Antike Technikphilosophie Handeln und dem technischen Können. Während


beim praktischen Handeln im engeren Sinne das
Ziel in ihm selbst liegt, Handeln also ›Zweck an sich‹
Einordnung der τεχνη (techne) ist, dient das technische Können dem Hervorbrin-
in die menschlichen Vermögen gen eines Werkes (εργον, ergon), das für etwas an-
deres dienlich ist (1139b1–3, 183). »Demnach ist
Die Technik als Gegenstandsbereich der Philosophie auch das mit Vernunft verbundene handelnde Ver-
scheint im Vergleich zu den großen Themen wie halten von dem mit Vernunft verbundenen hervor-
Metaphysik oder Ethik von der abendländischen bringenden [ποιησις, poiesis] Verhalten verschie-
Philosophie meist nur recht beiläufig behandelt wor- den« (1140a3–6, 185). Sittliches Handeln und das
den zu sein. Dies hat seine Ursache bereits in der an- Produzieren eines Werkes sind dihairetisch vonein-
tiken Philosophie und hängt oberflächlich betrach- ander zu trennen. Die Dreiteilung in Praxis, Poiësis
tet auch mit einer gewissen Geringschätzung der und Theorie ist nach Günter Bien für die aristote-
›banausischen‹ (βαναυσοι, banausoi) Handwerke im lische Philosophie konstitutiv und für die Folgezeit
Vergleich zur geistigen Schau wahren Wissens, be- von größter Bedeutung. Sie gibt den Rahmen ab
zeichnet als ›Theorie‹ (δεωρια, theoria), zusammen. für die aristotelische Einteilung der Wissenschaften,
So stellt etwa Platon im Dialog Politikos fest, dass der menschlichen Handlungskompetenzen, der Ver-
kein vernünftiger Mensch die Struktur z. B. der We- nunftformen sowie der Lebensweisen und wird als
berei um ihrer selbst willen untersuchen wird vollständig und abgeschlossen vorausgesetzt (1989,
(285d). Damit scheint eine an konkrete Techniken 1281). Damit sind ethische und technikphiloso-
angebundene Technikphilosophie in der Antike wei- phische Fragen komplett getrennten Sphären zuzu-
terer Überlegung nicht wert zu sein. Platon fährt je- ordnen.
doch damit fort, dass eine Erklärung der Struktur Das auf die Praxis, also auf das sittliche Handeln
der Weberei durchaus als Modell zur Klärung im sozialen Kontext bezogene Vernunftvermögen ist
schwieriger theoretischer Probleme herangezogen die Klugheit (φρονησις, phronesis), die richtige Ent-
werden sollte. Und eben jenem methodischen Vor- scheidungen gewährleistet und für die Wahl legiti-
gehen verdanken sich zahlreiche Beispiele, die zu ei- mer Handlungsziele zuständig ist. Demgegenüber ist
nem ausdifferenzierten Technikverständnis führen, das auf die Poiësis, also auf das richtige Hervorbrin-
das handwerkliche und intellektuelle Fähigkeiten gen von kunstvollen Werken bezogene Vernunftver-
des Menschen unter einem Begriff der ›Technik‹ mögen das rationale Herstellungsvermögen mit der
(τεχνη, techne) zusammenfasst. Bezeichnung ›Technik‹ (τεχνη). Damit ist zugleich
Aristoteles nimmt im Einleitungssatz der Niko- eine Auf- und Abwertung verbunden. Zum einen ist
machischen Ethik eine grundlegende Dreiteilung der die technische Vernunft auf der gleichen intellektu-
Formen menschlicher Tätigkeiten vor: »Jede Kunst ellen Ebene wie die sittliche Vernunft anzusiedeln,
[τεχνη, techne] und jede Lehre [μεθοδος, methodos], zum anderen bleibt sie aber ob ihres Werkcharakters
ebenso jede Handlung [πραξις, praxis] und jeder fremden Zielen dienlich und damit der guten Ziel-
Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben« setzung sittlichen Handelns untergeordnet. Diese
(1094a1, 55). Auffällig ist die strikte Abgrenzung Kluft zu überbrücken, ist letztlich die Aufgabe der
zwischen dem mit einem Entschluss verbundenen Technikphilosophie (s. Kap. IV.A.5).
84 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Die Sphäre der Poiësis ist von den philosophi- ter sowie drittens ihre je eigentümliche Nahrung,
schen Disziplinen nur selten mit eigenständigen wobei die Fressfeinde der Pflanzenfresser zum Aus-
Werken – bei Aristoteles etwa mit der Poetik – ge- gleich eine dürftige Zeugungskraft haben (320d–
würdigt worden. Nach Georg Picht ist es ein großes 321b). Epimetheus lässt jedoch den Menschen bei
Verhängnis gewesen, dass Aristoteles die Poiësis nur der Verteilung der natürlichen Gaben leer ausgehen,
sehr fragmentarisch ausgearbeitet hat. Auf Grund so dass Prometheus »den Menschen aber nackt, un-
dieses grundlegenden Defizits fehlen noch heute beschuht, unbedeckt, unbewaffnet« vorfindet (321c,
Kriterien dafür, was nach Regeln der Vernunft pro- 62). Zu ihrer Rettung raubt nun Prometheus »die
duziert werden sollte (Picht 1969, 429). Auch wenn kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der
eine dieses leistende ›Theorie der Technik‹ aussteht, Athene, nebst dem Feuer« (321d, 62). Derart als
so sind doch in den Werken der antiken Philosophie ›Mängelwesen‹ (zur philosophischen Anthropologie
zahlreiche Bestimmungen zum Technikbegriff gege- s. Kap. IV.A.3) bestimmt, braucht der Mensch tech-
ben, die präzise und aufschlussreich genug sind, um nische Mittel zum Ausgleich seiner Schwächen. Auf
auch für die sogenannte ›moderne Technik‹ ein rele- diese Weise erhält der Mensch die zum Überleben
vantes Fundament liefern können. erforderliche technische Intelligenz (εντεχνος σοφια,
entechnos sophia) (321d), mit der die Menschen
dann unabhängig von den Göttern erfinderisch tätig
Technik in der Zivilisationsgeschichte: werden. Sie rüsten sich mit Wohnungen, Kleidern
Der Kulturbringer Prometheus und Schuhen zum Schutz aus und erfinden Nah-
rungsmittel (322a).
Technik ist offensichtlich ein zentraler Bestandteil Zerstreut lebend bleiben die Menschen jedoch im
der menschlichen Zivilisationsgeschichte, wobei Konkurrenzkampf mit den wilden Tieren unterle-
sich die Frage stellt, weshalb die Menschen über- gen. Erst das unterstützende und nicht strafende
haupt Technik haben. Im Dialog Protagoras greift Eingreifen des Zeus bringt mit ›Scham‹ und ›Recht‹
Platon den Prometheus-Mythos auf, der eine derar- eine ›politische Technik‹ (πολιτικη τεχνη, politike
tige Kulturentstehungstheorie auf Basis des Dieb- techne), mit der die erstgenannte Mangelkategorie
stahls göttlicher Technologie liefert. Insgesamt sind der Konstitution beseitigt wird (322c). Hier gibt es
vier Fassungen überliefert, die zwei ältesten von He- aber eine deutliche Abweichung in der Art der Wis-
siod, die Tragödie Gefesselter Prometheus von Ais- sensverteilung. Während über das technische Wis-
chylos sowie die von Platon dem Protagoras in den sen je nach Fachgebiet immer nur jeweils einige Ex-
Mund gelegte Variante. Wesentlicher Unterschied ist perten verfügen, muss an den sozialen Normen der
die unterschiedliche Bestrafung durch Zeus, die der Gerechtigkeit und Besonnenheit jeder Anteil haben
Diebstahl des Feuers nach sich zieht. Werden bei (322d–323a). So erst konnte im Protagoras die Frage
Hesiod sowohl Prometheus durch Ankettung als nach der Lehrbarkeit der Tugend aufkommen, die
auch die Menschen mit allen Übel dieser Welt aus im Gegensatz dazu für eine Technologie eindeutig
der Büchse der Pandora bestraft, so sieht die Tragö- zu beantworten ist. Hier sieht man auch, weshalb die
die keine Bestrafung der Menschen vor. Im Gegen- Ethik einen anderen Weg gehen muss.
teil liefert Prometheus die technischen Heilmittel ge- Die Rechtfertigung des Zivilisationsprozesses er-
gen jene Krankheiten und Übel, denen die Men- folgt also basierend auf den eklatanten Unzuläng-
schen zuvor hilflos ausgeliefert waren. Dadurch ist lichkeiten des menschlichen Körpers. Die techni-
eine Umwertung erfolgt: Die technische Entwick- schen Artefakte sind eine Existenzbedingung zur Si-
lung ist nicht mehr das Problem, sondern die Lö- cherung des schieren Überlebens im Kampf ums
sung – und damit ist die Aneignung der zuvor göttli- Dasein. Diese Argumentationsstrategie ist auch
chen Technik legitimiert, denn sie steht den Men- heute noch sehr geläufig und findet sich z. B. in der
schen zu (Schneider 1989, 84–97). Anthropologie Gehlens (1961, 48; s. Kap. IV.A.3).
Bei Platon spielt die Strafe gar keine Rolle mehr. Sie setzt allerdings voraus, dass sich der Mensch im
Hier verteilt Epimetheus zunächst die natürlichen Körperbau nur marginal geändert hat, was paläonto-
Gaben so auf die Lebewesen, dass ein natürliches logisch betrachtet nicht stimmt. Der Mythos erklärt
Gleichgewicht entsteht. Die einen sind stark und be- ferner die technische Initialzündung mit einem gött-
waffnet, die anderen schwach, aber schnell. Neben lichen Eingriff, unser technisches Können ist also
dieser unterschiedlichen Konstitution erhalten zwei- gewissermaßen konzipiert als eine machina ex deus.
tens die Tiere noch Fell zum Schutz gegen das Wet- Ähnlich unbefriedigend ist die alternative Erklärung
1. Antike Technikphilosophie 85

mit dem Mutationsgeschehen, das uns Menschen Götter Ares beim Ehebruch gefangen zu setzen
ganz zufällig ein großes Gehirn als Quelle der Tech- (Odyssee VIII.297, 329–330). Das ist bereits ein Hin-
nik gegeben hat. weis an Protagoras, wie das Gleichgewicht der Kräfte
Eine ähnliche Argumentation findet sich im Dia- im Umgang mit wilden Tieren mit rein technischen
log Politikos, in dem als Stimulans zivilisatorischer Mitteln angegangen werden könnte.
Entwicklung die aus einem ›Mangel‹ (χρεια, chreia) Vor dem Hintergrund dieses göttlichen ›Hand-
resultierende Notlage angeführt wird, aus der wie- werkers‹ entwickelt bereits Homer einen ausgearbei-
derum Prometheus heraushilft (274c). Gerade weil teten τεχνη-Begriff. An der ersten Belegstelle dient
die Legitimation auf recht wackeligen Beinen steht, der Begriff der Bezeichnung der sachgemäßen und
konnte bereits in der Antike mit der kynischen Philo- wirkungsvollen Handhabung einer Axt (Ilias III.62).
sophie von Antisthenes das Postulat des Mangels in Darin zeigen sich zwei wesentliche Komponenten
Frage gestellt werden. Der griechische Begriff χρειαν des Technikbegriffs: »die manuelle Geschicklichkeit,
lässt sich auch als Bedürfnis übersetzen und damit das aber auch ein Wissen davon, wie diese Geschicklich-
technisch zu lösende Mangelproblem auch aufheben keit einzusetzen ist« (Löbl 1997, 10). Mit τεχνη ist
durch eine Übung in relativer Bedürfnislosigkeit. In also nicht das Werkzeug, sondern das technische
der radikalen Zivilisationskritik des Diogenes sind Können gemeint. Mit Bezug auf Athene, die sich ins-
denn auch die Techniken gerade nicht zur Überle- besondere für die Webkunst verantwortlich zeigt,
benssicherung notwendig, sondern geradezu die wird die enge Verbindung des Technischen mit dem
Strafe selber, nämlich das eigentliche Übel, da sie nur Wissen durch den Begriff der ›Weisheit‹ (σοφια, so-
der nutzlosen Jagd nach Lust (ηδονη, hedone) dienen phia) hergestellt (Ilias XV.412). Auch dem Wagen-
(Dion von Prusa VI 27–29). Ohne dass hier einer lenker Antilochos wird wegen seiner langsamen
technikfeindlichen Askese das Wort geredet werden Pferde empfohlen, mit Verstand (μητις, metis) ein
soll, zeigt sich doch, wo man landen kann, wenn man geschicktes (nicht ganz regelkonformes) Überhol-
Techniken ausschließlich mit Notwendigkeiten oder manöver durchzuführen. Genauso kommt es bei ei-
sogenannten ›Sachzwängen‹ legitimieren will: Ver- nem Holzfäller mehr auf den Verstand als auf die
nünftiger Weise stößt man auf Ablehnung, da über bloße Kraft und Gewalt (βια, bia) an (XXIII.315 ff.).
die Ziele ja gar nicht gesprochen worden ist. Beim Wagenrennen wird dies dann ausgedrückt mit
dem Verb τεηνησομαι (technesomai, 415) – zu über-
setzen etwa als »mit Wissen und Können ins Werk
Der Begriff der τεχνη (techne): setzen und zum erfolgreichen Ende bringen« (Löbl
Handwerker und Erfinder 1997, 16). Setzt man sein technisches Wissen in ei-
ner bestimmten Situation optimal ein, dann vollen-
Die frühesten schriftlichen Belege des Wortes τεχνη det sich diese technische Handlung im Werk (εργον
finden sich in Homers Ilias. Insbesondere der τελεει, ergon teleei) (Odyssee VI.234). Damit ist die
Schmiedegott Hephaistos wird mit dem festen Attri- Hauptbedeutung der τεχνη als erfolgsorientiertes
but ›kunstberühmt‹ (κλυτοτεχνης, klytotechnes) ein- Können und systematisiertes Wissen bereits mit ei-
geführt. Er ist beidseitig ›krummfüßig‹ und muss da- nem hohen theoretischen Anspruch formuliert.
her auf einem Maultier reiten, sich von seinen Be- Aber auch die Ambivalenz technischen Handelns
gleitern oder selbstgefertigten Jungfrauen aus Gold ist im antiken Technikbegriff bereits angelegt. In der
stützen lassen oder Krücken benutzen. Höchst merk- Ilias wird ein Betrug der Hera als ›unheilstiftend-
würdig mutet es an, dass ein edler, unsterblicher Gott technisch‹ (κακοτεχνος, kakotechnos) bezeichnet
mit dem häufig auch charakterlich gedeuteten Makel (XV.14). Technik kann man also heimtückisch zum
der Lahmheit versehen ist. Da er bereits lahm gebo- Bösen missbrauchen, z. B. auch für einen Mordan-
ren wurde, liefert der Mythos auch keine narrative schlag (Odyssee IV.529). Hier befinden wir uns aber
Begründung. Doch erst wegen seiner körperlichen in der Sphäre moralisch fehlgeleiteter Ziele. Im Un-
Gebrechen bemerkt Hephaistos die Notwendigkeit terschied dazu wird die Technik des Proteus, sich ei-
von Hilfsmitteln am eigenen Leibe. Nur weil er seine ner Festnahme geschickt durch Verwandlung zu
Mängel kompensieren muss, kann er ein genialer entziehen, als besondere Technikform der ›List‹
Techniker sein. Ein vollkommener Gott hingegen (δολιη τεχνη, dolie techne) gedeutet (IV.455). Dieses
würde in sich keinen Grund finden, technisch kreativ raffinierte Anwenden von Kniffen zum Zwecke der
zu werden. So aber gelingt es ihm, dem Langsamen, Täuschung liegt bereits im Technischen selbst vor al-
mit Hilfe ›künstlicher Fesseln‹ den schnellsten aller ler moralischen Bewertung. Trickreiche Handlun-
86 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

gen werden insbesondere dem Götterboten Hermes spricht, weil der Gesangspreisträger nur Homer ›ge-
zugeschrieben. Gleich nach seiner Geburt stiehlt er waltig kann‹, nicht aber die gesamte Dichtkunst
Apoll eine Kuhherde. Den Kühen macht er aus Ei- (532c). Ion beherrscht und versteht Homer gut
chenrinde Schuhe, die er mit geflochtenem Gras in durch eine ›göttliche Kraft‹ (ϑεια δυναμις, theia dy-
umgedrehter Richtung an ihre Hufe bindet, um die namis), die so auf ihn wirkt wie ein Magnet, der ei-
Spuren des Diebstahls zu verwischen. nen eisernen Ring anzieht; wobei diese Ringe wie-
Als gewandter Redner hat Hermes Witz, scharfen der andere anziehen. So »macht zuerst die Muse
Verstand und zahlreiche kreative Einfälle. Damit ist selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze
die Grundlage technischen Fortschritts gelegt, der Reihe anderer durch sie sich Begeisternder. Denn
mit bloßer Übernahme einzelner göttlicher Techni- alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht
ken noch nicht in Gang gesetzt ist. Hermes über- durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene
nimmt nicht fremd entwickelte Techniken, sondern […] wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt
macht aus sich heraus Erfindungen wie die siebensai- sind« (533e–534a, 103). Platon erhärtet die Zurück-
tige Lyra, die er aus dem Panzer einer Schildkröte weisung der Dichtung als τεχνη dadurch, dass er am
und den bereits ›erworbenen‹ Kuhdärmen fertigt. Beispiel der Antilochos-Episode behauptet, Homer
Noch während die Schildkröte lebt, hat er bereits das könne die dort verhandelte Technik des Wagenren-
Instrument vor Augen. Mit dem Spiel der Lyra lenkt nens nicht so gut beurteilen wie ein Wagenlenker
er Apoll erfolgreich von der Suche nach seiner Herde (538ab). Das mag zwar sein, nur ist die Dichtung
ab. Die Nebenbedeutung der τεχνη zeigt sich damit kein Lehrbuch, in dem kompetente Sachurteile über
etwas unfein als ›listiges Täuschen‹ und in seiner die Technik des Wagenlenkens abgegeben werden.
kreativen Eigendynamik als ›geglücktes Erfinden‹. Stattdessen geht es  – wie Aristoteles später in der
Poetik zeigen wird  – um die ›nachahmende‹ Dar-
stellung von »Handlungen und Lebenswirklichkei-
Das Maß der τεχνη (techne): Das Gute ten« (πραξεων και βιου, praxeon kai bion) (1450a16,
und Richtige im Handeln nach Normen 21). Gelungene Dichtung ist dann eine τεχνη, die
normativ gute Handlungsweisen exemplarisch dar-
Im Hermes-Hymnos unterrichtet Hermes der Erfin- stellt.
der den Apoll in der τεχνη der Lyra – und zwar in Technik als technische Handlung betrachtet, ist
einer Abfolge von drei Elementen. Erstens gilt es, ethisch relevant. Wie Platon im Dialog Gorgias be-
sieben Saiten so aufzuspannen, dass sie zusammen- tont, ist es wesentlich für eine τεχνη, dass sie Re-
klingen; zweitens sind die Saiten der Reihe nach zu chenschaft darüber abgeben kann, weshalb sie et-
stimmen und drittens muss die Fähigkeit beherrscht was tut. Zwar kümmern sich sowohl Medizin als
werden, mittels des Plektrons eine Melodie zu spie- auch Kochen um das Wohl des Leibes, letztere aber
len (Löbl 1997, 41 f.). Verallgemeinert heißt dies, nur durch Schmeichelei des Gaumens, was sie ›un-
dass technisches Handeln dreigliedrig in gestaltendes, technisch‹ und ›unvernünftig‹ (ατεχνως, αλογως,
vorbereitendes und anwendendes Handeln zu teilen atechnos, alogos) macht (501a–c). Die τεχνη zielt auf
ist. Zwischen Herstellung und Anwendung ist zusätz- das Gute (αγαϑον, agathon) ab, nicht aber auf Lust-
lich zu dieser üblichen Unterscheidung als Mittleres gewinn durch das Angenehme (ηδυ, hedy) (500d).
die Installation einzuordnen (Erlach 2000, 34). Im Dialog Politikos wird erörtert, dass es dazu not-
Als viertes Element kommt neben der richtigen wendig ist, jede τεχνη durch Messung zu bewerten.
»technischen Beherrschung« noch die mit σοφιη an- Dabei reicht es nicht aus, nur die Größen von Men-
gegebene gute »künstlerische Ausführung« hinzu – gen, Längen und Geschwindigkeiten abzumessen,
gewährleistet durch ein auf entsprechender Bega- sondern erforderliches Merkmal des technischen
bung basierendes »Einfühlungsvermögen in das Charakters ist zusätzlich eine Messung des Mehr
Instrument«, das zu einem klanglichen Ausdrucks- oder Weniger in Bezug auf das Angemessene
vermögen führt (Löbl 1997, 44f). Damit treten aber (μετρον, metron). Der Verzicht des Bezugs auf das
die ›schönen Künste‹ aus dem Bereich der τεχνη Angemessene würde alle τεχνη zerstören (284a,
heraus und das Wissen um das technisch ›Richtige‹ 284e). Man sollte dies nicht nur ethisch verstehen,
wird vom Wissen um das künstlerisch ›Gute‹ unter- sondern insbesondere auch im Sinne technischer
schieden. Normen, deren Standards gerade in der modernen
Diese Trennung spitzt später Platon im Dialog Technik unverzichtbar sind zur Sicherung von Leib
Ion zu, wenn er dem Rhapsoden jegliche τεχνη ab- und Leben.
1. Antike Technikphilosophie 87

τεχνη (techne) als Wissensform (επιστημη, episteme) ergibt sich nun aus der Art des
und Entstehungsursache: gewussten Allgemeinen. Diese bezieht sich auf das
Technologie und Ingenieure unveränderliche Sein des Notwendigen und ist ein
induktiv oder deduktiv ›beweisendes Verhalten‹
(Nikomachische Ethik 6.1139b20–35). Die τεχνη
Im Dialog Politikos untersucht Platon sehr konkret bezieht sich im Gegensatz dazu auf das Mögliche,
alle an der Webkunst beteiligten Handwerke. Zu- also alles, was sich auch anders verhalten könnte
nächst einmal unterscheidet er mit Wollkämmen (1140a1) und damit gestaltbar ist.
und Spinnen grundsätzlich ›trennende‹ von ›verbin- Damit erweist sich die τεχνη neben der Natur
denden‹ Arbeitsschritten (282b)  – was sich noch und dem Zufall (τυχη, tyche) als eine Ursache des
heute in Fabriken in der Abgrenzung von Fertigung Werdens in einer dreigliedrigen Relation: Beim Ent-
und Montage zeigt. Sodann ist das Handwerk zur stehen wird ein Stoff (υλη, hyle) durch die Entste-
Herstellung des benötigten Produktes – hier das We- hungsursache zu dem Ding – Baum oder Bett –, das
ben – als Ursache (αιτια, aitia) vom Handwerk zur natürlich entsteht oder künstlich hervorgebracht
Herstellung der dazu benötigten Werkzeuge  – wird (Metaphysik VII.1032a13–20). Dabei decken
Spinnrocken und Weberladen  – zu unterscheiden. sich nach Aristoteles die Struktur der natürlichen
Diese Werkzeuge heißen ›Mitursache‹ (συναιτιος, Produktion und des menschlichen Herstellens (Phy-
synaitios) (281e) – was sich heute in der Unterschei- sik II.199a10). Ein Unterschied besteht jedoch im
dung von Investitionsgütern und Konsumgütern wi- Ursprung der Veränderung, die im ersten Fall als Be-
derspiegelt. Schließlich klassifiziert er die Hand- wegungsprinzip im Naturding selbst liegt (I.192b14):
werke nach ihren Hauptfunktionen in Rohstoffge- »Würde ein Bett in die Erde eingegraben und hätte
winnung, Herstellung von Werkzeugen, Gefäßen, der Verfaulungsprozeß die Kraft, aus dem verfaulen-
Fahrzeugen, Schutzmittel, Spielwerk sowie Nah- den Bett noch einen Schößling hervorzutreiben, es
rungsgewinnung (287e–289b). Insgesamt macht die würde dann gewiß kein Bett, sondern Holz entste-
Analyse den Systemcharakter der τεχνη deutlich hen« (193a12, 33). Beim Herstellen liegt demnach
(Schneider 1989, 172). das Prinzip der Bewegung außerhalb des Hergestell-
Zu Beginn der Metaphysik untersucht Aristoteles ten – und zwar als ›Gestalt‹ (ειδος, eidos) in der Seele
nach seiner Feststellung »Alle Menschen streben des Herstellers (Metaphysik VII.1032a32). Vor dem
von Natur aus nach Wissen« (I.980a21, 17) die un- eigentlichen Akt des Herstellens erfolgt ein vom
terschiedlichen Wissensformen. Aus vielen Erinne- Handlungsziel schließendes Denken, und zwar
rungen zu einem Sachverhalt heraus entsteht das mehrstufig zurück bis auf eine realisierbare ›Maß-
Vermögen einer Erfahrung (εμπειρια, empeiria), die nahme‹ (1032b6–22). Durch die τεχνη wird also im
dann wiederum ein Erkennen neuer Einzelfälle er- Herstellungsprozess ein Entwurf von der Seele auf
möglicht (980b30). Die τεχνη erkennt zusätzlich das den Werkstoff übertragen. Ein Handwerker bringt
zugehörige Allgemeine und umfasst dadurch auch z. B. die Gestalt einer Kugel in Bronze hervor, aber
ein Wissen der jeweiligen Ursachen (αιτια, aitia) weder das Erz noch das ›Kugel-sein‹ selbst (1033a28–
(981a28). Diese systematische Ursachenkenntnis b12). In recht deutlicher Abgrenzung zu Platon ist
macht den wissenschaftlichen Charakter der τεχνη »klar, daß man keine Form als eine Art Urbild aufzu-
als Technologie aus. bauen braucht« (1034a1, 182). Die Form ist vielmehr
Durch die Kenntnis der »Ursachen dessen, was jenes gemeinsame Merkmal verschiedener Einzel-
hervorgebracht wird« zeichnet sich der ›leitende dinge, das vom Techniten erzeugt worden ist. Somit
Handwerker‹ (αρχιτεκτον, architekton)  – heute ist der Technit als ontologisch alleinige Entstehungs-
würde man Ingenieur sagen  – vor dem einfachen ursache auch voll verantwortlich für seine Gestal-
Handwerker (χειροτεχνης, cheirotechnes) aus. Letz- tungen.
tere »gleichen manchen unbelebten Dingen, die
zwar etwas hervorbringen, aber nicht wissen, was sie
hervorbringen […] zufolge der Gewohnheit« Οργανον (organon) als Hand und
(981a30–b4). Da jedoch der Erfolg einer techni- Werkzeug: Der Mensch als Technit
schen Handlung auf der Wahl der richtigen Mittel
für den jeweiligen Einzelfall beruht, wird der Erfah- Die Bewegung (κινησις, kinesis), mit der dem Stoff
rene besser sein als der Wissende ohne Erfahrung eine Form (μορφη, morphe) verliehen wird, unter-
(981a12–24). Der Unterschied zur Wissenschaft sucht Aristoteles in Von der Entstehung der Lebe-
88 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

wesen genauer. Demnach setzt die Seele, in der die cherart ›beseelte Werkzeuge‹ dann zum Alptraum,
Gestalt (ειδος, eidos) gegenwärtig ist, Körperteile wenn ob der Begeisterung fürs Automatische die
und Hände auf eine dem zu fertigenden Produkt steuernde Idee vergessen wurde.
entsprechende Weise in Bewegung. Die Hände be-
wegen die Werkzeuge, die dann diese Bewegung an Literatur
den Stoff weitergeben (Schneider 1989, 189). Dabei Aristoteles: Metaphysik. Übers. von Franz Schwarz. Stutt-
werden die Körperteile und Werkzeuge mit dem gart 1970.
gleichen Begriff ›Organ‹ (οργανον, organon) be- – : Poetik. Übers. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982.
zeichnet. Sie ordnen sich gleichberechtigt in eine – : Die Nikomachische Ethik. Übers. von Olof Gigon. Mün-
Kette von technischen Funktionen. chen 61986.
– : Physikvorlesung – Werke in deutscher Übersetzung Bd. 11.
Dabei nimmt aber die Hand eine Sonderrolle ein,
Übers. von Hans Wagner. Berlin 51989.
wie Aristoteles in Die Teile der Lebewesen feststellt, – : Über die Teile der Lebewesen – Werke in deutscher Über-
denn sie ist das nützlichste naturgegebene Werk- setzung Bd. 17/I . Übers. von Wolfgang Kullmann. Berlin
zeug: 2007.
Bien, Günther: Praxis, praktisch. I. Antike. In: Joachim
»Diejenigen, die behaupten, daß der Mensch nicht in Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Histo-
guter Weise zusammengesetzt ist, sondern am schlech- risches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7. Basel 1989,
testen von allen Lebewesen  – denn sie sagen, daß er 1277–1287.
unbeschuht und nackt ist und keine Waffe zum Kampf Erlach, Klaus: Das Technotop. Die technologische Konstruk-
besitzt – sind mit ihrer Rede im Unrecht. Denn die üb- tion der Wirklichkeit. Münster 2000.
rigen Lebewesen besitzen ein einziges Verteidigungs- Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung. Hamburg
mittel und es ist für sie nicht möglich, stattdessen ein 1961.
anderes einzutauschen […] Dem Menschen aber ist es Löbl, Rudolf: Texnh – Techne. Untersuchung zur Bedeutung
möglich, viele Verteidigungsmittel zu haben […], weil dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles Bd. 1.
sie alles ergreifen und festhalten kann« (686a23–687b5, Würzburg 1997.
108). Picht, Georg: Die Kunst des Denkens. In: Ders.: Wahrheit.
Der Mensch hat – dies ist hier die Wendung in das Vernunft. Verantwortung. Stuttgart 1969, 427–434.
Gegenteil der Mängelthese – mit der Hand das tech- Platon: Ion. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Sämt-
liche Werke 1. Hamburg 1987, 97–110.
nisch brauchbarste Organ überhaupt. Es führt nicht – : Protagoras. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Sämt-
die existentielle Not zur technischen Tugend, son- liche Werke 1. Hamburg 1987, 49–96.
dern die Technik ist die Tugend des Menschen. Da- Schneider, Helmuth: Das griechische Technikverständnis.
mit erweist sich der Mensch in seiner natürlichen Von den Epen Homers bis zu den Anfängen der technolo-
Ausstattung als ›Technit‹ (τεχνιτης, technites). gischen Fachliteratur. Darmstadt 1989.
Klaus Erlach
Aristoteles zieht folgendes Fazit: »Die Hand aber
scheint nicht nur ein einziges Werkzeug zu sein, son-
dern viele Werkzeuge. Sie ist nämlich sozusagen ein
Werkzeug, das anstelle von vielen Werkzeugen
steht« (686a21, 108), indem sie Werkzeuge anwendet
und wie ablegbare Körperteile situationsgerecht aus-
tauscht. Die Hand ist allerdings nur als Teil eines
Ganzen wirklich Hand, nicht aber Werkzeug im glei-
chen Sinne, wie z. B. ein Hammer. »Es ist nämlich
die Hand nicht in jeder Hinsicht ein Teil des Men-
schen, sondern nur die, die ihr Werk zu vollenden
vermag, also nur als beseelte; als unbeseelte ist sie
kein Teil« (Metaphysik VII.1036b30, 190). Die Hand
ist also bewegt, d. h. angetrieben von der Seele und
gesteuert vom ειδος (eidos) ist sie gemeinsam mit
der Seele mehr Maschine als Werkzeug; ohne Seele
aber nicht einmal das. Der Traum der Ingenieure
liegt nun darin, die Hand als Greif- und die Seele als
Antriebsorgan überflüssig zu machen, bis dass wir
des Hephaistos goldene Automaten selber haben
und nicht mehr arbeiten müssen. Jedoch werden sol-
89

2. Marxistische Technik- Technik als Arbeitsmittel


philosophie Nach Marx ist der Mensch zunächst ein leibliches
Wesen, das auf einen materiellen ›Stoffwechsel‹ mit
Das theoretische Interesse von Karl Marx und der umgebenden Natur angewiesen ist. Während
Friedrich Engels sowie der meisten ihrer Nachfolger dies in den Ökonomisch-philosophischen Manu-
galt den Strukturen der Gesellschaft sowie ihrer skripten mittels philosophischer Konzepte entfaltet
historischen Entwicklung; ihr praktisches Interesse wird, die er der Tradition des Deutschen Idealis-
galt der politischen Überwindung des Kapitalismus. mus, vor allem Georg Wilhelm Friedrich Hegels,
In diesem Kontext widmeten Marx und Engels dem und der Anthropologie Ludwig Feuerbachs ent-
Phänomen ›Technik‹ beginnend mit den Ökono- nimmt, geht Marx ab Mitte der 1850er Jahre zu ei-
misch-philosophischen Manuskripten (1844) bis zum ner zunehmend an den Naturwissenschaften orien-
Kapital (1867) und darüber hinaus erhebliche Auf- tierten Konzeption über, die menschliche Arbeit
merksamkeit. Eine selbständige Technikphilosophie und Lebenstätigkeit als Energie und damit als im
gehörte allerdings nicht zu ihrem Programm und Prinzip gleichartig mit physischen Vorgängen be-
erst recht keine Technikethik. Das zeigt sich schon greift (vgl. Rabinbach 1990). Doch auch innerhalb
daran, dass von ›Technik‹ oder ›Technologie‹ bei ih- eines solchen reduktionistischen Ansatzes besteht
nen eher selten die Rede ist; stattdessen aber von Marx auf der anthropologischen Differenz: Vom
›Werkzeug‹, ›Maschine‹, ›Produktivkraft‹ oder ›Ka- Tier unterscheidet sich der Mensch darin, dass er
pital‹. In der Wahl der Terminologie kommt zum nicht nur unmittelbare Lebensmittel produziert,
Ausdruck, dass es für Marx und Engels vornehmlich sondern auch Werkzeuge bzw. Arbeitsmittel. »Der
um die gesellschaftliche Funktion und historische Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln,
Rolle von Technik geht. Technik wird also nicht ›für obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen,
sich‹, sondern als ein gesellschaftlich-historisches charakterisiert den spezifisch menschlichen Ar-
Phänomen analysiert. Insoweit diese Analyse in beitsprozess und Franklin definiert den Menschen
eine philosophische Anthropologie der Wesensver- als ›a toolmaking animal‹, ein Werkzeuge fabrizie-
wirklichung des Menschen mündet, kommt ihr auch rendes Tier« (MEW 23, 194). Durch die Herstellung
eine ethische Dimension zu (vgl. Wendling 2009). von Werkzeugen wird der für den Menschen cha-
Es lassen sich im Theoriegebäude des Marxismus rakteristische, drei »Momente« in einen Zusam-
drei Ebenen unterscheiden, auf denen die Technik menhang bringende Arbeitsprozess möglich: die
auf jeweils unterschiedliche Weise analysiert wird: zweckmäßige Tätigkeit oder Arbeit selbst, der Ar-
• Auf der philosophisch-anthropologischen Ebene (s. beitsgegenstand und das Arbeitsmittel (zu Arbeit
Kap. IV.A.3) erscheint die Technik als Arbeitsmittel, und Technik s. Kap. IV.C.6).
• auf der geschichtstheoretischen Ebene als Pro- Die Bedeutung der Arbeit reduziert sich auch für
duktivkraft und den Marx der Ökonomiekritik nicht auf die Uner-
• auf der ökonomischen als Kapital (vgl. Bayertz lässlichkeit der Produktion von Lebensmitteln, son-
2012). dern besteht zugleich darin, dass sich der Mensch in
ihr in einem gewissen Sinne selbst produziert. In der
Im Laufe der Theorieentwicklung verlagert sich die Arbeit betätigt er seine »Wesenskräfte«, vergegen-
Marxsche Fragestellung immer mehr auf die Ökono- ständlicht sie und materialisiert sie in Gestalt ver-
miekritik; Fragen der philosophischen Anthropolo- schiedener Artefakte, Werkzeuge eingeschlossen.
gie, die mit den Kategorien der Entfremdung und Bei ihnen handelt es sich daher um die »Entäuße-
des Gattungswesens erfasst werden, treten in den rungen« innerer Potenzen, um nach Außen verla-
Hintergrund. Damit geht ein Perspektivwechsel auf gerte Bestandteile der menschlichen Natur. Die im
die Arbeit einher: Im philosophisch-anthropologi- menschlichen Wesen verankerte Notwendigkeit,
schen Rahmen gilt sie Marx primär als Vergegen- sich durch Entäußerung zu realisieren, birgt die
ständlichung und historische Hervorbringung des Möglichkeit einer scheiternden Vergegenständli-
menschlichen Gattungswesens; im Rahmen der Kri- chung, die Marx als »Entfremdung« bestimmt und
tik der politischen Ökonomie dagegen wird sie in zu einem notwendigen Zwischenstadium der
erster Linie als materielle und historisch-sozial orga- menschlichen Selbstverwirklichung erklärt. In dem
nisierte Form der Pro- und Reproduktion des Men- Maße, wie die Technik für den Menschen ein unver-
schen betrachtet (vgl. Heller 2012). zichtbares Instrument oder Medium der Selbstver-
90 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

wirklichung ist, kommt ihr in der Marxschen Kon- eher statisch sind, können Spannungen zwischen ih-
zeption eine erste grundlegend positive Bedeutung nen entstehen.
zu.
Zusammenfassend lässt sich sagen, (a) dass die »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die
materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Wider-
Werkzeuge in philosophisch-anthropologischer Per- spruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen
spektive entäußerte Aspekte der menschlichen Na- oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit
tur sind; und (b) dass die menschliche Natur auf den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich
diese Weise auch außerhalb des menschlichen Kör- bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Pro-
pers existiert. Und da diese Vergegenständlichung duktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln der-
selben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolu-
in  arbeitsteiligen und von sozialen Institutionen tion ein« (MEW 13, 9).
strukturierten Interaktionsprozessen geschieht, fasst
Marx sie auch als außerbiologische, d. h. gesell- In ihrer Erscheinungsform als Produktivkraft wohnt
schaftliche Natur. Als Arbeitsmittel gefasst, steht die der Technik mithin ein dynamisches, gesellschafts-
Technik damit in dem doppelten Spannungsverhält- veränderndes, ja revolutionäres Element inne. Die-
nis von Entäußerung und Entfremdung einerseits ses Potential ist im Rahmen der philosophischen
sowie anthropologischer Wesensentfaltung anderer- Anthropologie und der damit verbundenen Ge-
seits. schichtskonzeption von Marx ein unverzichtbarer
Motor der Selbstverwirklichung der Gattung. Daher
kommt der Technik bei Marx und im Marxismus
Technik als Produktivkraft eine zweite grundsätzlich positive Bedeutung zu.
Daraus, dass (a) die Struktur der Gesellschaft und
Im Arbeitsprozess gehen die Menschen nicht nur (b) ihre revolutionären Veränderungen in der Marx-
Beziehungen zur äußeren Natur ein, sondern zu- schen Analyse von den Produktivkräften abhängig
gleich auch Beziehungen zu anderen Menschen. Er gemacht werden, ist dem Marxismus gelegentlich
ist in einem doppelten Sinn ein sozialer Prozess: ein technologischer Determinismus (s. Kap. IV.A.9)
Zum einen finden die Individuen bei ihrer Geburt unterstellt worden. Diese Unterstellung wäre aber
die von der vorangegangenen Generation produ- nur dann zutreffend, wenn sich die »Produktiv-
zierten Artefakte vor, darunter vor allem Werk- kräfte« auf Technik reduzierten. Das ist bei Marx je-
zeuge. Indem sie diese Artefakte nutzen, gehen sie doch nicht der Fall: Die Hauptproduktivkraft war
eine indirekte, durch Technik vermittelte Bezie- für ihn stets der handelnde Mensch (MEW 42, 325;
hung zu ihren Vorfahren ein. Diese Beziehung bil- MEW 4, 181) und »Produktivkraft« ist stets als Ab-
det das materielle Rückgrat der Geschichte und ist kürzung für den von ihm gelegentlich auch selbst ge-
ein zentrales Element der materialistischen Ge- brauchten Ausdruck »Produktivkraft der Arbeit«
schichtskonzeption, die Karl Marx gemeinsam mit (MEW 23, 54, 391, 631) zu lesen. Es gibt daher keine
Friedrich Engels in einer zeitlebens unveröffent- selbständig determinierende Wirkung der Technik;
lichten Schrift Die deutsche Ideologie entwickelt hat zur Produktivkraft kann diese nur werden, indem
(vgl. dazu Quante 2009). Zum anderen gehen sie sie vom Menschen genutzt und angewandt wird
im Arbeitsprozess natürlich auch kooperative Ver- (MEW 23, 198).
bindungen mit ihren Zeitgenossen ein. Marx be-
zeichnet diese Verbindungen als »Produktionsver-
hältnisse«. Ihre konkrete Struktur hängt wesentlich Technik als Kapital
von den »Produktivkräften« ab, zu denen auch die
jeweiligen technischen Errungenschaften zählen. Marx hat sich selbst ab Mitte der 1840er Jahre we-
Die Struktur der gesellschaftlichen Kooperation, niger als Anthropologe oder Geschichtstheoretiker
und damit die Struktur der Gesellschaft überhaupt, gesehen, sondern vor allem als Kritiker der politi-
wird Marx zufolge vom Stand der Technik mit- schen Ökonomie. Im Zentrum seiner Analyse der
bestimmt: »Die Handmühle ergibt eine Gesell- Technik stand daher ihre Beziehung zur kapitalisti-
schaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Ge- schen Gesellschaft. Seinen Ausgangspunkt bilden
sellschaft mit industriellen Kapitalisten« (MEW 4, dabei die ungeheure Dynamik des Kapitalismus und
130). der überwältigende Fortschritt, den die Produktiv-
Da sich die Produktivkräfte ständig entwickeln kraftentwicklung in seiner Ära auszeichnet. Schon
und vermehren, die Produktionsverhältnisse jedoch im Kommunistischen Manifest von 1848 wird dieser
2. Marxistische Technikphilosophie 91

revolutionäre Charakter des Kapitalismus geradezu dium‹, das unterschiedliche Menschen auf eine be-
gefeiert: stimmte Weise miteinander in Beziehung bringt. Dies
»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Pro-
ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil sich im
duktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, Hinblick auf diese spezifische ›Form‹ der Technik als
also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwäh- Kapital Ansätze für eine kritische Analyse der Tech-
rend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung nik ergeben, die Marx mittels seiner Konzeption der
der alten Produktionsweise war dagegen die erste Exis- Entfremdung bereits in den Ökonomisch-philoso-
tenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die
fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununter-
phischen Manuskripten entfaltet hatte: Nicht mehr der
brochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zu- Arbeiter ist Herr über die Technik, sondern die
stände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet Technik wird – in Gestalt des Kapitals – zum Herrn
die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen über den Arbeiter (vgl. hierzu auch Kap. IV.A.6). In
eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von alt- Grundrisse der politischen Ökonomie führt er diese
ehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden
Analyse fort und auch im Kapital stellt er die »tech-
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknö-
chern können. Alles Ständische und Stehende ver- nische Unterordnung des Arbeiters unter den gleich-
dampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen förmigen Gang des Arbeitsmittels« (MEW 23, 446)
sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre ge- dar.
genseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzu- Auf der Basis umfangreicher zeitgenössischer
sehen« (MEW 4, 465).
Quellen (Berichte der englischen Fabrikinspekto-
Für Marx ist diese Entwicklung aus den zwei oben ren) stellt Marx im Kapital die Konsequenzen des
genannten Gründen positiv zu bewerten. Zum einen Einsetzens von Technik unter kapitalistischen Be-
schreitet in ihr die Entfaltung der »Wesenskräfte« dingungen dar (vgl. dazu auch die Exzerpte aus zeit-
des Menschen, wenngleich auch in entfremdeter genössischer Literatur zur Rolle der Technik in der
und verzerrter Form, voran. Gesamtgesellschaftlich Ökonomie, Winkelmann 1982). Dazu gehört:
betrachtet hat der Kapitalismus das menschliche (1) Der Einsatz von Frauen und Kindern in der Pro-
Wesen (auch, aber nicht nur im ökonomischen duktion, der dadurch möglich wird, dass die
Sinne) reicher gemacht (s. o., »Technik als Arbeits- avanciertere Technik die Notwendigkeit der An-
mittel« ). Zum anderen geht Marx davon aus, dass wendung großer Körperkraft auf Seiten des Ar-
die vom Kapitalismus entfesselte Dynamik der Pro- beiters verringert.
duktivkräfte auf Dauer den Rahmen dieser Produk- (2) Die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit zur
tionsweise sprengt (s. o., »Technik als Produktiv- besseren Auslastung der immer kostspieliger
kraft« ) und einer neuen Gesellschaft den Weg bah- werdenden Maschinen.
nen wird, in der das leibliche und soziale Wesen des (3) Die Tendenz zur Intensivierung der Arbeit, die
Menschen adäquat verwirklicht werden kann. in dem Moment einsetzt, in dem soziale Bewe-
In dieser Konzeption ist der Kapitalismus nicht gungen gegen die Verlängerung der Arbeitszeit
als ein neutrales Medium der Produktivkräfte anzu- entstehen und der Normalarbeitstag gesetzlich
sehen. Die technischen Artefakte nehmen unter den eingeschränkt wird.
Bedingungen des Kapitalismus vielmehr eine spezi-
fische gesellschaftliche ›Form‹ an: Sie werden Kapi- Marx hat diese Kritik nicht als eine explizit ethische,
tal. Dies geschieht dann, wenn sie einer Person X sondern als eine ökonomische und politische formu-
von einer anderen Person Y zur Verfügung gestellt liert. Die problematischen Auswirkungen der kapi-
werden, damit X mit Hilfe des Artefakts für Y Arbeit talistischen Technikanwendung reduzieren sich
(und vor allem Mehrarbeit) verrichtet. Das Artefakt nicht auf die Arbeitswelt (s. Kap. IV.C.6), sondern
übernimmt also eine bestimmte Funktion: Er kon- greifen auch auf andere Bereiche der Lebenswelt
stituiert ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen X über. Marx weist etwa darauf hin, dass die Ausbrei-
und Y (genauer: ein Produktionsverhältnis). Kapital tung der Fabrikarbeit nicht ohne Folgen für die
ist für Marx also »nicht eine Sache […], sondern ein Struktur der Familie und der Geschlechterbeziehun-
durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhält- gen bleiben kann. Die ökonomischen Grundlagen
nis zwischen Personen« (MEW 23, 793). der alteuropäischen Familie verschwinden und da-
Wenn Marx daher Technik als Kapital analysiert, mit diese selbst.
geht es ihm nicht um die ›Technizität‹ der Technik, Damit öffnet die Marxsche Theorie den Weg zur
um die in ihr materialisierte Zweck-Mittel-Relation, Zuschreibung von moralischer Verantwortung für
sondern um ihre soziale Dimension als ein ›Me- die Folgen des Einsatzes der Technik. Die Technik
92 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

erscheint in ihr nicht als selbständige Kraft. Aus- Rückfall auf eine vortechnische Stufe der Zivilisation
drücklich verwahrt sich Marx gegen die These, dass sein wird. Im Gegenteil: Obwohl die Bourgeoisie die
es die »Maschinerie« selbst sei, die Arbeitslosigkeit alteuropäische Gesellschaft vollständig umgewälzt
produziere: »Es ist eine unbezweifelbare Tatsache, hat und folglich die revolutionärste aller bisherigen
dass die Maschinerie an sich nicht verantwortlich ist Klassen ist und obwohl unter ihrer Ägide auch die
für die ›Freisetzung‹ der Arbeiter von Lebensmit- Technik in einem vorher unvorstellbaren Maße wei-
teln« (MEW 23, 464). Zwischen der Technik und terentwickelt wurde, stößt ihre Anwendung unter
ihrer Verwendung durch konkrete Akteure unter den Bedingungen des Kapitalismus schon zeitgenös-
konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ist also sisch auf Grenzen. Für Marx ist die Überwindung
sorgfältig zu unterscheiden: »Die gegenwärtige Ver- des Kapitalismus daher zugleich auch eine Befreiung
wendung der Maschinen gehört zu den Verhältnis- der Technik: »In einer kommunistischen Gesell-
sen unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems, doch schaft hätte daher die Maschinerie einen ganz and-
die Art, wie die Maschinen ausgenutzt werden, ist et- ren Spielraum als in der bürgerlichen Gesellschaft«
was völlig anderes als die Maschinen selbst« (Brief (MEW 23, 414FN). In einer Gesellschaft, die das Pri-
an Annenkow vom 28.12.1846; MEW 27, 456). vateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und
Doch Marx beschreitet diesen Weg zur morali- kommunistisch organisiert ist, können die Men-
schen Verantwortungszuschreibung nicht. Sein schen »ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell
Interesse gilt nicht den konkreten Akteuren, sondern regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle brin-
den konkreten Bedingungen der Technikverwen- gen, statt von ihm als einer blinden Macht be-
dung. Das heißt natürlich: den durch die kapitalisti- herrscht zu werden, ihn mit dem geringsten Kraft-
sche Gesellschaft gesetzten Bedingungen der Tech- aufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur
nikverwendung. Zwar sind diese Bedingungen nicht würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollzie-
naturwüchsig, sondern das Produkt menschlichen hen« (MEW 25, 828).
Handelns; einmal ins Leben gebracht, bilden sie
dann aber den Rahmen, innerhalb dessen das wei-
tere Handeln der Individuen sich vollzieht. Die öko- Rezeption
nomische Theorie von Marx ist auf genau dieses
Handeln fokussiert: auf das den ökonomischen Ge- Der Technik kommt im Marxschen Denken sowohl
setzen des Kapitalismus folgende Handeln der Indi- als Instrument der Vergegenständlichung und Steige-
viduen. Marx war dieser Punkt so wichtig, dass er rung der Gattungskräfte, d. h. als ein unverzichtbares
ihn an einer berühmten Stelle im Vorwort zur ersten Medium menschlicher Selbstverwirklichung, als
Auflage des Kapital hervorhob: auch als Motor der geschichtlich-gesellschaftlichen
Entwicklung, d. h. als ein notwendiger Faktor auf
»Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus, eine
zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es han-
intrinsisch positive Bedeutung zu. Zugleich ist Marx
delt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Perso-
nifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von ein hellsichtiger und scharfsinniger Beobachter der
bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. We- inhumanen Aspekte und Folgen, die der technische
niger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Fortschritt unter kapitalistischen Rahmenbedingun-
Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation gen mit sich bringt. Technik wird dabei in zwei Span-
als einen naturgeschichtlichen Prozess auffaßt, den ein-
nungsfeldern verortet: (a) Als Mittel zur Steigerung
zelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren
Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv der Produktivität und zur Reduktion der Mühsal des
über sie erheben mag« (MEW 23, 16). Arbeitens dient sie der Beherrschung der Natur; als
Medium der Vergegenständlichung und Selbstver-
Wenn er zwischen der »Maschinerie« und ihrer »ka- wirklichung des Menschen ist sie dagegen Teil der
pitalistischen Anwendung« strikt unterscheidet, Versöhnung des Menschen mit (seiner) Natur, eine
geht es ihm also nicht um eine Zuschreibung morali- Bewegung, die Marx als Verwirklichung von Natur
scher Verantwortung an irgendwelche Individuen, und Mensch gleichzeitig auffasst. (b) Als Lebensäu-
sondern um die theoretische Destruktion des ßerung des Naturwesens Mensch lassen sich Arbeit
Scheins einer Identität von Technik und Kapital. Er und Technik als reine Naturphänomene reduktionis-
will zeigen, dass die Kritik an der kapitalistischen tisch fassen; zugleich weisen sie jedoch aufgrund des
Verwendung der Technik keine Technikkritik ist; gesellschaftlichen Charakters des Menschen eine ir-
und dass die Überwindung des Kapitalismus kein reduzibel soziale und historische Dimension auf.
2. Marxistische Technikphilosophie 93

Diese komplexe Struktur führt dazu, dass sich chen Alternativlosigkeit: »Bestärkt durch die Leis-
in  der Rezeption der Marxschen Technikkonzep- tungen von Wissenschaft und Technik, gerechtfer-
tion unterschiedliche Traditionslinien herausbilden tigt durch seine wachsende Produktivität, spottet der
konnten, die jeweils unterschiedliche Elemente die- Status quo aller Transzendenz« (Marcuse 1967, 36).
ser Konzeption betonen, andere in den Hintergrund In den 1990er Jahren ist, vor allem vor dem Hin-
treten lassen. Die eine Linie knüpft vor allem an die tergrund der sich zunehmend verschärfenden öko-
positive Bewertung der Technik bei Marx an, ins- logischen Krise, ein Streit um die Frage entbrannt,
besondere an die von ihm betonte Steigerung der ob die Marxsche Konzeption und die marxistische
Produktivität und Verringerung der Mühsal der Ar- Technikphilosophie in die Tradition des prome-
beit. Schon in der deutschen Sozialdemokratie des theischen Denkens (zu Natur und Technik s. Kap.
19. Jahrhunderts erscheint die Technik vor allem als IV.C.2) gehört, die dem Imperativ der technischen
ein Faktor des Fortschritts (s. Kap. II.4). Diese Deu- Ausbeutung und Beherrschung der Natur verpflich-
tung setzt sich fort, als in der Sowjetunion der Ver- tet ist (vgl. Burkett 1999; Foster 2000 und Hughes
such unternommen wurde, den technisch-ökono- 2000). Alternativ dazu gibt es Stimmen, die einen
mischen Rückstand gegenüber dem Westen aufzu- ›grünen‹ Marx für eine ökologische Ethik und eine
holen. Lenins berühmte Parole »Kommunismus ist auf Respekt vor der Natur basierende Anthropologie
Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Lan- in Anspruch nehmen wollen. Angesichts der kom-
des« (Werke Bd. 31, 414, 513) veranschaulicht die plexen Strukturen, in denen sich das Marxsche
Bedeutung, die der Technik unter diesen prakti- Nachdenken über die Technik bewegt, liegt auf der
schen Bedingungen zugeschrieben wurde. Hand, dass jede der streitenden Parteien gewisse As-
In einer eher philosophischen Perspektive setzt pekte (und zahlreiche Literaturstellen) für ihre ei-
auch Ernst Bloch auf die Technik als Instrument des gene Deutung ins Feld führen kann. Die Einschät-
Fortschritts und der Selbstverwirklichung des Men- zung, dass Marx in dieser Frage keine eindeutige
schen, greift dabei aber nicht allein auf das instru- Antwort bietet, sondern sein Denken mehrfachen
mentalistische Naturverständnis zurück, sondern Spannungen ausgesetzt ist, dürfte dabei am ehesten
nimmt Elemente der Idee einer Konvergenz der Ver- den Sachstand angemessen wiedergeben.
wirklichung von Natur und Mensch auf, die Marx
aus der Philosophie Hegels in seine philosophische Literatur
Anthropologie integriert hatte. Ernst Bloch speku-
Bayertz, Kurt: Technik bei Marx. In: Michael Quante/Erz-
liert in diesem Zusammenhang über einen neuen sébet Rózsa (Hg.): Anthropologie und Technik. München
Typ von Technik; er spricht von einem »Marxismus 2012, 57–70.
der Technik« der das »Ende der naiven Übertragung Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1959.
des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf Burkett, Paul: Marx and Nature. New York 1999.
Foster, John B.: Marx ’ s Ecology. New York 2000.
die Natur« (Bloch 1959, 813) bedeute.
Heller, Ágnes: Marx und die Frage der Technik. In: Michael
Im Gegensatz zu diesen optimistischen Einschät- Quante/Erzsébet Rózsa (Hg.): Anthropologie und Tech-
zungen der Technik greifen Autoren wie Walter Ben- nik. München 2012, 45–56.
jamin, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse Hughes, Jonathan: Ecology and Historical Materialism.
die gesellschafts- und technikkritischen Aspekte des Cambridge, Mass. 2000.
Marxschen Denkens auf (s. Kap. IV.A.6). Sie kombi- Lenin, Wladimir I.: Werke. 40 Bde. Berlin 1955–1989.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Neuwied
nieren dabei die gegen eine instrumentelle Auffas- 1967.
sung der Natur sprechenden Aspekte der philoso- Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Hg.
phischen Anthropologie von Marx, die sich vor und komm. von Michael Quante. Frankfurt a. M. 2009.
allem seiner Entfremdungskonzeption entnehmen – /Engels, Friedrich: Werke (MEW). Berlin 1956 ff.
lassen, mit den kritischen Beobachtungen, die Marx Quante, Michael: Geschichtsbegriff und Geschichtsphilo-
sophie in der Deutschen Ideologie. In: Harald Bluhm
bezüglich der Auswirkungen der Technik unter ka- (Hg.): Karl Marx/Friedrich Engels – Die deutsche Ideolo-
pitalistischen Vorzeichen gemacht hatte. Vor allem gie. Berlin 2009, 83–99.
unter dem Eindruck des Faschismus und der zuneh- Rabinbach, Anson: The Human Motor. [o. O.] 1990.
menden diktatorischen Entartung des realen Sozia- Wendling, Amy E.: Karl Marx on Technology and Aliena-
lismus unter Stalin ersetzt diese Strömung die opti- tion. New York 2009.
Winkelmann, Rainer (Hg.): Karl Marx. Exzerpte über Ar-
mistische Fortschrittskonzeption des Marxismus beitsteilung, Maschinerie und Industrie. Frankfurt a.M
durch eine pessimistische Konzeption des kulturel- 1982.
len Verfalls und der politischen und gesellschaftli- Kurt Bayertz und Michael Quante
94 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

3. Philosophische als alternative Form des Philosophierens und steht


damit in z. T. direktem, z. T. indirektem Gegensatz zu
Anthropologie anderen Formen. Doch selbst der Ausdruck ›Philo-
sophische Anthropologie‹ muss als Typenausdruck
Der Titel »Philosophische Anthropologie« kann auf verstanden werden, der in Methode und Resultat
verschiedene Weisen verstanden werden. Zunächst unterschiedliche Bemühungen zusammenfasst; als
bezeichnet er eine historische Form des Philo- verbindendes Moment verbleibt letztlich der Bezug
sophierens, die sich wesentlich mit den Werken eini- auf den Menschen als zentralen Gegenstand des Phi-
ger Autoren verknüpfen lässt: Neben Max Scheler, losophierens.
Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, deren Über-
legungen bei allen Unterschieden wesentlich etwa
durch die Diagnose der Besonderheit des Men- Der Tier-Mensch-Vergleich
schen charakterisiert sind, ist eine Reihe weiterer
Autoren philosophischer, sozialwissenschaftlicher, Methodologisch zentral für Philosophische Anthro-
kulturtheoretischer aber auch biologischer und pologie ist die Deutung des Tier-Mensch-Verglei-
biologie-theoretischer Ausrichtung anzuführen, zu ches. Aus diesem resultiert für Scheler die Sonder-
welchen etwa Adolf Portmann, Konrad Lorenz, stellung des Menschen, die übereinstimmend als
Erich Rothacker oder Frederik Jacobus Buytendijk eine biologische Sonderstellung verstanden wird (vgl.
zu zählen sind. Doch ist mit diesem historischen Gutmann 2004, Bd. 1). Diese Sonderstellung besteht
Zugriff weder der Differenz der Systeme Recht ge- im Charakter des Menschen als Mängelwesen:
tan, noch werden damit grundlegende Unter- »Kennt man keine höheren Werte als die biologi-
schiede in der Bestimmung von Gegenstand und schen, so muß man ihn mit und trotz seiner Zivilisa-
Methode hinreichend gewürdigt. Immerhin lässt tion als das »krank gewordene Tier« bezeichnen,
sich mit Bernhard Groethuysen (1928) ein Versuch und auch sein Denken erscheint konsequent dann
identifizieren, philosophisch-anthropologische Re- nur als eine Form seiner Erkrankung« (Scheler 1954,
flexion nicht zunächst als positiv-wissenschaftlich 299). Die Besonderheit des Menschen ist als biologi-
zu  fundierendes Vorhaben aufzufassen. Schließlich sche zu verstehen – bei Scheler (1947, 37) und Geh-
wird die Bezeichnung unzuständig, erweitert man len (1986, 24 ff., 31 ff.) mit Bezug auf dessen fehlende
den Fokus auf Ansätze, die zwar ebenfalls auf Einbindung seine »Umwelt«, etwa im Sinne der In-
Konstitution und Bestimmung ›des Menschen‹ ge- stinktreduktion, bei Plessner als exzentrische Posi-
richtet sind, dies aber in systematisch-philosophi- tionalität im Gegensatz zur konzentrischen Positio-
scher Form und z. T.  in expliziter Absetzung oder nalität des Tieres (Plessner 1975, 246 ff.). Für Scheler
Zurückweisung philosophisch-anthropologischen bildet die Mängelform des Menschen die Grundlage
Philosophierens vornehmen (etwa Heidegger 2010). eines echten, evolutionsbiologischen Paradoxons, da
Systematisch sind zwei Formen des Zugriffes zu dieser biologisch eben nicht lebensfähig sei (Scheler
unterscheiden, die eine methodologische Differen- 1947, 57).
zierung erlauben, nämlich zum einen philosophi- Es wird daraus die Unzuständigkeit und letztlich
sche Anthropologie, die als Element oder Moment die Inadäquatheit der evolutionsbiologischen Be-
innerhalb eines umfassenden Verständnisses von handlung des Menschen gefolgert und diesem der
Philosophie fungiert und zum anderen der Versuch, Status als Geist- (im Sinne von Vernunft-)wesen zu-
Philosophische Anthropologie als originäre Philoso- gesprochen. In der Tat kann, bei der vorgenomme-
phie in toto zu verstehen (dazu Weingarten 2005). nen Charakterisierung des Tier-Mensch-Verhältnis-
Das Bemühen der philosophischen Anthropologie ses, schon der Versuch einer wesentlich gradualis-
im ersten Sinne zielt wesentlich darauf, den Men- tisch konzipierten Transformation kaum sinnvoll
schen als Gegenstand des Philosophierens in den erscheinen – eine These, die selbst die in vielen Hin-
Blick zu nehmen, und damit zugleich die Form sichten theoriestrategisch so differenten Ansätze von
der Thematisierung des Gegenstandes selber zu re- Scheler, Gehlen und Plessner miteinander verbindet.
konstruieren  – sie wäre keine vom systematischen Mit dieser Entscheidung ist zudem regelmäßig die
Philosophieren abgelöste Form des Denkens, son- Diskussion der Möglichkeit und Relevanz von
dern bliebe begrifflich an dieses gebunden. »Großmutationen« verknüpft, die in der zeitgenössi-
Philosophische Anthropologie in dem zweiten schen Biologie eine gewisse Relevanz besaß (etwa
oben angesprochenen Sinn kann verstanden werden Plessner 1975, 351 ff.; dazu Gutmann 2004, Bd. 2 u.
3. Philosophische Anthropologie 95

2006). Es droht ein methodischer Widerspruch, der »philosophischen Biologie« (vgl. Plessner 1975,
wenn zugleich die Besonderung des Menschen als 66).
biologische Aussage und die Unzulänglichkeit der Grenzen sind danach charakterisiert durch einen
biologischen Beschreibung für die Erfassung des Doppelaspekt: Sie sind zugleich trennend – was sie
Menschen gelten soll (Gutmann 2004a). mit der einfachen Kontur eines nicht-lebendigen
Körpers gleich macht – und verbindend. Die Grenze
bleibt für den lebendigen Körper in der begrifflichen
Positionalität als Natureigenschaft Bestimmung einer Eigenschaft, die diesem wesent-
lich zukomme (Plessner 1975, 102), eine – im Ver-
Sosehr sich theorie-strategische Gemeinsamkeiten gleich zur Hegelschen Entfaltung des Grenzbegrif-
finden lassen, so wenig folgt doch aus diesen eine fes  – Einschränkung der begrifflichen Mittel (vgl.
einheitliche Theoriestruktur. Im Gegensatz etwa zur Hegel 1986). Diese theoriestrategische Entscheidung
schroffen Absetzung von Natur und Geist, wie sie hat nun auch zur Folge, dass Plessner die Einfüh-
Schelers Ansatz bestimmt, besteht Plessner auf einer rung seiner begrifflichen Mittel nicht mehr eigens
grundsätzlichen Einbeziehung ›des Menschen‹ in rechtfertigen kann: »Grenze« muss zugleich mit den
die Natur (was »sprunghafte« Änderungen übrigens weiteren Bestimmungen lebendiger Köper katego-
nicht ausschließt, vgl. Plessner 1975, 351 ff.). Philoso- rial verstanden werden und insofern jedem Empiri-
phische Anthropologie erhält dabei eine wesentliche schen vorgängig, mithin vor empirischer Revision
Rolle innerhalb eines umfassenden Konzeptes, das geschützt sein, wie eben auch gegenständlich in
letztlich alle Wissensformen umgreift und von einer Erscheinung treten, mithin im empirischen Zusam-
»Philosophie des lebendigen Daseins«, über »philo- menhang gegenständlich ausweisbar sein. Diese
sophische Anthropologie als Hermeneutik« zur »kategoriale Doppelaspektivität« führt zu einer
»Grundlegung der Geisteswissenschaften« führte systematischen Überlastung der begrifflichen Kon-
(Plessner 1975, 30 f.). Auch hier stehen die »Wesens- struktion Plessners, die sich zwischen transzenden-
formen des Menschen« (ebd., 29) im Zentrum – al- talen Rekonstruktionsüberlegungen, phänomeno-
lerdings wird nicht nur ›der‹ Mensch adressiert, son- logischen Erscheinungsanalysen und ganzheitspsy-
dern alle Lebensformen. chologischen Evidenzen bewegt.
Die zentrale Kategorie, von der Plessner die be- Ausgehend von eigenschaftsbezogenen (indikato-
griffliche Grundlage für die Darstellung des Le- rischen) Merkmalen des Lebendigen werden die
bensphänomens (s. Kap. IV.A.4) erhofft, bildet dabei Formen der Grenzbestimmung inhaltlich mit Blick
die »Grenze«, deren Bestimmungen in wichtigen auf die unterstellten »konstitutiven Wesensmerk-
Aspekten mit der bei Georg Wilhelm Friedrich He- male als die Kategorien des Lebendigen« vorgeführt
gel gebotenen übereinstimmen. Die begriffliche Ein- (Plessner 1975, 114). Die Darstellung dieser »Mo-
führung unterscheidet sich insofern grundlegend, dale« erfolgt entlang empirisch-biologisch wohlbe-
als das Modell der Doppelaspektivität im Wesent- kannter Bestimmungen (Entwicklung, Reizbarkeit,
lichen auf Dingbestimmungen in der logischen Vermehrung), wobei deren Thematisierung aber in
Grammatik der Substantialität referiert, also das der engen Form neo-aristotelischer Konzeptionen
Verhältnis von Eigenschaft und Ding betrifft (Pless- erfolgt. Denn Leben erweist sich als »typisch« kon-
ser 1975, 80 ff.). Diese logische Grammatik unter- zipiert (ebd., 137), Entwicklung vollzieht sich we-
liegt selbst der für die Plessnersche Konzeption zen- sentlich in der Bestimmung »harmonischer Äquipo-
tralen »Ganzheits«-Bestimmung, die für lebendige tentialität« der Selbstregulierbarkeit (ebd., 160 ff.),
Körper charakteristisch sei und zur Etablierung der womit Evolution sogleich einen anti-darwinisti-
Grenzbestimmung genutzt wird (ebd., 100 f.). schen Zuschnitt erhält (ebd., 146). Im Gefolge die-
Danach ist der Gegenstand der weiteren Überle- ses an empirischen Resultaten wie konzeptionellen
gungen als lebendiger Körper zu verstehen, dessen Vorentscheidungen der Biologie orientierten Pro-
»Lebendig-Sein« durch die Grenz-Kategorie wieder- gramms ergeben sich drei Stufen der Grenzrealisie-
gegeben werden kann. Eine nähere Bestimmung rung, die als Positionalität je den drei kanonischen
dessen, was unter ›Kategorie‹ zu verstehen ist, wird Lebenstypen von Pflanze, Tier und Mensch zuge-
nicht gegeben, immerhin aber sollen, so Plessner, die ordnet werden können (zur Kritik vgl. Weingarten
weiteren Überlegungen nicht nur nicht-empirisch 2005; Gutmann/Weingarten 2005).
sein, sondern zugleich zu einer Grundlegung der Die spezifische Form der Positionalität ist für den
Biowissenschaften selber taugen, nämlich im Sinne Menschen als exzentrische angelegt – eine Metapher,
96 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

die mit Bezug auf die konzentrische Positionalität Auch Sprache wäre letztlich nichts anderes als die
des Tieres die ursprüngliche Umwelt-Welt-Unter- Differenzierung des Handlungssystems des Men-
scheidung wieder aufnimmt. Die bei Gehlen als In- schen, verstanden als Entlastung erzeugendes, auf
stinktreduktion verstandene Konstitution des Men- erfolgreiches Agieren bezogenes Signalsystem, das
schen erhält hier eine nicht bloß am Defizienzmo- mit dem Handlungssystem wesentlich den instru-
dell orientierte Deutung. Es gelten vielmehr die drei mentellen Charakter teilt. So seien zwar das »kom-
»anthropologischen Grundgesetze« (das Gesetz der munikative, umgehende Sichverhalten, ferner »An-
natürlichen Künstlichkeit, das der vermittelten Un- deutungs-« oder Symbolleistung, selbstempfundene,
mittelbarkeit und jenes des utopischen Standpunk- sinnlich reflektierte Selbsttätigkeit und endlich her-
tes), die wesentlich das Moment der reflexiven Di- abgesetzter, entlasteter Kontakt mit der Welt« (Geh-
stanz und der Selbststellungnahme betonen  – was len 1986, 47) in der Sprache besonders prägnant,
sich eben nur im »über-sich-hinaus-Sein« bestim- keinesfalls aber auf diese beschränkt. Sprache findet
men lässt. Der Mensch ist danach positiv das Wesen, den Anschluss an »vorsprachliches Verhalten« (ebd.,
das aufgrund der exzentrischen Struktur seiner 47), ohne ihre Besonderung als Entlastungssystem
Grenzbildung erst in den drei Formen von Welt  – einzubüßen, was die diagnostische Nähe zu Pless-
Außen-, Innen- und Mit-Welt – zu einem gleichsam ner und die konzeptionelle Nähe etwa zu George
im Ganzen harmonischen Weltverhältnis gelangt Herbert Mead wiederum deutlich einschränkt. Auch
(Plessner 1975, 302 ff.). die beiden hervorragenden Eigenschaften des Men-
schen verdanken bei Gehlen letztlich der biologi-
schen Notlage des Mängelwesens ihre Entstehung.
Von Natur aus ein Kulturwesen:
Pragmatistische Perspektiven
Technik als Transformation der Natur
In der logischen Grammatik der Ding-Kategorie
zwar verbleibend, wie Plessner, aber durch die Aus- Der Ausweg aus dem angezeigten Dilemma, das sich
zeichnung der zugeschriebenen Eigenschaft doch an- aus dem Tier-Mensch-Vergleich ergibt  – und auch
dere begriffliche Mittel verfügbar machend, be- dies eine Gemeinsamkeit bei Scheler, Gehlen und
stimmt nun Gehlen »den Menschen«; dieser sei als Plessner  – wird nicht etwa in einer methodologi-
handelndes Wesen »von Natur aus ein Kulturwesen« schen Kritik des Vergleiches und dessen Zurückwei-
(Gehlen 1986, 32; dazu Weingarten 2001). Immerhin sung gesucht, sondern in der Betonung der Form
lässt sich aber nun aus der Tätigkeit dieses Wesens menschlichen Handelns als dem Ursprung der Be-
sein besonderes Verhältnis zur Umgebung darstellen, sonderheit des Menschen. Dabei steht im Zentrum
das nicht mehr primär Umwelt- sondern Welt-Ver- die Vermutung, dass Technik als Medium der Trans-
hältnis ist. Damit kann der eigentümlichen »Unspe- formation von Natur zu menschlichen Zwecken die
zialisiertheit« (Gehlen 1986, 32) des Menschen Rech- Eigenschaft sei, die das biologisch defiziente Wesen
nung getragen werden, die ihn u. a. zu einem so we- »in der Natur« halte. Allerdings ist die Wertung der
nig in die engen Grenzen des Anpassungsdenkens »zweiten Natur« durchaus different. Gehlen referiert
sich fügendes Lebewesen in biologischer Betrach- nämlich im Gefolge der Mängelwesen-Konzeption
tung werden lässt. Doch gelingt Gehlen mit dieser beständig auf die entlastende Funktion der Umar-
pragmatistischen Herangehensweise nicht nur eine beitung von Natur in Kultur, wobei Entlastung zu-
Erklärung für den Sonderstatus des Menschen als gleich pejorativ darauf verweist, dass damit die Un-
Mängelwesen. Mit der These, dass dieser durch seine abdingbarkeit der Technik selber einhergehe. Der
Bestimmung als handelndes Wesen zugleich auch Mensch wäre gar nicht anders denkbar, denn als
»nicht festgestellt« sei, gewinnt der Ausdruck der technisches Wesen und verlöre bei Verzicht auf
»Welt-Offenheit« eine grundlegend andere Konnota- Technik nicht nur gewisse Entlastungen, sondern
tion. Die Offenheit, die als positive Charakterisie- die eigene Existenzgrundlage:
rung gelten könnte, erweist sich nun nämlich als das
eigentliche Gefängnis, in das die Natur dieses Wesen »Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Um-
gestellt hat. Das Resultat lässt sich an der Darstellung schaffung und Bewältigung der Natur hin gebaut, und
deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der
zweier Systeme demonstrieren, die auf klassische Be- Welt hin: er ist handelndes Wesen, weil er unspeziali-
stimmungen des Menschen referieren, nämlich ›den‹ siert ist, und also der natürlich angepaßten Umwelt ent-
Menschen als homo faber und als zoon logon echon. behrt. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche
3. Philosophische Anthropologie 97

umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt degger 2010; König 1967 und 1994). Obzwar Ernst
ist die menschliche Welt. […] Die Kultur ist also die Cassirer in An Essay on Man derselben logischen
›zweite Natur‹ – will sagen: die menschliche, die selbst-
Grammatik (hier ebenfalls in direktem Anschluss an
tätig bearbeitete, innerhalb deren er allein leben kann –
und die ›unnatürliche‹ Kultur ist die Auswirkung eines Jakob Johann von Uexküll) folgt, wie es die Orientie-
einmaligen, selbst ›unnatürlichen‹, d. h. im Gegensatz rung an der Ding-Kategorie auch für die Philosophi-
zum Tier konstruierten Wesens in der Welt« (Gehlen sche Anthropologie mit sich brachte (und hier zu ei-
1986, 38). ner ähnlich radikalen Trennung der Natur- und der
Im Gegensatz dazu ergeben die drei »anthropologi- Kultursphäre führte, wie dies bei Scheler anklang;
schen Grundgesetze« Plessners ein durchaus ande- Cassirer 1972 und 1993, dazu Gutmann 2004a), fin-
res Bild. Zwar wird auch hier in der Transformation det sich im Gefolge von Cassirers Philosophie der
der Natur durch Technik ein zentrales Movens der symbolischen Formen aber auch eine grundsätzlich
Entwicklung und Evolution des Menschen zu einem divergente Ausrichtung philosophisch-anthropolo-
Kulturwesen gesehen. Insofern gibt es zwischen dem gisches Denken, in einem an der Differenzierung
»Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« und der von Vermittlungsverhältnissen orientierten Ansatz
Gehlenschen These von der »Natürlichkeit des Kul- (vgl. Gutmann 2004a). Hierbei wird Technik zu ei-
turwesens« systematische Ähnlichkeiten. Jedoch ner eigenständigen Formbestimmung, die die Mo-
weisen die Gesetze der »vermittelten Unmittelbar- mente von Mittel, Werkzeug und Medium systema-
keit« und des »utopischen Standpunktes« weit über tisch erfasst und deren Relevanz für die Konstitution
die kompensatorisch gedachte und in der Überbie- des Gegenstandsbezuges expliziert. Zusammen mit
tung wesentlich entfremdungstheoretisch verfasste Sprache ist Technik eine ausnehmend besondere
Gehlensche Konzeption hinaus (Plessner 1975, Form von Vermittlung, da sie nicht nur den Bezug
309 ff.). zum Gegenstand qua Mittel, Werkzeug und Medium
etabliert, sondern sich dies zugleich in doppelläufi-
ger Bewegung vermittelter Selbstverhältnisse voll-
Kritische Würdigung zieht (vgl. Gutmann 2004a). Der Begriff ›Mensch‹
erscheint vermittlungstheoretisch in Doppelung
Philosophische Anthropologie stand in einer inten- einmal als Gegenstand im Dingschema und einmal
siven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen For- insofern er Mensch ist, d. h. als entwicklungslogi-
men des Philosophierens, wobei kritische Absetzung scher Gegenstand. In der logischen Grammatik die-
durchaus prävalierte. Prägnant formuliert etwa Max ser Darstellung ist erst die Entfaltung der Äußerun-
Horkheimer eine solche Zurückweisung, die zu- gen und Äußerungsformen dieses Gegenstandes die
gleich ein übliches Verständnis des Anliegens der Bestimmung desselben, wobei die Totalität normativ
Philosophischen Anthropologie dokumentiert: und nicht deskriptiv, rekonstruktiv und nicht konsti-
tutiv verstanden werden muss. Als eine solche Tota-
»Die moderne philosophische Anthropologie ent-
springt demselben Bedürfnis, das die idealistische Phi- lität lässt sich Geschichte ansprechen und  – nicht-
losophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu be- historisch – als Form der Entfaltung rekonstruieren
friedigen sucht: nach dem Zusammenbruch der mittel- im Sinne des Diktums »Was der Mensch sei, das er-
alterlichen Ordnungen, vor allem der Tradition als fährt er nur durch die Geschichte« (nach König
unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzu- 1967, 219 ff.; dort die weitere Diskussion). Technik
stellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung ge-
winnen soll« (Horkheimer 1988, 252).
hätte in dieser Darstellungsform die Funktion eines
Momentes, ohne dass damit eine Sonderstellung im
Inwieweit die These von der Suche nach geschichts- Sinne der Philosophischen Anthropologie behauptet
invariantem Wissen über »den« Menschen für alle würde.
Autoren der Philosophischen Anthropologie zu-
trifft, sei dahingestellt. Die Aktivierung empirischen
Wissens an zentralen Stellen der Theorie liefert da- Technikethische Implikationen
für gleichwohl einige Plausibilität. Doch stellte sich
Kritik auch von Seiten hermeneutischer, phänome- Wird Philosophische Anthropologie (in der hier re-
nologischer und neukantianischer Philosophie ein, konstruierten Form) zum Ausgangspunkt ethischer
die zumindest zum Teil ebenfalls auf die Frage nach Erwägungen, so ergibt sich entweder eine strikte
der Art des Wissens gerichtet war, das der Bestim- Verteidigung des rein Technischen als notwendiger
mung »des« Menschen angemessen ist (vgl. Hei- Form menschlicher Reproduktion überhaupt, wie
98 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

dies bei Gehlen deutlich wird. Es kann dann mögli- rie – Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der
cherweise an einzelnen Ausprägungen von Technik, modernen Lebenswissenschaften. Bielefeld 2005, 183–
194.
nicht aber an der Struktur derselben Kritik geübt
Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
werden. Alternativ erzwänge die an Uexküll orien- Frankfurt a. M. 2001.
tierte funktionalistische Form der Umwelt-Lebewe- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I.
sen-Beschreibung eine grundsätzliche Zurückwei- Frankfurt a. M. 1986.
sung interventionalistischer Handlungsformen im Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik.
Ganzen (vgl. etwa Habermas 2001). Hingegen Frankfurt a. M. 2010.
Horkheimer, Max: Bemerkungen zur Philosophischen An-
könnte die Einbindung von Überlegungen aus dem thropologie [1935]. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3.
Feld der Philosophischen Anthropologie wichtige Frankfurt a. M. 1988, 249–276.
Hinweise für ein Verständnis des Menschen als tech- König, Josef: Georg Misch als Philosoph. Nachrichten der
nisches Wesen liefern, ohne ihn auf diese Bestim- Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philolo-
mung zu reduzieren. gisch-historische Klasse Nr. 7. Göttingen 1967.
– : Probleme des Begriffs der Entwicklung. In: Ders.: Kleine
Schriften. Freiburg/München 1994, 222–244.
Krüger, Hans-Peter: Zwischen Lachen und Weinen. I + II.
Aktuelle Perspektiven Berlin 2001.
– /Lindemann, Gesa (Hg.): Philosophische Anthropologie im
Aktuelle Weiterführungen der Philosophischen An- 21. Jahrhundert. Berlin 2006.
Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der
thropologie – auch im techniktheoretischen Zusam- Mensch [1928]. Berlin 1975.
menhang  – greifen insbesondere die Plessnersche Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Mün-
Konzeption der Doppelaspektivität auf und ver- chen 1947.
suchen, eine die Grenzen von Sozialwissenschaft, – : Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert-
Philosophie und Lebenswissenschaften aufhebende ethik. In: Gesammelte Werke. Bd. II. Bonn 1954.
Weingarten, Michael: Versuch über das Missverständnis,
Gesamtschau des Menschen zu etablieren, wobei der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen. In: Jahr-
›Doppelaspektivität‹ in einem weiteren Sinne zu buch für Geschichte und Theorie der Biologie 8 (2001),
verstehen wäre (vgl. Fischer 2008; Fischer/Joas 2003; 137–171.
Krüger/Lindemann 2006; Krüger 2001). – : Philosophische Anthropologie als systematische Philo-
sophie  – Anspruch und Grenzen eines gegenwärtigen
Literatur Denkens. In: Gerhard Gamm/Mathias Gutmann/Alex-
andra Manzei (Hg.): Zwischen Anthropologie und Gesell-
Cassirer, Ernst: An Essay on Man [1944]. New Haven/Lon- schaftstheorie  – Zur Renaissance Helmuth Plessners im
don 1972. Kontext der modernen Lebenswissenschaften. Bielfeld
– : Die »Tragödie der Kultur« [1942]. In: Ders.: Zur Logik 2005, 15–32.
der Kulturwissenschaften: fünf Studien. Darmstadt 1993, Mathias Gutmann
103–127.
Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie. Freiburg
2008.
– /Joas, Hans (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Frank-
furt a. M. 2003.
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
in der Welt [1940]. Wiesbaden 1986.
Groethuysen, Bernhard: Philosophische Anthropologie.
München 1928.
Gutmann, Mathias: Erfahren von Erfahrungen. Dialektische
Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthro-
pologie. 2 Bde. Bielefeld 2004a.
– : Uexküll and contemporary biology: Some methodologi-
cal reconsiderations. In: Sign Systems Studies 32, 1/2
(2004), 169–186 [2004b].
– : Hugo Dingler und das Problem der Deszendenztheorie.
In: Peter Janich (Hg.): Wissenschaft und Leben. Bielefeld
2006, 113–122.
– /Weingarten, Michael: Der Typusbegriff in philosophi-
scher Anthropologie und Biologie – Nivellierungen im
Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft. In: Ger-
hard Gamm/Mathias Gutmann/Alexandra Manzei
(Hg.): Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheo-
99

4. Lebensphilosophie Weil das Leben das Unmittelbare ist, wird die Tech-
nik (s. Kap. II.1) in dieser Sicht oft als das Mittelbare
verstanden, dessen Gegebensein (u. a. durch Gott)
Die Lebensphilosophie ergänzt die Technikphiloso- metaphysisch erklärt werden kann (vgl. Karafyllis
phie um die Auseinandersetzung mit dem Phäno- 2011). Dahinter verbirgt sich das schöpferische An-
men ›Leben‹, u. a. über die aktuellen Strömungen fangsproblem von Leben wie Technik. Bergsons
der Biophilosophie und Bioethik. Ihr Gedankengut Konzept vom Menschen als kreativem homo faber
findet sich u. a. in den Handlungsfeldern »Technik (Handwerker) ist Teil seiner religionsphilosophi-
und Leben« (s. Kap. IV.C.1), »Technik und Kultur« schen Auseinandersetzung in Die beiden Quellen der
(s. Kap. IV.C.4) und in der philosophischen Anthro- Moral und der Religion (Jena 1933), womit die Tech-
pologie (s. Kap. IV.A.3). nik einen metaphysischen Anfang zugeschrieben
bekommt.
Schon 1907 legte Bergson seine weit rezipierte
Lebensphilosophie Schrift L ’ évolution créatrice vor (dt. 1912), die eine
Kritik an der naturwissenschaftlichen Perspektive
Die Lebensphilosophie ist eine Strömung, deren Be- enthielt: »Das Organische ist wissenschaftlich nur
ginn Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und erforschbar, wenn der Organismus zuvor einer Ma-
Wilhelm Dilthey markieren, die ihren Höhepunkt schine angeglichen worden ist« (Bergson 1912, 99).
im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit Henri Damit wendet er sich gegen den sog. Technomor-
Bergson, Max Scheler, Georg Simmel, Helmuth phismus. Denn der Organismusbegriff ist aus einer
Plessner, Ortega y Gasset u. a. hatte, und die ihre Maschinenmetaphorik hervorgegangen (von griech.
stärkste Kritik bei dem Marxisten Georg Lukács er- organon: Werkzeug), die es ermöglicht, gedanklich
fuhr (Albert 1995). Ihre Wurzeln reichen zurück zu Zwecke in die Lebewesen zu legen und ihre Existenz
den Sensualismus- und Vitalismus-Debatten, die teleologisch zu erklären. Bergson kritisiert damit
sich im Vorfeld der Gründung der Disziplin Biologie Kants Kritik der Urteilskraft (1790), insbesondere
um 1800 entwickelten. Die Lebensphilosophie den Abschnitt »Kritik der teleologischen Urteils-
wehrte sich dagegen, dass das Leben auf einen ab- kraft«. Gemäß Kant können wir Lebewesen nur als
strakten Begriff gebracht werden sollte. Sie entstand technomorphe Organismen erklären, d. h. ›als ob‹
als kritische Strömung gegen eine mechanistische sie etwas zweckhaft Konstruiertes wären. Dieses
und deterministische Sicht auf das Leben durch die gegen eine monistische Sicht auf das Leben vorge-
Naturwissenschaften, aber auch gegen eine intellek- brachte Diktum Kants berührt den heutigen technik-
tualistische Sicht auf das Leben durch die Universi- ethischen Diskurs: in der Frage nach der angemesse-
tätsphilosophie, wie sie durch die Erkenntnistheorie nen Sprache. Denn mit Kant haben Biowissenschaft-
Kants vermittelt wurde; dabei bezog sie durchaus na- ler keine andere Wahl, als in technischen Termini
turwissenschaftliche Kenntnisse mit ein. Die Le- über Lebewesen (d. h. als Organismen) zu sprechen.
bensphilosophie verstand sich daher als Versuch ei- Dabei verbleibt eine nicht-erklärbare Restsumme,
ner umfassenden Strategie, Gesellschaft und Leben die Kant mit dem berühmten Satz ausdrückte, dass
als Ganzes zu betrachten und dem Leben des Men- es wohl niemals einen Newton des Grashalms geben
schen in einer technisierten Welt Sinn und Bedeu- werde (KdU, § 75, Kant 1974, 352).
tung zu verleihen. Kants Aufforderung zum dialektischen Denken
Die Sehnsucht nach einem unmittelbaren Zugriff des Lebens, die durch Hegel noch bestärkt wurde,
auf das Leben beförderte den ethischen Intuitionis- bleibt für technikethische Ansätze wichtig, weil
mus, der durch das Immanenzprinzip entsteht: Weil durch die technomorphen Metaphern und Modelle
der Mensch lebt, erkennt und empfindet, erkennt der Biowissenschaften (z. B. die Zelle als ›Fabrik‹)
und empfindet er auch anderes, das lebt. Diese meta- der Anteil des Nicht-Technischen verborgen wird.
physische Argumentation, die sich etwa bei Bergson Dadurch wird es für die Ethik immer schwieriger,
findet, hat sich durch eine christlich geprägte Rezep- das zweckgerichtete Tun und Unterlassen im
tionsgeschichte über Teilhard de Chardin und Al- Umgang mit dem Lebenden als im Bereich der
bert Schweitzer bis in die Bioethik erhalten (s. u.), menschlichen Handlungsmöglichkeiten und der
findet sich aber auch in der Prozessphilosophie Al- freiheitlichen Entscheidung zu kommunizieren. Die
fred North Whiteheads und bei postmodernen Den- Technomorphie fordert auf, zwischen dem alltags-
kern wie dem Bergson-Interpreten Gilles Deleuze. sprachlichen und dem biowissenschaftlich-techni-
100 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

schen Verständnis von Leben beständig zu vermit- Biologie« ist der Lebenskünstler ein Gestalter seines
teln, d. h. die Restsumme des Nicht-Technischen eigenen Lebens. Dafür braucht er (und sie) verschie-
sprachlich fassbar zu machen. denste Techniken.
Bergson nivelliert die Kantische Konsequenz, Von ihren Methoden her arbeitet die Lebensphi-
dass der nach Erklärung des Lebens bedürftige losophie phänomenologisch, geschichtsphiloso-
Mensch sich seine Erklärungsbedingungen immer phisch und hermeneutisch; sie widmet sich v. a. der
wieder bewusst machen muss: dass der Organismus Narrativität und Historizität des Lebens in Erste und
eben keine Maschine ist. Die Philosophie des Lebens Dritte-Person-Perspektive. Die Strömung, die enge
habe laut Bergson anders vorzugehen, nämlich dass Verbindungen zum englisch-französischen Sensua-
sie das Organische erfassen muss, ohne es vorher zu lismus, zum Neukantianismus wie zur frühen Dar-
mechanisieren (Albert 1995, 95). Dies bedeutet ei- win-Rezeption (Herbert Spencer) hat, übte einen
nen Rückgriff auf die physiko-chemischen Grundla- starken Einfluss auf die Entwicklung der Disziplin
gen. Das Lebendige wird nach Bergson durch den Soziologie aus. Bei einigen Vertretern der Lebens-
sog. élan vital aus der Materie hervor und weiter ge- philosophie wird die Welt und in ihr die Kulturen
trieben, d. h. durch eine Lebensenergie. Sie verfährt (Oswald Spengler) als organismisch strukturiert und
nicht-deterministisch. Auch der Mensch ist von die- im Überlebenskampf verstanden. Jene Sicht, die zur
ser Lebensenergie durchdrungen, die ihn mit der massiven Kritik an der Lebensphilosophie beitrug
Welt interaktiv verbindet. Erkenntnistheoretisch er- und sie in die Nähe der Blut und Boden-Ideologien
möglicht dies einen Intuitionismus, mit der sich das des Nationalsozialismus rückte, lebt in einigen bio-
Lebendige durch eine Besinnung auf die Dauer des und ökozentrischen Ansätzen der Umweltethik fort.
jeweiligen Lebens mit der Welt verständigt. Anstelle Die Sonderstellung des menschlichen Geistes sowie
einer Finalität des Lebens (teleologisches Denken) des Subjekts und seiner Handlungsmöglichkeiten
betont Bergson die Medialität und Temporalität des werden dabei bestritten und so ggf. anti-demokrati-
Lebens, die auch Kreativität und Technik hervor- sche Haltungen bestärkt. Technik ist in dieser Sicht
bringe. Bergson sah sich selbst nicht als Vitalist, un- ein Störfaktor des Lebens und der organismischen
terstützte aber mit seiner Vorstellung vom élan vital Harmonie. Eine andere umstrittene Variante der Le-
Emanationstheorien des Lebens, die sich auch in bensphilosophie, die u. a. durch Ernst Jünger vertre-
Debatten zur Selbstorganisation wiederfinden. ten wurde, feiert im Rückgriff auf Nietzsches ›Willen
Seit Nietzsches Diktum »Lebt gefährlich!«  – ein zur Macht‹ die technische Welt und entwirft einen
Motto gegen das durch technische Kontrollierbar- von Natur aus mangelhaft ausgestatteten Menschen.
keit erzeugte Sicherheitsgefühl des Maschinenzeital- Der Mensch kann in die technische Sphäre eintau-
ters  – debattierte die Lebensphilosophie auch die chen dadurch, dass er sich selbst technisch verbes-
Frage nach dem Verhältnis von Leben und Gefahr. sert – zuvorderst durch die Ausstattung mit Waffen
Denn dadurch, dass Lebewesen sich wandeln, kön- (zu Militärtechnik s. Kap. V.15). Die natürlich gege-
nen sie niemals derart kontrollierbar sein wie Ma- bene Welt scheint lebensfeindlich. Diese Traditions-
schinen  – was Risikodebatten im Bereich der Le- linie lässt sich z. T. in der Transhumanismus-Bewe-
benswissenschaften eine andere Qualität verleiht als gung wiederfinden, die Schnittmengen mit den Dis-
in den Technikwissenschaften (hierzu s. Kap. V.7 kursen zum human enhancement (s. Kap. V.8) hat.
und Kap. V.23). Ebenso berührt es die Frage, ob die Andere Lebensphilosophen wandten sich explizit
Technik deterministisch und damit als Antagonist gegen eine organismische Sicht jenseits der tieri-
der menschlichen Freiheit zu verstehen ist (zum schen Welt, welche für Pflanze und Tier immer nur
Technikdeterminismus s. Kap. IV.A.9). José Ortega y eine Umwelt sein kann, z. B. Helmuth Plessner. In
Gasset und Georg Simmel erachteten das Wagnis seiner Sicht ist die Technik ein Mittel der Welter-
und damit die Gefahr als eine Grundstruktur des schließung für den Menschen, der dadurch eine
menschlichen Lebens, das technische Bestrebungen Welt hat, in der er sein kann. Obwohl der Höhe-
immer mit einschließt. Es bedarf daher keiner expli- punkt der Lebensphilosophie mit dem Kulturpessi-
ziten Aufforderung im Nietzscheschen Sinne, ge- mismus und der Kritik am Fortschrittsoptimismus
fährlich zu leben. Es gilt vielmehr, die Ambivalenz (s. Kap. III.5) zeitlich konvergiert, waren viele Le-
des Lebens auszuhalten und dennoch zu handeln. bensphilosophen der Technik gegenüber aufge-
Dies bereitete eine weitere philosophische Richtung schlossen. So verband Ortega y Gasset 1939 in seiner
der Gegenwart vor: die Philosophie der Lebenskunst. Meditación de la técnica die Zwecke der Technik mit
Anschließend an Ortegas Diktum »Biographie statt einer gelungenen Biographie:
4. Lebensphilosophie 101

»Die Reform der Natur oder die Technik ist wie jeder schluss daran entwickelte sich seit den 1970er Jahren
Wechsel, wie jede Veränderung eine Bewegung mit ih- die sog. evolutionäre Ethik: Es scheint dann, als sei
ren beiden Enden a quo und ad quem. Der Terminus a die Entwicklung der menschlichen Moralität in das
quo ist die Natur, wie sie hier ist. Um sie zu verändern,
muß man den andern Terminus festsetzen, an den sie Evolutionsgeschehen gleichermaßen (koevolutiv)
sich anpassen wird. Dieser Terminus ad quem ist der einbezogen wie der Prozess der Technisierung. Da-
Lebensplan des Menschen. Wie wollen wir seinen ei- bei wird die Willensfreiheit (zu Neurotechnik s. Kap.
gentlichen Zweck nennen? Offenbar: Sich-wohl-Befin- V.18) und Handlungsfreiheit des individuellen Men-
den, Glück« (Ortega y Gasset, o. J., 478). schen unterkomplex betrachtet und damit auch die
Diese Argumentationslinie der Lebenskunst, in der Technikkompetenz.
das Glück über die gesamte Lebensspanne als das
Prioritäre zu den technischen Möglichkeiten der Ge-
genwart festgesetzt wird, ist z. B. in Debatten um die Bioethik
genetische Diagnostik wichtig (s. Kap. V.7). Soll man
seine Biographie inklusive der Krankheiten im Alter Die Bioethik verbindet Argumentationsstränge der
genau planen können oder soll man das Wagnis ein- Lebens- und der Biophilosophie unter explizit ethi-
gehen (dürfen), in die Ungewissheit hinein zu leben? schen Gesichtspunkten. Sie entwickelte sich ab Mitte
Für diagnostische Techniken wird aus ethischer des 20. Jahrhunderts ausgehend von den Neubestim-
Sicht zunehmend ein Recht auf Nichtwissen in An- mungen des Anfangs und des Endes menschlichen
schlag gebracht. Lebens und hat daher enge Verbindungen zur Medi-
zin-, jüngst auch zur Tierethik (u. a. in Fragen der
Xenotransplantation; s. Kap. IV.C.3). Als Kernge-
Biophilosophie biete der Bioethik im Vergleich mit einer Technik-
ethik der Biofakte (zu Leben und Technik s. Kap.
Die Biophilosophie ist eine jüngere Strömung, die IV.C.1) bestehen die Klärung des moralischen Status
sich auf Argumente der Lebensphilosophie bezieht von Lebewesen und vorpersonalen Lebensstufen in
(u. a. Hans Jonas), allerdings stärker das experimen- ihrer nicht-technisierten Form (mit Hilfe der SKIP-
tell-herstellende Handeln im Labor und die biotech- Argumente: Spezies-, Kontinuitäts-, Identitäts- und
nischen Methoden der Nachkriegszeit aufgreift. Sie Potentialitätsargumente) sowie der u. a. aus dem
versteht sich als Wissenschaftsphilosophie im Sinne theologischen Bereich stammenden Natürlichkeits-
einer Theoretischen Biologie und fokussiert damit argumente. Aus der Lebensphilosophie übernimmt
auf Organismen und höher aggregierte Einheiten die Bioethik in manchen Ausprägungen das Imma-
des Lebens wie Spezies, Populationen und Ökosys- nenzprinzip, den Vitalismus sowie den ethischen In-
teme. Im Zentrum steht, meist ausgehend von Im- tuitionismus (auch als Mitleidsethik), der über die
manuel Kants Einsicht in die Technomorphie des Forderung nach dem Eigenwert bestimmter Lebens-
Organismus und Aristoteles ’ Verständnis einer Te- formen und dem zugewiesenen Recht auf ihr Gedei-
leologie des Lebenden, die Objektkonstitution (z. B. hen bzw. ihre Lebensvollendung bis hin zum absolu-
des Modellorganismus) und die Rolle der Beobach- ten Lebensschutz führen kann.
tung (vgl. Köchy 2008). Für die Technikethik ist sie Die tradierten Argumente finden auch in Exper-
in erster Linie relevant, um den biologischen Mög- tenstellungnahmen zur Synthetischen Biologie (s.
lichkeitsraum für die technische Einflussnahme und Kap. V.23) Eingang: In der Stellungnahme der Eidge-
damit die Grenzen der Machbarkeit sowie der Er- nössischen Ethikkommission für Biotechnologie im
klärbarkeit (z. B. natürlicher Zwecke) aufzuzeigen. Außerhumanbereich (EKAH) in der Schweiz kam
Die Biophilosophie entwickelt wichtige Leitdifferen- die Frage nach einer Bakterienethik auf. Die Mehr-
zen wie die von organisch/anorganisch, biotisch/abio- heit der Mitglieder vertrat eine biozentrische Posi-
tisch, Organismus/Lebewesen und Artefakt/Bio- tion, dergemäß Bakterien einen Eigenwert haben,
fakt, die in der Bio- und Technikethik angewandt »weil sie Lebewesen sind«; ihr Eigenwert sei aber in
werden. einer Güterabwägung hierarchisch niedrig zu ge-
Dabei kann sich die Rolle der Beobachtung auch wichten (EKAH 2010, 15–18). Eine kleine Minder-
auf einen metaphysischen Standpunkt aus beziehen, heit votierte für eine pathozentrische Position, die
von dem aus die Evolution und die Entwicklung des auf das Mitleid mit Bakterien abhob. Die Bioethik
menschlichen Geistes als diachron beobachtbar transportiert über die Biotechnologien das sog. An-
scheinen (Evolutionäre Erkenntnistheorie). Im An- thropomorphismus-Problem in die Technikethik:
102 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Lebewesen werden dann nicht mit Begriffen der 5. Kulturalistische


Technik (Technomorphie), sondern mit Begriffen
des menschlichen Lebens, Zusammenlebens und ge- Technikphilosophie
genseitigen Anerkennens erklärt wie z. B. der Würde
und des Interesses (Anthropomorphie). Der Methodische Kulturalismus ist eine in Marburg
Ein weiteres Kerngebiet der Bioethik ist die Inte- begonnene Weiterentwicklung des Methodischen
grität, verstanden als leibliche Ganzheit, was für die Konstruktivismus der Erlanger und Konstanzer
ethische Beurteilung der Organspende, des Organ- Schule. Mit diesem teilt er die Einsichten des linguis-
handels bis hin zum nicht institutionell geregelten tic und des pragmatic turn, d. h. das Programm einer
Body Shopping wichtig ist. Die Begründungs- und philosophischen Sprachkritik sowie ein Begrün-
Bewertungsansätze der Bioethik sind ebenso vielfäl- dungsprogramm von Erkenntnis aus lebensweltli-
tig wie die der Technikethik und speisen sich aus den chem Handeln, ergänzt um einen cultural turn (›Kul-
ethischen Traditionen (vgl. Düwell 2008). turalistische Wende‹), der die Geschichtlichkeit des
Menschen und seiner Lebenswelt rekonstruierend
Literatur berücksichtigt (Hartmann/Janich 1998). Die philo-
Albert, Karl: Lebensphilosophie. Freiburg 1995.
sophisch-kritische Aneignung der historisch vorge-
Bergson, Henri: Schöpferisches Werden. Jena 1912 (frz. fundenen Kultur betrifft neben klassischen Themen
1907). wie Sprache, Wissenschaften oder Institutionen pro-
Düwell, Marcus: Bioethik. Methoden, Theorien und Berei- minent die Technik als zentrales Beispiel für typisch
che. Stuttgart/Weimar 2008. menschliche Kulturleistungen. Damit sind die
Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie
Hauptaspekte einer Kulturalistischen Technikphilo-
im Ausserhumanbereich (EKAH): Synthetische Biolo-
gie  – Ethische Überlegungen (Medienmitteilung vom sophie bereits genannt: Technik soll als Kulturleis-
10.05.2010). In: http://www.ekah.ch/fileadmin/ekah-da tung handelnder Menschen unter historischen Be-
teien/dokumentation/publikationen/d-Synthetische_ dingungen in sprachkritisch geklärten Begriffen be-
Bio_Broschuere.pdf (19.05.2012). schrieben (›rekonstruiert‹) werden.
Jonas, Hans: Das Prinzip Leben. Frankfurt a. M. 1997.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. Werkaus-
gabe. Bd. X. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt
a. M. 1974 [KdU]. Technik und Technikphilosophie
Karafyllis, Nicole C.: Das technische Dasein. In: Erich Hörl
(Hg.): Die technologische Bedingung. Berlin 2011, 229– Das Wort ›Technik‹ (s. Kap. II.1) steht für einen Re-
266. flexionsbegriff wie die hier ebenfalls einschlägigen
Köchy, Kristian: Biophilosophie zur Einführung. Hamburg
2008. Wörter ›Natur‹, ›Kultur‹ und ›Mensch‹ (letzteres, so-
Ortega y Gasset, José: Betrachtungen über die Technik. In: fern es nicht eine evolutionsbiologische Klassifika-
Ders.: Signale unserer Zeit, Stuttgart/Salzburg [o. J.], tion bezeichnet, sondern ein verantwortlich han-
445–511 (span. 1939). delndes und erkennendes Kulturwesen meint). Das
Nicole C. Karafyllis heißt, diese Substantive sind keine Prädikatoren, die
an Beispiel und Gegenbeispiel bestimmbar zur Be-
zeichnung etwa für natürliche oder kultürliche Ge-
genstände verwendet werden. ›Technik‹ steht viel-
mehr für eine Rede über technische Aspekte von
Sachverhalten (wie entsprechend die anderen Sub-
stantive für eine Rede über natürliche, kultürliche
oder menschliche Aspekte stehen).
Schon deshalb liegt es nahe, dass Technik in einer
Reflexionswissenschaft Philosophie als eigene Bin-
destrichphilosophie ähnlich der Naturphilosophie,
der Sprach- oder Kulturphilosophie betrieben wird.
Zwar fehlt der Technik das Ansehen der Wissen-
schaften, das die Wissenschaftstheorie trägt, oder die
Zuneigung zur Natur, die eine Naturphilosophie be-
flügelt. Technikphilosophie gilt gelegentlich sogar als
philosophisches Leichtgewicht. Aber das könnte ein
5. Kulturalistische Technikphilosophie 103

missverständliches Erbe der griechischen Antike Damit sind die beiden philosophisch grundlegen-
sein, wo der banausos, der Handwerker (ebenso wie den Aspekte des Technischen genannt: Das Attribut
der Sklave und die Frau) nicht die Rechte des polites, ›technisch‹ kommt den vom Menschen in bestimm-
also des Bürgers der Polis genoss. Dieser widmete ter Absicht hergestellten Gegenständen zu, die sich
sich weniger der körperlichen Arbeit als der Politik darin nicht nur in natürlichen, sondern auch in sitt-
und der Erkenntnis (episteme) in der Form der theo- lichen (›praktischen‹) Aspekten unterscheiden. Sie
ria, so dass etwa das technische Wissen eines Archi- können ihre Aufgaben, mit dem lateinischen Lehn-
medes nicht als Wissenschaft galt. wort bezeichnet, ihre Funktion, besser oder schlech-
Technik als Kulturphänomen wirft also schon im ter erfüllen. Da dies nicht zuletzt vom Können des
ersten Schritt eine Fülle von begrifflichen Fragen auf, Herstellers abhängt, wird technisch nicht nur auf die
die mit ihrer reichen Geschichte und ihren variieren- künstlichen Produkte, sondern auch auf das Produ-
den Wertschätzungen zusammenhängen. Deshalb zieren selbst angewandt (und entsprechend bewer-
sollen hier die Verhältnisse von Technik zu Kultur tet).
und Natur, zu Wissenschaft und Geschichte, zu Ethik
und Politik in den sprachlichen Mitteln ihrer Darstel-
lung philosophisch-kritisch reflektiert werden. Technik und menschliches Handeln

Die antiken Abgrenzungen des Technischen finden


Zwei Hauptaspekte der Technik sich wieder in den handlungstheoretischen und
sprachphilosophischen Unterscheidungen einer
Ungeachtet der begrenzten Wertschätzung, welche Kulturalistischen Technikphilosophie. Der Mensch
die Technik in der griechischen Antike unter den zeigt nicht nur seine angeborenen, natürlichen Ver-
Philosophen genoss (s. Kap. IV.A.1), finden sich haltensweisen, etwa die Folgen seiner Körperlichkeit
doch die ältesten und wichtigsten Unterscheidungen (wie Schwere, Volumen oder Temperatur), seiner
zum Technischen bei Aristoteles. Einerseits ver- Lebendigkeit (wie Stoffwechsel, Alterung oder Fort-
dankt sich seinen Vorlesungen über Natur (Physik) pflanzung) und seiner Tierlichkeit (wie Reizbarkeit,
die definitorisch explizite Unterscheidung von ›na- Beweglichkeit oder Zielgerichtetheit), sondern er ist
türlich‹ als dem, was den Grund seines Entstehens ein gemeinschaftliches Lern- und Kulturwesen: Der
und seiner Veränderung in sich selbst trägt, und aristotelische Lehrsatz »Der Mensch zeugt den Men-
›technisch‹ als dem, was künstlich, d. h. vom Men- schen« meint keine biologische Trivialität, sondern
schen handelnd hervorgebracht wird (Aristoteles verweist für das Lebewesen mit Sprache und Ver-
1995a). Andererseits findet sich in seiner Nikoma- nunft (zoon logon echon) darauf, dass es den spezifi-
chischen Ethik (Aristoteles 1995b) die Unterschei- schen Lern- und Kultivierungsweg zum Menschen
dung von (moralisch neutralem) Herstellen, der nur in menschlicher Gemeinschaft (zoon politikon)
poiesis, und dem ethisch zu bewertenden, auf an- vollziehen kann.
dere Menschen gerichteten Beziehungshandeln, der Versteht man modern unter Handeln das, was (im
praxis. Unterschied zum bloßen natürlichen Verhalten)
Diese aristotelischen Unterscheidungen dürfen dem Menschen vom Menschen als Verdienst oder
nicht irrtümlich als ›ontologische‹ Einteilungen der Verschulden zugerechnet wird, dann gewinnen die
Welt in disjunkte Klassen von Gegenständen gelesen spezifisch menschlichen Kulturleistungen der Tech-
werden. Vielmehr bezeichnen die aristotelischen nik als poiesis bzw. praxis ihren theoretischen und
Einteilungen in natürlich/technisch und in tech- ethischen Charakter (s. Kap. IV.A.1).
nisch/praktisch jeweils nur Aspekte, die durchaus an Schon die kinetischen Regungen des Menschen
ein und demselben Gegenstand auftreten können. zerfallen in das natürliche Verhalten (wie atmen,
Wie die künstliche Marmorstatue zugleich die na- verdauen, wachsen, stolpern, Reflexe) und in die
türlichen Eigenschaften des Marmors aufweist, so meist mühsam erlernten, kulturspezifischen Bewe-
kann die ›technisch‹ produzierte Silberschale ›prak- gungshandlungen (wie gehen, tanzen, schwimmen,
tisch‹ zugleich ein zu Unrecht entwendetes Diebes- zeichnen, schreiben, musizieren). Kulturbewegun-
gut sein. Beliebt bei den Philosophen der klassischen gen heißen poietisch, wenn sie auf das Verfertigen
Antike war, die menschlichen Tugenden am Beispiel bleibender Produkte gerichtet sind, die in weiteren
der Eignung eines Werkzeugs für seinen Zweck zu Handlungen als Mittel zu verwenden sind – von den
erklären. Tätigkeiten des Schreiners und des Kochs bis zu all-
104 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

täglichen Lebensvollzügen wie Ankleiden oder Auf- Tierprodukte dagegen sind nicht technisch. Wenn
räumen von Dingen. Menschen in der Biologie die Sprache bereitstellen,
Das lateinische Lehnwort ›Kultur‹ (von lat. colere, in der sie über sich selbst sprechen, anthropomor-
cultum), das die heutige deutsche Alltagssprache nur phisieren, d. h. vermenschlichen sie das Tier durch
noch als Ostbaum- oder Bakterienkultur in ur- unangemessen metaphorische, d. h. übertragene
sprünglicher Bedeutung kennt, ist vom primären Rede. Der Naturalismus verkennt also nicht nur
Wortsinn her der menschliche, planvolle technische Werkzeugherstellung und -verwendung als typisch
Eingriff in das Vorgefundene, das primär das Natür- menschliche Technikleistungen durch falsche Zu-
liche ist. Kurz, Kulturgeschichte beginnt als Technik- schreibungen zu Tieren, sondern auch tierische
geschichte mit der Kultivierung der Natur durch Lerngeschichten in ihrer natürlichen Umgebung
Ackerbau, Viehzucht und Handwerk. Kultur ist pri- und erst recht solche in kultürlichen Situationen
mär von Menschen nach seinen Bedürfnissen und (vom dressierten Polizeihund bis zur neukaledoni-
Zwecken bewirkte, technische Naturveränderung. schen Laborkrähe), wenn er sie naturalistisch als In-
dizien für Kultur im Tierreich interpretiert.
Menschliche Kulturleistungen beruhen vor allem
Technik zwischen Natur und Kultur auf sprachlicher Kommunikation und Kooperation,
die ihrerseits nur als Beteiligungs- und/oder als Ge-
Nachdem Technik so kulturalistisch bestimmt ist – in meinschaftshandlungen verstanden werden können.
der häufig anzutreffenden Zweideutigkeit, dass Wör- Handeln, und Sprechen als Teilbereich des Han-
ter sowohl einen Vorgang wie dessen Ergebnis be- delns, stehen als das, wofür sich Menschen gegensei-
zeichnen – und nachdem die Technik also ebenso im tig verantwortlich machen. Diese Praxis steht unter
Sinne der Beherrschung einer Tätigkeit wie im Sinne Symmetriebedingungen wie »gleiche Rechte, gleiche
deren dinglicher Produkte verstanden wird, ist vor Pflichten«! Solche Symmetrien sind weder zwischen
Naturalisierungen der Technik zu warnen. Auch Mensch und Tier, ja zwischen Mensch und Natur,
Tiere produzieren Dinge, die unabhängig von ihnen noch unter Tieren erreichbar. Denn sie bleiben an
weiter bestehen, wie Vogelnester und Spinnennetze, ein Sprechen gebunden, das Bedeutung und Geltung
Bienenwaben und Termitenhügel, Erdhöhlen und Bi- beansprucht, und damit auch an die wechselseitigen
berdämme, Produkte, die von einzelnen Individuen Deutungen des Handelns eines menschlichen Ge-
oder nur von ganzen Stämmen erzeugt werden. Bio- genübers, das prinzipiell nur unter den Hypothesen
logen und Ethologen betonen gern die Zweckmäßig- der Zweck- und der Sinnrationalität gelingt.
keit solcher Tierprodukte, und behaupten, dass Tiere
Werkzeuge herstellen und gebrauchen. Dabei ver-
kennen sie in der Zuschreibung von Zweckrationali- Technik und Wissenschaft
tät zu tierischem Verhalten die Abhängigkeit der Be-
griffe von Zweck und Mittel von sprachlicher Kom- Technisches Wissen ist, im Unterschied zum theore-
munikation und menschlich-kooperativer Praxis mit tischen (wörtlich übersetzt, zu einem durch Zu-
ihren spezifisch menschlichen Symmetriebedingun- schauen gewonnenen) Wissen, an Handlungsvoll-
gen. Sie bemerken also nicht die Verwechslung der züge und an die Beachtung von Gelingen und Erfolg
eigenen Zweckrationalität als Zuschreibung zu Tier- des Handelns gebunden. Es ist ein knowing how im
leistungen mit diesen als Naturvorgängen. Unterschied zu einem knowing that.
Bei menschlichen, eine Kultur schaffenden Hand- Während die Geschichte der Wissenschaften – je
lungen ist zu unterscheiden zwischen Beteiligungs- nach Definition von Wissenschaft – nur wenige tau-
handlungen, die nur unter Beteiligung anderer Men- send oder gar hundert Jahre alt ist, gehört, wie oben
schen ausgeführt werden und gelingen können (wie gesagt, die Technikform menschlicher Lebensbewäl-
ein Wettlauf oder ein Gespräch), und Gemein- tigung von Anfang an zu seinem kultürlichen Wesen
schaftshandlungen, die nur in Gemeinschaft und und wird deshalb gelegentlich als des Menschen
mithilfe anderer Menschen ihren Zweck erreichen ›zweite Natur‹ bezeichnet. Dienen technische Mittel
können (wie einen Verein gründen). Individual- der Erfüllung primärer und sekundärer Bedürfnisse
handlungen sind dann solche, die auch dem einzel- wie Nahrung, Kleidung und Behausung bzw. Werk-
nen Menschen gelingen und erfolgreich sein kön- zeuge, Waffen und Schmuck, so lösen sich in den his-
nen. Spezifisch technische Handlungen können al- torischen Anfängen der Wissenschaften die neuen
len drei Typen angehören. Formen des Wissens vom direkten Nutzen ab und
5. Kulturalistische Technikphilosophie 105

gewinnen durch ihre sprachliche Form der Theorie matik sowie auf die empirische Kontrolle ihrer Er-
ein Eigenleben. Das wichtigste Beispiel dafür liegt gebnisse beschränkt gesehen wurde (Logischer Em-
(neben Astronomie und Musiktheorie) in den An- pirismus und Kritischer Rationalismus), waren die
fängen der Geometrie der frühen griechischen An- technischen Bedingungen ihres Erfolges aus dem
tike: Wie sich aus Zeichen- und Töpferkunst die Blick geraten. Das heißt, es wurde nicht ausreichend
räumlichen Formen des Kreises und der Kugel und beachtet, dass das technische Erfinden, Konstru-
aus den gezackten Bandmustern die Formen des ieren und Produzieren einerseits die Gegenstände
Winkels und der Parallelität entwickeln, so entstehen naturwissenschaftlicher Forschung liefern, anderer-
die sprachlich argumentativen Muster einer Kunst seits aber selbst gewissen Sachzwängen wie denen
des Aufweisens und Begründens von Behauptungen der zweckmäßigen Reihenfolge von Teilhandlungen
an Artefakten. Die Geometrie hat, ungeachtet ihres in technischen Herstellungsprozessen unterliegen.
dann von Platon und von Aristoteles verschieden be- Wie im täglichen Leben, in dem jeder, der ein ge-
stimmten Status, ihr Fundament in der Technik, ge- kochtes Ei essen möchte, dieses zuerst kocht und
nauer in der handwerklichen poiesis. Und die astro- dann schält, so ist jeder technische Forschungs- und
nomische Anwendung der Geometrie auf die Bah- Produktionsprozess an Reihenfolgen von Schritten
nen von Sonne, Mond und Sternen verdankt sich gebunden, die nur durch den Zweck des Produkts
dem handwerklichen Abbild der Himmelshalbkugel bestimmt sind. Wer eine bemalte Holzstatue her-
in einer steinernen Hohl-Halbkugel (skaphe, Schale) stellt, muss zuerst schnitzen und dann malen; das ist
mit Hilfe eines zentrischen Zeigers (gnomon). weder ein Natur- noch ein Sittengesetz, sondern eine
Damit muss Technik weder im Sinne einer biolo- Folge der Zweckrichtung von Ketten poietischer
gisch dominierten Anthropologie als Kompensation Handlungen auf ein bestimmtes Produkt hin. Nicht
eines Mängelwesens interpretiert werden (Gehlen nur jeder technische Fertigungsprozess eines Pro-
1971), noch müssen, wie in den Anfängen der Tech- dukts, auch jeder Forschungsprozess enthält immer
nikphilosophie (Kapp 1877), technische Produkte und prinzipiell Ketten von Schrittfolgen, die nur bei
als Ersatz oder Erweiterung menschlicher Organe Strafe des Misserfolgs vertauscht werden können.
bewertet werden. Sie sind, wo sie über die Befriedi- Für den Übergang auf sprachliche Beschreibung der
gung primärer und sekundärer Bedürfnisse hinaus- Ergebnisse (oder auch Vorschreibungen, etwa in
gehen, Konstitution und Mittel einer Wissenschaft Funktionsnormen) ist diese Schrittfolge entschei-
von einer kognitiv zu ordnenden und technisch zu dend. Das heißt, der Technikcharakter naturwissen-
beherrschenden Natur. Diese Rolle behält Technik schaftlicher Forschung unterwirft diese einem Prin-
bis in die modernste, heutige Laborforschung, die zip der methodischen Ordnung (Janich 2001).
ihre Gegenstände handwerklich-technisch erzeugen Vergleichbar der Kulturleistung der Sprache hat die
muss, um an ihnen Ergebnisse des Messens, Beob- Kulturleistung der Technik also einen weit reichenden
achtens und Experimentierens zu gewinnen und Einfluss auf die menschliche Vernunft: Wir ordnen
darin eine spezifisch naturwissenschaftliche Form nicht nur unsere poiesis, sondern ebenfalls unsere
der Erfahrung als technisch reproduzierbare hervor- praktischen (u. a. sprachlichen) Handlungen metho-
zubringen (Dingler 1928). disch so, dass z. B. das Bitten vor dem Danken und das
Addieren vor dem Multiplizieren kommt – wie das
(technische) Backen vor dem Essen des Kuchens.
Technik und Rationalität Dieser Beitrag der Technik zu einer Kultur der
Vernunft wird heute auch in aktuellen Kontroversen
Unter dem Einfluss der eindrucksvollen Erfolge em- weit unterschätzt (s. Kap. IV.C.4). Denn die metho-
pirischer Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert dische Ordnung poietischer wie prinzipiell aller
und der empiristischen Uminterpretation des klas- Handlungsketten – auch für die kinesis gilt: Wer über
sisch-physikalischen Weltbildes durch die Physik einen Graben springen möchte, läuft zuerst an und
des 20. Jahrhunderts geriet, entgegen dem offenkun- springt dann, und nicht umgekehrt – zeigt eine spe-
dig gewachsenen Einfluss der Technik auf alle Berei- zifische Offenheit für das Verhältnis von Zweck und
che des Lebens und der Kultur, diese in ihrer ratio- Mittel, die in den dogmatisch bevorzugten Relatio-
nalitätsstiftenden Wirkung völlig aus dem Blick. Wo nen heutiger Wissenschaften, nämlich den logischen
die Naturwissenschaften in ihrem Selbstverständnis und den kausalen Folgen, nicht anzutreffen sind: Es
und in ihren philosophischen Begleittheorien auf kann sowohl verschiedene Mittel für das Erreichen
die syntaktischen Strukturen von Logik und Mathe- ein und desselben Zwecks geben, als auch ein und
106 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

dasselbe Mittel dem Erreichen verschiedener Zwe- man ohne Zögern vom technischen Fortschritt (s.
cke dienen. Dies wird bei einer ethischen Technikbe- Kap. II.4) und exemplifiziert ihn fachmännisch nach
urteilung stets zu berücksichtigen sein. Kriterien wie Effizienz, Vermehrung und Differen-
Damit erweist sich die Kulturalistische Technik- zierung von Funktionen, Verbilligung von Produk-
philosophie auch als Alternative zu einer Technik- tion und Einsatz, Verkleinerung, Nachhaltigkeit von
philosophie als systemtheoretisch orientierter »Tech- Produkten und Produktionen usw. Mit Bezug auf die
nologie« (Ropohl 1999), die in deskriptiver Distanz handlungstheoretische Explikation des Technikbe-
zu den Rationalitätsnormen und methodischen griffs lässt sich die Geschichtlichkeit von Technik als
Sachzwängen menschlichen Handelns die ethischen deren Kulturförmigkeit erkennen, die ihrerseits auf
und politischen Aspekte der Technik und ihrer Ge- eine Technikförmigkeit von Kultur verweist und
schichte von diesen separiert. Eine Technik-Philoso- eine Rede von Fortschritt und »Kulturhöhe« erlaubt
phie dieses Zuschnitts verliert in der abgehobenen (Janich 2003).
Figur des von Verantwortung freigestellten System- Das Verfertigen von Artefakten als Mittel für wei-
konstrukteurs die Vollzugsperspektive des poietisch tere Handlungen geschieht per se als geplantes Han-
und praktisch handelnden Technikers, und damit deln, das sich an den Zwecken von Produkten (ihrer
die conditio humana in einer Technik als Konstitu- Funktion) orientiert. Pläne als Handlungsvorberei-
ens seiner Kultur. tungen durch Handeln lassen sich zwar nicht ohne
Technik erweist sich in praktizierter Zweckratio- Bezug auf, aber ohne Vollzug der geplanten Hand-
nalität als leistungsfähige Figur für die Bestimmung lungen theoretisch diskutieren. Man nennt dies kon-
viel diskutierter Natur-Kultur-Verhältnisse. Wo es struieren (etwa einer Maschine). Nun gibt es im Feld
etwa um Körper-Geist-Probleme geht, von der For- der Konstruktionen die oben bestimmte methodi-
schung zur Künstlichen Intelligenz bis zu den Neu- sche Ordnung. Man muss z. B. das Rad schon erfun-
rowissenschaften, und wo sich die geistigen Kultur- den haben, um eine Maschine mit mehreren aufein-
leistungen des Menschen beharrlich jeder logisch- ander wirkenden Rädern konstruieren zu können.
definitorischen oder kausalen Reduktion auf die Historisch etwa wurde zuerst das Wagenrad verwen-
naturwissenschaftlich-technisch beherrschten mate- det und dann zur Seilrolle uminterpretiert, d. h. als
riellen Träger-Systeme verweigern, dort kann das Mittel für einen neuen Zweck eingesetzt (Umlen-
zweckrationale Verhältnis verschiedener Beschrei- kung von Zugkräften statt Lastentransport auf Wä-
bungen desselben Gegenstandes Lösungen anbieten. gen). Erst wo der Gebrauch der Seilrolle beherrscht
Die physikalisch-technische Beschreibung einer wird, können dann Wellrad (zwei fest miteinander
Rechenmaschine reicht weder logisch noch kausal verbundene Seilrollen verschiedenen Durchmes-
aus, die Geltung der damit gewonnenen Rechenre- sers) oder Flaschenzug konstruiert werden. Trans-
sultate zu zeigen; denn diese Beschreibungen blei- mission von Zugkräften durch Seilrollen wird durch
ben ja auch dann gültig, wenn die Rechenmaschine Erfindung und Einsatz von Zahnrädern abgelöst.
aufgrund eines Defekts falsche Resultate liefert. Erst wo Zahnräder verfügbar sind, kann das Schne-
Analog hat der Mensch nur ein Hirn für Erkennen ckengetriebe konstruiert werden usw. Das heißt, die
und für Irren, so dass Erkenntnisse nicht als kausale methodische Reihenfolge von Konstruktionen tech-
oder funktionale Leistungen des Hirns im techni- nischer Produkte markiert den Prozess schrittweiser
schen Modell bestimmt werden können. Das heißt, Verbesserung und Differenzierung der Funktion,
Naturgesetze sind neutral gegenüber der Kultur des der als Fortschritt zu einer Entwicklungshöhe tech-
Erkennens und ihrer Unterscheidung von Erkennt- nischer Geräte anzusehen ist – in der jeweilig kohä-
nis und Irrtum. Das lehrt aber nur die Technik als renten, nicht umkehrbaren Folge von Konstruktio-
spezifische Verbindung von natürlichen und kultür- nen, deren spätere jeweils die frühere methodisch
lichen Aspekten derselben Produkte (und diese wie- zur Voraussetzung hat. Fiktiv könnte sich ein solcher
der als Modelle für natürliche Gegenstände). Entwicklungsprozess in der Konstruktionsarbeit
(oder im Kopf) eines einzigen technischen Genies
ohne Bezug auf die Kontingenzen geschichtlicher
Technik und Fortschritt Entwicklungen abspielen.
Anders verhält sich dies bei technischen Entwick-
Technik hat im Verhältnis zur Kultur eine weitere, lungen, die von empirischen Umständen abhängen.
wenig beachtete Rolle. Wo es durchaus strittig ist, ob Dass etwa elektrische Ladung über einen metalli-
es in der Kulturgeschichte Fortschritt gibt, spricht schen Draht zur Erde abfließt, kann nur bei Verfü-
5. Kulturalistische Technikphilosophie 107

gen über Metalldrähte entdeckt werden. Historisch zungen, Mittelwahlen, Ergebnisse, Folgen und Ne-
waren diese schon für mechanische Zwecke (Befesti- benfolgen technischen Handelns sind ebenso unter
gungen, Ligaturen, Schmuck) vorhanden, als ihre ethische Aspekte zu fassen wie das praktische Han-
elektrische Leitfähigkeit (von griech. elektron: Bern- deln, d. h. das Beziehungshandeln zwischen Men-
stein, der sich bei Reiben mit einem Tierfell elek- schen.
trisch auflädt) empirisch zugänglich wurde. Auch Allerdings zeigt gerade diese methodisch-kultu-
hier lässt sich eine unumkehrbare Schrittfolge er- ralistische Sichtweise einen Grund, warum eine auf
kennen, die allerdings nicht rein rational-konstruk- Zukunft gerichtete Technikfolgenbeurteilung mo-
tiv definiert ist, sondern historisch kontingente, em- dellhaft auch für Vorhersagen von Kulturentwick-
pirische Einschlüsse aufweist. Aber auch hier sind lungen zu ethischen oder politisch-rechtlichen Zwe-
(etwa bei Anwendung elektrischer Leitfähigkeit für cken an Grenzen stößt: Da der technische Fortschritt
die Konstruktion von Elektromotoren) eine Höher- immer mindestens mit der Umdeutung von Mitteln
entwicklung technischer Mittel und damit ein Fort- zu neuen Zwecken (wie dem Rad vom Wagenrad zur
schritt (s. Kap. II.4) definierbar. Seilrolle) verknüpft ist und allgemein die oben er-
Berücksichtigt man nun den ursprünglichen wähnte Offenheit von Zweck und Mittel zeigt, sind
Wortsinn von Kultur als zweckrationale Naturverän- keine flächendeckenden Vorhersagen von Folgen
derung, so erweisen sich auch einzelne, kohärente und Nebenfolgen möglich (Grunwald 2000). Denn
kultürliche Entwicklungen als Fortschritt. Die da- die menschliche Phantasie bleibt offen für neue
durch erreichte Kulturhöhe ist aber nicht für ›die‹ Zwecksetzungen und Mittelwahldeutungen. Nie-
Kultur insgesamt, also für die Menge aller kultürli- mand kann vollständig vorhersagen, welche neuen
chen Leistungen definiert, sondern nur für jeweils Zwecke mit schon verfügbaren Mitteln verfolgt oder
einzelne, kohärente Entwicklungslinien. Man denke welche alten Zwecke mit neuen Mitteln erreicht wer-
etwa an die historische und methodische Abfolge den können. Darin findet die Verantwortungspflicht
von Tausch, Geld, Währung, Kredit, Zins, Bank, Ak- des technischen Akteurs für die Folgen seines Han-
tie, Börse, um einen nicht an Geräten und Maschi- delns ihre Grenze.
nen, sondern im Bereich menschlicher praxis liegen-
den Fortschritt zu einer bis dahin unerreichten Kul- Literatur
turhöhe anzuführen (Janich 2003). Zugleich wird
Aristoteles: Physik. Vorlesungen über die Natur. Dt. von
daran sichtbar: Fortschritt bedeutet hier keine mora- Hans Günther Zekl. Hamburg 1995a.
lische Wertung, sondern ist ein theoretischer Aspekt – : Nikomachische Ethik. Dt. von Eugen Rolfes, bearbeitet
der Kulturgeschichte (s. Kap. II.4). von Günter Bien. Hamburg 1995b.
Damit lässt sich die Rede von Paradigmenwech- Dingler, Hugo: Das Experiment. Sein Wesen und seine Ge-
schichte. München 1928.
seln und wissenschaftlichen Revolutionen (Thomas
Gehlen, Arnold: Philosophische Anthropologie. In: Meyers
S. Kuhn) ersetzen durch bzw. ergänzen um eine Rede Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 2. Mannheim 1971, 312–
von technischen Innovationen (im weitesten Sinne). 317.
Die historisch faktische Beschränkung kognitiver Grunwald, Armin: Technik für die Gesellschaft von morgen,
und organisatorischer Fortschritte auf die ihn tra- Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikge-
genden communities ist dabei unter der Prämisse staltung. Frankfurt a. M. 2000.
Hartmann, Dirk/Janich, Peter (Hg.): Die kulturalistische
transsubjektiver Geltung überwunden. Technischer Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstver-
und kultürlicher Fortschritt wird an den Entwick- ständnisses. Frankfurt a. M. 1998.
lungen selbst definiert. Kultur lässt sich damit zu- Janich, Peter: Logisch-pragmatische Propädeutik. Weilers-
mindest partiell als objektivierbares Phänomen mit wist 2001.
Entwicklungsrichtungen bestimmen. Die Ge- – : Technik und Kulturhöhe. In: Armin Grunwald (Hg.):
Technikgestaltung zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
schichtlichkeit der Technik liefert hier das Modell Berlin/Heidelberg 2003, 91–104.
für die Geschichtlichkeit der Kultur. Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik
[1877]. Düsseldorf 1978.
Ropohl, Günter: Allgemeine Technologie. Eine Systemtheo-
Technik und Ethik rie der Technik. München/Wien 1999.
Peter Janich

Wegen ihrer intrinsischen Verbindung von Technik


mit menschlichem Handeln ist deren Verantwor-
tungspflichtigkeit unschwer festzustellen. Zweckset-
108 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

6. Kritische Theorie der Technik Menschen. Technikethik hat deshalb die Aufgabe,
»die normativen Hintergründe von Technikbeurtei-
lungen und Technikentscheidungen nach Maßstä-
Kritische Theorie ist zuallererst Gesellschaftstheo- ben rationeller Argumentation zu rekonstruieren,
rie. Auch eine Kritische Theorie der Technik hätte um auf diese Weise zu ethisch reflektierten und ver-
diesem Diktum zu genügen. Darin liegen ihre Be- antwortbaren Entscheidungen zu kommen« (s. Kap.
sonderheit und auch ihre Stärke als Basis für eine I.). Unklar ist jedoch in der heutigen, globalisierten
ethische Bewertung gesellschaftlicher Technisie- und pluralisierten Gesellschaft, was als Vernunft
rungsprozesse. Um zu verstehen, was diese Stärke und damit als allgemeingültiger Bezugspunkt von
ausmacht, ist zunächst zu fragen, vor welche gesell- Kritik gelten kann. Wurde der normative Grund ge-
schaftlichen und wissenschaftlichen Probleme sich sellschaftlichen Handelns in vormodernen Gesell-
Technikethik heute gestellt sieht, auf die die Kriti- schaften noch metaphysisch verortet, so entstand
sche Theorie eine angemessenere Antwort hätte, als im Zuge der Säkularisierung für moderne Gesell-
andere theoretische Ansätze. Darauf aufbauend las- schaften das Problem, das, was vernünftig und sinn-
sen sich in einem zweiten Schritt Grundprämissen voll ist, innerweltlich, aus Gesellschaft und Ge-
der Kritischen Theorie benennen, die für eine Bear- schichte heraus, begründen zu müssen. Alle An-
beitung der genannten Problemstellungen als sinn- sätze jedoch, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts
voll erscheinen. Im dritten und vierten Abschnitt versuchten, Moral und Recht in der Vernunftfähig-
werden zentrale Positionen Kritischer Theorie dar- keit des Menschen, im subjektiven Geist zu begrün-
aufhin befragt, wie sie sich mit Wissenschaft, Tech- den, erwiesen sich spätestens mit den beiden Welt-
nik und Gesellschaft auseinandergesetzt haben. Auf kriegen und dem Holocaust als ambivalent (vgl.
dieser Basis lässt sich dann abschließend fragen, hierzu Habermas 1985). Diese Ambivalenz ist noch
welchen Stellenwert Kritische Theorie heute – ange- heute für jede Technikkritik maßgeblich; sie ist
sichts der Aporien postmoderner Kritik – hat. Grund- und Ausgangsproblem einer jeden Technik-
ethik:
Einerseits ermöglicht erst die Annahme der prin-
Wissenschaftliche und gesellschaftliche zipiellen Vernunftfähigkeit des Menschen die Idee
Problemlagen als Ausgangspunkt der Freiheit und damit der Aufklärung, der Emanzi-
der Technikethik pation und des gesellschaftlichen Fortschritts. Der
Humanismus, die Menschenrechte und nicht zu-
Die Lebensverhältnisse des Menschen sind heute letzt unser gesamtes Rechtssystem gründen noch
tiefgreifend durch Technik und Wissenschaft ge- heute darauf, dass der Mensch prinzipiell zur Ver-
prägt. Gesellschaft und Technik stehen dabei nicht nunft fähig und damit auch für sein Handeln ver-
nur in einer Wechselbeziehung zueinander. Die antwortlich ist. Mehr noch, jede Idee, die Welt ge-
Selbst- und Umweltverhältnisse des Menschen sind waltfrei zum Besseren hin verändern zu wollen,
vielmehr substanziell technisch und wissenschaft- setzt notwendig an der prinzipiellen Vernunftfähig-
lich durchdrungen. Sei es, dass Bio- und Medizin- keit des Menschen an, baut auf Einsicht, statt auf
technologien tief in unser Selbstverständnis als Indi- Zwang. Andererseits hat sich die moderne, subjekt-
viduen eingreifen, wenn das eigene Leben durch die zentrierte Vernunft als repressiv und hegemonial
Organe von Anderen verlängert werden kann, oder erwiesen, sofern sie all jenem, was ihr als das An-
sei es, dass Informationstechnologien Beziehungs-, dere des Geistes erscheint – der eigenen Natur, der
Arbeits- und Kriegsformen ermöglichen, die weder gesellschaftlichen Umwelt, dem Fremden – die Ver-
an Zeit und Raum noch an körperliche Präsenz ge- nunftfähigkeit und damit Handlungsfähigkeit, Au-
bunden zu sein scheinen. Wissenschaftlich fundierte tonomie und Schutzwürdigkeit abspricht. Diese
und konzipierte Technik ist zum Medium geworden Kehrseite einer zur bloßen Zweckrationalität um-
(s. Kap. IV.A.8), das alle gesellschaftlichen Verhält- geschlagenen Vernunft zeigt ihre furchtbaren
nisse vermittelt, die Selbst- und Umweltverhältnisse Konsequenzen beispielsweise in der Ausbeutung
der Menschen, ihre Beziehungs- und Kommunikati- der Natur seit Beginn der Industrialisierung im
onsformen und nicht zuletzt ihre Produktions- und 19.  Jahrhundert oder im Rassenwahn des Natio-
Reproduktionsweisen. nalsozialismus, mit der industriell betriebenen
Technik erweist sich dabei ebenso als Begren- ›Vernichtung unwerten Lebens‹ in medizinischen
zung wie auch als Ermöglichungsbedingung des Euthanasieprogrammen und im Holocaust.
6. Kritische Theorie der Technik 109

Einige Grundprämissen sprochene Selbstverständnis von (Natur-, Gesell-


Kritischer Theorie schafts- und Geistes-) Wissenschaft als immer schon
gesellschaftlich vermittelt, womit grundlegend die
Aus dieser Problematik resultieren für die Technik- Forderung einhergeht, die eigene gesellschaftliche
ethik Aporien, bei denen der Rekurs auf die Kriti- Rolle als Wissenschaft(ler/innen) zu reflektieren.
sche Theorie hilfreich sein kann. Nicht weil Technik Damit verbunden ist die Annahme einer immanen-
das besondere Thema Kritischer Theorie wäre; ten Vermittlung von Wissenschaft, Technik und Ge-
Technikfragen im engeren Sinne geraten vielmehr sellschaft, deren je konkretes Verhältnis historisch
erst seit Mitte der 1960er Jahre in den Fokus Kriti- bestimmt werden muss, um so den jeweiligen Aus-
scher Theorie (vgl. Böhme/Manzei 2003). Vielmehr gangspunkt kritischer Reflexion zu bilden. Und
versteht sich Kritische Theorie als Gesellschaftstheo- nicht zuletzt ist es der hohe methodische und me-
rie, die soziale Verhältnisse nicht nur zum Gegen- thodologische Anspruch, den Kritische Theorie an
stand hat, sondern immer schon an der Herstellung die Vermittlung von Theorie und Empirie stellt.
vernünftiger gesellschaftlicher Verhältnisse interes- Diese Denkbewegungen einer konsequenten Ver-
siert ist. Wissenschaft wird als Teil gesellschaftlicher mittlung von Individuum und Gesellschaft, (Er-
Verhältnisse verstanden; als Akteurin, die ihre ei- kenntnis-)Subjekt und Objekt, Theorie und Empirie
gene Rolle in der Gesellschaft reflektieren und sich sind hilfreich angesichts jener Aporien, vor die sich
positionieren muss. Die Vorstellung, gesellschaftli- postmoderne Gesellschaftskritik angesichts der
che Verhältnisse einfach nur beschreiben zu können, Technisierung gesellschaftlicher Verhältnisse heute
wie es manchen Soziologietraditionen eigen ist, ist gestellt sieht.
diesem wissenschaftlichen Selbstverständnis ebenso
fremd, wie die Praxis einer Ethik, die sich aus-
schließlich als Spezialdisziplin der Philosophie ver- » … vom Interesse an vernünftigen
steht und nicht in gesellschaftliche Debatten ein- Zuständen durchherrscht …«: Kritische
greift. Theorie in ihrer Gründungsphase
Zum anderen hat sich Kritische Theorie in all ih-
ren Erscheinungsformen mit den Schwierigkeiten In der Gründungsphase der 1920er und 30er Jahre
eines normativen Bezugspunktes von Kritik ausein- blieb der normative Bezug auf die Vernunft des
andergesetzt. In allen Ansätzen finden sich dabei Geistes und das Prinzip der Aufklärung für die soge-
dialektische Denkfiguren, die dem schwierigen nannte ältere Kritische Theorie zunächst noch unbe-
Verhältnis von Rationalität und Rationalitätskritik nommen. Als Orientierung zur vernünftigen Gestal-
Rechnung zu tragen suchen. In Abgrenzung zur Phi- tung gesellschaftlicher Verhältnisse diente ihr die
losophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels wird Dia- Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich
lektik dabei explizit nicht als Aufhebungsmodell ver- Engels (vgl. Wiggershaus 1987; s. Kap. IV.A.2). In
standen. (Erkenntnis-)Subjekt und Objekt werden seinem grundlegenden Aufsatz »Traditionelle und
vielmehr »in einem nicht stillzustellenden, konkre- kritische Theorie« (1937/2011) charakterisiert Max
ten Vermittlungszusammenhang« (Demirovic 1999, Horkheimer, einer der Gründungsväter Kritischer
625) als voneinander durchdrungen gedacht, ohne Theorie, diese noch ganz emphatisch durch Emanzi-
jemals identisch zu sein oder in einer übergeordne- pation: »Die Selbsterkenntnis des Menschen ist nicht
ten Einheit aufzugehen. Deutungsabhängigkeit und die mathematische Naturwissenschaft, sondern die
Zeitlichkeit gelten als zentrale Momente der Wahr- vom Interesse an vernünftigen Zuständen durch-
heit und liegen diesem Dialektikverständnis als we- herrschte kritische Theorie der bestehenden Gesell-
sentliche Bestimmungen zugrunde (vgl. Demirovic schaft« (Horkheimer 2011, 215). Bei Gesellschaft
1999, 623 ff.) Insbesondere dieses Dialektikverständ- handele es sich  – anders als bei Natur  – um einen
nis macht die Kritische Theorie für die normativen wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand, der sinn-
Begründungsprobleme einer Technikbewertung at- haft konstituiert sei und sich selbst organisiere. Im
traktiv, die sich nicht mehr auf universelle Maßstäbe Prinzip bestehe deshalb die Möglichkeit, Gesell-
beziehen kann. schaft nach Vernunftkriterien zu gestalten (vgl.
Darüber hinaus lassen sich weitere Grundprämis- Böhme 2003,13 ff.).
sen benennen, die die Kritische Theorie angesichts Diese Auslegung Kritischer Theorie als Gesell-
der oben genannten Problemlagen für Technikethik schaftswissenschaft in Abgrenzung zur Naturwis-
heute interessant macht. Zum einen das schon ange- senschaft basiert jedoch noch auf der Annahme ei-
110 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

ner fundamentalen Differenz von Gesellschaft und Gesellschaft systematisch in eine Vermittlungsposi-
Natur als Erkenntnisgegenständen, denen unter- tion überführt werden. Unter dem Eindruck des Ho-
schiedliche wissenschaftliche Methoden korrespon- locausts und der beiden Weltkriege suchen die bei-
dieren. Zwar war Horkheimer die Wechselwirkung den Hauptvertreter der älteren Kritischen Theorie
zwischen gesellschaftlicher Reproduktion und der das Umschlagen moderner Rationalität in Barbarei
Produktion wissenschaftlichen Wissens durchaus auf die Naturbeherrschung zurückzuführen, die der
bewusst, wenn er schreibt, »Die Beziehung von subjektiven Vernunft mit ihren Prinzipien der Auf-
Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich […] nicht klärung und des Fortschritts innewohne. Aufklä-
im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie« rung habe von jeher »das Ziel verfolgt, von den
(Horkheimer 2011, 213). Bezogen auf die Erkennt- Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren
nisobjekte der Naturwissenschaften blieb er jedoch einzusetzen« (Horkheimer/Adorno 1989, 9), konsta-
einem aus heutiger Sicht reduktionistischen Tatsa- tieren sie und rekonstruieren die Genese des autono-
chenbegriff verhaftet: »Das Experiment hat inner- men Subjekts in der abendländischen Vernunft als
halb der Wissenschaft den Sinn, die Tatsachen in ei- zwiespältig (vgl. Habermas 1985, 132 ff.).
ner Weise festzustellen, die der jeweiligen Situation Wie das autonome Subjekt die innere und äußere
der Theorie besonders angemessen ist. Das Tatsa- Natur als das Andere seiner selbst unterdrücke und
chenmaterial, der Stoff wird von außen geliefert« seiner Selbsterhaltung unterwerfe, so trenne die sub-
(ebd., Hervorh. A. M.). jektive Vernunft vom Objekt der Erkenntnis all jene
Dieser Fokus nahm zwar kritisch die soziale und Eigenschaften ab, die dieses vermeintlich nicht aus-
institutionelle Organisation von Wissenschaft in den machen. Als Objekt wird dabei alles verstanden, was
Blick, dass jedoch auch die Naturobjekte selbst von sich bewusster Subjektivität (vergegenständlicht im
der Naturwissenschaft nicht als bloße Tatsachen vor- Individuum und/oder im Sozialen) entzieht, wie an-
gefunden, sondern als sozial konstituierte Natur ver- dere Subjekte, innere und äußere Natur oder die
standen und erforscht werden müssen, blieb hier Dingwelt. Indem das vernünftige Subjekt das, was es
noch außen vor. Der subsumtionslogische Fokus, nicht ist, nach seinen Rationalitätskriterien identifi-
den die Naturwissenschaft auf ihren Gegenstand ziert, klassifiziert und ordnet, schneide es am Ge-
hatte, schien letztlich als angemessene Theorie und genstand alles ab, was sich dem Begriff nicht füge. In
Methodik, um Natur zu erforschen. Diesem »Zu- diesem Sinne wohne bereits der begrifflichen Be-
trauen in die Wohlbegründetheit von Naturwissen- stimmung Herrschaft inne; alltagsweltlichem Wis-
schaft« (Böhme 2003, 15) korrespondierte auch sen ebenso, wie wissenschaftlichen Deutungen: Ver-
noch ein stark fortschrittsoptimistischer Technikbe- steht man beispielsweise Vernunft als Prinzip des
griff, der aus der positiven Rolle resultierte, die die Geistes, gilt der Leib als unvernünftig; versteht man
Entwicklung der Produktivkräfte in der Marxschen die moderne, westliche Gesellschaft als Inbegriff von
Gesellschaftstheorie spielte. Kritische Theorie ak- Fortschritt und Aufklärung, erscheint die natürliche
zeptierte die Technik wie sie war, »weil sie sie als Umwelt als Mittel zum Zweck, erscheinen andere
Randbedingung und Voraussetzung ihrer Konzepte Kulturen und Gesellschaften als rückständig und
vernünftiger gesellschaftlicher Zustände brauchte« entwicklungsbedürftig.
(ebd.). In diesem Sinne war Technik kein genuiner Notwendig sei deshalb ein Kritikprinzip, das die
Forschungsgegenstand der älteren Kritischen subjektive Vernunft an jene Auslassungen erinnere,
Theorie, sie gelangte vielmehr erst mit dem Werk die sie immer schon selber produziere. Mit der
von Herbert Marcuse (1964/1972) und seinen Schü- dialektischen Denkfigur des »Eingedenkens der Na-
lern (vgl. Feenberg 1999) in deren Fokus. tur im Subjekt« (Horkheimer/Adorno 1989), das
Adorno später in seinem Hauptwerk Negative Dia-
lektik (1966/1994) zur »Philosophie des Nicht-Iden-
Zwischen Moderne und Postmoderne: tischen ausbaut«, formulieren Horkheimer und
Kritische Theorie als Philosophie Adorno ein solches Kritikprinzip. Die Philosophie
des Nicht-Identischen des Nicht-Identischen fordert das Denken auf, mit
jedem Begriff, jeder Identifikation auch gleichzeitig
Erst mit dem zweiten bedeutsamen Grundlagentext seine Auslassungen, sein Nicht-Identisches zu reflek-
der Kritischen Theorie, der Dialektik der Aufklärung tieren – ohne jedoch positiv zu benennen, was dieses
(1944/1989) von Max Horkheimer und Theodor W. Nicht-Identische denn sei, da es sich ansonsten wie-
Adorno, sollte die Gegenüberstellung von Natur und der um eine Identifikation handele. Mit diesem Re-
6. Kritische Theorie der Technik 111

flexionsprinzip ist eine Kritikstrategie formuliert, Affirmative Vergesellschaftung


die sich konsequent weigert zu benennen, was (rich- und die Aporien postmoderner Kritik
tig) ist. Sie hält der subjektiven Vernunft einen Spie-
gel vor, der das Denken immer wieder auf sich selbst Wissenschaft und Technik sind heute in einer Weise
zurückwirft: Beim autonomen Subjekt  – und nicht vergesellschaftet, die Horkheimer nicht ahnen
bei dem Anderen der Vernunft – gilt es, nach Herr- konnte, als er die (Natur-)Wissenschaft für ihre Ge-
schaft zu suchen, nach Unvernunft, nach der ›Zwei- sellschaftsferne kritisierte (Horkheimer 2011). So
ten Natur‹. nehmen ökonomische, militärische und andere
Mit diesem Reflexionsprinzip formulieren Hork- nichtwissenschaftliche Interessen heute wesentlich
heimer und Adorno ein Kritikprinzip, das konse- Einfluss auf Forschung und Entwicklung (zur Mili-
quent immanent bleibt; sowohl Vernunft als auch tärtechnik s. Kap. V.15). Auch große technische Sys-
Herrschaft sind auf Seiten gesellschaftlicher Subjek- teme, wie die Energieversorgung oder der medizi-
tivität zu suchen. Überall dort, wo sich Herrschaft in nisch-industrielle Komplex, sind im Experiment
den Schleier des Guten und Wahren kleidet, wie in und in der Anwendung wesentlich auf gesellschaftli-
einer Pflicht zur Gesundheit oder der Reduktion che Infrastruktur angewiesen. Angesichts dieser »af-
menschlicher Existenz auf die Biologie, lässt sich mit firmativen Vergesellschaftung von Wissenschaft und
diesem Prinzip fragen: Qui bono? Wer hat ein Inter- Technik« (Schmid-Noerr 2001, 58 ff.) erscheinen
esse an welchem Wissen, welchen Auslassungen, an normative Forderungen nach Partizipation und
welcher technischen Verfügung? Ein weiterer Nut- Selbstbestimmung, wie sie für die ältere Kritische
zen der Dialektik des Nicht-Identischen ist, dass sich Theorie zentral waren, heute als zumindest nicht
dieses Kritikprinzip auf alle Wahrheiten anwenden mehr ausreichend. Selbstkritik ist vielmehr »längst
lässt. Es ist prinzipiell nicht nur möglich, bürgerliche zum Modus gesellschaftlicher Reproduktion«
Herrschaft und kapitalistische Vergesellschaftung zu (Gamm 2003, 28) geworden, ohne jedoch die beste-
kritisieren; auch jene Gesellschaftstheorien, die sich henden Verhältnisse substantiell zu verbessern.
in der kritischen Tradition der Moderne verorten, In diesem Sinne sieht sich Technikethik heute mit
sind gefordert, ihre Ausgrenzungen, ihr hegemonia- einer Vergesellschaftung von Wissenschaft und
les Potential zu reflektieren. Technik konfrontiert, die die Suche nach allgemein-
Für das oben beschriebene Dilemma der norma- verbindlichen Bezügen von Kritik zusätzlich er-
tiven Begründung gesellschaftlichen Handelns er- schwert. Gemäß dem Diktum Kritischer Theorie,
weist sich die Philosophie des Nicht-Identischen in- dass Gesellschaftstheorie nicht abstrakt argumentie-
sofern als hilfreich, als sie das Dilemma zwar nicht ren kann, sondern ihren Wahrheitsgehalt an den ge-
auflöst, sie begegnet ihm jedoch theoretisch auf der sellschaftlichen Verhältnissen messen muss, wäre
Höhe der Probleme: Politisch und ethisch ermög- ein normativer Bezugspunkt von Kritik ausgehend
licht sie die Aufklärung über die immanenten Gren- von diesem gesellschaftlichen Status Quo zu entwi-
zen einer rein instrumentellen Vernunft und ihrer ckeln. Jeder unvermittelte Rückbezug auf eine Herr-
Manifestationen in Wissenschaft und Technik  – schafts- und Machtkritik, die die theorie- und real-
ohne hegemonial einen besseren Weg vorzuschrei- geschichtlichen Entwicklungen seit dem Zweiten
ben. Angesichts der Aporien, vor die sich Technik- Weltkrieg nicht reflektiert, würde sich als konserva-
kritik zu Beginn des 21. Jahrhunderts gestellt sieht, tiv und gesellschaftsblind erweisen. Wenn auch viele
mag das als wenig erscheinen. Der folgende Blick auf aktuelle Ansätze Kritischer Theorie heute noch eine
die real- und theoriegeschichtlichen Entwicklungen differenzierte theoretische Auseinandersetzung mit
der letzten 50 Jahre bestätigt jedoch, dass ein affir- Technik ausblenden, so gibt es doch verschiedene
mativer Bezug auf die subjektive Vernunft, mit ihren Theorierichtungen, an die eine Kritische Theorie der
Prinzipien der Freiheit, der Aufklärung und des ge- Technik in diesem Sinne anknüpfen könnte.
sellschaftlichen Fortschritts, zwar einerseits nicht Jürgen Habermas beispielsweise – Schüler Ador-
mehr ungebrochen möglich ist, andererseits jedoch nos und Horkheimers und Begründer der neuen
notwendiger denn je erscheint. Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – antwor-
tet auf das normative Begründungsproblem, indem
er trotz aller Schwierigkeiten an der Idee der Selbst-
begründung der Gesellschaft in der modernen Ver-
nunft festhält. Er verortet den normativen Grund
von Kritik jedoch nicht im subjektiven Geist, son-
112 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

dern in der Sprache, bzw. in der Intersubjektivität So emphatisch, wie Gamm hier das Gelingen ei-
idealer Sprechakte. Kommunikation, so Habermas, ner kritischen Theorie in der Postmoderne als un-
sei prinzipiell auf Verständigung ausgerichtet, wes- möglich charakterisiert, so stark bleibt er dennoch
halb ihr ein Vernunftmoment innewohne, das als ihren Argumentationsfiguren verhaftet: Einer Dia-
allgemeiner normativer Bezugspunkt gelten könne lektik, die – als permanenter Prozess gedacht – Ein-
(vgl. Habermas 1981/1987). Obwohl seine Diskurs- zelheit und Allgemeinheit als vermittelt denkt, ohne
theorie auch heftig kritisiert wurde – als inhaltsleer, sie zugunsten eines Ersten aufzuheben; einer starken
kontrafaktisch von idealen Sprechakten ausgehend Subjektivität, die als Gegenprinzip zu einer hegemo-
und damit als realitätsfern (vgl. Gamm 2003, 30) – nialen Allgemeinheit auftritt; und nicht zuletzt
hatte sie nachhaltigen Einfluss auf demokratietheo- bleibt auch seine auf Dauer gestellte Kritikpraxis
retische Strömungen in der Politikwissenschaft und eine Selbstkritik der Vernunft im modernen Sinne.
damit auch auf (partizipative) Verfahren demokrati- Andernfalls ließe sich nicht erklären, wodurch eine
scher Technikbewertung (vgl. Grunwald 2010). Kritik, die sich inhaltlich durch nichts (oder alles)
Als ein anderes Beispiel lassen sich poststruktura- auszeichnet, letztlich legitimiert ist. Entgegen seiner
listische Theorien nennen. Mit Jacques Derrida, Mi- Intention lässt sich Gamm damit in eine Reihe von
chel Foucault, Giorgio Agamben u. a. hat sich seit theoretischen Ansätzen einordnen, die versuchen,
den 1970er Jahren eine Theorierichtung herausge- die Grundlinien Kritischer Theorie für eine Kritische
bildet, die die Denkstrukturen abendländischer Theorie der Technik und der Natur fruchtbar zu ma-
Theorietraditionen dekonstruiert und den Blick auf chen (als Überblick vgl. Böhme/Manzei 2003).
die Bemächtigung des Lebendigen lenkt, die im Mit diesen Beispielen postmoderner Gesell-
Kern moderner Macht liegt. Hieran können Arbei- schaftskritik wird nochmals deutlich, vor welche
ten anschließen, die, z. B. für eine kritische Ausein- Probleme sich eine gesellschaftstheoretisch fun-
andersetzung mit der Biotechnologie, dekonstrukti- dierte Technikethik heute gestellt sieht. Weder
vistische Theorien mit einem Rekurs auf die ältere theoretisch noch politisch kann die normative
Kritische Theorie verbinden (vgl. Manzei 2003; We- Selbstbegründung von Kritik heute hinter die ge-
ber 2003). Ihr Interesse ist es, konsequent antipositi- sellschaftliche Diagnose der Dialektik der Aufklä-
vistisch zu argumentieren, ohne einen normativen rung zurück – ein universeller normativer Maßstab
Standpunkt jenseits von Vernunft und Aufklärung lässt sich nicht (mehr) positiv angeben, ohne hege-
einzunehmen. monial zu werden, während sich individuelles und
Als letztes Beispiel einer postmodernen Antwort gesellschaftliches Handeln gleichzeitig ohne allge-
auf das Begründungsproblem soll der Ansatz des meingültige Normen nicht legitimieren lässt. Die
Darmstädter Philosophen Gerhard Gamm erwähnt affirmative Vergesellschaftung von Wissenschaft und
werden. Eine kritische Theorie, so schreibt er, sei Technik fordert vielmehr von jeder ernstzunehmen-
endgültig nicht mehr möglich, sofern sie in klassi- den Technikkritik eine elaborierte Reflexion ihres
scher Manier im Namen einer allgemeinen Vernunft eigenen normativen Bezugspunktes. Hier verspre-
argumentiere und auf einen daran gemessenen Man- chen die Grundprämissen Kritischer Theorie zwar
gel hinweise. keine Lösung; ihre dialektischen Vermittlungsfigu-
»Kritik besitzt keinen externen Gegenhalt mehr, weder ren ermöglichen jedoch eine Analyse der historisch
in der Geschichte noch in den letzten Gründen von ko- konkreten Konstellation von Technik, Wissenschaft
gnitiven oder archaischen oder leiblichen Weltbezügen und Gesellschaft, von der eine normative Begrün-
[…]. Wenn aber radikal mit jeder externen […] Refe- dung der Technikethik ihren Ausgang nehmen
renz für unsere Urteils und Handlungssicherheit gebro-
kann.
chen wird, […] dann ändert sich auch die Form der Kri-
tik, die, nur auf sich selbst gestützt, allein in ihrem Voll-
zug sich orientieren kann; kurz, Kritik wird radikal auf
Performativität, auf Vollzug als Substanz der Kritik um-
Literatur
gestellt« (Gamm 2003, 30).
Adorno, Theodor W: Negative Dialektik [1966]. Frankfurt
Performative Subjektivität (im Sinne eines perma- a. M. 81994.
nenten Vollzugs von Kritik) soll hier den Platz beset- Böhme, Gernot: … vom Interesse an vernünftigen Zustän-
zen, den in der Subjektphilosophie Immanuel Kants den durchherrscht … In: Ders./Alexandra Manzei (Hg.):
Kritische Theorie der Technik und der Natur. München
die ›Spontaneität‹ einnahm, soll die Verweigerung 2003,13–25.
gegenüber einem hegemonialen Allgemeinen er- – /Manzei, Alexandra (Hg.): Kritische Theorie der Technik
möglichen und so einen neuen Anfang gestatten. und der Natur. München 2003.
7. Feministische Technikphilosophie 113

Demirovic, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die 7. Feministische


Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter
Schule. Frankfurt a. M. 1999. Technikphilosophie
Feenberg, Andrew: Questioning Technology. London 1999.
Gamm, Gerhard: Kritische Theorie nach ihrem Ende. In:
Gernot Böhme/Alexandra Manzei (Hg.): Kritische
Theorie der Technik und der Natur. München 2003, 25–36. Charakteristika und Forschungsfragen
Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung  – Eine Ein-
führung. Berlin 22010. Feministische Technikphilosophie untersucht die
Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne.
Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985. Verwobenheit von Geschlechterverhältnissen mit
– : Theorie des kommunikativen Handelns [1981]. Bd. 1 und technologischer Forschung und Entwicklung. ›Tech-
2, Frankfurt a. M. 41987. nik‹ wird dabei grundsätzlich als kulturelles Projekt
Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie und Produkt verstanden, das in soziokulturellen
[1937]. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Prozessen von Personen in ihren jeweiligen sozio-
Frankfurt a. M. 2011, 205–260.
– /Adorno, Theodor W: Dialektik der Aufklärung: Philoso- kulturellen Positionierungen mit vielfältigen politi-
phische Fragmente [1969]. Frankfurt a. M. 1989 (engl. schen und ökonomischen Interessen hergestellt
1944). wird. ›Geschlecht‹ wird dabei als Kategorie verstan-
Manzei, Alexandra: Körper – Technik – Grenzen. Kritische den, die keine Eindeutigkeit von sich aus hat, deren
Anthropologie am Beispiel der Transplantationsmedizin. Deutung vielmehr gerade auch im Zusammenhang
Münster/Hamburg/London 2003.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch [1964]. mit Technologieentwicklung ständig neu verhandelt
Neuwied/Berlin 51972. wird. Daher untersucht feministische Technikphilo-
Schmid-Noerr, Gunzelin: Zur sozialphilosophischen Kritik sophie technologische Prozesse, die dazu beitragen,
der Technik heute. In: Zeitschrift für kritische Theorie 12 dem Geschlecht Eindeutigkeit zu verleihen, seine
(2001), 51–68. Normalität und Abweichung zu bestimmen und
Weber, Jutta: Umkämpfte Bedeutung. Naturkonzepte im
Zeitalter der Technoscience. Frankfurt a. M. 2003.
seine Zuordnung in einer hierarchischen Ordnung
Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theo- zu regeln. Feministische Technikphilosophie fragt
retische Entwicklung, politische Bedeutung. München/ erstens, auf welche Weise technologische Entwick-
Wien ²1987. lungen mit tradierten Geschlechterhierarchien ver-
Alexandra Manzei bunden sind, die Personen mittels geschlechtlich de-
finierter Identitäten und Körper gesellschaftlichen
Strukturen eindeutig und ungleich zuordnen. Zwei-
tens fragt sie, auf welchem Weg technologische Ent-
wicklungen dazu beitragen können, stereotype Bil-
der und Bedeutungen von Geschlecht zu hinterfra-
gen und hierarchische Geschlechterordnungen zu
überwinden.
Feministische Technikphilosophie fragt, drittens,
nicht nur nach den materiellen und diskursiven
Konsequenzen technologischer Entwicklung für
Personen unterschiedlichen Geschlechts, sondern
auch, in welchem Zusammenhang technologische
Forschung und Entwicklung mit den spezifischen
Bedürfnissen und Wünschen einzelner und ganzer
Gruppen steht. Sie untersucht, inwiefern ein ge-
schlechtlich definiertes kulturelles Wertesystem spe-
zielle Bedürfnisse und Wünsche nach spezifischen
technologischen Entwicklungen erst hervorbringt,
auf welche Weise diesen durch technologische For-
schung begegnet wird und wer in welcher Weise da-
von profitiert. Feministische Technikphilosophie
fragt allerdings auch nach Möglichkeiten, mittels
technologischer Forschung und Entwicklung zu ei-
ner geschlechtergerechten gesellschaftlichen Ent-
114 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

wicklung beizutragen, in welcher weder der Zugang schen Untersuchungen über die Erforschung und
zu technologischen Ressourcen vom Geschlecht von Entwicklung der Reproduktionstechnologien ge-
Personen abhängt, noch die Zuschreibung techni- speist wurde (Saetnan et al. 2000). Dabei standen zu-
scher Kompetenz, noch die Entscheidung über Steu- nächst Fragen nach dem Verhältnis von Geschlecht
erungen technologischer Forschung. Mit Blick auf und Autonomie sowie nach dem Verhältnis von Ge-
globale Strukturen tradierter Ungleichheit wird in schlecht und menschlicher Natur im Zentrum der
der feministischen Technikphilosophie Ausschluss Auseinandersetzung und verlangten nach einer Ori-
und Einschluss, Ausbeutung von Ressourcen, Profite entierung durch Ansätze feministischer Ethik (Hof-
und Privilegien mit der Vision einer an demokrati- mann 1999). Es wurde untersucht, warum die medi-
schen Werten orientierten Kultur des Cyberfeminis- zintechnologische Behandlung des weiblichen Kör-
mus konfrontiert und erörtert. pers sehr rasch im Mittelpunkt der Forschung und
Eher an den Rändern der akademischen Philoso- Entwicklung im Bereich der In-vitro-Fertilisation
phie situiert, stellt die feministische Technikphiloso- stand, obwohl damit eigentlich dem Problem männ-
phie ein transdisziplinäres Feld dar, das einerseits licher Unfruchtbarkeit begegnet wurde (Oudshoorn
fließende Grenzen zur auch empirisch ausgerichte- 1994). Ebenso wurde erforscht, warum in Bezug auf
ten – und ohnehin schon transdisziplinären – fe- Contrazeptiva in ähnlicher Weise die medizintech-
ministischen Wissenschafts- und Technologiefor- nologische Behandlung des weiblichen und nicht
schung aufweist. Andererseits verbindet die feminis- des männlichen Körpers fokussiert wurde (Ouds-
tische Technikphilosophie verschiedene Bereiche hoorn 2005). In beiden Fällen konnte Nelly Ouds-
innerhalb der Philosophie, wie politische Philoso- hoorn zeigen, dass die entscheidenden Faktoren
phie, Erkenntnistheorie, Philosophiegeschichte und nicht in der Natur der Sache bzw. der unterschiedli-
insbesondere Ethik. Bemerkenswert scheint, dass es chen biologischen Ausstattung der Körper lagen,
bisher nur wenige Ansätze in der feministischen sondern in den historisch bedingten Unterschieden
Technikphilosophie gibt, die über einige allgemei- der Verfügbarkeit von Frauen und Männern als For-
nere Überlegungen hinaus Versuche starten, den schungsgegenstände bzw. in der sozial konstruierten
umfangreichen Diskurs zur feministischen Ethik unterschiedlichen Zuschreibungspraxis von Schmerz-
systematisch mit der feministischen Technikphilo- empfindlichkeit und Zuverlässigkeit auf die Ge-
sophie zu verknüpfen. Hier gibt es dringende For- schlechter.
schungsdesiderate. Unter Bezugnahme auf konkrete empirische For-
schungen haben Vertreter/innen feministischer
Technikphilosophie umfassende Analysen abgelei-
Zur Geschichte tet. Insbesondere Susanne Lettow spricht sich in ih-
rer Kritik an den Biophilosophien (s. Kap. IV.A.4)
Die Entstehung der feministischen Technikphiloso- dagegen aus, »Philosophie vom empirischen Wissen
phie ist im Zusammenhang mit der internationalen fernzuhalten« (Lettow 2011, 290) und entsprechende
Frauenbewegung in den 1970er Jahren zu verstehen, Begriffe lediglich metaphorisch aufzugreifen. Gegen
die innerhalb wie außerhalb der Hochschulen zu ei- eine Aufspaltung von Philosophie und Natur- und
ner grundlegenden Wissenschafts- und Technikkri- Technikwissenschaften als zwei Kulturen argumen-
tik geführt hat. tiert sie für eine philosophische Auseinandersetzung
Die Reproduktionstechnologien stellten dabei ei- mit aktuellen Entwicklungen technowissenschaftli-
nen konstitutiven und kontroversen Bereich femi- cher Forschung. Dies sei einerseits bezüglich einer
nistischer Technikphilosophie dar. Shulamith Fire- umfassenden Macht- und Herrschaftskritik geboten,
stone propagierte die neuen Reproduktionstechno- insbesondere im Zusammenhang mit den noch stets
logien als Chance für die Befreiung der Frauen von hierarchischen Geschlechterverhältnissen. Anderer-
der Tyrannei der Fortpflanzung (Firestone 1970). seits gelte es auf diesem Weg Perspektiven und Mög-
Demgegenüber sah Gena Corea darin eine Intensi- lichkeitshorizonte zu öffnen, im Hinblick auf eine
vierung der Herrschaft von Männern über Frauen »wünschenswerte Zukunft« (ebd., 294).
(Corea 1985). In diesem Spannungsfeld entwickelte Als eine Pionierin feministischer Technikphilo-
sich eine internationale feministische Technikde- sophie erörtert Elisabeth List in ihrem Buch Vom
batte, die sowohl von utopischen Visionen einer von Darstellen zum Herstellen (2007) die Funktion der
Geschlechteregalität gekennzeichneten Gesellschaft Naturwissenschaften und Technologien in der
als auch von umfassenden historischen und empiri- Entwicklung des Kapitalismus. Sie stellt dem viel be-
7. Feministische Technikphilosophie 115

schworenen Wahrheitsanspruch die technowissen- Wünsche, Bedürfnisse, Präferenzen und Erfahrun-


schaftliche Verflechtung mit ökonomischen Interes- gen als repräsentativ für alle zukünftigen Nutzer/in-
sen, persönlichen Ambitionen und politischen Vor- nen betrachtet. In der Robotik wird die ›Implemetie-
haben gegenüber. Auf dem Weg vom Darstellen zum rung‹ von Sozialität und Emotionalität in Artefakte
Herstellen von Wirklichkeit stellen ihr zufolge die als nur scheinbare Aufnahme feministischer Ratio-
Chemie des 19. Jahrhunderts mit der Synthese neuer nalitätskritik hinterfragt (s. Kap. V.21). Dadurch
Substanzen im Labor (s. Kap. V.24) und die Moleku- werde die Konstruktionsleistung der Erfinder/innen
larbiologie des 20. Jahrhunderts mit der gentechni- einerseits verdeckt und andererseits erhöht, jedoch
schen ›Herstellung‹ von Organismen entscheidende werde damit nicht zur Beseitigung von Geschlech-
Schritte dar. Ihre These von der Gewalt als latentes terstereotypen und Hierarchisierungen beigetragen
Merkmal des wissenschaftlichen Habitus belegt List (Weber 2010).
mit Beispielen für die Ausrichtung wissenschaftli-
cher Forschung auf Kriegsziele und (neo-)koloniale
Unterwerfung. List kritisiert die den modernen Na- Zentrale Fragen und Ansätze
turwissenschaften zugrundeliegende Objektivierung
des Selbst- und Weltverhältnisses und plädiert für Wegweisend für die feministische Technikphiloso-
ein neues Verständnis des Kosmos als Zusammen- phie wurde das »Manifesto for Cyborgs« (Haraway
hang des Lebendigen. Hierfür müssten das Bild vom 1985, dt. 1995). Es war geleitet von der Idee, dass es
Selbst, das Bild von Erkenntnis, von der Natur und notwendig ist, die moderne Geschlechterdichotomie
insbesondere auch die Bilder vom Weiblichen und zu überwinden, um eine demokratischere Zukunft
Männlichen neu gezeichnet werden. zu erreichen. Demnach müssen Frauen an den tech-
nologischen Prozessen beteiligt werden, gerade weil
technologische Entwicklungen die Realität aller Ge-
Themen der feministischen schlechter gestaltet. Erstens seien alle Menschen, un-
Technikforschung abhängig vom Geschlecht, längst Cyborgs, also cy-
bernetic organisms. Das bedeutet, dass sich niemand
Weitere Fokuspunkte der Debatte stellen der diskur- mehr der Verwobenheit beispielsweise des eigenen
sive Ausschluss von Frauen aus der Technik, das Lebens oder des eigenen Körpers mit der technolo-
Verhältnis von Mensch und Maschine bzw. die ›Ver- gischen Artefaktualität moderner Kultur entziehen
menschlichung‹ und damit ›Vergeschlechtlichung‹ könne. Zweitens sei die männliche Dominanz in der
der Technik dar (Berghahn 1984; Saupe 2002). Die Technologie keine logische oder materielle Notwen-
weitverbreitete Meinung, dass Technologie eine digkeit, sondern veränderbar. Es sei sogar historisch
Männerkultur sei, wurde als mächtiger kultureller und politisch dringend notwendig, feministische
Mythos entlarvt, mit dem Frauen systematisch von Perspektiven in technologische Prozesse und Erfin-
Entscheidungsprozessen in technologischer For- dungen einzubringen, anstatt sich auf eine ideali-
schung und Entwicklung ausgeschlossen wurden sierte und marginalisierte weibliche Geschlechter-
und der Beitrag von Frauen zur Technologieent- position zurückzuziehen. Drittens könne die/der/
wicklung marginalisiert wurde (Wajcmann 1991). das Cyborg im Verzicht auf eine eindeutige Positio-
Die Erkenntnis Judy Wajcmanns von Technik als so- nierung in naturalisierten Geschlechtergegensätzen
zialer Konstruktion (s. Kap. IV.A.10) eröffnete eine eine für feministische Politik interessante Leitfigur
grundlegende Erweiterung des Forschungsfeldes der sein. Die Cyborg-Figur wird also für eine verantwor-
feministischen Technikphilosophie. Die aktuelle tungsvolle und Vergnügen bereitende Verwischung
Studie Technologies of Inclusion. Gender in the Infor- von Dichotomien wie Natur/Technik, weiblich/
mation Society zeigt, dass es bis heute nicht selbst- männlich, Tier/Mensch, Objekt/Subjekt stark ge-
verständlich ist, dass alle in gleicher Weise in die In- macht, die als herrschaftsstützend analysiert werden.
formationsgesellschaft einbezogen sind und in glei- Damit wurde sowohl die konstitutive Verknüpfung
cher Weise davon profitieren (Sørensen/Faulkner/ von Männlichkeit und Technologie in Frage gestellt
Rommes 2012). Im aktuellen Prozess des Technolo- als auch einer Vielfalt der möglichen Gestaltung von
giedesigns geht es darum, zu prüfen, ob eine soge- Technik gedanklicher Raum gegeben.
nannte I-Methodology mehr oder weniger unbe- Die Dynamik der Mensch-Maschine-Schnittstelle
wusst den Design-Prozess strukturiert, das heißt, ob und darüber hinaus des Mensch-Maschine-Verhält-
die bzw. der Designer/in ihre bzw. seine eigenen nisses ist zentrales Ergebnis von Lucy Suchmans Stu-
116 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

die Human-Machine Reconfigurations (2007). Sie be- realisieren (Weber 2001; Reiche/Kuni 2004). Aktu-
trachtet diese Schnittstelle in Anlehnung an Donna elle feministische Technikphilosophie greift die the-
Haraway als materiell-semiotische Netzwerke, die oretische und praktische Strategie der Verwischung
zwar von Menschen hergestellt werden, in denen von Identitätskategorien auf. So vertritt die schwedi-
diese jedoch ebenso involviert und sogar objektiviert sche Technikphilosophin Catharina Landström in
sein können. In Anlehnung an Judith Butler (1993) ihrem Aufsatz »Queering Space for New Subjects«
und Karen Barad (2003) beschreibt Lucy Suchman die These, dass die neuen Informations- und Kom-
die Mensch-Maschine-Schnittstelle als dynamischen munikationstechnologien statische Identitätskon-
Prozess der wiederholten Materialisierung von Nor- zepte erschweren und neue Möglichkeiten der
men, in dem sich Bedeutungen verschieben können. Subjektproduktion eröffnen. Die Schwierigkeit,
Mit Butler argumentiert sie dafür, dass körperliche Identitäten in Chatrooms, Mailing-Listen, Online-
Geschlechterunterschiede eine dynamische Materia- Diskussionsforen oder Web-Blogs zu überprüfen,
lisierung von umstrittenen Geschlechternormen eröffne die Möglichkeit der zukunftsgerichteten
darstellen. Mit Barad schlägt sie vor, ein Ding oder Subjektkonstitution jenseits von Authentizität (»ich
Objekt als Materialisierung von umstrittenen nor- logge mich als das ein, was ich werden will«). Land-
mativen Gestaltungen der Materie zu begreifen (vgl. ström diskutiert das Für und Wider dieser neuen
Suchman 2007, 272). Das heißt, technologische Ob- technologischen Gegebenheiten für emanzipatori-
jekte, die entwickelt werden, müssen zwar in einem sche Politik. Sie stellt den Chancen der Anerken-
kulturellen Zusammenhang verständlich sein und nung von gesellschaftlich benachteiligten sozialen
anerkannt werden; sie bergen allerdings immer auch Gruppen durch identitätspolitisch begründete
Möglichkeiten über die Wiederholung anerkannter Emanzipationsstrategien die Chancen der vielfälti-
Normen hinauszuweisen. Das Verständnis von Ma- gen und unvorhersehbaren Möglichkeiten, Subjekt-
schinen ist dabei kein statisches, im Entwicklungs- positionen einzunehmen, entgegen: »The ›cybersub-
prozess abgeschlossenes Objekt. Insbesondere rech- ject‹ has not, and will not, replace the physical sub-
nergestützte Erfindungen sind als Medium oder ject, but entails a multiplication of the sites of
Grundlage zu verstehen, die im Gebrauch weiterent- interpellation and enunciation, acts constitutive of a
wickelt werden (vgl. ebd., 278). Genauso wenig ist propelling subject production« (Landström 2007,
das Verständnis von Personen in diesem Mensch- 12). Dieses Multiplizieren der Orte von Subjektpro-
Maschine-Verhältnis das eines statischen, im Ent- duktion würde die Machtverhältnisse auf lange Sicht
wicklungsprozess abgeschlossenen Subjekts. Eine in einer Weise verändern, in der es unmöglich wird,
Person ist keine autonom und rational Handelnde, Identitäten zu etablieren, die vom sozialpolitischen
sondern eine sich entfaltende, sich immer wieder Kontext abstrahiert werden können, um Handlungs-
verschiebende Biographie kultureller und materiel- möglichkeiten zu begründen oder zu beschränken
ler Erfahrungen, Beziehungen und Möglichkeiten, wie beispielsweise der abstrakte Geschlechterdualis-
die mit jeder neuen Begegnung in einzigartiger und mus. Inwieweit eine solche theoretische Strategie
spezifischer Weise der Veränderung unterliegt (vgl. trägt, Raum zu schaffen für Technolog/innen mit
ebd., 281). Vergeschlechtlichte Subjekte und Objekte vielfältigen – möglicherweise wechselnden – Identi-
können demnach in der Interaktion neue Praktiken täten, welche die Binarität einer naturalisierten mo-
und neue Deutungen derselben erfahren und sich dernen Geschlechterdichotomie transzendieren,
selbst, einander sowie das kulturelle Umfeld und da- wird zu überprüfen sein. Statt der Erfordernis von
bei insbesondere die Bedeutung von Geschlecht ver- Männlichkeit, um ein technologisch potentes Sub-
ändern. Diese Möglichkeiten können sich durch jekt werden zu können, könnten wir demnach mit-
konkrete mehr oder weniger experimentelle Prakti- tels Strategien der Verschiebung oder Verwischung
ken sowohl im Prozess der Nutzung bzw. Bedienung, geschlechtlicher, kultureller, sozialer und sexueller
als auch im Prozess der Entwicklung und Konstruk- Identität eine Vielfalt technologischer Subjekte theo-
tion von Maschinen materialisieren, und zwar so- retisch begründen. Es ist außerdem zu untersuchen,
wohl auf der Seite der Nutzer/innen bzw. Bediener/- ob eine solche Vielfalt technologischer Subjekte mit
innen als auch auf der Seite der Maschinen. instabilen Identitäten dann auch technologische Ob-
In der subversiven kreativen Kultur des Cyberfe- jekte produzieren, die weniger zur Festigung und
minismus scheinen sich experimentelle Praktiken Überprüfung von Identitätspositionen beitragen.
bei der Gestaltung und Nutzung neuer Informa- Was geschieht, wenn Identitätspositionen nicht
tions- und Kommunikationstechnologien längst zu länger den Zugang zu technologischer, sozialer und
7. Feministische Technikphilosophie 117

politischer Partizipation regeln? Diese Frage lotet gen technologischer Innovationen werden als ethi-
Anne Balsamo in ihrem Buch Designing Culture: The sches Thema diskutiert, sondern der gesamte For-
Technological Imagination at Work (2011) aus. Darin schungsansatz, angefangen von der Fragestellung,
untersucht sie das Verhältnis von technischer und der Einbindung organischer und anorganischer Ma-
künstlerischer Konstruktionspraxis, kultureller Re- terialien und Körper in den experimentellen Ablauf
produktion und technologischer Vorstellungskraft. bis zur Methode der Datensammlung und -interpre-
Sie analysiert Mythen über Frauen und technologi- tation: Wessen Würde wird geschützt bzw. gefähr-
sche Vorstellungskraft und präsentiert die Entste- det? Welche Inter- bzw. Intraaktionen in einer in
hung einer interaktiven feministischen Multimedia- sich verwobenen Welt werden in Betracht gezogen
dokumentation sowie weiterer interaktiver Medien- oder provoziert? Die Idee der Isolierbarkeit von Pro-
technologie. Balsamo entwickelt eine Methode des zessen, Stoffen und Phänomenen, die lange Zeit für
hermeneutic reverse engineering. Sie greift damit eine die Technowissenschaft forschungsleitend war, wird
gängige Methode im technischen Innovationspro- einer komplexen und nie völlig erfassbaren Relatio-
zess auf, das Auseinanderbauen eines technischen nalität unterworfen, in der Prozesse aktiviert wer-
Objekts, um den Herstellungsprozess zu untersu- den, die außerhalb personaler Intentionalität und
chen. Sie erweitert das bekannte reverse engineering maschineller Berechenbarkeit liegen.
um die Analyse der kulturellen Bedeutung, um neue Aufbauend auf dieser Erkenntnis der naturwis-
Deutungen technologischer Interaktionsprozesse zu senschaftlich oder technologisch nie völlig erfassba-
erschließen. Auf diese Weise sollen Handlungsspiel- ren Verortung und Verbundenheit von Organismen
räume und Vorstellungsräume für technologische und Maschinen mit organischen und anorganischen
Entwicklungen und Anwendungen erweitert wer- Prozessen und Phänomenen entwickelt die nieder-
den, die demokratischen und sozialen Zielen die- ländische Philosophin Rosi Braidotti eine Ethik der
nen. Das heißt, die technologische Vorstellungskraft Transpositionen, der Gleichberechtigung aller Orga-
soll bewusst dazu genutzt werden, technologische nismen in Prozessen, nicht aufgrund einer zugewie-
Innovationen zu generieren, die, anstatt hegemoni- senen oder fixierbaren Positionierung im Weltgan-
ale Männlichkeit zu fördern, möglichst vielen Perso- zen, sondern in Prozessen ständigen Werdens und
nen und gesellschaftlichen Gruppen unabhängig Änderns von Verortung und Verbundenheiten
von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer Ausbil- (Braidotti 2006). Handlungsleitend in dieser Kon-
dung oder sozialen und kulturellen Herkunft nütz- zeption postmoderner und postkolonialer feministi-
lich sind. scher Technikethik ist der Wunsch nach einer lebba-
Eine aktuelle Strömung in der feministischen ren Zukunft für möglichst viele anstatt der kurzfris-
Technikphilosophie ist der material feminism tigen Gewinnmaximierung für möglichst wenige.
(Alaimo/Hekman 2008). Materialismus wird darin
weder marxistisch noch empiristisch verstanden, die
Literatur
Materialität menschlicher Körperlichkeit und nicht-
menschlicher Natur wird vielmehr, aufbauend auf Alaimo, Stacy/Hekman, Susan (Hg.): Material Feminisms.
den Erkenntnissen des feministischen Konstrukti- Bloomington/Indianapolis 2008.
vismus, als aktives Moment der Erkenntnisproduk- Balsamo, Anne: Designing Culture: The Technological Ima-
tion gedacht. Das heißt, es wird in Betracht gezogen, gination at Work. Durham/London 2011.
Barad, Karen: Posthumanist performativity: toward an un-
dass sich der zu erforschende (organische oder an- derstanding of how matter comes to matter. In: Signs:
organische) Körper im Zugriff des (experimentel- Journal of Women in Culture and Society 28 (2003), 801–
len) Forschungsapparats verändern kann. Darüber 831.
hinaus wird das Ergebnis eines technologischen For- – : Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the
schungsprozesses als nie vollständig vorausbere- Entanglement of Matter and Meaning. Durham/London
2007.
chenbar und mehrdeutig verstanden (Barad 2007). Berghahn, Sabine et al. (Hg.): Wider die Natur? Frauen in
Die androzentrische Fixierung auf die Zweige- Naturwissenschaft und Technik. Berlin 1984.
schlechtlichkeit sowie die anthropozentrische Fixie- Braidotti, Rosi: Transpositions. On Nomadic Ethics. Cam-
rung auf ein aus seiner Umgebung isolierbares bridge 2006.
menschliches Erkenntnissubjekt wird dabei obsolet. Butler, Judith: Bodies that Matter: On the Discoursive Limits
of »Sex«. New York 1993.
Die Frage der Verantwortung technologischer For- Corea, Gena: The Mother Machine. New York 1985.
schung und Entwicklung tritt dagegen auf neue Firestone, Shulamith: Dalectic of Sex. New York 1970.
Weise ins Zentrum der Debatte. Nicht erst die Fol- Haraway, Donna: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus
118 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

im Streit mit den Technowissenschaften. In: Dies.: Die 8. Technik als Medium
Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen.
Frankfurt a. M. 1995, 33–72 (engl. 1985).
Hofmann, Heidi: Die feministischen Diskurse über Repro-
duktionstechnologien. Positionen und Kontroversen in der Problemsicht
BRD und den USA. Frankfurt a. M. 1999.
Landström, Catharina: Queering space for new subjects. In der neueren technikphilosophischen Diskussion
In: Kritikos. An International and Interdisciplinary Jour- ist von verschiedener Seite vorgeschlagen worden,
nal of Postmodern Cultural Sound, Text and Image 4 (No- Technik als Medium zu begreifen (u. a. Gamm 2000;
vember–December 2007), http://intertheory.org/cland
strom.htm (20.09.2012). Hubig 2006; Krämer 2000; 2008; Ramming 2008).
Lettow, Susanne: Biophilosophien. Wissenschaft, Technolo- Dies erfolgt nicht in klassifikatorischer Absicht und
gie und Geschlecht im philosophischen Diskurs der Gegen- zielt nicht auf (weitere) sortale Unterscheidungen.
wart. Frankfurt a. M. 2011. Vielmehr sollen einige zentrale Wesenszüge der
List, Elisabeth: Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kultur- Technik in einer Weise begreifbar werden, die über
geschichte der Naturwissenschaften. Weilerswist 2007.
Oudshoorn, Nelly: Beyond the Natural Body: An Archeology Untersuchungen hinausgeht, die das ›weite‹ Tech-
of Sex Hormones. London/New York 1994. nikkonzept als »Inbegriff der Mittel« (Weber 1976,
– : The Male Pill. A Biography of a Technology in the Making. 32) in unterschiedlicher Weise spezifizieren. Fol-
Durham/London 2005. gende Aspekte und Fragestellungen sollen dabei gel-
Reiche, Claudia/Kuni, Verena (Hg.): Cyberfeminism. Next tend gemacht werden: (1) Inwiefern werden die na-
Protocols. Brooklyn, NY 2004.
Saetnan, Ann Rudinow/Oudshoorn, Nelly/Kirejczyk, Marta türlichen Medien (Verfasstheiten der äußeren und
(Hg.): Bodies of Technology. Women ’ s Involvement with inneren Natur) durch Technik überformt, in techni-
Reproductive Medicine. Columbus, OH 2000. sche Medialität transformiert? (2) Inwiefern gewinnt
Saupe, Angelika: Verlebendigung der Technik. Perspektiven Technik den Status einer Vermittlungsinstanz für
im feministischen Technikdiskurs. Bielefeld 2002. unsere theoretischen und praktischen Weltbezüge
Sørensen, Knut H./Faulkner, Wendy/Rommes, Els: Tech-
nologies of Inclusion. Gender in the Information Society.
bis hin zum ›Boten‹? (3) Inwiefern ›erzeugen‹ wir –
Trondheim 2012. über die Zeitigung konkreter Effekte durch instru-
Suchman, Lucy A.: Human-Machine Reconfigurations. mentelles Handeln hinaus – ›neue Welten‹? Gefragt
Plans and Situated Actions. Cambridge/New York ²2007. wird also nach der Rolle der Technik für die Gestal-
Wajcmann, Judy: Feminism Confronts Technology. Cam- tung (Transformation, Einschränkung, Erweiterung,
bridge 1991.
Erzeugung) von Vorstellungs- und Handlungsräu-
Weber, Jutta: Ironie, Erotik und Techno-Politik: Cyberfe-
minismus als Virus in der neuen Weltunordnung? In: men.
Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Dabei werden einerseits Erträge der in rascher
Philosophie 12/24 (2001), 81–97. Entwicklung begriffenen Medientheorie und -philo-
– : Situiertheit, Verkörperung, Emotion: Unscharfe Begriffe sophie aufgegriffen und ausgehend von deren Fo-
als technowissenschaftliche Innovationsressource. In:
kussierung auf Informations- und Kommunikati-
Waltraud Ernst (Hg.): Geschlecht und Innovation. Gen-
der Mainstreaming im Techno-Wissenschaftsbetrieb. Ber- onsmedien erweitert und übertragen; andererseits
lin/Münster 2010, 49–62. sieht sich diese Absicht mit einer »unübersehbaren
Waltraud Ernst Bedeutungsfülle« von »Medium« (Hoffmann 2002,
20) und der Anwendbarkeit des Medienbegriffs »auf
nahezu jedes Phänomen« (Baecker 1999, 174) kon-
frontiert.
Mit Blick auf das Spektrum weiterer Ansätze aus
Technikphilosophie und (sozialwissenschaftlicher)
Techniktheorie, innerhalb derer Technik als Infra-
struktur und »Dispositiv« (Böhme 2008), »mediale
Installation« (Halfmann 1996); »Ressource zu Rou-
tinenbildung« (Schulz-Schaeffer 2000), »Agentur«
(Rammert 2007) und »Textur« (Grunwald/Julliard
2005) begriffen werden, erscheint als Gemeinsam-
keit, dass der unterschiedlich gefasste mediale Cha-
rakter der Technik in einer spezifischen Ermögli-
chungsfunktion im weitesten Sinne liegt. Auch für
das systemtheoretische Medienkonzept Niklas Luh-
8. Technik als Medium 119

manns gilt: »In jedem Fall muß ein Beobachter, der Oder – aus Nutzerperspektive: Wie affirmiere, ver-
Medien beschreiben will, modaltheoretische For- ändere, vernutze, zerstöre oder schreibe ich jeweilige
mulierungen verwenden« (Luhmann 1995, 168). Techniken als Medium fort, indem ich bestimmte
Aus einer medienphilosophischen Perspektive er- Optionen ihrer Nutzung realisiere?
geben sich Anregungen und Konsequenzen für eine
Statusbestimmung und Formanalyse anwendungs-
bezogener Ethik im Allgemeinen und einer Technik- Inbegriff und Medium
ethik im Besonderen: Denn Beurteilungen einer
Handlungsoption in technikethischer (analog etwa Technik als ›Inbegriff der Mittel‹ versammelt Mittel
wirtschaftsethischer oder medienethischer – im en- kategorial inhomogener Art wie (1) einschlägige Fä-
geren Sinne informationsethischer) Absicht finden higkeiten und Fertigkeiten, (2) die in bestimmten
nicht ihre Spezifik im Vollzug einer bloßen Sub- Verfahrensschemata (Prozesstypes) bestimmten
sumption der entsprechenden Option bezüglich ih- Weisen des Herstellens und Veränderns von Dingen,
res Geboten-, Verboten-, Erlaubt- oder Angeraten- Zuständen und Verfahren selbst, (3) das Wissen um
seins unter eine allgemeine moralische Norm. Zur diese Schemata (auch »Technologie«), (4) das kon-
Regelungsleistung allgemeiner Ethik träte dann nur krete Agieren und Prozessieren (als token) des Be-
noch der technische (ökonomische oder medienwis- wirkens, (5) die bei diesem Bewirken eingesetzten
senschaftliche) Sachverstand, unter dem die Eigen- Artefakte als raumzeitliche Entitäten und schließlich
schaften der Option dahingehend erfasst werden, in- (6) die Ergebnisse eines derartigen Bewirkens als
wieweit sie in den Bezugsbereich der allgemeinen realisierte Zwecke (im Unterschied zu natürlich
Norm fallen. Ob ich (und in welcher Situation) mit- gewordenen/›gewachsenen‹), die ihrerseits als Mittel
tels eines technischen Artefakts töten darf (oder einsetzbar sind (Hubig 2006, 28). Von einem Inbe-
beim Handel betrügen oder in der Presse lügen griff sprechen wir freilich dann (und nur dann),
darf), ist kein spezifisch technikethisches (oder ana- wenn seine Elemente unter einem »einheitlichen
log wirtschafts- oder medienethisches Problem). Interesse« und einem »einheitlichen Bemerken« ste-
Derlei – einschließlich der Ausnahmen – regelt die hen (Husserl, Hua XII, 23; 74). Max Weber sah die-
allgemeine Ethik mit (Ich darf nicht töten, betrügen, ses Interesse in einer Verwendung von Mitteln, »wel-
lügen). Die Spezifik anwendungsbezogener Ethik che bewußt und planvoll orientiert ist […]« (1976,
liegt in der Normierung der Möglichkeitsräume, in- 32). Dies führte zu einem weiten Konzept von Tech-
nerhalb derer technisches (ökonomisches kommu- nik, die es damit für »alles und jedes Handeln«
nikatives Handeln etc.) stattfinden kann. Welche (ebd.) gibt. Seitens der klassischen Technikphiloso-
Risiken (mögliche Schäden) und Chancen (mögli- phie gab und gibt es Spezifizierungsversuche, die auf
cher Nutzen) Techniken eröffnen, begünstigen, ver- Technik als ›Realtechnik‹ abheben und entspre-
schließen, (welche Optionen des Wirtschaftens ent- chende terminologische Eingrenzungen unterneh-
sprechend gestaltete Arbeitgeber-Arbeitnehmerbe- men. Das ›Planvolle‹ am Mitteleinsatz verweist uns
ziehungen, Finanzmarktregelungen etc. bereithalten, jedoch auf die unabdingbar zur Technik gehörenden
welche Kommunikationssysteme, -kanäle etc. wel- Intellektualtechniken präziser Repräsentation, Be-
che Nachrichtenauthentifizierung, -validierung, rechnung etc. (die ihrerseits auf technisch herge-
Fehlkommunikation etc. ermöglichen), sind spezifi- stellte materiale Träger angewiesen sind) sowie auf
sche Fragen einer Technikethik (bzw. Wirtschafts- Sozialtechniken, die zur Realisierung komplexerer
oder Medienethik; zu Medien s. Kap. V.13). Realtechniken notwendig sind und dabei ihrerseits
Die Technikethik erhält mithin einen zentralen bestimmter Intellektualtechniken der Repräsenta-
Bestandteil ihrer Problemhypothek aus medientheo- tion ihrer Regeln als auch bestimmter Realtechniken
retischen Untersuchungen bestimmter Techniken als Formen der Ermöglichung von Organisation be-
und Technologien, auch und gerade der modernen dürfen.
enabling technologies, (nano-, bio, info-, cogno-), die Ein »gemeinsames Interesse« menschlicher Tech-
explizit in jenem Sinne als Medien auftreten. Sie nik liegt neben dem Realisieren konkreter Zwecke
hätte dann – aus Entwicklerperspektive – zu fragen: überhaupt in der »Sicherung« (Heidegger 1962, 18;
Ist es erlaubt/verboten/geboten/angeraten, die Mög- 27) der Realisierung von Zwecken qua Wiederhol-
lichkeit des und des ggf. moralisch problematisier- barkeit, Planbarkeit, Antizipierbarkeit. Diese Siche-
baren technischen Mitteleinsatzes zu eröffnen, zu rung wird gewährleistet durch die technischen Sys-
begünstigen, zu behindern oder zu verschließen? teme seit der neolithischen Revolution, die die Zu-
120 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

fallstechnik der Jäger und Sammler ablöste. Durch man diejenige Seite des Handelns, die man als in-
systemische Überformung (Behausung, Ackerbau strumentelles Handeln oder in der Sprache des Inge-
und Viehzucht mit Umhegung und Bewässerung, nieurs als ›Steuern‹ bezeichnen kann: Die Erzeu-
Infrastrukturen des Verkehrs, der Kommunikation, gung eines Outputs durch einen geeigneten Input.
der Verteidigung etc.) werden die natürlichen Me- Spezifisch menschliches Agieren als technisches
dien der Jäger und Sammler zu technischen, arti- Handeln ist darüber hinaus darauf aus, Mittel-
fizialisierten Medien. Durch diese Gestaltung na- Zweck-Verknüpfungen zu sichern, indem der Mittel-
türlicher Medien soll die Möglichkeit eines ziel- einsatz gegen Gefahren unserer äußeren und inne-
führenden Mitteleinsatzes garantiert werden. Eine ren Natur geschützt wird. Dies ist im Konzept der
verkürzte Sicht auf den bloß instrumentellen Cha- Regelung im weiteren Sinne erfasst, die im Rahmen
rakter von Technik prägt hingegen manche philoso- technischer Systeme realisiert wird: »Perfekte Rege-
phisch-anthropologisch orientierte Technikphiloso- lung macht gelingende Steuerung möglich« (Ashby
phie, die zu einer technomorphen Philosophie in 1974, 290, Hervorh. C.H.). Elementare Regelungs-
diesem verkürzten Sinne wird: Der Mensch er- formen sind Abschirmung/Containment, höherstu-
scheint als technisches Problem, zu dessen Lösung fige Steuerung durch Störgrößenaufschaltung (in-
Technik erforderlich wird, oder die Evolution selbst dem ein Modell der Störung – Intellektualtechnik! –
erscheint als Problemlösungsprozess, innerhalb des- erlaubt, präventiv oder reaktiv unerwünschte Effekte
sen Technik verortet wird. Einmal erscheint dann zu kompensieren) und schließlich die Regelung im
der Mensch als Mängel- oder Überschusswesen, ein engeren Sinne (DIN 19226), in der über Rückkopp-
anderes Mal erscheint er als Krone oder Katastrophe lung die durch die Störung hervorgerufene Abwei-
der Evolution, je nachdem, wie sein Arsenal techni- chung selbst als korrigierender Steuerungsimpuls
scher Mittel in einem größeren, seinerseits technisch eingesetzt wird. Erst dadurch werden Erwartbarkeit
modellierten Problemzusammenhang verortet wird und Planbarkeit gegeben; dass eine solche Kon-
(Hubig 2006, Kap. 3). Die Vielfalt dieser anthropolo- struktion gerade dasjenige ausmacht, was wir in mo-
gischen Meinungen (s. Kap. IV.A.3) verdankt sich derner interventionistischer Naturwissenschaft als
dem Spielraum der Modellierung von Sachlagen als Experiment erachten, erklärt, warum eine solcher-
technischen Problemlagen. maßen technisierte Naturwissenschaft eine natur-
Greift man auf das Konzept ›Medium‹ zurück, wissenschaftlich orientierte Technik ermöglichte
findet man neben einer Vielfalt von terminologi- und umgekehrt, also jeweils das eine dem anderen
schen Eingrenzungen, die unterschiedlichen Frage- Medium ist.
stellungen geschuldet sind, nur einen letztlich meta-
phorischen Kern: der ›Vermittlung‹ als Ermögli-
chung von Verhältnissen (der Subjekte zu ihrer Mittel und Zwecke
Wirk- und Merkwelt sowie der Subjekte untereinan-
der). Dieser Kern weist Eigenschaften einer eigentli- Mittel und Zwecke lassen sich nicht per se, sondern
chen und absoluten Metapher auf, die nicht einfach nur korrelativ bestimmen. Äußere Gegenstände und
in Begriffe übersetzbar ist, auch nicht bloß heuristi- Ereignisse sind Mittel nur nach Maßgabe ihrer Zu-
sche Funktion hat, sondern eine grundlegende Ori- ordenbarkeit, ihrer Dienlichkeit zur Realisierung
entierung unseres Denkens ausdrückt, die be- möglicher Zwecke. Zwecke als intendierte Sachver-
stimmte Strategien der Explikation formiert. Eine halte sind dies nur nach Maßgabe einer unterstellten
solche Metapher appelliert gleichsam, dasjenige zu Herbeiführbarkeit (sonst handelt es sich um bloße
erschließen, worauf sie den Blick lenkt. Und dies ist, Wunschvorstellungen). Dienlichkeit und Herbei-
was im weitesten Sinne die Möglichkeit theoreti- führbarkeit sind Dispositionsprädikate, die nicht auf
scher und praktischer Bezugnahme ausmacht, von solche manifester Eigenschaften reduzierbar sind;
der wir keine direkte Vorstellung gewinnen, sondern auf der Basis ihrer Aktualisierungen gewinnen wir
zu deren Erschließung wir uns weiterer (abgeleite- ein  – immer unvollständiges  – Bild ihrer Verfasst-
ter) Metaphern bedienen, z. B. der des ›Raumes‹. heit, welches gleichwohl für die Handlungsplanung
Entsprechend wurde versucht, »technische Mediali- unabdingbar ist. Solche Konzepte von Mittel und
tät« mit den Mitteln der philosophischen Modal- Zweck können mit Hegel als diejenigen »innerer
theorie weiter zu untersuchen (Hubig 2006, Kap. 5). Mittel« und »innerer Zwecke« bezeichnet werden.
Erachtet man Technik als Inbegriff der Mittel (auf Den Unterschied zwischen unseren inneren Mittel-
den erwähnten verschiedenen Ebenen), so berührt konzepten als Vorstellungen und äußeren Mitteln
8. Technik als Medium 121

(analog bei den Zwecken) erfahren wir über Wider- als unerwartetes Potenzial zur Konzeptualisierung
ständigkeit, Hemmung und Überraschung, die sich anbietet, welches dann in ethischer Absicht zu re-
beim instrumentellen Handeln einstellen und dann flektieren ist. Ein technisches Sachsystem stellt eine
wiederum konzeptualisiert werden. Hegel hat im Te- Potenzialfunktion dar, die erst dann zu einer Real-
leologie-Kapitel seiner Wissenschaft der Logik diese funktion wird, wenn das Sachsystem als handlungs-
Begriffsdynamik freigelegt, indem er das Konzept relevant identifiziert und in konkrete Handlungszu-
des Mittels als Mittelbegriff in einem praktischen sammenhänge integriert worden ist (Hubig 2006,
Syllogismus verortete (Hegel 1971, 391–406): 173 f.). Dieser Prozess lässt sich über eine Stufen-
• Subjekt (S) will durch Mittel (M) den Zweck (Z) theorie technischer Medialität freilegen.
realisieren (M und Z als innere, ›subjektive‹, vor-
gestellte).
• S identifiziert einen äußeren Gegenstand oder ein Technik als Medium –
äußeres Verfahren M ’ als Mittel (M) (»schiebt es Stufen der Medialität
ein« zwischen sich und den Zweck – eine Formel,
die später Marx aufgegriffen hat). Da wir Möglichkeiten nur über Erfahrungen im
• S realisiert durch M ’ den äußeren (›objektiven‹) Zuge intellektual-, real- und sozialtechnischer
Zweck Z ’ . Handlungen erschließen und reflektieren können,
• S schließt abduktiv aus der Differenz zwischen Z unterliegt das, was wir als ›möglich‹ erachten, einer
und Z ’ auf Eigenschaften der Medialität von M ’ . permanenten Veränderung. Der Möglichkeitsraum
»Medium« wird von Hegel als »Auch von Eigen- bzw. die spezifische Medialität als ganze kann somit
schaften« gefasst (Hegel 1957, 91). nie Gegenstand einer abschließenden Vorstellung
werden. Orientieren wir uns zur Explikation der
Auch John Dewey (1980, 137 ff.) unterscheidet zwi- Medialität des Technischen am technischen Hand-
schen äußeren und inneren Mitteln. Unter ›inneren lungsvollzug, so erscheint Technik als Medium auf
Mitteln‹ begreift er aber die intrinsische/interne Be- drei Ebenen, die ihrerseits jeweils eine Dimension
ziehung zwischen Eigenschaften des Mittels und des innerer (vorgestellter) Medialität und äußerer (im
Zweckes. Deshalb nennt er ›innere Mittel‹ auch ›Me- Realitätszugang erfahrener) Medialität aufweisen:
dien‹. Dieser Begriffsgebrauch ist zu wenig differen- (1) Auf der Stufe allgemeiner Konzipierung wird
ziert. Denn die Übertragung von Eigenschaften des ein Möglichkeitsraum der Realisierung möglicher
Mittels auf den Zweck ist auch ein äußerer (kausaler) Zwecke modelliert. Er ist strukturiert auf der Basis
Vorgang. Als vorgestellter Vorgang betrifft er die in- unserer epistemischen Möglichkeiten, disponible
nere Mittelhaftigkeit, als realisierter Vorgang die äu- Ursachen zu unterscheiden. Daneben weist dieser
ßere. Daher sollte man von inneren und äußeren Möglichkeitsraum eine ›äußere‹ Dimension auf: Die
Mitteln sowie von innerer und äußerer Medialität notwendig vorauszusetzende (technische) Möglich-
sprechen. keit einer Trennung jener Dispositionen – »umher-
Aufgrund des komplexen Verhältnis zwischen schweifenden Ursachen« (Platon: Timaios 51 c) – als
den (inneren und äußeren) Mitteln und (inneren Voraussetzung ihrer Nutzung. Den Raum dieser
und äußeren) Zwecken sowie der Notwendigkeit ei- »Ursachen« als Dispositionen bezeichnete Platon als
ner permanenten Veränderung der Konzepte, zu der Chora. Es ist der vorgestellte (»innere«) und reale
die Ergebnisse des tatsächlichen technischen Voll- (»äußere«) Raum von Machbarkeit und Verfügbar-
zugs veranlassen, erweist sich die Rede von Technik keit. Seine Struktur macht die ›Bahnen‹, oder, um ei-
als System bestimmter Mittel für bestimmte Zwecke nen beliebten, aber undifferenziert verwendeten To-
als unterkomplex. Vielmehr muss Technik als Sys- pos in der Medialitätsdiskussion anzubringen, die
tem der Dienlichkeit und Herbeiführbarkeit, als Er- »Spuren für …« die Realisierung möglicher Zwecke
möglichung des Gelingens instrumenteller Vollzüge, aus. Es ist die Ebene einer potenziellen Möglichkeit,
verstanden werden. Solcherlei Dienlichkeit und ausgedrückt im operativen Gebrauch von »möglich«
Herbeiführbarkeit werfen Rechtfertigungsdesiderate als »es ist möglich, dass …«.
für die Technikethik auf – als deren genuines, spezi- (2) Unter dieser Konstellation epistemischer Un-
fisches Problem (vgl. z. B. die Diskussion um die terscheidungsoptionen und realer Trennungsoptio-
Gentechniken am Menschen; s. Kap. V.7). Es bedeu- nen werden Wirklichkeitsräume der Realisierung
tet, dass den Mitteln ein Potenzial unterstellt wird möglicher Zwecke geschaffen, als technische Sys-
bzw. sich dieses während des praktischen Vollzugs teme, welche solcherlei Zweckrealisierung gelingend
122 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

machen sollen. Wir befinden uns hier auf der Ebene solches System sei ein Medium des entsprechenden
realer Möglichkeit oder der sogenannten »Perfor- Verkehrs. Seine innere Medialität (1) ist gegeben
manz des Medialen« (Krämer 2000, 90). Als innere durch den Stand unseres jeweiligen technischen
Medialität besteht dieser Raum in einem Katalog Know-hows (Bau-, Antriebstechniken etc.), seine
von Funktionsideen/Erwartungen (für Konstruk- äußere Medialität (1) ist begrenzt durch Dispositio-
teure, Entwickler und Nutzer); als äußere Medialität nen, u. a. durch die Wirkungsgrade der Antriebe, die
schlagen sich diese Funktionsideen in den Infra- maximal bewältigbare Steigung durch das Verkehrs-
strukturen der technischen Systeme des Transports, mittel etc. Seine innere Medialität (2) ist durch den
der Wandlung und Speicherung von Stoffen, Energie Fahrplan gegeben, seine äußere Medialität (2) durch
und Information nieder. Diese Ebene realer Mög- die Verfasstheit des realen Schienennetzes und den
lichkeit findet ihren Ausdruck im prädikativen Ge- Zustand der Fahrzeuge. Zu ergänzen ist diese Auflis-
brauch von »möglich« im Sinne von »x kann …«. tung durch die institutionellen und die organisatori-
(3) Instrumentelles Handeln besteht nun in der schen Verfasstheiten der Betreiber und Nutzer des
Aktualisierung der in jenem Wirklichkeitsraum an- Systems  – die sozialtechnische Dimension. Durch
gebotenen (möglichen) Mittel-Zweck-Relationen. von den Betreibern und den Nutzern vorgenom-
Dabei wird die Erfahrung der Differenz zwischen mene feste Kopplungen werden (möglicherweise ge-
vorgestelltem und realisiertem Zweck gezeitigt, über genläufige) Zwecke in diesem System realisiert, die
die die Technik als Medium eine »Spur von …« in die Möglichkeiten der Zweckverfolgung durch an-
Gestalt von unerwarteten (positiven oder negativen) dere Subjekte bedingen. Dies führt in Wertkonflikte,
Effekten hinterlässt. Leistungen und Grenzen realer die technikethischer Reflexion bedürfen.
Ermöglichung (ausgedrückt in der prädikativen Die Unterscheidung zwischen Mittel und Me-
Verwendung von »möglich« im Sinne von »kann dium insgesamt ist nicht als extensionale, sondern
wirken« (hervorbringen, verändern, verhindern als intensionale in Abhängigkeit vom erkennenden
etc.) werden ersichtlich und erlauben über einen ab- und disponierenden Standpunkt zu begreifen: Ein
duktiven Schluss das Verhältnis von vorgestellten Haus ist ein Mittel (z. B. zum Schutz vor Witterung)
Funktionsideen zu realisierten Funktionsideen (Me- und ein Medium (Möglichkeitsraum) des Wohnens.
dialität [2]) sowie von epistemischen Unterschei- Eine E-Mail ist ein Mittel zur Überbringung einer
dungen angesichts der Möglichkeiten eines techni- Beileidsbekundung und zugleich ein Medium, das
schen Umgangs mit Dispositionen (Medialität [1]) bestimmte Dimensionen eines Austausches persön-
zu korrigieren. Dadurch können schrittweise die licher Anteilnahme nicht zulässt.
Vorstellung der Technik als Medium potenzieller Indem also seit der neolithischen Revolution
und realer Möglichkeit verbessert und die Systeme Technik darauf angelegt ist, von den natürlichen Me-
entsprechend optimiert bzw. teilweise oder in Gänze dien unabhängig zu werden und daher seit ihren An-
umgebaut oder ersetzt werden. Eine gelingende oder fängen als Systemtechnik auftritt, sucht sie die Steue-
misslingende routinisierte technische Handlung als rungsvorgänge der Realisierung von Zwecken in ih-
»feste Kopplung« der lose gekoppelten Elemente ei- rem Gelingen zu sichern, also das instrumentelle
nes Mediums, mithin die Herstellung einer »Form« Handeln zielführend zu machen qua Regelungsvor-
innerhalb eines Mediums (um auf die bei Niklas gängen, die das ›Auch von Eigenschaften‹, welches
Luhmann (1998, 198 ff.; 522) von Fritz Heider über- als externe Störgrößen (der natürlichen Mittel) auf-
nommene Leitdifferenz zurückzukommen) führt zu tritt, kompensieren sollen. Die erwähnten drei Typen
einem erweiterten Bild der Strukturen der jeweiligen der Regelung (Containment und/oder höherstufige
technischen Medialität, die jedoch immer dyna- Steuerung/Störgrößenaufschaltung und/oder Rück-
misch bleibt, da sich ihre Konzeptualisierung immer kopplung) finden sich in allen technischen Systemen.
aufs Neue an dem »Auch von Eigenschaften« (He- Im Gegensatz zu Luhmann ist Technik freilich nicht
gel), welches die Performanz des Medialen an der je- bloß als feste Kopplung zum Zweck des ›Kontingenz-
weiligen Form zum Vorschein bringt, abarbeiten managements‹ der Systeme zu erachten, denn eine
muss. solche feste Kopplung betrifft nur den Charakter der
Ein Beispiel: Ein Schienen-Fahrzeug-System er- Mittel als hinreichenden Bedingungen der Realisie-
möglicht die Erreichung von bestimmten Reisezie- rung von Zwecken. Vielmehr müssen technische Sys-
len und verunmöglicht das Erreichen anderer Ziele teme überhaupt auch als Medien, also als (ihrerseits
unter Nutzung der im System bereitgestellten Mittel geformte) lose Kopplungen verstanden werden, die
zu anderen als den vorgesehenen Zeitpunkten. Ein den zielführenden Einsatz von Mitteln ermöglichen.
9. Technikdeterminismus 123

Literatur 9. Technikdeterminismus
Ashby, William Ross: Einführung in die Kybernetik. Frank-
furt a. M. 1974.
Baecker, Dirk: Kommunikation im Medium der Informa- Aus philosophischer Sicht lässt sich die Technik un-
tion. In: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg): Kommuni- ter vier verschiedenen Perspektiven betrachten: auf
kation, Medien, Macht. Frankfurt a. M. 1999, 174–191. individueller oder kollektiver Ebene, sowie aus natu-
Böhme, Gernot: Invasive Technisierung. Zug 2008.
ralistischer oder idealistischer Sicht. Die Technik-
Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1980.
Gamm, Gerhard: Nicht Nichts. Frankfurt a. M. 2000. ethik setzt zunächst auf der individuellen Ebene an;
Grunwald, Armin/Julliard, Yannik: Technik als Reflexions- die Techniksoziologie behandelt den kollektiven
begriff  – Überlegungen zur semantischen Struktur des Technikgebrauch; die gesellschaftliche und politi-
Redens über Technik. In: Philosophia naturalis 42 sche Diskussion um ethische Fragen des Technikge-
(2005), 127–157.
brauchs schlägt die Brücke zwischen beiden Ebenen.
Halfmann, Jost: Die gesellschaftliche »Natur« der Technik.
Opladen 1996. Quer zu ihrer Unterscheidung steht die philosophi-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geis- sche Frage von Determinismus oder menschlicher
tes [1807]. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg Freiheit. Im Rahmen naturalistischer bzw. idealisti-
1957. scher Technikdeutungen wurde sie unterschiedlich
– : Wissenschaft der Logik II [1812]. Hg. von Georg Lasson. beantwortet; daneben wurde in der Soziologie gele-
Hamburg 1971.
Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre. Pfullingen gentlich ein ›Technikdeterminismus‹ unterstellt, wo-
1962. nach die Technik die gesellschaftliche Entwicklung
Hoffmann, Stefan: Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg bestimmt.
2002.
Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen I. Philosophie
der Technik als Reflexion der Medialität. Bielefeld 2006.
Husserl, Edmund: Philosophie der Arithmetik. Gesammelte Komplementäre Perspektiven:
Werke XII. Hg. von Lothar Eley. Den Haag 1970 [Hua Naturalismus versus Idealismus
XII].
Krämer, Sybille: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Biologisch gehören wir zur Spezies Mensch, die sich
Dies. (Hg.): Medium, Computer, Realität, Wirklichkeits- durch die Evolution herausgebildet hat und sich nur
vorstellungen und neue Medien. Frankfurt a. M. 2000,
73–94. graduell von höheren Tierarten unterscheidet. Aus
– : Medien, Boten, Spuren, in: Stefan Münker/Alexander geistes- und kulturwissenschaftlicher Sicht sind wir
Roesler (Hg.). Was ist ein Medium? Frankfurt a. M. 2008, mit Bewusstsein und Vernunft ausgestattet, haben
65–90. eine Schriftkultur entwickelt und bilden soziale In-
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt stitutionen wie den Rechtsstaat. Mensch und Tech-
a. M. 1995.
– : Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998.
nik lassen sich also auf zwei komplementäre Weisen
Rammert, Werner: Technik  – Handeln  – Wissen. Wiesba- betrachten – als der Natur unterworfen oder der Na-
den 2007. tur enthoben. Der Mensch verfügt über symbolische
Ramming, Ulrike: Der Ausdruck »Medium« an der Fähigkeiten wie Sprache, Technik und Religion. Die
Schnittstelle von Medien-, Wissenschafts- und Technik- Religion dient seit jeher der Bewältigung der Er-
philosophie. In: Stefan Münker/Alexander Roesler
(Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt a. M. 2008, 249–
kenntnis, dass wir dem Naturzusammenhang ausge-
271. liefert und sterblich sind; die Technik dient dazu, die
Schulz-Schäffer, Ingo: Sozialtheorie der Technik. Frankfurt Natur ein Stück weit zu beherrschen, indem wir uns
a. M. 2000. Naturprozesse zunutze machen. Menschliche Tech-
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1921]. Tübingen nik ist planvoll umgestaltete Natur. Der Mensch ist
1976.
dasjenige Lebewesen, das seine natürliche Umwelt
Christoph Hubig
und seine eigene Natur planvoll umformt (zur Philo-
sophischen Anthropologie s. Kap. IV.A.3).
Immanuel Kant (1786) drückt die Doppelnatur
des Menschen im Diktum vom »Bürger zweier Wel-
ten« aus: Der Mensch gehört dem Reich der Natur
und dem Reich der Freiheit an. Als Naturwesen steht
der Mensch unter denselben Naturgesetzen wie an-
dere Lebewesen; als freies Wesen besitzt er Vernunft
und die Fähigkeit zur moralischen Selbstbestim-
124 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

mung. Ethische Probleme entstehen nach Kant ins- nen oder steuern. Der Schlüssel zum Verständnis
besondere daraus, dass naturhafte Antriebe und mo- verselbständigter Technikfolgen sind die Beziehun-
ralische Einsichten in Konflikt geraten; in diesem gen zwischen Technik, Ökonomie und Natur, wobei
Fall sollte die Vernunft in uns der Natur in uns Ein- aber ohne jede Planung keine technische Innovation
halt gebieten. Die Technikethik befasst sich damit, zustande käme (Rapp 1978).
welcher Technikgebrauch vernunftgemäß ist und in- Die moralischen, rechtlichen und politischen
wiefern die Vernunft umgekehrt einem naturhaften Probleme, die aus dem Umgang mit Technik entste-
oder naturwüchsigen Technikgebrauch Einhalt ge- hen, sind dabei in der Regel erst eine direkte oder in-
bieten kann und soll. Was dabei ›Natur‹ und ›Ver- direkte Folge des naturwüchsigen kollektiven Tech-
nunft‹ bzw. ›Freiheit‹ bedeuten, ist im Fall der Tech- nikgebrauchs. Sie werden aus idealistischer Perspek-
nik anders zu bestimmen als im Fall des morali- tive diagnostiziert, aus der Sicht der praktischen
schen Individuums, das Kant vor Augen hatte. Die Vernunft. Angesichts der komplexen kollektiven
›Natur‹ besteht hier in einer quasi-naturgesetzlichen Prozesse, um deren Planung und Steuerung es geht,
Technikentwicklung, während die ›Freiheit‹ in der greift die individuelle Moral hier in der Regel zu
technischen Verbesserung unserer Lebensumstände kurz. Die Technikethik zielt darum auf die politi-
liegt. Naturhafte und vernunftbezogene Technik- schen und rechtlichen Rahmenbedingungen, unter
deutung sind komplementär. denen sich Technik und Wirtschaft entwickeln.
Aus naturalistischer Sicht dient die Technik dazu,
die Lebensgrundlagen der Spezies Mensch zu si-
chern. Dabei vollzieht sich der technische Fortschritt Technik naturalistisch betrachtet
als quasi-biologischer Prozess, der naturwüchsig
verläuft und von ungeplanten Handlungsfolgen be- Ein einseitiger Technik-Naturalismus oder -Deter-
gleitet ist, vom simplen Unfall beim Werkzeugge- minismus findet sich etwa bei Vertretern der biolo-
brauch bis hin zum Klimawandel als hochkomple- gischen Anthropologie, Evolutionsbiologie, Sozio-
xer, schwer durchschaubarer Folge vor allem des kol- biologie und Soziologie, darüber hinaus häufig auch
lektiven Energieverbrauchs in der globalisierten bei Natur- und Technikwissenschaftlern sowie in
Welt (Falkenburg 2008). Danach vollzieht sich die der Industrie. Er speist sich aus zwei Quellen: aus der
Entwicklung von Technik in der menschlichen Kul- Biologie sowie aus biologischen Analogien für die
tur als ›zweite Natur‹. technische Produktion im System der gesellschaftli-
Aus idealistischer Sicht wird die Technik in einem chen Arbeitsteilung. Auf der individuellen Ebene
Prozess der kulturellen Entwicklung gestaltet, der wird der Mensch dabei als dasjenige Lebewesen be-
auf vernunftgesteuerten Tätigkeiten beruht. Ihre an- trachtet, das Werkzeug gebraucht, um im Dasein zu
thropologischen Wurzeln sind Spieltrieb, Neugier, bestehen. Auf kollektiver Ebene wird die Evolution
Experimentier- und Gestaltungslust, ergänzt um die der Spezies Mensch an den großen technischen Re-
historisch variablen Anforderungen der Lebensbe- volutionen bemessen, insbesondere an den industri-
wältigung. Dabei betont die idealistische Technik- ellen Revolutionen der Neuzeit.
deutung den planvollen Charakter von Technik und Biologische Anthropologie: Die Philosophie der
die Befreiung des Menschen von Naturzwängen. Technik von Arnold Gehlen (s. Kap. IV.A.3). beruht
Beide Aspekte sind untrennbar verbunden. Bei auf der (älteren) Evolutions- und Verhaltensbiologie,
den Attributen ›quasi-biologisch‹ oder ›naturwüch- nach denen der Mensch im Vergleich zu den Tieren
sig‹ handelt es sich zum geringsten Teil um Naturge- ein ›Mängelwesen‹ ist  – wir sind instinktarm und
setze im buchstäblichen Sinn. Das Funktionieren können abseits der Zivilisation nicht lange überle-
von Technik unterliegt den Gesetzen der Physik, ben. Positiv ausgedrückt, ist die menschliche Intelli-
Chemie etc., aber die Technisierung der Lebenswelt genz ein Ersatz für mangelnde Instinktausstattung,
ist ein sozio-ökonomischer Prozess, bei dem sich der damit jedoch zugleich Träger der menschlichen
Technikgebrauch auf kollektiver Ebene durchsetzt. Freiheit. Der Biologie Adolf Portmann (1956) erwei-
Beide Arten von Gesetzmäßigkeit greifen ineinan- terte dies dahin, dass der Mensch durch die Plastizi-
der. Soweit die Technisierung teils unverstanden, tät seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse zu charakte-
teils unbeherrschbar ist, vollzieht sie sich so ähnlich risieren sei. Die Natur des Menschen liegt danach in
wie ein biologischer Entwicklungs- und Selektions- der Plastizität seiner Natur, d. h. darin, dass er der
prozess. Von den einzelnen Akteuren, die das soziale Natur teilweise enthoben ist. Der Gegensatz zwi-
Kollektiv ausmachen, lässt sie sich nur bedingt pla- schen Gehlen und Portmann zeigt, inwiefern die na-
9. Technikdeterminismus 125

turalistische und die idealistische Technikdeutung danach entwickelt sich die Technik eigengesetzlich,
komplementär zueinander sind. Die Menschheit bestimmt die gesellschaftliche Entwicklung und ist
kompensiert ihren Instinktmangel – oder: realisiert den menschlichen Eingriffsmöglichkeiten entzogen
die Plastizität ihrer Natur – durch Intelligenz, die sie (Grunwald 1999, 187 unter Verweis auf Ropohl
in Technik umsetzt. Der Werkzeuggebrauch ermög- 1982). Von Determinismus in einem strikten (La-
licht es den Menschen, sich an die Natur anzupas- place schen) Sinne konnte dabei jedoch nie die Rede
sen, indem sie die Natur an sich anpassen. Für den sein, so wenig wie bei Marx selbst. In der biologi-
einzelnen Menschen ist die Technik dabei Organer- schen Evolution, bei der Technikentwicklung und
weiterung und -ersatz, wie Gehlen im Anschluss an auch bei sozio-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten
Ernst Kapp diagnostiziert. Die Technik dient der handelt es sich um nicht-determinierte, nicht-pro-
Entlastung von der unmittelbaren Daseinssorge und gnostizierbare, zufallsgesteuerte Prozesse. Deshalb
darüber hinaus der Entlastung von stereotypen, au- trifft der Begriff ›naturalistisch‹, im schwachen
tomatisierbaren Handlungen. Sinne von ›vollständig nach dem Vorbild von Natur-
Evolutions- und Soziobiologie dehnen das biolo- gesetzen erklärbar‹, besser zu, soweit überhaupt
gistische Technikverständnis auf die Evolution der noch jemand einen Technik-Determinismus vertritt.
Spezies Mensch aus. Sprünge in der technischen Eine biologistische Deutung gibt Arnold Gehlen
Entwicklung der Menschheit, etwa der Übergang der arbeitsteiligen industriellen Produktion. Danach
von der Jäger-und-Sammler-Kultur zum Ackerbau vollendet sich die Technik in folgendem Sinn in den
oder die industrielle Revolution, werden evolutions- Automatisierungsprozessen der industriellen Pro-
biologisch gedeutet. Die Technik ist aus dieser Sicht duktion: Durch Automatisation kommt die Technik
die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln. wieder bei ihrem biologisch-anthropologischen Fun-
Der Ackerbau, die Arbeitsteilung der industriellen dament an. Der Mensch erkennt sich mit seinen bio-
Produktion oder die heutige medizinische Techno- logischen Rhythmen im Ablauf technischer Regel-
logie ändern unsere Spezies tatsächlich im Sinne ei- kreise wieder, die auf Rückkopplungsmechanismen
ner genetischen Evolution; sie haben Auswirkungen beruhen und quasi selbstgesteuert verlaufen, so dass
auf Bevölkerungsstruktur, Fortpflanzung und natür- ihre Bedienung keiner geistigen Anstrengung mehr
liche Selektion. Eine qualitativ neue Stufe ist mit der bedarf. Automatisierte technische Prozesse entspre-
Gentechnologie erreicht, bei der die Evolution ge- chen aus Gehlens Sicht der Triebnatur des Men-
zielt im biotechnischen Labor fortgesetzt wird. Das schen. Ihre Bedienung erfolgt durch unbewusste Re-
Wirtschaften der Menschen in der Natur und der aktionen, die auf Entlastung beruhen. Technik, de-
Technikeinsatz wirken sich auch auf die Zusammen- ren Gebrauch unbewusst erfolgt und von deren
setzung biologischer Populationen aus. Eine evoluti- Kontrolle wir weitgehend entlastet sind, ist naturali-
onsbiologische Sicht der Technik ist unverzichtbar sierte Technik, sie wird als quasi-natürlicher Vor-
dafür, langfristige Technikfolgen in den Blick zu be- gang erfahren. Wie gut die Akteure dabei ihr unbe-
kommen; hier sind die Auswirkungen der Technik wusstes technisches Handeln noch kontrollieren
auf das Ökosystem Erde zu betrachten. können, diskutiert Gehlen nicht (zum Ubiquitous
Soziologie: Auf der sozialen Ebene sind zwei As- Computing s. Kap. V.25).
pekte der Technik zu beachten. Einerseits werden
die Herstellung und der Gebrauch von Technik ge-
meinschaftlich und arbeitsteilig betrieben – in sozia- Technik idealistisch betrachtet
len Institutionen wie der Familie, der steinzeitlichen
Sippe, den antiken Stadtstaaten oder in den moder- Die idealistische Sicht der Technik rückt die Ver-
nen Industriebetrieben. Andererseits treiben techni- nunftleistungen des Menschen beim Entwurf und
sche Innovationen die gesellschaftliche Entwicklung Gebrauch von Technik ins Zentrum. Danach ist das
entscheidend voran. Technikgeschichte ist immer Hervorbringen von Technik planvoll und ideenge-
auch Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Der letztere leitet. Technische Ideen lassen sich auf drei Weisen
Punkt wurde von Karl Marx betont, der die Technik charakterisieren: als »symbolische Formen«, die
als zentrale Produktivkraft betrachtete (s. Kap. menschliche Ideen in konkrete Gestalt umsetzen
IV.A.2). Zusammen mit Marx ’ ›deterministischem‹ (Cassirer 1930/1995), im Sinne der »instrumentellen
Geschichtsverständnis hat dies einen Technik-De- Vernunft« (Horkheimer 1967) und als Pläne zur
terminismus in der Industriesoziologie (zu Technik Umgestaltung der Natur, die auf die »Erschaffung
als soziale Konstruktion s. Kap. IV.A.10) begründet; von Neuem« zielen (Mittelstraß 1992).
126 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Technik als symbolische Form: Nach Ernst Cassirer weiterung unserer natürlichen Organe, greift daher
(zur Philosophischen Anthropologie s. Kap. IV.A.3) zu kurz. Die Neukonstruktion der Wirklichkeit hat
verkörpern technische Werkzeuge die symbolischen mit den Errungenschaften der wissenschaftlichen
Fähigkeiten des Menschen. Die Technik ist eine und industriellen Revolutionen der Neuzeit einen
symbolische Form wie Sprache, Religion, Wissen- neuen Grad erreicht. Die wissenschaftlich-techni-
schaft, Moral oder Kunst, wobei alle symbolischen sche Lebenswelt besteht zunehmend aus Artefakten
Formen nach Cassirer ähnlich wie die Technik anstelle einer natürlichen Umwelt. Jürgen Mittel-
Werkzeugcharakter haben: Sie bilden die Wirklich- straß (1992) bezeichnet sie als »Leonardo-Welt«, als
keit nicht ab, sondern verleihen ihr erst konkrete menschgemachte künstliche Welt, die das, was man
Gestalt. Im Gegensatz zu anderen symbolischen For- einst unter ›Natur‹ verstand, immer stärker ver-
men ist eine technische Idee auf einen bestimmten drängt.
Zweck konkretisiert. Sie steht für die spezifische
Funktionsweise eines Gegenstands in einem konkre-
ten Handlungskontext und für den Nutzen, den er Idee und Wirklichkeit –
dabei hat. Technik, die den vorgegebenen Zweck Technik schlägt in Natur zurück
nicht erreicht, schlägt fehl oder wird dysfunktional.
Technische Ideen sind also symbolische Formen, die Bei Technik, die fehlschlägt oder deren Konsequen-
für den konkreten Nutzen von etwas stehen. Hierin zen wir nicht mehr überschauen, klaffen technische
berühren sie sich direkt mit dem Ökonomiegedan- Idee und Realisierung auseinander. Wenn die Tech-
ken – ganz anders als die Symbolisierungsweisen der nikkontrolle versagt, verschiebt sich das Verhältnis
Sprache, Wissenschaft und Kunst, oder als Kants zwischen naturalen und nicht-naturalen Technik-
moralische Idee des Menschen als Selbstzweck. aspekten: Der Technikgebrauch verselbständigt sich
Instrumentelle Vernunft: In Technik als spezifi- gegenüber dem Versuch, ihn vernunftgemäß zu
scher Form von ökonomischer Zweckrationalität ist steuern, und die Technik wird naturwüchsig. Die
die instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1967) am philosophische Reaktion darauf sind negative
Werk. Die übergeordneten Zwecke des Entwurfs Technikutopien (Anders 1956, 1980), die Deutung
und Gebrauchs von Technik sind technikexterne der Technik als Schicksal (Heidegger 1962) und der
Ideen, die letztlich aber nicht der Technik selbst, Ruf nach dem Prinzip Verantwortung (Jonas 1979;
sondern der praktischen Vernunft in einem weiteren s. Kap. IV.B.2).
Sinne (etwa nach Kant) entspringen. Aus anthropo- Technik als Schicksal: Martin Heidegger betrach-
logischer Sicht kommt der Technik die Rolle zu, die tet die Verselbständigung der Technik auf der
Menschen von der unmittelbaren Daseinssorge zu Grundlage der neuzeitlichen Naturwissenschaft als
entlasten und damit neue menschliche Kräfte freizu- schicksalhaft und gelangt dadurch zu einem nicht-
setzen, etwa für kulturelle Leistungen. Doch als biologistischen Technik-Determinismus. Er be-
Form der Zweckrationalität ist sie dadurch gekenn- stimmt den Begriff der Technik aus idealistischer
zeichnet, dass sie mit konkreten Werkzeugen die Ef- Perspektive; er sucht nach einer »Wesensbestim-
fizienz unserer Handlungen steigert und z. B. die Ar- mung«, die uns eine »freie Beziehung« zur Technik
beit erleichtert. eröffnet. Hierfür analysiert er die Zweckrationalität,
Neukonstruktion der Wirklichkeit: Technische die sich in der Technik verkörpert. Er gelangt zu ei-
Ideen sind Konstruktionsvorschriften für die Umge- ner anti-biologistischen Deutung der Technik, nach
staltung von Naturdingen und Naturvorgängen nach der die technische Produktion im Gegensatz zur bio-
menschlichem Plan. Bei aller Nutzenorientierung logischen Entwicklung steht: Während ein organi-
sind sie Ausdruck menschlicher Freiheit, es handelt scher Wachstumsprozess aus sich selbst heraus ge-
sich um schöpferische Ideen. Die Technik hat somit schieht, besteht die Technik im Hervorbringen von
einen ›demiurgischen‹ Aspekt, sie zielt auf die Er- Dingen und Effekten, das im Gegensatz zum natürli-
schaffung von Neuem. Die Technik der Menschen chen Dasein wesentlich fremdbestimmt ist. Diese
geht über das hinaus, was die Natur an potentiellen Fremdbestimmtheit kommt vor allem in der neu-
Werkzeugen liefert. Darüber hinaus hat die Handha- zeitlichen Technik zur Geltung. Mittels der experi-
bung technischer Geräte einen spielerischen Aspekt, mentellen Methode wird die Natur ›herausgefordert‹
der nicht in vorgegebenen Ideen, Plänen und Nut- oder ›gestellt‹ im Doppelsinn des Erschließens ver-
zungsweisen aufgeht. Die naturalistische Vorstel- borgener Ressourcen und der möglichst effektiven
lung, die Technik bestünde im Ersatz und in der Er- Nutzung dieser Ressourcen. Heidegger benennt hier
9. Technikdeterminismus 127

die komplexen Beziehungen zwischen Technik, Na- Wohlstands in den Industrienationen, aber auch zur
turwissenschaft und Ökonomie. zunehmenden Desorientierung des Menschen in ei-
Im Resultat bezeichnet Heidegger die neuzeitli- ner Lebenswelt, die aus technischen Artefakten be-
che Technik als »Gestell« – als Summe an Konstruk- steht (Anders 1956, 1980), und zur tendenziellen
ten und Nutzungsbeständen, in denen der Mensch Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen. Dabei
überall nur noch seinen eigenen Produkten und wird sowohl das Versagen von Technologie als auch
doch nirgends mehr sich selbst begegnet. Dabei hält schleichende Nebenfolgen funktionierender Tech-
Heidegger die globalisierte Technik für unentrinn- nik (Jonas 1979) gesellschaftlich relevant. Wenn
bar und betrachtet die Technik als Lebensform und simpler Werkzeuggebrauch seine Funktion nicht er-
kollektives Schicksal für die Menschen. Daneben be- füllt, so wirkt sich dies auf den Handwerker selbst
tont er die Gefahr der Selbstentfremdung als indivi- und auf sein Erzeugnis aus, in Form eines Unfalls
duelle Konsequenz dieses kollektiven Schicksals. Zu- oder eines missglückten Werkstücks. Dagegen wer-
gleich macht er deutlich, dass der technischen Ent- den moderne Technologien in großem Maßstab pro-
wicklung nicht durch moralische Forderungen von duziert und konsumiert. Relativ geringfügige Ursa-
außen Einhalt geboten werden kann, so sehr ist der chen können dabei zu Kettenreaktionen oder globa-
technische Fortschritt anthropologisch mit dem len Umweltschäden führen und beträchtliche
Schicksal der Menschheit verflochten. Damit hebt er Wirkungen auslösen, von der Explosion in einer
die grundsätzliche Ambivalenz des kollektiven Tech- chemischen Fabrik über den Börsencrash auf den in-
nikgebrauchs hervor, dessen Folgen die Menschheit ternationalen, computergesteuerten Finanzmärkten
existentiell gefährden. Die Gefährdung betrifft den bis zum Klimawandel.
Menschen als Naturwesen und als Vernunftwesen.
Nicht (nur) der Fortbestand der Gattung ist gefähr-
det, sondern auch die menschliche Freiheit. Konsequenzen
Beschleunigte Verselbständigung: Die Verselbstän-
digung der Folgen kollektiven technischen Handelns Technische Ideen, die auf lokales Eingreifen in die
ist heute immens (zu Technikfolgen s. Kap. II.5). Wirklichkeit zielen, bekommen in der wissenschaft-
Doch bei genauer historischer Betrachtung erweist lich-technischen Lebenswelt hochgradig nicht-lo-
sich ihr Zustandekommen  – wie der Verlauf jeder kale Auswirkungen. Wo die Folgen technischen
einzelnen wissenschaftlichen und technischen Re- Handelns unüberschaubar werden, schlägt Technik
volution seit Beginn der Neuzeit  – als schrittweise in Natur zurück; jedoch nicht in strikte Naturge-
verlaufender, gradueller Prozess. Im Übergang von setze, sondern in Mechanismen, bei denen die ›erste‹
den ständisch organisierten, bäuerlich und hand- und die ›zweite‹ Natur auf schwer durchschaubare
werklich produzierenden Gesellschaften des Hoch- Weise zusammenwirken.
mittelalters und der Renaissance zur industriellen Funktionierende Technik ist grundsätzlich den-
Produktion der Neuzeit hat sich der technische Fort- selben Naturgesetzen unterworfen wie Technikver-
schritt zwar zunehmend beschleunigt, doch die sagen, Unfälle, Katastrophen oder Umweltschäden.
meisten Schritte brachten für sich genommen kaum In funktionierender Technik beherrscht man die Na-
grundsätzlich Neues mit sich. Was also hat sich ge- turgesetze, beim Fehlschlag von Technik offenbar
ändert? In der neuzeitlichen Technik geht die indus- nicht. Fehlschläge der Technik, die zu schweren Un-
trielle Produktion mit den Methoden der Naturwis- fällen mit Umweltverseuchung führen, werden mit
senschaften zusammen. Dabei wird der Gedanke einem gewissen Recht quasi als Naturkatastrophen
der Effizienz vorherrschend; entsprechend be- erfahren, auch wenn sie menschengemacht sind.
schleunigen sich technischer Fortschritt und ökono- Doch die Quasi-Naturgesetzlichkeit unbeherrschter
mische Entwicklung mit jeder industriellen Revolu- Technikfolgen (s. Kap. II.5) enthebt die Menschen
tion drastisch. Die Steigerung von Arbeitsleistung, und Institutionen, die Technik produzieren und ein-
Wirkungsgrad und Produktionsausbeute  – oder setzen, nicht von der Pflicht, die Risiken zu mini-
auch: die Beschleunigung der ökonomischen Pro- mieren und sorgsam mit sensiblen Technologien
duktion mit technischen Mitteln – wird zum ökono- umzugehen. Der einzige Weg, dem Technik-Deter-
mischen Prinzip und zum Motor der wissenschaftli- minismus Einhalt zu gebieten, sind ethische Refle-
chen und technischen Entwicklung. xion des Technikgebrauchs, differentielle Technik-
Dies führte zum bekannten Anstieg der Lebens- folgenabschätzung und politische Steuerung.
erwartung, der Lebensqualität und des allgemeinen
128 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Literatur 10. Technik als soziale


Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Konstruktion
Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revo-
lution. München 1956.
– : Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zer-
störung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Vom Technikdeterminismus
Revolution. München 1980.
Cassirer, Ernst: Form und Technik [1930]. In: Symbol, zum Sozialkonstruktivismus
Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933.
Hamburg 1995, 39–91. Die frühen 1980er Jahre markieren einen Wende-
Falkenburg, Brigitte: Wem dient die Technik? Eine wissen- punkt in der sozialwissenschaftlichen Technikfor-
schaftstheoretische Analyse der Ambivalenzen techni- schung. Bis dahin war sie, soweit man überhaupt von
schen Fortschritts [2002]. In: Die Technik – eine Dienerin
eigenständiger Technikforschung reden konnte, vor
der gesellschaftlichen Entwicklung? Hg. von der J.J. Be-
cher-Stiftung Speyer. Baden-Baden 2004, 45–177. allem industriesoziologisch geprägt und orientiert
– : Kollektiver Technikgebrauch und Klimawandel. In: an den Technikfolgen. In dieser zugespitzt als Tech-
Hans Poser (Hg.): Herausforderung Technik. Frankfurt nikdeterminismus (s. Kap. IV.A.9) bezeichneten
a. M. 2008, 217–239. Ausrichtung, deren »Ende« der Vorsitzende der
Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozial- Deutschen Gesellschaft für Soziologie in seinem Er-
psychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft.
Hamburg 1957. öffnungsbeitrag zum Soziologentag 1986 verkün-
Grunwald, Armin: Technikphilosophie. In: Stefan Bröch- dete, wurde Technik als treibende Kraft des industri-
ler/Georg Simonis/Karsten Sudermann (Hg.): Hand- ellen und allgemein des sozialen Wandels betrachtet.
buch Technikfolgenabschätzung. Bd. 1. Berlin 1999, 183– Aus dieser Perspektive ist die technische Entwick-
191. lung durch eine kaum beeinflussbare Eigendynamik
Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre. Tübingen
1962. und Eigengesetzlichkeit geprägt, die eine passive
Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Anpassung der sozioökonomischen Strukturen, ge-
Frankfurt a. M. 1967. sellschaftlichen Organisationsformen und sozialen
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Verhaltensweisen erzwingt (Lutz 1987, 35). »Der
Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. Kausalpfeil nimmt seinen Ausgang in der Technik
1979.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. und führt zum Sozialen; eine umgekehrte Richtung
Riga ²1786. ist nicht vorgesehen« (Grunwald 2007, 68).
Mittelstraß, Jürgen: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, For- Wachsende Technikskepsis in der Öffentlichkeit
schung und Verantwortung. Frankfurt a. M. 1992. und auch in den Sozialwissenschaften angesichts
Portmann, Adolf: Zoologie und das neue Bild des Menschen. negativer Folgen des technischen Fortschritts und
Hamburg 1956.
Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie. Freiburg
zunehmend undurchschaubarer Komplexität tech-
1978. nischer Großsysteme haben zusammen mit der Er-
Ropohl, Günther: Kritik des technologischen Determinis- kenntnis, dass identische Techniken in verschiede-
mus. In: Friedrich Rapp/Paul T. Durbin (Hg.): Technik- nen Kontexten unterschiedliche organisatorische
philosophie in der Diskussion. Braunschweig 1982, 3–18. und soziale Effekte zeitigen, dazu beigetragen, »tech-
Brigitte Falkenburg nische Gegenstände als soziale Phänomene und
technische Entwicklung als sozialen Prozeß« zu ver-
stehen (Lutz 1987, 44). Das Interesse der Forschung
über Technik hat sich deshalb ihrer Entstehung bzw.
Erzeugung und den Prozessen der Technisierung ge-
sellschaftlicher Lebensbereiche zugewandt. Diese
Phänomene werden aus evolutionstheoretischer, in-
stitutionalistischer, kulturalistischer und/oder histo-
rischer Perspektive, aber auch mit den Mitteln der
Theorie rationaler Wahl und der Spieltheorie analy-
siert (vgl. Halfmann et al. 1995).
Unter den ›Theoriebausteinen‹ der Techniksozio-
logie hat vor allem in den 1980er und 1990er Jahren
der Sozialkonstruktivismus, der sich überwiegend
mit der Entstehung von Technik (Technikgenese) be-
10. Technik als soziale Konstruktion 129

fasst, eine besondere Prominenz erlangt. Ein starker von haben, welchen Zweck ein technisches Artefakt
Impuls kam aus der Wissenschaftsforschung, in der erfüllen und wie es aussehen soll. Am Beispiel der
relativistische und konstruktivistische Ansätze do- sozialen Konstruktion des Fahrrades zeigt Bijker
minierten. Hier konnte gezeigt werden, dass, was als (1995), dass eine soziale Gruppe es als einen Gegen-
›objektive‹ naturwissenschaftliche Tatsache erschei- stand betrachtete, mit dem sie ihren Mut und ihre
nen mag, tatsächlich in dem Sinne sozial konstruiert Männlichkeit unter Beweis stellen konnte (Macho
ist, dass es das Ergebnis insbesondere von sozialen Bike), während andere Gruppen mehr Wert legten
Aushandlungsprozessen, aber auch etwa der Aus- auf die Einfachheit der Benutzung oder die Sicher-
stattung von Forschungslabors mit Instrumenten heit oder auch auf die Geschwindigkeit der Fortbe-
darstellt. In anderen sozialen und materiellen Kon- wegung. Wieder andere richteten ihre Aufmerksam-
stellationen hätte das Ergebnis anders ausfallen kön- keit auf die unterschiedlichen Anforderungen, die
nen. In einem 1984 publizierten Artikel plädieren Männer und Frauen an die Konstruktion richteten,
Trevor Pinch und Wiebe Bijker dafür, diese Ansätze oder sie hielten es grundsätzlich für moralisch ver-
für die Technikforschung fruchtbar zu machen. Das werflich, dass Frauen überhaupt Fahrräder, ganz
Potential ihres Ansatzes, der Social Construction of gleich welcher Konstruktion, benutzten. Auch die
Technology (SCOT), illustrieren sie am Beispiel der Hersteller von Fahrrädern brachten ihre Vorstellun-
Entwicklung des Fahrrades (Pinch/Bijker 1984). In gen ein. Ähnlich war es im Falle der Erfindung des
einer späteren Publikation greift Bijker dieses Bei- Bakelits. Schon im Erfindungsprozess spielten trotz
spiel noch einmal auf und ergänzt es um zwei wei- der herausragenden Rolle des Erfinders Leo Hendrik
tere Fallstudien: Die Entstehung des Bakelits, des Baekeland die unterschiedlichen Vorstellungen und
ersten synthetischen Werkstoffes, und die Markt- Anforderungen relevanter sozialer Gruppen eine
durchsetzung der Leuchtstoffbirne (Bijker 1995). In wichtige Rolle. Verschiedene Gruppen von potenti-
diesen Fallstudien entwickelt und verwendet der ellen Konsumenten, von Chemikern und Ingenieu-
Autor ein konzeptionelles deskriptives Modell, mit ren, aber auch von Industriedesignern und Pro-
dessen Hilfe, so der Anspruch, die sozialen Wurzeln duzenten ähnlicher Kunststoffe artikulierten ihre
jeder Technik sichtbar gemacht werden können. Erwartungen im Hinblick auf die Eigenschaften,
Verwendungsmöglichkeiten und Produktionsver-
fahren des Bakelit und trugen so zur sozialen Kon-
Zentrale analytische Konzepte struktion dieses Kunststoffs bei. Im Falle der Leucht-
stoffbirne schließlich ging es darum, dass sich diese
Das deskriptive Modell besteht aus zentralen analy- Technik am Markt gegen eine Vielzahl etablierter
tischen Konzepten, die den SCOT-Ansatz prägen, Beleuchtungsmittel durchsetzte. Relevante soziale
was aber nicht bedeutet, dass sie alle bereits frühzei- Gruppen waren die stark kartellierten und vernetz-
tig ausformuliert und expliziert worden waren. Ins- ten Produzenten und Händler von Beleuchtungs-
besondere in den frühen 1980er Jahren publizierte mitteln, aber auch die Elektrizitätsversorger und
Analysen der sozialen Gestaltung von Technik ver- später die allgemeine Öffentlichkeit neben den Be-
wenden nur selten diese Konzepte, auch wenn sie leuchtungsingenieuren und Herstellern von Lampen
unter dem SCOT-Ansatz subsumiert wurden (vgl. für Haushalt und Gewerbe. Im Prozess der sozialen
Bijker et al. 1987). Gemeinsam ist ihnen die Abkehr Konstruktion der Leuchtstoffbirne spielten die wirt-
vom Technikdeterminismus, indem sie zeigen, dass schaftlichen Interessen und die Marktmacht der ge-
Technik an sich keine soziale Gestaltungsmacht aus- nannten sozialen Gruppen eine wichtige Rolle. Auch
übt. Auch lassen sie erkennen, dass die Vorstellung ihre Vorstellungen von der Funktionalität und Qua-
einer linearen Entwicklung der Technik von der For- lität der Beleuchtung und der Leistungsfähigkeit ver-
schung über die Entwicklung, die Herstellung von schiedener Varianten der Leuchtstoffbirne, über die
Prototypen, die Produktion der Technik und ihre auch am Verhandlungstisch gestritten wurde, flos-
Einführung in den Markt angesichts zahlreicher sen in den Konstruktionsprozess ein. Ähnlich wie
Verzweigungen und Rückkopplungsschleifen im beim Fahrrad gab es auch bei der Leuchtstoffbirne
Entwicklungs- und Herstellungsprozess nicht zu- eine Diskussion über die Sicherheit der Benutzung
treffen kann. dieser Techniken.
Drei analytische Konzepte werden im SCOT-An- Das zweite wichtige Konzept der Analyse der so-
satz besonders betont. Erstens sind es relevante sozi- zialen Konstruktion von Technik betrifft deren in-
ale Gruppen, die unterschiedliche Vorstellungen da- terpretative Flexibilität. Die verschiedenen sozialen
130 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Gruppen haben derart unterschiedliche Vorstellun- Kritik und Perspektiven


gen von der entstehenden Technik, betrachten sie
aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln, dass es Frühe Kritik am Sozialkonstruktivismus zielt spezi-
aus der SCOT-Perspektive nur wenig Sinn macht, ell auf das Konzept der relevanten sozialen Gruppen
von einer identischen Technik zu sprechen. Ein des SCOT-Ansatzes. Ihm zufolge formt die sozio-
Fahrrad ist zunächst so viele Fahrräder, wie mit ihm kulturelle Situation dieser Gruppen die Normen und
unterschiedliche – keineswegs nur technische – Vor- Werte, die dann die Interpretation und Bewertung
stellungen und Bedeutungen verbunden sind. Ana- des technischen Artefakts beeinflussen. Dies sind
loges gilt für das Bakelit und die Leuchtstoffbirne. aber, so die Kritik, Setzungen, die nicht geprüft wer-
Nicht nur das Aussehen oder die Architektur einer den (Rosen 1993). Ähnliches gilt für die Beurteilung
Technik sind interpretativ flexibel. Auch das Funkti- der Relevanz einer Gruppe, deren Bestimmung ex-
onieren oder Nichtfunktionieren der Technik und post erfolgt und der Selbsteinschätzung der Gruppe
damit die Frage, ob ein ›fertiges‹ Produkt als Erfolg überlassen wird anstatt mit Hilfe externer Kriterien
oder Fehlschlag erscheint, ist abhängig von grup- zu untersuchen, warum bestimmte Gruppen rele-
penspezifischen Leistungsanforderungen und Inter- vant werden und andere nicht. Solange sich der
pretationen. Das gilt selbst für die Präzision der SCOT-Ansatz ganz überwiegend nur auf die Mi-
Steuerung hoch komplexer Systeme wie der Atomra- kroebene der Akteure konzentriert und hier vor al-
kete. Aus der SCOT-Perspektive ist es nicht gerecht- lem die unmittelbar Handelnden betrachtet, kom-
fertigt, davon auszugehen, dass Präzision die natür- men strukturelle, kulturelle und insbesondere insti-
liche oder unausweichliche Folge technischen Wan- tutionelle Faktoren nicht ins Blickfeld, obwohl sie
dels ist. Vielmehr ist die Einschätzung, ob etwas die Relevanz, die Macht und den Einfluss der einzel-
präzise funktioniert, nicht objektiv gegeben, son- nen Gruppen prägen und daher nicht vernachlässigt
dern interpretationsabhängig. Somit ist letztlich werden dürfen, wenn erklärt werden soll, warum
auch die »Erfindung« von Präzision das Resultat von sich welche Variante einer Technik durchsetzt
sozialen Prozessen (MacKenzie 1990, 3 f.). (Werle 1998).
Das dritte als Schließung und Stabilisierung be- Der SCOT-Ansatz kritisiert überzeugend den
zeichnete Konzept stellt darauf ab, dass die unter- Technikdeterminismus, ist aber selber sozialdeter-
schiedlichen Vorstellungen und Interpretationen in ministisch. Er ignoriert die Möglichkeit, dass der
Verhandlungen und Aushandlungen zwischen den technische Wandel eine Dynamik entwickelt, die au-
sozialen Gruppen und in anderen Selektionsprozes- ßerhalb der Einflussmöglichkeiten der relevanten
sen schließlich zu einem Ergebnis führen, das dann sozialen Gruppen liegt. Das Konzept der Schlie-
zumindest eine Zeit lang von den relevanten sozia- ßung, Stabilisierung und Härtung legt dies jedoch
len Gruppen akzeptiert wird. Die Auseinanderset- durchaus nahe. So ist zu erwarten, dass sich eine ein-
zungen gelten als abgeschlossen, und es stabilisiert mal stabilisierte und gehärtete Technik pfadabhän-
sich ein bestimmtes Konzept eines technischen Ar- gig weiter entwickelt und nur noch schwer auf einen
tefakts, d. h. dessen interpretative Flexibilität wird anderen Pfad oder eine andere Trajektorie umge-
entscheidend reduziert. In der Technikgenesefor- lenkt werden kann (vgl. Werle 2007).
schung werden diese Prozesse auch als Konsolidie- Weil der SCOT-Ansatz sich in der Regel auf frühe
rung und Härtung einer Technik bezeichnet (vgl. Phasen der Technikentwicklung und die Interpreta-
Knie 1991). Im Falle des Fahrrades stabilisierte sich tionen und Vorstellungen der unmittelbar Handeln-
schließlich die von mehreren Gruppen geteilte Kon- den konzentriert, aber offenbar auch aus methodi-
zeption des Sicherheitsfahrrades mit Luftbereifung. schen Gründen (Winner 1993, 372), blendet er die
Unter Bakelit wurde letztlich allgemein ein syntheti- gesellschaftlichen Wirkungen und Effekte der sozial
sches Material verstanden, das in erhitztem Zustand konstruierten Technik weitgehend aus (zu Technik-
formbar war, nach Abkühlung fest wurde und nicht folgen s. Kap. II.5). Eine Ausnahme bildet lediglich
mehr etwa durch Alkohol oder Glyzerin aufgeweicht die Variante des Constructive Technology Assessment
werden konnte. Die Leuchtstofflampe stabilisierte (CTA) (s. Kap. VI.4). Dieser in einigen Ländern zu-
sich schließlich nach heftigen Auseinandersetzun- mindest teilweise institutionalisierte Ansatz zielt
gen zwischen Elektrizitätsversorgungsunternehmen darauf, Technik in ihrer frühen Entwicklung durch
und mächtigen Herstellerfirmen von Beleuchtungs- direkte Eingriffe so zu beeinflussen, dass gesell-
material als eine noch heute gebräuchliche mit ho- schaftlich unerwünschte Wirkungen nicht eintreten
her Lichtintensität fluoreszierende Röhre. (vgl. Schot/Rip 1997).
10. Technik als soziale Konstruktion 131

Ethische Aspekte häufiger, implizit auf ethische Begriffe und Kon-


zepte berufen.
Die dem SCOT-Ansatz verpflichtete Forschung zeigt Der Blick auf die Geschichte des Internet zeigt,
zwar, dass die relevanten sozialen Gruppen sehr un- dass sein Vorläufer, das ARPANET, zwar mit Gel-
terschiedliche Vorstellungen vom Design und der dern aus dem U.S.-Verteidigungsministeriums fi-
späteren Nutzung technischer Artefakte haben kön- nanziert wurde, dass es aber nicht für alle Beteiligten
nen, sie entwickelt aber in aller Regel, wie es Lang- in erster Linie ein Netz darstellte, das militärische
don Winner ausdrückt, keinerlei moralische oder Werte wie Überlebensfähigkeit durch räumliche De-
politische Prinzipien, die eine Bewertung der Arte- zentralisierung verkörpern sollte. Die in die Ent-
fakte ermöglichen würden. Die Forscher haben of- wicklung involvierten Informatiker und Computer-
fenbar keine theoretische oder praktische Position wissenschaftler wollten ein Netz, das die Werte der
hinsichtlich des Zusammenhangs von Technik und Kollegialität, der dezentralisierten Autorität und des
dem Wohlbefinden der Menschen (Winner 1993, offenen kooperativen Austauschs reflektieren sollte.
371 f.). Diese an die Forscher adressierte Kritik kann Gemeinsam mit der wachsenden Zahl der Nutzer
als Forderung verstanden werden, technikethische sahen die Entwickler das Netz in erster Linie als ein
Aspekte in die Forschung einzubeziehen, was jedoch Kommunikationsmedium, auch wenn das von den
zumindest in dieser expliziten Form im Sozialkon- Geldgebern nicht so vorgesehen war (Abbate 1999,
struktivismus nicht geschieht. 5 f.). In den 1970er Jahren entstanden Gremien der
Der SCOT-Ansatz, und hier speziell das Konzept Selbstverwaltung und Koordination mit teils opera-
der interpretativen Flexibilität, erlaubt es allerdings tiven und teils konsultativen Funktionen, von denen
durchaus zu zeigen, wie und welche normativen und einige in größeren Dimensionen noch heute existie-
ethischen Aspekte in Prozessen der Technikent- ren. Hier entstanden die Basisprotokolle, mit denen
wicklung und des sozio-technischen Wandels mobi- in dezentraler Form technisch heterogene Netze ver-
lisiert werden. Dies lässt sich am Beispiel der Entste- knüpft werden konnten und die von der U.S. Natio-
hung und Entwicklung des Internet (s. Kap. V.10) nal Science Foundation Mitte der 1980er Jahre für
gut illustrieren, auch wenn es hierzu nur wenig For- die Vernetzung aller Universitätsrechner zum Inter-
schung wie diejenige zur Erfindung des Internet net verbindlich gemacht wurde. Die »Fähigkeit Ver-
gibt, die explizit sozialkonstruktivistisch orientiert bindungen zu schaffen – das inter-networking – ist
ist (Abbate 1999). Die Entwicklung des Internet und der offensichtlichste Wert des Internets« – technisch
seines Vorläufers, des ARPANET, lässt sich als eine wie sozial (Arbeitsgruppe 2002, 40; auch Abbate
Abfolge von ›Technikkonflikten‹, d. h. Kontroversen 1999, 111). Die Basisprotokolle stehen kostenlos zur
darüber verstehen, welche Opportunitäten und Pro- Verfügung. In der Wahrnehmung der Internetpio-
bleme sich im Laufe der Entwicklung ergeben und niere, aber auch späterer Generationen der sog. In-
wie sie behandelt werden sollen. Dabei geht es nicht ternet Community drücken sich in diesen techni-
(nur) um wahrgenommene Risiken oder um die schen Eigenschaften Werte wie Hilfsbereitschaft,
Frage, ob man eine neue Funktion des Netzes für Kooperation und Offenheit aus.
nutzlos oder wertvoll erachtet, sondern (auch) ent- Bis Ende der 1980er Jahre hatte sich eine »Netz-
lang der »Basisunterscheidung von gut und böse« kultur« (Helmers et al. 1998) mit formellen Benut-
(Bogner 2011, 29) um das moralisch Gebotene. Die zungsordnungen und informellen Regeln speziell
Technikkonflikte haben also eine ethische Dimen- der Kommunikation im Internet herausgebildet, die
sion. Sie sind »ethisiert« (ebd., 27 ff.). Im Falle des darauf zielten, einen reibungslosen Netzbetrieb und
Internet liegt entsprechend dem SCOT-Ansatz, was eine »verantwortliche und solidarische Nutzung der
die relevanten sozialen Gruppen betrifft, die Auf- knappen Kapazitäten« zu gewährleisten, ohne dass
merksamkeit weniger auf Bürgerforen, Parlamenten es staatlicher oder anderer hierarchischer Eingriffe
oder Ethikräten als auf Informatikern, Computer- bedurfte (Werle 2001, 462). Eine Nutzung für kom-
wissenschaftlern und anderen Entwicklern des Net- merzielle Zwecke schlossen sie grundsätzlich aus.
zes, Nutzern und Nutzergruppen sowie den für die Dies änderte sich spätestens mit der Einführung des
Systemarchitektur, die Standardisierung oder die World Wide Web und dem Rückzug der U.S. Natio-
Adressenvergabe zuständigen kollektiven Akteuren nal Science Foundation aus der Finanzierung des In-
der internen Internet Governance. Dabei interessiert ternet Mitte der 1990er Jahre. In dem nun privati-
vor allem, dass sich die Parteien im Technikkonflikt, sierten Netz blieben jedoch – pfadabhängig – traditi-
gleichgültig wie dieser Konflikt endet, explizit oder, onelle Prinzipien der Nutzung und Gestaltung
132 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Elemente der technischen Architektur Korrespondierende Werte


Dezentrale transparente Netzstruktur Freier Zugang, Selbstverantwortung
Minimale zentrale Koordination Selbstregulierung, Demokratie,
Korrespondenzen der
Redefreiheit
technischen Architektur
Technische Eigenständigkeit der Autonomie, Heterogenität des Internet mit ihnen
Teilnetze zugeschriebenen
Open Source bzw. Public Domain Offenheit, Kooperation, Partizipation positiven gesellschaft-
Software lichen Werten
Vielfalt technischer Optionen Innovation, Kreativität, Individualität (vgl. Werle 2001, 464;
2002, 248)

erhalten. Hierzu zählen vor allem Dezentralisierung, Viele Konflikte um die weitere Gestaltung des In-
offene Architektur und aktive Nutzerpartizipation ternet muten sehr technisch an. Wie die aktuelle
(Abbate 1999, 217). Auch bleiben starke Vorbehalte Auseinandersetzung um Netzneutralität zeigt (Feick/
gegen eine Dominanz wirtschaftlicher Nutzungsfor- Werle 2010, 531 f.), prallen in dem Konflikt aber tat-
men des Internet bestehen, wie die Auseinanderset- sächlich auch ethisch unterschiedlich bewertete In-
zungen um das Urheberrecht oder den Datenschutz terpretationen aufeinander, die oftmals die Erzielung
zeigen (zu Information s. Kap. V.9, zu Internet s. eines Konsenses ausschließen. Im Gegensatz zum
Kap. V.10). Konzept der Schließung und Stabilisierung des
Trotz der angedeuteten Veränderungen gilt wei- SCOT-Ansatzes, das auf eine schließlich erreichbare
terhin, dass viele technische Eigenschaften positiv Konsolidierung einer bestimmten technischen Lö-
besetzt sind, weil sie in der Wahrnehmung vieler sung verweist, wäre es illusorisch zu erwarten, dass
Nutzer Werte einer ›guten‹ Gesellschaft repräsentie- ethisierte Technikkonflikte in der Regel konsensuell
ren. Das Internet wird als gutes sozio-technisches gelöst werden (Bogner 2011, 31 ff.). Dennoch bietet
System wahrgenommen (vgl. Werle 2001). In den der SCOT-Ansatz mit seinen analytischen Konzep-
Technikkonflikten um die weitere Entwicklung und ten das zumindest deskriptive Potential, die Ethisie-
Nutzung des Netzes werden, oftmals eher implizit, rung von Technikkonflikten nachzuzeichnen und
Korrespondenzen bestimmter Elemente der techni- systematisch als wichtigen Faktor im Prozess der
schen Architektur mit ihnen zugeschriebenen posi- sozialen Konstruktion von Technik zu berücksichti-
tiven Werten sichtbar. Die Tabelle deutet einige die- gen.
ser Korrespondenzen an. Hierbei handelt es sich um
Zuschreibungen begünstigt durch die offene Zweck- Literatur
struktur des sozio-technischen Systems und nicht
Abbate, Janet: Inventing the Internet. Cambridge, Mass./
um strukturelle Analogien.
London 1999.
Die Technikkonflikte (s. Kap. III.6) werden zu- Arbeitsgruppe globale Netze und lokale Werte: Globale
nehmend zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen Netze und Lokale Werte. Eine vergleichende Studie zu
und politischen Autoritäten, aber auch innerhalb Deutschland und den Vereinigten Staaten. Baden-Baden
dieser Parteien auf nationaler und internationaler 2002.
Bijker, Wiebe E.: Of Bicycles, Bakelites, and Bulbs. Toward a
Ebene ausgetragen. Im Konzept des SCOT-Ansatzes
Theory of Sociotechnical Change. Cambridge, Mass./
bilden sie die heute relevanten sozialen Gruppen. Im London 1995.
Prinzip geht es bei den meisten Konflikten um staat- – /Hughes, Thomas P./Pinch, Trevor J. (Hg.): The Social
liche (politische) Regulierung oder Selbstregulie- Construction of Technological Systems. New Directions in
rung (vgl. Feick/Werle 2010). Die Konflikte entste- the Sociology and History of Technology. Cambridge,
hen, weil denselben technischen Merkmalen des In- Mass./London 1987.
Bogner, Alexander: Die Ethisierung von Technikkonflikten.
ternet nicht nur positive, sondern auch negative Studien zum Geltungswandel des Dissenses. Weilerswist
Eigenschaften und Effekte zugeschrieben werden. 2011.
So gilt das Netz etwa auch als antidemokratische Dolata, Ulrich/Werle, Raymund (Hg.): Gesellschaft und die
Überwachungstechnologie (s. Kap. V.22), als Gefahr Macht der Technik. Sozioökonomischer und institutionel-
für den Datenschutz oder den Schutz geistigen Ei- ler Wandel durch Technisierung. Frankfurt a. M. 2007.
Feick, Jürgen/Werle, Raymund: Regulation of cyberspace.
gentums, als Brutstätte von Cyberkriminalität oder In: Martin Cave/Robert Baldwin/Martin Lodge (Hg.):
als Bedrohung des freien Informationsflusses und The Oxford Handbook of Regulation. Oxford 2010, 523–
der persönlichen Autonomie und Integrität. 547.
11. Werthaltigkeit der Technik 133

Grunwald, Armin: Technikdeterminismus oder Sozialde- 11. Werthaltigkeit der Technik


terminismus: Zeitbezüge und Kausalverhältnisse aus der
Sicht des ›Technology Assessment‹. In: Ulrich Dolata/
Raymund Werle (Hg.): Gesellschaft und die Macht der
Technik. Sozioökonomischer und institutioneller Wandel Technologie ist eng mit Werten verbunden. Gele-
durch Technisierung. Frankfurt a. M. 2007, 63–82. gentlich gefährden Technologien bestimmte Werte,
Halfmann, Jost/Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner beispielsweise Gesundheit und Sicherheit, so wie es
(Hg.): Technik und Gesellschaft Jahrbuch 8: Theoriebau- 2011 bei der Atomkatastrophe in Fukushima der Fall
steine der Techniksoziologie. Frankfurt a. M. 1995. war. Aber Technologien können auch Werte unter-
Helmers, Sabine/Hoffmann, Ute/Hofmann, Jeanette: Inter-
net … The Final Frontier: Eine Ethnographie. Schlussbe- stützen, wie beispielsweise das menschliche Wohlbe-
richt des Projekts »Interaktionsraum Internet. Netzkultur finden, die Demokratie oder den Schutz der Privat-
und Netzwerkorganisation«. Wissenschaftszentrum Ber- sphäre. Zunächst werden in diesem Kapitel, einigen
lin für Sozialforschung FS II 98–112. Berlin 1998. üblichen Differenzierungen der Moralphilosophie
Knie, Andreas: Diesel – Karriere einer Technik. Genese und zwischen verschiedenen Arten von Werten folgend,
Formierungsprozesse im Motorenbau. Berlin 1991.
Lutz, Burkart: Das Ende des Technikdeterminismus und zwischen instrumentalen und terminalen Werten
die Folgen – soziologische Technikforschung vor neuen sowie zwischen intrinsischen und extrinsischen
Aufgaben und neuen Problemen. In: Ders. (Hg.): Tech- Werten unterschieden. Danach wird die These der
nik und Sozialer Wandel. Verhandlungen des 23. Deut- Wertneutralität der Technologie besprochen und
schen Soziologentages in Hamburg 1986. Frankfurt a. M. kritisiert. Anschließend werden kurz einige der
1987, 34–52.
MacKenzie, Donald: Inventing Accuracy. A Historical Socio- wichtigsten internen und externen Werte im Zusam-
logy of Nuclear Missile Guidance. Cambridge, Mass./ menhang mit Technik diskutiert.
London 1990.
Pinch, Trevor J./Bijker, Wiebe E.: The social construction of
facts and artifacts: Or how the sociology of science and Wertekategorien
the sociology of technology might benefit from each
other. In: Social Studies of Science 14 (1984), 399–441.
Rosen, Paul: The social construction of mountain bikes: Vielfach wird zwischen intrinsischen und instru-
Technology and postmodernity in the cycle industry. In: mentellen Werten unterschieden. Intrinsische Werte
Social Studies of Science 23 (1993), 479–513. sind Selbstwerte, die um ihrer selbst willen wertvoll
Schot, Johann/Rip, Arie: The past and future of construc- sind, wohingegen sich die instrumentellen Werte
tive technology assessment. In: Technological Forecasting
and Social Change 54 (1997), 251–268.
darauf begründen, dass sie zum Erreichen anderer
Werle, Raymund: An institutional approach to technology. Werte beitragen. Obwohl die Unterscheidung zwi-
In: Science Studies 11 (1998), 3–18. schen instrumentellen und intrinsischen Werten auf
– : Das »Gute« im Internet und die Civil Society als globale den ersten Blick recht deutlich zu sein scheint, ist sie
Informationsgesellschaft. In: Jutta Allmendinger (Hg.): problematisch, vor allem, weil das Konzept der in-
Gute Gesellschaft? Verhandlungen des 30.Kongresses der
trinsischen Werte nicht eindeutig ist. Es wird nor-
Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Köln 2000. Opla-
den 2001, 454–474. malerweise so interpretiert, dass es sich auf ein Ob-
– : Internet and culture: The dynamics of interdependence. jekt oder einen Zustand bezieht, die in sich selbst
In: Gerhard Banse/Armin Grunwald/Michael Rader wertvoll sind. Somit ist ein intrinsischer Wert ein
(Hg.): Innovations for an e-Society. Berlin 2002, 243–259. Wert, der aus nichts anderem hergeleitet werden
– : Pfadabhängigkeit. In: Arthur Benz/Susanne Lütz/Uwe
kann. Intrinsische Werte können sich jedoch auch
Schimank/Georg Simonis (Hg.): Handbuch Governance.
Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfel- auf Dinge beziehen, die aufgrund ihres intrinsischen
der. Wiesbaden 2007, 119–131. natürlichen Charakters, d. h. der deskriptiven Eigen-
Winner, Langdon: Upon opening the black box and finding schaften einen Wert haben. Um diese Mehrdeutig-
it empty: Social constructivism and the philosophy of keit zu vermeiden, sollten Werte von Objekten bes-
technology. In: Science, Technology, & Human Values 18 ser mithilfe von zwei voneinander unabhängigen
(1993), 362–378.
Raymund Werle Methoden kategorisiert werden. Bei der ersten Me-
thode wäre zu ermitteln, ob es sich um relationale
Werte handelt oder nicht. Nicht relationale Werte
werden im Folgenden als ›intrinsische Werte‹ be-
zeichnet, da sich diese Werte nur auf intrinsische Ei-
genschaften stützen. Bei allen anderen Werten han-
delt es sich dann definitionsgemäß um ›extrinsische
Werte‹. Bei der zweiten Methode stellt sich die Frage,
134 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

ob es sich bei den fraglichen Objektwerten um den extrinsischen Eigenschaften der fraglichen Ar-
Selbstwerte handelt, die um ihrer selbst willen einen tefakte abhängt. Um nun die Plausibilität einer sol-
Wert haben, oder nicht. Die Selbstwerte werden im chen Annahme zu prüfen, müssen wir zunächst
Folgenden als ›terminale Werte‹ bezeichnet; alle an- Technologie beziehungsweise technologische Arte-
deren Werte werden dann unter dem Begriff ›instru- fakte definieren, da diese im Wesentlichen das sind,
mentelle Werte‹ zusammengefasst. wovon abhängt, was unserer Meinung nach intrinsi-
sche und extrinsische Eigenschaften technologischer
Artefakte ausmacht. Eine plausible minimale Defini-
Die Neutralitätsthese der Technik tion der Technologie muss sich auf das Konzept der
Funktion und/oder vergleichbare Konzepte  – wie
Gelegentlich wird die These der Wertneutralität aller beispielsweise Ziele, Zwecke und Absichten – bezie-
Technologie vertreten. Das Hauptargument zur Un- hen. Die Tatsache, dass Technologien eine Funktion
terstützung dieser These lautet, dass es sich bei der haben, bedeutet auch, dass sie einen instrumentellen
Technologie lediglich um ein neutrales Mittel zum Wert besitzen, d. h. dass sie zu einem bestimmten
Erreichen eines bestimmten Zwecks handelt, das Zweck verwendet werden können (s. Kap. II.1).
zum Vor- oder Nachteil genutzt werden kann. Somit Im Rahmen einer minimalen Definition hat
ergibt sich der jeweilige Wert aus der Nutzung und Technologie somit zumindest einen instrumentellen
erwächst nicht aus der Technologie selbst. Das be- Wert. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein solcher in-
deutet auch, dass die negativen Auswirkungen der strumenteller Wert für technologische Artefakte in-
Technologie den Nutzern zuzuschreiben sind und trinsisch ist, in dem Sinn, dass er nur von den intrin-
nicht den technologischen Artefakten oder ihren sischen Eigenschaften der technologischen Arte-
Gestaltern selbst. Wie die amerikanische Schusswaf- fakte abhängt. Das ist normalerweise nämlich nicht
fenvereinigung (National Rifle Association) sagt: der Fall: Der besondere instrumentelle Wert eines
»Waffen töten keine Menschen, es sind Menschen, bestimmten Hammers in Bezug auf das Einschlagen
die Menschen töten«. von Nägeln in ein Stück Holz hängt beispielsweise
Eine mögliche Interpretation der Annahme der auch von den körperlichen Fähigkeiten der Nutzer
Wertneutralität der Technologie besteht darin, diese ab, und diese Fähigkeiten sind extrinsisch, was den
so zu lesen, dass technologische Artefakte bloß einen Hammer betrifft. Selbst wenn der instrumentelle
extrinsischen Wert besitzen. Im Rahmen dieser In- Wert also eine inhärente Eigenschaft eines techni-
terpretation ist die These, dass die Technologie wert- schen Artefakts ist, ist dieser instrumentelle Wert
neutral sei, eindeutig falsch. Denn technologische nicht notwendigerweise auch ein intrinsischer Wert
Projekte haben eine physische oder materielle Kom- für das technologische Artefakt.
ponente, sind also auch physikalische Objekte, auch Ibo van de Poel und Peter Kroes (im Ersch.) haben
dann, wenn es sich nicht allein um physikalische argumentiert, dass technologische Artefakte nicht nur
Objekte handelt. Der Wert physikalischer Objekte instrumentelle Werte verkörpern können, sondern
als Mittel zum Zweck stützt sich  – zumindest teil- auch einen terminalen Wert. Als Beispiel führen sie
weise  – auf ihre intrinsischen Eigenschaften. Ein einen Seedeich an. Die technische Funktion eines See-
Stein beispielsweise kann aufgrund seiner physi- deichs besteht darin, das Hinterland vor Überflutung
schen intrinsischen Eigenschaften dazu verwendet zu schützen, was instrumentell für einen moralischen
werden, eine Nuss zu knacken. Ein Blatt von einem terminalen Wert ist, wie beispielsweise die Sicherheit
Baum hätte, was das Knacken von Nüssen betrifft, der Bewohner des Hinterlands. Dabei kommt es nicht
einen sehr viel geringeren oder gar keinen instru- darauf an, dass Seedeiche für Sicherheitszwecke ge-
mentellen Wert. Da es nicht plausibel ist, dass der in- nutzt werden können, sondern, dass die Sicherheit ein
strumentelle Wert eines physikalischen Objekts nur Aspekt ihrer Funktion ist (s. Kap. II.3). Die Argumen-
von dessen extrinsischen Eigenschaften abhängt, gilt tation lautet, dass Seedeiche für die Sicherheit konzi-
das dann entsprechend auch für die Technologien. piert sind. Darin unterscheiden sie sich beispielsweise
Daher ist der instrumentelle Wert eines technologi- von Messern. Die Funktion eines Messers besteht
schen Artefakts nicht ausschließlich ein extrinsi- darin, dass es schneidet; das Brotschneiden zum Bei-
scher Wert. spiel kann instrumentell für einen terminalen Wert
Diese These der Wertneutralität der Technologie wie beispielsweise Gesundheit oder Überleben oder
kann auch so interpretiert werden, dass der Wert das menschliche Wohlbefinden sein. Das Erreichen
technologischer Artefakte immer teilweise auch von solcher terminaler Werte ist jedoch weder ein Aspekt
11. Werthaltigkeit der Technik 135

der Funktion eines Messers noch sind normale Mes- Technologische Begeisterung: Der Begriff der tech-
ser dazu konzipiert, solche terminalen Werte zu erzie- nologischen Begeisterung bezieht sich auf den
len. Während im Fall des Messers die Funktion des Wunsch, neue technologische Möglichkeiten zu ent-
Artefakts und die terminalen Werte, die sich aus der wickeln und sich den technologischen Herausfor-
Funktion ergeben, deutlich voneinander getrennt derungen zu stellen. Dies ist ein Wert, der viele Inge-
sind, ist dies im Beispiel des Seedeichs nicht der Fall. nieure motiviert und ist, was Samuel Florman
Die instrumentelle Funktion von Seedeichen (Schutz (1976/1994) als »die existenziellen Freuden des In-
vor Überschwemmungen) ist kaum vom terminalen genieurwesens« bezeichnet. Während die intrinsi-
Wert zu trennen, für den sie konzipiert sind (Sicher- sche Arbeitsmotivation für die Ingenieure eine posi-
heit im Zusammenhang mit Überströmungen). tive Sache ist, liegt die inhärente Gefahr der techno-
Schließlich lässt sich die technische Funktion eines logischen Begeisterung in den möglichen negativen
Deichs so beschreiben, dass er Schutz vor Überflutun- Begleiterscheinungen der Technologie und darin,
gen bietet. dass die diesbezüglichen sozialen Belange übersehen
werden. Von einem moralischen Standpunkt aus ge-
sehen, ist die technologische Begeisterung somit ein
Interne und externe Werte instrumenteller Wert, auch wenn sie von den Inge-
der Technologie nieuren als terminaler Wert betrachtet wird.
Effektivität und Effizienz: Ingenieure streben in
In diversen Texten und Dokumenten sind Werte im der Regel gute Effektivität und Effizienz an. Effekti-
Zusammenhang mit Technologie aufgeführt. Der vität bedeutet das Ausmaß, in dem ein Artefakt seine
VDI (Verein Deutscher Ingenieure) erwähnt in sei- Funktion erfüllt. Die Effizienz hingegen kann als
ner Richtlinie 3780 (s. Kap. VI.6) beispielsweise die Verhältnis zwischen dem Ausmaß, in dem ein Arte-
folgenden acht Wertebereiche: Funktionsfähigkeit, fakt seine Funktion erfüllt, und dem erforderlichen
Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, Gesund- Aufwand verstanden werden, der nötig ist, um die-
heit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und sen Effekt zu erreichen. Die Effizienz im modernen
Gesellschaftsqualität (VDI 1991). Auch in den Sinn des Wortes wird normalerweise als Output/In-
Ethikkodizes für das Ingenieurwesen (s. Kap. VI.7) put-Quotient interpretiert (Alexander 2009). In mo-
sind entsprechende Werte vorgegeben (Pritchard ralischer Hinsicht allerdings sind Effektivität und
2009). Diese Werte spielen auch oft eine wichtige Effizienz nicht unter allen Umständen erstrebens-
Rolle beim Design von Technologien (Van de Poel wert. Das liegt daran, dass bei Effektivität und Effizi-
2009). enz ein externes Ziel vorgegeben werden muss, an
Im Folgenden wird zwischen internen und exter- dem sie gemessen werden. Dieses kann darin beste-
nen Werten unterscheiden. Interne Werte sind hen, den Verbrauch der nicht erneuerbaren natürli-
Werte, die von Ingenieuren als interne Werte für das chen Ressourcen zur Energieerzeugung so weit wie
praktische Ingenieurwesen betrachtet werden und möglich zu verringern. Es kann aber auch einen
die nicht an breitere soziale Ziele und Wertvorstel- Krieg oder sogar Genozid beinhalten.
lungen anknüpfen oder dies doch zumindest nicht Im Zusammenhang mit Technik gibt es aber auch
zu tun scheinen. Interne Werte sind normalerweise eine Reihe von anderen internen Werten, wie bei-
vom Kontext unabhängig, in dem Sinn, dass sie in spielsweise Verlässlichkeit, Robustheit, Wartungs-
unterschiedlichen Anwendungszusammenhängen freundlichkeit, Kompatibilität, Qualität und Ratio-
relevant sind. Externe Werte sind Werte, die mit den nalität. Bei diesen Werten handelt es sich um interne
technologischen Auswirkungen auf andere Bereiche Werte in dem Sinn, dass Ingenieure diese Werte un-
zu tun haben. Sie beziehen sich im Regelfall auf brei- abhängig von der genauen Technologie, die sie ent-
tere menschliche, soziale, ökologische und politische wickeln, und unabhängig von spezifischen Anwen-
Zielsetzungen. dungszwecken hoch einschätzen. Während Inge-
nieure diese Werte möglicherweise als terminale
Werte einstufen, ebenso wie die technologische Be-
Interne Werte geisterung sowie die Effektivität und Effizienz in ih-
ren Augen terminale Werte sind, handelt es sich in
Zu den wichtigsten internen Werten im technologi- moralischer Hinsicht um instrumentelle Werte  –
schen Kontext zählen die technologische Begeiste- wobei die Rationalität möglicherweise eine Aus-
rung, die Effektivität und die Effizienz: nahme darstellt. In der Technik sind eine Reihe von
136 IV. Grundlagen – A. Technikphilosophie

Verfahren entwickelt worden, um die Entwicklung Zusammenhang sind diverse Strategien entwickelt
nach den genannten internen Werten auszurichten. worden, die darauf abzielen, das menschliche Wohl-
Diese werden generell als »Design for X« (Holt/ befinden in das Design neuer Technologien zu inte-
Barnes 2010) bezeichnet. grieren. Dies beinhaltet auch das Emphatic Design
(Koskinen et al. 2003), das Quality Function Deploy-
ment (QFD; Akao 1990), das Design for Capabilities
Externe Werte (Oosterlaken 2009) und das Design for Well-Being
(Van de Poel 2012).
Sicherheit und Gesundheit: Sicherheit und Gesundheit Nachhaltigkeit: Obwohl ökologische Werte bereits
zählen zweifelsohne zu den wichtigsten externen seit einiger Zeit in der Technik Berücksichtigung fin-
Werten in der Technik. Sicherheit (s. Kap. II.3) wird den, wurden sie seit etwa dem Jahr 2000 im Kontext
manchmal als Abwesenheit von Risiken und Gefah- des breiteren Wertes der Nachhaltigkeit (s. Kap.
ren (s. Kap. II.2) definiert. Die Verringerung der Risi- IV.B.10) immer stärker integriert. Die wichtigste De-
ken ist jedoch nicht in allen Fällen möglich oder auch finition der nachhaltigen Entwicklung hat die Brund-
nur wünschenswert. Daher kann Sicherheit auch so landt-Kommission formuliert: »Dauerhafte Entwick-
verstanden werden, dass sie sich auf eine Situation be- lung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegen-
zieht, in der die Risiken soweit verringert worden wart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige
sind, wie das nach billigem Ermessen möglich und Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befrie-
wünschenswert ist. Gesundheit wird von der Weltge- digen können« (WCED 1987). Als Wertkonzept fin-
sundheitsorganisation (World Health Organisation, det die Nachhaltigkeit in vielfacher Weise immer
WHO) als »ein Zustand vollkommenen körperlichen, mehr Eingang in das praktische Ingenieurwesen. Zu-
geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht al- nächst spielt die Nachhaltigkeit in der Technik eine
lein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen« defi- Rolle dank der Gesetze und Vorschriften sowie der
niert (World Health Organization 2006). Diese Defi- technischen Kodizes und Normen. Dies beinhaltet
nition bezieht sich auf den breiter gefassten Wert des beispielsweise Anforderungen in Bezug auf die Ener-
menschlichen Wohlbefindens. In der Technik liegt gieeffizienz oder auch Vorrichtungen beziehungs-
der Schwerpunkt normalerweise auf der Vermeidung weise Auflagen für die Wärmeisolierung. Auch das
negativer Auswirkungen auf die menschliche Ge- Konzept, das man als Design for Sustainability (De-
sundheit. In moralischer Hinsicht werden Gesund- sign für Nachhaltigkeit) bezeichnen könnte (Bhamra/
heit und Sicherheit häufig als terminale Werte be- Lofthouse 2007), setzt sich mehr und mehr durch.
trachtet. Obwohl es sich bei Gesundheit und Sicher- Weitere externe Werte: Darüber hinaus sind auch
heit um externe Werte handelt, in dem Sinn, dass sie weitere externe Werte im Bereich der Technik rele-
sich auf die Auswirkungen der Technologie außer- vant. Beispiele hierfür sind Gerechtigkeit und De-
halb des praktischen Ingenieurwesens beziehen, sind mokratie sowie Inklusivität. Neben solchen allge-
sie doch im praktischen Ingenieurwesen internali- meineren Werten kann man jedoch auch externe
siert worden, beispielsweise durch die Einführung Werte definieren, die mehr domänenspezifisch sind.
technischer Kodizes und technischer Normen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Ästhetik in der
Menschliches Wohlbefinden: In Ethikkodizes für Architektur. Batya Friedman et al. (2006) haben
das Ingenieurwesen (s. Kap. VI.7) sowie in anderen zwölf Werte ermittelt, die im Bereich der Informa-
technischen Texten und Verfahrensvorschriften fin- tions- und Kommunikationstechnologien (ICT) be-
den sich Hinweise auf externe Werte wie menschli- sonders wichtig sind (s. Kap. V.9 und Kap. V.10):
che Wohlfahrt, Glück, Lebensqualität, Persönlich- Menschliche Wohlfahrt, Eigentum und Besitz,
keitsentwicklung, ein gutes Leben, Wohlbefinden Schutz der Privatsphäre, Schutz vor Diskriminie-
und Wohlstand. In diesem Zusammenhang ist der rung, universelle Nutzbarkeit, Vertrauen, Selbstbe-
Begriff des »menschlichen Wohlbefindens« (human stimmung, Einwilligung nach erfolgter Aufklärung,
well-being) geeignet, um den Wert zu bezeichnen, Verantwortlichkeit, Identität, Ausgeglichenheit und
um den es in all diesen Fällen geht. Dabei bedeutet ökologische Nachhaltigkeit. Zudem sind für diese
Wohlbefinden nicht nur, dass man sich hier und Werte entsprechende Verfahren entwickelt worden,
jetzt gut fühlt, sondern es geht darum, wie das Leben mit denen sie sich in das Design neuer Technologien
einer Person für diese Person aussieht. In der Moral- einbinden lassen. Dazu zählt beispielsweise das In-
philosophie wird das menschliche Wohlbefinden ge- clusive Design (Clarkson 2003) und das Value Sensi-
nerell als ein terminaler Wert eingestuft. In diesem tive Design (Friedman et al. 2006).
11. Werthaltigkeit der Technik 137

Zusammenfassende Schlussfolgerungen Alexander, Jennifer K.: The concept of efficiency: an histo-


rical analysis. In: Anthonie Meijers (Hg.): Handbook of
the Philosophy of Science. Vol. 9: Philosophy of Technology
In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass Technologie
and Engineering Sciences. Oxford 2009, 1007–1030.
nicht wertneutral ist. Technologische Artefakte be- Bhamra, Tracy/Lofthouse, Vicky: Design for Sustainability:
sitzen definitionsgemäß einen instrumentellen A Practical Approach. Aldershot 2007.
Wert, selbst dann, wenn dieser instrumentelle Wert Clarkson, John: Inclusive Design: Design for the Whole Po-
nicht ganz intrinsisch für sie ist. In einigen Fällen pulation. London/New York 2003.
können technologische Artefakte sogar einen termi- Florman, Samuel C.: The Existential Pleasures of Enginee-
ring [1976]. New York 1994.
nalen Wert besitzen. Außerdem wurden zwei Arten Friedman, Batya/Kahn, Peter H./Borning, Alan: Value sen-
von Werten in der Technologie vorgestellt: interne sitive design and information systems. In: Ping Zhang/
und externe Werte. Dennis Galletta (Hgs.): Human-Computer Interaction in
Interne Werte, wie beispielsweise technologische Management Information Systems: Foundations. Ar-
Begeisterung und Effizienz, werden von Ingenieuren monk, NY 2006, 348–372.
Holt, Raymond/Barnes, Catherine: Towards an integrated
häufig als terminale Werte betrachtet. Im morali- approach to »Design for X«: an agenda for decision-
schen Sinn handelt es sich dabei jedoch normaler- based DFX research. In: Research in Engineering Design
weise um instrumentelle Werte; sie gelten als Mittel 21/2 (2010), 123–136.
zum Erreichen eines terminalen Werts, der im Re- Hunter, Thomas A.: Designing to codes and standards. In:
gelfall für die technische Praxis als extern einzustu- George E. Dieter (Hg.): ASM Handbook. Vol. 20: Materi-
als Selection and Design. Boca Raton 1997, 66–71.
fen ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass interne Werte Koskinen, Ilpo/Battarbee, Katja/Mattelmäki, Tuuli (Hg.):
moralisch verwerflich sind, sondern vielmehr, dass Emphatic Design. User Experience in Product Design.
diese Werte ihre moralische Angemessenheit den Helsinki 2003.
breiteren, terminalen Werten verdanken, für die sie Oosterlaken, Ilse: Design for development: a capability ap-
verwendet werden. proach. In: Design Issues 25/4 (2009), 91–102.
Pritchard, Michael S.: Professional standards in enginee-
Die Mehrheit der externen Werte, die hier be- ring practice. In: Anthonie Meijers (Hg.): Philosophy of
sprochen wurden, sind terminale Werte. Externe Technology and Engineering Sciences. Amsterdam u. a.
Werte scheinen zumindest in zweierlei Weise für die 2009, 953–971.
technische Praxis relevant zu sein. Erstens können Van de Poel, Ibo: Values in engineering design. In Antho-
sie möglicherweise zur Erklärung und Begründung nie Meijers (Hg.): Handbook of the Philosophy of Science.
Vol. 9: Philosophy of Technology and Engineering Scien-
dafür beitragen, warum gewisse interne Werte, wie
ces. Oxford 2009, 973–1006.
beispielsweise die Effizienz, bei bestimmten Inge- Van de Poel, Ibo: Can we design for well-being? In Philip
nieurprojekten im Vordergrund stehen. Zweitens Brey/Adam Briggle/Edward Spence (Hg.): The Good Life
können sie unter Umständen in der Praxis des Inge- in a Technological Age. 2012, 295–306.
nieurwesens eine direktere Relevanz haben. Sie las- – /Kroes, Peter: Can technology embody values? In: Peter
Kroes/Peter-Paul Verbeek (Hg.): The Moral Status of
sen sich beispielsweise durch technische Kodizes
Technical Artefacts. Dordrecht (im Ersch.).
und Normen oder über spezifische Engineering- Verein Deutscher Ingenieure [VDI] (Hg.): Technikbewer-
Ansätze internalisieren. tung. Begriffe und Grundlagen. VDI-Richtlinie 3780.
Düsseldorf 1991.
WCED: Our Common Future. Report of the World Commis-
Literatur sion on Environment and Development. Oxford 1987.
World Health Organization: Constitution of the World
Akao, Yoji (Hg.): Quality Function Deployment. Integrating Health Organization  – Basic Documents, Supplement.
Customer Requirements into Product Design. Cambridge, 2006
Mass. 1990. Ibo van de Poel
138

B. Ethische Begründungsansätze

1. Menschenrechte mative Anforderung an die Politik, da es um die Lö-


sung gesellschaftlicher Probleme geht, und scheint
damit im Belieben der jeweils politisch Handelnden
Definition, historischer Hintergrund, zu stehen; das wirft die Frage auf, ob die Politik auf
Relevanz die Menschenrechte verpflichtet ist.
Aus Naturbeobachtungen  – etwa zur wie auch
Menschenrechte sind Rechte von Individuen auf immer zu fassenden ›Natur des Menschen‹ – für sich
Freiheit und Freiheitsvoraussetzungen. Sie stehen, genommen lässt sich eine solche normative Begrün-
gemeinsam mit den organisationsrechtlichen Rege- dung nicht geben. Denn aus einer empirischen Be-
lungen der jeweiligen öffentlichen Gewalt (Staat, obachtung als solcher folgt nicht logisch, dass diese
Staatenbund, völkerrechtliches Vertragssystem) so- Beobachtung normativ zu begrüßen oder zu kritisie-
wie sonstigen inhaltlichen Verpflichtungen jener öf- ren ist. Problematisch wäre auch der Versuch, die
fentlichen Gewalt (z. B. auf Sozialstaatlichkeit), auf Menschenrechte (oder etwas anderes) durch eine
einer höherrangigen Ebene gegenüber sonstigen all- ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) zu be-
gemeinverbindlichen Regelungen (Gesetzen; zum stimmen, also durch eine quantifizierende Saldie-
gesamten Kapitel vgl. Ekardt 2011; stärker traditio- rung von Vor- und Nachteilen eines bestimmten
nell ausgerichtet Alexy 1986). Jene Prinzipien führen Umgangs mit Menschen, gemessen an den rein fak-
auch zu Abwägungsregeln, die den Rahmen für Ver- tischen Präferenzen von Menschen. Denn eine Kos-
pflichtungen und Spielräume z. B. bei der Nutzung ten-Nutzen-Analyse führt, neben anderen Proble-
bestimmter Technologien umreißen, wobei liberale men z. B. bei der Quantifizierung, auf die nonkogni-
Verfassungen eine Aussparung von Fragen des guten tivistische Grundlage einer empiristischen Ethik
Lebens vornehmen (breit rezipierte Ansätze  – u. a. zurück, die Normativität in ihren letzten Grund-
ohne Abwägungstheorie – bei Habermas 1992; Rawls lagen per se für subjektiv, unwissenschaftlich oder
1971; konkretisiert und modifiziert bei Ekardt axiomatisch gesetzt hält. Jene strikt nonkognitivisti-
2011). sche Basis dürfte jedoch  – ungeachtet aller im Be-
Die historische Herkunft des Menschenrechts- reich des Normativen vielleicht bestehenden Spiel-
konzepts ist komplex und teilweise umstritten. An- räume  – aufgrund performativer Widersprüche
dernorts näher dargestellt (Ekardt 2001), führt sie nicht zu halten sein.
jedenfalls hinter die Aufklärung zurück, beispiels- Auch der gängige ethische Diskurs um eine Be-
weise auch zu – allerdings in der faktischen Wirkung gründung von Menschenrechten (zu verschiedenen
ambivalenten  – calvinistischen Ideen aus der Zeit Aspekten vgl. etwa Rawls 1971; Habermas 1992; Un-
vor der Säkularisierung (vgl. allgemein Pollmann/ nerstall 1999) ist jedoch nicht problemfrei. Erstens
Lohmann 2011). sind Einwände gegen die meisten ethischen Positio-
Insbesondere wegen ihres starken Bezugs zum nen denkbar (z. B. Sein-Sollen-Fehler, axiomatische
Nachhaltigkeitsgedanken (s. Kap. IV.B.10) erschei- Setzungen, Zirkelschlüsse usw.). Zweitens begegnet
nen die Menschenrechte als technikethisch relevant. eine Ethik, die die Politik zu etwas verpflichten will,
Sie können, wie zu skizzieren ist, zudem das Vorsor- der Friktion, dass Verfassungen jeder politischen
geprinzip begründen (s. Kap. VI.3). Einheit abschließend festzulegen beanspruchen, was
Politik tun darf und ggf. tun muss, wo also ihre Ver-
pflichtungen und wo ihre Spielräume liegen. Recht
Normative Begründung ist ja Ethik mit stärkerer Konkretisierung und Sank-
der Menschenrechte tionsbewehrung. Ethik kann allerdings ggf. univer-
sale Grundprinzipien des Rechts begründen oder
Wenn der Inhalt von Menschenrechten naturgemäß widerlegen – was das Recht selbst nicht kann (hierzu
von der normativen Begründung abhängt, gerät letz- und zum Folgenden Alexy 1991, 1995; Ekardt 2011;
tere in den Blick. Menschenrechte meinen eine nor- Habermas 1992; eingeschränkt Rawls 1971). Jenseits
1. Menschenrechte 139

dessen kann sie jedoch nicht einfach eine konkurrie- zwischen den Individuen begründet liegt. All das
rende Normativität aufbauen. Praktisch gelingt eine vorliegend Gesagte gilt kraft nationalen Rechts in li-
ethische Begründung  – und damit auch Inhaltsbe- beralen Demokratien, kraft Europarechts und kraft
stimmung  – der Menschenrechte deshalb primär Völkerrechts in Nationalstaaten, in der EU und auch
dann, wenn man einen rechtlichen Menschenrechts- für internationale Institutionen und Organisationen.
diskurs führt und die Ethik primär zur Fundierung Ebenso gilt es ethisch. Aufgrund der völkerrechtli-
von dessen Grundprinzipien nutzt. chen Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze
in einer weiterentwickelten Lesart gilt dies und alles
Weitere zudem (nicht nur ethisch, sondern auch)
Grundlagen einer Menschenrechts- rechtlich auch gegen solche Staaten sowie solche in-
theorie – rechtlich und ethisch ternationalen Gewalten, die keine Menschenrechts-
verträge unterzeichnet bzw. keine entsprechenden
Hält man die Grundprinzipien der liberalen Demo- Verfassungsnormen erlassen haben.
kratie für ethisch und ggf. auch universal begründ-
bar, ergibt sich eine menschenrechtliche juristische
und parallel ethische Grundlage und Inhaltsbestim- Erweitertes Freiheitsverständnis
mung gerechter Gesellschaften.
Das Menschenwürdeprinzip, das als der gebotene Zur Ermittlung konkreter normativer Kriterien für
Respekt vor der Autonomie des Individuums, also technische Optionen ist (rechtlich respektive parallel
als Selbstbestimmungsprinzip verstanden wird, und ethisch) darauf aufbauend eine partielle Neuinter-
das Unparteilichkeitsprinzip (verstanden als die ge- pretation der Menschenrechte im Sinne einer Über-
botene Unabhängigkeit von Sonderperspektiven) windung eines primär wirtschaftlich ausgerichteten
sind – nach umstrittener Ansicht (Böckenförde 2003 Freiheitsverständnisses nötig – das in gängiger Les-
einerseits und Ekardt 2011 andererseits)  – keine art scheinbar primär die Techniknutzer in Wirt-
Grundrechte, und sie sind auch nicht darauf ange- schaft und Gesellschaft mit Menschenrechten aus-
legt, überhaupt für einen konkreten ethischen oder stattet (Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Wettbe-
rechtlichen Einzelfall etwas zu besagen, folglich auch werbsfreiheit, allgemeine Handlungsfreiheit u. a. m.).
technikbezogen nicht. Sie sind vielmehr die rechtfer- Ethisch und (auch über die partielle wortwörtli-
tigende und interpretationsleitende Grundlage der che Normierung hinaus) rechtsinterpretativ ergibt
einzelnen Freiheits- und Freiheitsvoraussetzungs- sich – als normativer Anhaltspunkt für den Schutz
rechte, der Abwägungsregeln, der gewaltenteiligen auch vor Technik, etwa vor gefährlichen Technolo-
Demokratie usw. Deshalb stellt sich z. B. auch die be- gien wie der Atomenergie oder einer rein technisch
liebte Frage nicht, ob die Menschenwürde als solche orientierten und deshalb nicht sehr erfolgreichen
einer Abwägung unterliegt oder nicht. Die vielzitier- Klimapolitik  – aus dem Freiheitsbegriff der Men-
ten angeblichen Menschenwürde-Formeln vom schenrechte ein Recht auf die elementaren Frei-
»Wert des Menschen als Menschen« und vom »Ver- heitsvoraussetzungen wie Leben, Gesundheit, Exis-
bot, jemanden zum bloßen Objekt« zu machen, tref- tenzminimum in Gestalt von Nahrung, Wasser,
fen nicht ins Zentrum des Würdegedankens. Men- Sicherheit, Klimastabilität, elementare Bildung, Ab-
schenwürde und Menschenrechte gelten bei alledem wesenheit von Krieg und Bürgerkrieg u. Ä. (in den
aus einer Reihe von Gründen auch für diskursunfä- Konsequenzen teils ähnlich wie vorliegend teilweise
hige geistige Schwer(st)behinderte. auch OHCHR 2009). Dieses ergibt sich im Kern dar-
Die zu den Menschenrechten erlangbaren Aussa- aus, dass – über die liberale Tradition hinaus – Frei-
gen sind, ethisch gesprochen, Aussagen zur Gerech- heit ohne jene elementaren Bedingungen nicht mög-
tigkeit und Aussagen zur sozialen Ebene. Individual- lich erscheint und letztere darum in der Freiheit
ethische Verpflichtungen, die über die Verpflichtung zwingend mitgedacht sind. Der Schutz weiterer frei-
zur Herbeiführung einer gerechten Gesellschafts- heitsförderlicher Bedingungen  – z. B. Schutz der
ordnung hinausgehen, sind schon mangels hinrei- Biodiversität – hat demgegenüber ethisch und recht-
chender Konkretisierbarkeit und nicht erst aufgrund lich keinen Menschenrechtsstatus, verdient aber we-
von Durchsetzbarkeitsschwächen nur schwer vor- gen ihres Freiheitsbezugs gleichwohl Anerkennung.
stellbar. Menschenrechte vermitteln sich u. a. genau Rechtlich abgebildet wird dies im Rahmen der Inter-
deshalb stets über die öffentliche Gewalt  – auch pretation von Bestimmungen wie etwa eines Um-
wenn ihr Ursprung im interpersonalen Verhältnis weltstaatsziels (z. B. Art. 20a Grundgesetz). Eine
140 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Scheidung negativer und positiver Freiheit über- Abwägungen, Institutionen,


zeugt dabei nicht; ebenso nicht überzeugend ist Tatsachenerhebungsregeln
ethisch und rechtlich die Vorstellung, die Menschen-
rechte würden nur einzelne ausgewählte, vermeint- Ethische und rechtliche Entscheidungen sind nicht
lich besonders wertvolle Freiheitsbetätigungen nur ausnahmsweise, sondern letztlich immer als Ab-
schützen. wägung rekonstruierbar, und zwar richtigerweise
Die Freiheit einschließlich ihrer elementaren Vor- zwischen verschiedenen Freiheiten, elementaren
aussetzungen verdient rechtlich und ethisch aus ei- Freiheitsvoraussetzungen, weiteren freiheitsförderli-
ner Reihe von Gründen auch intertemporal und glo- chen Bedingungen und allem, was sich daraus ablei-
bal grenzüberschreitend Schutz und führt damit zu ten lässt (ausführlich zum vorliegenden Kapitel vgl.
einer inhaltlichen Nachhaltigkeitskonzeption, also Alexy 1986, 1991; stärker im Sinne des Folgenden
einem Gebot dauerhaft und global durchhaltbarer Ekardt 2011). Insbesondere kommt es potenziell zu
Lebensverhältnisse (s. Kap. IV.B.10). Alle Argumente einem Gegeneinander beispielsweise von menschen-
hängen dabei damit zusammen, dass auch räumlich rechtlichen Nachhaltigkeitsgarantien und den
und zeitlich entfernte Menschen Menschenrechts- Grundrechten von Unternehmen und Konsumenten
träger sind. Bekannte Gegenargumente gegen einen auf Gewinn und Konsum hier und heute, auch unter
intertemporalen und global grenzüberschreitenden Nutzung jeglicher technischer Optionen. Jedwedes
Grundrechtsschutz wie das Future-Individual-Para- Nachhaltigkeits-Entscheiden ist damit von auch
dox oder den Hinweis auf unbekannte Präferenzen normativen und nicht nur von tatsachenbezogenen
künftiger Generationen überzeugen letztlich nicht Unsicherheiten (wie die gängige Risikotheorie sug-
(Unnerstall 1999). Ein kollektivistisch gemünztes geriert) geprägt. Die Relevanz einzelner Argumente
»Gebot der Menschheitserhaltung« (Jonas 1979)  – wie z. B. des Verursacher- oder des Leistungsfähig-
also ein kollektives Selbstmordverbot – dürfte dage- keitsprinzips erschließen sich erst aus jenem abwä-
gen nur schwer zu begründen sein. gungstheoretischen Rahmen.
Die nachhaltigkeitskonform erweiterten Men- Die Freiheitsgarantien machen neben Abwä-
schenrechte garantieren bei korrekter Lektüre libe- gungsregeln – und damit mehr oder minder konkre-
raler Verfassungen sowie national und transnational ten inhaltlichen Aussagen – auch Aussagen darüber
aus einer Reihe von Gründen gleichermaßen »Ab- ableitbar, welche öffentliche Gewalt den Freiheits-
wehr« und »Schutz« (wobei beides ohnehin kaum ausgleich unter den Bürgern vornehmen und damit
scheidbar ist), also Rechte gegen die öffentliche Ge- technische Entwicklungen forcieren oder bremsen
walt und Rechte auf Schutz durch die öffentliche Ge- muss. Dies ist dann einerseits eine Frage nach der –
walt; ansonsten wären sie für die Nachhaltigkeit freiheitsförderlichen  – Gewaltenbalance zwischen
auch witzlos, da Klimawandel, Ressourcenknappheit Legislative, Exekutive und Judikative. Andererseits
usw. in erster Linie von Privaten und nicht direkt ist es eine Frage nach der zuständigen Rechtsebene
von Staaten verursacht werden (für das Nachste- im  – wiederum auf eine optimale Konfliktlösung
hende vgl. Ekardt 2011; traditioneller Böckenförde und damit Freiheitsförderlichkeit hin ausgelegten –
1991, 2003; Alexy 1986). Diese Einsichten werden Mehrebenensystem (internationale Institutionen,
nicht durch bestimmte verbreitete Einwände gegen EU, Nationalstaat, Bundesländer). Verpflichtet ist in
die Anerkennung starker Schutzgrundrechte wie der Theorie jeweils die öffentliche Gewalt, die die
Demokratie, Gewaltenbalance, fehlender Individu- beste Eignung aufweist, juristisch formal übersetzt
albezug, Vorrang der Abwehrrechte, gegenstandslos. in den Rahmen von Zuständigkeitsordnungen. Was
Die klassischen Scheidungen Tun/Unterlassen und der einzelne Bürger in puncto Techniknutzung oder
übrigens auch Deontologie/Konsequentialismus aus auch Nichtnutzung konkret zu tun verpflichtet ist,
der Ethik verlieren damit latent ihren Gegenstand. entscheidet sich ethisch und rechtlich, national und
Erst durch diese gesamten menschenrechtsinter- transnational anhand der konkreten Abwägungser-
pretativen Schritte wird ein Grundrechtsschutz ge- gebnisse der öffentlichen Gewalten. Die Abwä-
gen Klimawandel, schwindende Ressourcen und an- gungsspielräume beziehen sich zunächst auf die Ge-
derem mehr und damit konkrete normative Nach- setzgebung, wobei meist (in Norminterpretationen
haltigkeitskriterien ebenso wie ein normativer oder explizit eröffneten Ermessens- bzw. Abwä-
Rahmen für technische Optionen denkbar; Einzel- gungsspielräumen) Teile der Abwägung an die Ver-
heiten ergeben sich freilich erst aus der Abwägungs- waltung oder an die Gerichte weitergereicht werden,
und Institutionentheorie. die aufgrund der Vorfestlegungen der jeweils ande-
1. Menschenrechte 141

ren Staatsorgane immer kleinere Spielräume vorfin- ethischen Einstehenmüssens für die Folgen frei ge-
den. wählter Handlungen. Diese Folgen, etwa der Klima-
Die Hauptbetroffenen vieler technischer Optio- wandel, dürften auch durch die öffentliche Gewalt
nen wie Atomenergie oder Kohlenstoffabscheidung ›künstlich‹ internalisiert werden, z. B. durch Ener-
sind allerdings womöglich keine Wähler heutiger gieabgaben. ›Verantwortung‹ steht hier nicht einfach
Parlamente und Regierungen, sondern künftige Ge- für Zuständigkeit, Pflicht, freiwillige Wohltätigkeit
nerationen und Menschen in anderen Ländern. Ein o. Ä., sondern für ein Verursacherprinzip. Weitere
Mangel an Nachhaltigkeit in den realen politischen Abwägungsregeln sind z. B. die Geeignetheits- und
Maßnahmen kann also nicht ohne weiteres als »nun die Erforderlichkeitsregel, die verlangen, dass je-
einmal demokratisch entschieden« gerechtfertigt mandem nur so viel an Freiheit genommen wird, wie
werden, und Nachhaltigkeit steht damit in einem nötig ist, um die Freiheit anderer zu fördern. Eine
Spannungsverhältnis zur Demokratie, zu der sie weitere Abwägungsregel besagt, dass Belange, die für
wegen der Notwendigkeit von Diskursen und Lern- andere fundamental sind, diesen in der Regel vorge-
prozessen aber gleichzeitig eine Affinität hat. Insti- hen müssen. Eine weitere Abwägungsregel verlangt,
tutionelle Neuerungen gegenüber dem Bestand ge- die konkrete Betroffenheit des Belangs im Einzelfall
waltenteiliger Demokratien sind im Zeichen von korrekt zu erfassen.
Nachhaltigkeit und eines ausgewogenen Umgangs Herleitbar sind auch Tatsachenerhebungsregeln
mit Technik dennoch nur begrenzt angezeigt. We- einschließlich eines – entgegen der juristischen Tra-
sentlich ist, dass die bewährten Institutionen auch dition  – menschenrechtlichen Verständnisses von
international verstärkt geschaffen werden müssen. Vorsorge, also eines menschenrechtlichen Schutzes
Ferner liegt es wegen der räumlich-zeitlichen Aus- vor zeitlich entfernten oder kausal unsicheren Ge-
dehnung der Menschenrechte nahe, eine Treuhand- fährdungslagen sowohl aus der Nutzung von Tech-
instanz für Zukunftsinteressen zu schaffen. nik (etwa Atomenergie) als auch aus der unterlas-
Die eigentlichen Abwägungsregeln (›Verhältnis- senen Nutzung technischer Optionen (etwa Energie-
mäßigkeitsprüfung‹ ist ein missglückter juristischer effizienz und erneuerbare Energien). Die populäre
Begriff hierfür) führen zu weiteren (mehr oder min- Vorstellung, Vorsorge könne, und zwar womöglich
der) konkreten normativen Vorgaben an den Um- schon in der heutigen unvollständigen Form, ›siche-
gang mit Technik. Die Abwägungsregeln sind dabei rer als sicher‹ vor Gefährdungen schützen, fällt dabei
aus den liberalen Prinzipien sowie aus der Sein-Sol- wegen der allgegenwärtigen Abwägungsproblematik
len-Scheidung ableitbar. Die grundlegende Abwä- freilich in sich zusammen. Möglich sind aber – ange-
gungsregel bezieht sich auf das zulässige normative sichts ständiger gerade auch technikbezogener Er-
Material jedweder Entscheidung. Generell findet kenntniszuwächse wesentliche – Regeln für neue Er-
die Freiheit ihre Schranken nur in der Freiheit und kenntnisse bei Wertungen und neue Erkenntnisse
den elementaren Freiheitsvoraussetzungen anderer bei Tatsachen und ein darauf aufbauendes Abändern
Menschen und weiteren freiheitsförderlichen Bedin- von Entscheidungen der öffentlichen Gewalt.
gungen (Schutz der Biodiversität, Kulturförderung, Inhaltlich führen verletzte Abwägungsregeln oder
Bereitstellung von Kindergartenplätzen und ande- auch Verfahrensregeln wie z. B. Beteiligungs- und
rem mehr), nicht dagegen in irgendeiner Form von Klagerechte oder Tatsachenerhebungsregeln (zu
Gemeinwohl o. Ä., das als Begriff unter liberal-de- letzteren s. u.) zu einer Pflicht zur Neuentscheidung
mokratischen Bedingungen keinen sinnvollen Inhalt unter Beachtung der bisher verletzten Regel. Im
neben den eben genannten Rechtsgütern mehr hat. Falle der bisherigen Klimapolitik beispielsweise be-
Fragen des guten Lebens entziehen sich allgemeiner treffen verletzte Regeln die von der Politik häufig ge-
normativer Maßstäbe und damit auch einer Regulie- schönt zugrunde gelegte Tatsachenbasis bisheriger
rung, weswegen die ethische und rechtliche Begrün- Klimapolitik und die mangelnde Orientierung an ei-
dung der Nutzung oder Nichtnutzung technischer nem für die weitere Erhaltung der liberalen Demo-
Optionen nicht auf das anschließend vielleicht grö- kratie und ihrer Freiheitsgarantien hinreichenden
ßere ›innere Glück‹ der in ihrer Freiheit Beschränk- Freiheitsvoraussetzungsschutz, der zumindest eini-
ten verweisen, sondern nur auf den Schutz der Frei- germaßen, auch global und intertemporal, egalitär
heit und der Freiheitsvoraussetzungen anderer. zu gewährleisten ist. Zwar lassen sich materielle Ver-
Eine weitere aus der Freiheit ableitbare Abwä- teilungsmaßstäbe  – also eine Theorie sozialer Ver-
gungsregel ist z. B. die Handlungsfolgenverantwort- teilungsgerechtigkeit  – vor dem Hintergrund des
lichkeit (s. Kap. II.6) im Sinne eines rechtlichen und Gesagten generell nur schwer ableiten. Wenn jedoch
142 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

ein Gut wie z. B. Klimastabilität bzw. Energiezugang Integration des Klima- und Ressourcenschutzrechts
im Interesse des Systems der Freiheiten zwingend er- in die Welthandelsorganisation (WTO) im Sinne ei-
halten werden muss und gleichzeitig jeder Mensch ner schmalen ›globalen EU‹.
nicht ohne ein Minimum an Treibhausgasemissio-
nen existieren kann, dann liegt eine Gleichverteilung Literatur
nahe. Gegen diese ableitbare Abwägungsvorgabe  – Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte. Frankfurt a. M.
drastische Treibhausgasemissionsreduktion plus 1986.
Gleichverteilung – hat die Politik national wie inter- – : Theorie der juristischen Argumentation. Frankfurt a. M.
national bisher verstoßen. Ein konsequenterer Ein- ²1991.
satz von Energieeffizienz und Erneuerbare-Ener- – : Recht, Vernunft, Diskurs. Frankfurt a. M. 1995.
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Verfassung, Demokra-
gien-Technologien (s. Kap. V.5) dürfte daher norma-
tie. Frankfurt a. M. 1991.
tiv geboten sein, zumal wenn man annimmt, dass – : Menschenwürde als normatives Prinzip. In: Juristenzei-
diese, soweit sie eben reichen, einen freiheitsscho- tung 58 (2003), 809 ff.
nenderen Interessenausgleich ermöglichen, als wenn Ekardt, Felix: Steuerungsdefizite im Umweltrecht: Ursachen
man allein auf Suffizienzanforderungen setzen unter besonderer Berücksichtigung des Naturschutzrechts
und der Grundrechte. Zugleich zur Relevanz religiösen Sä-
würde.
kularisats im öffentlichen Recht. Sinzheim 2001.
– : Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und poli-
tische Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressour-
Menschenrechte, Globalisierung cenknappheit und Welthandel. Baden-Baden 2011.
und postnationale Konstellation Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.
1992.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M.
Eine globale Politik im Zeichen menschenrechtli- 1979.
cher Anforderungen, auch an Technik, muss sich ge- OHCHR: Human Rights and Climate Change. UN Doc. A/
genüber einer globalen, entgrenzten Weltwirtschaft HRC/10/61 vom 15.01.2009.
behaupten können (zu diesem Abschnitt vgl. Ekardt Pollmann, Arnd/Lohmann, Georg (Hg.): Menschenrechte.
2011). Eine Nachhaltigkeits-Vorprescherrolle eini- Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2011.
Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971.
ger Staaten, z. B. der EU im Verbund mit einigen an- Unnerstall, Herwig: Rechte zukünftiger Generationen.
deren, in der Klima- und Ressourcenpolitik ist dabei Würzburg 1999.
welthandelsrechtlich zulässig, wobei sich diesbezüg- Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.
lich, etwa am Beispiel der Gentechnik, immer wie- Tübingen 61984.
der komplexe Kontroversen ergeben. Felix Ekardt
Der aktuelle – geringe – Stand globaler Institutio-
nalisierung ist jedoch mit der Begründungsbasis ei-
ner universal, global und intertemporal orientierten
liberalen Demokratie ethisch und menschenrecht-
lich nur bedingt kompatibel. Es braucht verstärkt
globale Institutionen, die (a) durchgängig arbeiten,
(b) Mehrheitsentscheidungen fällen können, (c)
über wirksame Vollzugsmechanismen verfügen und
(d) eine stärker formalisierte Partizipation verfü-
gen – ebenso wie mittelfristig eine vorsichtige (e) ge-
waltenteilige Parlamentarisierung internationaler
Entscheidungen im menschenrechtlichen Rahmen.
Diskussionswürdig ist ferner  – parallel zur Demo-
kratisierung der Staaten und der globalen Ebene  –
langfristig eine Neuinterpretation des Verhältnisses
von Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht
mit einer Verschiebung im Rangverhältnis zuguns-
ten der höherrangigen Rechtsebenen und der suk-
zessiven Überwindung des Verständnisses der Nati-
onalstaaten als »Herren der (Völkerrechts-)Ver-
träge«. Mit alledem wäre auch der Weg frei für eine
143

2. Prinzip Verantwortung Ausgangsdiagnose


Jonas ’ Diagnose ist die eines menschheitsgeschicht-
Hans Jonas ’ Verantwortungs- lichen Epochenbruchs. Das Baconsche Fortschritts-
und Zukunftsethik ideal wird im Übermaß seines Erfolgs zur Bedro-
hung. Die biologische Gattungsexistenz der Mensch-
Mit seinem Spätwerk Prinzip Verantwortung. Ver- heit steht ebenso auf dem Spiel wie die human-soziale
such einer Ethik für die technologische Zivilisation Existenz zukünftiger Generationen. Jonas startet
(1979/1984) hat der Philosoph Hans Jonas ab den also  – ähnlich wie Georg Picht, Walter Schulz und
1980er Jahren öffentliche wie philosophische Dis- Carl Friedrich von Weizsäcker – mit dem antiutopis-
kurse geprägt (Böhler 1994; Schmidt 2007). Das tischen, anti-Blochschen Erschrecken, dass »die Ver-
Werk gilt als »philosophischer Bestseller« (Hubig heißung der modernen Technik in Drohung umge-
1995, 13), das maßgeblich zur Anerkennung einer schlagen ist« und das »Sein« nicht mehr gegeben ist
zukunftsorientierten Natur-, Wissenschafts- und (Jonas 1984, 7). Natur – als leibliche Natur des Men-
Technikethik beitrug und den Begriff der Verant- schen, als Werden und Wachsen des Organischen,
wortung ins Zentrum der Ethik führte (s. Kap. II.6). als äußere Ressource und als phänomenal-ästheti-
Dabei ist Jonas weniger als Natur-, Wissenschafts- sche Natur gedacht – wird technisch vollständig ver-
oder Technikethiker, sondern eher als Verantwor- fügbar. Jonas diskutiert die Entwicklung von der vor-
tungs- und Zukunftsethiker zu bezeichnen (Jonas modernen Technik, die noch Instrument und Mittel
1984, 39 ff.). Statt auf die Entwicklung einer weiteren war, zur modernen Hochtechnologie, die ubiquitär
Bereichsethik, zielt er auf die Erneuerung und Er- die Verfügbarkeit sowie die Verletzbarkeit von Natur
gänzung der allgemeinen Ethik, um der Bedrohungs- potenziert. Die aristotelische Gegenüberstellung Na-
lage der wissenschaftlich-technischen Zivilisation tur-Technik wird obsolet (s. Kap. IV.A.1 und Kap.
gerecht zu werden. Jonas’ ›Notstandsethik‹ weist in IV.A.5). Homo faber triumphiert über homo sapiens.
ihrer dezidiert anti-anthropozentrischen Grundhal- Als Leitmetapher dient Jonas die Grenze zwischen
tung eine Nähe zu biozentrischen Ethiken auf, etwa Natur und Staat (polis). Die freie Natur wird ver-
einer »Ehrfurcht vor dem Leben« (Schweitzer 1919; drängt durch die universale Stadt, d. h. durch die
s. Kap. IV.A.4). »Sphäre des Künstlichen verschlungen« (ebd., 33).
Als Tiefenproblem an den metaphysisch-natur- Nun liegt »[d]ie Gefahr […] mehr im [technischen]
philosophischen Fundamenten der Gegenwarts- Erfolg als im Versagen [z. B. Unfälle, Katastrophen]«;
kultur rekonstruiert Jonas die aktuelle Problemlage damit kommt der Technik eine »innere Mehrdeutig-
(sozial-ökologische Krise, nuklearer Overkill, bio- keit« und nicht-eliminierbare Ambivalenz zu (Jonas
medizintechnische Eingriffe u. a.). Er fordert eine 1987, 43). Durch den Erfolg der »Unterwerfung
Reflexion und Revision der Metaphysik, führt Ethik, der Natur« ist also eine ambivalente Eigendynamik
Anthropologie und Naturphilosophie zusammen und negative Dialektik des technischen Handelns
und formuliert konservativ ausgerichtete, methodo- entstanden – mit kumulativen Effekten und evolu-
logisch zu verstehenden Bewahrungs- und Vor- tionären Risiken. Alles daran ist »neuartig, dem Bis-
sichtsprinzipien (Heuristik der Furcht, Vorrang der herigen unähnlich, der Art wie der Größenordnung
schlechten Prognose, neuer kategorischer Impera- nach« (Jonas 1984, 7).
tiv), die er gegen Ernst Blochs Prinzip Hoffnung
(1959) sowie jeden visionär-utopistischen Fort-
schrittglauben richtet (s. Kap. II.4 und Kap. III.5). Hintergrundanalyse
Damit traf Jonas nicht nur die in den 1980er Jah-
ren vorherrschende technikpessimistische, auf Na- Das »Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der
tur rekurrierende öffentliche Stimmung. Vielmehr Hochtechnologie betreten haben«, kennzeichnet Jo-
fand er einen Nährboden in einer verbreiteten Ge- nas als »Niemandsland« für die Ethik, als »ethisches
sellschaftskritik an der Moderne schlechthin, die Vakuum« (ebd., 7/57). Herkömmliche Ethik ist er-
sich von der Diagnose einer Post- oder Zweiten Mo- gänzungsbedürftig. (1) Denn bisher galt aller Um-
derne bis zur Risikogesellschaft erstreckte und das gang mit der Natur in Form der Kunstfertigkeit als
Baconsche Fortschrittsprojekt als endgültig beendet ›ethisch neutral‹. (2) Ethisch bedeutsam waren
ansah. Handlungen zwischen Menschen: »alle traditionelle
Ethik ist anthropozentrisch« (ebd., 22). (3) Der
144 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Mensch konnte selbst, als Voraussetzung seines Begründung


Handelns, als konstant angenommen werden. (4)
Räumlich und zeitlich Globales blieb außen vor; Die argumentative Begründung von Jonas ’ ontolo-
herkömmliche Ethik bewegte sich im »Nahkreis des gisch fundierter Ethik umfasst vier Schritte. – Jonas
Handelns« (ebd., 23). – Die Ergänzungs- (und keine setzt erstens ein teleologisches Naturverständnis an,
Ersetzungs-) Bedürftigkeit der Ethik gelte gleicher- das er in seinem naturphilosophischen Hauptwerk
maßen für alle ethischen Theorien. Organismus und Freiheit 1973 (engl. 1966) entwi-
Nach Jonas verweist die Schwäche der Ethik(en) ckelt. Er bezieht sich dabei auf Aristoteles, kritisiert
auf Defizite in den metaphysischen Grundlagen der René Descartes, wendet sich gegen Immanuel Kant
Gegenwartsgesellschaft. Grundlegende Krisen nöti- und zeigt eine Nähe zu Friedrich Wilhelm Joseph
gen uns, »das erwähnte Umdenken weit auszudehnen Schelling. Das Reich des Lebendigen wird aristote-
und über die Lehre vom Handeln, das heißt die lisch als Stufenfolge interpretiert. Geist ist von An-
Ethik, hinaus in die Lehre vom Sein, das heißt die fang an im Organischen präfiguriert und zeigt sich
Metaphysik, voranzutreiben […]« (ebd., 30). Mit prominent im Menschen (vgl. Jonas 1997, 15). An-
Metaphysik sind handlungsleitende und vernunft- thropomorph, ausgehend und absteigend vom Na-
zugängliche Natur-, Mensch- und Wissenschaftsver- turwesen Mensch, in dem Natur Zeugnis von sich
ständnisse bezeichnet, gerade keine kontingenten ablegt, erkennt Jonas eine »Immanenz von Zwecken
Setzungen oder revisionsimmunen Dogmensysteme im Sein« (Jonas 1984, 150) – das allerdings in einem
(ebd., 94). Nicht ob eine Metaphysik vorliegt, ist die schwachen Sinne: Organismen haben eine Intention
Frage, sondern welche das sein kann und sein soll – weiterzuleben. Jonas geht über Kants Als-Ob hinaus
womit Jonas der üblich gewordenen Diagnose eines und wirft, wie Schelling, den Mechanisten vor, Natur
nachmetaphysischen Zeitalters widerspricht. Jonas zu betrachten, als ob keine immanenten Zwecken
zielt auf eine rationale Hervorbringung einer der vorliegen.
Problemlage adäquaten Metaphysik, kurz: auf eine Jonas behauptet zweitens eine ›Zweck-als-Gut-an-
Metaphysikgestaltung. sich-These‹, nämlich dass, »[i]ndem die Natur Zwe-
Jeder Methodologie, insbesondere die der Natur- cke unterhält, oder Ziele hat […], sie auch Werte«
wissenschaften, liegt Metaphysik zugrunde  – mit habe (ebd., 153). Zwecke stellen als solche – unab-
ethischer Relevanz: Wenn etwa das derzeitige natur- hängig von ihrem materialen Inhalt  – einen Wert
wissenschaftliche Wissen das »letzte Wort über die dar, ohne dass damit ein »Urteil über die Güte des
Beschaffenheit der Welt wäre, dann wäre diese ein Ziels selber« vorgenommen werden würde (ebd.):
wertneutrales mechanisches Getriebe […]. [D]ann Der materiale Inhalt von Zwecken kann gut oder
ist in der Tat nicht zu begründen, warum wir uns schlecht sein; Zwecke als solche sind als gut anzuse-
Sorgen über das kommende Jahrtausend machen hen – im objektiven, nicht nur subjektiven Sinne.
sollen« (Jonas 1993, 44). Jonas widersetzt sich der Von Jonas wird drittens  – als ›Gut-an-sich-als-
Wertneutralisierung von Natur und vertritt eine Zu- Forderungs-These‹  – mit dem Guten eine imma-
gangsthese, mit der er anregt, sich mit den im Zu- nente Forderung verbunden, nämlich dieses aus der
gang artikulierenden metaphysischen Unterstellun- Potenzialität in die Aktualität zu überführen. »[D]as
gen auseinanderzusetzen (Zugangsethik). Durch das Gute oder Wertvolle«, so Jonas, »wenn es dies von
Zugangsargument wird Ethisches ins Erschließen sich her und nicht erst von Gnaden eines Begehrens,
und Erkennen vorverlagert – in Absetzung des von Bedürfens oder Wählens ist, ist eben seinem Begriff
Bereichsethiken stets akzeptierten Problemdrucks nach dasjenige, dessen Möglichkeiten die Forderung
des vermeintlich Gegebenen. Diese Vorverlagerung nach seiner Wirklichkeit enthält […]« (ebd., 153). Es
»vermögen wir nur [dann zu erreichen], wenn wir trage ein Sollen in sich.
vor der anscheinend immer nächsten und allein als Doch dieses Sollen könnte man abweisen. Die für
dringlich erscheinenden Frage: Was sollen wir tun, diese Fragestellung relevante vierte Prämisse ist an-
dies bedenken: Wie müssen wir denken?« – so nicht ders gelagert als die vorausgehenden drei. Sie geht
Jonas, sondern sein akademischer Lehrer Martin über den vermeintlichen Naturalismus, der Jonas
Heidegger (2007, 40). vorgeworfen wurde, hinaus. Sie kann als ›Freiheits-‹
oder als ›Verantwortungsfähigkeits-These‹ bezeich-
net werden. Dabei ist der Freiheitsbegriff ein termi-
nus technicus und meint tätige Selbsterhaltung in der
Natur, die sich vom Menschen herab bis zu den
2. Prinzip Verantwortung 145

Grundformen des Organischen erstreckt. Die »Frei- seine Umwelt, nämlich sich seiner anzunehmen
heit des Menschen [ist …] als höchstes Ergebnis der (›Seinsollen‹). Jonas ist sich bewusst, dass man sich
Zweckarbeit der Natur« zu deuten (ebd., 157). Jonas den Ansprüchen des Säuglings entziehen kann. Der
argumentiert, dass durch den besonderen Typ von Zugang ist hier abermals entscheidend, nämlich ob
Freiheit im Menschen, d. h. durch die Möglichkeit man diesen als Konglomerat von Zellverbänden
zur Verantwortung, dem Menschen diese faktisch oder als lebendigen Organismus ansieht – und ihm
auferlegt sei. Der Mensch müsse »das Ja [zum Seien- Würde, Respekt bzw. Ehrfurcht im Zugang zu-
den] in sein Wollen übernehmen und das Nein zum erkennt (Zugangsethik) (Taylor 1986; Schweitzer
Nichtsein seinem Können auferlegen« (ebd., 157). 1988; Sitter-Liver 2005).
Das Wollen ist weiterzuführen als Pflicht für das
Sein. Zusammengenommen hat die Zweckhaftigkeit
einen »Anspruch auf Wirklichkeit«, dessen Wollen Operationalisierung
der Mensch als Pflicht zu übernehmen habe: als
Seinsollen. Für eine gelingende Praxis der Ethik hält Jonas zwei
methodologische Momente für notwendig. Erstens,
die »Nichtreziprozität« (Jonas 1984, 84), die den for-
Sein und Sollen malen Kern der Bedingung der Möglichkeit von
Verantwortung darstellt, wobei ›Verantwortung‹ zum
Mit seiner ontologisch-metaphysischen Begrün- zentralen Begriff der Ethik wird. Diese kann sich
dung verletzt Jonas offenbar das in der philosophi- allerdings nur dort einstellen, wo asymmetrische
schen Ethik weithin etablierte Hume-Moore-Ver- Machtverhältnisse vorliegen: Der heutige Mensch
dikt, wonach es keinen Übergang vom Sein zum Sol- verfügt über Macht gegenüber dem zukünftigen
len bzw. von Fakten zu Werten gibt (naturalistischer und  so fort  – aber nicht umgekehrt. Reziprozität
bzw. deskriptivistischer Fehlschluss). Jonas sieht hier hingegen – wie sie in gerechtigkeits-, vertrags- und
keinen Fehlschluss, vielmehr lokalisiert er in diesem diskurstheoretischen Zugängen zu finden ist – setzt
Verdikt philosophische Reflexionsdefizite herkömm- eine Symmetrie der Beziehung zwischen freien und
licher Ethiken, insofern diese einem »ontologische[n] gleichen Diskursteilnehmern voraus: Des einen
Dogma« aufsitzen, das zu einem Zirkel führt (ebd., Pflicht ist das Gegenbild des Rechts des anderen.
235). Denn es werde angenommen, dass »der (letzt- Unterstellt wird, dass jeder als autonomes Subjekt
lich von den Naturwissenschaften entborgte) [Be- grundsätzlich in der Lage ist, sich im Diskursraum
griff] bereits der wahre und ganze Begriff des Seins« über Sprechhandlungen zu vertreten. Wie das für
sei (ebd., 92). So setze das Verdikt mit seiner Seins- zukünftige Generationen, Tiere, Demente oder Em-
Sollens-Dichotomie einen Begriff des Seins voraus, bryonen möglich sein sollte, erscheint ungewiss.
in dem das Sein »schon in entsprechender Neutrali- Nach Jonas »versagt« diese Reziprozitäts-»Idee […]
sierung (als ›wertfrei‹) konzipiert ist« (ebd.). Dann für unseren Zweck [einer Zukunftsethik]. Denn An-
aber werde die Unableitbarkeit des Sollens eine »tau- spruch hat nur das, was Ansprüche [geltend]
tologische Folge«, sie sei zirkulär und stelle kein Ar- macht  – was erst einmal ist« (ebd., 84). Der sich
gument dar (ebd.). hier  zeigende Bezug auf »Gleichzeitigkeit und Un-
Folglich liegt nicht nur Jonas ’ Ethik Metaphysi- mittelbarkeit« ist unzureichend: Ethik müsse das
sches zugrunde, sondern Ethiken allgemein sind Zukünftige, das »Noch-nicht-Seiende« mit umfas-
durchzogen von anthropologischen, handlungs- sen (ebd., 47/84). Das ist eine Verantwortung-für
theoretischen, physisch-materiellen Annahmen mit (Sorge-für-Struktur), keine instanzbezogene Verant-
metaphysischem Charakter (ebd., 93). Mit diesem wortung-gegenüber (zum Verantwortungsbegriff s.
Zirkelhinweis sind  – gegenüber Jonas ’ Kritikern  – Kap. II.6).
gleiche Ausgangsbedingungen eröffnet. Jonas kann Die ›Vorsichtsdimension‹ bildet zweitens den me-
weitergehen und einen Beleg anführen, dass es thodologischen Kern von Jonas ’ Ethik. Sie ist zum
durchaus Brücken zwischen Sein und Sollen gibt. Er Teil in der o. g. Nichtreziprozitätsdimension ange-
wählt eine archetypische Situation: einen Säugling, legt, insofern sich Vorsicht (nichtreziprok) auf Zu-
den »Urgegenstand der Verantwortung« (ebd., 234 f.). künftiges bezieht: »Vorsicht [ist] ein Gebot der Ver-
Mit dem Eltern-Kind-Sorgeverhältnis illustriert er antwortung«, denn »[n]iemals darf Existenz und
den Kern seiner Ethik: die Sorge-für-Struktur. Das Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz in den
Sein des hilflosen Säuglings richtet ein Sollen an Wetten des Handelns gemacht werden« (ebd.,
146 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

338/81). Methodologisch fordert Jonas eine anti- würdigt, dass er die zukunftsbezogene Technikethik
utopistische (anti-Blochsche) »Heuristik der Furcht« auf die Agenda von Philosophie und Öffentlichkeit
mit dem »Vorrang der schlechten vor der guten Pro- gesetzt hat, weniger dafür, wie er es getan hat.
gnose«, dem »Wetterleuchten« künftiger Katastro- Die vielstimmige Kritik, die Jonas provoziert hat,
phen und der Anerkennung einer objektiven Unbe- wird aus komplementären Stoßrichtungen vorge-
stimmtheit von Zukünften: Potentielles ist als Ob- bracht – und betrifft insbesondere die enge Verbin-
jektives zu betrachten (ebd., 63 f./70 f./7). Der sich dung von Ethik, Naturphilosophie und Anthropolo-
hier artikulierende Konservativismus ist zentrales gie. Praktische Philosophen und Sozialwissenschaft-
Element der ›Seinsverantwortung‹; konservierend ler identifizieren bei Jonas einen Naturalismus,
soll sichergestellt werden, dass es Menschen in Zu- verbunden mit einem naturalistischen Fehlschluss
kunft noch biologisch und sozial-kulturell geben (s. o.). Wissenschaftsphilosophen brandmarken ein
kann. Jonas begründet die Notwendigkeit des Vor- anthropomorphes Naturverständnis. Naturwissen-
sichtsprinzips u. a. durch den Hinweis auf kumula- schaftler erblicken in Jonas einen kulturalistischen
tive Effekte der Technik- und Wissenschaftsentwick- Objektivitätskritiker und Wissenschaftsfeind. Utili-
lung, wodurch die Zukunft nur unvollständig zu- taristen haben in Jonas einen folgenlosen Gesin-
gänglich ist. »Unwissen« und die »Ohnmacht nungs- und Pflichtenethiker gesehen, Kantianer ei-
unseres Wissens« ist bei Technikentscheidungen zu nen teleologisch-moralfernen Konsequentialisten,
berücksichtigen (ebd., 55/71). So ist »der Unheils- Tugendethiker einen prinzipienethischen Neokanti-
prophezeiung mehr Gehör zu geben […] als der aner, Diskursethiker einen autoritär-herrschaftsför-
Heilsprophezeiung« (ebd., 70). Handlungsverzicht migen Kommunikations- und Diskursverächter,
werde mitunter notwendig. Metaethiker einen moralisierenden Religionsphi-
Beide Aspekte bündelt Jonas in einem ›neuen Im- losophen oder Theologen. Gesellschaftstheoretiker
perativ‹: »›Handle so, daß die Wirkungen deiner erkennen eine komplexitätsreduzierende Individu-
Handlung verträglich sind mit der Permanenz ech- alethik und vermissen sozialphilosophisch-gesell-
ten menschlichen Lebens auf Erden‹; oder negativ schaftstheoretische Reflexionen, Technikfolgen-
ausgedrückt: ›Handle so, daß die Wirkungen deiner abschätzer bemängeln eine Nicht-Operationalisier-
Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige barkeit in konkreten Entscheidungssituationen, Ra-
Möglichkeit solchen Lebens‹« (ebd., 36). Es geht um tionalisten erblicken eine anti-aufklärerische reli-
beides: um das Überleben des Menschen als Gattung giöse Haltung und eine großsystemare aristotelisch-
und um das humane Leben im sozial-kulturellen teleologische Metaphysik.
Kontext. Formal orientiert sich Jonas an der deonto- Zusammengenommen werden Einwände gegen
logischen Ethik Kants (Verallgemeinerbarkeit; s. alle vier Kernaspekte der Jonasschen Ethik erhoben:
Kap. IV.B.5). Anders als bei Kant findet sich eine ma- (1) Der Diagnose-Einwand kritisiert Jonas ’ Wahr-
teriale Füllung, die sich auf das zukünftige Leben- nehmung und Diagnose der Problemlage und
können bezieht. Der Imperativ besitzt zwar nicht die die damit einhergehende Epochenbruchthese.
innerlogische Stringenz Kants, wohl aber eine hohe (2) Der Ursachenanalyse-Einwand mag zwar die
Plausibilität für das Leben selbst (ebd., 36). Motive Jonas ’ teilen, sieht allerdings keine Her-
Den neuen Imperativ als ›anthropozentrisch‹ zu ausforderung an Ethik – und schon gar nicht an
bezeichnen, würde indes Jonas ’ Intention ebenso Metaphysik.
verfehlen wie eine Typisierung als ›holistisch‹. Jonas (3) Der begründungstheoretische Einwand wirft
möchte diese Zuschreibung durch ein Zusammen- Jonas Fehlschlüsse, ungenaue Ableitungen und
führen von Naturphilosophie, Anthropologie und Argumentationsschwächen einer naturalisti-
Ethik umgehen. Der Mensch wird anthropologisch schen, metaphysisch durchtränkten Ethik vor.
als partizipierender Teil einer anthropomorph zu be- (4) Schließlich erhebt der Operationalisierungs-Ein-
schreibenden und integralmonistisch zu verstehen- wand einen Folgenlosigkeits- und Irrelevanz-
den Natur aufgefasst. Vorwurf.

Positiv aufgenommen wurde – neben der ubiquitä-


Kritik und Wirkungsgeschichte ren Verwendung des Jonasschen Zentralbegriffs
›Verantwortung‹ – (1) Jonas ’ Frühzeitigkeits-Orien-
Die Wirkungsgeschichte des Prinzips Verantwortung tierung, d. h. die Vorverlagerung der Ethik ins Er-
fällt zweischneidig aus. Jonas ’ wird primär dafür ge- kennen und Erschließen, um ethikrelevante ›Wissens-
2. Prinzip Verantwortung 147

zugänge zur Natur‹ zu ermöglichen und so an der Es ist das historische Verdienst Jonas ’ , maßgeb-
Problementstehung selbst anzusetzen (Altner et al. lich zur Entstehung und Etablierung der Natur- und
2000; Liebert/Schmidt 2010). Gleiches gilt für (2) Technikethik beigetragen zu haben  – auch wenn
Jonas ’ Zukunfts-Orientierung, also die Vertiefung oder sogar weil er darunter keine weitere Bereichs-
der Ethik hinsichtlich der metaphysischen Realität ethik versteht, sondern eine allgemeine Ergänzungs-
von Zukunft. Der »Bedarf einer geeigneten Metaphy- ethik, eine Verantwortungs- und Zukunftsethik. Es
sik« entstehe aus der Notwendigkeit, das Vor- geht ihm um die ethische Praxis, weniger um Ethik-
sichtsprinzip zu stärken und dem Zukünftigen – im Konzepte und deren binnenphilosophische Begrün-
Rahmen »aufgeklärter Unheilsprophezeiungen« – ei- dungsverfahren. Das räumt Jonas auch ein: »Ich
nen ontologisch-realen Status zuzuerkennen (Dupuy weiß, daß dies kein Beweis ist und niemanden zur
2005, 81/96). Ferner wurde (3) Jonas ’ Natur-Orien- Zustimmung zwingt« (Jonas 1988, 40). Allerdings,
tierung aufgenommen. Jonas hat nicht nur Natur jene formale Rationalität analytischer oder transzen-
zum Gegenstand der Ethik gemacht. Vielmehr wird dentalpragmatischer Ethiken ist Jonas nicht nur
der Begriff ›Natur‹ zum zentralen Reflexions- und fremd, er hält sie für unzureichend. Viel zu eng sei
Orientierungsbegriff, um epochale Verschiebungen dieser Rationalitätstyp mit der derzeitigen Problem-
im Natur-Technik-Verhältnis (s. Kap. IV.C.2) bzw. lage verwoben: Er habe die Lage mit hervorge-
zwischen Gewachsenem und Gemachtem zu dia- bracht.
gnostizieren, etwa die Entstehung einer »eigenpro- Die sozial-ökologische, atomare und biotechnolo-
duktiven Technik« (Biotechnologie, Synthetische Bio- gische Problemlage ist für Jonas kein Oberflächen-
logie) (Habermas 2002; Kastenhofer/Schmidt 2011). phänomen, dem man allein mit modifizierten Regeln
Die Wirkungsgeschichte Jonas ’ ist nicht auf den Herr werden könnte, sondern ein Tiefenproblem an
akademischen Bereich beschränkt. Durch seine den metaphysischen Fundamenten der Gegenwarts-
Rolle als öffentlicher Intellektueller hat er auf politi- kultur. Die hier wurzelnden Natur-, Mensch- und
sche Programme eingewirkt, etwa auf den Brundt- Wissenschaftsverständnisse präformieren die wissen-
land-Bericht (1987; Hauff 1987; s. Kap. IV.B.10). Jo- schaftlich-technische Entwicklung. Diese frühen Pha-
nas ’ Begriff des ›Dauergebots‹ sowie sein Imperativ sen nimmt Jonas in den Blick. Sind Entwicklungs-
finden sich dort inhaltlich identisch reformuliert pfade hingegen weit fortgeschritten, geht Jonas’ Er-
(ebd., xv/337). Die methodologischen Kernelemente gänzung der Ethik ins Leere. So lehnt Jonas eine zu
des Prinzips Verantwortung sind ferner in Gesetzes- spät kommende Technikethik bzw. Technikfolgen-
formulierungen eingeflossen (Nichtreziprozität in abschätzung ab, aber keine zukunftsantizipierende
das Embryonenschutzgesetz sowie das Deutsche Prospektive Technikfolgenabschätzung (vgl. Liebert/
und Schweizer Tierschutzgesetz). Sie haben Eingang Schmidt 2010; Grunwald 2010).
gefunden in die Technikfolgenabschätzung (s. Kap.
VI.4, Kap. VI.3 und Kap. IV.C.7), insbesondere die
prospektive (Liebert/Schmidt 2010). Weitgehend Literatur
umgesetzt ist Jonas ’ wissenschaftspolitische Forde- Altner, Günter/Böhme, Gernot/Ott, Heiner (Hg.): Natur
rung der Institutionalisierung »einer neuen Wissen- erkennen und anerkennen. Über ethikrelevante Wissens-
schaft, die es mit enormer Komplexität der Interde- zugänge zur Natur. Zug/Schweiz 2000.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung [1959]. Frankfurt a. M.
pendenzen zu tun« hat, mit anderen Worten: eine
1985.
»integrale Umweltwissenschaft« (Jonas 1987, 11). Böhler, Dieter (Hg.): Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit
Hans Jonas. München 1994.
Dupuy, Jean-Pierre: Aufgeklärte Unheilsprophezeiungen.
Fazit In: Gerhard Gamm/Andreas Hetzel (Hg.): Die Unbe-
stimmtheitssignatur der Technik. Bielefeld 2005, 81–102.
Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung. Eine Einfüh-
Das Prinzip Verantwortung kann selbst als gesell- rung [2002]. Berlin 2010.
schaftshistorische Wegmarke verstanden werden, Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
welche die gesellschaftlichen Natur-, Technik- und Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.
Selbstverhältnisse der diagnostizierten sozial-ökolo- 2002.
gischen, nuklearen und biomedizintechnologischen Hartung, Gerald/Köchy, Kristian/Schmidt, Jan C./Hof-
meister, Georg (Hg.): Von der Naturphilosophie zur Na-
Überlebenskrise der 1980er Jahre aufnahm und als turethik. Zur Aktualität von Hans Jonas. Freiburg 2013.
Herausforderung an Philosophie, Ethik und Öffent- Hauff, Volker (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der
lichkeit verstand. Brundtland-Bericht der WCED. Greven 1987.
148 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre [1962]. Stutt- 3. Klugheitsethik/
gart 2007.
Hubig, Christoph: Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Provisorische Moral
Leitfaden. Berlin 1995.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer
Ethik für die technologische Zivilisation [1979]. Frankfurt
a. M. 1984. Klugheitsethik
– : Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verant-
wortung [1985]. Frankfurt a. M. 1987. Generell ist Klugheit die Eigenschaft eines individu-
– : Materie, Geist und Schöpfung. Frankfurt a. M. 1988.
– : Dem bösen Ende näher. Frankfurt a. M. 1993. ellen oder institutionellen Akteurs, vernünftig-über-
– : Das Prinzip Leben. Frankfurt a. M. 1997 (engl. 1966; dt. legt situationsangemessen handeln zu können. Ins-
Orig. Organismen und Freiheit. Ansätze zu einer philoso- besondere wird ein Akteur dann klug genannt, wenn
phischen Biologie, 1973). er dazu auch in unüberschaubaren Handlungssitua-
Kastenhofer, Karen/Schmidt, Jan C.: On Intervention, con- tionen im Stande ist, oder sogar seine Handlungs-
struction and creation: Power and knowledge in tech-
noscience and late-modern technology. In: Torben B. ziele zur Disposition zu stellen vermag, wenn es die
Zülsdorfer et al. (Hg.): Quantum Engagements: Social Situation im Lichte der Vorstellung eines gelingen-
Reflections of Nanoscience and Emerging Technologies. den Gesamtlebensvollzuges erforderlich macht. Im
Heidelberg 2011, 177–194. Unterschied zum heutzutage in der Ethik oftmals in
Liebert, Wolfgang/Schmidt, Jan C.: Towards a Prospective Abgrenzung zur Moral gebrauchten Begriff von
Technology Assessment. In: Poiesis & Praxis 7/1–2
(2010), 99–116. Klugheit als Prinzip eines rationalen Egoismus han-
Schmidt, Jan. C.: Die Aktualität der Ethik von Hans Jonas. delt es sich bei dieser Eigenschaft um eine (intellek-
Eine Kritik der Kritik des Prinzips Verantwortung. In: tuelle) Tüchtigkeit/Fähigkeit, die, wenn sie sich zu
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/4 (2007), 545– einer Haltung verfestigt hat, (intellektuelle) ›Tugend‹
569. genannt wird.
Schweitzer, Albert: Die Ehrfurcht vor dem Leben [1919/
1966]. München 1988.
Die Klugheit galt in den antiken und mittelalterli-
Sitter-Liver, Beatrix: Ehrfurcht und Würde in der Natur. In: chen Ethiken als Kardinaltugend, da nur vermöge
Günter Altner et al. (Hg.): Leben inmitten von Leben. seiner Klugheit ein Mensch das Gute, um das er
Stuttgart 2005, 139–162. weiß, auch in die Tat umsetzen kann. Das praktische
Taylor, Paul W.: Respect for Nature. A Theory of Environ- Wissen des (Lebens-)Klugen ist dabei nicht mit ei-
mental Ethics. Princeton 1986.
ner quasi-technischen Anwendung theoretischer Er-
Jan C. Schmidt
kenntnisse auf die Belange der Praxis zu verwech-
seln, sondern stellt einen Wissenstyp eigener Art
dar, wie schon Aristoteles deutlich gesehen hat: Es ist
das irreduzibel situations- und akteursspezifische
Wissen um Rat – etwas, was in einer zeitgemäßeren
Sprechweise ›Orientierungswissen‹ genannt werden
kann (Mittelstraß 1992), welches eben nicht nur
wahre und in rechter Weise gerechtfertigte morali-
sche, rechtliche und sittliche, d. h. stark normative
Überzeugungen umfasst – in denen ein ›Sollen‹ im
Sinne von (kategorischen) Ge- und Verboten auf-
tritt – sondern auch und gerade wahre und begrün-
dete schwach normative Überzeugungen in Hinblick
auf das Wohlergehen bzw. das geteilte gute Leben (s.
Kap. IV.B.8). Hier tritt ein ›Sollen‹ freilich nur mit ei-
nem hypothetischen Anspruch auf, wie er für die
Ratschläge der Klugheit, den ›pragmatischen Impe-
rativen‹ im Sinne Kants charakteristisch ist (s. u.).
Wie die Tugendethiken nimmt auch die Klug-
heitsethik ihren Ausgangspunkt nicht in Normbe-
gründungsverfahren, sondern in einer Untersu-
chung der Selbstorientierungskompetenz der Indivi-
duen. Von materialen Tugendethiken, die inhaltlich
3. Klugheitsethik/Provisorische Moral 149

an anerkannten Tugenden bestimmter Wertege- Klugheit als Orientierungswissen


meinschaften anknüpfen und damit einen nur parti- im Umgang mit Verfügungswissen
kularen, auf die jeweilige Wertegemeinschaft bezo-
genen Geltungsanspruch erheben können – wie z. B. Einer Klugheitsethik geht es nun nicht nur darum,
im Neoaristotelismus bzw. Kommunitarismus Alas- das Feld des Erlaubten und evtl. Gebotenen, sondern
dair MacIntyres (vgl. MacIntyre 1989) – unterschei- auch und vielmehr darum, das für die Selbstorientie-
det sich die Klugheitsethik dahingehend, dass sie rung der Akteure wichtigere (und größer gefasste)
versucht, die formalen Bedingungen gelingender Feld des Ratsamen abzustecken. Dies muss freilich
Praxis zu rekonstruieren, Bedingungen, wie sie erst- jeweils neu passieren, analog zu Strategieüberlegun-
malig in der aristotelischen Analyse der phrónêsis gen in Spielen (etwa beim Schach oder Fußball).
zur Sprache kommen, also derjenigen intellektuellen Man kann hier zwar auf Muster zurückgreifen, die in
Tugend, die für die glücksträchtige gelingende Pra- einem Erfahrungsschatz (in der Klugheitsethik etwa
xis überhaupt (eupraxia) zuständig ist. Die phrónêsis, in den Maximen der klugheitsethischen Tradition
die aristotelische Klugheit, benötigt zwar, um nicht von Seneca bis Michel de Montaigne, von René Des-
blind zu sein, allgemeine Wertmuster, wie sie als cartes bis Albert Camus, in Bezug auf die Spiele in
normative Rahmenkonzepte (qua Üblichkeiten) in Strategiehandbüchern) thesauriert sind – aber diese
den jeweiligen kulturellen und historischen Situatio- Muster haben weder verbindlichen, noch definitiven
nen vorfindlich sind, ist aber selber nicht an be- Charakter, sind zudem von irreduzibler Pluralität
stimmte Wertinhalte gebunden; der Kluge setzt sich und müssen hinsichtlich ihrer Einschlägigkeit aller-
vielmehr zu ihnen in ein Verhältnis, indem er über- erst auf eine Entscheidungssituation appliziert wer-
legt und abwägt, wie angesichts von situativ beding- den. Ebendies ist die Sache der Klugheit.
ten Wertkonflikten der Selbstzweck gelingenden Ratschläge sind nämlich, wie man im alltäglichen
Handelns überhaupt (auch langfristig) gewährleistet Sprachgebrauch treffend sagt, »Gebote der Stunde«;
werden kann. Die Klugheitsethik kann man daher dieser provisorische Charakter unterscheidet sie von
auch als eine ›formale Tugend- bzw. Wertethik‹ be- der anderen Art hypothetischer Imperative, den
zeichnen, die gerade unter wertpluralistischen Be- technischen. Anders als probate technische Impera-
dingungen eine wichtige akteurszentrierte Alterna- tive müssen sie einer ständigen Revision unterzogen
tive zu den stark normativen Prinzipienethiken bil- werden, haben aber, einmal für eine bestimmte
den kann. Situation bestimmt, eine direkte Orientierungsfunk-
Aufgrund ihrer Formalität  – oder besser: In- tion für den Akteur: Ergebnis der Beratung ist ein
haltsoffenheit – ist sie auch nicht auf den individual- Wissen darüber, welche Zwecke realisiert werden
ethischen Bereich der Lebensführung beschränkt. sollen, ein Orientierungswissen also. Technische Im-
Grundtopoi klugen Handelns wie Situationsange- perative dagegen setzen, was die Geltung für das
messenheit unter der Perspektive des Erhalts und Handeln eines Akteurs angeht, dessen Orientierung
der Entwicklung des Handelnkönnens – was auch an bestimmten Zwecken schon voraus; sie haben
zur Selbstbeschränkung führen kann – betonen den also keine orientierungsstiftende Funktion, gelten –
Praxischarakter des Handelns: Praxis ist Handeln, relativ zu einem Wissenszustand  – als transituativ
dessen Zweck Handeln als gelingender Vollzug ist (d. h. nicht nur provisorisch). Mit anderen Worten:
(Ebert 1976). Dies stellt sie einer Bewertung des In technischen Imperativen artikuliert sich kein Ori-
Handelns gegenüber, die sich bloß an der Funktio- entierungs-, sondern ein Verfügungswissen, ein Wis-
nalität zur Realisierung bestimmter Zwecke in Wer- sen um die probaten Mittel zur Realisation von Zwe-
ken oder Zuständen – Poiesis – orientiert. Sie liefert cken. Wenn daher pragmatische mit technischen
daher auch und gerade im gesellschaftspolitischen Imperativen verwechselt werden, d. h. Ratschläge
Rahmen wichtige Gesichtspunkte der Handlungs- mit Rezepten, verfehlt man notwendigerweise die
qualifikation bzw. der Entscheidungsfindung und Eigenart klugheitsethischer Reflexion, die eben we-
findet ihre ›Vervollkommnung‹ in einer entspre- sentlich darin besteht, eine Abwägung der Qualität
chenden Politik, die das (Weiter-)handeln insgesamt möglicher Zwecksetzungen anstrengen zu können,
zu gewährleisten hat (Aristoteles NE 1118b 14 ff.; und dies im Lichte von (ihrerseits immer wieder auch
Hubig 2007b). zur Revision anstehender) Vorstellungen vom guten
Leben (Luckner 2005, 39 ff.; Hubig 2007a, Kap. 3.3).
Hinzu kommt, dass das Verhältnis von pragmati-
schen zu technischen Imperativen eines nicht nur
150 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

von verschiedenen Arten von hypothetischen Impe- die dabei zur Sprache kommen; gefragt werden sollte
rativen ist, sondern eines von verschiedenen ethi- an vielen Stellen in Forschung und Entwicklung, was
schen Ebenen: Die Anwendung technischer Impera- überhaupt mit der Einführung einer bestimmten
tive im Handeln kann selbst wiederum Gegenstand Technologie erreicht werden soll, oder welche Kom-
einer klugen Abwägung werden, während umge- petenzverluste bzw. welche Veränderung in unserem
kehrt Beratungen und Beratungsergebnisse in Form Selbstverständnis damit verbunden sein könnten.
von Ratschlägen und Empfehlungen sich nicht in Viele Fragen aus dem technik- und wissenschafts-
Techniken ummünzen lassen. Daher kann es zwar ethischen Bereich, wie z. B., ob bestimmte gentech-
eine Klugheitsethik und damit eine klugheitsethi- nische Eingriffe erlaubt sind oder ob es verboten ist,
sche Technikethik geben  – und zwar als ›Orientie- bei der Energiebereitstellung die Biosphäre zu schä-
rungswissen im Umgang mit Verfügungswissen‹ –, digen, sind im Grunde keine Orientierungsfragen,
aber keine ›Technik der Ethik‹. Technikethisches weil sie keinen Rat für den Umgang mit Handlungs-
Orientierungswissen kann nicht selbst technischen optionen angesichts von Alternativen in den ent-
Charakter im Sinne eines (höherstufigen) Verfü- sprechenden Gegenstandsfeldern geben. Das soll
gungswissens über Orientierungsangebote haben, nicht heißen, dass die Fragen danach, ob bestimmte
wenn es handlungsorientierende Kraft haben soll. technische (z. B. gentechnische, kerntechnische,
In einer akteurszentrierten Ethik wie der Klug- medizintechnische) Operationen verboten, erlaubt
heitsethik kann es nicht darum gehen, für jemanden oder gar geboten seien, weniger wichtig für die Tech-
(und sei es für mich selbst) eine ›passende‹ Orientie- nikethik wären als gemeinhin angenommen. Es soll
rung zu finden, sondern darum, dem Akteur darin nur heißen, dass sie für die ›Handlungsorientierung‹
zu fördern, sich selbst orientieren zu können (Hubig sekundär sind, weil sie eben bestenfalls – vorausge-
1997, 19 ff.). Die Reflexivität der Orientierung als setzt, man findet hierüber einen Konsens – nur den
Selbstorientierung ist ein Merkmal des Orientie- Rahmen des Erlaubten vorgeben können, innerhalb
rungswissens selbst, weshalb Orientierungswissen dessen es aber immer noch möglich ist, nicht zu wis-
sich nicht einfach Büchern oder technikethischen sen, was man genau tun soll, d. h. desorientiert zu
Manifesten entnehmen lässt. sein. Moralische Normen haben einen Trumpfstatus
in Bezug auf Geltungsansprüche, nicht daher aber
schon in Bezug auf die Selbstorientierung von Ak-
Zum Verhältnis von Klugheit und Moral teuren. Auch umgekehrt gilt: So wie ein Neuling im
Schachspiel durch die Regeln des Schachspiels allein
Klugheit darf nicht als in Opposition zur Moral ste- noch nicht weiß, was es heißt, gut Schach zu spielen,
hend aufgefasst werden, wenn das Thema Orientie- besitzt auch derjenige, der weiß, was ihm aus
rung bzw. Orientierungswissen für die Ethik wieder technikethischer Perspektive erlaubt bzw. verboten
erschlossen werden soll. So wie einerseits Klugheit ist, deswegen noch keine feste Handlungsorientie-
ohne Moral sicherlich blind ist, erweist sich anderer- rung bezüglich seines Umgangs mit Verfügungswis-
seits die Moral in Hinblick auf die Selbstorientierung sen. Für eine Technikgestaltung und -bewertung
der Handlungssubjekte ohne Klugheit bzw. pragma- aber können Überlegungen zu praktischen Notwen-
tisch-konsiliatorische Dimension als leer. Eine Ethik digkeiten und Möglichkeiten, Schranken und Lizen-
der Klugheit, die die Besonderheit von Ratschlägen zen naturgemäß keine für die Orientierung hinrei-
gegenüber transituativen Gebrauchsanweisungen chende Rolle spielen, weil Technikbewertung in ei-
und kategorischen Imperativen der Moral herauszu- nem solchen Rahmen erst anhebt  – ganz so, wie
arbeiten hat, kann zeigen, dass Klugheit der Name Strategieempfehlungen im Schachspiel die Geltung
für die Beratungskompetenz ist, die in einer be- von Spielregeln zwar voraussetzen, aber hierzu ein
stimmten Situation normative Ansprüche verschie- kluges Surplus abgeben.
denster Art so in ein Verhältnis zu setzen vermag, Es muss der Technikgestaltung und -bewertung
dass das Ratsame in einer Situation erfasst wird. folglich um die Bestimmung des Ratsamen gehen.
Die vornehmlich in der Moralphilosophie ge- Orientierungsfragen im Bereich der Technikethik
führte Debatte bezüglich einer Begründung von wären also nicht derart: ›Dürfen wir menschliches
Normen muss daher um den Aspekt der Selbstorien- Erbgut klonen oder nicht?‹, ›Ist es uns geboten, für
tierung der Akteure technischen Handelns ergänzt die intakte Umwelt für kommende Generationen zu
werden. Es sind dabei bestimmte, durch das techni- sorgen oder nicht?‹, ›Müssen wir der zunehmenden
sche Handeln überhaupt in Frage stehende Güter, ›Herrschaft des Computers‹ in allen möglichen Le-
3. Klugheitsethik/Provisorische Moral 151

bensbereichen Einhalt gebieten oder nicht?‹. Denn Von der Technikethik wäre dabei eine Offenheit ge-
dies sind Beispiele für den Fragetypus, unter dem fordert, die im Blickwinkel der herkömmlichen Sys-
Ethik im Wesentlichen auf Moralphilosophie be- teme der Moralphilosophie nicht besteht. Die Tech-
schränkt ist. Orientierungsfragen im Bereich der nikethik bedarf einer klugheitsethischen Dimension.
Technikethik würden lauten: ›Warum wollen wir
überhaupt menschliches Erbgut klonen?‹, ›Was ist
eigentlich der Grund dafür, dass wir eine intakte Vers une morale par provision
Umwelt für kommende Generationen erhalten wol-
len?‹, ›Benötigen wir Computer in diesem und je- Die Klugheitsethik generiert oder begründet keine
nem Lebensbereich?‹ (vgl. hierzu die ›Leitfragen zur Erlaubnisse und Verbote oder verpflichtende Ge-
Technikbewertung‹ in Hubig 1995, Kap. 9). bote, sondern gibt – als eine bestimmte Ausformung
Die Kriterien für den Umgang mit Verfügungs- der Tugendethik – Gesichtspunkte dafür, wie Han-
wissen können  – wegen der bloßen Verschiebung deln als lebenspraktisch, dienlich und situationsan-
der Orientierungsfrage – nicht einfach im Sinne ei- gemessen bestimmt werden kann. Sie ist daher eine
nes Verfügungswissens formuliert werden. Dement- ›Ethik der Ermöglichung‹, insofern sie darauf reflek-
sprechend kann ›Sich-Orientieren‹ dann auch nur tiert, was durch Techniken an grundlegenden Ände-
heißen, über praktisch-wirkliche, d. h. in einer be- rungen oder Fixierungen in unserer Lebenswelt er-
stimmten Handlungssituation anzuratende Bestim- möglicht wird und stellt die Wünschbarkeit dieser
mungen des Handelns aufzuklären. Diese Form der Entwicklungen in Frage. Dies ist ihr wesentlich tech-
Handlungsorientierung spiegelt sich in der Form der nikkritisches Moment. Auch wenn es aus systemati-
Klugheitslehren und -ethiken wieder; eine Klug- schen Gründen weder universale noch unbedingte
heitsethik unter Bedingungen des Wertepluralismus Klugheitsregeln geben kann, sondern diese nur pro-
kann, wie Andreas Luckner gezeigt hat, lediglich im visorisch, d. h. je individuell und situationsbezogen
Sinne einer pragmatischen Topik entworfen werden, entworfen werden können, besteht immerhin doch
mit deren Hilfe sich (kollektive und individuelle) die Möglichkeit  – im Sinne einer ›provisorischen
Akteure in der Technosphäre selbst orientieren kön- Moral‹  – eine Abwägung von Strategien im Lichte
nen. Eine solche pragmatische Topik würde, ganz im der Aufrechterhaltung und Erweiterung von Praxis-
Sinne der traditionellen Klugheitslehren, nicht etwa vollzügen (einfacher und etwas verkürzt gesprochen:
Gebrauchsanweisungen zur Beförderung des per- ihrer Lebensdienlichkeit) zu vollziehen.
sönlichen und allgemeinen Glücks liefern, sondern Die von René Descartes skizzierte provisorische
eine Reihe von Gesichtspunkten bereitstellen, unter Moral zielt – angesichts der Ungewissheit bezüglich
denen eine bestimmte Situation auf die in ihr liegen- einer wissenschaftlich gesicherten Ethikbegrün-
den realen Handlungsmöglichkeiten im Interesse dung – darauf ab, »ein anderes [provisorisches] Haus
der Selbstorientierung durchleuchtet werden kann zu haben […], um so glücklich wie möglich weiter-
(Luckner 2005, 122–140). Die Klugheitsethik gene- zuleben« (Descartes 1637/1960, 23). Es ist eine »Mo-
riert oder begründet keine Erlaubnisse und Verbote, ral für unterwegs« (Fischer 1996), die ein Tableau,
sondern gibt Gesichtspunkte dafür, was gute (kluge, eine Topik von Regeln bereitstellt, unter denen Ent-
situationsangemessene) Ratschläge sind bezüglich scheider sich orientieren können. Unter dem Leit-
der Frage, wie Prioritäten angesichts der Ermögli- bild der provision als einerseits ›Vorsicht/Voraus-
chungsleistung bestimmter Techniken herausgebil- sicht‹ sowie ›Vorläufigkeit/Korrigierbarkeit‹, ›not-
det werden sollen. wendigster Vorrat und Ertrag des Bemühens‹
Es ist ein Spezifikum technischen Handelns, dass andererseits rät Descartes ein Sich-Orientieren an
es mitunter vor Situationen stellt, bezüglich derer es drei basalen Regeln an:
keine Erfahrungen gibt, auf die einfach zurückge- (1) tradierten anerkannten Sitten zu folgen, sofern
griffen werden könnte. Hier könnte es in der Tat die sie ›maßvoll‹ sind und die Praxis befördern, also
Aufgabe der Technikethik sein, Voraussetzungen der nicht extreme Ansichten zu wählen, die im Falle
Selbstorientierung unter Bedingungen von Unwis- eines Fehlgriffs schwer zu korrigieren sind (Des-
senheit zu formulieren. Technikethiker, wenn ihnen cartes 1637/1960, 25);
an der vernünftigen Selbstorientierung der Hand- (2) im zweifelhaften Fall der wahrscheinlichsten
lungssubjekte in der Technosphäre gelegen ist, wür- Ansicht zu folgen und diese Entscheidung für
den dann eher Landvermessern ähneln als Geogra- den einmal eingeschlagenen Weg (wie der Ver-
phen, die sich über schon gedruckte Karten beugen. irrte im Wald) durchzuhalten (ebd., 26);
152 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

(3) schließlich sich auf die Grenzen der eigenen aristotelischen Einsicht, dass das ›Gute‹ kein Ober-
Handlungsmacht zu besinnen bzw. zu beschei- begriff für die relativ zu Lebensentwürfen unter-
den (ebd., 27). schiedlichen Hinsichten des (material) Guten sind
(4) Eine weitere Anweisung fordert die Herausbil- (Aristoteles, NE 1096a 24 ff.), sondern formal die
dung praktischer Urteilskraft, unter der diese, Gelingensbedingungen gewährleisten sollen. Dis-
einander widersprechenden Regeln (im Extrem: sense sollten daher nicht (oder nur im Notfall) durch
Konformismus, Dezisionismus, Fatalismus) er- verpflichtende Konsense abgelöst werden; vielmehr
fahrungsbasiert situationsspezifisch verfolgt sollen höherstufige Konsensoptionen vorgeschlagen
werden sollen. werden über die Zulässigkeit und die Tragbarkeit
von Dissensen: Individuell verantwortetes Entschei-
Dadurch werden diese Regeln zu solchen, die kom- den zuzulassen, sofern Lasten und Risiken nicht ab-
plementär zueinander stehen und sich wechselseitig geschoben werden; missliche Priorisierungen zuzu-
korrigieren (nur transsituativ verstanden stellen sie lassen, wenn die Ressourcenallokation hier noch
Widersprüche der Extreme dar; hierzu Luckner besser ist und Lasten durch Ausgleichsmaßnahmen
1996, 68–77; Luckner 2005, 150–165). kompensiert oder Betroffene die Option haben, sich
Die Wahl von Mitteln und Zwecken soll unter der Übernahme der Lasten zu entziehen; die Auflö-
diesen Regeln zusätzlich dahingehend validiert wer- sung von Dissensen zu vertagen, sofern angesichts
den, dass die Bedingungen eines glücklichen Weiter- von Ungewissheit und Unsicherheit kein Entschei-
lebens nicht zerstört werden. Analog zu einem ›Zelt‹ dungsdruck besteht (Moratorium), neue Suchräume
als provisorischem Haus können wir hier Kriterien mit Blick auf die ›Problemwurzel‹ zu eröffnen, sofern
eines ›guten Zeltes‹ wiederfinden: Stabilität, Flexibi- alle Lösungsoptionen strittig sind; ›Killeroptionen‹,
lität, Belastbarkeit/Durchhalten, Reparabilität, Feh- die alle konkurrierenden Optionen irreversibel ver-
lerfreundlichkeit (Hubig 2007a, 135 f.). Es wird also, unmöglichen, nicht zuzulassen. Kompromisse mit
quasi als ›regulative Idee‹ die Orientierung an einem ihrer Einschränkungs- und Bindungswirkung wären
Set von Regeln vorgeschlagen, unter dem wertplura- erst zu verfolgen, wenn alle anderen Strategien eines
listisch-konfligierend beurteilte (technische) Hand- Dissensmanagements gescheitert sind. Beispiele der-
lungsoptionen zusätzlich gegeneinander abgewogen artiger Abwägungen wären u. a. reparable Endlage-
und priorisiert werden können je nach Problemlage rung kerntechnischer Abfälle (Ethikkommission
und Situation. Freilich bedarf dieser Vorschlag der Energiewende; zu radioaktiver Endlagerung s. Kap.
Konkretisierung. V.4), strikt privatisierter Einsatz von PID/PFD unter
Ein erster Schritt kann darin liegen, über die be- Ausschluss sozialen Drucks (Nationaler Ethikrat),
züglich ihres Realwertes (Gratifikation und Lasten/ Einsatz grüner Gentechnik auf Mängelböden in Not-
Chancen und Risiken) konfligierend beurteilten Op- lagen (s. auch Kap. V.7) etc.
tionen hinaus den Erhalt von Options- und Ver- Gemeinsam ist diesen Vorschlägen in klugheits-
mächtniswerten geltend zu machen: Optionswerte ethischer Tradition das Beharren auf der Ablehnung
als Werte zukünftig möglicher Handlungsoptionen, material-dogmatischer Wertsetzung einerseits und
deren Präferierung offen bleiben soll, und Ver- die Verfolgung einer formalen Vorstellung gelingen-
mächtniswerte als Wert der Bedingungen des Erhalts den Lebens andererseits, darüber hinaus der Verweis
und der Entwicklung der Identität des Handelnden auf die Notwendigkeit situationsspezifischer Diffe-
als moralisch verantwortlicher Person (Pommerehne renzierung unter einem Tableau von Ratschlägen,
1987; Cicchetti/Wilde 1992; Birnbacher 1993; Pea- die den Rahmen abgeben für ein individuelles Sich-
cock/Rizzo 1994; hierzu Hubig 2007a, 141–145). Orientieren, das in seiner Individualität die Lasten
Aber auch diese Vorschläge, die Regeln der Priori- einer Fehlorientierung nicht an Andere abschiebt.
sierung angesichts von Realwertkonflikten darstellen Hier werden die Anschlussstellen einer Klugheits-
(VDI 1991; VDI 1999), kommen nicht ohne proze- ethik/provisorischen Moral an die Gerechtigkeitsde-
durale Anteile aus, in klugheitsethischer Absicht batte ersichtlich (s. Kap. IV.B.9), sowie die Konver-
sind daher für ein Abwägen im Wertediskurs Regeln genz zu deontologisch verfasster Autonomieethik
anzuraten, die dem Leitbild provisorischer Moral – (Krämer 1992), die als Instanz die Integrität der Per-
welches als früher Vorläufer der Leitbilder zukunfts- son bezüglich des Entwurfs ihres Lebens setzt – frei-
fähigen, das ist nachhaltigen Handelns erachtet wer- lich nur insoweit, als diese Freiheit als unteilbare und
den kann  – entsprechen: Solche Regeln eines Dis- nicht reservierbare zu denken ist. Denn andernfalls
sensmanagements (Hubig 2007a, Kap. 6) folgen der bedürfte sie dogmatischer Kriterien, unter denen
4. Utilitarismus 153

ihre Vorenthaltung für Dritte begründbar wäre; sie 4. Utilitarismus


geriete dann in den Selbstwiderspruch zu sich als ab-
solute Instanz.
Bereits für die Begründer des Utilitarismus bezog
Literatur sich ›Nützlichkeit‹ (utility) nicht – wie vielfach miss-
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hg. von Olaf Gigon.
verständlich unterstellt – auf den individuellen, son-
München 1994 [NE]. dern auf den kollektiven Nutzen bzw. auf den Nut-
Birnbacher, Dieter: Ethische Dimensionen der Bewertung zen aller von einer Handlung positiv oder negativ
technischer Risiken. In: Herbert Schnädelbach/Geert Betroffenen. Letztes Ziel des Utilitarismus ist das
Keil (Hg.): Philosophie der Gegenwart – Gegenwart der unparteiisch bestimmte »größte Glück der größten
Philosophie. Hamburg 1993.
Zahl«. Von dem von dem Gründungsvater Jeremy
Cicchetti, Charles J./Wilde, Louis L.: Uniqueness, irreversi-
bility, and the theory of nonuse values. In: American Bentham vertretenen psychologischen Egoismus,
Agricultural Economies Association (1993), 1121–1134. nach dem Individuen mit psychologischer Notwen-
Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftge- digkeit ausschließlich ihren jeweils eigenen Nutzen
brauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übers. maximieren, hat sich der Utilitarismus seit länge-
von Lüder Gäbe, Hamburg 1960 (frz. Discours de la mé-
rem getrennt. Bereits Benthams Nachfolger John
thode, 1637).
Ebert, Theodor: Praxis und Poiesis. Zu einer handlungs- Stuart Mill vertrat die Auffassung, dass die dem
theoretischen Unterscheidung des Aristoteles. In: Zeit- Menschen angeborenen Motive zwar sämtlich ego-
schrift für philosophische Forschung 30/31 (1976), 12–30. istisch sind, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse
Fischer, Peter: Moral für unterwegs. Descartes, Nietzsche jedoch fähig sind, diese durch altruistische Motive
und die Asketik der modernen Wissenschaft. In: Chris- zu überlagern.
toph Hubig/Hans Poser (Hg.): Cognitio humana – Dyna-
mik des Wissens und der Werte (XVII. Deutscher Kon-
greß für Philosophie, Workshop-Beiträge). Bd. 2. Leip-
zig 1996, 84–91. Utilitarismus: Kernelemente
Hubig, Christoph: Technik- und Wissenschaftsethik. Ein und moderne Varianten
Leitfaden. Berlin/Heidelberg/New York 21995.
– : Technologische Kultur. Leipzig 1997.
– : Die Kunst des Möglichen II. Grundlagen einer dialekti- Die utilitaristische Ethik kann verstanden werden als
schen Philosophie der Technik. Bielefeld 2007a. eine Ethik der Effizienz, die alle einzelnen Kompo-
– : Die Politik vervollkommnet die Ethik? Begründungs- nenten der Moral: Einzelhandlungen, Handlungs-
und Realisierungsprobleme einer Ethik institutionellen weisen, individuelle und soziale Handlungsregeln,
Handelns. In: Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hg.): Institutionen, Motive, Tugendbegriffe und Ideale da-
Staat ohne Verantwortung? Frankfurt a. M. 2007b, 375–
390. nach beurteilt, wie weit sie geeignet sind, das subjek-
Krämer, Hans: Integrative Ethik. Frankfurt a. M. 1992. tive Wohlbefinden bewusstseinsfähiger Wesen zu
Luckner, Andreas: Elemente provisorischer Moral. In: fördern. Moralische Regeln sind für sie kein Selbst-
Christoph Hubig/Hans Poser (Hg.): Cognitio humana – zweck, sondern verhaltenssteuernde soziale Kon-
Dynamik des Wissens und der Werte, Bd. 1. Leipzig 1996, ventionen, die sich allein durch ihre Funktionalität
68–77.
– : Orientierungswissen und Technikethik. In: Dialektik 2
rechtfertigen. In gewisser Weise lässt sich die utilita-
(2000), 57–78. ristische Ethik als eine Verallgemeinerung des tech-
– : Klugheit. Berlin/New York 2005. nisch-ökonomischen Modells der Zweck-Mittel-Ra-
MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt tionalität betrachten.
a. M. 1989 (engl.1981). Damit weist die utilitaristische Ethik eine angebo-
Mittelstraß, Jürgen: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, For-
schung und Verantwortung. Frankfurt a. M. 1992.
rene Affinität zur Ökonomie, aber auch zur Technik
Peacock, Alan T./Ilde Rizzo: Cultural Economics and Cultu- auf. Technisches Handeln ist typischerweise an be-
ral Politics. Dordrecht 1994. stimmten nicht-technischen Zwecken orientiertes
Pommerehne, Werner W.: Präferenzen für öffentliche Güter. Mittelhandeln (s. Kap. II.1 und Kap. IV.A.11). Tech-
Ansätze zu ihrer Erfassung. Tübingen 1987. nische Optimierung hat immer auch Züge einer Ma-
Trapp, Rainer: Klugheitsdilemmata und die Umweltproble-
ximierung von Nützlichkeit. Während allerdings
matik. Paderborn 1998.
VDI: Richtlinie Technikbewertung (VDI 3780). Düsseldorf technische Nützlichkeit relativ ist und die Ziele, in
1991. Bezug auf die eine Technik nützlich ist, offen lässt,
VDI: Aktualität der Technikbewertung. Erträge und Perspek- schließt Nützlichkeit im Rahmen des Utilitarismus
tiven der Richtlinie 3780. VDI Report 29. Düsseldorf 1999. die Art der Zwecke und die Art der Werte, nach de-
Christoph Hubig und Andreas Luckner nen die Effizienz der Mittel beurteilt wird, ein: die
154 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Steigerung des über alle Betroffenen aggregierten Güterabwägung. Da alle Güter mit ihrem jeweiligen
subjektiven Wohlbefindens. Nutzenwert in die Abwägung eingehen, sind jeweils
Der Utilitarismus stellt sich gegenwärtig als ein nur homogene Nutzenmengen (positive und nega-
nicht immer klar gegen andere Ethikansätze abge- tive) miteinander zu verrechnen. Unauflösbare
grenzte Gruppe von Ethikkonzeptionen dar, die teils ›tragische‹ Konflikte oder Dilemmata kann es im
durch gemeinsame Kernelemente, teils durch variie- Utilitarismus nicht geben, es sei in dem Sinn, dass
rende Familienähnlichkeitsbeziehungen verbunden jede von zwei oder mehr Handlungsalternativen
sind. Zu den Kernelementen gehören: (einschließlich des Nicht-Handelns) gravierend
(1) Konsequentialismus: Die moralische Beurtei- schlechte Folgen hat.
lung menschlichen Handelns (darin eingeschlossen (3) Universalismus: Im Sinne der Bentham zuge-
Unterlassungen) hängt ausschließlich von der Beur- schriebenen Devise »Everyone to count for one and
teilung der (wahrscheinlichen) Handlungsfolgen ab. nobody for more than one« (Mill 2006, 184) sum-
Utilitaristische Handlungsbeurteilungen sind inso- miert die utilitaristische Wertlehre über sämtliche
fern zweiteilig. Sie bestehen aus einem axiologischen von einer Handlung positiv oder negativ betroffene
(werttheoretischen) und einem normativen (pflich- empfindungsfähige Wesen (einschließlich der emp-
tenbegründenden) Teil. Im axiologischen Teil wer- findungsfähigen Tiere), unparteilich und unter Abse-
den die (wahrscheinlichen) Handlungsfolgen nach hung von allen besonderen Sympathien und Loyalitä-
dem Ausmaß beurteilt, in dem sie nach dem Maß- ten. Da eine derartige intersubjektive »Verrechnung«
stab des Glücks als wünschenswert oder vermei- von Nutzen und Schaden erfordert, dass Nutzen und
denswert gelten können. Im nachgeordneten nor- Schaden über die Individuengrenzen hinweg ver-
mativen Teil werden Handlungen danach beurteilt, gleichbar sind, verweisen Utilitaristen gegenüber
wie weit sie angesichts der Qualität ihrer (wahr- diesbezüglichen Kritikern auf die eingespielte Praxis
scheinlichen) Folgen als moralisch geboten, erlaubt eines solchen Nutzenvergleichs bei einer Vielzahl von
oder verboten gelten können. Zur Vermeidung von politischen und persönlichen Verteilungsentschei-
moralischer Überforderung gelten dabei im Allge- dungen. Sie erkennen allerdings an, dass derartige
meinen nur gravierende Verbesserungen der Folgen- Vergleiche – ebenso wie die Schätzungen der Hand-
qualität als geboten und nur gravierende Verschlech- lungsfolgen und ihrer Wahrscheinlichkeiten  – nie-
terungen als verboten. Im Einzelfall kommt es mals präzise und mit letzter Sicherheit getroffen wer-
darauf an, welche Handlungsalternativen zur Verfü- den können, behaupten jedoch, dass dies für die
gung stehen. Nicht jede Handlung mit gravierend Mehrzahl der in der Praxis anfallenden moralischen
schlechten Folgen ist unter allen Umständen mora- Entscheidungsfragen auch nicht erforderlich sei.
lisch verboten, z. B. nicht dann, wenn alle verfügba- Die lediglich durch Familienähnlichkeiten mitei-
ren Handlungsalternativen – einschließlich Untätig- nander verbundenen Varianten des Utilitarismus
keit – noch schlechtere Folgen hätten. Entscheidend haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenom-
für die Beurteilung einer Handlung sind dabei weder men. Motiviert sind sie zumeist von dem Bestreben,
die tatsächlichen Folgen noch die vom jeweiligen die Resultate utilitaristischer Handlungsbewertun-
Akteur vorausgesehenen oder beabsichtigten Fol- gen verbreiteten Plausibilitätsintuitionen anzunä-
gen, sondern die absehbaren Folgen, wie sie sich für hern. Die wichtigsten sind die folgenden:
einen wohlinformierten und vernünftig denkenden (1) Zwei-Ebenen-Utilitarismus: Diese bereits von
Beobachter zum Zeitpunkt der Handlung als mehr John Stuart Mill (2006) favorisierte und am detail-
oder weniger wahrscheinlich darstellen. liertesten von Richard M. Hare (1992) entwickelte
(2) Wertmonismus: In der utilitaristischen Wert- Variante unterscheidet zwischen einer theoretischen
lehre gibt es nur eine (kardinale) Wertskala, auf der oder idealen Ebene, auf der bestimmte abstrakte
alle Nutzens- und Schadensgrößen einen bestimm- Prinzipien gelten, und einer konkreten oder Praxis-
ten – allerdings in der Praxis stets nur ungefähr zu ebene, für die diese Prinzipien in sozialmoralische
bestimmenden  – Wert annehmen. Damit entfallen Regeln übersetzt werden müssen, um als Orientie-
im Utilitarismus – zumindest in der Theorie – alle rung für das Alltagshandeln zu dienen. Diese müs-
Wertinkommensurabilitäten: Im Prinzip sind die sen schematischer, besser vermittelbar und leichter
Folgen aller in einer gegebenen Situation möglichen internalisierbar sein als die Ergebnisse hochkomple-
Handlungen miteinander vergleichbar. Darüber xer Folgenabschätzungen (s. Kap. VI.4), die eine un-
hinaus entfallen auf der Theorieebene alle Wertkon- mittelbare Anwendung des Idealprinzips des »größ-
flikte sowie die Notwendigkeit einer eigentlichen ten Glücks der größten Zahl« verlangt. Aus der Per-
4. Utilitarismus 155

spektive des Zwei-Ebenen-Utilitarismus lassen sich wird, dass in bestimmten Fällen eine Schlechterstel-
viele der vom moralischen common sense gemachten lung bereits Schlechtergestellter dennoch utilitaris-
Unterscheidungen zumindest für den Regelfall tisch zulässig oder sogar geboten sein kann, etwa bei
rechtfertigen: So richten im Regelfall Schädigungen der Verhängung von Strafen bei Menschen, deren
mehr Schaden an als unterbliebene Wohltaten; ge- Nutzenniveau vorgängig unter der Schwelle liegt,
hen von aktivem Tun – schon deshalb, weil es dafür zugunsten der erhöhten Sicherheit von Menschen,
mehr Gelegenheiten gibt – mehr Gefährdungen aus deren Nutzenniveau über der Schwelle liegt.
als von bloßem Unterlassen; stellt die absichtliche (3) Präferenzutilitarismus: Der Präferenzutilita-
Zufügung von Schaden eine gravierendere Gefahr rismus definiert die utilitaristische Zielgröße ›Wohl-
für das gesellschaftliche Zusammenleben dar als der befinden‹ statt durch subjektive Erlebnisqualitäten
lediglich in Kauf genommene Schaden. Im Rahmen wie Glück oder Zufriedenheit entweder ausschließ-
eines Zwei-Ebenen-Utilitarismus lässt sich auch der lich (Präferenzutilitarismus, vgl. z. B. Harsanyi 1982)
Konflikt zwischen dem für den klassischen Utilita- oder zusätzlich (Glück-Wunsch-Ethik, vgl. Wessels
rismus Benthams charakteristischen Maximierungs- 2011) durch die Erfüllung der Wünsche oder Inter-
gebot und den alltagsmoralischen Plausibilitäten essen von Menschen und anderen zu Wünschen
entschärfen: Während eine sozialmoralische Regel oder Interessen fähigen Wesen. Das Ziel der Moral
sinnvoll ist, nach der bei Entscheidungen zwischen ist nicht mehr die Herstellung bestimmter subjekti-
zwei oder mehreren gravierenden Übeln das ge- ver Zustände, sondern die Herstellung bestimmter
ringste Übel zu wählen ist, ist es nicht sinnvoll, bei Weltzustände. Da sich Wünsche und Interessen auf
Entscheidungen zwischen Handlungen mit gravie- Weltzustände jenseits des individuellen Erfahrungs-
rend guten Folgen die Handlung mit den besten Fol- horizonts richten können, fällt die Präferenzerfül-
gen verpflichtend zu machen. lung nicht mehr notwendig mit einem subjektiven
(2) Prioritarismus: Dem Prioritarismus geht es Erleben des Wünschenden zusammen. Im Extrem-
darum, der Behebung von gravierendem Unwert fall liegt die Wunscherfüllung sogar jenseits der Er-
(Leiden, Unerfülltheit von Grundbedürfnissen) der lebnismöglichkeiten jedes beliebigen Subjekts, wie
Realisierung von gravierendem positivem Wert bei dem Wunsch nach Intaktheit der Biosphäre über
(Glück, Erfüllung von Präferenzen jenseits der Er- das Ende der Menschheit hinaus.
füllung von Grundbedürfnissen) Priorität zu geben.
Es erscheint unvertretbar, den Benachteiligten noch
höhere Lasten aufzubürden, nur um den ohnehin Utilitarismus und Technik
Privilegierten ein noch üppigeres Leben zu verschaf-
fen. So erlaubt etwa James Griffin (1979) einen Las- Die Grundstruktur der Zweck-Mittel-Rationalität ist
tenausgleich zwischen Besser- und Schlechterge- nicht das einzige Merkmal, das die utilitaristische
stellten nur insoweit, als dieser der Verringerung des Ethik mit dem technischen Denken verbindet. Wei-
negativen Nutzens einiger bzw. dem Erreichen eines tere Gemeinsamkeiten sind die Ablehnung von Na-
bestimmten positiven Schwellenniveaus des Nutzens türlichkeitsprinzipien und ein durchgängiger Anti-
dient. Individuen dürfen nur dann schlechtergestellt Konservativismus. Kennzeichnend für den Utilitaris-
werden, wenn dadurch andere auf einem Nutzenni- mus wie für die Technik ist ein Mangel an Ehrfurcht
veau unter dem Schwellenniveau bessergestellt wer- vor dem Gottgegebenen und Gewachsenen. Aus uti-
den. Nicht zugelassen ist dagegen die Schlechterstel- litaristischer Sicht sind weder die Beschaffenheit der
lung einiger zugunsten der Besserstellung anderer, Natur, wie sie der Mensch vorfindet, noch die Gel-
die sich bereits auf einem höheren Nutzenniveau be- tung von Normen, wie sie das Individuum vorfindet,
finden. Noch besser als derartige absolute Varianten durch ihre Faktizität in irgendeiner Weise mit Auto-
eines Prioritarismus sind relative Varianten mit gän- rität ausgestattet. Rechtfertigen lässt sich der Status
gigen Intuitionen vereinbar, etwa die von Christoph quo ausschließlich durch folgenorientierte Überle-
Lumer (1997) entwickelte Konzeption, nach der die gungen. Eine Überbietung der von der Natur vorge-
Nutzengewichtung mit der Höhe des erreichten Nut- gebenen Verhältnisse ist immer dann zulässig, wenn
zenniveaus kontinuierlich abnimmt. Besserstellun- sie sich durch technische Eingriffe verbessern lassen,
gen auf den unteren Niveaus, z. B. die Bekämpfung und immer dann geboten, wenn sie sich durch tech-
von Hunger, Seuchen und Kriegen, schlagen dann nische Eingriffe gravierend verbessern lassen.
im Nutzenkalkül stärker zu Buche als Verbesserun- Prägnant ist diese Allianz zwischen Utilitarismus
gen auf höheren Niveaus, ohne dass ausgeschlossen und Technik bereits bei dem Proto-Utilitaristen
156 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Francis Bacon erkennbar, der in seiner Schrift Vale- Natur. Nur in den zurückgebliebenen Ländern sei
rius Terminus or The Interpretation of Nature (1603) das Wirtschaftswachstum noch eine Notwendigkeit:
die Technik mit keiner geringeren Aufgabe betraut
als der, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig »Wenn die Erde jenen großen Bestandteil ihrer Lieb-
lichkeit verlieren müßte, den sie jetzt Dingen verdankt,
zu machen: Das Wissen soll »auf praktische nützli- welche die unbegrenzte Vermehrung des Vermögens
che Anwendung bezogen werden« mit dem Ziel, und der Bevölkerung ihr entziehen würde, lediglich zu
»die Hoheit und die Macht des Menschen, […] die er dem Zwecke, um eine zahlreichere aber nicht eine bes-
im Urzustand der Schöpfung hatte, wiederherzustel- sere oder eine glücklichere Bevölkerung ernähren zu
len und ihm größtenteils wiederzugeben« (Bacon können, so hoffe ich von ganzem Herzen im Interesse
der Nachwelt, daß man schon viel früher, als die Not-
1984, 35, 43). Wie Adam Herrschaft über die Natur wendigkeit dazu treibt, mit einem stationären Zustand
gewinnt, indem er den Geschöpfen Namen gibt, soll sich zufrieden geben wird.« (Mill 1869, 62 f.)
der Mensch Macht über die Natur gewinnen, indem
er die Naturdinge bei ihrem wahren Namen nennt Das für den Utilitarismus charakteristische, am Mo-
und sie technisch überformt (s. Kap. IV.C.2). Wis- dell des wissenschaftlichen und technischen Fort-
senschaft und Technik übernehmen nicht mehr nur schritts orientierte Fortschrittsparadigma (s. Kap.
moralische, sondern geradezu heilsgeschichtliche II.4) wird von Mill primär auf den erhofften Fort-
Funktionen. Während der Namensgeber des Utilita- schritt der Menschheit auf dem Feld der Bildung, der
rismus Jeremy Bentham aus dem Utilitarismus in Moral und der gesellschaftlichen Umgangsformen
erster Linie die Notwendigkeit grundlegender Re- bezogen als auf das unweigerlich mit Naturzer-
formen in Recht und Politik herleitete, kämpfte der störungen verbundene Bevölkerungswachstum und
Utilitarist John Stuart Mill u. a. auch gegen die Ten- die Ausweitung technischer Naturbeherrschung.
denz zur Erhebung der Natur in den Rang einer Au- Auf dem gegenwärtigen Hintergrund sich abzeich-
torität, die der Mensch nicht ungestraft in Frage stel- nender Versorgungsengpässe für eine weiterhin
len dürfe. In seinem Essay »Natur« malt er die Indif- wachsende Weltbevölkerung und einer weltweiten
ferenz der Natur gegen den Menschen in den Übernutzung der natürlichen Ressourcen ein-
schwärzesten Farben und zieht daraus den Schluss, schließlich der ökologischen und klimatischen Be-
dass die »verderbliche[n] Kräfte der Natur, als Gan- lastungsspielräume hat die von Mill vorgezeichnete
zes betrachtet, in [keiner] anderen Weise guten Zwe- ›grüne‹ Variante des Utilitarismus an Anhängern
cken dienen, als indem sie vernünftige menschliche deutlich zugenommen. So vertritt der Ethiker Dale
Geschöpfe dazu anreizen, sich dagegen zu wehren« Jamieson eine Spielart des Utilitarismus, die nicht
(Mill 1984, 33). Ähnlich hatte kurz zuvor Karl Marx nur die mit utilitaristischen Grundsätzen unverein-
(s. Kap. IV.A.2), dessen Denken zahlreiche utilitaris- bare Nutzung entwicklungsmäßig hochstehender
tische Elemente aufweist, die »wahre Resurrektion Tiere (zu Tier und Technik s. Kap. IV.C.3) im Rah-
der Natur« (Marx 1985, 538) nicht in einer Rückkehr men einer hochtechnisierten Fleischproduktion be-
des Menschen zum Naturzustand, sondern in einer kämpft (vgl. auch Singer 1996). Jamieson hat auch
human organisierten Gesellschaft auf der Basis einer einen Katalog von »Umwelttugenden« entwickelt,
weitgehenden Ablösung der Knochenarbeit durch der den Tugendkatalog von Bacons »Prometheus-
Maschinen gesehen. Der »durchgeführte Humanis- Projekt« geradewegs auf den Kopf stellt. Zu den
mus der Natur« ist für Marx undenkbar ohne die Tugenden dieses Katalogs gehören u. a. Demut (ge-
»Entfesselung der Produktivkräfte«, u. a. durch zu- genüber der Natur), Mäßigung (im Konsum), Acht-
nehmende Technisierung. samkeit (auf die entfernteren Wirkungen und Ne-
Bei allem technischen Optimismus zeigen sich al- benwirkungen unserer Handlungen) und Koopera-
lerdings bereits bei Mill  – wie übrigens auch bei tivität (in Bezug auf kollektive Anstrengungen zur
Marx ’ Koautor Friedrich Engels – Bedenken gegen Erhaltung und Sicherung der Lebensgrundlagen;
eine rückhaltlose technische Ausbeutung der Natur. vgl. Jamieson 2007, 181 f.).
Mill kommt unter den politischen Ökonomen des
18. und 19. Jahrhunderts insofern eine Sonderstel-
lung zu, als er eine Stagnation der Produktivität zu- Zukunftsverantwortung
mindest für die industrialisierten Länder nicht als
Krisensignal und Vorbote sozialer Katastrophen Mills Wachstumsskepsis entsprang der Liebe zu ei-
deutete, sondern als Chance für einen gelasseneren ner noch nicht technisch zugerichteten Natur (zu
und kultivierteren Umgang des Menschen mit der Natur und Technik s. Kap. IV.C.2), aber auch einer
4. Utilitarismus 157

für den Utilitarismus insgesamt charakteristischen Lastenverteilung allerdings insofern gemindert, als
Vorsorge für zukünftige Generationen. Wenn er als die Vorsorgepflichten für die früheren Generationen
Politiker forderte, dass die weniger fruchtbaren Are- bestimmte Grenzen der Zumutbarkeit nicht über-
ale Englands vom Staat in Besitz genommen und un- schreiten dürfen, wenn sie für diese akzeptabel sein
kultiviert gelassen werden sollten, so sowohl, um sie und eine Chance auf Befolgung haben sollen. Das in
für Naturliebhaber zu erhalten, als auch als Reserve der Theorie optimale Szenario ist nicht automatisch
für Nutzungen durch spätere Generationen (vgl. auch dasjenige, zu dessen Verwirklichung wir mora-
Harris 1958, 70). Die Orientierung an den »perma- lisch verpflichtet sind. So wird man etwa von den
nent interests of the human race« (Mill 1965, 223), heute ärmsten Ländern nicht verlangen wollen, dass
der Vorsorge für die Grundbedürfnisse, aber auch sie, die bereits Versorgungsprobleme genug haben,
für die erwarteten kultivierteren Bedürfnisorientie- zusätzlich erhebliche Sparleistungen für eine zahlen-
rungen der später Lebenden durchdringt sämtliche mäßig größere zukünftige Bevölkerung erbringen.
Schriften Mills und vor allem seine Begründung der
Forderung nach individueller Freiheit von staatli-
cher und gesellschaftlicher Bevormundung: Nur in Bewertung technischer Risiken
Freiheit könne die Kreativität und Innovativität ge-
deihen, von der der erhoffte gesellschaftliche Fort- Dem Utilitarismus wird vielfach eine neutrale Risi-
schritt wesentlich abhänge. kohaltung unterstellt, die sich u. a. darin äußert, dass
In der Zukunftsethik hat sich der Utilitarismus er bei der Beurteilung technischer Risiken eine Stra-
infolge der Strenge, mit denen er – zumindest in der tegie der Maximierung des Erwartungswerts, der
Theorie  – Gegenwartsverzichte zugunsten der Zu- Summe der Produkte aus Nutzens- und Schadens-
kunft fordert, einen zweifelhaften Ruf eingetragen. werten und ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten,
Die Strenge dieser Forderungen ergeben sich teils impliziert. Diese Konsequenz wird allerdings von
aus dem Maximierungsprinzip, teils aus der aus dem denjenigen utilitaristischen Ethikern, die sich mit
werttheoretischen Universalismus abgeleiteten Ab- Risikoproblemen beschäftigen, nur für bestimmte
lehnung der reinen Zeitpräferenz, der Minderschät- Handlungen, z. B. für sich häufig wiederholende
zung zukünftigen Nutzens und Schadens um ihrer Handlungen, akzeptiert. Für Handlungen mit relativ
Zukünftigkeit willen. Da bei der Folgenbewertung seltenen oder unwahrscheinlichen oder hinsichtlich
alle Betroffenen zählen, zählen bei langfristigen Ent- ihrer Häufigkeit unsicheren, aber gravierend negati-
scheidungen auch die von gegenwärtigem Handeln ven Folgen (wie bei Hochrisikotechnologien) liefert
direkt oder indirekt betroffenen Angehörigen zu- die utilitaristische Ethik für sich genommen kein
künftiger Generationen. Und da alle Betroffenen eindeutiges Entscheidungskriterium (zu Risiko s.
gleich zählen, ist der Neigung zur »Diskontierung« Kap. II.2; zur Risikobeurteilung s. Kap. IV.C.7). Ein
der Zukunft (außer aus Gründen der Unsicherheit) wichtiger Faktor, den der Utilitarist neben den
der Boden entzogen. Der Zeitpunkt, zu dem ein Chancen und Risiken ins Kalkül ziehen muss, ist die
Nutzen oder Schaden eintritt, kann für seine Bewer- gefühlte Unsicherheit, die Risikotechnologien mit
tung allenfalls indirekt – wegen möglicherweise ver- sich bringen, auch wenn sich ihre Risiken nicht rea-
änderter Bedürfnisse oder Empfindlichkeiten der lisieren. Dies gilt auch dann, wenn gefühlte Unsi-
Betroffenen – einen Unterschied machen (vgl. Sidg- cherheiten einem Prozess der sozialen Verstärkung
wick 1907, 381). Deshalb verlangt der Utilitarismus (social ampflification, vgl. Renn 1991) unterliegen
über das Prinzip der Bestandserhaltung (›Nachhal- und dann aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht
tigkeit‹, s. Kap. IV.B.10) hinaus eine Vorsorge der übertrieben oder hysterisch anmuten. Da es dem
Gegenwart für zukünftige Generationen auch dann, Utilitaristen primär auf subjektive Größen an-
wenn anzunehmen ist, dass zukünftige Generatio- kommt, muss er der psychologischen Tatsache Rech-
nen, etwa dank eines vorsorgeunabhängigen techni- nung tragen, dass die Aussicht auf zukünftige Übel,
schen Fortschritts, ohnehin bessergestellt sind. Dies ob gewiss oder nur wahrscheinlich, in höherem
gilt zumindest dann, wenn sich gegenwärtige Vor- Maße Ängste hervorrufen als zukünftiger Nutzen
sorgeleistungen bzw. Nutzungsverzichte in späteren freudige Erwartung (vgl. Birnbacher 2010, 186).
Nutzenzuwächsen auswirken, die die in der Gegen- Deshalb wird er an entscheidender Stelle auch das
wart zu erbringenden Nutzenverzichte übertreffen qualitative Risikomerkmal des ›Katastrophenpoten-
(Ramsey 1928; vgl. Birnbacher 1988, 106 ff.). In der zials‹ in das Kalkül ziehen und in der Praxis der
Praxis wird die dadurch bewirkte Unfairness in der Technikfolgenbewertung (s. Kap. VI.4) eine ähnlich
158 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

risikoaversive Haltung einnehmen, wie sie für den 5. Deontologische Ethik


›gesunden Menschenverstand‹ kennzeichnend ist.

Literatur Definitionsvielfalt
Bacon, Francis: Valerius Terminus. Von der Interpretation
der Natur [1603]. Engl-dt. Würzburg 1984. Hatte Jeremy Bentham den von ihm geprägten Be-
Bentham, Jeremy: An introduction to the principles of mo- griff deontology in seinem gleichnamigen Werk noch
rals and legislation [1789]. New York 1948 (Kap. 1–5 dt. im etymologisch buchstäblichen Sinne (von griech.
in: Otfried Höffe (Hg.): Einführung in die utilitaristische to deon: das Schickliche, die Pflicht) als »Lehre vom
Ethik. Tübingen ²1992, 55–83).
Sollen« verstanden und mit der »Wissenschaft von
Birnbacher, Dieter: Verantwortung für zukünftige Generati-
onen. Stuttgart 1988. der Moral« gleichgesetzt (Bentham 1834), so dient
– : Emotions within the boundaries of pure reason: Emoti- das Adjektiv ›deontologisch‹ heutzutage ausschließ-
onality and rationality in the acceptance of technological lich der Kategorisierung einer spezifischen Teilklasse
risks. In: Sabine Roeser (Hg.): Emotions and Risky Tech- allgemeiner Konzeptionen normativer Ethik. ›Deon-
nologies. Dordrecht 2010, 177–194.
tologische‹ Theorien normativer Ethik werden dann
Griffin, James: Is unhappiness morally more important
than happiness? In: Philosophical Quarterly 29 (1979), in der Regel ›teleologischen‹ Theorien (so erstmals
4755. Muirhead 1932), und/oder ›konsequentialistischen‹
Hare, Richard M.: Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Theorien (so etwa Alexander/Moore 2008) gegen-
Methoden, sein Witz. Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1981). übergestellt.
Harris, Abram L.: Economics and Social Reform. New York Dabei sind auch in der zeitgenössischen Literatur
1958.
Harsanyi, John C.: Morality and the theory of rational be- noch unterschiedliche Definitionen beziehungs-
haviour. In: Amartya Sen/Bernard Williams, (Hg.): Utili- weise Gegenüberstellungen anzutreffen. So benennt
tarianism and Beyond. Cambridge/Paris 1982, 39–62. Gerald Gaus (2001a und 2001b) nicht weniger als
Jamieson, Dale: When utilitarians should be virtue theo- zehn verschiedene Verwendungsweisen der Charak-
rists. In: Utilitas 19 (2007), 160–183. terisierung einer ethischen Theorie als ›deontolo-
Lumer, Christoph: Utilex  – Verteilungsgerechtigkeit auf
Empathiebasis. In: Peter Koller/Klaus Puhl (Hg.): Cur- gisch‹, nämlich
rent Issues in Political Philosophy: Justice in Society and »(1) als eine ethische Theorie, in der das Richtige nicht
World Order (Akten des 19. Internationalen Wittgen- die Herstellung des Guten maximiert;
stein-Symposiums, 11.–18.08.1996). Wien 1997, 99–110. (2) als eine ethische Theorie, die Gerechtigkeitsüberle-
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus gungen einen Platz einräumt;
dem Jahr 1844. In: Marx-Engels Werke, Bd. 40. Berlin (3) als eine Moraltheorie, die absolute Gebote oder Ver-
1985, 465–588. bote enthält;
Mill, John Stuart: Grundsätze der politischen Ökonomie. (4) als eine ethische Theorie, in welcher, wie in derjeni-
In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7. Leipzig 1869. gen Prichards, Aufgaben und Verpflichtungen unab-
– : The Principles of Political Economy with Some of Their hängig vom Konzept des Guten gerechtfertigt werden;
Applications to Social Philosophy (Books I-II). Toronto/ (5) als eine ethische Theorie, in der, wie Gauthiers Kon-
London 1965. traktualismus, das Konzept des Richtigen nicht in Be-
– : Natur. In: Ders.: Drei Essays über Religion. Stuttgart griffen einer substantiell gehaltvollen Konzeption des
1984, 9–62 (engl. 1874). Guten definiert wird;
– : Utilitarianism/Der Utilitarismus. Stuttgart 2006 (engl. (6) als eine ethische Theorie, der zufolge unsere Werte
1861). und Entwürfe des Guten gerechtfertigte moralische
Ramsey, Frank P.: A mathematical theory of saving. In: Eco- Prinzipien voraussetzen;
nomic Journal 38 (1928), 543–559. (7) als eine ethische Theorie, der zufolge wir sowohl
Renn, Ortwin: Risk communication and the social amplifi- Gründe haben, Werte zu fördern, als auch, Werte zu re-
cation of risk. In: Roger E. Kasperson/Pieter Jan M. Stal- spektieren;
len (Hg.): Communicating Risk to the Public. Dordrecht (8) als eine ethische Theorie, die auf dem Konzept des
1991, 287–324. Respekts vor Personen gegründet ist oder diesem Kon-
Sidgwick, Henry: The Methods of Ethics. London 71907. zept eine zentrale Bedeutung zuweist;
Singer, Peter: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. (9) als eine ethische Theorie, die moralischen Regeln ei-
Reinbek 1996 (engl. 1975). nen zentralen Platz zuweist;
Wessels, Ulla: Das Gute. Wohlfahrt, hedonisches Glück und (10) als eine gebotsorientierte ethische Theorie.«
die Erfüllung von Wünschen. Frankfurt a. M. 2011. (Gaus 2001b, 189 f., alle Übersetzungen, auch im Fol-
Dieter Birnbacher genden, durch die Autoren)
5. Deontologische Ethik 159

Zwar bestehen zwischen diesen Definitionen zahl- In der Linie dieser Unterscheidung würden dann
reiche (teils wiederum strittige) Querverbindungen; teleologische Ethiken nur diejenigen Handlungen
sie sind aber zweifellos nicht deckungsgleich. Bei- als moralisch geboten ansehen, die das meiste
spielsweise trifft Definitionsvorschlag (3), der vor al- Glück (als vormoralisches Gut) zur Folge haben,
lem von Vertreterinnen und Vertretern des Utilita- während deontologische Ethiken die Glücksver-
rismus gern gebraucht wird, nur auf einen kleinen mehrung nicht als (ausschließliches) Kriterium an-
Teil derjenigen Ethiken zu, die gemäß (1) als deonto- sehen sondern auch Gesichtspunkte wie basale
logisch gelten können, und überhaupt nur auf eine Rechte berücksichtigen.
sehr begrenzte Zahl ethischer Theorien. Mehr noch: In positiver Formulierung stellt Frankena fest,
Wie Gaus überzeugend darlegt, kann keine einzige dass es im Rahmen deontologischer Ethiken neben
ethische Theorie in jeder der zehn verschiedenen der vormoralischen »Gutheit oder Schlechtheit ihrer
Bedeutungen als deontologisch gelten. Tatsächlich Konsequenzen noch andere Überlegungen gibt, die
ist selbst die Zuordnung vermeintlich paradigmati- eine Handlung oder Regel richtig oder verpflichtend
scher Ansätze (wie der Ethik Kants als deontologisch machen«, beispielsweise »gewisse Eigenschaften der
oder des Aktutilitarismus als teleologisch) keines- Handlung selbst« wie der Tatsache, »daß sie ein Ver-
wegs unstrittig; verwiesen sei beispielsweise auf die sprechen erfüllt, gerecht ist, oder durch Gott oder
Interpretation Immanuel Kants durch Barbara Her- durch den Staat angeordnet ist« (Frankena 1973, 15).
man (1993, 208–240) oder Will Kymlickas (1989, 26) Dieser Gesichtspunkt spielt eine wesentliche Rolle in
Ausführungen zum Utilitarismus. Angesichts dieser der heute verbreiteten begrifflichen Opposition de-
Interpretationsvielfalt ist die Charakterisierung ei- ontologisch vs. konsequentialistisch. Diese letztere
ner Theorie als ›deontologisch‹, wenn überhaupt, Opposition sieht in der Regel konsequentialistische
nur dann sinnvoll, wenn explizit auf eine der mögli- Ethiken als solche, die das moralisch Richtige aus-
chen Definitionen verwiesen wird. schließlich durch Handlungsfolgen bestimmen, wo-
gegen nicht-konsequentialistische Ethiken als solche
gesehen werden, die das Richtige nicht ausschließ-
Frankena und Rawls: lich oder sogar gar nicht aufgrund von Hand-
Die Standarddefinition lungsfolgen bestimmt. Deontologische Ethiken er-
scheinen dann als sehr unsensibel für Handlungsfol-
Im Rahmen des vorliegenden Beitrags konzentrie- gen. Auch hier sind deontologische Ethiken lediglich
ren wir uns auf den einflussreichsten und »beinahe negativ bestimmt. In der heutigen Diskussion rüh-
klassischen« (Gaus 2001a, 28) Definitionsvor- ren viele Missverständnisse daher, dass deontologi-
schlag, der von William K. Frankena (1963/1973) sche Ethiken einerseits als Ethiken gesehen werden,
unterbreitet worden ist. Sein Deontologiebegriff ist die das moralisch Richtige nicht als Funktion des
rein negativ gefasst: Deontologische Ethiken sind vormoralischen Guten begreifen, und andererseits
nicht-teleologische Ethiken. Teleologisch wie- als Ethiken, die das moralisch Richtige nicht auf der
derum ist eine Ethik genau dann, wenn sie das mo- Basis von Handlungsfolgen bestimmen.
ralisch Richtige als dasjenige bestimmt, das ein Dass Frankenas Definition zur Standarddefini-
vormoralisches Gut maximiert. Ein vormoralisches tion avanciert ist, dürfte u. a. dadurch zu erklären
Gut ist ein solches, das unabhängig von morali- sein, dass auch der wohl einflussreichste Ethiker
schen Kriterien als Gut bestimmt werden kann. Als nach 1945, John Rawls, sich explizit zu Frankenas
relativ plausibles Beispiel für ein solches vormorali- Vorschlag bekannt hat. Ganz im Frankena schen
sches Gut kommt ›subjektives Lustempfinden‹, das Sinne fasst er die deontologische Ethik als eine sol-
zentrale Gut im klassischen, hedonistisch orien- che »die entweder das Gute nicht unabhängig vom
tierten Utilitarismus, in Frage. Hingegen können Richtigen definiert, oder das Richtige nicht als dasje-
wir so etwas wie ›Freundschaft‹, nicht als ein vor- nige faßt, welches das Gute maximiert« (Rawls 1971,
moralisches Gut ansehen, soweit unser Verständnis 30).
dieses Begriffs bereits auf moralische Grundsätze Der Standardauffassung zufolge sind alle norma-
wie Treue, Aufrichtigkeit oder Uneigennützigkeit tiven Ethiken – alle Ethiken, die eine Antwort auf die
bezogen ist (Gaus 2001a, 38 f.). Zur Klasse der de- Frage des moralisch Richtigen geben – entweder als
ontologischen Ethiken gehören mithin alle Theo- deontologisch oder als teleologisch zu charakterisie-
rien, die das moralisch Richtige nicht als dasjenige ren. Der Teleologiebegriff ist dabei vergleichsweise
bestimmen, das ein vormoralisches Gut maximiert. eng, der Deontologiebegriff entsprechend weit ge-
160 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

fasst. Zu den deontologischen Ethiken zählen dann diesem Sinne wurde häufig etwa die Ethik Kants als
etwa die Pflichtenethik Kants, viele vertragstheoreti- deontologisch im Sinne des Absolutismus aufgefasst.
sche Konzeptionen, Ethiken von moralischen Rech- Dabei wird zumeist auf Kants Position verwiesen,
ten aber ebenso verschiedene religiöse Konzeptio- wonach das Lügen ausnahmslos als falsch anzusehen
nen. Im Rahmen der Standardauffassung wäre aber ist, auch wenn dies dazu führt, dass etwa das Leben
auch der Regelutilitarismus  – entgegen Frankenas eines anderen Menschen in Gefahr gerät. Es ist je-
eigener Zuordnung  – der Gruppe der deontologi- doch sehr fraglich, inwiefern diese Auffassung von
schen Theorien zuzurechnen (Gaus 2001a, 28 f.). Kant als notwendige oder plausible Anwendung des
Soweit perfektionistische Ethiken und Tugend- Kategorischen Imperativs aufzufassen ist. Aber ganz
ethiken über ein Konzept des Richtigen verfügen, unabhängig von Fragen der Kant-Interpretation
sind sie ebenfalls zu den deontologischen Ethiken zu werden deontologische Ethiken häufig in diesem
zählen, denn das Gut, das sie anzustreben vorschrei- Sinne gedeutet und sie erscheinen dann für die ange-
ben, ist typischerweise kein vormoralisches Gut, wandte Ethik nicht sonderlich relevant. Wie sollte
sondern inkorporiert in aller Regel Vorstellungen man etwa Entwicklung neuer Technologien bewer-
des Rechten oder Schicklichen. Möglicherweise sind ten, wenn man nicht die möglichen oder wahr-
aber zumindest einige Tugendethiken gar nicht als scheinlichen Folgen der Entwicklung dieser Techno-
normative Ethiken in dem hier einschlägigen Sinn logien berücksichtigt?
zu verstehen, da sie gar nicht den Anspruch erheben, Unabhängig vom eigenen Standpunkt wird man
das moralisch Richtige zu bestimmen, sondern viel- von einer angemessenen Definition jedoch bei-
mehr Empfehlungen für ein Gutes Leben geben wol- spielsweise Klarheit, Verständlichkeit und Eindeu-
len. Auf solche Tugendethiken wäre die Unterschei- tigkeit erwarten dürfen. Sind die von der Standard-
dung zwischen deontologischen und teleologischen auffassung vorgenommenen Unterscheidungen ein-
Ansätzen gar nicht anwendbar. Sie fielen dann in deutig? Nach Gaus ’ Ansicht könnte eine verbreitete
eine dritte Gruppe nicht etwa deshalb, weil sie eine Annahme bezüglich der Theorie rationalen Han-
dritte Varietät normativer Ethiken verkörpern wür- delns für Schwierigkeiten sorgen: Zielen nicht, wie
den, sondern vielmehr, weil sie gar nicht als norma- schon Aristoteles (2001) behauptet hat, alle rationa-
tive Ethiken in dem hier relevanten Sinn zu verste- len Handlungen prinzipiell auf die Realisierung ei-
hen wären. nes Gutes? Und wenn dem so wäre: Lässt sich dann
die Unterscheidung zwischen »richtig-machenden«
und »gut-machenden« Eigenschaften einer Hand-
Unklarheit der Standarddefinition? lung überhaupt aufrechterhalten – wäre dann mora-
lische Richtigkeit nicht immer auch als Realisierung
Für oder gegen bestimmte Definitionsvorschläge ist eines Gutes anzusehen? Dem lässt sich freilich zwei-
grundsätzlich eine Vielzahl unterschiedlicher Argu- erlei entgegenhalten. Erstens lässt sich argumentie-
mente anzuführen. Die terminologischen Präferen- ren, dass der Typus des regelorientierten Handelns
zen unterschiedlicher Autoren hängen in aller Regel in Wahrheit eine Alternative zum Typus des »teleolo-
mit ihren eigenen moralphilosophischen und hand- gischen« oder »instrumentellen«, zielorientierten
lungstheoretischen Überzeugungen zusammen. So Handelns darstellt (so auch Gaus selbst, vgl. 2001b,
ist die zum Beispiel von C.D. Broad (1979, 206) ver- 183 ff.; vgl. Prichard 1912; Habermas 1981). Selbst
tretene Gleichsetzung von deontologischen Theo- wenn diese Entgegnung scheiterte und auch regel-
rien mit Theorien, die absolute, unter allen Umstän- orientiertes Handeln als eine spezifische Form ins-
den zu befolgende Ge- oder Verbote enthält (ent- trumenteller Zielerreichung erwiesen werden
sprechend Gaus ’ Formulierungsvorschlag [3]; diese könnte (etwa in dem Sinne, dass die Produktion des
selten vertretene, aber etwa von Charles Fried 1978 regelkonformen Handelns selbst als »Ziel« des be-
verteidigte Auffassung wird heute zumeist als ›Abso- treffenden Handelns anzusehen wäre), bliebe zu-
lutismus‹ bezeichnet), vor allem bei utilitaristisch sätzlich die von Frankena eingeführte Differenz
orientierten Autorinnen und Autoren gebräuchlich, zwischen »moralischen« und »vor-moralischen«
die sich dezidiert gegen deontologische Positionen Gütern als Unterscheidungskriterium zwischen tele-
wenden (z. B. Birnbacher 2003; Davis 1991). Diese ologischen und deontologischen Theorien bestehen.
Interpretation der deontologischen Ethik als eine Gaus ist freilich der Auffassung, dass sich diese
Form des Absolutismus hat das gängige Bild von der Differenz wiederum in Zweifel ziehen lässt: Könnten
deontologischen Ethik nachdrücklich geprägt. In wir nicht beispielsweise auch Fairness und Gleich-
5. Deontologische Ethik 161

heit als »vor-moralische« Güter verstehen (Gaus würde. Auf Grundlage der Standarddefinition kann
2001a, 30)? Selbst wenn dies so wäre, stellte dies al- dies jedoch nur die abgeleitete Bedeutung haben,
lerdings erst dann ein Problem für die Eindeutigkeit dass die betreffenden Argumente oder Prinzipien im
der Standarddefinition dar, wenn unentscheidbar Rahmen einer deontologischen Theorie entwickelt
wäre, ob es sich bei einem bestimmten Gut jeweils oder gerechtfertigt worden sind. Ob dem so ist, ist
um ein vor-moralisches Gut handelt oder nicht. Es den Argumenten oder Prinzipien als solchen jedoch
scheint jedoch plausibel, dass sich eine entspre- häufig nicht anzusehen.
chende Zuordnung vornehmen lässt, sobald man die Anders stellt sich die Situation dar, wenn man die
Gründe untersucht, aus denen Güter wie Fairness Definitionen (3) oder (10) in Gaus ’ Übersicht zu-
oder Gleichheit als Güter verstanden werden. Wird grunde legt, denn diese Definitionen fassen das We-
Gleichheit etwa lediglich darum als ein Gut angese- sen deontologischer Theorien wiederum unter di-
hen, weil sie in irgendeinem Sinne nützlich ist, oder rektem Bezug auf Eigenschaften der von den betref-
wird Gleichheit als Gut aufgefasst, weil jeder Mensch fenden Theorien begründeten Prinzipien, Normen
einen Anspruch hat, als Gleicher behandelt zu wer- oder Regeln. Gemäß Definition (3) wären morali-
den? sche Normen dann als ›deontologisch‹ zu bezeich-
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Zuordnung ei- nen, wenn sie im Sinne des Absolutismus umstands-
ner ethischen Theorie zur Gruppe der deontologi- los, ganz unabhängig von den im Einzelfall erwart-
schen oder teleologischen Ethiken schon dann eine baren Konsequenzen zu befolgen wären. Gemäß
komplexere Argumentation erfordert, wenn man Definition (10) wären im Grunde alle Regeln, Prin-
sich auf die Standarddefinition beschränkt (etwa zipien oder Normen als deontologisch anzusehen,
um zu klären, ob ein bestimmtes Gut als vormora- die von normativen Ethiken begründet werden; alle
lisch gelten kann), dass grundlegende Zweifel daran, nämlich, die nicht lediglich den Charakter von Emp-
ob die Standarddefinition überhaupt trennscharfe fehlungen oder Ratschlägen haben, sondern mit ei-
Abgrenzungen zulässt, jedoch nicht zwingend er- nem kategorischen Sollensanspruch auftreten, wie er
scheinen. für moderne Ethiken generell kennzeichnend ist.
Auffällig ist also, dass die beiden Verwendungswei-
sen, die eine eindeutige und nicht nur abgeleitete
In welchem Sinne gibt es Charakterisierung von Regeln als deontologisch er-
›deontologische Regeln‹? möglichen, stark divergieren: Deontologische Re-
geln im Sinne von (3) werden gegenwärtig kaum
Ein weiterer Punkt verdient Hervorhebung, weil er verteidigt, deontologische Regeln im Sinne von (10)
gerade in den Diskussionen der Angewandten Ethik sind charakteristisch für alle modernen Ansätze
nicht selbstverständlich ist: Die Standarddefinition normativer Ethik.
ebenso wie sämtliche von Gaus vorgeschlagene For-
mulierungen unterstellen, dass es normativ-ethische
Theorien sind, die als ›deontologisch‹ bezeichnet Zur Bedeutung der Unterscheidung
werden können. Umgangssprachlich und in den deontologisch – teleologisch
Diskussionen der Angewandten Ethik werden je- in der Technikethik
doch mitunter auch moralische Regeln, Prinzipien
oder auch moralische Argumente als ›deontologisch‹ Gemäß der Standarddefinition können ethische
bezeichnet. So wird bei Technikbeurteilungen etwa Theorien auf zweierlei Weise vom teleologischen
zwischen pragmatischen und kategorischen (de- Modell abweichen: Indem sie das Richtige nicht als
ontologischen) Argumenten unterschieden. Ein Gütermaximierung verstehen oder indem sie das zu
Beispiel wäre, dass man gegen das Klonen von Men- maximierende Gut selbst unter Rückgriff auf morali-
schen pragmatisch einwenden kann, dass es Ge- sche Kriterien als Gut bestimmen. Es ist zumal der
sundheitsrisiken des Klons gibt, wogegen katego- erste Typus deontologischer Ethik, der einen grund-
rische Argumente etwa darauf verweisen würden, sätzlichen Unterschied zwischen technischem und
dass hier ein Mensch grundsätzlich instrumentali- ethischem Handeln statuiert. Während sich im Ide-
siert wird. Das erste Argument begründet dann auch altypus technisch-instrumentellen Handelns die
nur eine gewisse Zurückhaltung bei der Entwick- Richtigkeit dieses Handelns ausschließlich an der
lung von Klonierungstechnologien, während das Eignung der gewählten Handlungsmittel im Hin-
zweite Argument ein striktes Verbot rechtfertigen blick auf die effiziente Erreichung vorgegebener
162 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Zwecke bemisst, bemisst sich im Rahmen nicht-ma- eine Instrumentalisierung von Personen erklärt zu-
ximierender deontologischer Ethiken die moralische gleich die in derselben Theoriefamilie übliche Ab-
Richtigkeit des Handelns zumindest teilweise an lehnung einer intersubjektiven Nutzenaggregation,
Überlegungen, die nicht den Charakter von Effizienz- wie sie im klassischen Utilitarismus üblich ist (s.
erwägungen haben. Dies mag dort zu Problemen Kap. IV.B.4), und damit den zentralen Stellenwert
führen, wo im Rahmen technischer Designentschei- von Gerechtigkeitsüberlegungen (s. Kap. IV.B.9), der
dungen bestimmte ethische Aspekte (etwa die Ge- für die unter Gaus ’ Definitionsvorschlag (2) fallen-
rechtigkeit einer Risikoverteilung) neben anderen den deontologischen Theorien maßgeblich ist:
Aspekten in die Zielmatrix eines Optimierungspro- Wenn es unzulässig ist, andere Personen lediglich im
gramms integriert werden sollen. Dieses Problem ei- Hinblick auf ihre möglichen Beiträge zur Maximie-
ner nicht durch Effizienzüberlegungen leistbaren rung eines bestimmten Zielzustandes zu betrachten,
Güterabwägung stellt sich freilich auch in ›maximie- dann gibt es prima facie auch keine Rechtfertigung
renden‹ Ethiken, sofern diese eine pluralistische dafür, ihre Interessen für die Interessen anderer auf-
Konzeption unverrechenbarer Güter oder Werte an- zuopfern, wie es im Rahmen einer interindividuel-
nehmen (vgl. die Diskussionen des sog. »Werteokto- len Nutzenaggregation strukturell vorgesehen ist.
gons« des VDI 1991, 12; s. Kap. VI.6). Die autonomie- und gerechtigkeitsorientierten
Reibungspunkte zwischen einer technisch-effizi- Versionen deontologischer Ethik stehen daher in
enzorientierten und einer deontologisch-ethischen grundsätzlicher Spannung zu Ansätzen einer Kos-
Handlungsorientierung ergeben sich weiterhin bei ten-Nutzen-Analyse, Technik- und Risikobewer-
denjenigen im Sinne der Standarddefinition deonto- tung, die (wie etwa der klassische Ansatz von Starr
logischen Ethiken, die den moralischen Charakter 1969) eine interindividuelle Nutzenaggregation
einer Handlung, in Frankenas (1973, 15) Worten, (bzw. Risiko- oder Lastenaggregation) vorsehen (vgl.
von »Eigenschaften der Handlung selbst« abhängig etwa Teuber 1990; s. Kap. IV.C.7). Teilweise setzen
machen. Denn dies beschneidet Möglichkeiten der sie stattdessen auf deliberative Verfahren der Tech-
ethischen Rechtfertigung sozialtechnologischer Opti- nikbewertung (s. Kap. VI.5), die im Idealfall den von
mierungsprogramme. Wenn die Tatsache, dass es technischen Innovationen Betroffenen ermöglichen
mir verboten ist, zu lügen, nicht darin begründet ist, sollen, selbst autonome Entscheidungen über tech-
dass ich zur Beförderung einer möglichst lügenar- nische Optionen zu treffen (Skorupinski/Ott 2002).
men Welt verpflichtet wäre, dann impliziert dies,
dass ich eine eigene Lüge nicht etwa dadurch gutma- Literatur
chen kann, dass ich zwei andere Personen am Lügen
hindere. In teleologischen Ethiken wie dem Hand- Alexander, Larry/Moore, Michael: Deontological Ethics.
lungsutilitarismus hingegen spielt es im Grundsatz In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of
Philosophy. 2008. http://plato.stanford.edu/archives/fall
keine Rolle, ob ich einen (erwünschten oder uner-
2008/entries/ethics-deontological/ (21.04.2013).
wünschten) Zustand dadurch hervorbringe, dass ich Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch/deutsch.
andere dazu bringe, den fraglichen Zustand zu pro- Übers. von Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel. Düs-
duzieren, oder ob ich diesen Zustand unmittelbar seldorf 2001.
selbst herstelle. Die möglichen Handlungen anderer Bentham, Jeremy: Deontology: or the Science of Morality: in
werden dann, soweit ich sie durch mein eigenes which the Harmony and Co-incidence of Duty and Self-
interest, Virtue and Felicity, Prudence and Benevolence,
Handeln beeinflussen kann, gleichsam lediglich als are Explained and Exemplified. London 1834.
Mittel in einem Optimierungskalkül in den Blick ge- Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik.
nommen. Berlin/New York 2003.
Aus der Perspektive einer wichtigen Untergruppe Broad, C.D.: Five Types of Ethical Theory [1930]. London
derjenigen Theorien, die im Rahmen der Standard- 1979.
Davis, Nancy A.: Contemporary deontology. In: Peter Sin-
definition als deontologisch gelten können, derjeni- ger (Hg.): A Companion to Ethics. Oxford/Cambridge,
gen Theorien nämlich, die auch im Sinne von Gaus ’ Mass. 1991, 205–217.
Definitionsvorschlag (8) deontologisch sind, stellt Frankena, William K.: Ethics [1963]. Englewood Cliffs/
eben dies eine moralisch problematische Instrumen- New Jersey 21973.
talisierung, das heißt eine Verletzung der Autonomie Fried, Charles: Right and Wrong. Harvard u. a. 1978.
Gaus, Gerald F.: What is deontology? Part one: Orthodox
anderer Personen dar. Das aus dem vor allem von views. In: The Journal of Value Inquiry 35 (2001a), 27–42.
Kant (1968) vertretenen Prinzip des Respekts vor – : What is deontology? Part two: Reasons to act. In: The
der Autonomie Anderer erwachsende Veto gegen Journal of Value Inquiry 35 (2001b), 179–193.
6. Diskursethik 163

Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 6. Diskursethik


2 Bde. Frankfurt a. M. 1981.
Herman, Barbara: The Practice of Moral Judgment. Cam-
bridge, Mass. 1993.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Charakteristik
[1785]. In: Werke: Akademie Textausgabe. Berlin 1968,
385–464. Kommunikativ-dialogische Ethikansätze im weite-
Kymlicka, Will: Liberalism, Community, and Culture. Ox- ren Sinne reflektieren darauf, was es ethisch mit sich
ford 1989. bringt, sich ernsthaft an moralischen Diskursen (Ar-
Muirhead, John H.: Rule and End in Morals. Oxford 1932.
Prichard, Harold A.: Does moral philosophy rest on a mis- gumentationen) zu beteiligen. Sie verankern morali-
take [1912]? In: Mind 21 (2012), 21–37. sche Grundprinzipien in pragmatischen Unterstel-
Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971. lungen des performativen Gebrauchs, d. h. der Prag-
Skorupinski, Barbara/Ott, Konrad: Technology assessment matik der Sprache. Diese Unterstellungen müssen
and ethics. In: Poiesis & Praxis: International Journal of von allen Diskursteilnehmern vorgenommen wer-
Technology Assessment and Ethics of Science 1 (2002),
95–122. den, da andernfalls die diskursive Redepraxis nicht
Starr, Chauncey: Social benefit versus technological risk. gelingen kann. Nicht also die Sprache als System von
In: Science 165 (1969), 1232–1238. Zeichen, sondern der Sprachgebrauch in der diskur-
Teuber, Andreas: Justifying risk. In: Dædalus 119 (1990), siven Wechselrede wird dadurch zur Grundlage der
235–254. Moralbegründung. Der Begriff der Moralität wird
VDI (Verein Deutscher Ingenieure) (Hg.): Technikbewer-
tung, Begriffe und Grundlagen. VDI-Richtlinie 3780. dabei von den vielen faktisch vorhandenen Moralen
Düsseldorf 1991. unterschieden. Das Begründungsproblem betrifft
Micha H. Werner und Marcus Düwell somit den Nachweis einer internen Relation zwischen
Dialektik (als Lehre vom vernünftigen Sprechen)
und Ethik (als Lehre vom richtigen Handeln), also
zwischen Sprachgebrauch und Moralität. Metho-
disch betrachtet, erfolgt die Begründung durch sog.
transzendentale (auch: ›reflexive‹, ›retorsive‹) Argu-
mente. Transzendentale Argumente finden sich be-
reits bei Thomas von Aquin in der Summa Contra
Gentiles (SthIq2a1ob3): »Quia qui negat veritatem
esse, concedit veritatem esse« (»Wer bestreitet, dass
es Wahrheit gibt, räumt ein, dass es Wahrheit gibt«).
Als sprachpragmatisch begründet gilt all das, was
man zugestehen bzw. einräumen muss, wenn man
etwas sinnvoll bestreiten bzw. widerlegen möchte.
Solche retorsiven Argumente erfolgen aus der Per-
spektive von Teilnehmern einer intersubjektiv geteil-
ten Sprachpraxis und möchten Skeptiker auf Impli-
kationen all dessen aufmerksam machen, was sie
selbst notwendigerweise in Anspruch nehmen, etwa
sobald sie versuchen, gegenüber anderen ihre Skep-
sis zu rechtfertigen oder sie als vernünftige Lehre
darzulegen. Vorausgesetzt wird dabei ein Vorver-
ständnis kommunikativen Handelns, das sich von
einer strategischen Sprachauffassung unterscheidet
(Habermas 1981).

Frühe Vertreter

Vorformen kommunikativer Ethiken reichen bis in


die Antike zurück. Das Modell des sokratischen Ge-
sprächs mitsamt der Idee des Gründe-Gebens (logon
164 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

didonai), die auch das Nehmen bzw. Annehmen von Sprachwelten aus auf das gemeinsame »Gebiet des
Gründen umfasst, bietet Anknüpfungspunkte für Wißbaren« (Humboldt) bezieht. In der Reflexion auf
eine ethisch gehaltvolle Dialektik. Wenn drei Tugen- das Ich-Du-Verhältnis eröffnet Humboldt eine Tra-
den der Gesprächsführung (Einsicht, Freimütigkeit, dition, die über Martin Bubers Dialogik (Buber
Wohlwollen) gegeben sind, so kann für Sokrates ein 1923/1962) zu den diskursethischen Ansätzen der
Konsens zwischen verschiedenen Sprechern als ein Gegenwart reicht. Neben Humboldt ist auch Daniel
Kriterium praktischer Richtigkeit gelten (Gorgias, Friedrich Schleiermacher zu erwähnen, der in seiner
487). In dieser Auffassung ist die Unterscheidung Dialektik eine Kunstlehre der Gesprächsführung auf
von Dialektik und Sophistik vorausgesetzt. dem Gebiet des reinen theoretischen Denkens ent-
Ein bedeutender Ansatz zu einer dialogischen warf (Schleiermacher 1839/1976).
Ethik findet sich bei Wilhelm von Humboldt
(1829/1979). Die Einsicht in unterschiedliche
sprachliche Weltbilder und in die »inneren Formen« Varianten der Diskursethik
der natürlichen Sprachen, für die Humboldt in die
Geschichte der modernen Sprachphilosophie ein- Die unterschiedlichen diskursethischen Ansätze
ging, schließt für Humboldt eine dialogische Ethik verstehen sich entweder als universal- (Habermas)
nicht aus, sondern macht sie erforderlich. Der ver- oder als transzendentalpragmatisch (Apel 1988).
ständigungsorientierte Zugang zu den Mitgliedern Daneben finden sich frühe, vom Erlanger Konstruk-
fremder Sprachwelten ist für Humboldt ebenso uni- tivismus geprägte Ansätze (Kambartel 1974), ferner
versell wie gebrochen. Universell ist er aufgrund der vom US-amerikanischen Pragmatismus geprägte
allgemeinen menschlichen Sprachkraft; gebrochen Ansätze (Bernstein 1983; McCarthy 1993) sowie
bleibt er aufgrund der phonetischen, semantischen hegelianisch-hermeneutische Varianten (Benhabib
und grammatischen Besonderheiten der Einzelspra- 1989–90; für eine Übersicht vgl. Gottschalk-Mazouz
chen. Die Allgemeinheit der menschlichen Sprache 2000). In ihrem Theoriekern ist die Diskursethik
kann für Humboldt nicht in einer Tiefengrammatik, prozedural, da sie den Begriff eines praktischen Dis-
sondern nur in Universalien des Sprachgebrauchs kurses als eines ergebnisoffenen Verfahrens expli-
liegen. Die dem Gebrauch der Sprache innewoh- ziert; allerdings wird sie auf dem Wege ihrer Entfal-
nende Normativität hat außer dem allgemeinen tung zu einem Theorienetz zunehmend durch in-
Zweck der Sprache, nämlich das Verständnis des Ge- haltliche Prinzipien und Normen bestimmt, deren
sagten (Humboldt Bd. III, 418 f.), ihren Grund in ei- Gültigkeit bzw. Anerkennungswürdigkeit allerdings
nem ursprünglichen Dualismus von Ich und Du, der immer erneut unter Diskursbedingungen erörtert
(außer in Freundschaft und Liebe) auch in der »le- werden kann. Die Diskursethik ist universalistisch.
bendigen Wechselrede« (Humboldt) wirklich wird Die obersten Prinzipien sollen für alle Personen ein-
und der sich in den Einzelsprachen im System der sichtig sein, die verstehen, was es bedeutet, sich auf
Personalpronomina (ich, du, er/sie) widerspiegelt die Praxis der Argumentation einzulassen. In meta-
(ebd., 366). ethischer Hinsicht ist sie kognitivistisch und setzt die
Im Gebrauch des Systems der Personalprono- begriffliche Unterscheidung von Überzeugen und
mina »ich« und »du« in der lebendigen Wechselrede Überreden voraus (Habermas 1998; Lafont 2001).
sind für Humboldt ethische Prinzipien der gegensei- Wir unterstellen als Diskursteilnehmer, dass wir ein-
tigen Anerkennung von miteinander Redenden ander mit Gründen von etwas überzeugen und ein-
pragmatisch impliziert, die füreinander abwech- ander nicht nur zu etwas überreden wollen. Unver-
selnd die symmetrischen Rollen von Sprecher und einbar ist die Diskursethik daher mit dem Emotivis-
Hörer einnehmen. Diese Anerkennung beschränkt mus, für den moralische Kommunikation letztlich
sich dabei nicht auf die Situationen und Regeln der persuasives Überreden ist. Die Auffassung vom un-
Wechselrede selbst, sondern weist über sie in die bedingten Geltungssinn moralischer Normen, die
Sphären geteilten Wissens und gemeinsamen Han- von kulturellen Wertvorstellungen und Entwürfen
delns hinaus. Im (während des Gesprächs unver- guten Lebens unterschieden werden, definiert den
meidlichen) Gebrauch der Personalpronomina wird deontologischen Charakter der Diskursethik.
danach das jeweilige »Du« als momentaner und in- Für die transzendentalpragmatische Variante der
dividueller Gesprächspartner anerkannt, der zu- Diskursethik gelten als strikt letztbegründet all die
gleich Mitglied einer unbegrenzten Kommunikati- Präsuppositionen ernsthafter Rede, die kein (echter
onsgemeinschaft ist, die sich von unterschiedlichen oder fiktiver) Skeptiker ohne einen performativen
6. Diskursethik 165

Selbstwiderspruch bestreiten kann, da er sie im Be- merperspektive wird im Übergang vom kommuni-
streiten von Geltungsansprüchen oder im Aufstellen kativen zum diskursiven Sprechhandeln beibehal-
skeptischer Behauptungen bereits in Anspruch neh- ten. Dies unterscheidet die Diskursethik von allen
men muss. Dieses Argument wird von Wolfgang Theorien, die geschichtliche oder gegenwärtige Dis-
Kuhlmann (1985) im Detail entwickelt. Karl-Otto kurse aus einer Beobachterperspektive analysieren
Apels und Kuhlmanns These lautet, dass die in strik- (wie etwa die Diskurstheorie Michel Foucaults).
ter Reflexion erkennbaren Präsuppositionen ver- Die Diskursethik ist im Verhältnis zur Theorie
nünftiger Rede jede Person auf die Erhaltung der des kommunikativen Handelns eine Spezialtheorie,
realen und auf die Beförderung einer idealen Sprach- die sich mit den unausweichlichen Präsuppositionen
gemeinschaft moralisch verpflichten. Die Diskurs- praktischer Diskurse befasst. Moralisch-praktische
ethik Apels führt daher zu zwei entsprechenden Diskurse sind Diskurse über Sollgeltungsansprüche,
Handlungsprinzipien (Apel 1976, II, 416). »Strikt« in denen, grob gesagt, im Medium guter Gründe die
ist Reflexion nur dann, wenn sie auf keine falliblen Regeln, Institutionen und Prinzipien festgelegt wer-
Theorien rekurriert (Kuhlmann 1985). den sollen, durch die die soziale Welt interpersona-
Apel (1988) hat seinen Ansatz um einen Begrün- ler Beziehungen legitim geordnet werden kann. Die
dungsteil »B« erweitert, der um die Frage kreist, wie Frage »Was soll ich tun?« transformiert sich demzu-
Personen unter Bedingungen handeln sollten, in de- folge zur Frage »Welche Regeln sollten wir alle und
nen aufgrund des zweckrationalen oder strategi- damit ein jeder von uns (prima facie) befolgen?« Die
schen Verhaltens anderer Akteure (etwa in den Fokussierung auf konsensfähige Handlungsnormen
Sphären von Ökonomie und Politik) die Anwen- impliziert ein Primat des Gesollten bzw. Richtigen
dungsbedingungen der Diskursethik nicht erfüllt vor dem Wertvollen bzw. Guten. Diese Fokussierung
sind. Apel führt in »Teil B« ein teleologisch-strategi- kann allerdings von Fragen guten menschlichen Le-
sches Ergänzungsprinzip »E« ein, das fordert, an der bens (s. Kap. IV.B.8) nicht vollständig abstrahieren.
Beseitigung der Hindernisse mitzuwirken, die der So sind für Habermas (1986) Moralnormen unter ei-
Anwendung der Diskursethik im Wege stehen. »E« ner anthropologischen Perspektive auf den Schutz
erlaubt allerdings strategische Handlungsweisen, er- der Versehrbarkeit personaler Integrität hin ausge-
öffnet eine diffizile Kasuistik und ist innerhalb der richtet. Der Begriff der Versehrbarkeit setzt Annah-
Diskursethik entsprechend umstritten. Während für men darüber voraus, was für Menschen prima facie
Apel und Kuhlmann die transzendentale Reflexion generell schlecht ist (etwa ausgeschlagene Zähne).
auf die Bedingungen der Möglichkeit sinnvoller Auch müssen die Grenzen zwischen Fragen des
Rede dem epistemischen Fallibilitätsprinzip voraus- Richtigen und des Guten immer wieder vom morali-
liegt, unterstellt Jürgen Habermas seine gesamte schen Standpunkt aus neu diskursiv thematisiert
Theorie vorbehaltlos diesem Prinzip. Wenn bei- werden können, da es eine Reihe von nicht-trivialen
spielsweise die gesamte Sprechakttheorie widerlegt Grenzfällen gibt, angesichts derer es fraglich ist, ob
würde, geriete auch die Theorie kommunikativen es sich um moralische oder eudaimonistische Fra-
Handelns und damit die Diskursethik in Gefahr. Die gen handelt (Vegetarismus, Pornographie, Abtrei-
universalpragmatische Variante der Diskursethik bung).
vermeidet daher unnötige Konflikte mit dem Fallibi- Eine Kernbehauptung der Diskursethik besagt,
lismus. dass das ernsthafte Sich-Einlassen auf praktische
Diskurse mit der Anerkennung einer Reihe von Dis-
kursregeln verknüpft ist. Aus diesen Regeln, die Dis-
Der universalpragmatische Ansatz kursteilnehmer nicht ohne performativen Selbst-
von Jürgen Habermas widerspruch bestreiten können, und weiteren Prä-
missen, die die Rechtfertigungsbedürftigkeit von
In der von Jürgen Habermas ausgearbeiteten Vari- Normen betreffen (Ott 2008, S. 129), sollen ein Dis-
ante der Diskursethik (1983, 1991) wird eine zwei- kursprinzip moralischer Gültigkeit (»D«) und ein
stufige Theorie des kommunikativen und des dis- Universalisierungsgrundsatz (»U«) abgeleitet wer-
kursiven Handelns vorausgesetzt (Habermas 1981), den. Ein performativer Selbstwiderspruch tritt auf,
indem zwischen kommunikativem und diskursivem wenn eine Person zwar an einer Praxis teilnehmen,
Handeln unterschieden wird. Diskurse sind die re- aber zugleich Regeln die Anerkennung verweigern
flexive Fortsetzung alltäglichen kommunikativen möchte, die für diese Praxis konstitutiv sind. In die-
Handelns mit argumentativen Mitteln. Die Teilneh- sem transzendentalpragmatischen Sinne können
166 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Teilnehmer der Argumentationspraxis elementare Konsensausrichtung des Argumentierens. Prakti-


Argumentationsregeln nicht ohne Selbstwider- sche Diskurse sind somit Verfahren der kollektiven
spruch bestreiten. Die Prinzipien der Diskursethik Urteils- und Willensbildung, die eine Vermutung
lauten: der Vernünftigkeit ihrer Ergebnisse begründen.
»D« = »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen
alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rati-
onalen Diskursen zustimmen könnten« (Habermas Anwendungsfelder
1992).
»U« = »Die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus Die Erweiterung der Diskursethik über diesen for-
einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die malen Kern hinaus zu einer Menge paradigmati-
Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen vo- scher Anwendungen führt (1) zu einem schrittwei-
raussichtlich ergeben, müssen von allen zwanglos ak-
zeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alterna- sen und diskursrational kontrollierbaren Zugewinn
tiven Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden an normativem Gehalt, sowie (2) zu Modifikationen
können« (Habermas 1983). der Diskursidee in Bezug auf die Möglichkeit, dis-
kursive und partizipative Verfahren zu institutiona-
»D« bindet die Gültigkeit der Zuordnung von Hand- lisieren.
lungsweisen zu deontischen ›Operatoren‹ (›erlaubt‹, Paradigmatische Anwendungen beziehen sich auf
›geboten‹, ›verboten‹, ›ein Recht haben‹) an den Be- universell gültige Moralnormen (Habermas 1991,
griff der Zustimmungswürdigkeit durch idealiter 171–175 im Anschluss an Gert 1983) sowie auf Men-
alle möglichen Normadressaten (Betroffene) unter schen- und Bürgerrechte (Habermas 1992, Kap. III).
idealen Gesprächsbedingungen, d. h. in Diskursen. Die Grundsätze der Pädagogik als des Mündig-Wer-
Von einer Handlungsnorm betroffen sind alle, die den-Sollens von Mitgliedern nachwachsender Gene-
die Regel befolgen sollen (Normadressaten). rationen lassen sich in diskursethischer Perspektive
Die Basiselemente des Theoriekerns (»D« und ebenfalls zwanglos rechtfertigen (Brumlik 1992,
»U«) sind mit einem Modell verbunden, das durch 167). Auch die Begründung basaler Normen be-
Begriffe der Theorie des kommunikativen Handelns stimmter Praxisfelder (Wissenschaft, Medizin, Wirt-
(1981) charakterisiert ist. Komponenten dieses Mo- schaft, Pädagogik usw.) kann als eine paradigmati-
dells sind (mindestens) zwei sprach- und hand- sche Anwendung der Diskursethik gelten (Ott 1997).
lungsfähige Subjekte, die im Vollzug kommunikati- Obwohl Habermas (1986) selbst einen anthropozen-
ven Handelns entdecken, dass sie hinsichtlich einer trischen Moralbegriff vertritt, zeigen neuere Arbei-
regelungsbedürftigen Materie geteilter Meinung ten, dass die Diskursethik keineswegs auf eine anth-
sind. Jeder derartige Dissens eröffnet die Möglich- ropozentrische Lösung des Inklusionsproblems fest-
keit, ihn auf der diskursiven Ebene auszutragen, d. h. gelegt ist, d. h. des Problems der Festlegung der
mögliche Regulierungen umfassend auf ihre Vor- Menge von Entitäten, denen gegenüber direkte mo-
zugswürdigkeit zu prüfen. Die Welt der Normen ralische Verpflichtungen bestehen (Werner 2003;
wird nicht neu erfunden, sondern beurteilt und ggf. Ott 2010). Während moral agents bzw. Personen all
verändert. Die Sprecher schöpfen bei ihren diskursi- diejenigen Wesen sind, die ihr Verhalten auch an
ven Bemühungen aus einem Reservoir kultureller moralischen Gründen orientieren können (und die
und lebensweltlicher Moral- und Gerechtigkeitsvor- daher unter der Idee der Freiheit zu betrachten
stellungen (Intuitionen, Überzeugungen), müssen sind), sind moral patients Schutzbefohlene, deren
sich auf der Diskursebene an dem besagten Set von Wohlergehen teilweise oder gänzlich von den Hand-
Diskursregeln sowie an »D« und »U« orientieren lungsnormen abhängig ist, die von Personen in Dis-
und beziehen sich auf die formale Welt moralisch kursen begründet werden.
und rechtlich legitim zu regelnder Interaktionen. Die Diskursethik bettet in »U« Motive des Regel-
Der Theoriekern der Diskursethik besteht aus den konsequentialismus, durch die Moralnormen den
Grundprinzipien, diesem Modell sowie einem Kon- Kerngedanken deontologischer Ethiken, in ihrer
zept praktischer Diskurse. Der Begriff des prakti- Rechts- und Demokratietheorie die vernunftrechtli-
schen Diskurses enthält die Komponenten der au- chen Traditionen der Bürger- und Menschenrechte
thentischen Artikulation und umfassenden Partizi- und durch die Begründung von Praxisnormen die
pation aller Betroffenen, Orientierung an dem aristotelische Idee der eupraxia ein. Abwegig ist die
zwanglosen Zwang guter Gründe, Suspension sozia- Auffassung, die Diskursethik sei eine Ethik nur für
ler Herrschaft während der Diskurssituation und die die Situationen des Miteinander-Redens. Praktische
6. Diskursethik 167

Diskurse werden unter Beachtung von Diskursre- gumentationen und Verhandlungen (Saretzki 1996)
geln über Handlungsnormen geführt, die soziale In- sowie zwischen Konsensbemühung und der Not-
teraktionen außerhalb von Diskursen regeln. Dis- wendigkeit einer Kompromissbildung. Politikwis-
kursethiker dürfen sich zu praktischen Fragen mit senschaftlich betrachtet, ist der Ort für diskursive
eigenen substantiellen Beiträgen zu Wort melden, und partizipative Verfahren (s. Kap. VI.5) die innere
sind also nicht auf die Explikation der Diskursregeln und äußere Peripherie des politischen Systems, d. h.
und der Begründung von Prinzipien festgelegt. So- das System der »Schleusen«, das zwischen dem
fern sie dies tun, wechseln sie allerdings die Rolle. Kernbereich des politischen Systems und der zivil-
Wer substantielle Beiträge zu praktischen Diskursen gesellschaftlichen Öffentlichkeit vermittelt (zum
formuliert, äußert sich nicht mehr in der Rolle des Schleusen-Modell vgl. Habermas 1992, 428 ff.). Da-
Ethikers, sondern in der einer moralischen Person her sind partizipative Verfahren sinnvolle prälegisla-
oder eines Staatsbürgers. Die Diskursethik entklei- tive Ergänzungen zu den etablierten Verfahren in
det die professionellen Ethiker dadurch der Wissens- demokratischen Rechtsstaaten.
autorität in praktischen Fragen. Durch die paradigmatischen und durch mögliche
weitere beabsichtigte Anwendungen der Diskurs-
ethik (etwa zu einer Theorie nachhaltiger Entwick-
Diskursverfahren lung vgl. Ott/Döring 2004; s. Kap. IV.B.10) und durch
Modifikationen der Partizipationsidee zu unter-
Die Diskursidee bedarf in Bereichen angewandter schiedlichen Konzepten bildet sich sukzessive ein
Ethik der spezifizierenden Modifikation. Adela konsistentes diskursethisches Theorienetz heraus.
Cortina (1998) meint, die Diskursidee sei gleichsam Dieses wird dann natürlich nicht mehr nur mit Hilfe
eine Grundmelodie, die in verschiedenen Kontexten transzendentaler Argumente geknüpft, sondern stellt
praxisadäquat variiert werden müsse. Hierzu dienen eine Textur unterschiedlicher Begründungen dar.
Konzepte für diskursive und partizipative Verfahren Der Versuch des Aufbaus eines diskursethischen
(Skorupinski/Ott 2000; s. Kap. VI.5). Das idealisie- Theorienetzes allein mit transzendentalen Argumen-
rende Moment des Verhältnisses zwischen der Dis- ten ist nicht einmal ein Ideal, sondern ein Irrweg.
kursidee und den Diskurskonzepten lässt sich durch Die Erweiterung dieses Theorienetzes führt in
den Begriff der Approximation, das realisierende Grenzbereiche, in denen auch Vertreter der Diskurs-
Moment durch den Begriff der Spezifikation ausdrü- ethik geteilter Meinung darüber sein können, ob be-
cken. In thematisch bestimmten Diskursverfahren stimme Normierungen oder Verfahren noch in den
modifizieren sich die Arten zulässiger Gründe sowie Bereich der Theorie fallen: Ist eine DELPHI-Um-
die Relation zwischen Konsensbezug und möglichen frage oder ein Mediationsverfahren noch ›Partizipa-
Dissensformen (z. B. Minderheitenvoten). Dies gilt tion‹? Müssen Normen des Baurechtes, Hausord-
besonders dann, wenn diskursive Verfahren auf kol- nungen oder Benutzungsgebühren diskursiv ge-
lektive Zielsetzungen oder auf einzelne Projekte (wie rechtfertigt werden? Wo verlaufen die Grenzen zu
etwa den Bau einer Müllverbrennungsanlage oder eudaimonistischen Fragen? Wo beginnt die ge-
die Einrichtung eines Nationalparks) bezogen wer- schützte Sphäre des Privatlebens, in der man von
den. Zwar bleibt der Konsensbezug jedes einzelnen den Zumutungen der Begründung entlastet ist? Wo
Arguments erhalten. Die Heterogenität der jeweils beginnen die Bereiche, in denen Akteure legitimer-
zulässigen Gründe, die Bezugnahme auf Wertvor- weise strategisch handeln dürfen (Ökonomie)? Der-
stellungen, Risikoeinschätzungen, Darlegungslasten artige Grenzfälle sind kein ernsthaftes Problem für
und die Bedeutung, die die jeweils Beteiligten unter- die Theorie, da die Grenzen der Theorie von innen
schiedlichen Pro- und Contra-Argumenten beilegen heraus diskursiv festgelegt werden können. Das
usw. schließen jedoch einen streng definierten Kon- größte Desiderat der Diskursethik betrifft vielmehr
sens als Ergebnis aller möglichen diskursiven Ver- eine wirkliche Argumentationstheorie.
fahren im Grunde aus. ›Streng‹ ist ein Konsens,
wenn alle Beteiligten aufgrund der gleichen Gründe Literatur
zur selben Einsicht gelangen. Für viele Anwendungs-
fälle ist diese Konsensvorstellung zu anspruchsvoll. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie. Frankfurt
a. M. 1976.
In diskursiven Verfahren entstehen vielmehr offene – : Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M. 1988.
Beziehungen zwischen der Anerkennung und der – : Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendental-
Gewichtung von Gründen sowie auch zwischen Ar- pragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998.
168 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

– /Kettner, Matthias (Hg.): Zur Anwendung der Diskurs- Rehg, William: Discourse and the moral point of view. In:
ethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a. M. Inquiry 34 (1991), 27–48.
1992. Saretzki, Thomas: Wie unterscheiden sich Argumentieren
Benhabib, Sheyla: In the shadow of Aristotle and Hegel. In: und Verhandeln? In: Volker von Prittwitz (Hg.): Verhan-
The Philosophical Forum XXI/1–2 (Winter 1989–90), deln und Argumentieren. Opladen 1996, 19–40.
1–30. Schleiermacher, Daniel Friedrich: Dialektik [1839]. Darm-
Bernstein, Richard: Beyond Objectivism and Relativism. stadt 1976.
Oxford 1983. Schönrich, Gerhard: Bei Gelegenheit Diskurs. Frankfurt
Brumlik, Micha: Advokatorische Ethik. Bielefeld 1992. a. M. 1994.
Buber, Martin: Ich und Du [1923]. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Skorupinski, Barbara/Ott, Konrad: Technikfolgenabschät-
München/Heidelberg 1962, 9–76. zung und Ethik. Zürich 2000.
Cortina, Adela: Der Status der Anwendungsethik. In: Ar- Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Frankfurt a. M. 1986.
chiv für Rechts- und Sozialphilosophie 84/ 3 (1998), 392– Werner, Micha H.: Diskursethik als Maximenethik. Würz-
404. burg 2003.
Dorschel, Andreas et al. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Konrad Ott
Frankfurt a. M. 1993.
Gert, Bernard: Die moralischen Regeln. Frankfurt a. M. 1983.
Gottschalk-Mazouz, Niels: Diskursethik. Berlin 2000.
– (Hg.): Perspektiven der Diskursethik. Würzburg 2005.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns.
Frankfurt a. M. 1981.
– : Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frank-
furt a. M. 1983.
– : Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Dis-
kursethik zu? In: Wolfgang Kuhlmann (Hg.): Moralität
und Sittlichkeit. Frankfurt a. M. 1986, 16–37.
– : Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991.
– : Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992.
– : Richtigkeit versus Wahrheit. In: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 46/2 (1998), 179–208.
Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheiten des
menschlichen Sprachbaues [1829]. In: Ders.: Schriften
zur Sprachphilosophie. Werke. Hg. von Andreas Flitner
und Klaus Giel, Bd. III. Darmstadt 1979, 144–367.
Kambartel, Friedrich: Wie ist praktische Philosophie kon-
struktiv möglich? In: Friedrich Kambartel (Hg.): Prakti-
sche Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie.
Frankfurt a. M. 1974, 9–33.
Kuhlmann, Wolfgang: Reflexive Letztbegründung. Freiburg
1985.
Lafont, Cristina: How cognitivistic is discourse ethics? In:
Marcel Niquet/Francisco J. Herrero/Michael Hanke
(Hg.): Diskursethik – Grundlegungen und Anwendungen.
Würzburg 2001, 135–144.
McCarthy, Thomas: Ideale und Illusionen. Frankfurt a. M.
1993.
Niquet, Marcel/Herrero, Francisco J./Hanke, Michael
(Hg.): Diskursethik – Grundlegungen und Anwendungen.
Würzburg 2001.
Ott, Konrad: Ipso Facto. Zur ethischen Begründung normati-
ver Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt a. M.
1997.
– : Über den Theoriekern und einige intendierte Anwen-
dungen der Diskursethik. In: Zeitschrift für Philosophi-
sche Forschung 52/2 (1998), 268–291.
– : Ethik und Diskurs. In: Kolleg Praktische Philosophie. Bd.
2. Stuttgart 2008, 111–152.
– : Umweltethik zur Einführung. Hamburg 2010.
– /Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit.
Marburg 2004.
Platon: Gorgias. Sämtliche Werke. Hg. von Walter F. Otto/
Ernesto Grassi, Bd. 1. Hamburg 1957, 197–284.
169

7. Überlegungsgleichgewicht Entscheidung unmittelbar betroffen sind, ermög-


licht, bei der Entscheidungsfindung mitzuwirken.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist die Idee ge-
Gerechtigkeit und Pluralität rechter Verfahren auch auf andere Bereiche übertra-
gen worden. Insbesondere im Bereich der Ange-
Technologische Forschung und Entwicklung findet wandten Ethik ist das Ringen zwischen divergenten
zunehmend innerhalb von Netzwerken statt, in de- moralischen Referenzsystemen ein dringliches Pro-
nen unterschiedliche Akteure zusammenarbeiten. blem; wie werden beispielsweise die Interessen ver-
Diese Akteure haben unter Umständen unter- schiedener Anspruchsberechtigter in einem Unter-
schiedliche Auffassungen von dem, was ein gutes nehmen integriert oder wie werden die aus neuen
Leben (s. Kap. IV.B.8) ausmacht und welche Rolle Technologien erwachsenden Risiken gerecht ver-
Technologien in unserer Gesellschaft dabei spielen. teilt? Gleichzeitig müssen Einsichten aus den Sozial-
In der Politik geht man davon aus, dass diese unter- wissenschaften in die ethische Analyse integriert
schiedlichen Ansichten unterschiedliche morali- werden. Probleme bezüglich der gerechten Vertei-
sche Referenzsysteme repräsentieren, die sich nicht lung knapper Ressourcen oder von Risiken sind bei-
auf eine einzige übergreifende Sicht der Dinge redu- spielsweise typische Fragen, mit denen Angewandte
zieren lassen. Diese moralischen Referenzsysteme Ethik heutzutage konfrontiert ist, und die allein auf
repräsentieren normalerweise eine religiöse, philo- Basis traditioneller ethischer Theorien schwer zu be-
sophische oder andere standardisierte moralische antworten sind. Demgemäß zeigt die Debatte in der
Lehre, die alle Themen betrifft und alle Werte ab- Angewandten Ethik seit den 1980er Jahren vermehrt
deckt. Eine der wichtigsten Herausforderungen in Überschneidungen zwischen der Philosophie und
der politischen Theorie ist es daher, Gerechtigkeits- den Sozialwissenschaften auf. Forscher aus der An-
prinzipien zu entwickeln, um die Gesellschaft in gewandten Ethik nutzen seitdem vermehrt Einsich-
dieser Pluralität zu organisieren. Das Problem hier- ten und Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften
bei liegt darin, dass es schwierig ist, eine Idee der und umgekehrt. Dies hat, vor allem in der angelsäch-
Gerechtigkeit (s. Kap. IV.B.9) für alle Menschen ak- sischen Tradition, zu einer eher deskriptiven Metho-
zeptabel zu machen, solange man versucht, sie aus dik geführt, bei der beispielsweise die soziale Bedeu-
einem bestimmten moralischen Referenzsystem tung von Gerechtigkeit rekonstruiert wird, anstatt an
heraus zu entwickeln (wie beispielsweise aus der einer streng konzeptionellen Analyse, Theoriekon-
Deontologischen Ethik, dem Utilitarismus oder der struktion und kritischen Bewertung festzuhalten.
Tugendlehre). Einer der verfahrenstheoretischen Ansätze, die in
Die Erkenntnis, dass es nicht die eine übergeord- den verschiedenen Bereichen der Angewandten
nete Theorie geben kann und dass verschiedene um- Ethik große Aufmerksamkeit erlangt hat, ist die Idee
fassende Lehren alle legitim sind (wenn auch viel- des Überlegungsgleichgewichts (Rawls 1971/1999)
leicht mit Einschränkungen), gilt als Grundstein der und des overlapping consensus (Rawls 1993; 2001).
Demokratie. Diese Erkenntnis könnte man als plu- Diese ›Rawlsschen Ansätze‹ sind für die Ange-
ralistisches Ideal bezeichnen. Einige politische Phi- wandte Ethik aus zwei Gründen besonders attraktiv.
losophen haben daher verfahrensorientierte Ansätze Erstens verschreibt sich die zugrundeliegende
zur Gerechtigkeit eingeführt, um die Bevorzugung Theorie der Idee des Pluralismus, wie oben ausge-
einer Auffassung von Gerechtigkeit gegenüber ande- führt, und zweitens ist sie eine Theorie, die die Ein-
ren zu vermeiden. Anstatt substantielle Auffassun- beziehung empirischer Daten erlaubt, um zu einer
gen von Gerechtigkeit zu entwickeln, die unver- normativen Schlussfolgerung hinsichtlich morali-
meidlich für die eine oder andere umfassende Lehre schen Handelns zu gelangen.
Partei ergreifen, suchen die Theoretiker der Regelge-
rechtigkeit nach formalen Konzepten, um zu verste-
hen, welche Verfahren zu fairen Resultaten führen. Rawls ’ politische Theorie
In ihrer allgemeinsten Form ist die Grundidee der
Regelgerechtigkeit wie Fairness die, dass die Resul- John Rawls entwickelte die Methode des Überle-
tate jener Verfahren, die von den Anhängern jegli- gungsgleichgewichts zur Erklärung und Verteidi-
cher umfassenden Lehre unterstützt werden, als fair gung seiner Theorie der Gerechtigkeit. Er war sich
angesehen werden. Dies mündet oft in ein Verfah- bewusst, dass Menschen verschiedenen umfassen-
ren, das es denjenigen, die durch eine bestimmte den Lehren folgen. Wesentlicher Kern seiner
170 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Theorie ist, dass die Menschen das Recht haben, Eine besondere Auffassung von Gerechtigkeit ist
diese unterschiedlichen umfassenden Lehren zu dann für einen Menschen akzeptabel, wenn sie sich
vertreten. Die Ordnung unserer Gesellschaft auf der mit seinen anderen moralischen Überzeugungen,
Basis einer einzigen der vielen möglichen Lehren Urteilen und moralischen Hintergrundtheorien in
wäre gegenüber anderen ungerecht. Sein Ziel war es Einklang bringen lässt. Vorausgesetzt, dass alle Men-
daher, eine Theorie zu entwickeln, die die verschie- schen einen Gerechtigkeitsbegriff erreichen wollen,
denen moralischen Hintergrundtheorien in Be- der definitive Lösungen ermöglicht und insofern
tracht ziehen und deren Anhängern gleichzeitig die komplett ist, dass er mehr als eine bloße Ansamm-
Möglichkeit geben konnte, in bestimmten Fragen lung zufälliger Überzeugungen darstellt, sollten die
eine moralische Übereinkunft zu erzielen. Mit ande- Menschen nach Kohärenz zwischen den Überlegun-
ren Worten, er versuchte, ein Kriterium der Gerech- gen auf den verschiedenen Ebenen streben. Man be-
tigkeit zu schaffen, dem alle zustimmen können, un- ginnt, indem man anfängliche moralische Urteile
ter Bedingungen, die für alle gerecht sind. Dazu sammelt, die man dann auf der Basis des Kriteriums
wird ein ›neutraler‹ Standpunkt benötigt, der weder der Glaubwürdigkeit filtert. Das bedeutet, dass man
durch das tatsächliche Aussehen unserer gegenwär- Überzeugungen, die in hoch emotionalen Situatio-
tigen Gesellschaft noch durch die Position, die der nen geformt wurden, oder die man nicht mit ausrei-
Einzelne darin einnimmt, gefärbt ist. Rawls führte chendem Selbstvertrauen halten kann, beiseite legt.
daher den sogenannten ›Urzustand‹ (original posi- Lediglich die Urteile, deren eine Person sich relativ
tion) ein. In diesem Urzustand beratschlagen und sicher ist und die unter Bedingungen zustande ge-
entscheiden alle Bürgerrepräsentanten gemeinsam kommen sind, die Irrtümer weitgehend ausschlie-
über ein Gerechtigkeitsprinzip, das für alle annehm- ßen, können einbezogen werden. Diese nennen wir
bar sein kann. Diese Repräsentanten wissen nicht, wohlüberlegte moralische Urteile.
wen sie vertreten, ob die Person männlich oder Im Folgenden werden verschiedene Sätze morali-
weiblich ist, welchem ethnischen Hintergrund sie scher Prinzipien vorgeschlagen, die in unterschiedli-
entstammt, ob sie klug, kreativ, behindert ist, usw. chem Maße den wohlüberlegten moralischen Urtei-
Dies führt zu einem Begriff der Gerechtigkeit als len entsprechen. Dadurch, dass man sich zwischen
Fairness und legt die fairen Bedingungen gesell- den verschiedenen Betrachtungsebenen hin und
schaftlicher Zusammenarbeit zwischen freien und herbewegt und die Überlegungen und Prinzi-
gleichen Bürgern fest. Rawls glaubte, dass Gerech- pien(sätze) überarbeitet, die nicht gut passen, er-
tigkeit als Fairness automatisch in ein Prinzip mün- reicht man schließlich ein Überlegungsgleichge-
dete, das die Lebenssituation der am schlechtesten wicht. Wir sprechen von einem Gleichgewicht, wenn
gestellten Person optimieren würde, da die Reprä- die verschiedenen Arten der Überlegungen zusam-
sentanten im Urzustand nicht wissen, wen sie reprä- menhängen und sich gegenseitig unterstützen; von
sentieren. einem Überlegungsgleichgewicht, wenn es dadurch
Rawls nennt dies ›pure Verfahrensgerechtigkeit‹, erreicht wird, dass man zwischen den verschiedenen
da das Kriterium der Fairness nur auf das Verfahren Überlegungen hin und her springt und diese alle im
an sich, nicht aber auf die Inhalte anzuwenden ist. Licht der neuen Situation oder Sichtweise entspre-
Zusätzlich entwickelte Rawls ein Rechtfertigungskri- chend anpassbar sind. Bis hierhin sprechen wir von
terium, um einschätzen zu können, ob die hypothe- einem engen Gleichgewicht. Anfänglich hatte Rawls
tische Vertragssituation die wohlüberlegten Über- Folgendes vorgeschlagen: ein Überlegungsgleichge-
zeugungen tatsächlicher Einzelbürger bezüglich po- wicht, das durch Reflexion lediglich der eigenen vor-
litischer Gerechtigkeit auch deutlich artikuliert. herigen Überzeugungen entstehen kann.
Aufgrund des Wissens um seine eigenen besonderen Rawls ’ Schüler Norman Daniels (1996) argumen-
Umstände, einschließlich seines Glaubenssystems, tierte jedoch, dass jedes enge Überlegungsgleichge-
müsse der Einzelne in der Lage sein, die im Urzu- wicht schwer zu akzeptieren und daher als Rechtfer-
stand erreichte Übereinkunft zu akzeptieren. An- tigungsbasis untauglich sei, da die Menschen ihrem
hänger unterschiedlicher umfassender Lehren müs- eigenen moralischen Bezugssystem verhaftet blei-
sen dazu fähig sein, die Akzeptierbarkeit der An- ben. Durch die ausschließliche Konzentrierung auf
sprüche der politischen Gerechtigkeit vor sich selbst bestimmte Fälle und moralische Prinzipien basiert
zu rechtfertigen. Rawls führte den Begriff des Über- das so erreichte Überlegungsgleichgewicht auf fest-
legungsgleichgewichts ein, um auf diese individuelle gelegten (moralischen) Hintergrundtheorien. Ein
Rechtfertigung zu verweisen. enges Überlegungsgleichgewicht mag daher als ty-
7. Überlegungsgleichgewicht 171

pisch utilitaristisch oder kantianisch charakterisiert dener umfassender Lehren dennoch in ihrer
werden, eher als eine deskriptive als eine rechtferti- Akzeptanz eines politischen Konzepts der Gerech-
gende Methode. Um der Methode rechtfertigende tigkeit überlappen. Es müssen nicht alle allem zu-
Glaubwürdigkeit zu verleihen, schlug Daniels vor, stimmen, aber es herrscht Einigkeit über die Prinzi-
zwischen breitgefächerten Sätzen moralischer und pien der Fairness im politischen Bereich. Diese Prin-
unmoralischer Überzeugungen nach Kohärenz zu zipien bestimmen die fairen Bedingungen der
suchen und außerdem die Ebene der Hintergrund- Zusammenarbeit unter Bürgern sowie die Konditio-
theorien in den Reflexionsprozess mit einzubezie- nen, unter denen die grundlegenden Institutionen
hen. einer Gesellschaft als gerecht gelten.
Wenn wir uns nicht einfach mit der besten Pass- Durch die Verschiebung weg vom Überlegungs-
form an Prinzipien und Urteilen zufrieden geben, gleichgewicht hin zum sich überlappenden Konsens
sondern auch philosophische Argumente ins Spiel verlagert sich ebenso die Gewichtung weg vom Ur-
bringen, um die relativen Stärken und Schwächen al- zustand in Richtung der Unterscheidung zwischen
ternativer Prinzipiensätze oder konkurrierender öffentlicher und nicht-öffentlicher Vernunft. Rawls
moralischer Konzeptionen hervorzuheben und möchte uns dazu anregen, im Sinne der ›öffentlichen
diese im Licht relevanter Hintergrundtheorien über- Vernunft‹ zu denken, was bedeutet, dass wir nur die
arbeiten, dann können wir ein breitgefächertes Über- Argumente anwenden, an denen alle Menschen un-
legungsgleichgewicht erzielen. Diese Argumente geachtet ihrer moralischen Bezugssysteme festhalten
können als Schlussfolgerungen aus einigen Sätzen können. Rawls war der Auffassung, dass es möglich
relevanter Hintergrundtheorien konstruiert werden. sei, einen Konsens zu erreichen, wenn alle Men-
Wenn zwischen allen drei Schichten (d. h., ein- schen an der öffentlichen Vernunft festhielten.
schließlich der Hintergrundtheorien) Kohärenz ge- Dieser sich überlappende Konsens wäre insofern
schaffen wird, und nicht nur zwischen den wohl- vollständig, als er (beinahe) alle Fragen betreffend
überlegten Urteilen und moralischen Prinzipien, konstituierender wesentlicher Bestandteile und
dann kann das Überlegungsgleichgewicht als ein grundlegender Gerechtigkeit abdecken könne.
breitgefächertes solches gelten. In seine späteren Ar-
beiten nahm Rawls diese breitgefächerte Überle-
gungskonzeption mit auf, da sie es erlaubte, die von Anwendungsbeispiel aus der Technik
anderen vorgebrachten moralischen Auffassungen
mit in Betracht zu ziehen und diesen dadurch die Die Rawlsschen Konzepte wurden im Kontext einer
Möglichkeit gab, die eigenen Überzeugungen zu be- ethischen Studie angewendet, die parallel zu einem
einflussen und als Basis für eine Rechtfertigung zu tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungsprojekt
dienen. (Doorn 2012) durchgeführt wurde. Dieses Projekt
Die ursprüngliche Idee der Gerechtigkeit als Fair- (im Folgenden R&D, Research & Development, ge-
ness basierte auf einer wohlgeordneten Gesellschaft, nannt) bezog sich auf die Entwicklung eines Soft-
die bezüglich ihrer grundlegenden moralischen wareprototyps für die Überwachung stationärer
Überzeugungen und Vorstellungen zu einem guten Patienten und basierte auf allgegenwärtiger (ubiqui-
Leben relativ homogen gestaltet war. In seinem spä- tärer) Datenverarbeitung (s. Kap. V.25). Das zugrun-
teren Werk, Politischer Liberalismus, erkannte Rawls deliegende Projektziel war die Verbesserung der Le-
an, dass es innerhalb einer demokratischen Gesell- bensqualität der Endverbraucher dieser Softwarean-
schaft eine ständige Pluralität unvereinbarer und un- wendung.
versöhnlicher moralischer Bezugssysteme gibt, und Das hier beschriebene R&D-Projekt wurde von
stellte das Konzept des sich überlappenden Konsen- einem Konsortium durchgeführt, das sich aus zwölf
ses vor. Die Menschen sind trotz sich widerspre- kleinen und mittleren Unternehmen, verschiede-
chender moralischer Werte und Ideale in der Lage, nen Universitäten, zwei unabhängigen Forschungs-
zusammenzuleben, solange sie sich alle dieselbe mo- instituten und einem wissenschaftlichen For-
ralische Verpflichtung gegenüber der Grundstruktur schungszentrum im Bereich Rehabilitationstechni-
ihrer Gesellschaft auferlegen. Die vollständige Idee ken zusammensetzte. Im Zuge des Projekts wurden
der Gerechtigkeit als Fairness wird höchstwahr- Endverbraucher, darunter auch Fachleute im Ge-
scheinlich nicht Teil eines breitgefächerten Überle- sundheitswesen, gebeten, ihre Wünsche und Bedürf-
gungsgleichgewichts sein, aber in einer pluralisti- nisse bezüglich der zu schaffenden Überwachungs-
schen Gesellschaft können sich Anhänger verschie- anwendung zu spezifizieren. Nach einem ersten Ver-
172 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

suchslauf der Software wurden explorative Unter- Der Workshop war entsprechend des Überle-
suchungen mit realen Anwendern durchgeführt, um gungsgleichgewicht-Ansatzes strukturiert, um zu
die funktionalen und technischen Erfordernisse im Reflexionen über die verschiedenen Schichten der
Detail festzustellen. Anschließend wurde die Ver- Moralität (wohlüberlegtes Urteil, moralische Prin-
suchsanwendung sowohl bezüglich der technischen zipien und moralische Hintergrundtheorien) an-
Spezifikationen als auch im Hinblick auf die Projekt- zuregen. Die moralischen Hintergrundtheorien der
ziele ausgewertet. Teilnehmenden wurden auf der Grundlage einer
Die gesellschaftliche Akzeptanz der Technologie validierten moralisch-psychologischen Umfrage be-
galt als wesentliches Element für den Erfolg des wertet. Die moralischen Prinzipen wurden als
Projekts. Der Hauptfokus der ethischen Untersu- sogenannte ›Grundprinzipien‹ zur Verteilung von
chungen lag daher auf den Bedingungen, die für die Verantwortlichkeit operationalisiert. Diese Grund-
Erreichung der gesellschaftlichen Akzeptanz der prinzipien wurden mit den wiederkehrenden Argu-
Technologie als unabdingbar galten. Auf Basis einer menten beschrieben, die von den Teilnehmenden
Reihe von Interviews mit Repräsentanten der ver- zur Unterfütterung ihrer Überzeugung benutzt wur-
schiedenen in das Projekt einbezogenen institutio- den. Das Äquivalent zu Rawls ’ wohlüberlegtem
nellen Partnern wurde eine Liste ›moralischer Fra- Urteil war schließlich die tatsächliche Verteilung
gen‹ erstellt, die unter anderem folgende Elemente der  Verantwortlichkeiten, um die entsprechenden
enthielt: Festlegen der Sicherheitsanforderungen ›moralischen Aufgaben‹ anzusprechen. Die Teilneh-
der Anwendung, Herstellung des Gleichgewichts menden des Workshops wurden gebeten, die mora-
zwischen Benutzerfreundlichkeit, Zuverlässigkeit lischen Aufgaben den verschiedenen Projektaktivi-
und Funktionalität usw. Diese Fragen sollten ange- täten zuzuteilen. Diese Verteilungsübung wurde
sprochen werden, um gesellschaftliche Akzeptanz zweimal durchgeführt, unterbrochen durch eine
zu erzielen. Allerdings bestand erhebliche Uneinig- Diskussion, um einzuschätzen, ob die Teilnehmen-
keit darin, wie dies geschehen sollte, da die Forscher den sich im Laufe des Workshops einer gemeinsa-
unterschiedliche Auffassungen zur Frage der Ver- men Meinung annäherten. Anschließend wurden
antwortung vertraten sowie unterschiedliche Krite- die Teilnehmenden gefragt, ob die endgültige Vertei-
rien anlegten, wie die gewünschte Verteilung der lung der Verantwortlichkeiten ›fair‹ war.
Verantwortung auszusehen hat. Einige waren der Eine Untersuchung der resultierenden Verteilung
Meinung, dass die Verantwortlichkeiten auf Basis der Verantwortlichkeiten im Sinne des Rawlsschen
der Wirksamkeit verteilt werden sollten, andere Bezugssystems zeigte, dass es möglich war, bei den
wählten andere Überlegungen und betonten z. B. meisten wichtigen Fragen einen Konsens zu erzielen.
die Rolle der Endverbraucher und deren Rechte. Während die Teilnehmenden anfangs zu den meis-
Auf der Grundlage von Fachliteratur zum Thema ten Punkten unterschiedlicher Meinung waren,
Verantwortung (s. Kap. II.6) und einer Analyse der schienen sie sich im Laufe des Workshops bei ver-
Interviewergebnisse wurde die Frage nach der Ver- schiedenen Fragen einem Konsens anzunähern.
antwortungsverteilung als ein Problem angesehen, Obwohl die Erzielung eines vollständigen sich
das aus einem ›Verantwortungspluralismus‹ heraus überlappenden Konsenses bezüglich der Verteilung
entstand, also aus einer Situation heraus, in der ver- von Verantwortlichkeiten zu schwierig war, zeigte
schiedene Menschen verschiedene Auffassungen der Fall dennoch, dass die Spannungen zwischen
von Verantwortungsübernahme haben, die nicht den Meinungsverschiedenheiten der Teilnehmen-
auf eine übergreifende Sichtweise reduziert werden den durchaus abgemildert werden konnten. Alle
können. Teilnehmenden interpretierten das Endergebnis zur
Diese Problematik wurde auf einem Workshop Verteilung der Verantwortlichkeiten mehr oder we-
eingehend diskutiert, dessen Ziel es war, den unter- niger als Konsens und bewerteten es hinsichtlich ih-
schiedlichen Grundprinzipien zur Verteilung von res eigenen breitgefächerten Überlegungsgleichge-
Verantwortlichkeiten nachzugehen, die moralischen wichts als fair. Sie stimmten darin überein, dass am
Fragen anzusprechen und zu versuchen, in Abwe- Ende alle Projektmitglieder sich dem Projekt als
senheit einer einzigen übergreifenden Sichtweise zu Ganzes verpflichtet fühlen sollten, einschließlich
einer Einigung zu kommen. Im Folgenden wird der seiner moralischen Aspekte. Außerdem wurde man
Begriff ›moralische Aufgabe‹ verwendet, um die sich darüber einig, was im Rahmen des Projekts lie-
Verantwortung zur Adressierung einer speziellen gen sollte, und was nicht. Dinge, die anfangs als Rah-
moralischen Frage zu bezeichnen. men sprengend empfunden worden waren, wurden
7. Überlegungsgleichgewicht 173

am Schluss des Workshops als dem Projekt zugehö- gewichts eigenen, sind mehr praktische Einsichten
rig akzeptiert. nötig, ebenso für die Art von Ergebnissen oder
Schlüssel zum Erfolg des Überlegungsgleichge- Übereinkünften, die dadurch erreicht werden kön-
wicht-Ansatzes war, dass er die Teilnehmenden dazu nen. Der vorliegende Anwendungsfall legt nahe,
aufforderte, über gerechte Arbeitsverteilung und die dass im Bereich der Verantwortungsverteilung eine
Legitimität der Argumente anderer nachzudenken. Übereinstimmung bezüglich Umfang und Rahmen
Obwohl einige Meinungsverschiedenheiten beste- des Projekts ein gutes Beispiel für eine greifbare und
hen blieben, war der Effekt des Workshops der, dass praktikable Einigung darstellt.
die Arbeit fokussierter angegangen wurde und dass
bestimmte bis dahin nicht erkannte moralische Fra- Literatur
gen Teil der Arbeit werden konnten. Dies zeigt, dass Daniels, Norman: Justice and Justification: Reflective Equili-
die Menschen fähig sind, bezüglich der Verteilung brium in Theory and Practice. Cambridge 1996.
von Verantwortlichkeiten Einigkeit zu erzielen, auch Doorn, Neelke: Exploring responsibility rationales in Re-
wenn eine übergreifende Sichtweise fehlt. search and Development (R&D). In: Science, Technology
& Human Values 37/3 (2012), 180–209.
Rawls, John: Political Liberalism. New York 1993.
– : A Theory of Justice [1971]. Cambridge, Mass. 1999.
Abschließende Bemerkungen – : Justice as Fairness: A Restatement. Cambridge, Mass.
und offene Fragen 2001.
Neelke Doorn
Wenn man die aus diesem Fall gewonnenen Einsich-
ten nun auf eine eher allgemeine Ebene überträgt,
scheint es, dass die meisten Zuschreibungen von
Verantwortung nicht im Sinne von einfachen
Schwarzweiß-Fragen (Ist diese Person verantwort-
lich, ja oder nein?) formuliert werden können. Dies
trifft wahrscheinlich auf die meisten Entscheidun-
gen in der Angewandten Ethik zu. Es handelt sich
nicht um geschlossene Fragen, die mit binären Ant-
worten (stimme zu oder stimme nicht zu, weiter-
machen oder abbrechen) gelöst werden können.
Zustimmung ist oft eine Frage der Gradierung. In-
wieweit erkennen Menschen, wie ein Problem struk-
turiert ist? Wie sollte es idealerweise angegangen
werden? Welche Lösungsarten sind relevant? Im Ge-
gensatz zu den hypothetischen Beispielen in der
Ethikliteratur, bei denen Diskussionspunkte oft als
simple ja-oder-nein-Entscheidungen präsentiert
werden, ist die Entscheidungsfindung im realen Le-
ben weitaus komplexer. Anstatt um isolierte Ent-
scheidungen geht es hier eher um die Bildung einer
Art von ethischer Gebrauchsanweisung: Wie lösen
wir die Dinge? Was gehört in den Rahmen des Pro-
jekts, was nicht? In der Literatur zur Angewandten
Ethik wird der Art von Einigung, die mit Hilfe un-
terschiedlicher Methoden erreicht werden kann, we-
nig Beachtung geschenkt. Die Diskussion des vorlie-
genden Falles legt nahe, das es unterschiedliche Ebe-
nen der Einigkeit gibt, von abstrakten Initiativen, die
dazu dienen, alle zu einer konvergenten Perspektive
zu bringen, bis hin zu sehr konkreten Übereinkünf-
ten bei ganz speziellen Fragen. Zu der Art von Fra-
gen, die sich für den Ansatz des Überlegungsgleich-
174 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

8. Gutes Leben bunden: Wer mit einem guten Leben ein Leben
meint, in dem es der Person, die es führt, gut geht,
begrenzt Fragen eines guten Lebens so, dass in ihnen
Fragen eines guten Lebens spielen sowohl in der In- allein thematisch ist, was gut für die Person selbst
dividualethik als auch in der Politischen Philosophie (nicht dagegen notwendig für andere) ist, wobei der
eine wichtige Rolle. Für die Technikethik sind sie genaue Sinn dieses ›gut für‹ umstritten ist (Sumner
bisher kaum explizit fruchtbar gemacht worden, ob- 1996, 2. Kap.; Kraut 2007, 66 ff.). Es gibt jedoch auch
wohl sie implizit vor allem technikkritische Diskurse Philosophen, die die Rede davon, dass etwas ›gut
beeinflussen. Bevor die Relevanz der Thematik eines für‹ jemanden ist, für grundsätzlich problematisch
guten Lebens beleuchtet werden kann, muss jedoch halten, weil sie davon ausgehen, dass die Frage, was
geklärt werden, was mit der Rede von einem ›guten gut für uns ist, keine eigenständige Rolle in unseren
Leben‹ gemeint sein soll und welche allgemeinen praktischen Überlegungen spielt und abhängig von
Ansätze zur Bestimmung eines guten Lebens gegen- der Frage ist, was in sich gut ist (Moore 1993, 150;
wärtig diskutiert werden (vgl. Steinfath 2011). Bei vgl. auch Scanlon 1998, 3. Kap.). Ich folge im Weite-
der Differenzierung der Ansätze dominiert die Glie- ren der ersten Sichtweise, gehe also davon aus, dass
derung in hedonistische, wunschtheoretische und es bei einem guten Leben um das Leben geht, das gut
objektivistische Positionen (vgl. Parfit 1984, 493– für den ist, der es führt, und nehme überdies an, dass
502). sinnvoll gefragt werden kann, ob ein in dieser Weise
verstandenes gutes Leben ein moralisch gutes zu
sein hat. Dagegen möchte ich unterstellen, dass ein
Facetten der Rede von einem gutes Leben zwar nicht unbedingt ein glückliches
›guten Leben‹ Leben sein muss, aber kein gänzlich unglückliches
sein kann.
Die Rede von einem ›guten Leben‹ ist schillernd. Sie
kann auf Individuen oder auf Kollektive bezogen
werden, wobei es hier – wie üblich – um das indivi- Hedonistische Ansätze
duelle gute Leben gehen soll. Problematischer ist
eine andere Ambivalenz: Inspiriert von antiken eu- Die Affinitäten zwischen einem guten und einem
dämonistischen Ethiken verstehen viele unter einem glücklichen Leben legen zunächst hedonistische Po-
guten Leben ein glückliches Leben. Ein Leben kann sitionen nahe, wie sie bereits in der Antike (Epikur)
jedoch auch in anderen Hinsichten als gut bewertet und später von den klassischen Utilitaristen (Jeremy
werden. Meistens wird dabei an seine moralische Bentham, John Stuart Mill, Henry Sidgwick) vertre-
Qualität gedacht; ein Schurke mag ein glückliches ten wurden.
Leben führen können, aber kein moralisch gutes. In Hedonisten beantworten die Frage nach einem
manchen Diskussionen wird der Glücksbegriff stark guten Leben in erster Näherung so, dass sie ein gutes
erweitert, um Konflikte wie die zwischen Moral und Leben mit einem lustvollen Leben oder einem Le-
Glück möglichst auszuschließen. Ähnliches lässt ben, dessen wir uns erfreuen, gleichsetzen. Dies ist
sich bei der Verwendung verwandter Begriffe wie eine axiologische, keine psychologische These. Der
›Wohl‹ oder ›Wohlergehen‹ (englisch well-being psychologische Hedonismus behauptet, dass Men-
oder auch welfare) beobachten. Sinnvoller dürfte es schen in all ihrem Tun letztlich auf ihre eigene Lust
sein, die Rede von einem ›guten Leben‹ entweder oder Freude aus sind, was weder alltagspsycholo-
tatsächlich mit der vom ›Glück‹ oder vom ›Wohl‹ zu gisch noch vor dem Hintergrund der biologischen
identifizieren, dann aber ›Glück‹ und ›Wohl‹ enger und sozialen Funktion altruistischer Verhaltenswei-
zu verstehen, oder ein gutes Leben als ein ideales Le- sen zu überzeugen vermag. Der axiologische Hedo-
ben aufzufassen, das in keiner relevanten Hinsicht nismus als eine Aussage darüber, was nicht-instru-
als defizient kritisiert werden kann. Die erste Vari- mentell gut ist, ist jedoch vom psychologischen He-
ante ist insbesondere für diejenigen attraktiv, die donismus unabhängig. Selbst wenn wir nach
Glück oder Wohlergehen für das einzige Gut halten, anderem als Lust oder Freude strebten, könnte das
das (nur) um seiner selbst willen erstrebenswert ist; Erlangen von Lust oder Freude doch das Einzige
die zweite Variante liegt für diejenigen näher, die sein, was intrinsisch wertvoll ist.
von einer Pluralität intrinsischer Güter ausgehen. Wie viel für diese Auffassung spricht, hängt nicht
Mit dieser Differenz wird zuweilen eine andere ver- zuletzt vom genaueren Verständnis von ›Lust‹ oder
8. Gutes Leben 175

›Freude‹ ab. Viele Hedonisten meinen damit dis- hat, sein Leben auch für ihn nicht besser, sondern
tinkte Bewusstseinsphänomene, die sich auf eine be- schlechter macht.
sondere, nur aus der Innenperspektive erlebbare Die Kritik an Formen eines ganz auf distinkte
Weise anfühlen. Das in sich Gute soll die Gefühls- Lustempfindungen abstellenden Hedonismus kann
qualität der Lustempfindung sein, die sich ganz un- partiell von anderen Spielarten des Hedonismus auf-
terschiedlichen Ursachen – einem guten Essen, dem gefangen werden. So plädiert Fred Feldman für ei-
Hören von Musik, einem anregenden Gespräch oder nen »attitudinal« im Unterschied zu einem »sensory
auch dem Umgang mit avancierten Techniken – ver- hedonism« (Feldman 2004, 4. Kap.). In diesem Fall
danken kann. Die Güte eines Lebens wird dann an werden Lust und Freude als ›gerichtete‹ Einstellun-
seiner Lustbilanz bemessen, also grob daran, wie gen gefasst, in denen wir etwas positiv evaluieren.
viele, wie dauerhafte und wie intensive Lustempfin- Für ein gutes Leben ist danach nicht entscheidend,
dungen es enthält und wie sehr diese Empfindungen wie viel Lust es enthält, sondern ob wir uns an ihm
Unlustempfindungen überwiegen. und an dem, womit wir uns beschäftigen, freuen.
Doch selbst wenn ein freudloses und von Schmer- Die Freude über das, was uns begegnet, und die Zu-
zen geprägtes Leben schwerlich ein für die Person, friedenheit mit dem eigenen Leben scheinen tat-
die es lebt, gutes und sicherlich kein glückliches Le- sächlich von der Menge und Intensität lustvoller
ben sein kann, sieht sich ein Hedonismus, der nur Empfindungen weitgehend entkoppelt und doch
distinkte hedonische Bewusstseinserlebnisse für in- wesentlich für unser Glück zu sein. Eine Konzeption
trinsisch gut hält, erheblichen Einwänden ausge- des Glücks wird insofern nicht auf Anleihen bei he-
setzt. Einige Kritiker bezweifeln schon die Existenz donistischen Ansätzen verzichten können. Und mei-
distinkter Lustempfindungen. Gibt es wirklich et- nen wir, dass zu einem für die Person selbst guten
was, was dem Essensgenuss, der Freude an Musik, Leben notwendig gehört, dass es wenigstens ein
der Anregung durch ein Gespräch, dem Ausprobie- halbwegs glückliches Leben ist, wird auch eine über-
ren neuer Computerspiele usw. gemein ist? Andere zeugende Konzeption eines guten Lebens hedonisti-
Kritiker weisen darauf hin, dass es uns nur selten sche Elemente integrieren müssen.
primär um positive Empfindungen geht. Für das, Allerdings provoziert der ›attitudinale‹ Hedonis-
was uns wichtig ist, können wir erhebliche Schmer- mus seinerseits wichtige Einwände. Schwierig er-
zen in Kauf nehmen, ohne es später bereuen zu müs- scheint die Abgrenzung der gerichteten Freude von
sen. Meist sind gerade die Tätigkeiten, mit denen wir Wünschen und Werturteilen einerseits und von sen-
uns am stärksten identifizieren, mit Anstrengungen sorischen Freuden andererseits. Mit dem eigenen
und Frustrationen verbunden. Und es gibt ja selbst Leben zufrieden zu sein, muss mehr meinen, als dass
Lebensentwürfe, die das Leiden gutheißen, sofern es es das Leben ist, das man sich wünscht oder für gut
nur als ein sinnvolles betrachtet werden kann. erachtet. Aber wenn das, was hinzukommt, wieder
Der wohl stärkste Einwand besagt, dass ein kon- eine Form sinnlicher Freude ist, könnte der ›attitudi-
sequenter Hedonist bereit sein muss, Täuschungen nale‹ Hedonismus im Kern mit dem ›sensorischen‹
und Manipulationen zu billigen, sofern sie die rich- zusammenfallen. Noch bedeutsamer ist, dass auch
tige Menge an Lustempfindungen hervorrufen. Zur der ›attitudinale‹ Hedonismus anfällig für Einwände
Illustration hat Robert Nozick das Gedankenexperi- ist, wie sie sich aus Nozicks Gedankenexperiment ei-
ment einer Maschine entworfen, die uns die befrie- ner Erlebnismaschine ergeben. Schließlich könnten
digendsten Erlebnisse durch die Erzeugung perfek- auch unsere Freude an Dingen und Tätigkeiten so-
ter Illusionen bereiten könnte (Nozick 1974, 42 ff.). wie unsere Zufriedenheit mit dem eigenen Leben auf
Viele würden sich einer solchen Maschine nicht an- problematischen Illusionen beruhen.
schließen wollen, weil ihnen am Kontakt zur Realität
liegt. Für sie kann ein gutes Leben nicht vollständig
auf Illusionen beruhen und auch nicht mit der Passi- Wunschtheorien
vität eines bloßen Objekts von Empfindungsstimula-
tionen in Einklang gebracht werden (zu ähnlichen Wunschtheorien eines guten Lebens lassen sich als
Bedenken gegen technische Visionen wie das Ubi- Reaktion auf Schwächen des Hedonismus rekon-
quitous Computing, s. auch Kap. V.25). Wer meint, struieren. In der neueren Diskussion haben sie einen
ein gutes Leben dürfe kein moralisch verwerfliches wichtigen Impuls durch das Aufkommen der Wohl-
sein, wird darüber hinaus geltend machen, dass die fahrtsökonomik erhalten, die Präferenzen für em-
Lust, die ein sadistischer Folterer an seinem Treiben pirisch überprüfbarer hält als Lustempfindungen.
176 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Wunschtheorien, wie sie z. B. von John Rawls (1971, Wunsch nach immer schnelleren Autos bis zu süch-
7. Kap.), Richard Brandt (1979) und James Griffin tig machenden Computerspielen, s. auch Kap. V.3).
(1986) vertreten werden, behaupten in einer ersten Informiert und rational sollen etwa solche Wünsche
Annäherung, dass ein Leben gut für die Person ist, sein, die auch Bestand hätten, wüsste der Wün-
wenn sie bekommt, was sie wünscht und will. schende über die Umstände ihrer Realisierung hin-
Diese Herangehensweise ist attraktiv, weil sie die reichend Bescheid. Nur können sich stark ideali-
aktive Seite unseres Lebens stärker betont als der sierte Informationsanforderungen so weit von den
Hedonismus. Wir sind Wesen, die ein Leben führen, faktischen Wünschen der Person entfernen, dass
indem sie ihren Wünschen entsprechende Ziele und zweifelhaft wird, ob das Leben, das die Person füh-
Projekte verfolgen. Ob wir erreichen, was wir uns ren würde, hätte sie aufgrund viel größeren Wissens
vornehmen, ist für unser Wohl eminent wichtig. Da ganz andere Wünsche, noch ihr Leben wäre. Andere
Menschen ganz unterschiedliche Wünsche und Ziele Informations- und Rationalitätskriterien ziehen un-
haben, kann die Wunschtheorie auch gut die Plurali- ter der Hand Bewertungsstandards heran, die nicht
tät von Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen, er- mehr die der Person selbst sind. So möchten viele
klären. Zugleich muss sie nicht bestreiten, dass es Autoren neurotische Wünsche ausschließen und
sehr allgemeine Ziele geben kann, an denen allen Wünsche in angemessenen Werturteilen fundiert se-
Menschen gelegen ist. Vor allem aber könnte die hen (Fenner 2007, 63 ff.). Wieder andere begreifen
Wunschtheorie helfen, den Sinn, in dem ein Leben rationale Wünsche als Teil »sinnvoller Lebenskon-
›gut für‹ jemanden ist, zu erhellen. Sie macht sich an zeptionen« (Seel 1995, 93) oder empfehlen, solche
der Intuition fest, dass ein Leben in anderer Weise Wünsche zu favorisieren, »deren Verwirklichung die
gut für eine Person ist als es gut für eine Pflanze ist, reichere Erfüllung verspricht« (ebd., 92). Doch da-
gegossen zu werden, und gut für eine Maschine, ge- mit werden die Grenzen von Wunschtheorien ent-
ölt zu werden. Im ›gut für‹ scheint ein Bezug auf die weder in Richtung auf objektivistische Konzeptio-
Bewertungsperspektive der Person angezeigt zu wer- nen oder auf hedonistische Ansätze überschritten.
den; die Person muss sich mit ihrem Leben identifi- Die Bestimmung eines guten Lebens über die
zieren können, und es liegt nahe, dies über die Struk- Verwirklichung aufgeklärter Wünsche läuft in ein
tur ihres Willens zu erläutern (vgl. Frankfurt 1988). Dilemma. Entweder führt sie Maßstäbe wie Wert-
Indessen kann auch die Wunschtheorie in keiner haftigkeit, Normalität oder affektive Befriedigung
ihrer zahlreichen Varianten als umfassende Theorie ein, die dem Wünschen als solches äußerlich blei-
eines guten Lebens überzeugen. Die simple Version, ben. Oder sie stellt es tatsächlich dem Einzelnen an-
die das Gelingen eines Lebens als Funktion von An- heim, wie er mit zusätzlichen Informationen über
zahl und Gewicht der erfüllten Wünsche der Person die Gegenstände seines Wünschens umgeht. Dann
begreift, geht offenkundig in die Irre. Viele unserer gibt es jedoch keine Garantie dafür, dass die Erfül-
Wünsche sind zu flüchtig, um die Qualität unseres lung seines informierten Wünschens ihm zuträglich
Lebens zu beeinflussen, andere sind so verfehlt, dass ist. Für dieses Dilemma ist es im Übrigen gleichgül-
ihre Erfüllung für unser Leben desaströs wäre. Dar- tig, ob es in einer Wunschtheorie tatsächlich um
über hinaus ignoriert die bloße Addition von Wünsche geht oder um andere Willensphänomene
Wunschbefriedigungen die Relevanz der Verlaufs- wie Präferenzen, Absichten, Ziele oder Zwecke.
form eines Lebens, für die es wichtig sein kann, wie
die Wünsche einer Person zusammenhängen und in
welcher Reihenfolge sie erfüllt oder frustriert wer- Objektivistische Ansätze
den.
Manche Wunschtheoretiker gehen daher nicht Als Alternative zu hedonistischen Ansätzen und
von lokalen Wünschen aus, die einzelnen Zuständen Wunschtheorien werden objektivistische Konzeptio-
in der Welt gelten, sondern von globalen Wünschen, nen ins Spiel gebracht. Grob besagen sie, dass es den
die sich auf größere Einheiten des eigenen Lebens Einstellungen des Subjekts vorgängige Maßstäbe
oder darauf, wie man insgesamt leben möchte, be- gibt, an denen sich bemisst, ob ein Leben gut für je-
ziehen (vgl. Parfit 1984, 497). Andere formulieren manden ist.
Informationsanforderungen, die verhindern sollen, Eine Reihe von Autoren arbeitet mit Listen von
dass Wünsche fehlgeleitet sind und ihre Erfüllung Gütern, ohne die es kein gutes Leben geben könne.
dem Betroffenen selbst schadet (Beispiele dafür fin- Großen Anklang hat der von Amartya Sen und Mar-
den sich gerade im Feld neuer Techniken vom tha Nussbaum erarbeitete capability approach gefun-
8. Gutes Leben 177

den, der gegen utilitaristische Wohlfahrtskonzepte auch von der individuellen Natur und von sozialen
die Wichtigkeit von Funktionen (functions) und Be- Erfordernissen eingehen, ist schwer von der Hand zu
fähigungen (capabilities) für jemandes Wohl betont. weisen. Eltern, die die geistige Entwicklung ihrer
Funktionen sind die Tätigkeiten und Verfassungen, Kinder künstlich beschränkten, weil diese so ein
die eine Person realisiert, unter Befähigungen wer- lustvolleres Leben hätten oder weniger unter der
den einerseits (interne) Anlagen von Personen ver- Frustration ihrer Wünsche litten, würden selbst
standen, andererseits (externe) Freiheiten und Mög- dann als irregeleitet verurteilt werden, wenn ihre
lichkeiten zur Ausübung von Funktionen. Basale Annahmen über Lust und Wunscherfüllung zuträ-
Funktionen sind z. B. gesund und minimal gebildet fen. Gleichwohl bleibt zu fragen, ob objektivistische
zu sein, denen sich entsprechende Befähigungen in Konzeptionen in der Lage sind, den besonderen
Form innerer Dispositionen und äußerer Realisie- Sinn des ›gut für‹ zu erfassen, der die Rede von ei-
rungsoptionen zuordnen lassen. Nussbaum hat eine nem ›guten Leben für jemanden‹ zu tragen scheint.
Liste von Befähigungen erstellt, in der Fähigkeiten Implizit sind sie am Modell physischer Gesundheit
wie die zur Ausübung der praktischen Vernunft, zur ausgerichtet. Jemand kann sich gesund fühlen, ohne
Pflege freundschaftlicher Verbindungen, zur Anteil- es doch zu sein, und er kann sich krank wähnen, ob-
nahme an der Natur und die Gelegenheit zum Spie- wohl er kerngesund ist. Aber ein Mensch, der die
len auftauchen (Nussbaum 2011, 2. Kap.). Auf dieser menschentypischen Fähigkeiten in großer Breite
Ebene benennen objektivistische Konzeptionen des und ungewöhnlicher Höhe verwirklichte, sich dabei
Guten jedoch allenfalls notwendige Voraussetzun- aber unglücklich fühlte, führte kein gutes Leben
gen für ein gutes Leben und stehen nicht unbedingt (man denke etwa an vielseitig begabte Personen, die
in Konkurrenz zu Wunschtheorien und zum Hedo- ihr Leben dennoch als leer empfinden). Und je-
nismus. Solange sie keine Auskunft über den Grund mand, der zufrieden ist, kann ein gutes Leben füh-
der Güterauswahl geben, können sie auch als Versu- ren, obwohl seine Kompetenzen recht eingeschränkt
che verstanden werden, typische Realisierungsbe- sein mögen; dass er notwendig ein besseres Leben
dingungen für unsere Ziele (so konzipiert Rawls führte, würde er seine Potentiale ganz ausschöpfen
seine ›Grundgüter‹) oder verbreitete Quellen von oder hätte er überhaupt größere Fähigkeiten, er-
Zufriedenheitsgefühlen namhaft zu machen. scheint zweifelhaft (man denke an Menschen, die
Im Bestreben, eine eigenständige theoretische sich in einem sehr beschränkten Tätigkeitskreis be-
Grundlage zu liefern, orientieren sich viele Vertreter wegen, sich aber in ihrer Umwelt aufgehoben füh-
objektivistischer Konzeptionen an teleologischen len). Allem Anschein nach ist hier die subjektive Be-
und perfektionistischen Ideen, die in der Nachfolge wertung selbst konstitutiv für das Gutsein des eige-
von Aristoteles ein gutes Leben an die Entfaltung ex- nen Lebens. Bei Pflanzen und Tieren mögen die
emplarischer Fähigkeiten binden, in denen sich das Urteile darüber, ob ein Wesen arttypischen Anforde-
›Wesen‹ oder die ›Natur‹ des Menschen manifes- rungen genügt, und die Einschätzung dessen, was
tiere. So wie Pflanzen und Tiere ›gediehen‹, wenn sie gut für es ist, leicht zur Deckung zu bringen sein. Bei
den Anforderungen ihrer artspezifischen Lebens- Wesen mit eigenem subjektiven Standpunkt, eige-
form gerecht würden, so gebe es auch eine typische nen Wünschen und Gefühlen, Zielen und Werten,
Lebensform für den Menschen, von dessen Verwirk- kann beides auseinandertreten (vgl. Sumner 1996,
lichung abhänge, ob er ein gutes Leben führe (vgl. 79).
Kraut 2007, 3. Kap.; Foot 2001). Diese Grundidee Am aussichtsreichsten dürften hybride Konzepti-
lässt sich variieren. Statt auf die Entfaltung der Gat- onen eines guten Lebens sein, die Elemente aller drei
tungsmerkmale zu setzen, kann die Realisierung Grundansätze verbinden. So könnten wir ein Leben
und Differenzierung der je individuellen Potentiale gut nennen, wenn die Person, die es führt, die Ziele,
zum Kern eines guten Lebens erklärt werden, wie es Ideale und Beziehungen, die ihr am Herzen liegen,
in Theorien der Selbstverwirklichung geschieht (vgl. auf eine sie emotional befriedigende Weise realisiert
z. B. Gewirth 1998). Oder es können die Tätigkeiten, und das, was für sie zählt, auch wert- und sinnvoll ist
in denen jemand sein Leben vollzieht, im Licht nicht (vgl. Raz 1986, Kap. 12; Steinfath 2001, Kap. 7). Auch
der allgemein menschlichen, sondern der spezifisch eine derartige Bestimmung bleibt allerdings solange
kulturellen Lebensform, also anhand sozial geteilter unvollständig, wie nicht ausgeführt wird, was etwas
Maßstäbe, beurteilt werden (vgl. MacIntyre 1981). ›wert-‹ oder ›sinnvoll‹ macht.
Dass in die Bewertung von eigenem und frem-
dem Leben Vorstellungen von der menschlichen wie
178 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Moral, Politik, Technik sche Umgestaltung der Welt und des menschlichen
Lebens selbst für ein verfehltes Leben, etwa weil sie
Auf Theorien eines guten Lebens wird in einer Reihe Ausdruck von Herrschaftsstreben sei oder zur Ent-
von Diskursen Bezug genommen. In der Moralphi- fremdung von der äußeren und inneren Natur führe.
losophie sind Spielarten eines welfarism verbreitet, Motive einer radikalen Technikkritik finden sich
dem zufolge moralische Regeln und Verpflichtungen heute vor allem in der Naturethik (s. Kap. IV.C.2)
durchgängig darauf abzielen sollten, das Wohler- und in den Auseinandersetzungen um avancierte
gehen von Individuen zu fördern (Sumner 1996, Techniken wie die Gentechnik (s. Kap. V.7). Die
7. Kap.). Seine bekannteste Ausprägung hat der wel- deutlichste Verbindung von technikskeptischen
farism im klassischen Utilitarismus gefunden, für den Sichtweisen und Vorstellungen von einem guten Le-
die moralische Richtigkeit einer Handlung allein ben dürfte dabei in den Kontroversen um die Ein-
daran zu bemessen ist, ob sie das (hedonistisch ver- schätzung technikgestützter Maßnahmen zum ›En-
standene) Glück aller von ihnen Betroffenen maxi- hancement‹ des Menschen anzutreffen sein (s. Kap.
miert (s. Kap. IV.B.4). Eine Moral im Dienst der Be- V.8).
förderung eines guten Lebens von Menschen (und
eventuell auch von Tieren) muss aber keine utilita- Literatur
ristische sein. So kann der Sinn starker individueller Brandt, Richard: A Theory of the Good and the Right. Ox-
Rechte, die utilitaristische Nutzenaggregationen ford 1979.
über Individuengrenzen hinweg verbieten, in der ge- Feldman, Fred: Pleasure and the Good Life. Oxford 2004.
rechten Sicherung eines guten Lebens für die Rechts- Fenner, Dagmar: Das gute Leben. Berlin 2007.
träger gesehen werden. Eine etwas schwächere Posi- Foot, Philippa: Natural Goodness. Oxford 2001.
Frankfurt, Harry: The Importance of What We Care About.
tion glaubt uns nicht dazu verpflichtet, anderer
Cambridge 1988.
Menschen Glück und gutes Leben zu steigern oder Gewirth, Alan: Self-Fulfillment. Princeton 1998.
sicherzustellen, sondern lediglich dazu, sie in der Griffin, James: Well-Being. Oxford 1986.
Weise zu achten, dass sie auf selbstbestimmte Weise Kraut, Richard: What Is Good and Why. The Ethics of Well-
ein gutes Leben zu führen versuchen können (vgl. Being. Cambridge, Mass. 2007.
Raz 2004). MacIntyre, Alasdair: After Virtue. London 1981.
Moore, George Edward: Principia Ethica. Cambridge 1993.
Den moralphilosophischen Ansätzen, die diesbe- Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia. Oxford 1974.
züglich vertreten werden, korrespondieren Positio- Nussbaum, Martha: Creating Capabilities. The Human De-
nen in der Politischen Philosophie. Aus liberaler velopment Approach. Cambridge, Mass. 2011.
Sicht soll sich der Staat neutral gegenüber verschie- Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford 1984.
denen Konzeptionen eines guten Lebens verhalten Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971.
– : Political Liberalism. New York 1993.
(vgl. Rawls 1993, V. § 5; s. Kap. IV.B.7). Die Achtung Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford 1986.
vor den Einzelnen könnte jedoch die Aufgabe ein- – : The role of well-being. In: Philosophical Perspectives 18
schließen, die Chancen auf ein gutes Leben dadurch (2004), 269–284.
zu erhöhen, dass gezielt als wertvoll erachtete Le- Scanlon, Thomas: What We Owe to Each Other. Cam-
bensmöglichkeiten bereitgestellt werden, etwa durch bridge, Mass. 1998.
Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt
die Förderung einer reichen Kultur oder den Erhalt a. M. 1995.
einer vielfältigen Natur. Steinfath, Holmer: Orientierung am Guten. Frankfurt a. M.
Was die Technik betrifft, so hat sie auf den ersten 2001.
Blick lediglich eine instrumentelle Funktion hin- – : Theorien des guten Lebens in der neueren (vorwiegend)
sichtlich eines guten Lebens; im günstigen Fall si- analytischen Philosophie. In: Dieter Thomä/Christoph
Henning/Olivia Mitscherlich-Schönherr (Hg.): Glück.
chert sie das Überleben und erleichtert das Leben, Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2011,
im ungünstigen Fall gehen von ihr Gefahren für Leib 296–302.
und Leben aus. Man kann in der Technik allgemein Sumner, Wayne: Welfare, Happiness, and Ethics. Oxford
oder in bestimmten Techniken jedoch auch eine be- 1996.
sondere Weise des Weltzugangs und Lebensvollzugs Holmer Steinfath
sehen. In einer affirmativen Sicht ließe sich die Tech-
nik dann als eine Gestaltungsleistung betrachten, die
dem menschlichen Leben Sinn und Wert verleiht
und so Teil eines guten Lebens ist. Dagegen steht in
einer technikkritischen Sicht die expansive techni-
179

9. Gerechtigkeit Die Grundrelation der Gerechtigkeit/


Gerechtigkeit im weiteren Sinn
Die Frage nach der Gerechtigkeit wurde in der An- Die Grundrelation der Gerechtigkeit besteht zwi-
tike vor allem als Frage nach dem tugendhaften Le- schen wenigstens zwei ethisch zu berücksichtigen-
ben und Handeln verstanden (Platon 1973a, 508, den Individuen A und B. (Ob dies neben Personen
1973b, 327a ff.; Aristoteles 1980, 1129a1 ff.). In der und Personengemeinschaften auch Tiere, nicht-
Gegenwart wird dagegen stärker die politische und menschliche Lebewesen oder sogar weitere Entitä-
soziale Gerechtigkeit thematisiert (Rawls 1979; ten wie Berge, Flüsse oder Ökosysteme sein können,
Höffe 1987; Miller 2008). Diese einzelnen histori- ist eine Frage der Ökologischen Ethik, die hier nicht
schen Akzentuierungen dürfen jedoch nicht über weiter erörtert werden kann.)
den grundsätzlichen Charakter der Gerechtigkeit als
Teil der allgemeinen Ethik hinwegtäuschen. A B
Moral, Technik, Recht, Religion, Politik und Me-
dizin sind primäre Normordnungen, die wirklich Im Fall dieser Grundrelation kann von ›allgemeiner
sind und uns im Handeln direkt verpflichten. Die Behandlungsgerechtigkeit‹, von ›Gerechtigkeit im
Ethik ist dagegen eine sekundäre Norm- und Wert- weiteren Sinn‹ oder – klassisch – von iustitia univer-
ordnung mit idealischem Charakter und muss daher salis oder iustitia generalis gesprochen werden (Aris-
nicht faktisch bestehen. Sie hat die Aufgabe, primäre toteles 1980, 1130b6 ff.; Thomas von Aquin 1953, qu.
Verpflichtungen zu begründen und zu kritisieren 58, 6, 7). Ein Beispiel für einen Fall der allgemeinen
(von der Pfordten 2010, 1 ff.; s. Abb. 1). Behandlungsgerechtigkeit bzw. -ungerechtigkeit be-
Diese Begründungs- und Kritikfunktion erfüllt steht, wenn A B schädigt.
die Ethik unter anderem mithilfe des Begriffes der Wie unterscheidet sich diese allgemeine Behand-
›Gerechtigkeit‹, an dem die primären Normord- lungsgerechtigkeit oder Gerechtigkeit im weiteren
nungen gemessen werden. Die Gerechtigkeit ist da- Sinn von der Ethik im Ganzen? Gegenüber der Ethik
bei notwendig auf andere Personen bzw. zu berück- im Ganzen ist die Gerechtigkeit dadurch einge-
sichtigende Entitäten bezogen, was schon klassische grenzt, dass sie »drei Fragestellungen« ausnimmt
Autoren wie Platon (1973a, 507a10), Aristoteles (von der Pfordten 2007, 169): Erstens umfasst die
(1980, 1129b25 ff.) und Thomas von Aquin (1953, Gerechtigkeit keine reinen Fragen des guten Lebens
qu. 57, 1; 58, 2) hervorgehoben haben. Gerecht kann (s. Kap. IV.B.8) die andere nicht moralisch oder
man sich also nur gegenüber anderen verhalten, nicht rechtlich betreffen und die nicht zu kategorischen
aber gegenüber einer Sache oder einer Situation. Ge- Pflichten führen. Ein Beispiel für eine solche Frage
rät man etwa in eine Lawine, vermag man zwar klug, des guten Lebens wäre etwa diejenige, ob man Beet-
mutig oder tapfer, nicht aber gerecht zu handeln. Al- hoven oder die Beatles hören will. Zweitens betrifft
lerdings muss sich die Gerechtigkeit gegenüber an- die Frage der Gerechtigkeit aufgrund ihres notwen-
deren immer auf etwas richten. Sie ist also jeweils digen Bezugs auf andere keine Pflichten gegen sich
auch auf einen Charakter, eine Handlung, einen Zu- selbst. Und drittens umfasst die Frage der Gerechtig-
stand oder eine Institution orientiert und damit dop- keit keine überpflichtgemäßen (sog. supererogatori-
pelt relational. schen) Handlungen.

Ethik

Moral Technik Religion Politik Recht Medizin


Abb. 1
180 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Wozu führt die ethische Forderung nach einer Statt nach der Gerechtigkeit der jeweils isolierten
Gerechtigkeit der Technik? Grundsätzlich fordert Handlung wird dann zusätzlich nach der Gerechtig-
die Ethik bzw. Gerechtigkeit eine Verantwortung der keit des Verhältnisses beider Handlungen, also des
Techniker und Ingenieure, aber auch der Politiker, Tauschs gefragt. Kauft A beispielsweise von B ein
der Anwender und sonstiger Entscheidungsträger Auto, so sind die einfachen Handlungen der Über-
für andere Betroffene (s. Kap. II.6). Die Technik gabe des Wagens und des Geldes mit Blick auf die
kann dabei nicht als wertfrei angesehen werden (s. allgemeine Gerechtigkeit jeweils ohne weiteres posi-
Kap. IV.A.11). Sie eröffnet sowohl positive als auch tiv zu bewerten. Im Rahmen der Tauschgerechtig-
negative Möglichkeiten und unterliegt bereits inso- keit wird aber zusätzlich gefragt, ob dieser Kauf ein
fern einer ersten, wenn auch noch nicht abschlie- gerechter Tausch ist, d. h. ob Kaufpreis und Sachwert
ßenden Bewertung. Die Verantwortung für Andere in einem gerechten, d. h. gleichen Verhältnis zuein-
konkretisiert sich zu einem allgemeinen Verbot der ander stehen. Ist der Kaufpreis etwa wesentlich hö-
Schädigung und Gebot der Hilfe mittels der Technik. her, so hat B A ›übers Ohr gehauen‹, also im Aus-
Allerdings ist häufig eine Abschätzung der Wahr- tausch ungleich und damit ungerecht behandelt.
scheinlichkeit bzw. des Risikos einer Schädigung
bzw. Hilfe notwendig (Nida-Rümelin 2005, 866; s. A B
Kap. II.2).

Die Gerechtigkeit zwischen drei oder mehr Personen:


Die Gerechtigkeit im engeren Sinn Kommt zu dieser Beziehung eine dritte Entität
hinzu, ergeben sich zwei Alternativen: Die dritte En-
Neben der allgemeinen Gerechtigkeit kann man fol- tität C kann entweder eine weitere Person oder eine
gende Formen der Gerechtigkeit im engeren Sinn Personengemeinschaft sein (s. Abb. 2).
unterscheiden: Ist C eine weitere einzelne Person, kann sie wie-
Die Tauschgerechtigkeit: Die Tauschgerechtigkeit derum zwei unterschiedliche Stellungen haben: C
steht in Rede, wenn die einfachen Verhältnisse der kann beispielsweise eine normale Teilnehmerin am
Behandlungsgerechtigkeit zwischen den Individuen Wirtschaftsleben sein. Kauft sie ihre technischen Ar-
tikel immer beim Geschäft A und nie beim Geschäft
B, behandelt sie A und B zwar ungleich, nach unse-
A B
rer Auffassung aber nicht ungerecht (1). Ist C dage-
gen die Mutter der Kinder A und B und schenkt sie
A und B über das ›Prinzip der Gleichheit‹ verbun- nur A, nicht aber B einen Laptop, behandelt sie A
den werden, so dass eine Relation zweiter Stufe ent- und B ungleich und nach unserer Auffassung auch
steht. ungerecht (1*).

(1)v(1*) (1)v(1*)

A B
(1)
Abb. 2
9. Gerechtigkeit 181

Woraus resultiert dieser Unterschied? Im zweiten bei der A und B zur Gemeinschaft beitragen (2), und
Fall ist C die Mutter von A und B, so dass zwischen zum anderen die soziale Gerechtigkeit, bei der die
A, B und C eine Personengemeinschaft existiert, wo- Gemeinschaft A und B in bestimmter Art und Weise
raus sich eine starke Verantwortung von C für ihre behandelt, etwa Güter an sie verteilt (3) (s. Abb. 3).
Kinder ergibt. Im ersten Fall steht C dagegen zu den Die Beitragsgerechtigkeit: Die Beitragsgerechtig-
einzelnen Geschäftsinhabern in keiner Gemein- keit ist bereits von Platon und Thomas von Aquin
schaft, womit dieser Grund der Verantwortung von analysiert worden (Platon 1973b, 433a; Thomas von
C für das Geschäft von B entfällt. Aquin 1953, qu. 58, 6, 9 ad 3) und manifestiert sich
Diese Verschiedenheit rechtfertigt die unter- heute etwa in der Frage nach der Steuergerechtig-
schiedlichen Anforderungen der Gerechtigkeit in keit. Dürfen etwa technische Unterschiede für die
beiden Fällen: In Personengemeinschaften wird er- Besteuerung relevant sein? Ist es z. B. gerecht, Autos
wartet, die einzelnen Mitglieder auch jenseits der mit Otto-, Diesel- und Elektromotor unterschiedlich
bloßen Tauschgerechtigkeit einzelner Tauschver- zu besteuern? Was rechtfertigt es, eine Technik wie
hältnisse gerecht bzw. gleich zu behandeln. Dann be- die Atomtechnik zusätzlich mit einer Brennelemen-
steht also eine Relation zweiter Stufe der Gerechtig- testeuer zu belasten und andere Techniken der Ener-
keit, die eine Gleichbehandlung der einzelnen Mit- giegewinnung wie die Solartechnik und die Wind-
glieder durch die Gemeinschaft fordert. energietechnik steuerlich oder durch Subventionen
Die Gerechtigkeit in Personengemeinschaften: Ist zu entlasten (s. Kap. V.5)? Die Gründe liegen nicht in
die dritte Entität keine einzelne Person, sondern eine der Technik selbst, sondern in bestimmten politi-
Personengemeinschaft, hat dies zwei Folgen: Zum schen Zielen und Bewertungen dieser Technik.
einen sind die Relata und damit die Relationen der Die soziale Gerechtigkeit: Bei der sozialen Gerech-
einfachen, jedoch dreipoligen Behandlungsgerech- tigkeit wird dagegen nach der Handlung der Ge-
tigkeit ungleich. Zum anderen ergibt sich notwendig meinschaft gegenüber den einzelnen Mitgliedern
das zusätzliche Problem der Gleichbehandlung der gefragt. Auch die soziale Gerechtigkeit – klassischer-
Mitglieder durch die Gemeinschaft, also das Pro- weise als iustitia distributiva bezeichnet – wurde be-
blem der Gerechtigkeit als interpersonale Gleich- reits von Platon angedeutet und später von Aristote-
heit. Eine Gemeinschaft ist ihren Mitgliedern gegen- les eingehend beschrieben (Platon 1973b, 433e12;
über also grundsätzlich ähnlich wie eine Mutter ih- Aristoteles 1980, 1130b33 ff.; Thomas von Aquin
ren Kindern gegenüber verantwortlich. 1953, qu. 61, 1 ff.). Allerdings erscheint die Bezeich-
Im Übrigen findet auch kein bloßer Tausch mehr nung als iustitia distributiva – oder in der Überset-
zwischen Person A und der Gemeinschaft und Per- zung ›Verteilungsgerechtigkeit‹– als zu eng. Denn
son B und der Gemeinschaft statt. Vielmehr lassen diese Relation betrifft nicht nur die Verteilung von
sich nun zwei verschiedene Arten der Gerechtigkeit Gütern, sondern jede Handlung, also etwa auch die
unterscheiden: Zum einen die Beitragsgerechtigkeit, Anerkennung von vorgemeinschaftlichen Men-

A+

(2) (3) (2) (3)

A B
(1)
Abb. 3
182 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

schenrechten sowie die Möglichkeit der Teilhabe an d. h. gleich verteilt sind, ob also jeder einen gerech-
der Gemeinschaft. Aus diesem Grund ist der Aus- ten, somit prinzipiell gleichen Beitrag leistet und ob
druck ›soziale Gerechtigkeit‹ angemessener. Bei- jeder bei der Verteilung prinzipiell gleich berück-
spielhaft für eine heutige Diskussion der sozialen sichtigt wird, d. h., eine gerechte, also grundsätzlich
Gerechtigkeit steht etwa die Frage nach einer glei- gleiche oder zumindest gleichwertige Leistung er-
chen Versorgung mit medizinischen Techniken oder hält. Auch dies sind Gerechtigkeitsfragen zweiter
die sog. ›digitale Spaltung‹ der unterschiedlichen Stufe.
Versorgung mit einem Zugang zum Internet (s. Kap. Die korrigierende Gerechtigkeit: Ein wichtiger
V.10). Spezialfall der sozialen Gerechtigkeit einer Gemein-
Das Verhältnis von Beitrags- und sozialer Gerech- schaft ist die korrigierende Gerechtigkeit. Diese be-
tigkeit: Im Verhältnis von Beitrags- und sozialer Ge- zieht sich auf Korrekturen der Gemeinschaft gegen-
rechtigkeit ergeben sich sowohl auf intra- als auch über den Verhältnissen ihrer einzelnen Mitglieder.
auf interpersonaler Ebene Gerechtigkeitsfragen. Auf Das Prinzip der korrigierenden Gerechtigkeit be-
intrapersonaler Ebene stellt sich für jedes Indivi- herrscht einen Großteil des Zivilrechts, etwa wenn
duum das Problem der Tauschgerechtigkeit, also die der Staat verbietet, andere Personen durch Techni-
Frage, ob sein Beitrag zur Gemeinschaft und die ken zu schädigen oder wenn er ungerechte Vertrags-
Handlung bzw. Gabe der Gemeinschaft in einem an- beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern un-
gemessenen Verhältnis stehen. Diese Gerechtigkeits- terbindet (s. Abb. 4).
frage zweiter Stufe wird etwa bei der Renten- und Diese Beispiele werfen die Frage nach dem Um-
Arbeitslosenversicherung relevant. Der jeweilige Ar- fang einer solchen Korrektur auf. Soll der Staat etwa
beitsbeitrag muss gerecht vergolten werden. Mit Be- eine Wertäquivalenz zwischen Kaufpreis und Kauf-
zug auf Techniken stellt sich die Frage nach dem gegenstand anstreben? In freiheitlichen Gesellschaf-
Verhältnis von Begünstigung und Gefährdung bzw. ten gilt prinzipiell der Grundsatz der Vertragsfrei-
Belastung. Zahlungskräftige Konsumenten können heit. Jeder Geschäftsfähige ist für seine ökonomi-
etwa profitieren, während Arbeitnehmer und An- schen Entscheidungen selbst verantwortlich. Von
wohner gefährdet bzw. belastet werden. In diesem diesem Grundsatz sollte nur im Falle spezieller Ver-
Fall wären jedenfalls erhebliche Risiken für Leben tragsverhältnisse abgewichen werden, die für den
und Gesundheit der Betroffenen auszuschließen. Einzelnen lebenswichtig sind. Beispiele für die kor-
Gefährdungen und Einschränkungen von Hab und rigierende Gerechtigkeit finden sich vor allem im
Gut sowie der Freiheit müssten zumindest konsen- Miet- und Arbeitsrecht, etwa bei der Wuchermiete,
tiert und kompensiert werden. der Mieterhöhung und dem Mindestlohn.
Auf interpersoneller Ebene stellt sich die Frage,
ob Beiträge und Vergünstigungen zwischen den ver-
schiedenen Mitgliedern der Gemeinschaft gerecht,

A+

(2) (3) (2) (3)

(4)

A B
(1)
Abb. 4
9. Gerechtigkeit 183

Gerechtigkeitsfragen in der Technik Bei medizinischen Techniken wird man eine ge-
meinschaftliche Kostenübernahme erwarten müssen,
Eine Anwendung dieser Überlegungen auf die Tech- sofern es sich um echte, bereits praktizierten Behand-
nik kann folgendes Szenario verdeutlichen: Der Zu- lungsmethoden vergleichbare, therapeutische Mittel
gang der Bürger zu neuen medizintechnischen Ge- zur Wiederherstellung der Gesundheit handelt. An-
räten könnte sich aufspalten. Soll die politische Ge- ders sind bloße technische Hilfsmittel zu beurteilen,
meinschaft dann in den freien marktförmigen die in ihrer Wichtigkeit Brillen oder dem Zahnersatz
Austausch eingreifen? Ein solcher Eingriff könnte ähnlich sind. Keine Verteilung, also keine öffentliche
auf zwei Ebenen geschehen: Zum einen – wie bei der Kostenübernahme ist dagegen zu rechtfertigen, wenn
Korrektur unfairer Austauschverhältnisse  – auf der es um leistungssteigernde oder ästhetische Techniken
weniger eingriffsintensiven Ebene der korrigieren- geht, da auch sonstige Mittel dieser Art, etwa das
den Gerechtigkeit, zum anderen – wie bei der Ver- Training im Fitness-Studio, das leistungssteigernde
teilung im Gesundheitswesen – auf der eingriffsin- Getränk oder die sog. Anti-Aging-Behandlung nicht
tensiveren Ebene der sozialen Gerechtigkeit im en- von der Gemeinschaft getragen werden.
geren Sinn, also der Verteilungsgerechtigkeit. Unter Wie wäre es aber, wenn solche Techniken derart
welchen Bedingungen darf man etwa von der priva- leistungssteigernd wären, dass sie zur vollkomme-
ten Tauschgerechtigkeit zur staatlichen, korrigieren- nen Ungleichheit der Lebenschancen führten, wenn
den Gerechtigkeit bzw. von dieser zur staatlichen so- es etwa ein technisches Hilfsmittel gäbe, das zur Ver-
zialen Gerechtigkeit wechseln? Eine Antwort ist alles doppelung der Leistungskraft eines Arbeitnehmers
andere als evident. Es erscheint jedoch angemessen, führte, so dass dieser Arbeitnehmer mit diesem Mit-
in freien Gesellschaften vom Prinzip des freien tel allen anderen Arbeitnehmern auf dem Arbeits-
marktförmigen Austausches auszugehen, das hand- markt überlegen wäre (zu Human Enhancement s.
lungsfähige Individuen voraussetzt, die ihre eigenen Kap. V.8)? In diesem Fall könnte – wie beim kosten-
Interessen wahrzunehmen in der Lage sind. Nur im freien Schulunterricht  – die allgemeine Solidarität
Falle sehr wichtiger Belange oder Interessen wie bei- eine staatliche Finanzierung bzw. Verteilung dieses
spielsweise solche an Leben und Gesundheit gebietet Hilfsmittels gebieten.
die gesellschaftliche Solidarität primär eine Korrek- Neben der Verteilung kommt dem Staat die Auf-
tur und sekundär eine allgemeine Verteilung von gabe zu, einen allgemeinen Schutz vor Gefahren für
Begünstigungen und Belastungen. Im Fall medizin- Leben oder Gesundheit zwischen den Bürgern zu
technischer Geräte ist für den Übergang von freien gewährleisten, um eine signifikante Erhöhung des
Austauschverhältnissen zur staatlichen Korrektur allgemeinen Lebensrisikos zu verhindern. Für die
bzw. zur staatlichen Verteilung also die Lebens- bzw. Technik bedeutet dies, dass sehr gefährliche Pro-
Gesundheitsnotwendigkeit entscheidend (s. Kap. dukte nicht frei verkauft werden dürfen (etwa Waf-
V.14). Weniger eindeutig ist, ob staatliche Korrektur fen) und dass riskante Produktionsprozesse über-
bzw. Verteilung legitim wäre, wenn die Gefahr einer wacht werden müssen (vgl. als Beispiel die Syntheti-
genetischen Differenzierung zwischen Arbeit- oder sche Chemie, s. Kap. V.24).
Versicherungsnehmern durch gentechnische Dia-
gnosen oder Therapien drohte (s. Kap. V.7).
Zur Verteilung von Leistungen werden zahlreiche Mehrere Gemeinschaften
Prinzipien vorgeschlagen, etwa das Gleichheitsprin-
zip, das Maximierungsprinzip, das Differenzprinzip, Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich nicht nur
das Paretoprinzip oder das Suffizienzprinzip (von innerhalb einer Gemeinschaft, sondern auch zwi-
der Pfordten 2010a, 165 ff.). Anstatt unabhängig von schen mehreren Gemeinschaften. Gemeinschaften
der konkreten Situation für ein allgemeines, unifor- können auf verschiedene Arten interagieren. Sie
mes Verteilungsprinzip zu optieren, erscheint es je- können horizontal nebeneinander stehen und
doch adäquater, je nach dem Kontext das jeweilige grundsätzlich gleichgeordnet handeln, etwa wenn
Prinzip der Verteilung zu wählen. Beispiele, in de- zwei Unternehmen kooperieren. Zu den vier oben
nen eine staatliche Verteilung erfolgt, sind die Sozi- skizzierten Gerechtigkeitsrelationen innerhalb einer
alhilfe bzw. das Arbeitslosengeld zur Lebenssiche- Gemeinschaft kommt somit eine fünfte Gerechtig-
rung, die Notrettung bei Unfällen und plötzlichen keitsrelation der allgemeinen Behandlungsgerech-
Erkrankungen und die allgemeine Krankenversor- tigkeit sowie sekundär der Tauschgerechtigkeit zwi-
gung durch die gesetzlichen Krankenkassen. schen den Gemeinschaften hinzu (s. Abb. 5).
184 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

A+B C+D
(5)

(2) (3) (3) (2) (2) (3)

(4) (4)

A B C D
(1) (1)

Abb. 5

Gemeinschaften können aber nicht nur gleichgeord- spiele für solche Gemeinschaften zweiter Ordnung
net nebeneinanderstehen, sondern einander auch sind etwa die Bundesrepublik Deutschland gegen-
über- oder untergeordnet sein (s. Abb.  6). Umfasst über den Bundesländern oder der Volkswagen-Kon-
eine Gemeinschaft etwa zwei oder mehrere andere zern gegenüber den Teilunternehmen Audi, Skoda,
Gemeinschaften, wird von dieser Gemeinschaft im Seat usw. Die in diesen Verhältnissen entstehenden
Verhältnis zu den umfassten Gemeinschaften als Gerechtigkeitsfragen ähneln strukturell den Fragen
›Gemeinschaft zweiter Ordnung‹ gesprochen. Bei- der Beitragsgerechtigkeit (6), der sozialen Gerech-

(A + B) + (C + D)

(6) (7)

(8)
A+B C+D

(2) (3) (3) (2) (2) (3)

(4) (4)

A B C D
(1) (1)

Abb. 6
9. Gerechtigkeit 185

tigkeit (7) und der korrigierenden Gerechtigkeit (8) (9), etwa wenn er freiwilligen Wehrdienst bei der
in einfachen Gemeinschaften. Ein Beispiel für Fra- Bundeswehr leistet. Die Gemeinschaft kann dem
gen der Beitragsgerechtigkeit zwischen Gemein- Bürger A aber auch direkte Leistungen zukommen
schaften wäre etwa die Höhe der Beiträge der Unter- lassen (soziale Gerechtigkeit) (10), etwa wenn A
nehmen Audi, Skoda usw. zum Mutterkonzern. Die Zahlungen nach dem BAFÖG erhält.
soziale Gerechtigkeit kann etwa tangiert sein, wenn In diesem Fall bestehen dieselben Gerechtigkeits-
der Mutterkonzern in einzelne Tochtergesellschaf- anforderungen zweiter Stufe zwischen A und der
ten unterschiedlich investiert. Die korrigierende Gemeinschaft zweiter Ordnung wie zwischen A und
Gerechtigkeit wird schließlich bedeutsam, wenn der der Gemeinschaft erster Ordnung, also solche der
Mutterkonzern die Relationen zwischen den Toch- intrapersonalen Gleichheit von Beitrag und Vertei-
tergesellschaften bestimmt. Zwischen den einzelnen lung, solche der interpersonalen Gleichheit des Bei-
Gerechtigkeitsrelationen bestehen auch vergleich- trags von A mit denen der Bürger B, C etc. und sol-
bare sekundäre Gerechtigkeits-, d. h. Gleichheitsan- che der interpersonalen Gleichheit der Verteilung an
forderungen, nämlich die Gerechtigkeitsanforde- A mit der an B, C etc.
rung zweiter Stufe zwischen Beitrags- und sozialer Die Korrektur der Gemeinschaft zweiter Ord-
Gerechtigkeit einer Gemeinschaft, zwischen der Bei- nung kann sich nun aber anders als diejenige der
tragsgerechtigkeit mehrerer Gemeinschaften, zwi- Gemeinschaft erster Ordnung nicht nur auf die Ge-
schen der sozialen Gerechtigkeit mehrerer Gemein- rechtigkeitsrelationen des Bürgers A zu den anderen
schaften und bezüglich der einfachen Behandlungs- einzelnen Bürgern B, C etc., sondern auch auf alle
gerechtigkeit bzw. Tauschgerechtigkeit, die korrigiert Gerechtigkeitsrelationen des A zur Gemeinschaft
wird. erster Ordnung beziehen (11), etwa wenn die Bun-
Existiert eine Gemeinschaft zweiter Ordnung, desrepublik das atomrechtliche Verfahren zwischen
kann sie jedoch nicht nur in die Gemeinschaften ers- den Ländern und einem Einzelunternehmen regelt.
ter Ordnung eingreifen, sondern sich auch direkt auf Prinzipiell sind auch drei- und höherstufige Ge-
einzelne Individuen beziehen (s. Abb. 7). meinschaften mit den entsprechenden indirekten
So kann Bürger A etwa direkt zur Gemeinschaft und direkten Gerechtigkeitsrelationen möglich und
zweiter Ordnung beitragen (Beitragsgerechtigkeit) durchaus Realität, wie etwa in den sogenannten poli-

(A + B) + (C + D)

(9)
(6) (7) (7) (6)

(11)
A+B C+D
(5)

(2) (3) (2) (3)


(4) (4)

A B C D
(1) (1)

Abb. 7
186 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

tischen Mehrebenensystemen auf internationaler Miller, David: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt
Ebene. Eine Person kann etwa Technikförderung a. M. 2008 (engl. 1999).
Nida-Rümelin, Julian: Ethik des Risikos. In: Ders. (Hg.):
durch verschiedene staatliche und internationale
Angewandte Ethik. Stuttgart 22005, 862–885.
Gemeinschaften erhalten oder für diese Techniken Platon: Gorgias [1973a]. Darmstadt 31990.
entwickeln. – : Politeia [1973b]. Darmstadt 31990.
Bei derartigen Mehrebenensystemen erhebt sich Pogge, Thomas (Hg.): Global Justice. Malden 2001.
die Frage, wann von den einfachen Modellen der Be- Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
handlungs- und Tauschgerechtigkeit zwischen Staa- 1979 (engl. 1971).
Thomas von Aquin: Summa Theologica [1266]. Deutsche
ten zu höherstufig integrierten Modellen bis hin zu Thomas-Ausgabe, Bd. 18, II-II, qu. 57–79. Heidelberg
einer Weltinstitution übergegangen werden soll. 1953.
Dieses Problem stellt sich auf zahlreichen Politik- Vallero, Daniel/Vesilind, P. Aarne: Socially Responsible En-
feldern, etwa der Verwendung von FCKW, des gineering. Justice in Risk Management. Hoboken, New
Ausstoßes von CO2 oder der Erhaltung der Biodiver- Jersey 2007.
van den Hoven, Jeroen/Weckert, John: Information Techno-
sität. Auf dem Gebiet der Atomtechnik existiert etwa logy and Moral Philosophy. Cambridge u. a. 2008.
mit der Internationalen Atomenergie-Organisation von der Pfordten, Dietmar: On the structure of general jus-
(IAEO) eine Institution, die auf UN-Ebene die Nut- tice and its application to global justice. In: Stefan Heu-
zung der Kernenergie überwacht. Der Übergang zu ser/Hans G. Ulrichs (Hg.): Political Practices and Inter-
höherstufigen Entscheidungen oder Institutionen national Order. Zürich 2007, 168–183.
– : Normative Ethik. Berlin 2010a.
wird immer dann gerechtfertigt sein, wenn eine – : Rechtsethik. München 22010b.
Technik die Grenzen überschreitet sowie Leib und Wenz, Peter S.: Environmental Justice. Albany 1988.
Leben schwerwiegend gefährdet.
Dietmar von der Pfordten
Auch Fragen der internationalen Gerechtigkeit
(vgl. Pogge 2001) stellen sich auf vielen Technikfel-
dern. So entwickeln und vermarkten hauptsächlich
reiche Länder neue Techniken, wodurch die Spal-
tung zwischen Arm und Reich vertieft wird. Durch
die Errichtung von Produktionsanlagen in armen
Ländern oder die Verschiffung von Abfällen dorthin
werden technische Risiken abgewälzt. Zur Verringe-
rung der globalen Ungerechtigkeiten sind internati-
onale Konventionen oder gegebenenfalls Institutio-
nen notwendig. Bereits im Rahmen der WTO sind
Konventionen möglich, da der Handel mit Techni-
ken letztlich nur ein Spezialfall des internationalen
Handels ist.
Insgesamt gilt: Um die großen Chancen der Tech-
nik nicht zu verspielen, aber auch ihre Risiken zu
meistern, muss der Gerechtigkeitsmaßstab der Ethik
ebenso detailreich, vielgestaltig und anpassungsfä-
hig sein wie die Technik selbst.

Literatur
Aristoteles: Nikomachische Ethik [1969]. Hg. von Franz
Dirlmeier. Stuttgart 1980.
Baillie, Caroline/Catalano, George (Hg.): Engineering and
Society. Working Towards Social Justice. San Rafael, Calif.
2009.
Hillerbrand, Rafaela: Technik, Ökologie und Ethik. Ein nor-
mativ-ethischer Grundlagendiskurs über den Umgang mit
Wissenschaft, Technik und Umwelt. Paderborn 2006.
Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer
kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt
a. M. 1987.
187

10. Nachhaltigkeit sundheit ein soziales Ziel oder ein ökologisches?


Oder vielleicht ein ökonomisches, weil sie medizini-
sche Behandlungskosten einspart? Und was ganz ge-
Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige nau bedeutet überhaupt der letzten Endes überaus
Entwicklung: Versuch einer Definition vielgestaltige und vage Begriff des »Sozialen« (We-
ber 1984, 165)? Wäre dies alles, was mit Menschen
›Nachhaltigkeit‹ ist seit einiger Zeit ein Hauptbegriff zu tun hat, wäre Nachhaltigkeit endgültig banali-
der internationalen politischen Debatte, doch wird siert.
darunter zuweilen recht Unterschiedliches verstan- Drittens kann das Säulen-Modell im Sinne der
den. ›Nachhaltigkeit‹ bezeichnet nach der hier ver- Annahme verstanden werden, der Lebensgrundla-
tretenen Auffassung definitorisch die politische/ genschutz sei stark abhängig von Wirtschaftswachs-
ethische/rechtliche Forderung nach mehr intertem- tum. Dies ist jedoch gerade problematisch (s. u.).
poraler und globaler Gerechtigkeit, also die Forde- Viertens impliziert der Generationen- und Glo-
rung nach dauerhaft und global durchhaltbaren balbezug von Nachhaltigkeit, dass Nachhaltigkeit
Lebens- und Wirtschaftsweisen. Damit ist Nachhal- primär von grundlegenden Voraussetzungen des
tigkeit ein potenziell entscheidendes Beurteilungs- Menschseins und nicht von jedwedem Teilaspekt
system auch für technische Optionen. Gemeint ist von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Allgemeinen
ergo die Forderung nach intertemporaler und glo- handelt.
bal-grenzüberschreitender Gerechtigkeit (nicht zu All diese Gesichtspunkte werden in der Rio-De-
verwechseln mit universaler Gerechtigkeit, also klaration von 1992 als zentrale internationale
Prinzipien für das Zusammenleben in allen Gesell- Grundlage des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses
schaften). Gerechtigkeit sei hier definitorisch ver- an einer Vielzahl von Stellen sichtbar (Appel 2005),
standen als die Richtigkeit der Ordnung des mensch- explizit etwa in Grundsatz 5. Ferner bezieht sich
lichen Zusammenlebens; soziale Verteilungsgerech- Grundsatz 7 der Rio-Deklaration (gemeinsame, aber
tigkeit als Kategorie materieller Verteilungsfragen ist geteilte Verantwortung von Industrie- und Entwick-
davon nur ein Teilelement. lungsländern) ersichtlich auf die ›Umwelt‹ fragen.
Alternativ dazu verstehen viele Stimmen Nach- Auch die Beseitigung nicht-nachhaltiger Produk-
haltigkeit als eine Art Rubrum über alles Erstrebens- tions- und Verbrauchsstrukturen (Grundsatz 8)
werte in der Welt, womit der Nachhaltigkeitsbegriff klingt nicht gerade nach Dreisäuligkeit. Besonders
mit dem Gerechtigkeitsbegriff zusammenfiele oder deutlich ist Grundsatz 12, der Wirtschaftswachstum
ihn sogar noch an Breite überbietet. Insbesondere und Nachhaltigkeit nebeneinander nennt und damit
stehe Nachhaltigkeit für den nötigen Ausgleich von als Unterschiedliches kennzeichnet.
ökologischen, ökonomischen und sozialen Belangen Wesentlich für Nachhaltigkeit (auch) im Sinne
(Bizer 2000; Heins 1998; Ritt 2002). Ein solches der Rio-Deklaration dürfte indes ein Integrations-
Drei-Säulen-Konzept von Nachhaltigkeit wäre je- prinzip in einem allerdings recht konkreten Sinne
doch aus einer Reihe Gründen missverständlich und sein: Nachhaltigkeit handelt von der integrierten Be-
schief (zum Folgenden Ott/Döring 2008; Ekardt wältigung intertemporal-globaler Problemlagen. Da-
2011; wohl anders Grunwald/Kopfmüller 2012). Das hinter steht auch die zutreffende Einsicht, dass ein
Drei-Säulen-Modell lenkt erstens vom Paradigmen- lediglich additives Angehen bestimmter komplexer
wechsel als Kernidee ab: mehr Generationen- und Probleme diese häufig nicht zu lösen vermag: Es
globale Gerechtigkeit. Denn mit dem Reden von den wäre beispielsweise (inhaltlich) fatal, Armuts- und
»drei Säulen« gerät Nachhaltigkeit in die Nähe der Klimaproblematik zu sehr voneinander zu separie-
eher trivialen Botschaft, dass politische Entschei- ren, indem man südliche Länder schlicht zur Imi-
dungen verschiedene Belange möglichst in Einklang tation des westlichen ressourcenintensiven Ent-
bringen sollten, insbesondere dann, wenn der inter- wicklungspfades anregte  – oder umgekehrt die
temporale und globale Bezug nur noch am Rande gravierende Armut im Süden als ›gut für den Res-
oder gar nicht mehr auftauchen. sourcenverbrauch‹ unangetastet ließe.
Zweitens ist eine Trennung ökologischer, ökono-
mischer und sozialer Aspekte in den relevanten Be-
reichen nur schwer möglich: Wäre z. B. bessere Luft-
qualität nur ein ökologisches Ziel, weshalb nicht ein
soziales oder ökonomisches? Oder ist z. B. die Ge-
188 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

Ebenen der Befassung milationsgrenzen des Naturhaushalts beachtet und


mit Nachhaltigkeit Schädigungen des Klimas sowie der Ozonschicht
vermieden werden sollen. Relevant wäre beispiels-
Bei der Beschäftigung mit Nachhaltigkeit – transdis- weise auch im Sinne physischer Sicherung eine ele-
ziplinär über verschiedenste Fachdisziplinen hinweg mentare Existenzsicherung weltweit (global) für alle
(Rogall 2009; Schneidewind 2009; Ekardt 2011) geht einschließlich elementarer Alterssicherung, Bildung,
es: (a) um begriffliche Klarheit des Wortes ›Nachhal- Zugang zu sauberem Trinkwasser und medizini-
tigkeit‹ und entsprechende Definitionen; (b) um die scher Behandlung sowie Abwesenheit von Krieg und
deskriptive Bestandsanalyse, wie nachhaltig Gesell- Bürgerkrieg. Näheres ist letztlich, einschließlich
schaften gemessen daran bisher sind und welche technikethischer Implikationen, von der genauen
Entwicklungen und Tendenzen sich insoweit bisher normativen Nachhaltigkeitsbegründung abhängig.
beschreiben lassen; da dies nur sehr teilweise sozial- Das gilt auch für die umstrittene Frage, inwieweit
wissenschaftlich klärbar ist, ist vor allem hier der Naturgüter gegen ökonomische Güter aufgerechnet
Ort der naturwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsfor- werden dürfen (»starke versus schwache Nachhaltig-
schung; (c) um die ebenfalls deskriptive Frage, wel- keit«; vgl. auch Ott/Döring 2008; Rogall 2009; Vogt
che äußeren Hemmnisse und Motivationslagen für 2009). Betrachtungen etwa zu einzelnen Techniken
die Transformation hin zur Nachhaltigkeit oder ihr ohne jenen grundlagenethischen Durchgang greifen
Scheitern wesentlich und ursächlich sind und wel- tendenziell zu kurz.
che Aussagen sich zur menschlichen Lernfähigkeit Umstritten ist, ob Nachhaltigkeit sinnvollerweise
treffen lassen, wobei auch dies bei biologischen auf einzelne numerische Indikatoren konzentriert
Faktoren manchmal naturwissenschaftliche For- werden kann, an denen sich dann z. B. auch Beurtei-
schungsergebnisse involviert; (d) um die normative lungen einzelner Techniken festmachen könnten.
Frage, warum Nachhaltigkeit erstrebenswert sein Staaten und Unternehmen streben immer wieder
sollte und was daraus folgend ihr genauer Inhalt ist; nach solchen Indikatoren (näher Grunwald/Kopf-
(e) darum, wie viel Nachhaltigkeit normativ in Ab- müller 2012 und teilweise Vogt 2009) und einer
wägung mit anderen kollidierenden Belangen wie Messbarkeit von Nachhaltigkeit, um Nachhaltigkeit
›kurzfristiges Wirtschaftswachstum‹ geboten ist, in vereinfachter Form durch einige aus der Vielzahl
einschließlich der Frage, welche Institutionen dies relevanter Faktoren ausgewählte, gut quantifizier-
zu klären haben und welche Entscheidungsspiel- bare Gesichtspunkte (sogenannte Nachhaltigkeitsin-
räume dabei bestehen; (f) um die Mittel respektive dikatoren) sichtbar zu machen – etwa CO2-Emissio-
Governance- oder Steuerungsinstrumente, die das nen, Flächenverbrauch, Energieverbrauch pro Kopf,
auf den normativen – beispielsweise technikethisch Anteil erneuerbarer Energien am Stromaufkommen
heranziehbaren – Ebenen d und e ermittelte Ziel ef- oder die Gewässergüte bestimmter großer Flüsse.
fektiv umsetzen können, einschließlich bottom-up- Eine echte Messbarkeit wird gegebenenfalls noch
Maßnahmen wie Lernprozessen, mehr Nachhaltig- dahingehend erstrebt, dass all diese Dinge unterein-
keitspädagogik, mehr unternehmerische Selbstregu- ander verrechnet werden sollen (kritisch Ekardt
lierung und der Frage nach den Hindernissen, nach 2011; z. T. auch Rogall 2009).
möglichen Akteuren, Strategien usw.; von nicht-so- Hinterfragungswürdig ist daran bereits, dass (1)
zialwissenschaftlicher Seite her tritt an dieser Stelle häufig vielleicht problematische, entweder nicht zur
die Frage hinzu, welche technischen Möglichkeiten Nachhaltigkeit gehörende oder, da der verbreiteten
bestehen (auf deren Einsatz ggf. per Governance Wachstumsorientierung (s. u.) verhaftet bleibend,
hingewirkt werden könnte). sogar kontraproduktive Indikatoren gewählt wer-
den. Denn die dauerhafte und globale Lebbarkeit
von Wirtschafts- und Lebensformen wird eben ge-
Nachhaltigkeitsinhalte und rade nicht abgebildet, wenn sich ein Unternehmen
Nachhaltigkeitsindikatoren z. B. vornimmt, in Zukunft 5-Liter- statt 8-Liter-Au-
tos zu produzieren. Problematisch ist (2) an Indika-
Nachhaltigkeit ist inhaltlich ein normatives Ziel. toren- und Messansätzen ferner, dass scheinpräzise
Zum näheren Gehalt heißt es häufig, Nachhaltigkeit einzelne Faktoren eine Exaktheit suggerieren kön-
bedeute etwa, dass erneuerbare Ressourcen nur un- nen, die so gar nicht gegeben ist, ungeachtet aller po-
ter Beachtung der Nachwachsrate genutzt, nicht-er- litischen und medialen Attraktivität. Insbesondere
neuerbare Rohstoffe sparsam verwendet, die Assi- jedoch erweisen sich Indikatorensysteme als un-
10. Nachhaltigkeit 189

tauglich, sofern sie (3) normativ die (ethisch oder konkretisierter und sanktionsbewehrter Form. Ethik
rechtlich) ›richtige‹ Nachhaltigkeit Sein-Sollen-fehl- kann natürlich die Grundprinzipien des Rechts ge-
schlüssig naturwissenschaftlich oder ökonomisch gebenenfalls universal begründen oder auch als nor-
ableiten (dazu sogleich). mativ ungültig erweisen – was das Recht selbst nicht
kann (hierzu und zum Folgenden vgl. Alexy 1991,
1995; Ekardt 2011; Habermas 1992; eingeschränkt
Normative Begründung Rawls 1971). Jenseits dessen kann sie jedoch nicht
von Nachhaltigkeit einfach eine konkurrierende Normativität aufbauen.
Praktisch gelingt eine ethische Begründung – und
Wenn der Inhalt von Nachhaltigkeit von der norma- damit auch Inhaltsbestimmung von Nachhaltig-
tiven Begründung abhängt, gerät letztere in den keit  – deshalb primär dann, wenn man eine Ver-
Blick. Nachhaltigkeit meint zunächst ein Politikziel, pflichtung zur Nachhaltigkeit und eine Konturie-
da es um die Lösung gesellschaftlicher Probleme rung diesbezüglicher Spielräume anhand von
geht, und scheint damit im Belieben der jeweils poli- Grundprinzipien liberal-demokratischer Verfassun-
tisch Handelnden zu stehen; das wirft die Frage auf, gen ermittelt. Nach der hier vertretenen Auffassung
ob die Politik zur Nachhaltigkeit verpflichtet ist. folgt vor diesem Hintergrund der inhaltliche Nach-
Aus Naturbeobachtungen – etwa zum Klimawan- haltigkeitsmaßstab primär aus dem, was sich anhand
del, zur Endlichkeit von Ressourcen usw. – für sich der menschenrechtlichen Freiheits- und Freiheits-
genommen lässt sich eine solche normative Begrün- voraussetzungsgarantien einschließlich der Abwä-
dung nicht geben. Denn aus einer empirischen Be- gungsregeln ableiten lässt (zu Menschenrechten s.
obachtung als solcher folgt nicht logisch, dass diese Kap. IV.B.1).
Beobachtung normativ zu begrüßen oder zu kritisie-
ren ist. Aus gleichen Gründen nicht überzeugend
sind auch jedwede Vorstellungen, die von einer em- Verhältnis zum Wachstumsdenken
pirischen Anthropologie logisch normative Schluss- und Ambivalenz technischer Optionen
folgerungen ableiten. Problematisch wäre auch der
Versuch, Nachhaltigkeit (oder etwas anderes) durch In den Bereichen Klima, Energie und Ressourcen
eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) zusammengenommen erweist sich ein fundamenta-
zu bestimmen, also durch eine quantifizierende Sal- ler Wandel im Umgang mit fossilen Brennstoffen
dierung von Vor- und Nachteilen eines bestimmten (im Wesentlichen ein Totalausstieg bis 2050 in den
Umgangs mit Nachhaltigkeit, gemessen an den rein Bereichen Strom/Wärme/Treibstoffe/stoffliche Nut-
faktischen Präferenzen von Menschen. Denn eine zung) sowie mit der Landnutzung als nötig, wenn
KNA führt, neben anderen Problemen z. B. bei der insbesondere verheerende Klimawandelsschäden
Quantifizierung, auf die nonkognitivistische Grund- vermieden werden sollen wie Millionen Tote, Kriege
lage einer empiristischen Ethik zurück, die Normati- und Bürgerkriege um schwindende Ressourcen, Mi-
vität in ihren letzten Grundlagen per se für subjektiv, grationsströme, massive Naturkatastrophen, explo-
unwissenschaftlich oder axiomatisch gesetzt hält. dierende Öl- und Gaspreise, massive ökonomische
Auch der gängige ethische Diskurs um eine Be- Schäden und andere mehr (Stern 2009). Wie eben
gründung von Nachhaltigkeit (zusammengestellt skizziert, bleibt es nicht bei dieser Wenn-dann-Aus-
etwa bei Unnerstall 1999) weist jedoch Probleme sage, sondern es besteht gegebenenfalls vielmehr ein
auf. Erstens können gegen die meisten ethischen ethisches bzw. rechtliches Gebot auf menschenrecht-
Ansätze an der Grundlage Einwände erhoben wer- licher Basis. Global empfehlen Naturwissenschaftler
den (z. B. Sein-Sollen-Fehler, axiomatische Setzun- entgegen einer verbreiteten Wahrnehmung, will
gen, Zirkelschlüsse usw.). Zweitens hat jedwede man die geschilderten Szenarien noch abwenden,
Ethik, die die Politik zu etwas verpflichten will, das eher minus 80 als minus 50 Prozent Treibhausgas-
Problem, dass das Verfassungsrecht der jeweiligen emissionen (IPCC 2007). Deutschland und die EU
politischen Grundeinheit den Anspruch erhebt, ab- sind von den Pro-Kopf-Emissionen und von den
schließend zu bestimmen, was Politik tun darf und vermeintlichen Reduktionsleistungen her (die bisher
gegebenenfalls tun muss, wo also ihre Verpflichtun- vollständig durch günstige Zufälle wie die Produk-
gen und wo ihre Spielräume liegen. Recht ist dabei tionsverlagerung in Schwellenländer, die Finanz-
Ethik (verstanden als die Wissenschaft von den nor- krise und den DDR-Industriezusammenbruch 1990
mativ richtigen gesellschaftlichen Zuständen) in bedingt sind) keinesfalls »Vorreiter« (Edenhofer et
190 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

al. 2011; Ekardt 2011; nicht zutreffend daher Ober- usw. erscheint auch nur schwer sinnvoll denkbar.
thür 2008 und Lindenthal 2009). Nachhaltigkeit darf Wachstumsraten besagen überdies nichts über die
freilich nicht auf Klima- und Energiefragen redu- Wohlstandsverteilung: Einige können immer reicher
ziert werden (s. Kap. V.5); weitere Ressourcen wie werden und die, die Wachstum am nötigsten brau-
Wasser und Phosphor sind existenziell wichtig und chen, werden sogar ärmer. Außerdem blendet der
werden ebenfalls massiv übernutzt. Wachstumsbegriff vieles aus: private soziale Arbei-
Da etwa im Bereich Ressourceneffizienz und re- ten wie private Kinderbetreuung beispielsweise und
generative Ressourcen maßgebliche technische Op- die ökologischen Schäden des momentan für alter-
tionen bestehen, erscheint das Gesagte zunächst als nativlos gehaltenen Wachstumspfades. Ebenso fehlt
normative Rechtfertigung vieler solcher Optionen. es an einer empirischen Bestätigung, dass Wachstum
Allerdings dürfen diese nicht überschätzt werden. per se menschliches Glück vergrößert. Dass eine Ab-
Denn die eben geschilderten Problemlagen setzen kehr vom Wachstumsideal Folgeprobleme auslöst,
Nachhaltigkeit in ein Spannungsverhältnis zur heute ist dabei unbestritten.
alles dominierenden Wachstumsidee (zum Folgen- Wesentlich ist gleichwohl, nicht (wie IPCC 2007;
den Paech 2005; Ekardt 2011; Rogall 2009). Ewiges Stern 2009) allein auf Lösungen durch neue Techno-
Wachstum ist in einer physikalisch endlichen Welt logien zu schauen, sondern (gerade in den Industrie-
eine eher zweifelhafte Vorstellung, woran auch er- ländern) die Möglichkeit der Genügsamkeit (Suf-
neuerbare Ressourcen wohl nur teilweise etwas än- fizienz) und damit absoluter Einsparungen durch
dern: Solarautos und Solarpanels haben ebenfalls Verhaltensänderungen hinsichtlich bestimmter Le-
eine Ressourcenbasis, die schon in absehbarer Zeit bensgewohnheiten ebenfalls in Betracht zu ziehen.
knapp zu werden droht; und Energie z. B. nützt al- Ebenso wäre ein verstärktes Nachdenken und For-
lein wenig, sondern nur in Verbindung mit Produk- schen über die Folgeprobleme eines langfristigen
ten, die ihrerseits aus endlichen Ressourcen beste- Endes des Wachstumszeitalters angezeigt. Manche
hen. Zudem könnte die Größe der Herausforderung weitere denkbare technische Optionen, die diese
beim Klimawandel auf Dauer (anders als mittelfris- Konsequenzen vermeiden wollen, wie Kohlenstoff-
tig angesichts der Innovationspotenziale von Ener- abscheidung, Atomenergie, Climate-Engineering (s.
gieeffizienz und erneuerbaren Energien und auf- Kap. V.2) und andere mehr, empfehlen sich vielleicht
grund der nötigen Armutsbekämpfung in den Ent- von vornherein aus einer Reihe von Gründen eher
wicklungsländern) einen Weg fort vom Wachstum nicht, die teilweise auch mit dem Nachhaltigkeits-
und eben gerade keine bloße ›technische Optimie- gedanken und seiner Orientierung auf langfristige
rung‹ erzwingen, ebenso wie drohende Rebound-Ef- Handlungsfolgen zu tun haben.
fekte (also das Problem, dass die Emissionsreduktio-
nen einer Handlung  – z. B. Autofahren  – dadurch
konterkariert wird, dass die Handlung zwar energie- Transformation und Governance
effizienter wird, gleichzeitig die Autos aber größer im Zeichen des Hoffens
oder zahlreicher oder häufiger genutzt werden; s. auf rein technische Lösungen
Kap. V.17). Dies gilt umso mehr, als zentrale Fakto-
ren z. B. von Landnutzung und Treibhausgasemissi- Insgesamt erscheint die reale Transformation hin
onen wie der Fleischkonsum nur sehr begrenzt tech- zur Nachhaltigkeit jedoch als das größere Problem
nisch optimierbar sind. Ähnliches gilt für den Kon- als die normativ-ethische Begründung (zum vorlie-
flikt zwischen »Tank und Teller« bei der Nutzung genden Abschnitt vgl. Ekardt 2011). Bei Politikern,
von Biomasse, der primär dann entschärft werden Unternehmern und Bürgern/Konsumenten  – oft
könnte, wenn der Energie- und Fleischkonsum teufelskreisartig aneinander gekoppelt  – erscheint
schlicht gedrosselt würde. dabei fehlendes Wissen oft als das geringere Pro-
›Qualitatives Wachstum‹ rein ideeller Art löst blem. Wichtig sind vielmehr bei Politikern, Unter-
diese Probleme möglicherweise ebenfalls nicht. nehmern und Wählern/Konsumenten gleicher-
Nach aller Erfahrung ist ein solches ideelles Wachs- maßen die Faktoren Konformität, Gefühl (Bequem-
tum partiell selbst materiell geprägt, und die Vorstel- lichkeit, fehlende raumzeitliche Fernorientierung,
lung gleichbleibend (und damit letztlich exponen- Verdrängung, fehlendes Denken in komplexen
tiell!) immer weiter wachsender respektive besser Kausalitäten usw.), Eigennutzen, tradierte Werte,
werdender sozialer Pflegeleistungen, Musikkennt- Pfadabhängigkeiten, Kollektivgutstruktur zentraler
nisse, von Naturgenuss, Gesundheit, Kunstgenuss Nachhaltigkeitsprobleme wie des Klimawandels und
10. Nachhaltigkeit 191

andere mehr. All jene Faktoren repräsentieren sich einzelnen Produkt nicht zu lösen sind. Stichworte
»in den Individuen« und zugleich als gesamtgesell- dafür sind u. a.: Rebound-Effekte, ressourcenbezo-
schaftliche (letztlich in variierenden Gewichtsvertei- gene/sektorielle/räumliche Verlagerungseffekte, Ziel-
lungen weltweite) ›Struktur‹. Das eben Gesagte und Vollzugsschwäche, Abbildbarkeitsprobleme und
dürfte auch ursächlich dafür sein, warum insgesamt Kumulationsprobleme. Speziell Verlagerungseffekte
technische Optionen ungeachtet ihrer Begrenztheit entziehen sich dabei einer technischen Lösbarkeit,
die Nachhaltigkeitsdebatte dominieren, erscheinen teilweise jedoch auch Rebound-Effekte, sofern Volks-
sie doch offenkundig als leichter durchsetzbar. wirtschaften nicht extreme, bisher so nicht gekannte
Ethische und rechtliche, aber auch  – bei hinrei- Effizienzsteigerungen vollziehen.
chend weitem Horizont – eigennützige ökonomisch- Die strukturell beste Antwort auf diese Probleme
friedenspolitische und glücksbezogene Überlegun- liegt in einem Mengensteuerungs-Modell (in einem
gen (wenngleich sie im Falle des Glücks in der libe- weiten Begriffsverständnis) über Zertifikatmärkte
ralen Demokratie nicht normativ vorschreibbar oder über abgabenbasierte Preise; nur dies kann die
sind, s. Kap. IV.B.1) könnten motivational eine echte eben genannten Probleme angehen, die in der oben
globale, auch Suffizienz einschließende Nachhaltig- diagnostizierten Motivationslage der Bürger, Unter-
keitswende ermöglichen. Sie benötigen aber ein nehmer und Politiker adäquat berücksichtigen und
Ping-Pong mit konkreten detaillierten politisch- Effizienz, erneuerbare Ressourcen und Suffizienz
rechtlichen Vorgaben an die Adresse der Bürger. Auf gleichzeitig durch ein Preissignal bzw. echte absolute
deren Seiten bedürfen diese Faktoren eines Prozes- Grenzziehungen stärken. Eine globale (Mengensteu-
ses von Lernen und Lernfähigkeit; dessen Anstoß erungs-)Lösung für Ressourcen und Klimagase wäre
trifft freilich auf vielfältige Hindernisse. Dabei beste- dabei ratsam wegen der Globalität von Nachhaltig-
hen deutliche Hinweise zur Glücksförderlichkeit keitsproblemen, wegen drohender Verlagerungsef-
nachhaltiger Lebensstile (Paech 2005). Freiwillige fekte und wegen des drohenden Wettlaufs um die
Unternehmensverantwortung (Corporate Social Re- niedrigsten Standards.
sponsibility, CSR) und Konsumentenengagement Mengensteuerung bei Ressourcen und/oder beim
wird die nötigen politisch-rechtlichen Vorgaben Klima ist in mehrfacher Hinsicht auch unter sozia-
zwar unterstützen, aber nicht erübrigen können. len Verteilungsgesichtspunkten interessant (Ekardt
Dies scheitert sowohl an Wissensproblemen als auch 2011; Ekardt et al. 2010), wenn man ihre Erlöse glo-
daran, hinreichend konkret zu bestimmen, was von bal und teilweise auch national für soziale Aus-
den Unternehmen und Konsumenten ›geschuldet‹ gleichsmaßnahmen einsetzt. Angegangen werden
wird, vor allem aber an den zu Anfang dieses Ab- könnten damit sowohl die langfristigen fatalen sozi-
schnitts geschilderten Problemen, in denen sich jed- alen Wirkungen eines Klimawandels und Ressour-
wedes Nachhaltigkeitsengagement bisher verfängt. censchwundes als auch die Armutsbekämpfung in
Auf politischer Ebene gibt es bisher international, den Entwicklungsländern. Eine Nachhaltigkeits-
europäisch und national eine beeindruckende Mengensteuerung kann gegebenenfalls wohl ohne
Sammlung von Nachhaltigkeitsprogrammen, Pake- Wettbewerbsnachteile auch ohne globale Festlegun-
ten und Zieldeklarationen, die freilich in einem gen allein in der EU begonnen werden, wenn sie
Spannungsverhältnis zu den bisher geringen Erfol- durch – welthandelsrechtlich tendenziell zulässige –
gen (auch) von Staaten wie Deutschland steht monetäre Grenzausgleichsmechanismen für Im-
(Ekardt 2011; Grunwald/Kopfmüller 2012). porte und Exporte (»Ökozölle«) ergänzt wird. Eine
Die bisherige ordnungs-, informations-, sub- zentrale, hier nicht zu vertiefende Fragestellung ist,
ventions- und vergaberechtliche Nachhaltigkeits- welcher Ergänzungen – für andere Ressourcen und/
Governance bietet ein vielfältiges Bild; insbesondere oder durch andere Instrumente – selbst ein solches
versucht sie, technische Optionen wie erneuerbare Mengensteuerungsmodell bedürfte.
Energien und Energieeffizienz (wenngleich oft sehr
zurückhaltend) zu fördern. Insgesamt erliegt die bis- Literatur
herige Nachhaltigkeitssteuerung mehreren Friktio-
nen, die sich z. T. aus den Grenzen des Wachstums Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation.
und dem Übergehen des Suffizienzgedankens erge- Frankfurt a. M. ²1991.
– : Recht, Vernunft, Diskurs. Frankfurt a. M. 1995.
ben und die strukturell durch Ordnungsrecht, Infor- Appel, Ivo: Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge.
mationsrecht, Selbstregulierung und überhaupt Tübingen 2005.
durch ein Ansetzen am einzelnen Betrieb oder am Bizer, Kilian: Die soziale Dimension der Nachhaltigkeit.
192 IV. Grundlagen – B. Ethische Begründungsansätze

In:  Zeitschrift für angewandte Umweltforschung Jg. 13 gen. In: Johannes Varwick (Hg.): Globale Umweltpolitik.
(2000), 472 ff. Schwalbach 2008, 49 ff.
Edenhofer, Ottmar et al.: Growth in Emission Transfers via Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nach-
International Trade from 1990 to 2008. Proceedings of haltigkeit [2004]. Marburg 2008.
the National Academy of Sciences [doi: 10.1073/pnas. Paech, Niko: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innova-
1006388108] 2011. tionsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbe-
Ekardt, Felix: Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethi- zogene Transformationstheorie. Marburg 2005.
sche und politische Zugänge – am Beispiel von Klimawan- Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971.
del, Ressourcenknappheit und Welthandel. Baden-Baden Ritt, Thomas: Soziale Nachhaltigkeit. Von der Umweltpolitik
2011. zur Nachhaltigkeit. Wien 2002.
– /Heitmann, Christian/Hennig, Bettina: Soziale Gerechtig- Rogall, Holger: Nachhaltige Ökonomie. Ökonomische
keit in der Klimapolitik. Düsseldorf 2010. Theorie und Praxis einer nachhaltigen Entwicklung. Mar-
Glaser, Andreas: Nachhaltigkeit und Sozialstaat. In: Wolf- burg 2009.
gang Kahl (Hg.): Nachhaltigkeit als Verbundbegriff. Tü- Schneidewind, Uwe: Nachhaltige Wissenschaft. Plädoyer für
bingen 2008, 620 ff. einen Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und
Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit. Eine Hochschulsystem. Marburg 2009.
Einführung. Frankfurt a. M.² 2012. Stern, Nicholas: A Blueprint for a Safer Planet. How to Man-
Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. age Climate Change and Create a New Era of Progress and
1992. Prosperity. London 2009.
Heins, Bernd: Soziale Nachhaltigkeit. Berlin 1998. Vogt, Markus: Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theo-
IPCC: Climate Change 2007. Mitigation of Climate Change. logisch-ethischer Perspektive. München 2009.
In: www.ipcc.ch. Unnerstall, Herwig: Rechte zukünftiger Generationen.
Lindenthal, Alexandra: Leadership im Klimaschutz. Die Würzburg 1999.
Rolle der EU in der internationalen Klimapolitik. Frank- Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.
furt a. M. 2009. Tübingen 61984.
Oberthür, Sebastian: Die Vorreiterrolle der EU in der inter- Felix Ekardt
nationalen Klimapolitik – Erfolge und Herausforderun-
193

C. Querschnittsthemen

1. Leben und Technik In einem engen technikethischen Sinne betrifft


das Handlungsfeld den angemessenen Umgang mit
laborgebundenen Biotechniken sowie den Conver-
Beschreibung des Handlungsfeldes ging Technologies (der Verschmelzung von Nano-,
Bio-, Info-, Kognitionstechnologien). In einem wei-
Weil das Wort ›Leben‹ potentiell Jeden und Jede ten Sinne bezieht man sich auf sämtliche Lebewesen,
adressiert, steht die ethische Auseinandersetzung -formen und -praxen, die in einer Gesellschaft vor-
um technische Veränderungen des Lebenden vor be- gefunden oder avisiert werden, bis hin zu (bio-)tech-
sonderen Herausforderungen. Deshalb ist zunächst nischen Utopien, die einen ›anderen‹, ›neuen‹, ›bes-
die Klärung der beiden Fragen wichtig, um welches seren‹ Menschen oder Planeten entwerfen, um ein
Leben und um wessen Leben es sich bei der techni- gutes Leben (Aristoteles; s. Kap. IV.B.8) oder eine
schen Einflussnahme handeln soll – eingedenk eines Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. In
Satzes, der durch Theodor W. Adorno prominent diesem weiten Sinne ist es auch Aufgabe der Ethik,
wurde: »Das Leben lebt nicht.« Leben unter Ein- die langfristigen Bedingungen des Demokratieer-
schluss seiner Entitäten wird sowohl als Begriff der halts in die Beurteilung biotechnischer Innovatio-
Biowissenschaften bzw. Life Sciences, als Prinzip der nen mit einzubeziehen (s. Kap. IV.C.5).
Lebensphilosophie (s. Kap. IV.A.4) wie auch als un- Im Blick auf die verschiedenen Techniken domi-
mittelbare Idee ethisch und moralphilosophisch ver- nieren das Handlungsfeld die Gentechnik (als eine
handelt und hat dabei empirisch vom Bakterium der Biotechniken; s. Kap. V.7), die Agrartechnik (die
und Pilz über Pflanze und Tier bis hin zum Men- gentechnische Methoden einschließt; s. Kap. V.1)
schen (als Gattung, als Individuum, als vergesell- und die Medizintechnik (s. Kap. V.14). Davon ausge-
schaftetes Individuum und als Subjekt) die verschie- hend bestehen auch enge Verbindungen zur Um-
densten Lebewesen, Lebensformen, Lebensweisen welt-, Informations- und Militärtechnik, Robotik
und deren technische Veränderbarkeit als Ganzes sowie zur Nanotechnologie, Lebensmitteltechnolo-
sowie in einzelnen Teilen (DNA, Gewebe, Organe) gie (s. Kap. V.12) und zur Pharmatechnik. Hinzu
vor Augen. kommen innerhalb und außerhalb der Labore zahl-
Hinzu kommt die moralphilosophische Ausein- reiche Kultivierungstechniken sowie diagnostische
andersetzung mit konkreten Lebenssituationen und Verfahren. Wichtig für die Technikethik ist auch der
-entscheidungen, etwa in Bezug auf Fortpflanzung, Fokus auf die Herkunft und die Lagerung der Mate-
Altern, Sterben und Tod. Auch Lebensstile spielen rialien, die im Falle der Biotechniken nicht nur
eine ethische Rolle, z. B. in den Bereichen Energie, Stoffe, sondern biogene Materialien, d. h. Organis-
Mobilität und Ernährung. Der Hinweis auf ›Leben‹ men, deren Teile und Derivate sind. Um mit ihnen
bedeutet also für die Ethik die Herausforderung, biotechnisch arbeiten zu können, sind standardi-
zwischen einer hermeneutischen Tradition (der Geis- sierte Lagerungsbedingungen mit Datenspeiche-
tes- und Kulturwissenschaften) der Verständnis- rung in großem Umfang nötig. Aus diesem Grund
frage nach dem Leben und einer funktionalen Tradi- gibt es weltweit eine Vielzahl an Gewebe-, Blut-, Sa-
tion (der Bio- und Technikwissenschaften) der Er- men- und Genbanken, die als Institutionen im Hin-
klärung und faktischen Veränderung von Leben zu blick auf den Datenschutz, die Biopatentierung und
vermitteln. In der funktionalen Tradition (vgl. die Regulierung des Handels mit Organismen und
Krohs/Kroes 2009) werden die selbstzwecklichen ihren Teilen ethisch bedeutsam sind.
Funktionen von Organismen wichtig, durch die ihr Die Technikethik eruiert somit die durch Bio-
Leben Bestand hat, z. B. Stoffwechsel, Reproduktion, techniken induzierten, konkreten oder avisierten
Vererbung. Auf sie konzentrieren sich die biotechni- Fragestellungen und Handlungsoptionen, ordnet sie
schen Veränderungen, die, wie bei jeder Technik, in systematisch und wägt sie in ihrer Reichweite gegen-
Bezug auf menschliche Zwecke vorgenommen wer- einander ab. Dabei werden sowohl die Methoden
den. und Praxen der Herstellung/Veränderung, Haltung
194 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

und Lagerung (z. B. die verbrauchende Embryonen- Vermächtniswerte abgewogen (z. B. die Vielfalt an
forschung), als auch die möglichen Produkte bzw. Obstsorten, die Regionalkulturen spiegeln). Schließ-
Resultate (z. B. transgene Tiere und Pflanzen) in ih- lich werden die Möglichkeiten der technischen Ver-
rem gesellschaftlichen Zusammenhang bewertet. änderbarkeit daraufhin befragt, ob sie allgemein
Ein häufiges Vorgehen ist die Kasuistik, bei der der Sinn machen und unter den Gesichtspunkten der
Einzelfall (Kasus) sowohl durch den betreffenden Klugheit zu befürworten sind (s. Kap. IV.B.3). Hier-
Organismus oder das biologische Reich (Pflanze, bei geht es um Argumente des Bedingungserhalts
Tier, Mensch) gebildet werden kann, als auch – und von Möglichkeiten (Hubig 2007), die das jetzige und
dies ist spezifisch für die technikethische Herange- zukünftige Handelnkönnen für ein gelingendes Le-
hensweise – durch eine Technik gegeben ist, die im ben betreffen; unter Einschluss, technisch handeln
größeren wissenschaftlichen Zusammenhang, d. h. zu können. Dies bedeutet für die Gestaltung bio-
als Technologie oder als technisches System ethisch technischer Systeme nicht nur die zu klärende
betrachtet und beurteilt wird. Sicherheitsfrage nach ihrer Kontrollier- und Regu-
Anhand einer Technologie im Bereich der Life lierbarkeit (engl. biosafety), sondern auch die mora-
Sciences wie der Nanobiotechnologie oder der Syn- lische Verpflichtung der entsprechenden Institutio-
thetischen Biologie (s. Kap. V.23) wird v. a. derjenige nen, die Spuren der biotechnischen Veränderung
Anteil der technischen Veränderung herausgear- sichtbar und damit einer individuellen Handlungs-
beitet, für den man aus ethischer Sicht eine Verant- entscheidung zugänglich zu machen (Karafyllis 2006).
wortungszuschreibung und ggf. sogar die Einhal- Aus diesem Umstand resultierte die Kennzeich-
tung des Vorsorgeprinzips (Handlungsunterlassung; nungspflicht gentechnisch veränderter Lebensmit-
s.  Kap. VI.3) normativ fordern muss (Verantwor- tel. EU-Bürger/innen können sich so entscheiden,
tungsethik). Dies geschieht bei irreversiblen Neben- wie sie sich ernähren wollen (Lebensstile). Die
folgen bzw. bei Nichtwissen um die genaue Folgen- Kennzeichnungspflicht hat in den letzten Jahren ei-
kette einer biotechnischen Veränderung in nicht-re- nen deutlichen Wandel hin zu den Methoden der
gulierbaren Umgebungen. Für Ethiker gilt es dabei, Erzeugung genommen: Wurde in der ersten Kenn-
naturalistische Fehlschlüsse aufzudecken, die eine zeichnungspflicht (Novel Food-Verordnung 1997)
Verantwortungsentlastung evozieren, weil ›die Na- noch gefordert, dass der gentechnisch veränderte
tur‹ angeblich etwas Analoges zur Biotechnik ›ma- Organismus im Produkt nachweisbar sein muss
che‹ (z. B. Klonen, Mutationen) und man die Natur (Produktkennzeichnung), so konzentriert sich die
dafür auch nicht zur Verantwortung (s. Kap. II.6) sog. Prozesskennzeichnung (EU-Verordnung 1830/
ziehen könne (s. Kap. IV.C.2). 2003) darauf, ob bei der Herstellung gentechnische
Das Verursacherprinzip ist im biotechnischen Methoden verwendet wurden, selbst wenn der
Anwendungsbereich schwieriger in Anschlag zu transgene Organismus oder seine DNA im Endpro-
bringen als bei der Herstellung von Artefakten, weil dukt nicht aufzufinden sind. Bezogen auf die morali-
man nur im Rahmen biologischer Möglichkeiten sche Pflicht zur Sichtbarmachung der technischen
technisch handeln kann. Dabei zeigen Organismen Spur kann man sich also einerseits auf eine Nach-
zufällig oder durch technische Provokation diese weiskontrolle (der stofflichen Spuren) berufen, oder
Möglichkeiten »mit schicklichen Abweichungen, die aber die diskursive Offenlegung der Spur als eine ga-
die Selbsterhaltung nach Umständen erfordert« rantierte Rückverfolgbarkeit des Herstellungsprozes-
selbst an (Kant, KdU § 65, 1974, 322). Jede techni- ses fordern (engl. from farm to fork). Dies betrifft
sche Veränderung kann daher in einer Perspektive z. B. Öl, das aus transgenem Soja hergestellt wurde.
auf das Endprodukt (Frage der Naturbeschaffenheit) In praktischer Hinsicht ist wegen des internationa-
anstatt auf die erzeugenden Methoden (Frage der len Agrarhandels die lückenlose Rekonstruktion der
Naturgemäßheit) auch als natürlich erachtet werden. Spur mit administrativen Aufwand und hohen Kos-
Diesem Umstand verdanken sich die Schwierigkei- ten verbunden. Dies gilt auch für andere technik-
ten im Bio-Patentrecht, Erfindungen von Entde- ethisch relevante Bereiche, etwa für die Textilkenn-
ckungen präzise abzugrenzen. zeichnung (Stichworte: Kinderarbeit, Dumping-
Neben Verantwortungsaspekten werden Wertdi- Löhne, Nachhaltige Entwicklung).
mensionen bestimmt, die durch die Technik berührt So hat sich für die Technikethik eine neue, poli-
werden (s. Kap. IV.A.11). Optionswerte, die durch tisch unterstützte Bewertungsoption ergeben, die
biotechnische Innovationen entstehen könnten (z. B. Geneseprozessen ein höheres Gewicht beimisst. Sie
optimierte Obstsorten), werden gegen etablierte wird auch in der EU-Verordnung 1169/2011 (Le-
1. Leben und Technik 195

bensmittelinformations-Verordnung), die am 13.12. riologie, Botanik, Zoologie und Humanbiologie, die


2014 in Kraft tritt, umgesetzt: Künstlich zusammen- sich an der biologischen Systematik statt an Metho-
gesetztes ›Klebe-Fleisch‹ muss dann als solches ge- den orientierten. Der Blick auf die biologischen Rei-
kennzeichnet werden; hinzu kommen verschärfte che bleibt für die Ethik aber wichtig, weil das inter-
Regelungen für die Kennzeichnung der Herkunft. disziplinäre Verständnis die Kenntnis der Diszipli-
Man kann dies als moralische Historisierungsten- nen voraussetzt. Im Falle der PID ist die Selektion
denz verstehen, die sich auch im folgenden Beispiel desjenigen, was aufwachsen und gedeihen soll, seit
zeigt. Denn viertens eruiert die Technikethik in ihrer langem aus der Botanik bzw. der Praxis des Garten-
Form als Diskursethik (s. Kap. IV.B.6), welche baus bekannt. Die Technikethik umfasst daher auch
(Nicht-)Veränderungen von Lebewesen, -formen den Horizont der Technikgenese. Dagegen: Die
und -praxen in einer pluralen Gesellschaft langfris- wichtige Habermassche Forderung nach einer Gat-
tig wünschbar sein können. In diesen Kontext ge- tungsethik setzt angesichts der PID erst spät an. Sie
hört die Auseinandersetzung von Jürgen Habermas fokussiert auf das Verständnis von Menschsein, Frei-
mit der Präimplantationsdiagnostik (PID), in der er heit und Personalität, kann aber nicht die interne
diskurs- und klugheitsethische mit anthropologi- Dynamik biotechnischer Entwicklungen würdigen.
schen Überlegungen verbindet (s. Kap. V.7). Er un- Eine Alternative ist der oben genannte Fokus auf die
tergliedert die Frage nach der Wünschbarkeit der biotechnischen Methoden und die Beantwortung
PID in eine individual- und eine gattungsethische der Frage, in welchen gesellschaftlich relevanten
Perspektive. In letzter gilt, Bereichen sie Anwendung finden könn(t)en und
soll(t)en. Dieser technikinduzierte Fokus erlaubt eine
»dass die gentechnische Entwicklung im Hinblick auf ethische Bewertung in Frühstadien der biotechni-
die menschliche Natur anthropologisch tief sitzende ka-
tegoriale Unterscheidungen zwischen Subjektivem und schen Entwicklung und nicht erst, wenn die Technik
Objektivem, Gewachsenem und Gemachtem unscharf explizit für den Menschen Anwendung finden
werden lässt. Deshalb steht mit der Instrumentalisie- könnte.
rung des vorpersonalen Lebens ein gattungsethisches An den Beispielen wird deutlich, dass der Tech-
Selbstverständnis auf dem Spiel, das darüber entschei- nikbegriff im Handlungsfeld ›Leben und Technik‹
det, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende
und handelnde Wesen verstehen können« (Habermas weit gefasst werden muss und sich weder nur am
2001, 121). Modell der konstruierten Maschine, des Werkzeugs
(Mittels) noch an der zweckinstrumentell planenden
Er fordert damit einen zweifachen Bedingungserhalt und konstruierenden Handlung des Ingenieurs ori-
von Möglichkeiten ein: die Möglichkeit, sich selbst entieren kann. Vielmehr fungieren Lebewesen und
als zweckfrei entstanden und damit als frei zu verste- ihre Teile in der Biotechnik als Medien (s. Kap.
hen, und die Möglichkeit, das Verhältnis von Natur IV.A.8) und Mittel der Herstellung, wobei ihre Po-
und Technik im Leben als vielfältige Differenz erfah- tentialität, zu wachsen und zu werden die notwen-
ren zu können. Die zweite Forderung meint ›Leben‹ dige Antezedens- und Kontinuitätsbedingung der
als Pluraletantum, d. h. als Versammlung der einzel- Herstellung ist. Die entstehenden Realisate werden
nen Leben innerhalb der kontinuierlichen Gattung deshalb als Biofakte (Karafyllis 2006) bezeichnet und
Mensch. Hannah Arendt (1998, 24, Fn. 4) drückte lassen sich so von den klassischen Artefakten be-
diese gattungsethische Binnendifferenzierung mit grifflich abgrenzen (s. u.).
dem englischen Bindestrich-Begriff man-kind im Im Handlungsfeld der Biofakte hat die Technik-
Gegensatz zu mankind (Menschheit) präzise aus. ethik große Überschneidungen mit der Bio- und
In technikethischer Hinsicht ist dabei allerdings Medizinethik. Allerdings haben die Ansätze der
zu beachten, dass zell- und molekularbiologische Technikethik und -philosophie den Vorteil, dass sie
Techniken wie das Klonen und die PID sich in ihren Modelle und Fragestellungen aus dem ingenieurwis-
Möglichkeiten nicht auf die biologischen Reiche senschaftlichen Bereich auf den lebenswissenschaft-
Bakterien, Pflanzen und Tiere (inkl. Mensch) jeweils lichen Bereich übertragen und kritisch diskutieren
beschränken, sondern sich über Strukturmerkmale können. Dies zollt der Forschungsrealität Rechnung,
wie Gen, Protein und Zelle universal anwenden las- weil die Life Sciences sich über ihre Begriffe und Mo-
sen. Die Bereiche der Anwendung korrelieren also delle immer mehr den Ingenieurswissenschaften an-
nicht notwendig mit den biologischen Reichen. Dem nähern (engl. engineering paradigm) und dahin stre-
entspricht der jüngere Terminus der Life Sciences an- ben, steuer- und regelbare lebende Systeme zu gene-
statt der tradierten biologischen Disziplinen Bakte- rieren. Als Beispiele seien die Systembiologie und
196 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

die Synthetische Biologie (s. Kap. V.23) genannt. Die griff auf das metaphysische Konzept der Seele eröff-
Technikethik hat die Aufgabe, die Grenzen dieser net der Begriff ›Lebewesen‹ noch heute eine Konti-
Annäherung aufzuzeigen (begriffliche, epistemi- nuitätsperspektive und damit eine primär zeitliche
sche, experimentelle, moralische Grenzen). Sie ar- Sicht auf das werdende und wachsende Leben
beitet eng mit der Wissenschaftsethik, auch im Hin- (Schark 2005). Daran knüpfen narrative Ethikkon-
blick auf biomedizinische Forschungen zu Rasse, zepte in der Bioethik an (Düwell 2008, 46–54). ›Or-
Geschlecht, Klasse und Ethnie, deren Beurteilung ganismus‹ ist hingegen ein biologischer Modellbe-
noch vor der Frage ansetzt, ob und in welcher Form griff für den typisierten Vertreter einer Spezies, der
etwas lebenswert ist (Euthanasie). Die Biotechniken primär räumlich-funktional interpretiert wird. Ei-
verweisen ferner auf einen aristotelischen Begriff nen mittleren Weg markiert der Begriff ›Biota‹, der
von Techniker, der nicht nur den Handwerker, son- auf eine biotische statt abiotische Genese (z. B. Kris-
dern auch den Landwirt, Gärtner, Koch und Arzt so- talle) verweist, aber den essentialistischen Hinweis
wie den Politiker meinte – und der das Leben umfas- auf das Wesen vermeidet. Er umfasst auch Entitäten,
send praktisch gestaltete (s. Kap. IV.A.1). Die antike die zum Betrachtungszeitpunkt nicht (mehr) leben.
Wortbedeutung von (griech.) techne als Technik und Mit Aristoteles kam im 4. Jahrhundert v. Chr. eine
Kunst gilt es neu zu überdenken. Denn jüngst tritt wirkmächtige Unterscheidung auf: der Begriff zoé
die Biokunst (BioArt), die als Transgenic Art gen- für das körperlich-physische Leben (zóon: Lebewe-
technisch veränderte Organismen erzeugt, neu in sen) und der Begriff bios für das Leben der eigenen
die ethische Debatte über Biofakte ein (Zylinska Person, die sich als Bestandteil eines politischen Ge-
2009). meinwesens versteht, zu dem auch das technische
Die ethischen Beurteilungsprozesse stehen oft im Handeln gehört. Die Auseinandersetzung um die
Schulterschluss mit der philosophischen Anthropo- Arten und Weisen des guten Lebens (s. Kap. IV.B.8)
logie (s. Kap. IV.A.3) und der Idee vom Menschen verbanden sich deshalb schon früh mit Konzepten
(z. B. angesichts der Cyborg-Visionen der Transhu- von Biographie und Demokratie. Daraus entwickel-
manismus-Bewegung oder z. T. der Neurotechnik, s. ten sich zwei Perspektiven auf das Leben: die Dritte-
Kap. V.19). Im Falle der Reproduktionstechniken ist Person-Perspektive (Leben als Objekt) und die
auch eine Verbindung zur Feministischen Ethik (s. Erste-Person-Perspektive (Leben als Subjekt). Diese
Kap. IV.A.7) offenkundig. Eine weitere Verbindung Auftrennung, die sich philosophiehistorisch im
ist die von Ethik und Rechtsphilosophie bzw. dem Leib-Seele-Problem zeigt und bis in die Neurowis-
Recht in der Frage der Schutzwürdigkeit von Spezies senschaften fortsetzt, hat immer wieder zu Über-
(vgl. Gruber 2006) und der nationalen wie internati- windungs- und Vereinheitlichungsstrategien ge-
onalen Eigentumsrechte (Biopatente, Biopiraterie), führt. Hier wären u. a. die mittelalterlichen Debatten
sowie die Verbindung von Ethik und Politischer Phi- um die vita (für ›Leben‹), die frühaufklärerische
losophie in Bezug auf Liberalisierungsdiskurse und Strömung des Vitalismus und ihre Fortsetzung im
Argumente der Verteilungsgerechtigkeit (z. B. Organ- Neovitalismus sowie die Lebensphilosophie (s. Kap.
spende/Organhandel; s. Kap. IV.B.7 und Kap. IV.B.9). IV.A.4) zu nennen, aber auch die physikalistisch-
thermodynamisch inspirierte Frage von Erwin
Schrödinger Was ist Leben? (1944).
Begriffe, Modelle und Perspektiven Gemeinhin ordnet man die Dritte-Person-Per-
spektive den Bio- bzw. Naturwissenschaften, die
Die ethischen Debatten, ob und wie Lebewesen Erste-Person-Perspektive den Geistes- bzw. Human-
technisch verändert werden sollen, greifen auf die wissenschaften zu. Die Medizin nimmt eine vermit-
Frage nach wünschbaren Natur-Technik-Verhältnis- telnde Stellung ein, die sich auch im Kanon ihrer
sen zurück (s. Kap. IV.C.2). Dabei ist der Begriff ›Le- Methoden widerspiegelt. In ethischen Debatten
bewesen‹ ein Hinweis auf das metaphysische Kon- kommt der Wahl der Perspektive und Begriffe ein
zept der Seele, das Pflanze, Tier und Mensch als Le- großes Gewicht zu (Maienschein 2005). So ist ein
bensformen im Diesseits wie Jenseits wesenhaft häufig vorgebrachter Kritikpunkt die Objektivie-
verbindet. Diese Sicht wird in interkulturellen Aus- rung oder Verdinglichung des Lebens durch die mo-
handlungsprozessen um Biofakte wichtig (zu Globa- dernen Biotechniken und ihre Diskurse, die das
lisierung und Interkulturalität s. Kap. IV.C.9). Bei freiheitliche Leben des Einzelnen auf die Dritte-Per-
Bakterien sprechen wir im Allgemeinen von ›Orga- son-Perspektive reduziere. Damit korrespondiert
nismen‹, nicht von ›Lebewesen‹. Selbst ohne Rück- der von Michel Foucault seit den 1970er Jahren vor-
1. Leben und Technik 197

gebrachte Hinweis auf die ›Bio-Macht; eine Kritik an blem; Brenner 2007, 109 ff.), dass Zwecke der Lebe-
der Massen- und Konsumgesellschaft, die sich eben- wesen weder in einer natürlichen Ursprungsform
falls in der Kritischen Theorie (s. Kap. IV.A.6) findet. bestimmbar sind (weil Lebewesen nicht menschen-
Hier wären auch die Psychotechniken, die Subjekte gemacht sind und weil Lebewesen sich wandeln),
freiwillig auf sich anwenden (lassen), in das Hand- noch in einer technisierten Form augenscheinlich
lungsfeld ›Leben und Technik‹ eingeschlossen. sichtbar sind (Medialitätsproblem). Das Biofakt lie-
Im Rückgriff auf die Wissenschaftsethik gehen in fert deshalb per se weder einen Maßstab für die ethi-
die technikethische Bewertung normative Argu- sche Bewertung, noch zeigt es das Maß der techni-
mente ein, die sich aus Begriffen, Modellen und Per- schen Veränderung für die Beurteilung einer ange-
spektiven bereits auf der hypothetischen Beschrei- messenen Zweck-Mittel-Relation notwendig an.
bungsebene und auf der experimentellen Ebene er- Dem Wissen um die technische Veränderung und
geben. Dies beinhaltet auch die Beurteilung neuer der Teilhabe am Wissen kommt daher eine beson-
bildlicher Repräsentation, z. B. ob ein humaner Em- dere moralische Bedeutung zu (Experten-Dilemma;
bryo im 8-Zell-Stadium bereits als ›Mensch‹ zu be- zu Technikkonflikten s. Kap. III.6).
zeichnen ist. Eine Herausforderung besteht darin,
dass Lebewesen keine starren Objekte sind, sondern Literatur
wachsen und sich eigendynamisch wandeln können Arendt, Hannah: The Human Condition [1958]. Chicago
(Potentialität). Den sog. Potentialitäts-Argumenten 2
1998 (dt. 1960).
kommt ein besonderes ethisches Gewicht zu, weil Brenner, Andreas: Leben. Eine philosophische Untersu-
die natürliche Möglichkeit, überhaupt etwas zu wer- chung. Bern 2007.
den, gegen die biotechnische Möglichkeit, etwas Be- Düwell, Marcus: Bioethik. Methoden, Theorien und Berei-
che. Stuttgart/Weimar 2008.
stimmtes zu werden (zum Technikdeterminismus
Gruber, Malte-Christian: Rechtsschutz für nichtmenschli-
s. Kap. IV.A.9) und gegen die Möglichkeit, gar nicht ches Leben. Baden-Baden 2006.
mehr werden zu können (z. B. nicht-eingepflanzte Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
Embryonen in Folge der In-vitro-Fertilisation) abge- Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.
wogen werden muss. 2001.
Zentral ist für die Technikethik die Einsicht, dass Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen II. Ethik der
Technik als provisorische Moral. Bielefeld 2007.
es sich bei Biotechniken um sog. transklassische Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. Werkaus-
technische Systeme handelt (Hubig 2007, 41 ff.), die gabe Bd. X. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt
bislang nur bedingt auf klassische Weise, d. h. inge- a. M. 1974 [KdU].
nieurstechnisch, gesteuert und geregelt werden kön- Karafyllis, Nicole C.: Biofakte  – Grundlagen, Probleme,
nen. So geht die Technikethik hier über die Inge- Perspektiven. In: Erwägen Wissen Ethik 17/4 (2006),
547–558.
nieursethik (s. Kap. III.7) weit hinaus. Mit Biotech- Krohs, Ulrich/Kroes, Peter (Hg.): Functions in Biological
niken werden keine umgrenzten Artefakte, sondern and Artificial Worlds. Comparative Philosophical Per-
wachsende Biofakte hergestellt. Biofakte wachsen spectives. Cambridge, Mass./London 2009.
selbst, aber nicht von selbst. Einerseits stehen Bio- Maienschein, Jane: Whose View of Life? Embryos, Cloning
fakte in einer agrikulturellen Tradition der Züchtung and Stem Cells. Cambridge, Mass. 2005.
Schark, Marianne: Lebewesen versus Dinge. Eine metaphysi-
und Zähmung der Biota, die eng mit dem Konzept sche Studie. Berlin u. a. 2005.
der Zufallstechnik verbunden ist, weil man auf das Zylinska, Joanna. Bioethics in the Age of New Media. Cam-
erwünschte Resultat hoffen muss. Dies fasst das eu- bridge, Mass. 2009.
ropäische Patentrecht als »im Wesentlichen biologi- Nicole C. Karafyllis
sche Züchtungsverfahren«, deren durch Kreuzung
und Selektion entstandenen Produkte vom Patent-
schutz ausgeschlossen sind. Andererseits markieren
Biofakte begrifflich durch die molekulargenetischen,
gentechnischen und informationstechnischen Fort-
schritte (in silico-Modellierung) eine neue, syste-
misch angelegte und hochgradig invasive Form von
Technik, die dem Lebewesen nicht mehr ein äußerli-
ches ist und ferner nicht mehr unbedingt als etwas
Technisches zu erkennen ist. Die Technikethik steht
vor dem Problem (Teleologie- oder Finalitätspro-
198 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

2. Natur und Technik Freilich wurde das Anthropozän nicht durch ei-
nen kollektiven Beschluss als ein Ziel gesetzt, das es
dann mit geeigneten, vor allem technischen Mitteln
Das Zeitalter des Anthropozäns und zu erreichen galt. Es resultierte aus einer Grundkon-
seine geistesgeschichtlichen Wurzeln stellation von wirksamen Faktoren, die sich in der
frühen europäischen Moderne im Rahmen der ›ok-
Paul Crutzen (2002) hat die Eingriffstiefe der zidentalen Rationalisierung‹ herausbildete. Diese
Menschheit in die Atmo-, Hydro-, Kryo- und vor war u. a. gekennzeichnet durch einen immer enger
allem Biosphäre, d. h. in die Naturausstattung des werdenden Konnex aus moderner Naturwissen-
Planeten, in eine erdgeschichtliche Perspektive ge- schaft (Physik, Chemie, Biologie), Technologieent-
rückt. Die heutige Menschheit beeinflusst den geo- wicklung und Industrialisierung der Warenproduk-
ökologischen Gesamtzustand des Planeten und da- tion, die zum Massenkonsum von Verbrauchsgütern
mit auch die Evolution anderer Spezies. Crutzen aller Art führte. Dieser Konnex aus Wissenschaft,
prägte für diese Situation den Ausdruck ›Anthropo- Technologie und Industrie wurde maßgeblich von
zän‹. Ob das Anthropozän ein wirkliches Erdzeital- Francis Bacon damit gerechtfertigt, dass mittels die-
ter oder nur eine Periode innerhalb des Holozäns ser Trias die lebensweltlichen Nöte, Sorgen, Versa-
ist, sei dahingestellt. In ethischer Perspektive ist gungen und Beschwernisse, unter denen in vormo-
wichtiger, dass der Terminus ›Anthropozän‹ für uns dernen Gesellschaften die überwiegende Mehrzahl
Menschen keine neutrale Bezeichnung (wie ›Perm‹ der Menschen unbestreitbar litten, gelindert, wenn
oder ›Kambrium‹) sein kann, da er sich nicht auf ein nicht gar beseitigt werden könnten. Auch sollten
Naturschauspiel, sondern auf beurteilbare mensch- sich durch die Verbesserung der materiellen Lebens-
liche Praktiken bezieht und uns darauf hinweist, in verhältnisse die moralischen Verhältnisse verbes-
welche Rolle die Menschheit, verstanden als Ge- sern, da Großmut, Rücksicht und Hilfsbereitschaft
samtheit aller Menschen, ›objektiv‹ hineingewach- wahrscheinlicher seien, wenn Knappheit und Not
sen ist. Geht man davon aus, dass wir Menschen uns verringert worden seien. Der Prozess der okzidenta-
selbst als handlungs-, entscheidungs-, verantwor- len Rationalisierung setzte schon in der Renaissance
tungs-, und moralfähige Wesen, d. h. als freie Perso- ein; die Neuzeit im engeren Sinne kann als »Bacon-
nen zu denken genötigt sind, stellt sich die Grundsi- Projekt« (Schäfer 1993) bezeichnet werden, das in
tuation im Anthropozän folgendermaßen dar: Eine den Kernländern Europas, aber auch in den Kolo-
der Anzahl nach dramatisch angewachsene und nien des 16. bis 20. Jahrhunderts zu einer immer in-
technisch hochgerüstete Menschheit trägt unab- tensiveren Nutzung und Überformung der Natur
weisbar ein hohes Maß an Verantwortung für die führte.
zukünftige Fortentwicklung ihrer selbst als einer Wenn die Diagnose vom Anthropozän zutrifft,
absehbar wohl irreversibel globalisierten Zivilisa- dann ist eine Dichotomisierung von ›Natur‹ und
tion und für den Fortbestand vieler der übrigen ›Technik‹ in einem genauen Sinne nicht mehr zeitge-
Spezies und ihrer Habitate. Die moralische Brisanz mäß. Wenn die Philosophie je ihre Zeit auf den Be-
dieser Situation wurde am deutlichsten von Hans griff zu bringen sucht (so Hegel), so darf sie Natur
Jonas (1979) erkannt (s. Kap. IV.B.2). Was die Situa- und Technik begrifflich nicht mehr so fassen, dass
tion der belebten außermenschlichen Natur anbe- deren Extension disjunkt wäre. Sie muss ihre Be-
trifft, so ist es, trotz aller methodischen Probleme, griffsbildung vielmehr so anlegen, dass Vermittlun-
die Anzahl aussterbender Arten abzuschätzen, gen von Natur und Technik konzeptionell erfasst
keine Übertreibung zu behaupten, dass das Anthro- und technik-, bio-, und umweltethisch beurteilt wer-
pozän eine Periode des Massenaussterbens von Ar- den können. Dabei sollte die konzeptionelle Ebene
ten ist, die sich von ihrem Ausmaß her in die fünf die Ebene der axiologischen oder deontologischen
großen erdgeschichtlichen Mega-Extinktionen ver- Beurteilung nicht präjudizieren. Die Techniken der
gleichen lässt, aber von ihren Ursachen her auf Landnutzung, um die es im Folgenden vor allem
menschliche Praktiken verweist (wie Bejagung, Ro- geht, stellen Vermittlungen von Natur und Technik
dung, Landnutzungsänderung, Urbanisierung, Ein- dar, deren Beurteilung für die Gestaltung des An-
bringung von Neobiota, Eintrag von Schadstoffen, thropozäns von zentraler Bedeutung ist.
Eutrophierung usw.). Die Menschheit lebt also nicht
›im‹ Anthropozän, sondern sie praktiziert es ipso
facto selbst.
2. Natur und Technik 199

Zum Verhältnis von Natur und Technik wäre in diesem Fall nicht mehr ausreichend, um die-
sen Maisanbau noch der Natursphäre zuzuschlagen.
Technik als die Welt der Artefakte ist an sich essenti- Ähnliches gilt auch für hoch gezüchtete Hunde, die
ell etwas Stoffliches, wobei auch die sog. Kunststoffe als Haustiere gehalten werden und trotz ihres ›natür-
ein naturales stoffliches Substrat besitzen. Die Tech- lichen‹ Stoffwechsels eher Artefakten ähneln. Auch
nik wird aus Naturstoff geformt und die gegenwär- im Naturschutz selbst ist daher die Trennung von
tige Sorge um die Produktion ›seltener Erden‹ zeigt, Natur und Technik nicht scharf zu ziehen. Viele
dass dies auch für avancierte Informations- und einstmals gepflanzte Wälder sind heute unter Natur-
Kommunikations-Techniken zutrifft. Bei Artefakten schutz gestellt und Alleen, die ursprünglich Bau-
tritt während der ›Entsorgung‹ häufig die stoffliche technik waren, sind heute Schutzgüter des Natur-
Seite wieder deutlicher hervor als während der Nut- schutzes.
zung (etwa bei ›Elektroschrott‹). Während in Tech- Da eine Galerie derartiger ›Biofakte‹ (s. Kap.
nologien Wissen über Natur eingeht, geht in Technik IV.C.1) begrifflich nicht weiterhilft, sollte man von
Naturstoff ein. Die Welt der Artefakte ist mit kultu- ›Natürlichem‹ als von einem graduellen Konzept
rellen Werten wie Komfort und Bequemlichkeit ver- ausgehen. Dies entspricht der Situation des Anthro-
bunden und sie prägt Konsum- und Lebensstile. Die pozäns und ist mit einem erkenntnistheoretischen
Erfolge der Naturbeherrschung führen zu artifiziel- Realismus gut vereinbar. Dieses Konzept lässt sich
len Lebensstilen (Stadt, Büro, Internet, Handy, Fit- als scala naturae als gradierbares Kontinuum zwi-
ness-Studio, convenience food usw.). Das technologi- schen den idealtypischen Polen der Wildnis und der
sche Wissen der meisten Menschen hat sich von den Artefakte modellieren. Im Unterschied zum Grenz-
Technologien der direkten Naturbearbeitung ent- fall absoluter Wildnis, in der kein menschlicher Ein-
fernt. fluss nachweisbar ist, sind relative Wildnisse solche
Der Begriff der Natur, der seit Beginn des Beitrags Gebiete, in denen menschlicher Einfluss vorliegt,
schon vorausgesetzt wurde, ist ein Grundbegriff al- aber die natürliche Dynamik nicht wesentlich be-
ler Philosophie, dessen Geschichte nicht Gegenstand stimmt. Nach wie vor gibt es auf dem Planeten groß-
dieses Beitrags ist (s. Kap. IV.A.1). Die folgenden Be- flächige Gebiete relativer Wildnis. Im Unterschied
merkungen schließen weniger an philosophiehisto- zu primärer Wildnis, in der im geschichtlichen
rische oder wissenschaftsphilosophische Disputen Rückblick wenig oder kein menschlicher Einfluss je
über den Naturbegriff an, sondern an den praktisch vorgelegen hat, sind sekundäre Wildnisgebiete sol-
interessierten Debatten des Umwelt- und Natur- che, aus denen Menschen sich freiwillig oder un-
schutzes. Beliebt ist in Naturschutzkreisen die For- freiwillig zurückgezogen haben. Die Gegend um
mel, der Mensch sei ein »Teil der Natur«. Häufig Tschernobyl entwickelt sich derzeit zu einer sekun-
wird aber auch Natur mit ›unberührter‹ Wildnis dären Wildnis rund um die verlassenen Ruinen der
gleichgesetzt. Beide Bestimmungen widersprechen technischen Zivilisation. In Deutschland bieten sich
einander. Die Floskel vom Menschen als »Teil der ehemalige Truppenübungsplätze als Gebiete an, die
Natur« sollte man nicht wörtlich nehmen, sondern sich zu relativ-sekundärer Wildnis entwickeln kön-
als unbeholfenen Ausdruck für die Sehnsucht nach nen, in denen junge Wölfe neben Munitionsresten
moralisch verantwortbaren Mensch-Natur-Verhält- umherstreunen. Die These vom »Ende der Natur«
nissen. Artefakte sind keine Naturgegenstände. trifft insofern nur zu, wenn mit ›Natur‹ ursprüng-
Setzt man Natur mit Wildnis gleich und diagnos- lich-absolute Wildnis gemeint ist. Selbst dann bliebe
tiziert, dass es auf dem Planeten kaum noch ›echte‹ der Schutz relativer und sekundärer Wildnis, der
Wildnis gibt, mag man das »Ende der Natur« auch in Mitteleuropa möglich ist, sinnvoll und wün-
(McKibben 1989) dramatisieren, um daraus natur- schenswert.
schützerische Botschaften zu generieren. Freilich Mit der Entfernung vom Zustand der Wildnis
wird man (gerade als Naturschützer) intuitiv zögern, nimmt der Grad der anthropogenen Überformung
beispielsweise ein entwässertes Niedermoor, auf zu, welche in aller Regel mit Hilfe des Einsatzes tech-
dem mit hohem Chemikalieneinsatz gentechnisch nischer Geräte geschieht. Daher begegnet man in
modifizierter Mais wächst, noch als ›Natur‹ zu be- den Landnutzungssystemen (Weide- und Forstwirt-
zeichnen, selbst wenn der Mais von selbst weiter schaft, Ackerbau und Fischerei) vielfältigen Vermitt-
wächst, wenn der Landwirt schläft. Dieses Weiter- lungen von Natur und Technik wie etwa Entwässe-
wachsen der Nutzpflanzen im Unterschied zu den rungsgräben, Schöpfwerke, eingezäunte Schonun-
technisch erzeugten Artefakten (wie etwa ein Tisch), gen, Weidezäune, Viehtränken, Teiche, Wege und
200 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Straßen usw. Je weiter man sich auf diesem Konti- Basis der Sklaverei, in der ackerbaulichen Über-
nuum in Richtung des Artifiziellen bewegt, umso formung der Prärien, in der Vernichtung der Bison-
sinnvoller wird die Anwendung des Begriffs des Bio- herden, dem Aufbau einer industriellen Fleischpro-
fakts (Zierpflanzen, Labormäuse usw.). Mit Hilfe duktion (mit den Schlachthöfen von Chicago als
dieses Kontinuums kann man auch den Begriff der Zentrum) und der verkehrstechnischen Erschlie-
Renaturierung erörtern. Er bezieht sich nicht auf die ßung. Siegfried Giedion (1941) hat die Mechanisie-
Wiederherstellung eines früheren Zustandes, son- rung der US-Landwirtschaft im Detail rekonstruiert,
dern auf eine Verschiebung von überformten Gebie- die sich im 20. Jahrhundert trotz der Agrarkrise der
ten hin zu einem naturnäheren Zustand. 1920er Jahre (Erosion, dust bowles) fortsetzte. Inner-
Für die Frage nach dem Verhältnis von Natur und halb weniger Jahrzehnte wurden die Naturland-
Technik sind nun nicht die Extreme (Wildnis auf der schaften des Mittleren Westens von einer industriel-
einen und die Virtualität elektronischer Medien auf len Landnutzung überformt. Die industrielle Land-
der anderen Seite) interessant, sondern die mittleren wirtschaft geht einher mit der Standardisierung von
Regionen, in denen Natur und Technik sich im Me- Lebensmitteln und deren Verwertung durch Super-
dium menschlicher Arbeit vermitteln. Techniken märkte. Gleichzeitig mit diesen Landnutzungsprak-
der Landnutzung (s. Kap. V.1) werden für die Gestal- tiken entstand in den USA das Naturschutzideal von
tung des Anthropozäns von entscheidender Bedeu- wilderness, das schon im 19. Jahrhundert zur Ein-
tung sein. Daher ist der folgende Abschnitt dem ›Ba- richtung von Nationalparks (Yosemite, Yellowstone)
conismus der Landnutzung‹ gewidmet. führte. In den USA tritt das Verhältnis von Natur
und Technik aus dem vermittelnden Kontext einer
Kulturlandschaft heraus in den abstrakten und un-
Baconismus der Landnutzung vermittelten Gegensatz von industrieller Landwirt-
schaft und Wildnisschutz.
Für den tiefgreifenden Landschaftswandel in Europa Auf der Ebene der Visionen wurden auch in Eu-
während des Aufstiegs des Baconismus zwischen ropa immer gigantischere Entwürfe der Naturbe-
dem 18. und 20. Jahrhundert waren David Black- herrschung entworfen, wie etwa die Trockenlegung
bourn (2007) zufolge vor allem die Begradigung und des Mittelmeeres (Projekt »Atlantropa« von Herman
Kanalisierung großer Flüsse, die Entwässerung von Sörgel). Der Baconismus gipfelt in der Konzeption
Mooren (›Melioration‹), die Eindeichung von Über- von »großen« Ingenieuren als »Weltbaumeistern«
schwemmungsgebieten, die künstliche Anpflanzung (so Sörgel, zitiert bei van Laak 1999, 236). Die Pro-
artenarmer Altersklassenwälder, Flurbereinigung jekte, die sich der BL zutraut, erreichen kontinentale
und moderne Landwirtschaft, Staudammbauten im Ausmaße. Im Marxismus/Leninismus wurde der BL
Hoch- und Mittelgebirge, Eisenbahnlinien und be- in die Landmassen Asiens hinein exportiert. 1950
festigte Straßen zur besseren Anbindung ländlicher wurde der »Große Stalinsche Plan zur Umgestaltung
Regionen an städtische Zentren verantwortlich. Die- der Natur« verabschiedet, der die Ausweitung der
ser ›Baconismus der Landnutzung‹ (BL) beabsich- Agrarproduktion (etwa nach Kasachstan), Kraft-
tigte eine Verbesserung der materiellen Lebensver- werks- und Kanalbauten und die Umleitung ostsibi-
hältnisse durch eine technische Bemeisterung der rischer Flüsse nach Süden vorsah (van Laak 1999,
Natur und der Ausnutzung ihrer Kräfte. Dieser kul- 174). Das Ziel, die Wüsten mit wasserbautechni-
turell hegemoniale BL rief allerdings seit der Mitte schen Mitteln zum Blühen zu bringen, steht etwa
des 19. Jahrhunderts kulturelle Gegenströmungen hinter dem Bau des Karakorum-Kanals. Das Wasser
hervor, die sich für den Erhalt naturnaher Land- des Amu Darya, das entlang des über 1000 km lan-
schaften und einzelner Naturdenkmale einsetzten. gen Kanals zum Anbau von Baumwolle genutzt
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten sich in wurde, wurde dem Aralsee gezielt entzogen, was
Deutschland etliche proto-ökologische Strömungen, zum ökologischen Kollaps der Aral-Region führte
deren Mitglieder auch gegen großtechnische Ein- (s. Kap. V.6).
griffe in die Natur protestierten. Der Baconismus der Landnutzung setzte sich
Außereuropäisch begegnet man dem BL im auch im maoistischen China, insbesondere in den
19. Jahrhundert in einer von kulturellen Rücksicht- Jahren des sog. »großen Sprungs nach vorn« durch,
nahmen entfesselten Gestalt. In Nordamerika zeigte der in einer schweren Hungersnot endete (1958–
sich diese Grundeinstellung in der massiven Entwal- 1962; umfassend Jiseng 2012). Durch den Anbau
dung der Ostküste, in Plantagenwirtschaft auf der von Baumwolle, Futtermittel (Soja) und Biomasse
2. Natur und Technik 201

(Palmöl) dehnt sich der BL in der jetzigen Phase des seine Nutzbarkeit hin vor- und hergestellt wird. Dies
Anthropozäns in die weniger überformten Gebiete zeigt sich für Heidegger deutlich in der Landnut-
der südlichen Hemisphäre aus. René Descartes be- zung: »Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den
rühmtes Diktum vom Menschen als »maitress et pos- Sog eines […] Bestellens geraten, das die Natur stellt.
sesseurs de la nature« (Discours de la Méthode, Sixi- Er stellt sie im Sinne der Herausforderung. Ackerbau
éme Partie) hat insofern ›die Welt erobert‹, vielfach ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie« (ebd.,
unter den Vorzeichen ständiger Produktivitätsstei- 14). Die Kritik an den Risiken und Schattenseiten
gerungen, die sich mit Bevölkerungszuwachs und des BL wurde allerdings erst in den 1970er Jahren
mit Nachfrageverhalten rechtfertigen ließen. Ange- unüberhörbar.
sichts der systemübergreifenden Gemeinsamkeiten Gegenwärtig ist der Baconismus längst nicht
der intensiven Landnutzung erscheint es eher nach- mehr unangefochten. Man kann die konzeptionellen
rangig, ob in der Sprache des jeweiligen Systems von und argumentativen Bemühungen in den Gebieten
›Effizienz‹, ›Erzeugungsschlacht‹ oder ›Planüberer- der praktischen Philosophie wie Technikethik, Tech-
füllung‹ gesprochen wurde. Der BL hat insofern tri- nikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4), Umweltethik,
umphiert. Architekturethik und Landwirtschaftsethik als Be-
Da die Ausweitung der landwirtschaftlichen An- strebungen interpretieren, den Baconismus zu korri-
bauflächen an Grenzen stößt, setzt BL zunehmend gieren bzw. zu ›mäßigen‹. In der Technikethik wur-
auf Intensivierung. Spätestens seit der »grünen Re- den beispielsweise diverse Verträglichkeitsdimensi-
volution« der 1950er Jahre vollziehen sich die Ver- onen skizziert (Hastedt 1991; Grunwald 2010),
mittlungen von Natur und Technik in der Züch- wobei die Dimension der Umwelt- bzw. Naturver-
tungsforschung. Die Vielzahl der lokalen Varietäten, träglichkeit hinsichtlich der Wertkategorien der
Rassen (etwa Schafe oder Hühner) und Sorten (etwa Umweltethik (Ott 2010) differenziert werden kann.
an Reis) wird durch wenige Hochleistungssorten Daher lässt sich das Verhältnis von Natur und
und -rassen abgelöst. Die Gentechnik (s. Kap. V.7) Technik im Prinzip auch aus der Perspektive der
im Bereich der Pflanzenzüchtung ist ein folgerichti- Umweltethik und der Nachhaltigkeitstheorie (s.
ger Schritt hin zu einer technischen Manipulation Kap. IV.B.10) in den Blick nehmen.
von Pflanzen zu agrarischen Zielen. Es könnte sein, Diese Perspektivierung über mehrere Stufen der
dass sich die polemische Kritik an der ›grünen‹ Gen- Vermittlung von Technik und Natur hinweg. Zu-
technik in einem tiefen Unbehagen an diesem Para- nächst sollte man die Erfolge hinsichtlich der Um-
digma gründet. welttechnologien und Umwelttechnik (Luftreinhal-
tung, Abfallverwertung, Wasserkläranlagen usw.)
und auch die Rekultivierung von stark überformten
Wege zu einer Versöhnung von Landschaften (bspw. Bergbaufolgelandschaften) wür-
Natur und Technik digen. Die umwelttechnischen Erfolgsgeschichten
können als kluge Selbstkorrekturen des Baconismus
Die Kritik am Baconismus der Landnutzung ist so interpretiert werden, dessen aufgeklärte Vertreter
alt wie dieser selbst. Von Goethes Warnungen über die externen Effekte der Produktion auf ein erträgli-
das heraufkommende »Maschinenwesen«, Ludwig ches Maß reduzieren wollten, um das Gesamtsystem
Klages ’ beeindruckender Rede über »Mensch und hinsichtlich seiner Reproduktion nicht zu gefähr-
Natur« (1913), über Entwürfe zu einer Landethik den. Der aufgeklärte Baconismus entwickelte daher
(Leopold 1947) bis zu Rachel Carsons Warnungen Konzepte wie half-way technologies, durch die die
vor einem »stummen Frühling« artikuliert sich ein negativen Umweltauswirkungen den bisherigen Un-
tiefes Unbehagen an einer Praxis der Landnutzung, vollkommenheiten der Technikentwicklung zuge-
in der der Natur jede Eigenständigkeit und Eigen- schrieben werden konnten. Dies führt zur Forde-
wertigkeit abgesprochen wird. Die mentalitätsbil- rung nach rascher Diffusion ›grüner‹ Technologien
dende Kraft des Baconismus wurde von Martin Hei- (SRU 2002) und zur Förderung ›starker‹ technischer
degger deutlich erkannt. Für Heidegger (1978, 12– Umweltinnovationen durch den Staat (SRU 2008).
18) war das Technische eine »Weise des Entbergens« In einer zweiten Stufe kann man die Hoffnung
von Natur. Nicht als Verfertigen, sondern als Entber- vieler Ökonomen auf einen Verlauf der technischen
gen ist Technik ein »Her-vor-bringen«. Die »Weise und wirtschaftlichen Entwicklung gemäß der sog.
des Entbergens« nennt Heidegger »Ge-Stell«. Das Environmental-Kuznets-Kurve (EKK) aufgreifen.
»Ge-Stell« bewirkt, dass alles Innerweltliche auf Danach beginnen Gesellschaften »arm und sauber«,
202 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

durchlaufen dann eine Phase »schmutziger« Wohl- Descartes, René: Discours de la Méthode – Von der Methode
standsmehrung, um zuletzt eingetretene Umwelt- des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftli-
chen Forschung. Hamburg 1960.
schäden und Naturverluste zu beheben, so dass sich
Giedion, Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung – Ein
am Ende der Entwicklung ein hoher gesellschaftli- Beitrag zur anonymen Geschichte. Sonderausgabe.
cher Reichtum mit einer erholten Natur versöhnen. Frankfurt a. M. 1987.
Da dieses Verlaufsschema keine ökonomische Ge- Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung  – Eine Ein-
setzmäßigkeit darstellt, sollte man es normativ inter- führung. Berlin 22010.
pretieren: Die Technikentwicklung sollte sich zum Ziel Hastedt, Heiner: Aufklärung und Technik. Frankfurt a. M.
1991.
setzen, die EKK geschichtlich zu bewahrheiten. Der Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre. Pfullingen
technikethische Imperativ im Anthropozän könne 4
1978.
daher folgendermaßen formuliert werden: Handle Jisheng, Yang: Grabstein  – Mùbei  – Die große chinesische
so, dass Maxime, Zielbestimmung und Mittelwahl im- Hungerkatastrophe 1958–1962. Frankfurt a. M. 2012.
mer zugleich auch als Beitrag zur Verwirklichung der Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M.
1979.
EKK gedeutet werden können. Die Theorie starker Klages, Ludwig: Mensch und Erde. In: Ders.: Mensch und
Nachhaltigkeit (Ott/Döring 2008) fordert den um- Erde [1913]. Jena 1929, 9–41.
fassenden Erhalt der Naturkapitalien aus Verantwor- Leopold, Aldo: Am Anfang war die Erde (A Sand Country
tung gegenüber zukünftigen Generationen (s. Kap. Almanach). München 1992.
IV.B.10). Unter der Perspektive der Vermittlung ist McKibben, Bill: Das Ende der Natur. München 1989.
Ott, Konrad: Zur ethischen Dimension von Renaturie-
das sog. kultivierte Naturkapital von besonderem rungsökologie und Ökosystemrenaturierung. In: Stefan
Interesse (Weideland, Weinberge, Fischteiche usw.). Zerbe/Gerhard Wiegleb (Hg): Renaturierung von Öko-
Die Technikentwicklung sollte verträglich sein mit systemen in Mitteleuropa. Heidelberg 2009, 423–439.
der Idee, in die Bestände und Fonds kultivierten Na- – : Umweltethik zur Einführung. Hamburg 2010.
turkapitals zu investieren. – /Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit.
Marburg 22008.
Die vielen Entwürfe zur ›Allianztechnik‹, ›Kreis- Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Für eine
laufwirtschaft‹, ›Permakultur‹ usw. teilen bestimmte neue Vorreiterrolle. Umweltgutachten 2002. Stuttgart
Grundintuitionen hinsichtlich einer Vermittlung 2002.
von Natur und Technik, die die Naturseite dieses –: Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels. Umweltgut-
Vermittlungsverhältnisses als solche ›respektiert‹. achten 2008. Berlin 2008.
Schäfer, Lothar: Das Bacon-Projekt. Frankfurt a. M. 1993.
Damit gerät natürlich das Phänomen der Lebendig-
van Laak, Dirk: Weiße Elefanten – Anspruch und Scheitern
keit neu in den Blick und Konzepte wie ›Resilienz‹, technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert. Stuttgart
›Retinität‹, ›Renaturierung‹, ›lebendige Fonds‹, eco- 1999.
system services usw. gewinnen an Bedeutung. Natur Konrad Ott
erscheint hier nicht nur als Substrat, sondern sogar
als ›Akteur‹. In der Bionik zeigt sich eine neue Art
der Vermittlung von Technik und Natur, die die Na-
tur als technische Lehrmeisterin achtet. Die giganti-
schen Utopien des Baconismus werden ersetzt durch
phantasievolle Visionen einer symbiotischen und
ko-evolutionären Vermittlung von Natur und Tech-
nik. Die Anerkennung einer neuen Kulturaufgabe,
die sich titelartig mit »Renaturierung« überschrei-
ben ließe, lässt sich naturethisch begründen (vgl. Ott
2009). Es sollte zum Kern der Technikphilosophie
zählen, die Idee »Renaturierung als Kulturaufgabe
im Anthropozän« zu durchdenken, wobei Kreativi-
tät und Phantasie ausdrücklich zugelassen sind.

Literatur
Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. München
2007.
Crutzen, Paul J.: Geology of mankind. In: Nature 415
(2002), 23.
203

3. Tier und Technik unserer Gesellschaft. Die thematische Ausblendung


von Tieren in der Technikphilosophie, insbesondere
in der Technikethik, stellt nicht nur einen faktischen
Tier und Technik: Ein vernachlässigtes Mangel dar, sondern auch einen normativen, weil
Thema der Technikphilosophie dadurch die Wahrnehmung von Tieren als bloß
nutzbare Ressourcen verstärkt und indirekt legiti-
Die Technikphilosophie beschäftigt sich sowohl mit miert wird.
der philosophischen Bedeutung der Technik als Dieser Beitrag zeigt demgegenüber, dass ein spe-
auch mit dem Verhältnis von Mensch, Natur und zifisch analytischer Fokus auf Tiere in der Technik-
Technik. Heutzutage spielt dort auch die Auseinan- philosophie, insbesondere in der Technikethik, heut-
dersetzung mit dem Thema ›Umwelt‹ eine große zutage nicht mehr vernachlässigt werden kann.
Rolle, sowohl als Reflexion über die Effekte der
Technologien (Umweltverschmutzung und Klima-
wandel), als auch normative Reflexion über den Die Nutzung von Tieren in
Umgang mit natürlichen Ressourcen (zu Natur und Wissenschaft und Technologie
Technik s. Kap. IV.C.2). Tiere fallen aber aus den Be-
grifflichkeiten heraus und werden sowohl in be- Der Mensch ist das Wesen, das Technologien kon-
kannten Handbüchern der Technikphilosophie (vgl. struiert und imaginiert: So wird fast immer in der
u. a. Olsen et al. 2009; Kaplan 2004), als auch in Technikphilosophie argumentiert. Dennoch sind
wichtigen fachlichen Zeitschriften völlig ausgeblen- Tiere nicht nur in der Lage, bestimmte Werkzeuge
det, mit einigen Ausnahmen in der Debatte über zu gebrauchen, ihre Kenntnisse den Nachkommen
Gentechnik. In der Zeitschrift Philosophy & Techno- oder anderen Artgenossen zu vermitteln (vgl. Benz-
logy tauchte beispielsweise bisher nur ein Artikel auf, Schwarzburg 2012), sondern sie sind auch von An-
der sich auf Tiere bzw. auf die Mensch-Tier-Bezie- fang an in die wissenschaftstechnologische Entwick-
hung bezieht (Thompson 2012). In der Technikphi- lung involviert. Mit dem Wechsel zu einer sesshaften
losophie bzw. Technikethik werden Tiere als natürli- Gesellschaft und durch die Entwicklung der Land-
che Ressource betrachtet, deren Leben und deren wirtschaft begann der Mensch, Tiere aufgrund ihrer
Nutzung auf die gleiche Art und Weise wie bei ande- Kraft zu nutzen und sie auch in ihrer biologischen
ren Teilen der belebten Natur diskutiert wird (wie Natur durch die Zucht zu verändern (vgl. Nibert
etwa im Diskurs über Landnutzung und deren Ef- 2002). Mit der Entwicklung der Wissenschaft und
fekte auf das Klima), oder sie fallen systematisch insbesondere der experimentellen Methode (Claude
aus der Betrachtung heraus, wie das Thema Tierver- Bernard) werden Tiere auch als Modelle für Krank-
suche zeigt. heiten und als Testmaterial verwendet. Seit Anfang
Die Bezeichnung ›Tiere‹ wird im Folgenden nur des 20. Jahrhunderts hat sich mit der Entwicklung
für nicht-menschliche Tiere verwendet. Diese Ent- der industriellen Landwirtschaft (s. Kap. V.1) die
scheidung ist aber nur aus pragmatischen Gründen, wissenschaftstechnologische Entwicklung an der
hier der Kürze halber, gerechtfertigt. Sprachliche Ka- Rationalisierung landwirtschaftlicher Produktions-
tegorisierungen enthalten normative Voraussetzun- methoden orientiert: Dadurch ist u. a. der neue Be-
gen: So kann klarerweise die Rede von ›Mensch‹ und reich der Reproduktionsbiologie entstanden, der
›Tier‹ zur Unterstützung einer anthropozentrischen durch die Entwicklung der In-vitro-Befruchtung auf
Perspektive (indem der Mensch nicht als Tier, was er eine vollkommene Kontrolle der vererbbaren Merk-
biologisch ist, bezeichnet wird) und damit auch als male in den sogenannten Nutztieren abzielte (vgl.
Maske zur Unterstützung hierarchischer Abstufun- Clarke 1998).
gen unter den Lebewesen beitragen (vgl. Nibert Heutzutage werden wissenschaftstechnologische
2002). Tiere sind empfindungsfähige Wesen, haben Innovationen in praktisch allen Bereichen durch
ein komplexes soziales und emotionales Leben und Tierversuche auf Unbedenklichkeit für den Men-
verfolgen Interessen. Die vielfältigen Diskussionen schen und die Umwelt getestet. Dies geschieht auch
im Bereich der Tierethik und des wachsenden Ge- in kontroversen Zusammenhängen wie beim Anti-
bietes der Human-Animal Studies (vgl. Buschka et al. Ageing oder in der Rüstungsforschung, dort insbe-
2012) zeigen die Komplexität, zum Teil die Wider- sondere aufgrund der Möglichkeit des Dual-use
sprüchlichkeit, auf jeden Fall aber doch die funda- neuer Technologien (s. Kap. IV.C.11). Außerdem ha-
mentale Relevanz des Mensch-Tier-Verhältnisses in ben Entwicklungen in Biologie und Medizin bis hin
204 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

zu Gentechnik und Nanotechnologie eine Nutzung ment, s. Kap. V.8) feststellen lassen (Ferrari et al.
von Tieren auch in anderen Bereichen wie Unterhal- 2010). Parallel dazu wurde auch die Frage diskutiert,
tung, Heimtierhaltung (geklonte Heimtiere) und inwieweit ein Disenhancement, d. h. eine Verschlech-
Sport (geklonte Sportpferde) ermöglicht (vgl. Ferrari terung wesentlicher Fähigkeiten von Tieren von
et al. 2010). Vorteil für die Tiere sein kann, wenn sie unter be-
Wendet man sich den Anwendungen der Gen- stimmten schlechten Bedingungen gehalten werden
technik (s. Kap. V.7) und des Klonens in der Land- (vgl. Ferrari 2012). Dass die Technikphilosophie,
wirtschaft zu, sieht man in der heutigen Forschung insbesondere die Technikethik, solche Entwicklun-
eine Kontinuität der Ziele im Vergleich zum letzten gen bisher ignorierte, ist erstaunlich.
Jahrhundert. Das Klonen von Tieren stellt beispiels-
weise eine weitere Stufe in der Kontrolle über die Re-
produzierbarkeit von biologischen Merkmalen dar: Tierversuche
Da das Klonen von Tieren zu aufwendig und ›ineffi-
zient‹ und deswegen ungeeignet für eine breite An- Dass Tierversuche keine adäquate Auseinanderset-
wendung in der Landwirtschaft ist, wird Klonen nur zung im Bereich der Technikethik finden, über-
für die sogenannten Zucht-Tiere vorgesehen, und rascht aufgrund der zentralen Rolle dieser Versu-
zwar für diejenigen Tiere, die als Reservoirs wertvol- che für die technologische Entwicklung, der hohen
ler biologischer Eigenschaften in der Reproduktion Zahl der darin involvierten Tiere und der immer
fungieren. Wenn man bedenkt, dass heutzutage wieder kontroversen öffentlichen Diskussionen.
praktisch alle Nutztiere durch In-vitro-Befruchtung Der Schutz der Gesundheit von Menschen und
und selektierte Spermien zur Welt kommen, sieht Umwelt – das Motiv für heutige Tierversuche – be-
man deutlich die Kontinuität der Ziele hinter der schränkt sich nicht nur auf den medizinischen Be-
Unterschiedlichkeit der Techniken (vgl. Ferrari et al. reich, sondern soll für jedes neue Produkt auf dem
2010). So werden durch die Gentechnik biologische Markt gewährleistet werden, und zwar weltweit: Es
Merkmale von Tieren mit der Absicht modifiziert, existiert kein Land, das für die Zulassung von Pro-
Qualität und Effizienz der Produktion zu steigern dukten bzw. Medikamenten auf Tierversuche ver-
(Wheeler 2007). Mit Hilfe der Nanotechnologie wird zichtet. Global steigt die Zahl der in Tierversuchen
daran geforscht, Technologien zur gentechnischen verwendeten Tiere: 2011 stieg sie in Deutschland
Veränderung oder zum Klonen von Tieren zu ver- um 1,9 Prozent (2,9 Millionen insgesamt, BMELV
bessern und Biosensoren zu entwickeln, die den Ge- 2012), in Großbritannien um 2 Prozent (Home Of-
sundheitszustand von Nutztieren kontinuierlich fice 2012), wobei in den Statistiken nicht alle in
überwachen und eventuell korrigieren (Ferrari et al. diesem Bereich involvierten Tiere erfasst werden
2010). und es große Diskrepanzen in der Erfassung von
Diese Forschungsprogramme haben nicht nur Daten zwischen den Ländern gibt (Ferrari 2008).
eine erkenntnistheoretische Relevanz qua Aus- Tiere werden auch für die Zucht geschaffen, um die
druck technologischer Visionen  – die meisten Bereitstellung der sogenannten Tiermodelle zu ge-
transgenen Nutztiere haben noch keine Anwen- währleisten: Dies führt auch dazu, dass insbeson-
dung in der Landwirtschaft gefunden –, sondern dere bei den Tierarten (wie Nagetieren), die sich
auch eine starke ökonomische: Bereits heutzutage schnell vermehren, sehr viele ›Überschuss‹-Tiere
laufen Verfahren zur Patentierung solcher Tiere gezüchtet werden, die dann aus Kostengründen
und zu deren Einführung auf den Markt. Dazu einfach getötet werden. Außerdem ist die Zahl der
zählt man beispielsweise die patentierten »Enviro- für die Zucht notwendigen Tiere mit der Entwick-
pigs®« (Golovan et al. 2008) und den »AquAdvan- lung der Gentechnik enorm gestiegen, ganz zu
tage Salmon®«, der schneller als der traditionelle schweigen von dem Problem der Herstellung von
Lachs wächst und von den USA-Behörden FDA »falsch veränderten« Tieren, die nicht für Versuche
auf  Unbedenklichkeit für den menschlichen Ver- geeignet sind (Ferrari 2008).
zehr und das Ökosystem Meer überprüft wird (Van Wie der Begriff bereits andeutet, werden ›Ver-
Eenennaam/Muir 2011). suchstiere‹ absichtlich gezüchtet, um als ›Modelle‹
Vor kurzem hat sich eine Debatte entwickelt, ob oder Stellvertreter für die Erforschung bestimmter
es Sinn macht, von animal enhancement zu sprechen Phänomene dienen zu können. Dabei werden sie
und inwieweit sich Ähnlichkeiten und Unterschiede mittels unterschiedlicher Verfahren in ihren biologi-
mit dem menschlichen Bereich (Human Enhance- schen Merkmalen wesentlich verändert. Versuchs-
3. Tier und Technik 205

tiere erleiden dabei auch Krankheiten, die sie nicht achtet werden können. Telemetrische Technologien
hätten entwickeln können, wie Alkoholsucht, diverse werden aber auch zum Überwachen entwickelt, so-
(menschliche) psychische Störungen oder das wohl für die sogenannten Heimtiere als auch für
Down-Syndrom. Tiere werden auch gentechnisch Wildtiere, wobei solche Technologien auch als Stör-
verändert, damit sie durch ihre Körperflüssigkeiten faktor ihres artspezifischen Verhaltens wirken kön-
medikamentöse Substanzen für den Menschen nen. Aus diesen Gründen wurde vor kurzem ein ex-
»produzieren« (Gene Pharming, vgl. Ferrari 2008), pliziter Fokus auf das Verhältnis zwischen Compu-
oder um sie oder deren Organe für transplantations- tertechnologien und Tieren gefordert (Mancini
bedürftige Menschen nutzbar zu machen. Ein ein- 2011).
schlägiges Beispiel ist die Xenotransplantation, zu Tiere sind auch in der Lage, unvorhergesehen be-
der eine ethische Debatte in den 1990er Jahren be- stimmte Technologien zu nutzen, wie der neue Fall
gann, die aber mittlerweile praktisch versiegt ist. Die von Orang-Utans in einigen nordamerikanischen
Forschung in diesem Bereich hält nach wie vor an. Zoos bestätigt, die iPads als Kommunikationsmittel
Die gegenwärtige tierexperimentelle Forschung ist mit Menschen verwenden. Die Orang-Utans, die
eine hochspezialisierte Industrie, in der ›Tiermo- eine ursprünglich für autistische Kinder entwickelte
delle‹ in großen Laboren entwickelt und weltweit Applikation des iPad verwenden, sind in der Lage,
verkauft (und transportiert) werden. diese als technische Objekte zu identifizieren und zu
Die Kritik an der tierexperimentellen Forschung nutzen (Lee 2011). Außerdem werden Computer-
hat eine lange Geschichte, deren Wurzeln bereits in spiele speziell für Tiere hergestellt, sowohl zur Ver-
der Antike zu finden sind. Trotz der globalen Ver- besserung ihrer Haltungsbedingungen (z. B. als Be-
breitung dieser Versuchspraxis hat sie ihre Kraft schäftigung für unterschiedliche Katzentiere in Zoos)
nicht verloren, wie die Debatte in der Öffentlichkeit als auch als Mittel zur Steigerung der menschlichen
und die diversen theoretischen Auseinandersetzun- Anerkennung der komplexen sozio-kognitiven Fä-
gen zeigen: Es wird dann diskutiert, inwieweit das higkeiten von Tieren, wie das Projekt Playing with
Modell der Kosten-Nutzen-Abwägung noch ge- Pigs an einigen niederländischen Universitäten zeigt.
rechtfertigt werden kann und welche Rolle Alter- Auch in dem stark wachsenden Gebiet der neuro-
nativmethoden in der heutigen Forschungspolitik wissenschaftlichen Forschung (s. Kap. V.19) inter-
spielen (Ferrari 2013). Somit gehören Tierversuche agieren Tiere mit Computern, indem ihre kogniti-
zu einem wichtigen Bestandteil der technikethi- ven Fähigkeiten anhand unterschiedlicher Compu-
schen Diskussion. terspiele und informatischer Verfahren getestet
werden. In der Erforschung von Mensch-Maschine-
Schnittstellen und Prothesen werden Glieder von
Interaktionen zwischen Tier und Technik Tieren amputiert und diese dazu trainiert, künstli-
che Glieder zu bewegen. Elektroden werden auch im
Tierversuche sind nicht das einzige Gebiet, in dem Gehirn zur Erprobung unterschiedlicher Formen
das Verhältnis von Tier und Technologie explizit ge- von Kommunikation transplantiert und ausprobiert
macht werden kann. Eine mangelhafte Betrachtung (vgl. Ferrari et al. 2010). Für diese Bereiche gibt es
von Tieren als spezifische Subjekte technischer Ver- bis jetzt kaum technikphilosophische bzw. technik-
fahren ist auch in der Erforschung der Interaktionen ethische Forschungen.
zwischen Computern und Nutzern zu bemerken,
obwohl Tiere seit langem mit Computertechnolo-
gien interagieren. Solche Interaktionen sind spätes- Implikationen von Tiernutzung
tens seit den 70er Jahren mit der Entwicklung von in Umweltdebatten
Tracking und Telemetrie-Sensor-Geräten in den so-
genannten conservation studies sowie in den frühen Obwohl die Nutzung von Tieren mit prominenten
1990er Jahren mit der Entwicklung automatischer zeitgenössischen Technikkontroversen im Zusam-
Melksysteme in Milchviehbetrieben zu finden. Tiere menhang steht, werden Tiere in vielen Fällen syste-
interagieren selbst mit diesen Technologien und zei- matisch ausgeblendet. In der Debatte um den Kli-
gen bisher unerwartete Fähigkeiten und unerwarte- mawandel werden beispielsweise die Effekte der
tes Verhalten. Beispielhaft sind Kühe, die selbständig Tierproduktion in der Landwirtschaft in den ethi-
und freiwillig in Melkroboter einsteigen, und Ele- schen Betrachtungen trotz der großen Menge an
fanten, die in ihren komplexen Bewegungen beob- wissenschaftlichen Daten kaum thematisiert (vgl.
206 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Ott 2012). Die heutige weltweite Produktion von ver Verfahren wie der Gentechnik, die sich in vielen
Lebensmitteln tierischer Herkunft trägt zum gro- Gebieten  – von Heimtierhaltung bis hin zu Sport
ßen Teil zur Umweltverschmutzung und zu den und Nahrung – durchgesetzt hat (Ferrari et al. 2010),
Treibhausgas-Emissionen bei (zu Agrartechnik s. erhält das gegenwärtige Verhältnis zwischen Mensch
Kap. V.1): Die Produktion von einem Kilogramm und Tier neue Nuancen. Die Abwesenheit von Tie-
Rindfleisch in Brasilien erzeugt mit 335 Kilo- ren in technikphilosophischen Diskursen trägt dazu
gramm Kohlendioxid (CO2) so viel Treibhausgase bei, dass Tiere heutzutage hauptsächlich als Ressour-
wie eine Fahrt von über 1600 Kilometern eines cen bzw. Waren und dementsprechend als Profit-
durchschnittlichen europäischen PKW (Schmin- quelle wahrgenommen werden.
diger/Stehfest 2012). Die Tierproduktion erweist Auffällig ist zum Beispiel, dass sich in der zeitge-
sich als extrem ineffiziente Methode aufgrund des nössischen ethischen Diskussion über Technologien
hohen Anteils des verwendeten Landes (80 % der eine Debatte über den moralischen Status von Robo-
weltweit landwirtschaftlichen Nutzfläche werden tern entwickelt hat, ohne dass solche Reflexionen
für die Tierproduktion genutzt), des enormen Was- mit der umfangreichen tierethischen Literatur in
serkonsums und des niedrigen Niveaus der Ener- Verbindung gebracht wurden (vgl. Coeckelbergh
giekonversion. Über 40 Prozent der Weltgetreide- 2010). Gegenwärtig gibt es eine lebendige Diskus-
ernte und ungefähr 90 Prozent der Weltsojaernte sion über den Zusammenhang von sozio-kognitiven
werden an die sogenannten Nutztiere verfüttert, Fähigkeiten von Tieren und ihrem moralischen Sta-
aber nur 13 Prozent der Gesamtkalorienaufnahme tus (vgl. u. a. Francione 2008; Benz-Schwarzburg
erfolgt über tierische Produkte (Schlatzer 2010). 2012) und der Möglichkeit, bestimmte Formen al-
Darüber hinaus trägt die Tierproduktion zu einer truistischen und gerechten Verhaltens einigen Tier-
erheblichen Verminderung der Wasserqualität arten zuzusprechen (vgl. Bekoff 2008). In der Tech-
durch Schadstoffeintragung bei (Nitrate, Schwer- nikphilosophie scheint man bislang eher geneigt zu
metalle, Pharmazeutika, Krankheitserreger) (ebd.). sein, Roboter bzw. Artefakte als ›moralische Wesen‹
Sowohl aufgrund des Wachstums der Weltbevölke- anzuerkennen als Tiere, während in anderen Kon-
rung als auch aufgrund des prognostizierten An- texten darüber debattiert wird, ob und in welchem
stiegs des Pro-Kopf-Verbrauchs von tierischen Pro- Umfang nichtmenschliche Tiere auch als Teil der
dukten ist eine Zunahme der Fleischproduktion auf moralischen und politischen Gemeinschaft (etwa
465 Millionen Tonnen im Jahr 2050 und Milchpro- durch die Kategorie von citizen) berücksichtigt wer-
duktion bis 1043 Millionen Tonnen zu erwarten, den können (Donaldson/Kymlicka 2012).
falls keine Gegenmaßnahmen unternommen wer- Darüber hinaus entwickelt sich eine postmoderne
den (Steinfeld et al. 2006). Trotz dieser wichtigen und posthumanistische Reflexion über die Notwen-
empirischen Daten wird die heutige Produktion digkeit einer neuen Ontologie von Mensch und Tier,
tierischer Lebensmittel in weiten Teilen der Gesell- da neue Technologien die Überschreitung spezies-
schaft wenig thematisiert bzw. als gesellschaftliche spezifischer Grenzen durch die Herstellung von Hy-
Praxis nicht infrage gestellt. briden und Chimären ermöglichen. Dekonstruktio-
nen der Rede vom Tier als dem ›Anderen‹ intensi-
vieren sich in der Postmoderne, in der sich die
Die Ausblendung von Tieren technische Manipulation von Lebensformen und da-
aus technikethischen Betrachtungen mit die Transformation des Lebens als Profitquelle
etabliert (vgl. Cooper 2008).
Die Ausblendung einer spezifischen Berücksichti- Ein spezifischer Fokus auf Tiere im technikethi-
gung von Tieren aus der technikphilosophischen schen Diskurs wäre auch in der Analyse der unter-
Reflexion stellt meines Erachtens nicht nur einen schiedlichen Diskurse über Nachhaltigkeit (s. Kap.
fachlichen Mangel dar, sondern verdient selbst eine IV.B.10) wichtig. In der heutigen Debatte wird eine
sorgfältige ethische Analyse. Dass Tierversuche in Verantwortungsethik in Bezug auf den Umgang mit
unserer Gesellschaft legitimiert und teils sogar ge- ›natürlichen Ressourcen‹ entwickelt, um das Leben
setzlich vorgeschrieben sind, macht sie ethisch nicht der heutigen und zukünftigen (menschlichen) Ge-
weniger kontrovers. Mit der Intensivierung der Nut- nerationen zu gewährleisten. Damit geraten Fragen
zung von Tieren durch Massentierhaltung, die auch zum intrinsischen Wert nicht-menschlicher Lebe-
durch technologische Entwicklungen möglich ge- wesen in den Hintergrund. Bestimmte normative
worden ist, sowie mit der Entwicklung manipulati- Konzeptionen wie beispielsweise der Pathozentris-
3. Tier und Technik 207

mus  – in dessen Mittelpunkt die Leidensfähigkeit ent philosophical conundrums and the real exploitation
unabhängig von der Spezieszugehörigkeit steht  – of animals. A response to Thompson and Palmer. In: Na-
noethics 6/1 (2012), 65–76.
und andere Kritiken am Anthropozentrismus, die
– /Coenen, Christopher/Grunwald, Armin/Sauter, Arnold:
die Zusammenhänge der Herrschafts- und Gewalt- Animal Enhancement. Neue technische Möglichkeiten
verhältnisse unter den Menschen und gegenüber und ethische Fragen. Bern 2010, http://www.ekah.admin.
den Tieren betonen (Nibert 2002; vgl. Buschka et ch/de/dokumentation/publikationen/beitraege-zur-
al. 2012), sind nicht Thema der Nachhaltigkeits- ethik-und-biotechnologie/animal-enhancement-neue-
debatte. In dieser Debatte wird, vor allem im Be- technische-moeglichkeiten-und-ethische-fragen/index.
html (20.03.2013).
reich der Lebensmittelproduktion, die Illusion einer – : Für eine sozial gerechte Forschung: Die Kritik an Tier-
›nachhaltigen‹ Produktion tierischer Lebensmittel versuchen zwischen Wissenschaftstheorie, Ethik und
betont, während bestimmte Aspekte der Nutzung Politik. In: Pedro de la Fuente (Hg.): Gerechtigkeit auch
von Tieren (wie beispielsweise das für die Milchpro- für Tiere. Erlangen 2013 (im Druck).
duktion verursachte Leiden aufgrund der Trennung Francione, Gary: Animals as Persons. Essays on the Aboli-
tion of Animal Exploitation. New York 2008.
der Kälber von ihren Müttern) kaum thematisiert Golovan, Serguei/Hakimov, Hatam A./Verschoor, Chris P./
werden. Walters, Sandra/Gadish, Moshe/Elsik, Christine/Schen-
kel, Flavio/Chiu, David K.Y./Forsberg, Cecil W.: Ana-
lysis of Sus scrofa liver proteome and identification of
Ausblick proteins differentially expressed between genders, and
conventional and genetically enhanced lines. In: Com-
parative Biochemistry and Physiology Part D Genomics
Aufgrund der bereits vielfältigen Debatte um das and Proteomics 3/3 (2008), 234–242.
Mensch-Tier-Verhältnis in anderen disziplinären Home Office: Statistics of scientific procedures on living
Feldern und aufgrund der breiten Nutzung von Tie- animals 2011, London 2012, https://www.gov.uk/govern
ren in der wissenschaftlich-technologischen Ent- ment/publications/statistics-of-scientific-procedures-
on-living-animals-great-britain-2011 (04.04.2013).
wicklung ist eine spezifische technikphilosophische Kaplan, David M. (Hg.): Readings in the Philosophy of Tech-
bzw. technikethische Diskussion über Tiere und nology. Lanham 2004.
Technik heutzutage unumgänglich. Lee, Dave: Orangutans ›could video chat‹ between zoos via
iPads, BBC News Technology 2011, http://www.bbc.co.
Literatur uk/news/technology-16354093 (20.03.2013).
Mancini, Clara: Animal-Computer Interaction (ACI): a
Bekoff, Marc/Pierce, Jessica: Wild Justice: The Moral Lives manifesto. In: Interactions 18/4 (2011), 69–73.
of Animals. Chicago 2008. Nellemann, Christian/MacDevette, Monika/Manders, Ton/
Benz-Schwarzburg, Judith: Sozio-kognitive Fähigkeiten bei Eickhout, Bas/Svihus, Birger/Prins, Anne G./Kalten-
Tieren und ihre Relevanz für Tierethik und Tierschutz. Er- born, Bjørn P.: The environmental food crisis – The en-
langen 2012. vironment ’ s role in averting future food crises. A UNEP
BMELV: Versuchstierzahlen 2011, http://www.bmelv.de/ rapid response assessment. United Nations Environ-
SharedDocs/Downloads/Landwirtschaft/Tier/Tierschutz/ ment Programme, GRIDArendal 2009, http://www.
2011-TierversuchszahlenGesamt.pdf?__blob=publication grida.no/publications/rr/food-crisis/ (20.03.2013).
File (04.03.2013). Nibert, David: Animal Rights. Human Rights. Entangle-
Buschka, Sonia/Gutjahr, Julia/Sebastian, Marcel: Gesell- ments of Oppression and Liberation. Lanham 2002.
schaft und Tiere  – Grundlagen und Perspektiven der – : The fire next time: the coming cost of capitalism, animal
Human-Animal Studies. In: Politik und Zeitgeschichte oppression and environmental ruin. In: Journal of Hu-
8/9 (2012), http://www.bpb.de/apuz/75812/gesellschaft- man Rights and the Environment 3/1 (2012), 141–158.
und-tiere-grundlagen-und-perspektiven-der-human- Olsen, Jan Kyrre Berg/Pedersen, Stig Andur/Hendricks,
animal-studies?p=all#footnodeid_39-39 (20.03.2013). Vincent F.: Companion to the Philosophy of Technology.
Clarke, Adele E.: Disciplining Reproduction: Modernity, Blackwell 2009.
American Life Sciences and »the Problems of Sex«. Berke- Ott, Konrad: Domains of climate ethics. In: Jahrbuch für
ley 1998. Wissenschaft und Ethik 16 (2012), 143–162.
Coeckelbergh, Mark: Robot rights? Towards a social-rela- Schlatzer, Martin: Tierproduktion und Klimawandel. Ein
tional justification of moral consideration. In: Ethics and wissenschaftlicher Diskurs zum Einfluss der Ernährung
Information Technology 12/3 (2010), 209–221. auf Umwelt und Klima. Münster 2010.
Cooper, Melinda: Life as Surplus: Biotechnology and Capita- Schmindiger Kurt/Stehfest Elke: Including CO2 implica-
lism in the Neoliberal Era. Washington 2008. tions of land occupation in LCAs – method and example
Donaldson, Sue/Kymlicka, Will: Zoopolis. A Political The- for livestock products. In: The International Journal of
ory of Animal Rights. Oxford 2012. Life Cycle Assessment 17/8 (2012), 962–972.
Ferrari, Arianna: Genmaus & Co. Gentechnisch veränderte Steinfeld, Henning/Gerber, Pierre/Wassenaar, Tom/Castel,
Tiere in der Biomedizin. Erlangen 2008. Vincent/Rosales, Mauricio/de Haan, Cees: Livestock ’ s
– : Animal disenhancement for animal welfare: The appar- Long Shadow: Environmental Issues and Options. Rome
208 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

2006, ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/010/a0701e/a0701e00. 4. Kultur und Technik


pdf (20.03.2013).
Thompson, Paul: »There ’ s an app for that«: Technical stan-
dards and commodification by technological means. In:
Philosophy and Technology 25/1 (2012), 87–103. Als Charles Percy Snow (1959) in seinem berühmten
Van Eenennaam, Alison/Muir, William. M.: Transgenic Vortrag die geisteswissenschaftlich-literarische Kul-
salmon: a final leap to the grocery shelf? In: Nature Bio- tur und die naturwissenschaftlich-technische Kultur
technology 29 (2011), 706–710. voneinander zu trennen versuchte, hatte er die west-
Wheeler, Matthew. B.: Agricultural applications for trans- europäische Universitäts- und Forschungslandschaft
genic livestock. In: Trends in Biotechnology 25/5 (2007),
204–210. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Auge:
Arianna Ferrari Physiker läsen keinen Shakespeare, Arthur Stanley
Eddington oder Ernest Rutherford zählten nicht zu
den Intellektuellen. Snow hoffte auf ein Wechselspiel
beider Kulturen, wobei er einen vergleichsweise en-
gen Kulturbegriff benutzte, der heute in der Kultur-
theorie und der Soziologie eher mit den Begriffen
›Subsystem‹ und ›Code‹ beschrieben werden kann
(Fischer 2006, 13, 16 ff.). Gleichwohl ist Snows Tren-
nung zur Chiffre bei der Auseinandersetzung zwi-
schen unterschiedlichen Wissenschafts- und Dis-
kussionsdomainen geworden. Es ist offenkundig,
dass die jeweiligen Subsysteme der »zwei Kulturen«
unterschiedliche Belohnungs- und Rekrutierungs-
zusammenhänge entwickelt haben (Kornwachs
2009, 113–148).
Die Beziehungen zwischen Kultur und Technik
sind komplex, besonders dann, wenn man Technik
in ihrer erweiterten Definition (Ropohl 1999; VDI
1991; s. Kap. II.1), d. h. einschließlich ihrer Organi-
sationsformen und Folgen selbst als Kulturleistung
ansieht. Wer Technik herstellt, anbietet, betreibt,
nützt oder entsorgt, kurz damit umgeht, verfolgt da-
bei Interessen, die mit anderen Interessen und Inter-
essen anderer kollidieren können, und er tut dies in
einem kulturellen Kontext, der in vielfältiger Weise
von Wertevorstellungen, von jeweils geltenden Nor-
men und intuitiven moralischen Überzeugungen ge-
prägt ist. Jede Handlung, auch technisch vermittelte
(d. h. Nutzung von technischen Möglichkeiten),
oder technische Handlungen selbst (Herstellen, Ver-
hindern, Unterlassen oder Entsorgen von techni-
schen Möglichkeiten), deren Motive sowie deren
Folgen können einer moralischen Beurteilung un-
terworfen werden. Diese Beurteilung hängt vom
jeweiligen Wertesystem und von den in Anschlag
gebrachten ethischen Grundsätzen des Beurteilers
ab. Diese existieren jedoch nicht abstrakt, sondern
in  einem jeweiligen wertebestimmten kulturellen
Kontext. Damit sind Fragen der Akzeptabilität einer
Technologie, die Fragen einer Technikkritik, die Fra-
gen der Risikowahrnehmung und -kommunikation,
aber auch die Fragen des Abwägens in konfligieren-
den Diskursen (Ökologie versus Ökonomie, Parti-
4. Kultur und Technik 209

kularinteresse versus Gemeinwohl u. v. a.) nicht nur schaffene Gegenständliche, vom Werkzeug über die
gesellschaftlich, sondern auch kulturell bestimmt. Technik bis in die Kunst, sondern auch die dahinterste-
henden geistigen Vermögen und Inhalte, von der Spra-
Folgerichtig sind auch Bewertungen von Technik,
che über die Wissenschaften bis hin zu Formen des So-
Technikfolgen und Motiven technischen Handelns zialgefüges, Werten, Sinnzuschreibungen und Religio-
als kulturell beeinflusst zu verstehen (Ott 1996; nen. Solche Hervorbringungen sind durchweg zeit- und
Kornwachs 2003). raumspezifisch  – ablesbar an der Kulturgeschichte ge-
rade so wie an den regionalen Ausprägungen von Klein-
gruppen einer Subkultur (einer Familien- oder Firmen-
kultur etwa) bis zu übernationalen Räumen, wenn von
Kultur und Kulturen den Kulturspezifika des Westens, des Islam oder Asiens
gesprochen wird. In diesem Sinne sind Technik, Tech-
Was ›Kultur‹ ist, ist selbst in den Kulturwissenschaf- nologien und Ingenieurwissenschaften fraglos Teil der
ten umstritten. Dabei ist noch nicht einmal klar, was Kultur« (ebd., 13).
›Kulturwissenschaften‹ denn sind. Ein Sammelband Dieser letztlich auf Aristoteles ’ Politik (1981) zu-
zu dieser Frage (Kittsteiner 2004) gibt dreizehn Ant- rückgehende Kulturbegriff setzt sich klar von dem
worten – und selbst diese Zahl ist idealisiert gering. einschränkenden traditionellen bildungsbürgerli-
Dabei spricht man von Kulturwissenschaften eher chen Schema einer Kultur ab, das darunter lediglich
im Plural, denn hierbei handelt es sich nicht um konsumierbare Hochkultur und ein von jedem
»eine einheitliche neue Disziplin, die verbindlich de- Interesse befreites Bildungsangebot versteht.
finiert werden könnte, sondern [um] eine offene
Verflechtung von Wissenschaften, die sich zusam-
mengefunden haben, um neue Phänomene der Kul- Konflikte
tur zu untersuchen, die mit den alten Disziplingren-
zen nur schwer zu erfassen wären« (ebd. 8 f.). Ethisch relevant werden diese Bestimmungen von
Ähnlich argumentieren die Technikphilosophen Kultur und Technik, wenn es um konfligierende
Christoph Hubig und Hans Poser (2007, 16); sie Wertvorstellungen (d. h. unterschiedliche semanti-
schlagen daher vor: sche Belegungen von Begriffen, die Werte ausdrü-
cken, wie Freiheit, Wohlfahrt, Persönlichkeitsentfal-
»›Kultur‹ als Inbegriff von Strukturen ist als tradierte tung, Sicherheit etc.) und unterschiedliche Priori-
›Schemata‹ zu begreifen, die die Möglichkeiten des
Handelns – (inneren Handelns als Denken und Planen, tätsrelationen zwischen den Werten geht. Dies wird
äußeren Handelns als Realisierung oder Unterlassung auch an unterschiedlichen Rechtsprinzipien deut-
des Bewirkens) – ausmachen und zugleich in bestimm- lich: Das angelsächsische Recht ist eher ein Fallrecht,
ter Form darstellen bzw. deuten, so dass man sich an ih- das europäisch-kontinentale Recht eher ein Prinzi-
nen orientieren kann im Sinne einer Anerkennung und pienrecht. Zugespitzt formuliert: In USA ist alles
Nutzung oder Ablehnung und Widersetzung oder In-
fragestellung und Modifikation oder Ignorierung und erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist, in
Vernachlässigung oder Umgehung.« Deutschland eher alles verboten, was nicht aus-
drücklich erlaubt bzw. durch Prinzipien rechtfertig-
Es ist daher sinnvoll, einen  – von der Perspektive bar ist. Bei gewissen Kulturen kann man daher eine
Ernst Cassirers (1985) inspirierten  – Kulturbegriff eher pragmatische Neigung beobachten, die Priori-
zur Grundlage zu nehmen, wonach Kultur als Inbe- sierung zwischen den Werten im Konfliktfall zu-
griff und Ausdruck menschlicher Praxis verstanden gunsten einer interessekonvenierenden Lösung ab-
wird und all das beschreibt und einbezieht, was zuändern, während im europäischen Kontext es als
Menschen zu leisten und zu gestalten vermögen (s. moralische Standfestigkeit gilt, die Reihenfolge der
Kap. IV.A.5). Dies vereint in gewisser Weise den ma- Werte möglichst nicht zu verändern. Deshalb wer-
terialen mit dem formalen Kulturbegriff. Vor diesem den Normenkonflikte, die sich immer auf Werte-
Hintergrund wird sofort klar, dass Technik und konflikte zurückführen lassen, im europäischen
Naturwissenschaften Ergebnisse menschlichen Han- Kontext häufiger und heftiger erlebt.
delns sind und zugleich die Voraussetzungen für Dies gilt mutatis mutandis auch für Technikbe-
weitere Kulturentwicklung darstellen: wertung (s. Kap. VI.4 und Kap. VI.6) und gesell-
schaftliche Auseinandersetzungen um Technolo-
»Kultur als Gegenbegriff zur Natur umfaßt alle mensch-
lichen Hervorbringungen  – Leistungen geradeso wie gien, vor allem Großtechnologien. Die Auseinan-
Orientierungen, die die ›bloße‹ Natur des Menschen dersetzung um die sog. friedliche Nutzung der
überschreiten. Dazu zählt nicht nur das von ihm ge- Kernenergie wurde in Deutschland besonders heftig
210 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

geführt (s. Kap. V.11). Dabei zeigt sich, dass sowohl sich die Technikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4)
Befürworter wie Gegner argumentativ mit fast dem- auch mit kulturellen Folgen von Technologien. Diese
selben Wertekanon operieren, wobei eben die Prio- Folgen sind ebenfalls Gegenstand moralischer Be-
risierung zwischen den Werten und die semantische wertungen, die dann in ein Urteil über die Akzepta-
Belegungen der Wertebegriffe in unterschiedliche bilität einer solche Folgen erzeugenden Technik
Wertevorstellungen differieren (Rucht 2001). münden können.
Es bleibt an dieser Stelle zu vermerken, dass die
meisten kulturwissenschaftlichen Studiengänge an
Folgen deutschen Hochschulen auf einem einseitigen Kul-
turbegriff beruhen und mithin das klassische Hoch-
Nimmt man Technik als Kulturleistung ernst (Dietz kulturschema in ihren Curricula abbilden, wodurch
et al. 1996; Kaiser et al. 1993), so kann man die Technik, Naturwissenschaften und auch wirtschaft-
Wechselwirkung zwischen Technikentwicklung und liches Handeln als wirkmächtige Kulturbereiche gar
Kultur in zwei Richtungen betrachten – zum einen nicht in den Blick geraten können. Daher werden die
die Kulturfolgen von prospektiven wie konkreten oben genannten Aspekte in der Lehre kaum behan-
Technikgestaltungen und zum anderen die Einflüsse delt und sind eher in den großen Forschungsinstitu-
der jeweiligen Kulturen auf Technikgestaltung. ten beheimatet, die auch über entsprechende Mittel
Beide Richtungen sind Gegenstand der Kulturwis- verfügen, solche interdisziplinäre Forschung organi-
senschaften, der sozialwissenschaftlich und kultur- sieren zu können. Daher wäre zu fordern, dass nicht
wissenschaftlich orientierten Technikforschung, der nur die sog. MINT-Fächer (Mathematik, Informatik,
Technikfolgenabschätzung wie auch einer kultura- Naturwissenschaften und Technikwissenschaften)
listisch geprägten Technikphilosophie (Banse/Grun- kultur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Ergän-
wald 2010; s. Kap. IV.A.5). An dieser Stelle kann nur zungen enthalten (vgl. VDI 1990; s. Kap. VI.9), son-
eine kurze Verortung der ethischen Fragestellung er- dern dass auch diese Disziplinen um MINT-Inhalte
folgen. erweitert werden.
Wenn sich kulturelle Faktoren bei der Technikge-
staltung in einem groben Raster wie Handlungsty-
pen, Mentalität, Institutionen und Überzeugungen Technikkultur – Kulturtechnik
anordnen lassen, dann kann man kreuzkorrelato-
risch dazu die Funktionalität der Artefakte im enge- Um es vorweg zu sagen – die beiden Begriffe lassen
ren technischen Sinne, die organisatorische Hülle sich nicht gleichsetzen, aber sie in einem Atemzug
der jeweiligen Technik und die Einbettung in andere zu nennen, ist nicht nur eine Sprachspielerei, son-
technische Systeme und Technologien in Anschlag dern die Selbstaufforderung, Bezüge zu finden.
bringen. Dieses Orientierungsschema (eine 4 × 3-Ma- Unter ›Technikkultur‹ (hier verstanden im Sinne
trix) kann man dann von den Zeilen her so lesen: eines eher formalen Kulturbegriffs) kann man die
Welche kulturellen Faktorengruppen haben eine Weise verstehen, wie man mit Technik umgeht, sie
Auswirkung auf die konkrete Gestaltung der Geräte, benutzt, sie gebraucht oder zuweilen auch miss-
der organisatorischen Hülle und wie sind sie in die braucht (Bammé 2000). Eine Kultur des Umgangs
jeweiligen Subsysteme eingebettet? Von den Spalten mit Technik zeigt sich dann, wenn man Notwendig-
her wäre zu fragen, welche konkreten Geräteeigen- keit und Spiel beim Gebrauch von Technik in ein
schaften, welche Organisationsformen und welche richtiges Maß zu setzen weiß. Dazu gehört, dass man
Wechselwirkung mit anderen Technologien und Machbarkeit und Machen gegeneinander abwägt,
Subsystemen die kulturellen Gegebenheiten in Hin- Akzeptanz und Akzeptabilität auseinanderhält und
sicht auf Handlungstypen, Mentalität, Institutionen damit das Sein vom Sollen sorgsam scheidet. Gelingt
und Überzeugungen beeinflussen. es, die organisatorische Hülle und die Artefakt aufei-
Ethisch relevant werden diejenigen Felder der nander abzustimmen (und damit das bekannte
Matrix, in denen kulturell bestimmte und kulturbe- Overengineering zu vermeiden), sowie Eleganz und
stimmende Überzeugungen einerseits und organisa- Ästhetik der Konstruktionsstile und der technologi-
torische Gestaltung von Technologien andererseits schen Funktion zu fördern, so werden dadurch
wechselwirken, denn hier spielen sich die Auseinan- schon Werte in Anschlag gebracht. So sollte man
dersetzungen – oft auch implizit und versteckt – um Technik und ihre Ausgestaltung bei ihrer Herstel-
Werte und deren Prioritäten ab. Letztlich befasst lung Nutzung und Entsorgung an die Gegebenhei-
4. Kultur und Technik 211

ten in der Umwelt und den bestehenden gesell- Literatur


schaftlichen Rahmenbedingungen anpassen. So wie
Aristoteles: Politik. Übers. und mit erklärenden Anmer-
man nicht gegen die Physik konstruieren kann, sollte
kungen versehen von Eugen Rolfes, mit einer Einleitung
man auch der Versuchung widerstehen, die gesell- von Günther Bien. Hamburg 1981.
schaftlichen Strukturen an eine einzuführende Tech- Bammé, Arno: Technologische Zivilisation. In: Ralph
nik anzupassen zu wollen. Gerade letzteres hat sich Grossmann (Hg.): Technologische Zivilisation und Kolo-
immer wieder als ein vergebliches Unterfangen er- nisierung von Natur. iff texte, Bd. 3. Wien 2000, 40–44
(vgl. auch http://www.iff.ac.at/oe/ifftexte/band3ab.htm,
wiesen, weil gesellschaftliche Strukturen ein erhebli- 10.04.2013).
ches Beharrungsvermögen zeigen und zu rasche Banse, Gerhard/Grunwald, Armin (Hg.): Technik und Kul-
Veränderungen in der Regel zu Protesten führen. tur – Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse. Karls-
Zu dieser Technikkultur gehören auch der Tech- ruhe 2010.
nikkult, die Technikdeutung, die Selbstverständi- Cassirer, Ernst: Form und Technik. In: Ernst Cassirer: Sym-
bol, Technik, Sprache. Hamburg 1985, 39–91.
gung über Technik und letzten Endes die Diszipli- Dietz, Burkhard/Fessner, Michael/Maier, Helmut: Der
nen Technikphilosophie, Technikfolgenabschätzung »Kulturwert der Technik« als Argument der Techni-
sowie Technikbewertung (s. Kap. VI.6). Technikkul- schen Intelligenz für sozialen Aufstieg und Anerken-
tur als nicht nur deskriptiver, sondern auch normati- nung. In: Dies. (Hg.): Technische Intelligenz und Kultur-
faktor Technik. Münster u. a. 1996, 1–32.
ver Begriff verweist dann auf einen besonnenen
Fischer, Klaus: Wahrheit, Konsens und Macht. Systemische
Umgang mit der Technik, auf die stetige Reflexion Codes und das prekäre Verhältnis zwischen Wissen-
über die Frage, ob wir die Technik haben, die wir schaft und Politik in der Demokratie. In: Klaus Fischer/
brauchen und ob wir die Technik brauchen, die wir Heinrich Parthey (Hg.): Gesellschaftliche Integrität der
haben. Diese Forderung nach Besonnenheit mag als Forschung. Wissenschaftsforschung Jahrbuch 2005. Berlin
2006, 9–58.
Entschleunigung und damit als Innovationshemm- Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik. In: Ders.:
nis bei ständig sich verkürzenden Innovationszyklen Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962.
denunziert werden, aber diese Kritik greift nicht: Je- Hobbes, Thomas: Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt
der sich beschleunigende Prozess setzt eine Vermeh- eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Hg. und einge-
rung der Steuermöglichkeiten voraus, soll er nicht leitet von Iring Fetscher. Neuwied/Berlin 1966, 75–76,
66–71.
außer Kontrolle geraten. Schnell fahren ist das eine, Hubig, Christoph/Poser, Hans (Hg.): Technik und Interkul-
steuern ist das andere. turalität. VDI Report Nr. 36, Düsseldorf 2007.
Andererseits kommt keine Kultur (im materialen Kaiser, Gert/Matejovski, Dirk/Fedrowitz, Jutta (Hg.): Kultur
Sinne), auch keine Hochkultur, ohne Technik und und Technik im 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1993.
Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik.
ohne vernünftigen Umgang mit Technik aus  – ja
Braunschweig 1877. Nachdruck, hg. von Hans-Martin
selbst die Erzeugung von Kultur ist in gewisser Weise Sass. Düsseldorf 1978.
technizistisch, weil das herzustellende Artefakt, eben Kittsteiner, Heinz Dieter (Hg.): Was sind Kulturwissen-
die Kultur, immer auch die Institutionalisierung von schaften? 13 Antworten. München 2004.
Organisation, die Begründung von Regeln und das Kornwachs, Klaus: Technik als Kulturgut? In: Forum der
Forschung der BTU Cottbus 8 (2003), Heft 16, 13–27.
Gestalten von Handlungsabläufen erfordert. Aller- – : Zuviel des Guten. Von Boni und falschen Belohnungssys-
dings: Regelbasiertes Handeln allein reicht zur Her- temen. Frankfurt a. M. 2009.
stellung von Kultur noch nicht aus, da die Produk- Ott, Konrad: Technik und Ethik. In: Julian Nida-Rümelin
tion von Kultur immer eine Handlung ist, die not- (Hg.): Angewandte Ethik – ein Handbuch. Stuttgart 1996,
wendigerweise Reflexion und Diskurs mit erfordert. 650–717.
Picht, Georg: Die Kunst des Denkens. In: Ders.: Wahrheit.
Das reicht vom Staatsvertrag im Sinne von Thomas Vernunft. Verantwortung. Stuttgart 1969, 427–434.
Hobbes (1966), bis hin zur Erziehung, das reicht von – : Kunst und Mythos. Stuttgart 1987.
einem besonnenen Umgang mit Luxus (surplus) bis Ropohl, Günter: Allgemeine Technologie. Eine Systemtheo-
zur Gestaltung von Technik, das reicht von der Bil- rie der Technik. München/Wien 1999.
Rucht, Dieter: Protest in der Bundesrepublik. Strukturen
dung bis hin zur Organisation des Diskurses, und und Entwicklungen. Frankfurt a. M. 2001.
endet wohl noch lange nicht bei Sprache, Kunst Snow, Charles Percy: The Two Cultures [1959]. Cambridge
und Philosophie. Dass Technik Kunst sei, heißt, dass 2001.
wir durch technisches Handeln Kultur erzeugen, was VDI Verein der Deutscher Ingenieure: Empfehlungen zur
letzten Endes eine Konsequenz dieser Forderungen Integration fachübergreifender Studieninhalte in das Inge-
nieurstudium. Düsseldorf 1990.
ist. Dies ist vielfach auch eine Aussage der Technik- – : Technikbewertung. Begriffe und Grundlagen. VDI Richt-
philosophie (z. B. Kapp 1978; Heidegger 1962; Picht linie 3780. Düsseldorf 1991.
1969, 1987). Klaus Kornwachs
212 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

5. Demokratie und Technik Modernisierung politischer Macht


durch Technik
Zusammenhänge zwischen Demokratie und Tech- Über Bedrohlichkeitsdiagnosen für die Demokratie,
nik werden oft so behandelt, dass bestimmte Bedro- die gewiss nicht unberechtigt sind, gerät doch aus
hungen der Demokratie durch Technik in den Vor- dem Blick, wie sehr der geregelte Umgang mit politi-
dergrund gerückt werden. Man geht davon aus, dass scher Macht und überhaupt alle moderne Staatstätig-
die Demokratie mehr Schwierigkeiten mit der Tech- keit selbst auf effektiven Techniken des Regierens be-
nik der Gesellschaft hat als die Technik mit der De- ruht und unterstützender Technologien bedarf. Die
mokratie. In der zunehmend technisierten Gesell- Regierungsapparate und Staatsverwaltungen werden
schaft, so lauten Diagnosen seit den 1980er Jahren durch technische Innovationen  – überraschende
(Schaeffer 1990), müssen demokratische Rechts- neue Strukturierungsmöglichkeiten von Handlungs-
staaten neben den vielfältigen Herausforderungen, potentialen in der Kunst des Möglichen (Hubig
denen sie durch permanente Fortentwicklung ihrer 2006) – unter einen quasi evolutionären Anpassungs-
selbst ohnehin begegnen müssen, wenn sie – heute druck gesetzt, ähnlich wie alle übrigen Praxisbereiche
zunehmend in Konkurrenzbeobachtung mit nicht- in Kulturen, die im Lauf der Zeit den techno-kultu-
demokratischen Regimen (z. B. der chinesischen rellen Praktiken in sich selbst eine treibende, sprich-
Entwicklungsdiktatur)  – nicht in die Defensive wörtlich eine »kultische« Rolle verschafft haben. Die-
fallen wollen, zudem auch noch solche Krisen ses affirmative Verhältnis ist in allen von der europäi-
bewältigen, die spezifisch von technischen Entwick- schen Aufklärung ge- oder überformten Kulturen
lungsdynamiken und den verschlungenen, kurz- ausgeprägt. Deshalb sind auch die Regierungssys-
und langfristigen Auswirkungen großtechnolo- teme technisch ständig nachrüstungsbedürftig. Dem
gischer Umwälzungen herrühren (z. B. ›Energie- notorischen information lag der Parlamentarier etwa
wende‹; s. Kap. V.5). Die Entstehung und Dramatik muss dann mit Hilfe der je neuesten Informations-
krisenhafter Makroprobleme  – z. B. demographi- technik abgeholfen werden (Lange 1988), den Bür-
scher Probleme wie ›Überbevölkerung‹ und ›Über- gern mit E-Governance die Verwaltungsbürokratie
alterung‹ –, die heute im Weltmaßstab die politi- des demokratischen Rechtsstaats bequemer, sicherer,
schen Systeme vieler demokratischer und nichtde- zugänglicher und transparenter gemacht werden
mokratischer Staaten zu Reaktionen zwingen, deren (Bundesministerium des Innern 2006).
Erfolgsbilanzen ihrerseits zum Ausweis ihrer relati- Tiefe Zweifel an der Steuerungsfähigkeit demo-
ven Macht oder Ohnmacht werden, sind ohne die kratischer Governance-Strukturen und der prakti-
Komponente langfristiger medizin- und ernäh- schen Wirksamkeit demokratischer Diskussionen
rungstechnischer Fortschritte gar nicht zu erklären, angesichts zukunftsbestimmender Technikrichtun-
sowenig wie das, was weltinnenpolitisch als ›die öko- gen  – z. B. begründete Zweifel an der Sachkompe-
logische Krise‹ und als ›Klimakatastrophe‹ beobach- tenz des Deutschen Bundestags schon in den 1980er
tet wird, ohne die zwei Jahrhunderte der von Europa Jahren angesichts von Hochtechnologien wie der
ausgegangenen industriell-technischen Revolution. bemannten Raumfahrt, Rüstungstechnologien wie
Und die rezente ›Weltfinanzkrise‹, deren massive SDI, Automation und Computerisierung in der Ar-
Verflechtungen mit Problemen von Staatsverschul- beitswelt, Gentechnik und Kernenergie  – sind im-
dung und Währungsstabilität jene politischen Hand- mer auch Zweifel an der Passung von Demokratie
lungsspielräume gefährlich einschränken, auf die zu  dem Tempo, der Sachkomplexität und der
Demokratien in besonderem Maße angewiesen sind, selbstläuferhaften Durchsetzungsmacht technischer
um das Systemvertrauen ihrer Bürger zu halten, er- Entwicklungen. Ist in weiten Teilen der Bürgerschaft
scheint zwar als ökonomische Krise, ist aber nicht zu eines demokratischen Rechtstaats der Eindruck des
begreifen ohne Berücksichtigung der tiefgehenden Verlusts der ›demokratischen Kontrolle des techni-
Durchdringung des sozialen Funktionssystems der schen Fortschritts‹ erst entstanden, kann die in der
Weltwirtschaft mit digitaler Hochtechnologie. Bevölkerung ohnehin verbreitete Ambivalenz ge-
genüber dem technischen Fortschritt sich auch in
Ambivalenz gegenüber der Demokratie übersetzen.
Das eine für Demokratie wesentliche Moment der
Partizipation, der grundrechtlich garantierten Mit-
wirkung und Beteiligungsmöglichkeit aller Bürger
5. Demokratie und Technik 213

an politischer Willensbildung und Entscheidungs- der Deformierung von Demokratie auf. ›Technokra-
findung, erscheint dann eher als Schwäche denn als tie‹ meint die unmittelbar technogen deformierte
Stärke von Demokratie im Vergleich zu einem zwei- Demokratie. Aber auch andere aktuelle Deformie-
ten, ihr ebenfalls wesentlichen Moment, nämlich der rungsdiagnosen, wie die Diagnose ›Plutokratie‹  –
im Effekt wirksamen und zielführenden, für die Be- politische Herrschaft der Reichen, eine Diagnose,
förderung des Allgemeinwohls nützlichen Problem- die Mitte des vorigen Jahrhunderts vornehmlich un-
lösekapazität von Demokratie. ter Demokratieverächtern beliebt war, heute ange-
sichts entfesselter Märkte aber an sachlicher Auf-
schlusskraft gewinnt  – und die Diagnose »Medio-
Deformierung von Demokratie kratie« – die Verlagerung politischer Herrschaft auf
durch Technik die »vierte«, nicht demokratisch legitimierte »Ge-
walt« alter und neuer Massenmedien (Meyer 2009) –
Eine in der normativen Demokratietheorie gängige verweisen mittelbar und hintergründig ebenfalls auf
Unterscheidung ist die einer ›input-‹ und einer ›out- den Problemfaktor Technik. Denn die politisch rele-
put-orientierten‹ Rechtmäßigkeit (Legitimität) der vante Lenkung der Aufmerksamkeit von Massen-
spezifisch demokratischen kollektiven politischen öffentlichkeiten ist ohne die Entwicklung und
Selbstregierung. Abraham Lincolns klassische, Verbreitung entsprechender Medientechnologien
wenngleich plakative Charakterisierung moderner (Luhmann 1996) ebenso wenig machbar wie die Ko-
Demokratie als »Regierung des Volkes, durch das lonisierung von demokratischen Wahlkämpfen, Par-
Volk und für das Volk« verweist ausdrücklich bereits teien und Regierungsentscheidungen durch die or-
auf beide Komponenten demokratischer Legitimität. ganisierte Geldmacht kapitalistischer Unternehmen
Jedoch ist die output-Legitimation (government for (Leys 2003).
the people) nicht mit Notwendigkeit auf demo- Wenn wir einen begrifflichen Rahmen mit Tie-
kratisch gewählte und verantwortungspflichtige Ak- fenschärfe für die Analyse von Synergien und Ant-
teure, die die Problemlösungen leisten, angewiesen. agonismen zwischen Technik und Demokratie der
Wo Technik das Problem ist, dort kann mehr Tech- Gesellschaft gewinnen wollen, müssen wir diejeni-
nikexpertise als probate Lösung erscheinen. Eine gen Anforderungen an Governance-Strukturen an-
massive Verschiebung von politischer Autorität und geben, die sie zu spezifisch demokratischen machen.
Verantwortung auf technische Experten und techni-
sche Eliten verschöbe aber die Entscheidungsstruk-
turen und Begründungsmuster politischer Macht in Essentials demokratischer Governance
die Richtung von Technokratie. Politische Macht
würde dann maßgeblich durch Wissen und Exper- Geschichtlich betrachtet, kommt in allen bisherigen
tise im wissenschaftlich-technischen Sinn legiti- demokratischen Governance-Strukturen ein be-
miert und nicht mehr durch »Volkssouveränität« stimmtes Bündel von Erwartungen zum Ausdruck:
und die Verfahren der Meinungs- und Willensbil- Demokratische Regierungsformen sollten (1) den
dung, in denen diese sich im demokratischen Anteilen von Willkür und Unsachlichkeit in der
Rechtsstaat verkörpert (Habermas 1992). Die attrak- Ausübung politischer Herrschaft entgegenarbeiten
tive Reduktion von demokratischer Governance auf (2) sowie Tendenzen entgegenwirken, dass politi-
technokratische Governance (Stichwort »Sozialtech- sche Macht in den Dienst privater statt öffentlicher
nologie«) – und damit einhergehend die Umstellung Ziele gestellt wird. (3) Beides soll erreicht werden
der Konsensdeckung politischer Entscheidungen durch Schaffung geeigneter institutioneller Mecha-
vom kommunikativen Handeln und vergleichsweise nismen, durch die »die Interessen der Regierenden
unbeeinflusst diskutierenden Öffentlichkeiten auf mit denen der Regierten identifiziert werden« (De-
strategisch zweckrationales Handeln und symbo- wey 1997, 88), und dies wiederum erfordert die Si-
lisch generalisierte Steuerungsmedien wie Geld und cherstellung, (4) dass in allen repräsentativen Funk-
verwaltungsförmige Entscheidungsmacht  – hat be- tionen von Amtsträgern Interessen verfolgt werden,
sonders Jürgen Habermas (1968) bereits Ende der die wir, die Bürger, als unsere Gemeinwohlinteres-
1960er Jahre als Ideologie und Gefahr für die Demo- sen werten können, und (5) dass diese Interessen
kratie analysiert. Vorrang vor denjenigen Interessen haben, die die
Das Stichwort »Technokratie« (Lenk 1973; Stie Amtsträger in ihren nicht-politischen Rollen verfol-
2012) ruft zwar nur eine von mehreren Varianten gen (›Privatinteressen‹).
214 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Wenn wir daran festhalten, dass die demokrati- Der für die demokratische Gültigkeit von Politi-
sche Form kollektiver Selbstbestimmung einen ver- ken einschlägige Kern besteht also aus Rechen-
nünftigen Gehalt hat, müssen wir solche Erwartun- schaftspraktiken über den Besitz und die Verwen-
gen und Anforderungen in rationalitätstheoreti- dung politischer Macht, die mit prinzipiell immer
schen Begriffen angeben können. Worin besteht der problematisierbaren res-publica-Gründen gerecht-
rationale Eigensinn der Aktivität demokratischer fertigt werden müssen. Zudem müssen diese Prakti-
Governance? Ein Vorschlag, der sich auf pragmatis- ken mit einem für jedes relevante Mitglied des be-
tische Theoretiker der deliberativen Demokratie treffenden Gemeinwesens zumindest der Form nach
stützt (Bohman/Rehg 1997; Kettner 2004) besteht gerechtfertigtem Abstimmungselement, der politi-
darin, die spezifische Leistung solcher Strukturen schen Wahl, verbunden sein.
darin zu sehen, dass sie kollektiv folgenreiche Ent- Gewöhnlich geben Demokratietheorien ziemlich
scheidungen von allen Instanzen, die mit politischer konkrete (und divergierende) Auskünfte, was als das
Macht ausgestattet sind, sowie die Entscheidungen, ›Wesen‹ politischer Demokratie zu gelten habe. Re-
diese Instanzen mit dieser Macht auszustatten, mit krutierung der Amtspersonen durch freie, gleiche,
einer besonderen Form von Legitimation (»demo- geheime Wahlen, »kurze Amtszeiten und regel-
kratische Gültigkeit«) verknüpfen. Systematisch be- mäßige Wahlen« (Dewey 1997, 87), politische Par-
trachtet, wird demokratische Gültigkeit in speziel- teien, Minderheitenschutz, Menschenrechte, Verfas-
len Problematisierungs- und Rechenschaftsprakti- sung und Verfassungsgerichtsbarkeit, Privateigen-
ken konstituiert, nämlich in solchen, worin speziell tum, Vertragsfreiheit usw. Dies alles sind zweifellos
der Besitz und die Verwendung politischer Macht kulturelle Errungenschaften, dienliche institutio-
problematisiert werden können bzw. gerechtfertigt nelle Arrangements von größter Bedeutsamkeit und
werden müssen, und zwar immer im Licht von einer doch kontextabhängige Lösungen auf Probe, modi-
besonderen Art von Rechtfertigungs- und Bewer- fizierbar und gegebenenfalls insgesamt zu verbes-
tungsgründen, nämlich Gründen mit gleichsam po- sern. Das ist die logische Konsequenz aus John De-
litischem Barwert. Nennen wir solche Gründe we- weys Einsicht in den historisch kontingenten Cha-
gen ihrer zumindest intendierten Ausrichtung an rakter der Demokratie, die der Demokratie indessen
Interessen, die alle Bürger eines Gemeinwesens als kein Jota ihres eminenten Werts für menschliche Be-
solche haben oder wenigstens nachvollziehen kön- lange nimmt.
nen sollten, »res-publica-Gründe«, dann kann man Trägt man nun in diesen Rahmen charakteristi-
sagen, dass ein bestimmtes demokratisch verfasstes sche Beschreibungen der Dynamik von Technik und
Gemeinwesen umso ›deliberativer‹ ist, je mehr es Technologien ein, wie wir sie kennen, dann werden
seinen Bürgern offensteht zu problematisieren, ob starke positive und negative Technikabhängigkeiten
Gründe, die als vermeintlich gute res-publica- deutlich.
Gründe vorgebracht werden, um bestimmte politi-
sche Handlungen zu begründen, diesen Status wirk-
lich verdienen und gut genug sind. Nun werden Demokratische Mitverantwortung
freilich diejenigen, welche die Macht aktuell inne- für die Technik der Gesellschaft
haben, nie um die Begründung ihres Tuns verlegen
sein. Diejenigen, die nicht an der Macht teilhaben, Vollständig technikabhängig sind die kommunikati-
haben – neben der machttechnisch meist ineffekti- ven Infrastrukturen der Demokratie, sobald demo-
ven Form einer öffentlichen Bestreitung dieser kratische Gemeinwesen eine gewisse Größe und die
Gründe  – nur die Möglichkeit, in nicht wiederum Informationsverarbeitung eine gewisse Komplexität
auf res-publica-Gründe rekurrierenden Verfahren überschreiten. Technooptimistisch gewendet, macht
ihren Dissens mitzuteilen und damit einen Macht- diese Abhängigkeit aber auch Hoffnung auf eine bes-
wechsel herbeizuführen. Aus Einsicht in die Schwä- sere Demokratie – wenn dem demokratisch verfass-
che seiner Gründe hat noch niemand seinen politi- ten politischen Machtkreislauf nur schon die fortge-
schen Platz geräumt. Deshalb kann Demokratie, schrittensten Möglichkeiten digitaler Netzkultur in
auch ›deliberative‹, nie in Diskursivität aufgehen, ausreichendem Maße zur Verfügung stünden. Ihren
sondern enthält immer auch Entscheidungsele- aktuellsten Ausdruck findet die Vision von tech-
mente (vor allem: Wahlen und Abstimmungen) und nisch optimierten deliberativen Öffentlichkeiten, die
geeignete Abstimmungsregeln (vor allem: die Mehr- die Demokratie jetzt und in Zukunft benötigt, in der
heitsregel). positiven Programmformel der liquid democracy, für
5. Demokratie und Technik 215

die innerhalb der Piratenpartei Deutschlands poli- Ein weiteres Problemsyndrom betrifft die kollek-
tisch geworben wird (Bieber/Leggewie 2012). tive Bewertung dessen, wozu demokratische Steue-
Die bekanntesten Topoi von negativ zu wertenden rungsfähigkeit überhaupt gut sein soll, wenn sie
Technikabhängigkeiten der Demokratie sind bekannt- denn gut ist. Wie können Bürger »ihre« Gemein-
lich (1) der technologische Determinismus (s.  Kap. wohlinteressen erkennen und bewerten? Und wie,
IV.A.9), (2) die gegen die ökonomische Globalisierung wenn »Sachzwänge« (Kettner 2002), die aus dem Er-
abfallende Steuerungsfähigkeit demokratischer Staa- halt approbierter Errungenschaften, einmal erreich-
ten, sowie (3) die Beschneidung bürgerlicher Freihei- ter Wohlfahrtsniveaus und der alles fundierenden
ten durch von Risikotechnologien erzwungene Kon- Technik scheinbar resultieren, den Überlegungs-
troll- und Überwachungstechnologien (Grunwald spielraum der Andersmöglichkeit sehr stark be-
2010, 37–40; s. Kap. V.22). Zu Punkt (3) könnte man schneiden? Und wie weiter, wenn wegen der zuneh-
heute noch (4) die destruktive Umnutzung von Tech- menden kulturellen Diversität in attraktiven demo-
nik durch den organisierten Terrorismus rechnen: kratischen Gemeinwesen die Basis gemeinschaftlich
Hier können aus scheinbar sicheren Technologien geteilter Werte und Normen, auf die jede Konsens-
überraschend Risikotechnologien entstehen, etwa sa- bildung angewiesen ist, in dem Maße schrumpft, wie
botierbare Kraftwerksteuerungsanlagen. der weltanschauliche Pluralismus wächst? »Die
Technologien ›entwickeln sich‹, ohne auf die Poli- Technik ermöglicht und erzwingt Entscheidungen,
tik der Gesellschaft zu warten. Das Selbstläuferhafte die über eine ungewisse Zukunft disponieren, und es
gerade von innovativen Technologien mit unbe- ist nicht zu erwarten, dass man dafür Solidarität
stimmt weitem Nützlichkeitshorizont wird heute oder auch nur gemeinsame Wertorientierungen ge-
nirgends sinnfälliger als im Feld digitaler Informa- winnen könnte« (Luhmann 1997, 535).
tions- und Kommunikationstechnologie (Irrgang Ein ungewöhnlicher, die makro-ethische Per-
2007). Innovative Produkte in diesem Feld führen, spektive der »Mit-Verantwortung für die Folgen
sobald sie eine genügend große Anwendungskapazi- kollektiver Aktivitäten« (Apel 2000) ins Spiel brin-
tät erreicht haben, zu schnellen kulturellen Gewöh- gender Gesichtspunkt, der für die demokratische
nungsprozessen. Globalisierungsprozesse tragen das Meinungs- und Willensbildung über Prozesse tech-
ihre zum Anschein von Technikdeterminismus bei. nowissenschaftlicher Innovation relevant ist, ist die
Arbeitsabläufe, auch die Organisation der Technik- kritische Frage, »ob unsere gesellschaftlichen Mittel
entwicklung selbst durch Forschung und Entwick- in angemessenem Ausmaß für Zwecke verwandt
lung, werden durch weltweite Kooperationen, die werden, die sich auf die Lösung drängender sozialer,
ihrerseits von globalisierter digitaler Informations- ökologischer und ökonomischer Probleme unserer
und Kommunikationstechnologie abhängen, für na- einen Erde beziehen« (Albrecht 2006, 231). Im
tional konstituierte demokratische Regierungen un- Maßstab, den diese Frage zur Geltung bringt, ist
regierbar. unschwer die, nun freilich in die Perspektive von
Im Licht der demokratischen Essentials stellt sich Weltinnenpolitik gewendete, output-Legitimität zu
dieses Problemsyndrom so dar: Damit Willkür und erkennen, die für alle demokratischen Governance-
Unsachlichkeit in der Ausübung politischer Herr- Strukturen wesentlich bleibt. Der demokratische
schaft verringert werden können, muss sowohl der Nerv ist getroffen, wenn die allzu pauschale Frage
Wirkungsbereich (Macht) wie auch der sachlogische nach der politischen Beherrschbarkeit von Technik-
Zuständigkeitsbereich (Wissen) den betreffenden und Technologieentwicklung um den normativen
Problemlagen beständig angemessen sein. Unter- Gesichtspunkt erweitert wird, dass sich die soziale
schreiten sie diese, so entstehen blinde Flecken und Wünschbarkeit von Technik für die Demokratie al-
Brüche in der demokratisch rechenschaftsfähigen lein im Licht von demokratisch gewonnenen Ant-
Verantwortung. Die skizzierte deliberativ-diskursive worten auf die Frage zu erweisen hat, in welcher Ge-
Demokratiekonzeption geht offenbar zu leicht über sellschaft wir eigentlich leben wollen. »Haben wir
die Schwierigkeit von Machtformen hinweg, die den die Technik, die wir wollen? Wollen wir die Technik,
spezifisch politischen Machtformen nicht etwa op- die wir haben?« (Steinmüller 2004). Man kann im
ponieren oder sie unterwandern, sondern diese ein- Rückblick auf Diskussionen über Technikrisiken der
fach umgehen. Heute existieren Formen besonders letzten drei Jahrzehnte (Renn 2007) und im Durch-
von technisch amplifizierter und globalisierter wirt- blick auf Schwierigkeiten kommunikativer Politik-
schaftlicher Macht, die als politische kaum noch formen (Martinsen 2006) in der »Wissensgesell-
sichtbar zu machen und zu regulieren sind. schaft« den Eindruck gewinnen, dass die mehr oder
216 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

weniger spektakulären Risikodebatten die unter begegnet, gehört ihre Enthermetisierung zur Kern-
normativ-demokratietheoretischen Gesichtspunk- agenda demokratischer Technikgestaltung.
ten vorrangigen Debatten über demokratisch kon- Auf die vielfältigen Formen hybrider Beratungs-
sensfähige Standards guter und schlechter gesell- formen und zweckdienlicher kommunikativer Ar-
schaftlicher Zukünfte überlagert und verdrängt ha- rangements, die von Sozialforschern mit einem
ben. Interesse an »technologocial democracy« (Callon et
Exemplarisch an der kurzen Geschichte der avan- al. 2009; Sclove 1995) vorgeschlagen werden, kann
cierten Biotechnologie lassen sich drei Arten von in diesem Zusammenhang nur hingewiesen werden.
Herausforderungen für die demokratische Beherr-
schung der Technik der Gesellschaft ablesen, deren Literatur
Bedeutsamkeit sich im Licht der demokratietheore-
tisch vorrangigen Frage nach Standards des gesell- Albrecht, Stephan: Freiheit, Kontrolle und Verantwortlich-
schaftlichen Fortschritts verallgemeinern lässt: An keit in der Gesellschaft. Moderne Biotechnologie als Lehr-
stück. Hamburg 2006.
den vordersten Frontlinien des technologischen Fort- Apel, Karl-Otto: First things First: Der primordiale Begriff
schritts entstehen erstens Herausforderungen, die der Mit-Verantwortung. Ein Beitrag zur Begründung ei-
mit der Verschärfung politischer Gerechtigkeitspro- ner planetaren Makroethik. In: Matthias Kettner (Hg.):
bleme mit Bezug auf die Verteilung von Gesund- Angewandte Ethik als Politikum. Frankfurt a. M. 2000,
heits- und Lebenschancen in der Bevölkerung zu 21–50.
Bieber, Christoph/Leggewie, Claus (Hg.): Unter Piraten. Er-
tun haben (s. Kap. IV.B.9); zweitens Herausforde- kundungen in einer neuen politischen Arena. Bielefeld
rungen, die mit der politischen Diskontierung der 2012.
Zukunft zugunsten der gegenwärtig herrschenden Bohman, James/Rehg, William (Hg.): Deliberative Demo-
Mächte zu tun haben; drittens die, wie es scheint, cracy. Cambridge 1997.
kaum intelligent zu kompensierende Verantwor- Bundesministerium des Innern (2006): Abschlussbericht
E-Government 2.0. Das Programm des Bundes. Berlin
tungsdiffusion, die überall eintritt, wo möglicher- 2006.
weise unerwünschte Folgen großflächiger technolo- Callon, Michel/Lascoumes, Pierre/Barthe, Yannick: Acting
gischer Innovationen nur in langen Zeiträumen und In An Uncertain World. An Essay on Technical Demo-
gleichsam nur epidemiologisch in Populationen be- cracy. Cambridge, Mass. 2009.
obachtet werden können (s. Kap. II.6). Decker, Michael/Grunwald, Armin/Knapp, Martin: Der
Systemblick auf Innovation. Technikfolgenabschätzung in
Freilich ist nicht ausgemacht, dass das, was in der
der Technikgestaltung. Berlin 2012.
Theorie vorrangig ist, auch in der Praxis vorrangig Dewey, John: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Boden-
machbar ist. Die diskursethische Regel, Partizipation heim 1997.
unter allen absehbar Betroffenen zu maximieren, Grunwald, Armin: Zukunftstechnologien und Demokra-
reicht hierfür keineswegs aus. Daher wird man tie. Zur Rolle der Technikfolgenabschätzung für demo-
kratische Technikgestaltung. In: Kirsten Mensch/Jan C.
schon die sehr allgemeinen Monita, die in den spek-
Schmidt (Hg.): Technik und Demokratie. Zwischen Ex-
takulären Risikodebatten immerhin herausdestil- pertokratie, Parlament und Bürgerbeteiligung. Opladen
liert werden konnten – etwa die Bedeutsamkeit der 2003, 197–212.
ganzheitlichen »Lebenszyklusbetrachtung« techni- – : Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung. Berlin
scher Artefakte, der »Reversibilität und Robustheit«, ²2010.
»Reflexivität« und »Vermeidung katastrophaler Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als »Ideolo-
gie«. Frankfurt a. M. 1968.
Technikrisiken« in der Entwicklung von Technolo- – : Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992.
gielinien (Grunwald 2003)  – als einen Gewinn be- Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilo-
trachten müssen. sophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld 2006.
Unter dem Dach der institutionalisierten Tech- Irrgang, Berhard: Technik als Macht. Versuche über politi-
nikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4) ist beachtliche sche Technologie. Hamburg 2007.
Kettner, Matthias: Sachzwang. Über eine kritische Katego-
konzeptuelle und prozedurale Arbeit geleistet wor- rie der Wirtschaftsethik. In: Peter Koslowski (Hg.):
den, um Chancen für die politische und letztlich de- Wirtschaftsethik – Wo ist die Philosophie? Heidelberg
mokratische »Gestaltung« der Technik der Gesell- 2002, 117–144.
schaft zu finden (Decker et al. 2012) oder wenigstens – : Digital Divide und deliberative Demokratie. Eine dis-
deren Schwierigkeiten zu ergründen (Saretzki 2003). kursethische Bemerkung zur Technikabhängigkeit. In:
Thomas Hausmanninger et al. (Hg.): Vernetzt – Gespal-
Da Wissenschaft, nicht nur die militärisch relevante ten. München 2004, 149–160.
und daher geheime, den meisten Bürgern als eine Lange, Hans-Jürgen: Bonn am Draht. Politische Herrschaft
»hermetische Öffentlichkeit« (Albrecht 2006, 232) in der technisierten Demokratie. Marburg 1988.
6. Arbeit und Technik 217

Lenk, Hans (Hg.): Technokratie als Ideologie. Sozialphiloso- 6. Arbeit und Technik
phische Beiträge zu einem politischen Dilemma. Stuttgart
1973.
Leys, Colin: Market-driven Politics. Neoliberal Politics and
the Public Interest. London 2003. Die Suche nach dem Wesen der Arbeit als anthropo-
Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen logisch-philosophische Denkfigur durchzieht wie
²1996. ein roter Faden die Geistesgeschichte und kann als
– : Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilbd. Frankfurt menschliche Unternehmung nur in ihren kultur-
a. M. 1997. historischen Wandelprozessen verstanden werden
Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs. Organisierte
Kommunikationsprozesse in der Wissensgesellschaft. Ba- (Conze 2004). Eine offene und weitgehend moderne
den-Baden 2006. Definition von Arbeit findet sich in der Enzyklopä-
Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik die von Brockhaus, in der die Arbeit als ein bewuss-
durch das Mediensystem. Frankfurt a. M. 2009. tes Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen und
Renn, Ortwin: Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang als Teil der Daseinserfüllung des Menschen definiert
mit Unsicherheit. München 2007.
Saretzki, Thomas: Gesellschaftliche Partizipation an Tech- wird. Diese Definition weist in der Verknüpfung von
nisierungsprozessen. Möglichkeiten und Grenzen einer eben diesen beiden Handlungsformen auf ein Span-
Techniksteuerung von unten. In: Kirsten Mensch/Jan C. nungsfeld, das das Wesen der Arbeit in ihren Verge-
Schmidt (Hg.): Technik und Demokratie. Zwischen Ex- sellschaftungsprozessen geprägt hat und weiterhin
pertokratie, Parlament und Bürgerbeteiligung. Opladen zu kontroversen Beurteilungen Anlass gibt.
2003, 43–65.
Schaeffer, Roland (Hg.): Ist die technisch-wissenschaftliche Einsatz und Bewertung von Technik im Rahmen
Zukunft demokratisch beherrschbar? Bonn 1990. dieser Überlegungen werden mit dem Verlauf der
Sclove, Richard E.: Democracy and Technology. New York Industrialisierung virulent. Das Verhältnis von Ar-
1995. beit und Technik wird im Folgenden – ganz in der
Steinmüller, Karlheinz: Haben wir die Technik, die wir Tradition der philosophischen und industriesoziolo-
wollen? Wollen wir die Technik, die wir haben? In: Klaus
Kornwachs (Hg.): Technik  – System  – Verantwortung.
gischen Perspektive – als Ausdruck und als Form ge-
Münster 2004, 103–106. sellschaftlicher Produktionsverhältnisse betrachtet.
Stie, Anne Elizabeth: Democratic Decision-Making in the Der funktionale Einsatz von Technik wird hierbei
EU: Technocracy in Disguise? London 2012. nicht losgelöst von den Arbeitskontexten und Le-
Matthias Kettner benswelten der arbeitenden Menschen verstanden,
sondern  – im Gegenteil  – als konstitutiv für mo-
derne Gesellschaften bewertet. Ethische Fragestel-
lungen entstehen hierbei zwangsläufig durch genau
die beiden Denkfiguren, die den rechtlichen Rah-
men des modernen Arbeitsbegriffes geprägt haben,
nämlich den allgemein gültigen Grundsatz der sozi-
alen Gleichheit und die Durchsetzung technisch-
ökonomischer Effizienz (Dülmen 2000).

Arbeit als systematisch-rationale


Unternehmung
Die kognitive und konzeptionelle Verquickung von
Technik und Arbeit entstand mit den auf politi-
scher Macht und wirtschaftlichem Aufstieg ver-
bundenen Kräften, die sich in Europa im 17. und
18. Jahrhundert entfalten konnten. Die Umwid-
mung der Rolle des Menschen im Weltgeschehen
kreierte den Prototyp des homo faber, der durch die
Entwicklung selbst geschaffener Technik die Mühe
und die Last der Arbeit überwinden und eine neue
Welt (»Nova Atlantis« beispielsweise bei Francis
Bacon) schaffen konnte. Dabei wurde Arbeit als
218 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

produktive Kraft der Weltgestaltung und Weltver- und weisen auf ein neues Regime der Arbeitsorgani-
besserung erkannt. sation, die für das industrielle Zeitalter paradigma-
Arbeit wurde zusehends als eine ökonomische tisch wird. Der Takt der Maschine sowie die mit der
Quelle des Wohlstandes betrachtet und aus ihren Elektrifizierung eingeführte Nachtarbeit durchbra-
standesgemäßen und häuslichen Bezügen herausge- chen den Arbeitsrhythmus von Tag und Nacht, Ruhe
löst. In der politischen, technischen und sozialen und Bewegung, Werktag und Feiertag. Die Arbeits-
Entstehungsgeschichte von frühindustrialisierten Ge- zeiten wurden auf der Basis dieser technischen Er-
sellschaften bildete sich der moderne Arbeitsbegriff rungenschaften ausgeweitet, indem religiöse und
heraus. Einstellungen und Bewertungen des Arbeits- kulturelle Feiertage abgeschafft, Schichtarbeit und
konzeptes veränderten sich von Grund auf, und der Sonntagsarbeit eingeführt wurden. Darüber hinaus
Arbeit wurde zunehmend der Charakter einer Ware konnten zunehmend alle  – Männer, Frauen und
zugeschrieben. Paradigmatisch für diese Entwick- Kinder  – für diese arbeitsteilig organisierte Arbeit
lung gelten die Arbeiten von Thomas Hobbes (1588– eingesetzt werden. Die industriekapitalistische Ent-
1679) und John Locke (1632–1704), die die mensch- wicklung von Arbeit bildete sich in allen Industrie-
liche Arbeit in das Konzept einer politischen (na- gesellschaften zwischen 1850 und 1950 heraus und
tionalen) Ordnung stellten. Diese Ordnung wurde ist über das Leitbild des Lohnarbeitsverhältnisses
als Gegenentwurf des Menschen im willkürlichen eindeutig definiert (Schmidt 2010, 132). Diese Form
Naturzustand (Krieg) zur zentralen Voraussetzung der Arbeitsorganisation wurde seit den 1920er Jah-
für die Produktion von Waren (Industrie) sowie des ren um betriebswirtschaftliche Modelle ergänzt, die
Tausches (Handel) entworfen (Geisen 2011, 53). Was von dem US-amerikanischen Ingenieur Frederick
in dieser historischen Phase für den modernen Ar- Winslow Taylor (1856–1915) als scientific manage-
beitsbegriff charakteristisch wird, ist die »Entkoppe- ment (Prozesssteuerung) der Arbeitsabläufe entwi-
lung der Arbeit vom konkreten Menschen. Diese ckelt und eingeführt wurden (Taylorismus).
Entkoppelung bildete die Basis, auf der die bürgerli- Charakteristisch für die Reflexionen von Arbeit
che Gesellschaft ihre Dynamik entfalten kann. Die als menschliche Unternehmung seit Mitte des
individuelle und gesellschaftliche Verantwortung 18.  Jahrhunderts ist die Einbeziehung der sozialen
wird dabei ausschließlich auf den Erhalt und die Frage. Die Anhäufung des Reichtums in wenigen
Sicherung des Eigentums beschränkt« (ebd., 54). Ständen auf der einen Seite und die zunehmende
Dieses Motiv des modernen Arbeitskonzeptes er- Verelendung des Arbeiterstandes auf der anderen
wies sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftlich- Seite wurden schon früh sowohl von liberalen als
keit im weiteren historischen Verlauf als hoch effek- auch von konservativen Vertretern gleichermaßen
tiv, bildete jedoch spezifische kulturelle und soziale als Problem der modernen Arbeit formuliert, wenn-
Merkmale aus, die noch heute den Hintergrund für gleich aus unterschiedlichen Perspektiven.
ethisch motivierte Fragestellungen bilden. Der Philosoph und Nationalökonom Karl Marx
Die technischen Errungenschaften sowie die geis- (1818–1883) hat – zusammen mit Friedrich Engels
tig-kulturellen Strömungen des 17. und 18. Jahrhun- (1820–1895) – wie kein anderer das Verhältnis von
derts bildeten die Basis einer Arbeitskultur, die Arbeit und (utopischer) menschlicher Freiheit in
durch starke Technisierung und Mechanisierung der seiner Zeit studiert und begrifflich geprägt. Neben
Produktion sowie der gewaltigen Mobilisierung von seinen weitgehenden Reflexionen über den Men-
Arbeitskräften im Gefolge der Durchsetzung von schen als handelndes Subjekt, interessierte er sich
Lohnarbeit erfolgte. Die auf der rechtlichen Basis zeitlebens für die Frage, wie Lebens- und Weltgestal-
durchgeführte Trennung von Kapital und Arbeit tung durch Arbeit möglich sei. In seiner berühmten
sowie die Akkumulation von Produktionskapital Einleitung zum Kapital beschreibt er Arbeit als ein
führte zu einer enormen wirtschaftlichen Dynamik, umfassendes Konzept. Dies beinhaltet zum einen die
die mit einer rasch zunehmenden Arbeitsteilung, Eingebundenheit des Menschen in den Naturpro-
der Veränderung der Sozialstruktur, Urbanisie- zess, betont aber auch seine besonderen Fähigkeiten
rungsprozessen mit der Entwicklung städtischer Ar- im Evolutionsprozess und definiert Arbeit mit all
beitsweisen sowie einer grundlegenden Neuordnung seinen Facetten als grundlegende Form der Selbst-
von Wirtschaft und Gesellschaft. verwirklichung des Menschen (Voss 2010, 32 ff.). Er
Die Berichte und Quellen über die Entstehung ei- kritisiert hierbei, dass dieses Arbeitskonzept sich im
ner systematisch-rationalen Arbeitsführung in den Modell der Lohnarbeit nicht entfalten könne. Im
Fabriken und Gewerbebetrieben sind eindrücklich Rahmen seines anthropogenen Arbeitsbegriffs be-
6. Arbeit und Technik 219

wertet Marx die Maschine als Arbeitsmittel und als knüpft und ihre Fragestellungen haben sich mit dem
Produktivkraft durchaus positiv. Die physische und Wandel der Wirtschaftsstruktur (Verschiebungen
psychische Einbindung des Menschen in den Pro- vom primären Sektor zur Industrie und zu Dienst-
zess der industriellen Produktion, das Mensch-Ma- leistungen) ebenfalls stark verändert und ausdiffe-
schine-Verhältnis, betrachtet er jedoch als eine renziert (Rammert 1982). Im Hinblick auf soziokul-
große Belastung für den Menschen. Aufgrund der turelle Bewertungen von Technik in Arbeitsprozes-
sachlichen Formen der Arbeitsteilung im Produkti- sen, waren die industriesoziologischen Studien bis
onsprozess würde der Arbeiter in die Verfügungs- weit in die 1960er Jahre insgesamt von fort-
macht der Maschine und (gesamtgesellschaftlich) in schrittsoptimistischen Erwartungen (s. Kap. II.4) an
die des Kapitals hineingezwungen. Der Arbeiter und Technik geprägt. Eingebettet in die lange ideenge-
somit seine Arbeitskraft wird versachlicht und im schichtliche Tradition des menschlichen Emanzi-
Takt der Maschine eingegliedert, was, für Marx, auf pationsprozesses wurde der Einsatz von Technik in
drei Ebenen tiefgreifende Folgen hat (Geisen 2011, erster Linie als Entlastung von körperlich beschwer-
183 ff.; zur marxistischen Technikphilosophie s. Kap. licher Arbeit bewertet. Hierbei wurden fortschrei-
IV.A.2). tende Technikprozesse (Automatisierung) in einem
Neben den von Marx beschriebenen gesellschaft- evolutionären Prozess mit der Arbeit betrachtet, der
lichen Spannungs- und Konfliktfeldern (z. B. Arbeit die Arbeitenden schrittweise weniger körperlich be-
und Kapital, Hand- und Kopfarbeit, Herrschaftsver- lastet. Gleichzeitig wurde die Vorstellung entwickelt,
hältnisse), hielt er an der Wesensbestimmung des dass die betriebsförmige Organisation sowie die
Menschen durch Arbeit fest. Hier stand Marx ganz technische Rationalisierung von Arbeitsstrukturen
in der Tradition des deutschen Idealismus von Ge- traditionale Formen von Herrschaft in Frage stellen
org Wilhelm Friedrich Hegel (1770- 1831), wonach würden und die Arbeiter nicht mehr willkürlichen
der Mensch »ein sich in einem dialektisch komple- Herrschaftsformen ausgesetzt seien. Neben dem, bis
xen Prozess der handelnden Auseinandersetzung in die heutige Zeit aktuellen Topos, Entlastung von
mit der ihm gegebenen Welt selbst formendes, dabei schwerer physischer Arbeit durch Technisierungs-
seine Potentiale entfaltendes und dadurch entwi- prozesse, wurde in diesen Debatten ebenfalls der
ckelndes und praktisch entäußerndes Wesen ist« Frage nachgegangen, ob Automatisierung mit stei-
(Voß 2010, 32). genden oder sinkenden Qualifikationsanforderun-
Auf der Basis von Marx ’ Arbeiten zur Produktiv- gen an die Arbeiter einhergehen. Diese Frage ist
kraftentwicklung haben sich die zentralen Themen ebenfalls ein zentraler Untersuchungsgegenstand
der Industriesoziologie herausgebildet. Hierbei geblieben (Hack 1994).
grenzte sich die Disziplin früh von der Sozialphilo- Exemplarisch für die eher fortschrittsoptimisti-
sophie ab und spezialisierte sich inhaltlich auf spezi- sche Einstellung zur Technik in Arbeitsprozessen ist
fische ›Pathologien‹ von Arbeit in kapitalistisch or- die prominente empirische Studie Technik und In-
ganisierten Betrieben (Voß 2010, 31). Obgleich die dustriearbeit, die von Heinrich Popitz (1925–2002)
technischen Prozesse im Rahmen ihrer gesellschaft- und Kollegen in den späten 1950er Jahren durchge-
lich-historischen Einbettung betrachtet wurden, hat führt wurde. Diese untersuchte die Ausgestaltung
sie durch ihren Fokus auf die Organisation von Ar- der Arbeitsplätze in der Stahl- bzw. Hüttenindustrie
beit innerhalb der Betriebe eine thematische Eng- des Ruhrgebietes in Deutschland und ermittelte zwei
führung vorgenommen, die sich auf die Themen Ar- unterschiedliche Kooperationsformen im Umgang
beitsersparnis, Effektivitätssteigerung und Prozess- mit Technik. Gemäß der technikdeterministischen
kontrolle im Rahmen von Technisierungsprozessen Lesart (s. Kap. IV.A.9) der Technikprozesse in jener
konzentrierte (Pfeiffer 2010, 231). Arbeitsformen Zeit kam die Studie allerdings zu dem kritischen Er-
außerhalb der Betriebe gerieten hierbei völlig aus gebnis, dass teamartige Kooperationen im Arbeits-
dem Blickfeld. prozess als direkte Folge der technischen Vorgaben
abnehmen und die technische Bedingtheit von Ar-
beit zunehmen würden (Popitz et al., 1957). Diverse
Humanisierung der (Erwerbs-)Arbeit Studien folgten und brachten deutliche negative Fol-
gen der Automatisierung zu Tage. Unqualifizierte
Der Strukturwandel von (Erwerbs)Arbeit wurde an- und schwere Arbeit verschwand keineswegs und die
fangs von der Industriesoziologie eng an die Ent- Qualifikationsanforderungen von Industriearbeit
wicklungsdynamik von Industriegesellschaften ge- schienen ernüchternd (Pfeiffer 2010).
220 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Der allmähliche Abschied von technikdetermi- Informatisierung von (Erwerbs-)Arbeit


nistischen Ansätzen (zu Technik als soziale Kon-
struktion s. Kap. IV.A.10) in den folgenden Jahr- Mit der flächendeckenden Einführung der Informa-
zehnten erfolgte über zahlreiche empirische Studien tions- und Kommunikationstechnik (IuK; s. Kap.
in verschiedenen Produktionsbereichen, die zeigten, V.9) und deren Folgen auf Arbeitsstrukturen in den
dass es branchenspezifisch sehr unterschiedliche 1980er Jahren wurde in der industriesoziologischen
Entwicklungspfade für die Implementierung von Diskussion der bewährte Dreiklang Technik, Arbeit
Technik gab. Die sorgfältige Ausdifferenzierung von und Organisation weitgehend aus den Angeln geho-
Tätigkeitsgruppen auf der Basis unterschiedlicher ben. Mit den neuen Technologien verschränkten
Mechanisierungsgrade in verschiedenen Sektoren sich Organisation und Technik in nie bekanntem
zeigte beispielsweise, dass der technische Wandel Ausmaße (Pfeiffer 2010, 249). Mit der rasanten
eine Vielfalt menschlicher Arbeitsformen ermög- Durchdringung der Erwerbsarbeit von informati-
licht, die jedoch nicht dem technischen Wandel onstechnisch gestützten Tätigkeiten setzten sich
überlassen werden sollten (Kern/Schumann 1970). Arbeitsbereiche durch, die als produktionsnahe
Die Abkehr vom Technikdeterminismus in der in- Dienstleistungen beschrieben werden und vielfäl-
dustriesoziologischen Debatte förderte in unge- tigste Funktionen der Information, Planung und
ahntem Maß den Anspruch auf Gestaltbarkeit von Prognoseverfahren, aber auch der Verwaltung und
Arbeit und Technik, der mit dem weitgehenden ge- des Managements beinhalten (Baukrowitz et al.
sellschaftspolitischen Anspruch nach einer Humani- 2006). Diese verweisen durch das starke Anwachsen
sierung der Arbeit nicht nur wissenschaftliche, son- wissensbasierter Tätigkeiten einerseits auf die Konti-
dern auch interessen- und forschungspolitische nuität gesellschaftlicher Arbeitsteilung, andererseits
Strategien einforderte. Diese umfassten in den auf die Nachfrage nach wissensintensiven und spezi-
1970er und 1980er Jahren gewaltige staatliche För- alisierten Berufsprofilen. Der Anstieg dieser Tätig-
derprogramme und beinhalteten Themen wie sozi- keitsprofile, die Ausweitung der Investitionstätigkei-
alverträgliche Technik- und Organisationsgestal- ten in globale Produktionsketten sowie die Auswei-
tung bis hin zu Ansätzen partizipativer Technikge- tung der institutionellen Rahmenbedingungen
staltung in Arbeitsprozessen (Pfeiffer 2010). haben seit Beginn der 1990er Jahre zu einer sichtba-
Diese Entwicklungen wurden begleitet von den ren Stärkung globaler Unternehmen geführt, denen
ersten großen Phasen der Arbeitslosigkeit nach 1945 eine immer größere Rolle, sowohl im Hinblick auf
sowie der rasanten Entwicklung des Dienstleistungs- die Gestaltung (globaler) Wertschöpfungsketten als
sektors, der in der soziologischen Debatte (noch) als auch im Hinblick auf die internationale Arbeitstei-
Gegenentwurf zur rationalen, technisch dominier- lung – einer neuen Weltordnung – zukommt (Hardt/
ten Arbeit in der Produktion betrachtet wurde Negri, 2000).
(Krings 2007), nämlich als ein Typus von Arbeit, der Von diesen neuen Formen der Arbeitsteilung sind
sich gerade durch seine Nichtnormierbarkeit aus- inzwischen auch spezifische Funktionen wissensin-
zeichne. Auf der Basis technischer Innovationen tensiver Tätigkeiten erfasst, von denen man noch
würden Arbeitsfelder entstehen, die sich durch In- vor wenigen Jahrzehnten kaum die Möglichkeit ei-
teraktion, Erfahrungskompetenz und Empathie aus- ner tayloristischen Arbeitsteilung vermutet hätte:
zeichnen und keiner formalen Kontrolle unterstellt Call-Center, vielfältige administrative Tätigkeiten,
würden (Offe 1983). Gleichzeitig wurde immer Design, Forschung und Entwicklung werden mit
deutlicher, dass Erwerbsarbeit als zentrale, gesell- dem Argument der Kosten in andere Länder ausge-
schaftlich anerkannte Kategorie von Arbeit große lagert. Kapital- und Finanzströme wirken auf Ar-
Teile gesellschaftlich relevanter Arbeit ausklam- beitsverläufe ein und beginnen diese organisatorisch
merte. So wurde in zähen Verhandlungen die soziale zu fragmentieren und zu flexibilisieren. Aufgrund
Anerkennung reproduktiver Tätigkeiten (z. B. Kin- der Durchsetzung hochgradig flexibel ausgestalteter
derbetreuung) als das Ganze der Arbeit von feminis- Arbeitszeiten und Arbeitsverträge, Umstellung auf
tischen Theoretikerinnen in die Diskussionen einge- projektförmig organisierte Arbeit sowie der Einfüh-
bracht und langsam in die industriesoziologischen rung leistungsbezogener Arbeitskonzepte wird zu-
Debatten integriert (Aulenbacher et al. 2007). nehmend mehr das subjektive Potential der Arbei-
tenden, die human ressources, für betriebliche Zwe-
cke ausgeschöpft. Den Erwerbstätigen wird hierbei
mehr und mehr Flexibilität innerhalb der Betriebe
6. Arbeit und Technik 221

abverlangt. Dies wirkt nicht nur nach innen, son- rechterhaltung gesellschaftlicher und sozialer Ver-
dern auch außerhalb der Betriebe, indem die Le- antwortung im Hinblick auf den Erhalt und die
benszeit der Arbeitenden mehr und mehr in betrieb- Sicherung privaten Eigentums, neu auszuloten
liche Strukturen einbezogen wird. Diese Entwick- (Arendt 2007).
lung wurde in der Industriesoziologie intensiv
diskutiert (Kratzer 2003). Mit der Diagnose der
»Corrosion of Character« beschreibt beispielsweise Arbeit und Technik im 21. Jahrhundert
der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett
eindringlich in seiner berühmten Studie den Proto- Mit dem leisen Vorwurf der »Technikvergessenheit«
typ des flexiblen Menschen und mahnt an, diese so- in ihrer Disziplin weist z. B. die Industriesoziologin
zialen Entwicklungen (wieder) mehr in kapitalismus- Sabine Pfeiffer vor dem Hintergrund der obenge-
kritische Zusammenhänge zu stellen (Sennett 1998). nannten Entwicklungen vehement auf die stoffliche
Aber auch die industriesoziologischen Debatten Qualität von Technologien in Arbeitsprozessen, auf
betonen die »Ökonomiegetriebenheit« dieser weit- die sich ständig verändernde Interaktion von Men-
reichenden Prozesse sowie die historische Kontinui- schen und Technik in Arbeitskontexten sowie neue
tät kapitalistischer Verwertungslogik, die mit dem Handlungsanforderungen durch Techniken hin. Ge-
Einsatz von IuK-Technologien, den institutionellen rade neuere Technologien wie solche im IuK-Be-
Rahmenbedingungen sowie der engen Verschrän- reich, die Robotik (s. Kap. V.21) oder die Medizin-
kung von Arbeitsorganisation mit der Biographie technologie (s. Kap. V.14) deuten ihrer Ansicht nach
der Arbeitenden auf eine neue Ebene gehoben derzeit auf große Veränderungen in den Berufsbil-
wurde (Pfeiffer 2010, 249). So wird den Erwerbstäti- dern hin, die die Fragen nach Entlastung von Arbeit
gen zunehmend mehr ein unternehmerisches, auf (welche neuen Belastungen?), Qualifikationsanfor-
rasch wechselnde Erwerbschancen angepasstes Ver- derungen (welche Abwertungen und/oder Aufwer-
halten zu ihrer Arbeitsumwelt und zu sich selbst ab- tungen von Tätigkeiten?) und fortlaufender Substitu-
verlangt, was zur Prägung des Begriffs des »Arbeits- tion von menschlicher Arbeit (welche Alternativen
kraftunternehmers« führte (Voß/Pongratz 1998). zur materiellen Sicherung des Lebens?) wieder neu
Dieser vollständige Zugriff auf die gesamte Person, stellen. Wenn auch diese Fragen nicht mehr lediglich
der Zugriff auf Innovativität, Kreativität, Solidarität, vor der Annahme einer Versachlichung von Herr-
Interaktionen mit anderen Menschen hat  – neben schaft durch Technik behandelt werden (können), so
der maximalen Steigerung des Arbeitsrhythmus – zu haben diese Technologien doch eine konkrete und
einer »Dekonstruktion« der (Erwerbs-)Arbeit ge- stoffliche Qualität, die sich im Arbeitsumfeld mit all
führt, deren weitreichende Pathologien und Parado- ihren Folgen und Auswirkungen zeigen (Pfeiffer
xien innerhalb wissenschaftlicher Debatten darauf 2010, 253).
verweisen, dass der moderne Arbeitsbegriff als sys- Der Einsatz von Technik im Rahmen der gesam-
tematisch-rationale Unternehmung des homo faber ten Bewertung von Arbeit ist in fortgeschrittenen In-
in den Positionen und Ideologien des 19. Jahrhun- dustriegesellschaften in eine Phase getreten, in der
derts an seine Grenzen gestoßen ist (Honneth 2002). (wieder) grundsätzliche Fragen zum Wesen der Ar-
Nicht nur im Hinblick auf die Aufhebung der Un- beit gestellt werden. Beschleunigungsdynamiken,
terschiede von ›produktiver‹ und ›nichtproduktiver‹ Flexibilisierungsprozesse sowie die Abkoppelung
Arbeit außerhalb institutionell organisierter Arbeit, der Produktion von den Finanzmärkten haben zu
sondern auch durch die Ausdifferenzierung und hohen Unsicherheiten auf den Arbeitsmärkten ge-
Spezialisierung der Tätigkeitsbereiche und Berufe führt, die die soziale Frage (regional, global) wieder
wird Arbeit auf einer begrifflichen Ebene neu ausge- in den Vordergrund rücken.
wiesen. Mit dem Anspruch einer neu zu formulie- Oskar Negt (2001) bindet seine kritische Dia-
renden Sozialkritik wird Arbeit wieder mehr und gnose der aktuellen Arbeitsstrukturen an philoso-
mehr im Kontext der Bedingtheiten des Lebens, der phische Denkfiguren zurück, die (wieder) den An-
»Vita Activa« eines jeden Menschen betrachtet, wie spruch auf Subjektfindung des Menschen mit dem
sie beispielsweise die Philosophin Hannah Arendt tätigen Handeln des Menschen verknüpfen. Er plä-
(1906–1975) herausgearbeitet hat. Hierbei scheint diert  – ganz im Sinne der Philosophie Immanuel
eine der Hauptaufgaben zu sein, beide Grundprinzi- Kants (1724–1804)  – dafür, auf der Basis der
pien moderner Arbeit, nämlich die Entkoppelung menschlichen Urteilskraft die suggestive Nähe zum
der Arbeit vom konkreten Menschen sowie die Auf- naturwissenschaftlichen und technologischen Fort-
222 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

schritt zu brechen. Er argumentiert, dass im Laufe Jochum, Georg: Zur historischen Entwicklung des Ver-
des historischen Prozesses Können und Sollen iden- ständnisses von Arbeit. In: Fritz Böhle/G. Günter Voß/
Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie.
tisch gesetzt wurden und der Zivilisationsprozess in
Wiesbaden 2010, 81–125.
einen Strudel technischer Sachzwänge hineingeraten Kern, Horst/Schumann, Michael: Industriearbeit und Ar-
ist, der dringend überprüft und neu gedacht werden beiterbewusstsein (Teil 1). Frankfurt a. M. 1970.
müsste (Negt 2001, 666). Solle Technik und ihre Kratzer, Nick: Arbeitskraft in Entgrenzung. Grenzenlose An-
Wirkmacht entmystifiziert werden, dann reiche tat- forderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressour-
sächlich der Hinweis auf ihre nüchtern-instrumen- cen. Berlin 2003.
Krings, Bettina-Johanna: Die Krise der Arbeitsgesellschaft.
telle Dimension heute nicht mehr aus. Vielmehr Einführung in den Schwerpunkt. In: Technikfolgenab-
bedürfe es eines neuen Verständnisses von Zeit, schätzung Theorie und Praxis 16/2 (2007), 4–12.
Technik und Arbeit in fortgeschrittenen Industrie- Moldaschl, Manfred/Voß, G. Günter (Hg.): Subjektivierung
gesellschaften. Hier sind die Tätigkeitsformen von von Arbeit. München 2002.
Menschen nicht mehr nur technisch vermittelt, son- Negt, Oskar: Arbeit und menschliche Würde. Göttingen
2001.
dern prägen in hohem Maße die Strukturen von Offe, Claus: Arbeit als gesellschaftliche Schlüsselkategorie?
Raum- und Zeitregimen. Im Rahmen dieser Kon- In: Joachim Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft.
frontation sind weiterführende ethische und soziale Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentags in Bam-
Fragestellungen angesiedelt, die wieder um die Be- berg 1982. Frankfurt a. M./New York 1983, 38–65.
dürfnis- und Daseinserfüllung des Menschen im Pfeiffer, Sabine: Technisierung von Arbeit. In: Fritz
Böhle/G. Günter Voß/Günther Wachtler (Hg.): Hand-
Rahmen des Arbeitsprozesses kreisen. Arbeit als tä- buch Arbeitssoziologie. Wiesbaden 2010, 231–262.
tiges Handeln sollte hierbei allen Menschen zugäng- Popitz, Heinrich/Bahrdt, Hans Paul/Jüres, Ernst A./Kes-
lich sein, als Grundlage der materiellen Existenzsi- ting, Hanno: Technik und Industriearbeit. Soziologische
cherung genauso wie als Beitrag zu einer subjektiv Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen 1957.
befriedigenden Lebensführung. Seinen utopischen Rammert, Werner: Technisierung der Arbeit als gesell-
schaftlich-historisches Projekt. In: Wolfgang Littek/
Charakter wird die Suche nach dem Wesen der Ar- Werner Rammert/Günther Wachtler (Hg.): Einführung
beit vermutlich weiterhin nicht verlieren. in die Arbeits- und Industriesoziologie. Frankfurt a. M./
New York 1982, 62–75.
Literatur Schmidt, Gert: Arbeit und Gesellschaft. In: Fritz Böhle/G.
Günter Voß/Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeits-
Arendt, Hannah: Vita activa. Oder vom tätigen Leben soziologie. Wiesbaden 2010, 127–147.
[1968]. München 2007. Sennett, Richard: The Corrosion of Character. New York
Aulenbacher, Brigitte/Funder, Maria/Jacobsen, Heike/Völ- 1998.
ker, Susanne (Hg.): Arbeit und Geschlecht im Umbruch Voss, G. Günter: Was ist Arbeit? Zum Problem eines allge-
der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog. Wiesba- meinen Arbeitsbegriffs. In: Fritz Böhle/G. Günter Voß/
den 2007. Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie.
Baukrowitz, Andrea/Berker, Thomas/Boes, Andreas/Pfeif- Wiesbaden 2010, 23–80.
fer, Sabine/Schmiede, Rudi/Will, Mascha (Hg.): Infor- – /Pongraß, Hans: Der Arbeitskraftunternehmer  – Eine
matisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch. Berlin neue Grundform der »Ware Arbeit«? In: Kölner Zeit-
2006. schrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1 (1998),
Conze, Werner: Arbeit [1972]. In: Otto Brunner/Werner 131–158.
Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grund- Bettina-Johanna Krings
begriffe. Bd. 1. Stuttgart 2004, 154–215.
Dülmen, Richard van: ›Arbeit‹ in der frühneuzeitlichen
Gesellschaft: Vorläufige Bemerkungen. In: Jürgen
Kocka/Jürgen Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Ar-
beit. Frankfurt a. M./New York 2000, 80–87.
Geisen, Thomas: Arbeit in der Moderne. Ein dialogue imagi-
naire zwischen Karl Marx und Hannah Arendt. Wiesba-
den 2011.
Hack, Lothar: Industriesoziologie. In: Harald Kerber/
Arnold Schmieder (Hg.): Spezielle Soziologien. Problem-
felder, Forschungsbereiche, Anwendungsorientierungen.
Hamburg 1994, 40–74.
Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Cambridge, Mass.
2000.
Honneth, Axel (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Para-
doxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt a. M./
New York 2002.
223

7. Risikobeurteilung/ oretischen Reflexion unterschieden werden: Wäh-


rend Risikoidentifikation und Risikobewertung de-
Risikoethik skriptive Fragen zum Gegenstand haben (›Was ist
der Fall?‹), ist die Phase der Risikobeurteilung auf
der normativen Ebene anzusiedeln (›Welche Ent-
Drei Phasen der Auseinandersetzung scheidung bzw. Handlung ist richtig?‹). Eine Ausein-
mit Risiken andersetzung auf der normativen Ebene setzt voraus,
dass auf der deskriptiven Ebene ein hinreichender
In der Auseinandersetzung mit Risiken (s. Kap. II.2) Fundus geteilter Annahmen hinsichtlich der Risiko-
können grundsätzlich drei Phasen unterschieden realität vorliegt. Da dies gerade in der Auseinander-
werden: Risikoidentifikation (Risk Characterisa- setzung mit Risiken keineswegs notwendig, sondern
tion), Risikobewertung (Risk Analysis) und Risiko- eher selten der Fall ist, wird auf der deskriptiven
beurteilung (Risk Assessment). In der ersten Phase Ebene häufig zwischen subjektiver und objektiver
der Risikoidentifikation geht es um die Frage ›Was Perspektive unterschieden, d. h. zwischen (subjek-
ist ein Risiko?‹ bzw. ›Welche Situationen sind als tiver) Risikowahrnehmung und (objektiver) Risiko-
risikobehaftet zu betrachten?‹. Die zweite Phase der realität. Diese Unterscheidung verweist darauf, dass
Risikobewertung ist durch zwei Fragen gekenn- die Differenzierung zwischen einer deskriptiven und
zeichnet, die (zumindest implizit) unterschiedliches einer normativen Ebene der theoretischen Reflexion
Gewicht entweder auf die Wahrscheinlichkeits- von Risiken nicht allzu strikt interpretiert werden
oder auf die Schadenskomponente von Risikositua- sollte. Denn auch Auseinandersetzungen in deskrip-
tionen legen: zum einen die Frage ›Wie hoch ist das tiven Fragen haben bereits normative Implikationen:
Risiko?‹ (Fokus auf Wahrscheinlichkeiten), zum an- Verfechter einer objektiv feststellbaren und mess-
deren die Frage ›Wie groß ist das Risiko?‹ (Fokus baren Risikorealität gehen davon aus, dass die so
auf potentielle Schäden). In der dritten Phase der identifizierten und bewerteten Risiken sowohl in
Risikobeurteilung geht es um normative Aspekte: qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht inter-
Ist ein zuvor identifiziertes und bewertetes Risiko subjektive Anerkennung finden sollten.
vertretbar bzw. ist es akzeptabel? Während die Frage Subjektivisten bestreiten dies. Ihrer Ansicht
nach der Vertretbarkeit von Risiken dabei  – wie- nach kann »zumindest unter konstruktivistischen
derum implizit – eher auf die pragmatische Dimen- Perspektiven nicht davon ausgegangen werden, daß
sion der Risikobeurteilung z. B. in ökonomischen Risiken aus einem vorgegebenen Universum von
Kontexten zielt, betont die Frage nach der Akzepta- (objektiven) Ungewißheiten gewählt werden«.
bilität von Risiken stärker die ethische Dimension Risiken seien allenfalls insofern intersubjektive
von Risikobeurteilungen. Beide Aspekte, (ökono- Phänomene, als sie als soziale Konstrukte »unter
mische) Vertretbarkeit und (ethische) Akzeptabili- bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen als
tät, haben jedoch einen einheitlichen normativen Risiken hergestellt werden« (Bonß 1995, 48 f.). Wird
Hintergrund: Es geht darum, ob ein Risiko vernünf- ein solcher risikotheoretischer Konstruktivismus
tigerweise eingegangen werden sollte oder nicht; ein radikalisiert, so bedeutet dies, dass nur das bzw. all
infrage stehendes Risiko soll daraufhin überprüft das als Risiko gilt, was als solches wahrgenommen
werden, welche Gründe dafür oder dagegen spre- wird – eine These, die in der Tat nicht mit der An-
chen, es einzugehen. Insgesamt geht es bei Risiko- nahme einer objektiven Risikorealität in Einklang zu
beurteilungen also um Überlegungen, welche Krite- bringen ist.
rien der Risikopraxis als vernünftig gelten können Normative Relevanz entfaltet der Konflikt zwi-
und  – darin inbegriffen  – wie sich eine entspre- schen risikotheoretischen Subjektivisten und Objek-
chend ausgestaltete Risikopraxis zu ethischen Erwä- tivisten, sofern daraus divergierende Kriterien hin-
gungen verhält. sichtlich des Umgangs mit Risiko abgeleitet werden.
Während die Vertreter einer objektiven Risikoreali-
tät sich dabei in der Regel auf einen möglichst ratio-
Deskription und Normativität nalen Umgang mit den Fakten berufen, betonen
in der Risikotheorie Vertreter einer subjektivistischen Perspektive in der
Risikotheorie eher die kulturellen Aspekte der Aner-
Die drei Phasen der Auseinandersetzung mit Risi- kennung und Berücksichtigung subjektiver Risiko-
ken können hinsichtlich des Gegenstandes ihrer the- perzeptionen.
224 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Paradigmen der Risikopraxis können dem Beratungsbedarf nicht nur politi-


scher Entscheidungsträger, sondern auch der
In der Risikoethik besteht seit geraumer Zeit ein Pa- Gesellschaft insgesamt nicht gerecht werden.
radigmenkonflikt (vgl. Nida-Rümelin et al. 2012, (3) Das partizipatorische Paradigma schließlich
Kap. 3). Auf der einen Seite steht ein konsequentia- kann deswegen nicht überzeugen, da es die
listisches Paradigma der Risikopraxis, das zumeist in Frage nach der Akzeptabilität der Risikopraxis
enger Anlehnung an ökonomische Methoden der mit der Forderung nach Herstellung faktischer
Entscheidungsfindung normative Stellungnahmen Akzeptanz zu beantworten sucht. Ein solches
zur Risikopraxis formuliert, auf der anderen Seite Vorgehen ist entweder unter den zeitgenössi-
ein postmodern-subjektivistisches Paradigma der schen Bedingungen der Risikopraxis unrealis-
Risikopraxis, das als Reaktion auf das erstgenannte tisch (Einstimmigkeit in allen hinreichend
Paradigma in seiner extremsten Form bestehende wichtigen risikopraktischen Entscheidungen)
Risiken mit subjektiver Risikoperzeption identifi- oder aber aus grundsätzlichen ethischen und
ziert und eine gleichgewichtige Berücksichtigung demokratietheoretischen Erwägungen heraus
aller subjektiven Risikowahrnehmungen einfor- fragwürdig. Diese Erwägungen beziehen sich
dert  – damit aber in letzter Konsequenz die Mög- einerseits auf den Status individueller Rechte in
lichkeit interpersonell begründbarer normativer demokratischen Strukturen sowie andererseits
Kriterien der Risikobeurteilung ausschließt. auf die Frage, welche Bedeutung kollektive Ent-
In Anbetracht dieses als unbefriedigend empfun- scheidungen für ebensolche Strukturen haben.
denen Paradigmen-Gegensatzes hat sich in der nor- Insbesondere aber lässt die Verschiebung des
mativen Risikotheorie noch ein weiterer Ansatz eta- Fokus von der Frage der Akzeptabilität hin zur
bliert, den man als das partizipatorische Paradigma Forderung oder Feststellung faktischer Akzep-
der Risikopraxis bezeichnen könnte: Angesichts der tanz die normativen Grundfragen zeitgenössi-
Notwendigkeit, zumindest im Hinblick auf die öf- scher Risikopraxis weitgehend unberücksich-
fentliche Risikopraxis zu kollektiv bindenden Ent- tigt.
scheidungen zu gelangen, fordert dieses Paradigma
die faktische Einbeziehung im besten Fall aller von
einer Risikopraxis Betroffenen in den entsprechen- Rationalitätstheorie und (Risiko-)Ethik
den Entscheidungsprozess (s. Kap. VI.5).
Keines der drei Paradigmen der Risikopraxis Während die Vertreter konsequentialistischer Ethi-
kann allerdings aus ethischer Sicht überzeugen. Als ken – die prominenteste Version des ethischen Kon-
alleinige Grundlage der Risikobeurteilung scheiden sequentialismus ist der Utilitarismus (s. Kap.
sie jeweils aus: IV.B.4)  – für sich in Anspruch nehmen, auf einem
(1) Das konsequentialistische Paradigma kann nicht rationalen Fundament zu argumentieren, scheinen
überzeugen, da es weder dem autonomistischen die Kritiker einer entsprechend konsequentialisti-
Ethos rechtsstaatlich verfasster Demokratien, schen Risikobeurteilung die damit einhergehende
noch etablierten Gerechtigkeitsvorstellungen Vereinnahmung des Rationalitätsbegriffs in der Re-
genügt. Die Verkürzung praktischer Rationalität gel zu akzeptieren. Dies findet seinen Ausdruck z. B.
auf konsequentialistische Rationalität ist mit den in der rationalitätskritischen Haltung vieler soziolo-
deontologischen Strukturen (s. Kap. IV.B.5.) le- gischer Exponenten des postmodern-subjektivisti-
bensweltlicher Begründungen unvereinbar und schen Paradigmas, ist jedoch in Verbindung mit ei-
führt zu Legitimationsdefiziten entsprechend ner Gegenüberstellung von Rationalität und Moral
angeleiteter Risikopraxis. zugleich der tiefere Grund dafür, dass entsprechende
(2) Das postmodern-subjektivistische Paradigma Ansätze zur Formulierung risikopraktischer Norma-
hingegen kann schon deswegen nicht überzeu- tivität nicht überzeugen können. Sätze wie »Zwar ist
gen, da entsprechende risikotheoretische An- x irrational, aber dennoch sollte man x tun« stehen
sätze in der Regel keine alternative Theorie des der Einheitlichkeit praktischer Vernunft entgegen.
richtigen Umgangs mit Risiken liefern, sondern Moral lässt sich nicht grundsätzlich gegen Rationali-
sich hauptsächlich mit der Dekonstruktion eta- tät in Stellung bringen. Gerade dies ist jedoch ein
blierter Methoden der Risikobewältigung be- häufig beobachtbares argumentatives Manöver der
schäftigen. Damit büßen sie die normative Di- Kritik an konsequentialistischen Ansätzen in der Ri-
mension weitgehend bis vollständig ein und sikoethik  – nicht nur von Vertretern des postmo-
7. Risikobeurteilung/Risikoethik 225

dern-subjektivistischen Paradigmas, sondern auch rende monetäre Bewertungen gerade auch von Men-
von Seiten partizipatorischer Beiträge. schenleben zum Ausdruck kommen. Denn dieser
Die Theorie der Rationalität kann letztlich  – Sachverhalt spiegelt lediglich die Tatsache wider,
ebenso wie die Ethik  – nur als eine normative dass eine Vermeidung jeglichen Risikos für Leib und
Theorie verstanden werden. Es gibt aber nur ein Leben kein vernünftiger Maßstab individueller wie
normatives Sollen und dementsprechend müssen kollektiver Praxis ist.
sich die Gebote einer adäquaten ethischen Theorie Ein weiteres regelmäßig mit Entscheidungen in
mit den Geboten einer adäquaten Rationalitätstheo- risikobehafteten Situationen in Verbindung ge-
rie in Deckung bringen lassen. Eine adäquate ethi- brachtes Kriterium ist das Maximin-Kriterium:
sche Theorie ist deontologisch (und nicht konse- »Wähle in einer gegebenen Entscheidungssituation
quentialistisch; s. Kap. IV.B.5), eine entsprechend diejenige Handlungsoption, deren maximaler po-
adäquate Rationalitätstheorie ist kohärentistisch tentieller Schaden gegenüber dem entsprechenden
(und wiederum nicht konsequentialistisch). Eine Schadenspotential aller anderen offen stehenden
kohärentistische Rationalitätstheorie ist mit der Handlungsoptionen minimal ist!« Dieses Entschei-
Vielfalt praktischer Gründe in Einklang zu bringen, dungskriterium ist ebenso wie die cost-benefit-Ana-
eine konsequentialistische nicht. Mit anderen Wor- lyse strikt konsequentialistisch ausgerichtet. Da
ten: Eine Kohärenztheorie praktischer Rationalität handlungsrelevante Wahrscheinlichkeiten nicht be-
ist – im Gegensatz zu einer reinen Optimierungsthe- rücksichtigt werden, geht es allein um die Vermei-
orie  – durch die (deontologischen) Begründungs- dung des worst case; Ziel ist der Ausschluss potenti-
strukturen lebensweltlicher Praxis gedeckt. eller Katastrophen. Weder die Wahrscheinlichkeit
des Eintretens solcher Katastrophen, noch die mit
dieser Strategie verbundenen Kosten (in Form ent-
Etablierte Kriterien gangenen Nutzens durch Ausschluss bestimmter
der Risikobeurteilung Handlungsoptionen) werden im Rahmen des Maxi-
min-Kriteriums als entscheidungsrelevant erachtet.
Das am weitesten verbreitete Instrumentarium der Damit sind jedoch die Fälle einer plausiblen Anwen-
risikopraktischen Entscheidungsfindung ist die Kos- dung dieses Entscheidungskriteriums stark be-
ten-Nutzen-Analyse (cost-benefit), in der gewöhn- schränkt. Darüber hinaus wird im Maximin-Krite-
lich eine monetäre Bewertung der Nutzen- bzw. rium bewusst von jeglicher Berücksichtigung des
Schadensmaße vorausgesetzt wird (vgl. z. B. Sun- (sicheren oder potentiellen) Nutzens einer Entschei-
stein 2002). Dies ist – zusätzlich zum streng konse- dungsoption abgesehen; nur potentielle Schäden
quentialistischen Rationalitätsverständnis, das mit werden als entscheidungsrelevant erachtet.
Entscheidungen auf Grundlage einer cost-benefit- Angesichts der Probleme einer allein auf der cost-
Analyse zum Ausdruck gebracht wird  – insofern benefit-Analyse beruhenden Risikobeurteilung so-
problematisch, als damit eine interpersonelle Ver- wie der mangelnden Eignung des Maximin-Kriteri-
gleichbarkeit von Nutzen- bzw. Schadensmaßen be- ums als allgemeines Kriterium für Entscheidungen
hauptet wird, die empirisch nur in seltenen Ausnah- in risikobehafteten Handlungsumfeldern, sind un-
mefällen gegeben sein dürfte. Neben der Tatsache, terschiedliche Versuche unternommen worden, die
dass es wenig Grund zu der Annahme gibt, dass die Entscheidungsrationalität des Maximin-Kriteriums
Nutzenfunktion des Geldes interpersonell invariant zu erweitern und zu verfeinern. Ein bereits 1951 von
ist, spricht zudem gegen eine monetäre Bewertung Leonid Hurwicz vorgeschlagenes Kriterium sucht in
von Nutzen- bzw. Schadensmaßen, dass die Moneta- dieser Hinsicht die Eigenschaften des Maximin-Kri-
risierung bestimmter Schadensarten, wie z. B. zu er- teriums mit dessen Inversion – dem Maximax-Kri-
wartender Todesfälle, insofern ethisch problematisch terium  – zu verbinden (vgl. Hurwicz 1951). Aus-
ist, als sie die Möglichkeit einer unmittelbaren Ver- gangspunkt der Überlegungen Hurwicz ’ war die
rechnung von Menschenleben mit ökonomischen Frage, ob es nicht in vielen Fällen vernünftiger sei,
Vorteilen im Zuge der risikopraktischen Entschei- auch zu berücksichtigen, was an Positivem in einer
dungsfindung eröffnet. Dieser ethische Einwand unsicheren Entscheidungssituation gewonnen wer-
wird keinesfalls dadurch entkräftet, dass im Rahmen den könnte; die Asymmetrie einer ausschließlichen
unseres Handelns implizit (also als Nebenfolge der Berücksichtigung der potentiellen negativen Folgen
individuellen wie kollektiven Praxis) vielfältige und erschien ihm ungerechtfertigt. Das Hurwicz-Krite-
in unterschiedlichen Kontexten durchaus divergie- rium schlägt deshalb (allerdings wiederum ziemlich
226 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

willkürlich) vor, die bestmögliche und die schlech- legende Individualrechte zu gewährleisten. Der Ge-
testmögliche Konsequenz herauszugreifen und an- danke prinzipiell zu achtender Rechte (zu Men-
schließend zu gewichten. Der dabei verwendete Pa- schenrechten s. Kap. IV.B.1) liegt mit einem Primat
rameter wird als Optimismus-Pessimismus-Index der Folgenoptimierung über Kreuz. Das dritte Defi-
bezeichnet: Während für die reinen Pessimisten nur zit betrifft die Autonomie (wobei wir den Autono-
das schlechtestmögliche Ergebnis relevant ist, halten miebegriff hier nicht in einem spezifisch kantischen
die reinen Optimisten nur das bestmögliche Ergeb- Sinn verwenden): Menschen sind für ihr Leben ver-
nis für relevant. Allerdings ist auch hier zu beachten, antwortlich, und diese Verantwortung können ih-
dass das Hurwicz-Kriterium wahrscheinlichkeitsbe- nen andere Personen grundsätzlich nicht abnehmen
zogene Informationen bei der Entscheidungsfin- (dies gilt jedenfalls für erwachsene und voll zurech-
dung gänzlich vernachlässigt, wodurch es vielfach nungsfähige Personen). Das Gegenstück zur so ver-
kontraintuitive Ergebnisse produziert. Darüber standenen Autonomie ist das Paternalismusverbot:
hinaus ist insbesondere die Interpretation des Opti- Selbst wenn wir ganz sicher sind, dass eine be-
mismus-Pessimismus-Index problematisch (vgl. stimmte Maßnahme für eine Person mehr Vor- als
Nida-Rümelin/Schmidt 2000, 79). Nachteile bringt, dürfen wir diese Maßnahme dann
nicht verwirklichen, wenn die Person dies ausdrück-
lich ablehnt. Konsequentialistische Kriterien der Ri-
Merkmale eines adäquaten Kriteriums sikobeurteilung können diese Autonomiebedingung
der Risikobeurteilung jedoch nicht integrieren. Viertes Defizit ist schließ-
lich die Nichtberücksichtigung von Kriterien der
Keines der zuvor genannten Kriterien kann letztlich Gerechtigkeit und Fairness (s. Kap. IV.B.9): Aspekte
überzeugen – wobei zu beachten ist, dass nur die der Verteilung gehen bei rein aggregativen Betrach-
cost-benefit-Analyse ein genuines Kriterium der tungen von potentiellen Schäden und Nutzen, wie
Risikobeurteilung ist, während die anderen drei Kri- sie Hauptmerkmal konsequentialistischer Kriterien
terien als Entscheidungskriterien für Handlungen der Risikobeurteilung sind, unter.
unter Ungewissheit konzipiert sind. Alle genannten Die damit beschriebenen Defizite konsequentia-
Kriterien bleiben gänzlich dem Konsequentialismus listischer Risikobeurteilung spiegeln die deontologi-
verhaftet: Kriterium der Entscheidungsfindung sind sche Struktur der lebensweltlichen Begründungs-
allein die potentiellen Folgen einzelner Handlungs- praxis wider, die eine adäquate ethische Theorie be-
optionen im Hinblick auf künftige Weltzustände. rücksichtigen sollte. Ein überzeugendes Kriterium
Damit setzen sie sich einer Kritik aus, die auf das der Risikobeurteilung sollte dann wiederum die
konsequentialistische Kalkül in der Risikotheorie deontologischen Elemente der ethischen Theorie in-
insgesamt abzielt, welches mit der Gewährleistung tegrieren  – allerdings ohne dabei den notwendig
individueller Rechte sowie mit grundlegenden konsequentialistischen Charakter einer jeden risiko-
Gerechtigkeitsvorstellungen unvereinbar ist. Dessen theoretischen Reflexion zu verkennen. Konsequen-
ungeachtet plädieren allerdings z. B. Dieter Birnba- tialistische Risikooptimierung und deontologische
cher (1991) oder Cass Sunstein (2002) für einen rein Beschränkung derselben müssten folglich in einem
oder doch maßgeblich konsequentialistischen An- adäquaten Kriterium der Risikobeurteilung in kohä-
satz in der Risikoethik. renter Weise miteinander verbunden werden. Dabei
Die Kritik am konsequentialistischen Kalkül in gilt jedoch, dass die deontologischen Grenzen kon-
der Risikotheorie lässt sich anhand von vier Defizi- sequentialistischer Risikooptimierung in Form von
ten verdeutlichen (vgl. Nida-Rümelin 2005): Erstens Rechten weder absolut noch undifferenziert aufzu-
ist festzuhalten, dass konsequentialistische Risikobe- fassen sind. Entsprechend der unterschiedlichen
urteilung keinen Unterschied macht zwischen der Stärke individueller Rechte für die Frage der Zuläs-
entscheidenden Person und den von dieser Ent- sigkeit konsequentialistischer Risikooptimierung
scheidung Betroffenen. Tatsächlich ist es jedoch ein könnten diese Rechte in Form konzentrischer Kreise
wesentlicher Unterschied, ob Personen für sich ein um eine Person gedacht werden, mit zum Zentrum
Risiko eingehen oder ob sie dieses Risiko anderen hin ansteigender Bindungswirkung (vgl. Nida-Rü-
Personen aufbürden. In einem engen Zusammen- melin 2005).
hang damit steht, zweitens, die Tatsache, dass konse- Positiv gewendet, sollte ein überzeugendes Krite-
quentialistische Kriterien der Risikobeurteilung für rium der Risikobeurteilung folgende Eigenschaften
sich genommen nicht im Stande sind, selbst grund- aufweisen (vgl. Schulenburg 2012): Erstens sollte es
7. Risikobeurteilung/Risikoethik 227

nicht-aggregativ sein, d. h., es sollte auf der Forde- rium der Risikobeurteilung gerecht zu werden (vgl.
rung einer Rechtfertigungsfähigkeit der konkreten Nida-Rümelin 2005, 883 ff. sowie Nida-Rümelin et
Risikopraxis gegenüber jeder einzelnen betroffenen al. 2012, Kap. 10–12).
Person beharren; es sollte – zweitens – nicht indivi- Welche konkreten risikobehafteten Handlungen
duell wohlfahrtsorientiert bzw. non-welfarist sein, letztlich im Rahmen eines derartigen Kriteriums der
d. h., die jeweils individuelle Vorteilhaftigkeit einer Risikobeurteilung akzeptabel sind, kann jedoch von
bestimmten Risikopraxis für alle von ihr betroffenen der ethischen Theorie selbst nicht abschließend ge-
Personen ist im Rahmen eines adäquaten Kriteriums klärt werden. Hierfür sind die in der realen Praxis ei-
der Risikobeurteilung weder hinreichende, noch not- ner Gesellschaft akzeptierten Gründe für und wider
wendige Bedingung für die Akzeptabilität dieser Ri- unterschiedliche (Risiko-)Praktiken relevant. In die-
sikopraxis (vgl. Lenman 2008). Drittens sollte dieses sem Sinne ist auch jede Risikoethik – wie die Ethik
Kriterium die normative Beurteilung von Risiko- insgesamt  – zurückgeworfen auf die konkrete Be-
handlungen zunächst unter Absehung von konkre- gründungspraxis der Lebenswelt. Was eine Ethik im
ten Wahrscheinlichkeitsverteilungen vornehmen. Allgemeinen und die Risikoethik im Speziellen aber
Diese sind nämlich (bis auf den Grenzfall des sog. leisten kann und leisten sollte, ist, die wesentlichen
trivial risk, d. h. bis auf Situationen, in denen die Grundlagen dieser Begründungspraxis zu explizie-
möglichen schädlichen Folgen einer Handlung oder ren und diese so für die Risikobeurteilung, also für
Handlungsweise so unwahrscheinlich sind, dass ihr die normative Beurteilung einer konkreten Risiko-
Eintreten als unmittelbare Konsequenz der jeweili- praxis, fruchtbar zu machen.
gen Praxis nach allgemeinem Verständnis ausge-
schlossen wird) für die Frage, ob bestimmte risiko- Literatur
behaftete Handlungen oder Handlungsweisen als
solche akzeptabel sind, irrelevant. Erst wenn diese Birnbacher, Dieter: Ethische Dimensionen bei der Bewer-
tung technischer Risiken. In: Hans Lenk/Matthias Ma-
Frage nach dem ob positiv beschieden wird, sind ring (Hg.): Technikverantwortung. Güterabwägung – Ri-
Wahrscheinlichkeiten im Hinblick auf die erforder- sikobewertung – Verhaltenskodizes. Frankfurt a. M. 1991,
lichen Rahmenbedingungen einer Implementierung 136–147.
der entsprechenden Risikopraxis (Grenzwerte, Vor- Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit
sichtsmaßnahmen, Melde- und Berichtspflichten in der Moderne. Hamburg 1995.
Hansson, Sven O.: Ethical criteria of risk acceptance. In: Er-
etc.), d. h. im Hinblick auf die Frage nach dem wie, kenntnis 59 (2003), 291–309.
relevant. Viertens sollte ein adäquates Kriterium der – : Philosophical problems in cost-benefit analysis. In: Eco-
Risikobeurteilung die vorangegangenen deontologi- nomics and Philosophy 23 (2007), 163–183.
schen Beschränkungen konsequentialistischer Risi- Hurwicz, Leonid: Optimality criteria for decision making
kobeurteilung nicht im Sinne einer strikt deontolo- under ignorance. In: Cowles Commission Discussion Pa-
per Statistics 370 (1951).
gischen ethischen Theorie auslegen, d. h., es sollte
Lenman, James: Contractualism and risk imposition. In:
die Möglichkeit anerkennen und zulassen, dass be- Politics, Philosophy and Economics 7 (2008), 99–122.
stimmte, unter normalen Umständen als unaufgeb- Nida-Rümelin, Julian: Ethik des Risikos. In: Ders. (Hg.):
bar zu betrachtende deontologische Prinzipien in Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoreti-
seltenen und üblicherweise dilemmatischen Einzel- sche Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart 22005, 862–
885.
fällen gegenüber konsequentialistischen Abwägun-
– /Schmidt, Thomas: Rationalitätstheorie in der praktischen
gen an Überzeugungskraft verlieren können. Philosophie. Eine Einführung. Berlin 2000.
Insbesondere die letztgenannte Eigenschaft ei- – /Schulenburg, Johann/Rath, Benjamin: Risikoethik. Ber-
nes adäquaten Kriteriums der Risikobeurteilung lin 2012.
weist noch einmal auf die spezifische Herausfor- Schulenburg, Johann: Praktische Rationalität und Risiko.
derung der Risikopraxis für die ethische Theorie Zum Verhältnis von Rationalitätstheorie, deontologischer
Ethik und politischer Risikopraxis. Univ. Diss. München,
hin: Wie lassen sich die deontologischen und 2012.
konsequentialistischen Handlungsgründe unserer Shrader-Frechette, Kristin: Risk and Rationality. Philoso-
lebensweltlichen Praxis in ein kohärentes und phical Foundations of Populist Reforms. Berkeley 1991.
ethisch vertretbares Verhältnis miteinander brin- Sunstein, Cass R.: Risk and Reason. Safety, Law, and the En-
gen? Es bestehen allerdings gute Gründe für die vironment. Cambridge, Mass. 2002.
Thomson, Judith J.: Imposing risks. In: Mary Gibson (Hg.):
Annahme, dass eine kontraktualistisch formulierte To Breathe Freely. Risk, Consent, and Air. Totowa 1985,
Risikoethik die Ressourcen bereitstellt, den hier ge- 124–140.
nannten Anforderungen an ein adäquates Krite- Johann Schulenburg und Julian Nida-Rümelin
228 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

8. Wirtschaft und Technik Technik- und Wirtschaftsethik


Wirtschaft und Technik stellen keine unbeeinfluss-
Ein geradezu klassisches Beispiel, das sowohl in baren, bloß irgendwelchen ›Sachzwängen‹ unterlie-
Technik- als auch in Wirtschaftsethik behandelt genden Eigendynamiken oder gar autonome Subsys-
wird, ist das Challenger-Unglück (vgl. Lenk/Maring teme dar, sondern sind von Menschen initiiert und
1998, 7 f.): Kurz nach dem Start am Cape Canaveral müssen dementsprechend von den Beteiligten, von
explodierte am 28.1.1986 der Raumgleiter Challen- den jeweiligen Gruppen, Institutionen und Korpo-
ger. Sieben Astronauten kamen ums Leben. Die un- rationen gegenüber den potenziell Betroffenen hu-
mittelbare Unglücksursache war ein spröder Gum- manitär und möglichst naturschonend verantwortet
midichtungsring an einer der Antriebsraketen. werden. Produktion, Konsumtion und marktwirt-
Treibstoff trat an dieser Stelle aus, wurde entzündet, schaftlich organisierte Tauschprozesse, die tech-
und der Raumgleiter explodierte. Die Dichtungs- nisch-wirtschaftliche Entwicklung insgesamt sind
ringe wurden schon seit längerem von Ingenieuren Prozesse mit einer Vielzahl beteiligter Akteure und
der Herstellerfirma der Feststoffraketen  – Morton vielfältigen, einander überlagernden Dimensionen.
Thiokol  – als eine der Schwachstellen angesehen. Zu diesen Dimensionen gehören technische, ökono-
Kritisch für das fehlerfreie Funktionieren und die mische, gesellschaftliche, politische usw.; diese kön-
Elastizität der Dichtungen waren insbesondere Tem- nen lediglich analytisch getrennt werden. Nur eine
peraturen unter 0 °C; als ideale Starttemperatur galt integrative, interdisziplinäre Sicht ist im Hinblick auf
10 °C. Noch am Vorabend des Starts hatten sich In- diese Prozesse angebracht – ebenso bloß eine reali-
genieure des Raketenherstellers gegen einen Start tätsadäquate empirische Theorie. – So ist beispiels-
ausgesprochen, denn für den nächsten Tag, den Tag weise ein Unternehmen ein Ort kollektiven Han-
des Starts, wurden niedrige Temperaturen erwartet. delns und handlungstheoretisch wie ethisch nicht
In einer Telefonkonferenz mit der NASA machten reduzierbar auf das individuelle Handeln der Mana-
sie nochmals auf die Schwierigkeiten bei niedrigen ger. Eine solche Sichtweise ist auch bei Fragen der
Temperaturen aufmerksam. Die NASA und deren Steuerbarkeit und der Verantwortbarkeit dieser Ent-
Projektmanager (Larry Mulloy) drängten aber auf wicklung vonnöten.
einen Start. Mulloy wies aber darauf hin, dass es Günter Ropohl (1996, 245) bestimmt das Tech-
keine Starteinschränkungen wegen bestimmter nik- und Wirtschaftsethik zugrunde liegende Ver-
Temperaturen gäbe. Die Telefonkonferenz wurde hältnis von Technik und Wirtschaft folgenderma-
daraufhin unterbrochen. Die Bedenken der Inge- ßen: »Eine herausragende Rolle spielt die Technik
nieure wegen der Startfreigabe wurden Robert Lund, im ›ökonomischen System‹«, und »sie durchdringt
einem Ingenieur und stellvertretenden Direktor der […] auch alle anderen gesellschaftlichen Teilberei-
Ingenieurabteilung bei Morton Thiokol, vorgetra- che«. Technik könne weder einem einzelnen gesell-
gen. Lund schloss sich diesen Bedenken an und be- schaftlichem Subsystem zugeordnet werden, noch
richtete hiervon seinem Vorgesetzten, dem Inge- bilde Technik ein eigenes Subsystem. Technik sei
nieur und Vizepräsidenten Jerry Mason. In einer in- »ein intersektorales Phänomen«; dies gelte »in be-
ternen Besprechung beim Raketenhersteller sagte sonderem Maße für die Technikverwendung, wäh-
Mason dann zu Lund den entscheidenden, die Dis- rend die Technikgenese differenzierter zu beurtei-
kussion beendenden Satz: »Take off your enginee- len« sei (ebd.). Die entscheidende Weichenstellung
ring hat and put on your management hat«! Lund für technische Entwicklungen finde vor allem in den
kapitulierte und stimmte der Startfreigabe zu. Er Industrieunternehmen statt.
teilte dies dem Projektleiter der NASA mit. Dieser Zentral für jede (angewandte) Ethik – und das gilt
wiederum meldete seinen Vorgesetzten die Startfrei- in gleicher Weise für Technik- und Wirtschafts-
gabe durch Morton Thiokol, ohne die Bedenken zu ethik  – sind die praktischen und die theoretischen
erwähnen. So nahm das Unglück seinen Lauf. – Sind Fragen nach dem Verhältnis von Können und Sol-
also Ingenieure nach wie vor die ›Kamele‹ der Kauf- len. Die zentrale Fragestellung einer normativen
leute (Eugen Kogon 1975, nach Kohlstock 1998)? Ist Technik- bzw. Wirtschaftsethik ist dann die Frage
dies nun ein Fall für die Technik- oder Wirtschafts- nach den Zielen und Werten sozial sinnvollen tech-
ethik? nischen und wirtschaftlichen Handelns. Das heißt,
die wichtigste Frage ist die nach der durch morali-
sche Argumente zu rechtfertigenden Auswahl der
8. Wirtschaft und Technik 229

Handlungen, die man ausführen soll, aus der Menge Eher genuine Fragen der Unternehmensethik, die
der technisch und wirtschaftlich möglichen Hand- aber meist auch technik- und wirtschaftsethische
lungen und nach den Kriterien für diese Auswahl. Es Komponenten haben, sind u. a.:
gibt letztlich keine eigene oder eigenständige theore- • Welche Produkte bzw. Dienstleistungen soll ein
tische Disziplin Technik- bzw. Wirtschaftsethik, die Unternehmen überhaupt herstellen bzw. anbie-
durch unabhängige und eigene, grundlegende Prin- ten?
zipien und Kriterien exakt zu kennzeichnen wäre. Es • Welche Eigenschaften sollen diese bzw. dürfen
existiert insbesondere keine Sondermoral für die diese (legalerweise) haben? Ist Missbrauch auszu-
Technik oder die Ökonomie, wenn es auch beson- schließen?
dere Fragen und Phänomene der Moral in der Tech- • Wie und wo sollen die Leistungen erbracht wer-
nik oder in der Wirtschaft geben mag. Die Ethik und den?
die moralischen Aspekte bzw. Beurteilungen sind al- • Welche Folgen und Nebenfolgen haben diese Pro-
lerdings auf die spezifischen und typischen Pro- dukte bzw. Dienstleistungen für wen?
bleme in Technik und Ökonomie zu beziehen. In der • Zu welchem Preis sollen sie angeboten werden?
Praxis hat sich jedoch in gewisser Weise eine Son-
derdisziplin Technik- bzw. (individualistische) Inge- Die für Technik- und Wirtschaftsethik relevanten
nieurethik (s. Kap. III.7) und Wirtschafts- bzw. Un- und wichtigsten Handlungseinheiten  – die Unter-
ternehmensethik entwickelt: Lehrstühle, Institute nehmen – sind sozioökonomische, soziotechnische
und eigene Kurse usw. wurden beispielsweise in den Handlungssysteme (Ropohl 2009). Das Handeln von
USA, in Österreich, in der Schweiz und in Deutsch- Ingenieuren und Managern in Unternehmen ist im-
land eingerichtet. Generell finden sich in beiden mer auch soziales Handeln. »Soweit schließlich
Bereichsethiken individualistische, sektoralistische, Sachgüter produzierende Wirtschaftsunternehmen
institutionalistische, nicht-reduktionistische und auch technische Handlungsfunktionen leisten, ver-
systemtheoretische Ansätze. Diese Ansätze führen schmelzen die Typen technischen, wirtschaftlichen
insbesondere zu unterschiedlichen Adressaten der und sozialen Handelns zu einer faktisch untrennba-
Verantwortung. ren Synthese. Die Handlungstypen […] sind […] im
Die Etablierung der Technik- und Wirtschafts- Grunde nichts anderes als gedankliche Abstraktio-
ethik erfolgte oftmals ohne Beachtung der je ande- nen, die lediglich den einen oder anderen Aspekt des
ren. Vielfach wurden die Bereichsethiken in Anbin- konkreten Handelns akzentuieren«, schreibt Günter
dung an die jeweiligen Fachwissenschaften – Inge- Ropohl (1991, 108) zu Recht. Zwar mögen im Ein-
nieur- bzw. Wirtschaftswissenschaften – entwickelt. zelfall bestimmte Handlungsziele und -aspekte do-
Während in der Technikethik wirtschaftsethische minieren (ebd., 109) doch bilden diese letztlich eine
Fragen durchaus eine Rolle spielen, gilt dies umge- Einheit. In Unternehmen haben wirtschaftliche As-
kehrt in der Wirtschaftsethik (eher) nicht. Des Wei- pekte meist Vorrang, aber »technisches Handeln
teren gibt es technik- und wirtschaftsethische An- […] ist […] für das Überleben des Unternehmens
sätze mit der Bezugswissenschaft Philosophie (zu und erst recht für die Kapitalakkumulation eine not-
den verschiedenen Ansätzen der Technik- und wendige Bedingung; die hinreichende Bedingung
Wirtschaftsethik vgl. z. B. Grunwald 2006; Hubig wird erst durch wirtschaftliches Handeln erfüllt«
2011; Lenk/Maring 2010; Neuhäuser 2011; Ulrich (ebd., 118). Analytisch lassen sich also technische
2006). und wirtschaftliche und entsprechend technik- und
wirtschaftsethische Aspekte unterscheiden. Auch
lassen sich eher technisch- bzw. wirtschaftsethisch
Unternehmensethik relevante Phasen und Besonderheiten unterschei-
den. Zum Beispiel ist der Herstellungszusammen-
Auch für die normative Unternehmensethik ist die hang oder die Erfindungsphase eines Produkts eher
Frage nach Zielen und Werten sinnvollen unterneh- technisch geprägt im Gegensatz zum Marketing
merischen Handelns zentral. – Ein, wenn nicht gar oder zum Rechnungswesen, bei denen wirtschaftli-
der technik- und unternehmensethische Konflikt- che Belange entscheidend sind, die aber ihrerseits
fall liegt in der Priorisierung von Gewinn gegenüber auf Technik angewiesen sind.
der Beachtung moralischer Prinzipien (Menschen- Die Verantwortung (s. Kap. II.6) von Ingenieuren,
würde, physische und psychische Beeinträchtigun- Managern und Ökonomen mögen zwar in Unter-
gen, Umweltverträglichkeit, Sicherheit usw.). nehmen hinsichtlich der jeweiligen konkreten Auf-
230 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

gaben verschieden sein, aber das betrifft nur ihre in- Gesellschaftliche Hierarchieebenen
terne Rollenverantwortung (resultierend aus der
zweifachen und unterschiedlichen Rolle als Experte Wählt man einen allgemeinen (nicht-sektoralisti-
und als Inhaber einer Position); ihre interne bzw. ex- schen) systemtheoretischen Ansatz, so ergeben sich
terne Verantwortung für sichere Arbeitsplätze und drei eng verzahnte technik- und wirtschaftsethische
die Unversehrtheit der Umwelt beispielsweise ist da- Problemfelder (vgl. Fenner 2010, 351 ff.; Grunwald
von nicht betroffen. (Die technische bzw. ökonomi- 1999, 228 ff.; Maring 2001, 327 ff.; Neuhäuser 2011;
sche Verantwortung resultiert aus der je spezifischen Ropohl 2009, z. B. 107 ff.): (1) die Mikroebene der
Kompetenz und bezieht sich auf das Fachwissen und Individuen, (2) die Mesoebene der Korporationen
die Berufsnormen, die positionsabhängige aus dem und (3) die Makroebene des (Wettbewerbs-)Systems
jeweiligen Status bzw. der Funktion  – zu Letzteren und der (Welt-)Gesellschaft.
gehört u. a. die Macht, die mit dem Status verbunden Auf der Mikroebene stellen sich Fragen individu-
ist.) Auch arbeiten die allermeisten Ingenieure und ellen Handelns und individueller Verantwortung;
Techniker als Angestellte in Privatunternehmen dieses ist jedoch in eine Mesoebene – mit Unterneh-
oder haben als Unternehmer eigene Firmen, inso- men, Korporationen, Märkten, Arbeitsteilung usw. –
fern besteht kein Unterschied zu wirtschaftlichen und wiederum in die Makroebene – Staat, Gesamt-
Akteuren. gesellschaft, Moral, Recht usw. – eingebettet. Fakto-
ren aller dieser Ebenen wirken differenziert in die
anderen hinein. Typisch sind hier Verantwortungs-
Normen und Werte beim technischen und Rollenkonflikte und entsprechende Vertei-
und ökonomischen Handeln lungsprobleme im Rahmen von Arbeitsverhältnis-
sen. Auch Fragen des whistle-blowing  – des de-
Unterschiedliche Normen und Werte haben in Tech- monstrativen Informierens der Öffentlichkeit – bei
nik und Ökonomie Vorrang: Während in der Tech- Gewissenskonflikten sind hier einschlägig; wobei
nik Funktionsfähigkeit und Machbarkeit an erster eine gesetzliche Regelung (in Deutschland) dring-
Stelle zu finden sind, dominieren in den Unterneh- lich geboten ist (vgl. Lenk/Maring 2010, 199 f.). Auf
men Kostendenken, betriebswirtschaftliche Effizi- der Mikroebene stellen sich auch Fragen nach der
enz, Gewinn-, Umsatz- und Marktanteilsorientie- Verantwortung der Konsumenten (z. B. in der Er-
rung, Marktgängigkeit usw. Einschlägig für die nährung; s. Kap. V.12).
Technik ist z. B. die Richtlinie 3780 des VDI (»Tech- Die Mesoebene stellt wegen der Bedeutsamkeit
nikbewertung. Begriffe und Grundlagen«, 2002; s. korporativen Handelns einen besonders wichtigen
Kap. VI.6); sie nennt folgende Werte im technischen technik- und wirtschafts- bzw. unternehmensethi-
Handeln: Funktionsfähigkeit (mit: Brauchbarkeit, schen Bereich dar. Fragen nach der (internen und
Machbarkeit, Wirksamkeit, Perfektion, technische externen) Verantwortung von und in Unternehmen
Effizienz), aber auch Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, sind hier wichtig: Wem gegenüber sind Korporatio-
Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlich- nen in welchen Hinsichten verantwortlich? Können
keitsentfaltung und Gesellschaftsqualität, die man Korporationen selbst ›handeln‹ und, wenn ja, in wel-
wohl kaum als rein technische Werte bezeichnen chem Sinne? Können Unternehmen und Korporati-
kann. Das heißt, dass auch ökonomische und mora- onen auch moralisch verantwortlich sein? Weitere
lische Werte eine bedeutsame Rolle spielen (kön- Schwerpunkte auf der Mesoebene sind z. B. Fragen
nen). Erweitert man den rein betrieb(swirtschaft)li- der Nachhaltigkeit (s. Kap. IV.B.10) und der Tech-
chen Blickwinkel und bezieht gesellschaftspoliti- nikbewertung (s. Kap. VI.4 und Kap. VI.6). (Beide
sche, moralische oder auch volkswirtschaftliche bzw. Fragen sollten auch Ebenen übergreifend behandelt
wirtschaftspolitische Ziele ein, z. B. das Leitbild der werden.)
ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, das ein Kon- Zur Makroebene zählen die Ethik der Eigentums-
zept der multidimensionalen, integrativen Nachhal- und Wirtschaftsordnung, der technik- und wirt-
tigkeit umfasst, so zeigen sich deutliche Parallelen schaftsrelevanten Gesetze, der Steuer- und Sozialpo-
zur VDI-Richtlinie. In beiden ›Wertsystemen‹ fin- litik usw. So haben etwa steuerpolitische Entschei-
den sich im Übrigen Instrumental- und Konkur- dungen und industriepolitische Maßnahmen Ein-
renzbeziehungen. fluss auf Forschungs- und Technologieförderung,
Technik- und Produktentwicklung, Verbraucherver-
halten usw. – man denke z. B. an die Ökosteuer und
8. Wirtschaft und Technik 231

das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit seinen Novel- rungen sind eingebettet in gesellschaftliche Instituti-
lierungen oder allgemeiner an  – technik- und ver- onen und Ordnungen – in die Rechts-, Staats- und
haltenssteuernde – Subventionen und an Deregulie- Wirtschaftsordnung – und von diesen geprägt. Rah-
rungen sowie Privatisierungen und deren Folgen menordnungen steuern nie vollständig; sie sind er-
(s. Kap. VI.1). gänzungsbedürftig, und Institutionalisierungen fül-
Ebenfalls Ebenen übergreifend zu behandeln sind len diese Lücke teilweise. So zeigt sich etwa die
die auch Probleme der Verantwortung beim kollek- »›Wirksamkeit‹« der Technikethik in der »Auslegung
tiven und korporativen Handelns (vgl. Maring von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbe-
2001). Diese entstehen u. a. bei Systemzusammen- griffen« und allgemeiner in der »Orientierung […]
hängen, nicht-intendierten Handlungsfolgen einzel- in rechtsfreien Räumen« (Hubig 2011, 174).
ner Handlungen, sog. externen Effekten, synergeti- Da die meisten Ingenieure und Ökonomen als ab-
schen und kumulativen Wirkungen, ökologischen hängig Beschäftigte in der Industrie arbeiten, sind
Schäden, Schädigungen öffentlicher Güter usw. Die für sie sowohl die unternehmensinternen Regelun-
lediglich individualistischen Konzepte in der Ethik gen und Kodizes relevant als auch Berufskodizes
und in den beiden Bereichsethiken und der Verant- bzw. Berufsordnungen sowie Branchenkodizes (z. B.
wortung werden diesen Problemen nicht gerecht. Leitlinien der Chemischen Industrie) und Kodizes
Ein Beispiel hierzu: Erst die massenhafte Verwen- internationaler Organisationen (z. B. der WHO  –
dung bestimmter Techniken bzw. Produkte  – z. B. Weltgesundheitsorganisation, der ILO – Internatio-
Autos  – erzeugt problematische Folgen, und dies nal Labour Organization der Vereinten Nationen
stellt eine besonders verzwicktes Problem der (Ver- und der ICC  – International Chamber of Com-
teilung der) Verantwortung dar. Können sich die merce).
Automobilproduzenten von ihrer Verantwortung
›befreien‹, indem sie, mit dem Verweis auf die sog.
Konsumentensouveränität der Verbraucher, diesen Fazit
die alleinige Verantwortung zuweisen?
Technik- und wirtschaftsethische Fragen und Pro-
bleme sind aufs engste miteinander verknüpft.
Institutionalisierungen – Strukturelle Ähnlichkeiten in Bezug auf Wert- und
Pragmatisierung Verantwortungskonflikte zeigen sich insbesondere
in den Unternehmen. In diesen gibt es einen Vor-
Ethische Diskurse bleiben ›blauäugig‹ und naiv, so- rang ökonomischer, betriebswirtschaftlicher Über-
lange das Durchsetzungsproblem vernachlässigt wird legungen, die nicht selten alle anderen Wertorientie-
(Moralpragmatik). Und Normen und Regeln wer- rungen dominieren. Appelle an einzelne Beschäf-
den um so eher eingehalten, je wirksamer die inne- tigte und Ethik allein genügen hier nicht. Ethik ist
ren motivierenden und äußeren Kontrollen sowie immer durch Recht und Politik zu ergänzen. Auch
die Sanktionsmechanismen funktionieren. Eine wei- bloße und scharfe Bereichsabgrenzungen sowie die
tere Aufgabe einer praxisnahen Technik- und Wirt- Feststellung, diese Problematik gehöre zur Technik-
schaftsethik ist es also, soziale Sanktionsmechanis- ethik und jene zur Wirtschaftsethik, sind im Übri-
men zu entwerfen und vorzuschlagen, welche die gen steril. Realitäts- und Problemorientierung und
Befolgung der Regeln gewährleisten (helfen). Zur das Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten sind drän-
Pragmatisierung der Ethik lassen sich auch Formen gender und wichtiger. – Warum sollten nicht tech-
der Institutionalisierung von Ethik rechnen. Auch nik- und wirtschaftsethische Ansätze zu einer inter-
im Hinblick auf diese Fragen zeigen sich in Technik- disziplinären Synthese zusammengeführt werden?
und Wirtschaftsethik weitgehend Parallelen. Erste Ansätze hierzu finden sich in den USA: Kurse
Einschlägig sind hier u. a.: Umwelt-, Sozialbilan- mit Fallstudien zur Business und Engineering Ethics
zen, Verhaltens- und Ethikkodizes (s. Kap. VI.7), und Kurse für Business Ethics für Ingenieure werden
sog. Unternehmensethiken, Unternehmenskulturen, angeboten (zu solchen Fallstudien, die geeignet sind
Technik- und Unternehmensleitbilder, Ethik-Au- technik- und wirtschaftsethische Aspekte zusam-
dits, Ethikkurse und Fallstudien, Ethikkomitees (s. menzuführen vgl. Maring 2011).
Kap. VI.8), Enquetekommissionen, das Büro für Wenn nicht der Mensch für die Moral, sondern
Technikfolgen-Abschätzung beim deutschen Bun- »die Moral für den Menschen« gemacht ist (Fran-
destag, Sachverständigenräte. Die Institutionalisie- kena 1972, 141), dann haben sich Technik- und
232 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Wirtschaftsethik in der Praxis zu bewähren (ähnlich Neuhäuser, Christian: Wirtschaftsethik. In: Ralf Stoecker/
Grunwald 2006, 286 f. zur Technikethik  – deren Ders./Marie-Luise Raters (Hg.): Handbuch Angewandte
Ethik. Stuttgart/Weimar 2011, 160–165.
»Praxisrelevanz« er am ehesten in der »Gestaltung
Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung. Frankfurt
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen« einfordert a. M. 1991.
und die er »nicht nur oder vielleicht am wenigsten – : Ethik und Technikbewertung. Frankfurt a. M. 1996.
auf die konkrete Gestaltung der technischen Pro- – : Allgemeine Technologie. Eine Systemtheorie der Technik.
dukte oder Systeme« bezieht). Eine solche Bewäh- Karlsruhe 32009.
rung  – d. h. die Wirksamkeit ethischer Überlegun- Ulrich, Peter: Wirtschaftsethik. In: Marcus Düwell/Chris-
toph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch
gen – lässt sich an zwei Beispielen zeigen: Die U.S. Ethik. Stuttgart/Weimar 32011, 297–302.
Federal Sentencing Guidelines for Organizations  –
Matthias Maring
Strafbemessungsrichtlinien des Bundes für Organi-
sationen – sehen Strafmilderungen vor, wenn Mitar-
beiter der betreffenden Unternehmen moralisch ge-
schult wurden. Und gemäß dem US-amerikanischen
Sarbanes-Oxley Act aus dem Jahr 2002 müssen bör-
sennotierte Unternehmen einen Ethikkodex einfüh-
ren; dies gilt auch für Tochterunternehmen amerika-
nischer Firmen in Deutschland, aber bisher nicht für
deutsche Unternehmen.

Literatur
Aßländer, Michael S. (Hg.): Handbuch Wirtschaftsethik.
Stuttgart/Weimar 2011.
Fenner, Dagmar: Einführung in die angewandte Ethik. Tü-
bingen 2010.
Frankena, William K.: Analytische Ethik. München 1972
(engl. 1963).
Grunwald, Armin: Ethische Grenzen der Technik? Reflexi-
onen zum Verhältnis von Ethik und Praxis. In: Armin
Grunwald/Stephan Saupe (Hg.): Ethik in der Technikge-
staltung. Berlin/Heidelberg 1999, 221–252.
– : Technikethik. In: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/
Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Wei-
mar 32011, 283–287.
Hubig, Christoph: Technikethik. In: Ralf Stoecker/Chris-
tian Neuhäuser/Marie-Luise Raters (Hg.): Handbuch
Angewandte Ethik. Stuttgart/Weimar 2011, 170–175.
Kohlstock, Peter: Ingenieure als ›Kamele‹ der Kaufleute –
oder Mitbestimmung durch integrative Ausbildung? In:
Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Technikethik und
Wirtschaftsethik. Opladen 1998,153–169.
Lenk, Hans: Verantwortung und Gewissen des Forschers.
Innsbruck 2006.
Lenk, Hans/Maring, Matthias: Einleitung: Technikethik
und Wirtschaftsethik. In: Dies. (Hg.): Technikethik und
Wirtschaftsethik. Opladen 1998, 7–19.
Lenk, Hans/Maring, Matthias (Hg.): Technikethik und
Wirtschaftsethik. Opladen 1998.
Lenk, Hans/Maring, Matthias: Finanzkrise – Wirtschafts-
krise  – die Möglichkeiten wirtschaftsethischer Überle-
gungen. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 18 (2010), 185–
204.
Maring, Matthias: Kollektive und korporative Verantwor-
tung. Münster 2001.
– (Hg.): Fallstudien zur Ethik in Wissenschaft, Wirtschaft,
Technik und Gesellschaft. Karlsruhe 2011.
233

9. Globalisierung ieren und sie als Beiträge zur Erkenntnisstiftung zu


würdigen (Nie 2011, 46 ff.).
und Interkulturalität Ein weiteres umlaufendes Missverständnis ist die
Verwechslung der politischen mit der kulturellen
Ebene. Ebenso wenig wie Religionen oder Traditio-
Ein Forschungsfeld nen als solche distinkte Ethik-Kulturen repräsentie-
ren können, sind allgemeine Sätze gesellschaftlicher
Unter den Bedingungen der Globalisierung sind die oder politischer Verbände ohne weiteres repräsen-
Herausforderungen an Philosophie und Ethik zur tativ in einem kulturellen Sinne. Dazu ist exempla-
Technik grundsätzlich als interkulturelle zu denken. risch die Debatte der Vereinten Nationen über die
Technikethik ist deshalb mit Rücksicht auf die Kom- Zulässigkeit des Klonierens von Menschen auf-
plexität der sprachlich-konzeptuellen Zugänge und schlussreich, in der ›Kulturargumente‹ vorwiegend
in Weltperspektive zu konzipieren, will sie nicht im instrumentell oder politisch und erst nachrangig im
Ansatz provinziell bleiben. Geiste des Respekts vor ethischen Standpunkten
Die Interkulturalität ist kein akzidentelles, kon- verschiedener Kulturen angeführt worden waren.
junkturell gebundenes Thema. Historisch bedingt Andererseits ist die genetische Knüpfung von be-
ist nur die Dichte der Anlässe, sich konzentrierter stimmten Werturteilen an bestimmte Kulturen
mit einigen genuin philosophischen Fragen der nicht ohne weiteres zulässig, schon weil Kulturen in
Technik und Ethik zu befassen, die gewohnheits- diachroner Betrachtung unterschiedliche, mitunter
mäßig vernachlässigt werden und die insbesondere einander aufhebende Werte favorisieren oder prio-
die begriffliche Konstruktion von Ethik und Tech- risieren können. Es geht dabei weniger um den ma-
nik in sprachübergreifenden Handlungsprozessen terialen Gehalt aktuell anerkannter technikethi-
betreffen und deren prä- und postsemantische scher Grenzziehungen, sondern um die Argumente,
Qualitäten nicht in bestimmten natürlichen oder Problemstellungen und konkreten Anwendungs-
Fachsprachen explizit werden und darin aufgehen bedingungen, die diesen korrespondieren (Roetz
können. Angesichts ungelöster konzeptueller Grund- 2005).
legungs- und Vermittlungsprobleme stellt sich der
abendländisch geprägten Philosophie die Aufgabe,
ihren impliziten kulturalistischen Vorbehalt, soweit Ein programmatisches Desiderat
er dem Verstehen und den eigenen Verstehenspo-
tentialen im Wege steht, zu identifizieren, aufzulö- Das hier vorgeschlagene Forschungsprogramm be-
sen und zu einer kulturell aufgeklärten, ›globalisier- treibt eine Würdigung von Kultur und Interkultura-
ten‹ Technikethik beizutragen. Zugleich sind auch lität. Die wichtigsten Aspekte hierfür sind: Verfah-
philosophische Zugänge nicht-abendländischer ren und Theorie der interkulturellen Philosophie,
Herkunft gefordert, ihren Beitrag zur Technikethik Konzeption und Grundlage des Verständnisses von
zu formulieren; weniger in Reaktion auf die domi- Ethik, Begriff und Praxis der Technik (in histori-
nierende internationale Debatte, sondern vor allem scher Perspektive) und interkultureller Diskurse
als Ausdruck eigenständigen Mit-Ringens um die (Hermeneutik), empirische Faktoren, die in der Ge-
Sache. nese und Konnotation von »Ethik und Technik«
Oberflächlich werden kulturelle Differenzen und wirksam werden oder Bedeutung erlangen (insbe-
Muster regelmäßig in der jeweiligen Prägung durch sondere sozio-kulturelle), sowie ein Begriff von der
›große Erzählungen‹ angesprochen, wie in Christen- Dynamik der Wechselbeziehung dieser Elemente in
tum, Konfuzianismus oder Buddhismus. Dieser Zu- den Interaktions- und Regelungs-Prozessen der Glo-
gang erscheint jedoch besonders für die Ethik auf- balisierung. Hinzu kommen die konzeptuellen und
grund logischer Ungereimtheiten (Genese impliziert pragmatischen Interaktionen zwischen den abgrenz-
keine Gültigkeit von Aussagen) und angesichts der baren ›Kulturräumen‹ im Hinblick auf bestimmte
offensichtlichen inneren Diversität und über die ver- Problemstellungen; dabei sind die einzelnen Tech-
meintlichen Kulturgrenzen hinaus geteilten Grund- nikfelder wie Medizintechnik, Biotechnologie oder
annahmen und Bereichsähnlichkeiten ungeeignet, Agrartechnologie, ebenso jeweils für sich zu berück-
einen angemessenen Rahmen für die deskriptive sichtigen wie deren Zusammenschau aus der Rege-
Annäherung an inter- und transkulturelle Konfigu- lungsperspektive eines sie umfassenden Gover-
rationen technikethischer Motivlagen zu konstru- nance-Systems.
234 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Außerdem ist diese Struktur auf der Meta-Ebene voraussetzungsarme, kleinräumige, empirisch abge-
hinsichtlich ihrer sprachlichen und institutionellen sicherte und historisch-kritische Untersuchungen
Gebundenheit zu reflektieren. mit schlanker ethischer Axiomatik ersetzt.
In heuristischer Absicht wird davon ausgegangen,
dass ein Kulturen übergreifender programmatischer
Begriff von Philosophie bzw. von einer philosophi- Methodische Konkretisierung
schen Ethik überhaupt heuristisch, sowohl konzep-
tuell (explorativ) als auch operativ (diskursiv), in Die folgende Darstellung soll am Beispiel Chinas
Anschlag gebracht werden kann. Damit sind enge den Aufklärungsbedarf einer interkulturellen Tech-
kulturalistische Relativismen und starke positive nikethik veranschaulichen, einige exemplarische Be-
Universalien auf der Ebene heuristischer Grundla- sonderheiten skizzieren und Ansatzpunkte für wei-
gen ausgeschlossen. Zugleich gilt es, nach Wegen zu terführende wissenschaftliche Auseinandersetzung
suchen, auf denen eine Standardisierung der Regeln aufzeigen (Döring 2009).
und Konzepte der technikbezogenen Ethik erfolgen Das programmatische Interesse der Technikethik
kann, ohne damit zugleich die Anerkennung be- verknüpft zwei zentrale Substrukturen der Praxis zu
stimmter positiver Fassungen mit totalem Anspruch einem Zusammenhang, in dem Normativität und
verbinden zu müssen. Empirie in je gegenläufigen Perspektiven auf ein-
Mit dieser Annäherung ist weder eine Entschei- ander verweisen: Die Technik wird durch ihre prag-
dung für einen bestimmten kulturellen Standpunkt matischen Anwendungsbedingungen definiert, als
getroffen noch unterstellt, dass ein solcher eine spe- Sonderbereich der Kultur Absichten und Deutungen
zifische regionale Zuordnung verlange. Im Gegen- unterworfen und als soziale Praxis mit Institutionen,
teil, ein solches Kulturverständnis operiert mit ei- Werten und Normen verknüpft. Diese drei, wie-
nem dynamisch-konstruktivistischen Begriff von derum ineinander verwobenen Ebenen beinhalten
Kultur, der davon ausgeht, dass diverse kulturelle je für sich kulturelle Varianzpotentiale, welche kon-
Standpunkte identifiziert und in ein konstruktives textabhängig in diversen Konfigurationen gebündelt
Zusammenspiel gebracht werden können. als phasenweise invariante Kultur-Muster zum Aus-
Da es sich hierbei um einen entwicklungsoffen druck gebracht werden können (s. Kap. IV.C.4).
angelegten diskursiven und explorativen Prozess Die regionale Eingrenzung liegt auch aus globali-
philosophischen Arbeitens handelt, bieten sich kom- sierungs-historischen Gründen nahe. In Ostasien
parativ-systematische Untersuchungen abgrenzba- finden zunehmend technologische Aufbau-, Innova-
rer Ethik- und Technikkulturen an, durch die auf der tions- und Akkulturationsprozesse auf ein internati-
einen Seite die Realität kultureller Einflüsse auf onal wettbewerbsfähiges Niveau hin statt. Diese wer-
Ethik und Technik aufgeklärt und auf der anderen den seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Diskursen
Seite Interdependenzen zwischen der kulturellen begleitet, die unterschiedliche Modi der Auseinan-
Form und der Bedeutung des Ausdrucks von Begrif- dersetzung mit den ›westlichen‹ Modellen von Wis-
fen von Technik und Ethik besser verstanden wer- senschaft, Technologie und Gesellschaft artikulie-
den können (Döring 2004). Ein derartiges Projekt ren. Der Einfluss dieser weltgesellschaftlichen Prä-
steht methodologisch vor der Herausforderung, sich gungsphase auf die Entwicklung der geistigen
kontinuierlich der kulturell gebundenen (konventio- Rahmenbedingungen für Technik und Ethik in Ost-
nellen, sprachlichen, institutionellen) Explikation asien und China reicht sehr tief (Osterhammel 1985;
gegenüber als philosophisches Unternehmen zu di- Unschuld 2011; Dikötter 1995).
stanzieren (d. h. nicht das Geschäft der Soziologie zu Eine grundständige Technikethik-Forschung un-
betreiben) und zugleich jede Ontologisierung der ter Einschluss von Bio- und Medizinethik existiert
Ethik zu vermeiden. nur in Ansätzen. Dazu gehören Grundfragen des
Mit anderen Worten und mit besonderem Blick kulturellen Selbstverständnisses, der Bildung, der
auf China: Die durch starke Vorannahmen belastete Teilhabe an Entscheidungsprozessen, von Bedeu-
›Große Leifrage‹ des Sinologen und Wissenschafts- tung und Status der Natur und des biotischen Sub-
historikers Joseph Needham, warum China trotz des strates sowie der Umgang mit der Ökonomisierung
früheren hohen Standes der Wissenschaft und Tech- gesellschaftlicher Transaktionen (Sleeboom-Faulk-
nologie die westliche Modernisierung nicht eigen- ner 2010).
ständig vollzogen habe, sondern hinter dieser zu-
rückgeblieben sei (Needham 1954 ff.), wird durch
9. Globalisierung und Interkulturalität 235

Fokus China Universismus (Roetz 1984), ähnlich dem in der


zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffenen
Für die Hauptströmungen der praktischen Philo- Mythos einer »Traditionellen Chinesischen Medi-
sophie in China stehen Fragen der Technik im Zen- zin« (Unschuld 1980): Beide drücken primär Projek-
trum. Die Philosophiegeschichte ließe sich nach tionen des jeweiligen Zeitgeistes aus und lassen sich
Kapiteln der Sozialtechnik, Staatstechnik, Naturbe- weder empirisch noch konzeptuell als Ausdruck ge-
herrschung und -nutzung, Selbstkultivierung, Wirt- nuiner chinesischer Kultur verstehen.
schaftstechnik und Konzeptdesign ordnen; die Zivi- Heute sind, wieder unter dem Eindruck eines
lisationsgeschichte als eine Kette von Akten der Zäh- Jahrhunderts der Zerrissenheit Chinas, vor allem in
mung und Nutzung der Naturkräfte (Wasserbau), der internationalen Diskussion über asiatische Bei-
Instrumentalisierung oder Rationalisierung numi- träge zur Ethik Positionen zu hören, die eine Essenz
noser Mächte, Entwicklung heilkundlich-medizini- ›asiatischer konfuzianischer Kultur‹ (Huang 2010)
scher Körpertechnologien, Militärtechnik, Agrar- beschwören. Welchen Stellenwert diese Positionen
technik, Nautik, usw. Chinas pragmatisches Technik- kulturell haben und welche Rolle sie gegebenenfalls
interesse begründete eine Kultur des Lernens, des in den Technologie-Prozessen spielen, ist exempla-
praktischen Experimentierens und der Evaluierung risch gezeigt worden (Eich/Hoffmann 2006; Stei-
nach Maßstäben der Ethik und des Erfolges. Diese neck/Döring 2009). Yu Kam Por hat dargestellt, dass
Technikkultur dient der möglichst adäquaten das konfuzianische Konzept der ›Harmonie‹ Aus-
Grundlegung von Strategien des Verstehens und der druck einer hoch elaborierten Sozialtechnik ist (Yu
zielgerichteten Manipulation der Welt, auf Mikro-, 2010).
Meso- und Makroebene. Früh emanzipierte sich das In diesem Sinne ist auch das Desiderat des Mo-
praktische Denken von Hoffnungen auf verlässliche dernen Neukonfuzianismus des 20. Jahrhunderts al-
Unterstützung durch außer- oder übermenschliche les andere als kulturell selbstgenügsam, was die Hal-
Wirkmächte  – der Mensch fand sich mit seiner tung zu Technik angeht, sondern instrumentell: Die
grundsätzlichen wenn auch begrenzten Eigenver- Menschheit werde profitieren, wenn es dem Konfu-
antwortung in die Welt gestellt. Ebenso früh finden zianismus gelinge, die Grundmuster von democracy
sich kritische Kommentare über den Missbrauch and science aufzunehmen. Dieser Tenor (Zhang et al.
von Macht und den unmäßigen Einsatz von Tech- 1958) belebt den pragmatisch-integrativen Aspekt
nik. Naturzerstörungen und ökologische Katastro- des Konfuzianismus neu.
phen, Kriege und gesellschaftliche Korruption, Un-
menschlichkeit und kulturelle Destruktivität werden
als Folgen eines inkompetenten Umgangs mit Tech- Kontrolle und Gestaltung
nik, aus daoistischer Sicht als Beleg für das Falsche
der instrumentellen Rationalität an sich, angepran- Das Zentralthema des regulativen Umgangs mit
gert (Roetz 1984; Bodde 1991). Technik ist: Kontrolle und Gestaltung. Gestaltet
Vor diesem Hintergrund wird das Verlangen nach wird die Entwicklung nach Maßgabe von Staats-
einer kontrafaktisch verstandenen Vision von Har- räson und Modernisierungsplanung; kontrolliert
monie plausibel. Besonders nach den Erfahrungen werden die institutionellen und materialen Rege-
mit dem totalitär-instrumentellen Ordnungssystem lungsprozesse unter dem Begriff der Ethik (wörtlich
legistischer Prägung unter dem ersten Kaiser Qin bedeutet lunlixue die Lehre von den sozialen Bezie-
Shihuangdi (259–210) wurde der ›Himmel‹ bzw. die hungsmustern) (Döring 2009). Damit stehen Güter
›Natur‹ (tian) zu einer normativen Korrekturin- wie Risiko- und Schadensminimierung, Gesell-
stanz, die durch praktische Leitgedanken (vor allem schaftspflicht und Prosperität im Mittelpunkt der
ren: Menschlichkeit, yi: Gerechtigkeit) das Handeln Debatte; oft nehmen Modelle vorbildlicher Praxis
orientieren und auf einen ›Rechten Weg‹ (dao) ver- die Rolle abstrakter rechtlicher Normen ein.
pflichten konnte. Aus einer einseitigen Favorisie- Diese Agenda erlaubt China eine Strategie von di-
rung solch harmonisierender, synthetisierender und versifizierenden Sozialexperimenten, auch zu den
moralisierender Aspekte der chinesischen Geistes- ethischen Rahmenbedingungen neuer Technolo-
geschichte entwickelten sich im frühen Austausch gien. Im Unterschied zum europäischen Gedanken
zwischen China und Europa seit Gottfried Wilhelm der Subsidiarität kommt es hierbei nicht auf das De-
Leibniz und besonders Johann Gottfried Herder In- legieren von Kompetenzen auf die niedrigste sinn-
terpretationsschulen eines spezifisch ›asiatischen‹ volle Ebene eines Systems an, sondern auf den Wett-
236 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

bewerb ganz unterschiedlicher Systemelemente. Das konfuzianische Ansätze typische Desinteresse an all-
kann zu höchst unterschiedlichen inhaltlichen und gemeinen und objektivierenden Kriterien für die
prozeduralen Implementierungen vor Ort führen. moralische Qualität des Handelnden (Döring 2012).
Vieles, wie die medizinische Versorgung, wird dem Man muss der Auslegung, wonach es dem Edlen
Markt überlassen, selbst bei der Energiegewinnung durchaus erlaubt sei, Menschen zu klonieren oder
findet ein Übergang zu Ressourcenmix statt (Ober- embryonale Stammzellen zu züchten, nicht folgen,
heitmann/Sternfeld 2009). Damit deutet sich ein es finden sich allerdings kaum direkte Gegenargu-
stärker arbeitsteiliges und institutionenbasiertes Ver- mente im konfuzianischen Korpus. Als ›Mitschöp-
ständnis von Herrschaftstechnik an. Das Maß der fer‹ darf und soll der ›Edle‹ das Universum dadurch
technischen Eingriffe bleibt allerdings, was für die verbessern, dass er die ›Defizite der Natur behebt‹.
Menschen (aus Sicht der Machthaber) gut und rich- Diese beziehen sich sowohl auf Probleme im Um-
tig ist. weltbereich als auch auf das ›Enhancement‹. Heiner
Hierbei kann sich die chinesische Führung durch- Roetz weist in diesem Zusammenhang auf eine
aus traditioneller Motive der Regierungstechnik be- Pointe gegen Max Webers Annahme hin, China
dienen. Mit der Ausnahme wichtiger daoistischer mangele es an den mentalen Grundlagen für die Ma-
philosophischer Strömungen, deren technikfeindli- nipulation der Welt, weil eine transzendente Vorstel-
che Grundhaltung in der Übung des wu wei (Nicht- lung von Gott fehle (Weber 1972, 395). Das Fehlen
eingreifen in den absichtslosen Selbstlauf der Natur) göttlicher Transzendenz gerät zum strategischen
zum Ausdruck kommt (Girardot et al. 2001), be- Vorteil: Der Mensch selbst setzt sich, wenn auch un-
schäftigt sich die Philosophie in China zu einem er- ter Bedingungen, an die Stelle des Schöpfers. Diese
heblichen Anteil mit Fragen der Sozial- und Natur- »anthropozentrische Wende« (Roetz 1984, 333) fin-
technik, unterschiedlich nuanciert in den Modi des det bereits in der Antike statt, namentlich bei Xunzi
Unterwerfens, des Brechens, des Mitsteuerns des (298–220). Dieser ging im Unterschied zu Menzius
Kontrollgegenstandes (sei es die Bevölkerung, die (370–290) von einem misanthropischen Verständnis
Natur oder die Kultur) und durch unterschiedliche der menschlichen Natur aus. Diese sei durch kunst-
anthropologische und sozialmoralische Perspekti- fertiges Zurichten (wei) nutzbar zu machen, auf dass
ven pointiert, die in Leiblichkeitsannahmen, in der der Mensch »dasjenige zur Vollendung bringt (cheng),
Qualität der Geschlechterverhältnisse, der Interpre- was die Natur ins Leben wirft (sheng)« (Xunzi, Kap.
tation von Wert und Norm des Natürlichen (und de- 17). Roetz weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass
ren metaphysischer Absicherung und Legitimation), wesentliche Merkmale heutigen technologischen
sowie in den einschränkenden Bedingungen für op- Handelns, wie Profitstreben oder libertäre instru-
timierende und maximierende Technikpraxis variie- mentelle Rationalität aus Sicht des Konfuzianers ih-
ren. rerseits bloß Auswüchse des Naturzustandes sein
Besondere Beachtung erfährt dabei ein Abschnitt können, der ja gerade kulturell zu transformieren
aus dem klassischen Büchlein Zhongyong (»Maß und moralisch zu stärken sei (Roetz 1984, 333).
und Mitte«, Kap. 22). Darin wird das idealtypische
Verhältnis des Handelnden zur moralischen und
materiellen ›Natur‹ als eine Trinität aufgefasst: Der Ausblick
durch Selbstkultivierung kompetente und legiti-
mierte ›edle Mensch‹ (junzi, wörtlich: Prinz) wird zu Der dezidierteste programmatische Entwurf aus ei-
einem Teil der Transformations- und Stärkungspro- nem traditionell chinesisch-kulturellen Selbstver-
zesse von Himmel und Erde. Diese Aussage ziehen ständnis ist, bei aller Allgemeinheit und sachlichen
heute chinesische Bioethiker zur Diskussion der Er- Problematik, der Moderne Neo-Konfuzianismus.
laubnis von Eingriffen in die Schöpfung heran. Dieser ist zugleich kulturell synkretistisch, weil er
Demnach sind Eingriffe in die Natur grundsätzlich die Adaption buddhistischer Philosopheme seit dem
unproblematisch, sofern der Handelnde größte sitt- 7. Jahrhundert und insbesondere seit dem 12. Jahr-
liche Reife erreicht hat (Lee 1999). hundert (besonders den Gedanken der geistigen
Fraglich bleibt jedoch, ob hier eine Generallizenz ›Reinheit‹ und ›Leere des Herzens‹) und ernsthafte
des ›Edlen‹ (junzi) für technische Handlungen nach Auseinandersetzungen mit westlichen Philosophien
Gutdünken ausgestellt wird, ob die Rolle des Men- seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch-
schen die eines Partners oder einer Kriegspartei (El- laufen hat. Er erkennt an, dass »der wissenschaftli-
vin 2004, 11) ist. Problematisch ist ferner das für che Geist des Westens über rein pragmatische Mo-
9. Globalisierung und Interkulturalität 237

tive hinausgeht«, mit der Herausforderung an China, chinesischer Menschenbilder im Gesundheitswesen. In:
»das Streben nach moralischer Selbst-Verwirkli- Lena Henningsen/Heiner Roetz (Hg.): Menschenbilder
in China. Wiesbaden 2009, 199–231.
chung auf die Bereiche des Politischen, der Erkennt-
– : Dignity: a philosophical perspective on the bioethical
nis und der Technologie auszuweiten« und fordert debate and a case example of China: In Jan C. Joerden/
von der philosophischen Reflexion, »die innere mo- Eric Hilgendorf/Felix Thiele (Hg.): Menschenwürde in
ralische Kultivierung mit den äußeren praktischen der Medizin: Quo vadis. Baden-Baden 2012, 241–260.
Handlungen der Naturbearbeitung zu verbinden, Eich, Thomas/Hoffmann, Thomas Sören (Hg.): Kultur-
um das Leben reicher zu machen« (Zhang et al. übergreifende Bioethik. Zwischen globaler Herausforderung
und regionaler Perspektive: Freiburg/München 2006.
1958). Elvin, Mark: The Retreat of the Elephants: An Environmen-
Eine solche Agenda durch soziologische Verfah- tal History of China. New York 2004.
ren empirisch zu informieren, ihre Grundannahmen Girardot, Norman/James Miller/Liu Xiaogan (Hg.): Dao-
über die Welt entsprechend zu korrigieren, ihren ism and Ecology. Ways within a Cosmic Landshape. Cam-
konzeptuellen Rahmen kritisch zu entwickeln und bridge, Mass. 2001.
Honnefelder, Ludger/Lanzerath, Dirk (Hg.): Klonen in bio-
dabei mit Vertretern anderer philosophischer Tra- medizinischer Forschung und Reproduktion. Bonn 2003.
ditionen an einer gemeinsamen expliziten Verstän- Huang Chun-chieh: Humanism in East Asian and Confu-
digungsgrundlage zusammenzuarbeiten, wäre ein cian Context. Bielefeld 2010.
echter Innovationsschub, für die chinesische ebenso Lee, Shui-chuen: A confucian perspective on human gene-
wie für die internationale Technikethik. Sie könnte tics. In: Ole Döring (Hg.): Chinese Scientists and Respon-
sibility. Hamburg 1999, 187–198.
von einigen Vorarbeiten profitieren, vor allem aber Needham, Joseph: Science and Civilization in China Series.
vom Desiderat einer übergreifenden Ethikkultur als 25 Bde. Cambridge 1954–2008.
Grundlage von Bioethik, Medizinethik, Wirtschafts- Nie Jingbao: Medical Ethics in China. London 2011.
ethik und Technikethik. Diese Aufgabe ist eine uni- Oberheitmann, Andreas/Sternfeld, Eva: Climate change in
verselle. China: The development of China ’ s climate policy and
its integration into a new international post-Kyoto cli-
Die Herausforderung an einen tragfähigen Rah- mate regime. In: Journal of Current Chinese Affairs 38/3
men für technikethische Beiträge zur Anwendung (2009), 135–164.
neuer Technologien als Menschheitsaufgabe ver- Osterhammel, Jürgen: China und die Weltgesellschaft. Ham-
langt einen Perspektivwechsel: In der Literatur um- burg 1985.
strittene, ebenso voraussetzungsreiche wie grundle- Roetz, Heiner: Mensch und Natur im alten China. Frank-
furt a. M. 1984.
gende Fragen, wie die, ob China (oder der Rest der
– : Confucian Ethics of the Axial Age. Albany 1993.
Welt) überhaupt so etwas wie Philosophie und wis- – (Hg.): Cross-Cultural Issues in Bioethics: The Example of
senschaftliches Denken hervorgebracht habe, ver- Human Cloning. Amsterdam/New York 2005, 51–75.
weist in die Vergangenheit und betont die Genese. Sleeboom-Faulkner, Margaret: Frameworks of Choice: Pre-
Die gemeinsame Arbeit an einem besser verstande- dictive & Genetic Testing in Asia. Amsterdam 2010.
Steineck, Christian/Döring, Ole (Hg): Kultur und Bioethik.
nen und besser gedachten Umgang mit Natur, Um-
Eigentum am eigenen Körper. Baden-Baden ²2009.
welt und der Natur des Menschen findet ja schon Unschuld, Paul: Medizin in China. Eine Ideengeschichte.
statt. Dieser Perspektivwechsel operiert bereits, wo München 1980.
Probleme in der Perspektive der Humanität nach- – : Chinas Trauma – Chinas Stärke. Berlin 2011.
haltig überwunden werden sollen. Die Arbeit an ei- Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I.
ner systematischen Begründung der Möglichkeit Tübingen 1972.
Yu Kam Por: The confucian conception of harmony. In: Ju-
dieses Unternehmens ist der konsequente nächste lia Tao/Anthony B.L. Cheung/Martin Painter/Chenyang
Schritt zu einer interkulturell bereicherten salutoge- Li (Hg.): Governance for Harmony in Asia and Beyond.
nen Antwort auf die Fragen der globalisierten Tech- Abingdon/New York 2010, 15–36.
nik. Zhang Junmai/Xie Yuwei/Xu Fuguan/Mou Zongsan/Tang
Junyi: Manifesto on the reappraisal of chinese culture.
In: T ’ ang Chun-i: Essays on Chinese Philosophy and Cul-
Literatur ture. Taipei 1958.
Ole Döring
Bodde, Derk: Chinese Thought, Society, and Science. The
Intellectual and Social Background of Science and Tech-
nology in Pre-modern China. Honolulu 1991.
Dikötter, Frank: Sex, Culture and Modernity in China. Lon-
don 1995.
Döring, Ole: Chinas Bioethik verstehen. Hamburg 2004.
– : Pragmatischer Humanismus? Ethische Implikationen
238 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

10. Abfall und Technik Abwässern und sonstigen Abfällen gesättigte


Themse in einen kaum noch fließenden faulenden
Schlamm, der die Stadt London in einen ›big stink‹
In juristischer Definition handelt es sich beim Abfall einhüllte; so wurde der Transport radioaktiver Ab-
um »alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Be- fälle (s. Kap. V.4) in Deutschland in den Jahren 1995
sitzer entledigt, entledigen will oder entledigen bis 2011 von zehntausenden Beamten vor Demons-
muss« (KrWG § 3). Die Begriffsgeschichte zeigt, dass tranten geschützt, wobei allein der Polizeieinsatz
›Abfall‹ zunächst primär ein geistiges, auf religiöse während des letzten Transports über 30 Mio. Euro
oder politische Ideen bezogenes Geschehen bezeich- kostete (Mumford 1963; Dirlmeier 1981; Hilger
nete, während  – als eine marginale Nebenbedeu- 1984; Glick 1988; Hösel 1990). Das Thema ›Abfall
tung – ›Abfälle‹ für die Rückstände der Produktion und Technik‹ ist im Rahmen einer Technikethik da-
oder des Bergbaus stehen konnte. Erst ab dem späten her nicht als Reflexion über Abfallwirtschaft, son-
19. Jahrhundert tritt diese materielle Bedeutung von dern als philosophische Handlungs- und Kulturthe-
›Abfall‹ in den Vordergrund. Neben den Produk- orie zu entwickeln.
tionsabfällen gelangen nun auch die Rückstände der
Konsumption, zusammen mit dem Begriff ›Müll‹, in
den Bedeutungsbereich von ›Abfall‹ (Kuchenbuch Technisches Handeln und Abfall
1988).
Abfall als ein mit der Technik verbundenes Pro- Technisches Handeln ist Grundlage menschlichen
blem kam in jüngerer Zeit verstärkt mit dem Diskurs Lebens und Überlebens. Mit technischen (poieti-
um die ökologische Krise in den Blick. Dabei wird schen) Handlungen richtet sich der Mensch gemäß
der Abfall einerseits als eines ihrer Hauptsymptome einer Absicht, einem Plan auf ein Material, um die-
als ›Umweltverschmutzung‹ gesehen, andererseits ses in ein Produkt umzuformen, das seinen jeweili-
als gefährliche Hinterlassenschaft an künftige Gene- gen Bedürfnissen passender ist, als es ein vorgefun-
rationen in Gestalt von Gift-, Sonder- und Atom- dener Zustand ohne diesen Eingriff gewesen wäre.
müll thematisiert. In den Geistes- und Sozialwissen- In den Erfolg technischen Handelns gehen die vom
schaften wurden zur selben Zeit die Strukturen der Menschen beherrschte technische Kompetenz
gesellschaftlichen Konstruktion von Abfall reflek- (menschliches Können) und die vom Menschen
tiert, die historische Wandelbarkeit seiner konkreten nicht erst herstellbare Tauglichkeit und Verfügbar-
Erscheinung nachvollzogen und sein Diagnosewert keit von Materialien (die materialen Widerfahrnis-
für gegenwärtige Fehlentwicklungen vorgeführt qualitäten der Welt) gleichermaßen ein. Aus der
(Packard 1964; Georgescu-Roegen 1971; Thompson Sicht des am Produkt interessierten Herstellers lässt
1981; Douglas 1988; Baier 1991; Faßler 1991; Bard- sich eine technische Handlung wie in Abbildung 1
mann 1994; Windmüller 2004; Grübler 2004). Die schematisieren.
Konfrontation mit Abfällen erweist sich dabei als Die technische (poietische) Handlung führt in ih-
eine dauernde und grundsätzliche Herausforderung rer Eigenlogik, d. h. für den Akteur, auf direktem
menschlicher Gesellschaften, wie sich bereits an we- Wege vom Plan zum Produkt und ist in ihrem Zeit-
nigen Beispielen veranschaulichen lässt: So hatte horizont klar begrenzt. Aus einer Beobachterper-
Rom zunächst sieben Hügel, doch in der Kaiserzeit spektive gesehen ist diese Betrachtung allerdings
wuchs der Stadt ein achter Hügel, der Monte Testac- nicht vollständig. Die selbstverständliche Orientie-
cio, ein Müllberg aus den Scherben gebrauchter Am- rung an der gelingenden und erfolgreichen Hand-
phoren; so überliefern zahlreiche Quellen, dass das lung verführt dazu, andere Aspekte zu übersehen.
mittelalterliche Stadtleben massiv durch Abfälle aller Tatsächlich spaltet erstens jede technische Handlung
Art beeinträchtigt war, die die Bewohner auf die einen gegebenen Zustand immer zugleich in Pro-
Straßen warfen; so verwandelte sich 1858 die von dukt und Abfall auf; und zweitens wird jedes Pro-

Plan Technische Handlung Material Produkt

Abb. 1
10. Abfall und Technik 239

Technische
Plan Material Produkt(e) Abfall
Handlung
Abfall

Abb. 2

dukt über einen längeren oder kürzeren Zeitraum benswelt gesellschaftlich-praktisch konstituiert wird,
der Nutzung selbst zu Abfall. Eine vollständigere hat der Schmutz mit dem Abfall gemein. Der ent-
Schematisierung der technischen Handlung müsste scheidende Unterschied ist, dass es sich beim
somit aussehen wie in Abbildung 2. Schmutz um etwas handelt, das auch unabhängig
Die technische Handlung wird verkannt, solange von technischen Handlungen in die Ordnung ein-
man sich auf das Ideal konzentriert, dass das Pro- bricht und eine bloße Deplatziertheit darstellt, die
dukt ausschließlich seinen Plan verkörpert und dies durch Handlungen des Reinigens ausgeglichen wer-
für immer so bleibt. Eine umfassende Betrachtung den kann. Der Abfall ist dagegen ein Produkt unserer
technischen Handelns offenbart dagegen, dass die ›poietischen‹, produzierenden Handlung, ist etwas,
Entstehung von Abfall eine unhintergehbare Kon- das wir in der Absicht, einen bestimmten gewünsch-
stante unserer technischen Einwirkung auf die Welt ten Zustand hervorzubringen, hergestellt haben.
ist und es lässt sich bereits aus diesem Befund heraus Und noch ein zweiter Unterschied ist wesentlich:
vermuten, dass das Ignorieren dieser Konstante zu Für den Schmutz gibt es jeweils angestammte Orte,
Problemen führen muss. an denen er sofort aufhört, Schmutz zu sein, da er
dort von der Umgebung nicht mehr getrennt er-
scheint. Der Abfall hat nirgends seinen angestamm-
Die symbolische Konstitution von Abfall ten Ort – einen Platz, wo er sogleich kein Abfall mehr
wäre. Allerdings fällt auch der Abfall irgendwann zu-
Für jede Gesellschaft gibt es neben neutralen Dingen rück in die Neutralität, wird als Gegenstand un-
auch solche, die sie für wertvoll hält und solche, die kenntlich, verliert seine Identität in einem »Prozess
für wertlos (bzw. für mit negativem Wert behaftet) des Zerstäubens, Zerfallens und Verrottens« (ebd.,
gehalten werden. Welche Dinge das im Einzelnen 208). Irgendwann ist auch er als differenter Gegen-
sind, lässt sich nicht an deren ›materiellen‹ oder ›ob- stand weg; hört also auf, Abfall zu sein. Dies mag für
jektiven‹ Eigenschaften erkennen, sondern wird einige Stoffe (organische Materialien) relativ schnell
symbolisch konstituiert, wobei die Dinge mit Bedeu- gehen, andere (Plastik oder Atommüll) werden erst
tungen und Nützlichkeiten aufgeladen werden, die in unüberschaubar langer Zeit in die Undifferen-
jeweils in einem bestimmten kulturellen Kontext ziertheit zurückfallen. Somit ist Schmutz eine pri-
›funktionieren‹ (Thompson 1981). Als Kategorien mär räumliche, Abfall eine primär zeitliche Katego-
negativ bewerteter Dinge kennen wir z. B. Schmutz rie des Wertlosen. Der bloß räumliche Umgang mit
und Abfall. Die Wahrnehmung von etwas als Un- Abfall, den wir sprachlich meistens durch Präfixe
wertem ist abhängig von einer normativen Konzep- des Distanzierens anzeigen (raus-bringen, weg-
tion eines bestimmten Bereiches: um z. B. irgendwo schmeißen, de-ponieren usw.), ist diesem daher
eine Verschmutzung feststellen zu können, muss prinzipiell nicht gewachsen und seine gelegentliche
man über das Konzept der Ordnung dieses Berei- Führung unter der Kategorie des Schmutzes (›Um-
ches verfügen. Das Unwerte, Abweichende etc. kann weltverschmutzung‹) verkennt dies.
es überhaupt nur geben auf der Folie bestimmter Die allgemeine, widerfahrnishafte Tendenz zum
Vorstellungen darüber, wie etwas ›eigentlich‹ sein Ver- und Zerfall hat aber nicht nur den Effekt, dass
soll. Damit ist »Schmutz wesentlich Unordnung« die für uns wertlos gewordenen Kulturgüter sowie
(Douglas 1988, 12). Schmutz ist nichts Absolutes, deren Nebenprodukte mit der Zeit ›verschwinden‹,
sondern etwas, das »fehl am Platz ist«, ein »Neben- sondern begreift alle Dinge mit ein. Während den
produkt eines systematischen Ordnens und Klassifi- Abfall als zeitliche Kategorie seine ›Lastzeit‹ (in der
zierens« (ebd., 52). Diese grundlegende Abhängig- er der Dynamik seiner ›Auflösung‹ bis hin zu seiner
keit von symbolischen Systemen der Ordnung sowie Indifferenz überlassen bleibt) ausmacht, haben Gü-
dass er als störend und wertlos innerhalb der Le- ter eine ›Nutzzeit‹, eine Zeit zwischen ihrer Produk-
240 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

Plan Nutzzeit Lastzeit


Produkt(e) Abfall
Technische
Handlung
Abfall
Material Lastzeit

Zeitverlauf (Zer- und Verfall)


Abb. 3

tion und ihrer Obsoleszenz, ihrer Müllwerdung. Was den Umgang mit erstens der an sich von technischen
ein spezielles Produkt darstellt, wozu es dienen soll, Handlungen nicht abtrennbaren ›Abfallneigung‹
ist kulturell kontingent. Aber dass es sich in jedem und zweitens der zeitlichen Dimension des Beste-
Falle dieser Nutzung wieder entzieht, ist nicht auf hens und Verfallens von Werten und Unwerten. Die
den Charakter dieser oder jener Wirtschaftsweise Bedeutung des Abfallproblems für den Erfolg der
zurückzuführen und nicht auf das Symbolische re- Gestaltung von Gesellschaften kann dabei auf ver-
duzierbar. Das Schema muss daher noch einmal prä- schiedene Weise unterschätzt werden.
zisiert werden. Dabei lassen sich zugleich Eingriffs- Vorherrschen des poietischen Ideals und Verdrän-
und Steuerungsmöglichkeiten erkennen (s. Abb. 3). gung des Abfalls: Die Abfall-Krise erscheint zunächst
Durch die Wahl verschiedener Verfahren und als ein äußerliches, ›objektives‹ Problem. Doch als
verschiedener Materialien werden das quantitative objektiv kann einer Gesellschaft ihr Abfall nur dann
Verhältnis von Produkten zu Abfällen (aus der Pro- erscheinen, wenn sie ihn als ihrer Ordnung parasi-
duktion) sowie die Qualität der Produkte und des tär, kontingent und prinzipiell vermeidbar ansieht –
Abfalls festgelegt. Dies bestimmt dann einerseits die und nicht als gleichursprünglich. Dem entspricht,
Länge und die Umstände der Lastzeit der Abfälle; dass der Abfall, den man ja durch das Ordnung-
andererseits bestimmen die Qualität des Produktes Schaffen und Produzieren selbst erzeugt, für unsere
zusammen mit den Umständen seines Gebrauchs Kultur tendenziell eine verborgene Kategorie
dessen Nutzzeit, an deren Ende seine Müllwerdung (Thompson 1981, 24) ist. Das hat zweifellos auch
und wiederum eine entsprechende Lastzeit steht. geistes- und mentalitätsgeschichtliche Wurzeln: Die
Durch das Justieren dieser Nutzen/Lasten-Parame- zentrale Denkfigur unserer Tradition war von jeher
ter entscheidet sich, ob Abfall zu einem Problem für das Produkt mit seiner Verweisung auf einen Plan,
eine Gesellschaft wird oder tatsächlich nur eine Ne- und die europäische Kultur- und Geistesgeschichte
benrolle spielt. Drei paradigmatische Produkte mit hat in vielen ihrer Grundbegriffe, expliziten Theo-
sehr unterschiedlichen Verhältnissen von Nutz- und rien und impliziten Denkschemata einen techno-
Lastzeiten sind hochwertige Möbel aus Holz, ato- morphen Charakter. Die Eigenlogik technischen
mare Brennelemente und stark modischen Wech- Handelns wurde mit ihrer Idealisierung des Plan-
seln ausgesetzte Konsumgüter. Produkt-Verhältnisses zur Leitmetapher der Welter-
kenntnis und zum Leitbild gesellschaftlicher Ent-
wicklung (Mumford 1978; Dijksterhuis 2002; Grüb-
Ursachen der Abfall-Krise ler 2004).
Diese paradigmatische Rolle des Poietischen
Handelt es sich angesichts der Situation des Men- kann bereits in der griechischen Philosophie gefun-
schen beim Abfall um eine strukturelle Konstante den werden (s. Kap. IV.A.1) und kommt in der euro-
seiner praktischen und damit stets auch technisch zu päischen Neuzeit vollends zur Geltung. Dabei hat
bewältigenden Existenz, muss die Frage nach einem man sich auf das Machen-Können, das Realisieren
guten Leben (s. Kap. IV.B.8) im Ganzen auch den von Projekten konzentriert und die Konditionen
Umgang mit dieser Konstante umfassen. Es geht da- und Nebeneffekte des Herstellens vernachlässigt. In
bei also nicht allein und verkürzend um den rechten der Industriemoderne verabsolutiert sich dieser Stil
Umgang mit dem Abfall, sondern umfassender um derart, dass er mit sich selbst in Widerspruch gerät.
10. Abfall und Technik 241

Als eine Folge davon schaffen die Industrienationen erscheint. Ein Großteil unserer Produkte wird so
heute immer größere und mittlerweile bedrohliche sehr schnell wieder zu Abfall.
Mengen von Abfall, die in Form einer (ökologi- Grundlage des Konsumismus sind soziale Strate-
schen) Krise den Erfolg dieser Gesellschaften zuneh- gien der Entwertung. Man spricht hier von einer
mend in Frage stellen (eine der Ursachen der Entste- ›psychologischen Obsoleszenz‹, womit gemeint ist,
hung der Technikfolgenabschätzung, s. Kap. VI.4, dass ein »Erzeugnis, das qualitativ und in seiner
und des Leitbilds der Nachhaltigkeit, s. Kap. Leistung noch gut ist, […] als überholt und ver-
IV.B.10). Dabei geht die gesellschaftliche Wertkon- schlissen betrachtet [wird], weil es aus Modegrün-
stitution nach wie vor mit der Verdeckung, Unter- den oder wegen anderer Veränderungen weniger be-
drückung und Verdrängung des Abfalls einher, so gehrenswert erscheint« (Packard 1964, 73). Das
dass dieser »eliminiert, zurückgewiesen oder igno- führt zu einer Polarisierung von Nutzungsformen:
riert« wird (Thompson 1981, 135). Das Nicht-wahr- Der Gebrauch nutzt ein Gut so, dass es zur selben
haben-Wollen der »genetische[n] Relation zwischen Nutzung weiter zur Verfügung steht, der Verbrauch
Mensch und der Abfallproduktion« (Bock/Boge verändert ein Gut so, dass es für eine wiederholte
1990, 16 ff.) lässt sich noch bis in den Sprachge- Nutzung unbrauchbar wird und in der Regel ersetzt
brauch in den Medien hinein nachweisen. Bis heute werden muss. Das Ergebnis eines Verbrauchs ist
leidet die Gesellschaft an einem »Verlust von Selbst- folglich ein neuer Bedarf, das Ergebnis des Ge-
referentialität im Denken des Abfalls« (Bardmann brauchs nicht. Dieser Unterschied ist fundamental,
1994, 162 ff.): Die strukturell bedingte Unvermeid- auch wenn es, etwa bei Abnutzungen, Probleme der
barkeit der Entstehung von Abfall im und nach dem Abgrenzung geben mag. Die gesellschaftlichen Stra-
Produktionsprozess wird ignoriert oder für wie- tegien der Entwertung existierender Güter, die zur
derum technisch ›lösbar‹ gehalten. Steigerung der Menge des Gekauften eingesetzt wer-
Die Konstruktion von Obsoleszenz: Seit dem den, bestehen in einer Diskriminierung des Ge-
18.  Jahrhundert, ausgehend von England, haben brauchs der je vorhandenen Dinge zu Gunsten des
sich die europäischen Nationen zu Konsumgesell- Verbrauchs. Das Gebrauchte wird dazu, z. B. inner-
schaften gewandelt (Stihler 1998). Die Position, die halb von Werbe- und Marketingstrategien oder Life-
ein Mensch in der Gesellschaft einnimmt und die style-Dispositiven, als das bereits Verbrauchte (Ver-
vormals durch familiäre, ständische und zünftige altete, Unmoderne etc.) vorgeführt. Damit tritt zu
Zugehörigkeiten recht starr festgelegt wurde, wird dem alle Kulturprodukte als Widerfahrnis bedro-
dabei zunehmend abhängig vom Besitz bestimmter henden Ver- und Zerfall bei unseren Gütern eine
Güter und vom Wechsel derselben gemäß der aktu- symbolisch vermittelte ›Zerstörung‹ hinzu.
ellen Moden. Dadurch kam es zu einem kulturellen Der Konsumismus geht mit der strukturellen Un-
Leitbild des exzessiven Kaufens neuer Dinge. Das vermeidbarkeit von Abfall und der zeitlichen Ten-
Neue, die neue Gesellschaft, der Fortschritt als bür- denz des Zer- und Verfalls folglich auf eine kontra-
gerliche Leitideen verschmolzen mit der privaten produktive (Ivan Illich) Weise um. Produktion und
Konsumneigung zum Komplex der ›Neomanie‹, in Konsumption sind nicht auf den möglichst langen
dem für das eigene Lebensgefühl Neuheit, Haben, Bestand von Wertvollem ausgerichtet, sondern auf
Kaufen und Fortschritt zusammen gehörten. Man baldige Obsoleszenz, d. h. Müllwerdung. Der Wille
kauft um modern zu sein und modern sein heißt, zum immer Neuen führt nicht nur zum Anwachsen
Anteil am Fortschritt zu haben. Nicht kaufen heißt der Menge der vorhandenen Güter, sondern auch
veralten. Und dies ist noch bis heute ein Haupt- zum Veralten und Ausrangieren der zu einem jewei-
motiv des Konsums in westlichen Gesellschaften. ligen Zeitpunkt vorhandenen Dinge. Diese werden
Als Folge davon ist unsere Welt von Produkten, ver- zu Abfall und der neuerliche Produktionszyklus ver-
glichen mit früheren Gesellschaften oder anderen ursacht seinerseits weitere Abfälle usw.
Kulturen, in rascher Veränderung begriffen und
diese Veränderung beschleunigt sich. Das die Ge-
genwart prägende System des Konsumismus mit Ausblick
seiner Neomanie ist darauf angewiesen, Abfall in
großen Mengen zu ›konstruieren‹, um damit neuen Um den Abfall als Problem zu bewältigen, werden
Bedarf zu schaffen. Die Nutzzeit von Gütern etliche Strategien der Veränderung technischer Pro-
schrumpft, da ein durch Kulturation herbeigeführ- zesse diskutiert (Faulstich u. a. 2010). Dazu zählen
ter Zustand nur für kurze Zeit als wünschenswert rohstoff- und energieeffizientere Herstellungsver-
242 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

fahren, die Nutzung leicht biologisch abbaubarer ›Vermüllung‹ unserer Lebenswelt, also eine Anrei-
Materialien, die Wiederverwertung möglichst aller cherung unserer Welt mit unseren Abfällen, die wir
Abfälle (Kreislaufwirtschaft), die Wiederverwen- aktiv hervorbringen. Die philosophische Analyse
dung von Gütern oder Komponenten (Mehrweg- kann das Problem bzw. die Krise des Abfalls als ein
und Pfandsysteme), die geteilte Nutzung von Gütern Problem paradoxer Handlungsstrukturen in ihrer
(Leasing-Systeme), die Reparabilität von Geräten kulturellen Einbettung rekonstruieren und in die
(Standardisierung und Modularisierung), die kon- Technikethik einfließen lassen, ohne dabei morali-
trollierte Entsorgung aller übrigen Abfälle (Klärung, sierende Vorurteile gegenüber Lebensstilen in An-
Filterung, Verbrennung) und die sichere Endlage- spruch nehmen zu müssen.
rung nicht weiter behandelbarer gefährlicher Ab-
fälle. Die schrittweise konsequente Umsetzung die-
ser Strategien könnte dazu beitragen, die gesell- Literatur
schaftliche Produktion und Konsumption in eine
Baier, Horst: Schmutz. Über Abfälle in der Zivilisation Euro-
nachhaltigere Richtung zu lenken. Allerdings sollte pas. Konstanz 1991.
man die Möglichkeiten einer technischen Lösung Bardmann, Theodor M.: Wenn aus Arbeit Abfall wird.
des Abfallproblems im Detail nicht überschätzen. Frankfurt a. M. 1994.
Denn Strategien der Müllverwertung, -behandlung Bock, Herbert/Boge, Zafirov: Der sprachliche Umgang mit
und -beseitigung sind wiederum technische Hand- Müll und Abfall. Regensburg 1990.
Brüggemeier, Franz-Josef/Rommelspacher, Thomas (Hg.):
lungen, die zudem mit logistischem und Transport- Besiegte Natur. München 1987.
aufwand verbunden sind, und nie vollständig und Dijksterhuis, Eduard J.: Die Mechanisierung des Weltbildes.
restlos gelingen. So mag etwa die ›Kreislaufwirt- Berlin 2002.
schaft‹ eine geeignete ›regulative Idee‹ sein. Die Rea- Dirlmeier, Ulf: Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten
lisierung einer vollständig geschlossenen Kreislauf- und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter.
In: Jürgen Sydow (Hg.): Städtische Versorgung und Ent-
wirtschaft ist allerdings eine Illusion (Wollny 1992, sorgung im Wandel der Geschichte. Sigmaringen 1981,
9–31; Looß 1995, VIIff.) und Recycling ist de facto 113–163.
ein downcycling (Hoffmann/Rombach 1993). Infolge Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Frankfurt a. M.
der sachlichen Limits all dieser Strategien liegen »die 1988.
stärksten Einflussmöglichkeiten weniger in techno- Faßler, Manfred: Abfall, Moderne, Gegenwart. Gießen 1991.
Faulstich, Martin et al.: Abfallwirtschaft – Neue Perspekti-
logischen Lösungen, sondern in strukturellen Ände-
ven des Ressourcenschutzes. In: Martin Kranert/An-
rungen von Verbrauchsmustern« (Faulstich u. a. dreas Sihler (Hg.): Neue Perspektiven der Kreislaufwirt-
2010, 31). Den Vorrang muss dabei stets die Abfall- schaft – Anforderungen an die Praxis. Essen 2010, 30–44.
vermeidung haben, und es ist nicht zu vergessen, Georgescu-Roegen, Nicholas: The Entropy Law and the
dass die Unterlassung eines Produktionsprozesses Economic Process. Cambridge/London 1971.
Glick, Thomas F.: Naturwissenschaft, Technik und städti-
die einzige Möglichkeit konsequenter Abfallvermei-
sche Umwelt: Der ›große Gestank‹ von 1858. In: Ralf
dung ist. Peter Sieferle (Hg.): Fortschritte in der Naturzerstörung.
So gilt es, den Abfall als konstitutionelle Selbstge- Frankfurt a. M. 1988, 95–117.
fährdung technischen Handelns zu erkennen und Grassmuck, Volker/Unverzagt, Christian: Das Müll-Sys-
diese Einsicht für die Gestaltung der Gesellschaft tem. Frankfurt a. M. 1991.
systematisch zu berücksichtigen. Es braucht eine Grübler, Gerd: Müll, Natur und Zeit. Wege einer philosophi-
schen Ökologie. Berlin 2004.
»Aufklärung und Kritik der Abspaltung unseres Be- Hilger, Marie-Elisabeth: Umweltprobleme als Alltagserfah-
wußtseins vom eigenen Müll« (Schönberg 1993, rung in der frühneuzeitlichen Stadt. In: Die alte Stadt 11
151). Zentral ist dabei das Einbeziehen aller Ergeb- (1984), 112–138
nisse technischen Handelns in ihrer zeitlichen Di- Hoffmann, Frank/Rombach, Theo: Die Recyclinglüge.
mension sowie die Reflexion der kulturellen Bedin- Stuttgart 1993.
Hösel Gottfried: Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturge-
gungen der Nutzung von Gütern. Abfall gibt es, so- schichte der Städtereinigung. München 1990.
bald wir etwas bewerten und wann immer wir Werte Kuchenbuch, Ludolf: Abfall. Eine Stichwortgeschichte. In:
technisch realisieren, indem wir Güter produzieren Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag. Göttin-
und diese nutzen – wir selbst vollziehen den Abfall. gen 1988, 155–170.
Die ökologische Krise als ›Umweltverschmutzung‹ Looß, Anneliese: Abfallvermeidung. Berlin 1995.
Mumford, Lewis: Die Stadt. Köln/Berlin 1963.
kann als Grenzerfahrung einer Kultur begriffen wer- – : Mythos der Maschine. Frankfurt a. M. 1978.
den, die sich selbst primär gemäß dem Paradigma Packard, Vance: Die große Verschwendung. Düsseldorf/
des Poietischen gestaltet: Es handelt sich um eine Wien 1964.
11. Dual-use-Forschung und -Technologie 243

Schenkel, Werner (Hg.): Recht auf Abfall? Berlin 1993. 11. Dual-use-Forschung
– : Entstehung, Entsorgung und Wiederverwertung von
Müll  – ein globales Problem. In: Werner Nachtigall/ und -Technologie
Charlotte Schönbeck (Hg.): Technik und Natur (Technik
und Kultur, Bd. VI). Düsseldorf 1994, 483–520.
Schönberg, Michael M.: Aspekte einer Ethik zum Umgang
mit dem Müll. In: Werner Schenkel (Hg.): Recht auf Ab- Dual-use und Ambivalenz
fall? Berlin 1993, 147–153.
Stihler, Ariane: Die Entstehung des modernen Konsums. In den letzten Jahren kann man immer wieder in öf-
Berlin 1998.
Thompson, Michael: Die Theorie des Abfalls. Stuttgart fentlichen Medien über die Dual-use-Problematik
1981. lesen. Dann geht es zumeist um die Notwendigkeit
Windmüller, Sonja: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, von Exportkontrollmaßnahmen für nukleare, che-
Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem. Müns- mische, biologische oder Raketen ermöglichende
ter 2004. Technologien oder deren Komponenten, die für die
Wollny, Volrad: Abschied vom Müll. Göttingen 1992.
Herstellung von Massenvernichtungswaffen geeig-
Gerd Grübler net sind. In Bezug auf biotechnologische Forschung
besteht Sorge, dass der wissenschaftliche Fortschritt,
dessen grundlegende oder anwendungsbezogene
Erkenntnisse für neue medizinische Therapien oder
pharmazeutische Produkte genutzt werden sollen,
ebenfalls  – ob nun unbeabsichtigt oder gezielt  –
auch zu neuartigen oder in ihrer Wirkung verbesser-
ten Biotoxinen führen können, die in Waffen An-
wendung finden könnten. Stets wird dabei Dual-use
gemünzt auf Forschungsanstrengungen und Tech-
nologien, für die eigentlich zivile Anwendungen vor-
gesehen waren, die aber auch für militärische Zwe-
cke genutzt werden können (NRC 2003, 14). Militä-
risch relevante Technologien können ›in die falschen
Hände‹ gelangen, daher müsse ihr ›Missbrauch‹ ins-
besondere durch strikte Exportkontrollen so weit
wie möglich vermieden werden.
Dieses Denkmuster des Missbrauchs greift jedoch
zu kurz. Die Dual-use-Problematik ist weit vielge-
staltiger und kann in drei Kategorien gefasst werden
(Liebert 2011):
(1) Ursprünglich militärisch dominierte For-
schungs- und Technologiefelder (s. Kap. V.15) kön-
nen im Laufe der weiteren Entwicklungsgeschichte
auch für zivile Zwecke nutzbar werden (spin-off
bzw. spin-out). Dadurch entstehen zumeist zivil-mi-
litärisch ambivalente Forschungs- und Technolo-
giefelder. Zivil-verwendbare und waffenbezogene
Kenntnisse, Materialien und Technologien stehen
nun nebeneinander und bieten sich für die Nutzung
an. Der Begriff des ›Missbrauchs‹ erscheint also
nicht als passend. Eklatantes Beispiel ist die nukle-
are Technologie (s. Kap. III.3), so wie sie unter mas-
siver militärischer Dominanz im Zweiten Weltkrieg
entstanden ist und in der Phase des Kalten Krieges
weiter entwickelt wurde. Ähnliches gilt für weite
Bereiche der Luft-, Raumfahrt- und Raketentech-
nologie (s. Kap. V.20). Es kann nicht verwundern,
244 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

dass sich bei solchen Technologien, auch wenn sie • re-design und ruggedizing: Nutzung und Weiter-
im späteren Verlauf augenscheinlich rein zivil ge- entwicklung ziviler Komponenten in modular
nutzt werden, dauerhaft die Tür öffnet für zivil- aufgebauten Waffensystemen (dies gilt insbeson-
militärischen Dual-use. Es können sogar unter dem dere für »generische« Technologien wie Mikro-
Deckmantel öffentlich vertretener ziviler Ziele elektronik, Informationstechnologien, neue Ma-
gleichzeitig militärische Zwecke vorbereitet werden. terialien)
Diese grundlegende zivil-militärische Ambivalenz • commercial off-the-shelf (cots): Anpassung kom-
besteht dauerhaft, zumindest solange die wissen- merziell-zivil erhältlicher High-Tech-Komponen-
schaftlich-technologische Basis unhinterfragt bleibt ten für den Einsatz in komplexen Waffensystemen
und nicht Versuche unternommen werden, sie so zu • convergence: Anstreben von synergetischen Effek-
verändern, dass eine Trennung in zivile und militäri- ten zwischen ziviler und militärischer Forschung
sche Anwendungshorizonte, die aber vermutlich und Entwicklung (FuE).
unvollständig bleiben wird, überhaupt erst möglich
wird. Kontakte, Absprachen und Koordination bis zur ge-
(2) Umgekehrt kann aus zivil dominierten For- meinsamen Planung zwischen militärischen und zi-
schungs- und Technologiefeldern ein Potential für vilen Geldgebern, Institutionen und Forschenden ist
waffen-relevante Kenntnisse und Anwendungen Voraussetzung für das Gelingen solcher Dual-use-
entstehen. Heute als besonders innovativ wahrge- Strategien. Hoffnung besteht dabei nicht allein auf
nommene Forschungsbereiche stehen weit weniger den spin-in, sondern auch auf den spin-off, deren tat-
unter dem Diktat militärischer Interessen, wie dies sächliche Bedeutung schon in der Endphase des Kal-
noch über weite Phasen des 20. Jahrhunderts der ten Krieges, in der eine dominierende Rolle militäri-
Fall war. Dennoch besteht ein latentes Risiko des scher FuE in führenden Industrienationen zu beob-
Dual-use für militärische Zwecke, wie am Beispiel achten war, in Frage gestellt worden war (Albrecht
der modernen biotechnologischen Forschung (s. 1989).
Kap. V.23) zu Recht thematisiert wird. Im Bereich Die Ambivalenz von Forschung und Technik
der nanotechnologischen Forschung werden neben kann, wie angedeutet, fundamentalere Bedeutung
zivilen Zielsetzungen auch massive militärische In- haben und muss keineswegs auf das hier vorrangig
teressen verfolgt. Ähnliches gilt wohl für die zweite interessierende zivil-militärische Spannungsfeld be-
Entwicklungsphase im Bereich der IuK-Technolo- schränkt bleiben. Der Ambivalenzbegriff erscheint
gien (miniaturisierte, hocheffektiver Rechnerstruk- angemessen, um spannungsreiche Unterschiede in
turen und entsprechende Software; zu Sicherheits- der Einschätzung von Entwicklungs- und Nutzungs-
technik s. Kap. V.22). Man denke beispielsweise an tendenzen im Bereich von Forschung und Technik
die Entwicklung in Richtung auf das automatisierte zu fokussieren, die an tiefer liegende wissenschaft-
Schlachtfeld oder zum Cyber-War der Zukunft, die lich-technische Tatsachen gebunden sind. Es kann
von den Fortschritten in der zivilen Technikent- sich dabei um wissenschaftliche Tatsachen handeln,
wicklung profitiert. Dieses Dual-use-Risiko besteht die erst noch im Entstehen begriffen sind, so dass
fort, solange mögliche Entwicklungspfade, Ambiva- manches noch wandelbar erscheint und sichtbar
lenzen, Anwendungsmöglichkeiten und Intentionen werdende Problematiken der Ambivalenz angegan-
nicht untersucht, bewusst gemacht und eingeschätzt gen werden können, wenn frühzeitig auf beide ›Sei-
werden – mit möglichen Konsequenzen für die Ge- ten der Medaille‹ reflektiert wird (Liebert 2006).
staltung der weiteren Entwicklung. Umgekehrt gibt es Warnungen vor dem Glauben an
(3) Zivil-militärische Grauzonen des Dual-use in die Eliminierbarkeit von Ambivalenz durch Bemü-
der Forschung und Technikentwicklung können hungen um Trennung von erlaubtem und unerlaub-
auch bewusst geplant werden, um eine doppelte Ver- tem Gebrauch oder Kontrolle der unerwünschten
wendbarkeit zu erreichen. Dabei streben die For- Nutzungsmöglichkeiten. Der Soziologie Zygmunt
schungsförderinstanzen häufig einen spin-in aus zi- Bauman spricht von Ambivalenz-Spiralen, die sich
viler in militärische Forschung und Entwicklung an. unendlich fortsetzen können, da jeder Versuch sol-
Verschiedene konzeptionelle Wege zur Generierung cher Art von Trennung oder Kontrolle zu einer er-
von Dual-use können beschritten werden: neuten Ambivalenzproblematik führen kann, die
• add-on: militärische Durchentwicklung mit spe- wiederum zu bearbeiten ist, ohne dass eine wirklich
zifischen militärischen Zusatzanforderungen auf- stabile Lösung in Sicht kommt (Bauman 1995). Die-
bauend auf ziviler Forschung und Technologie ses Muster von Trennungsversuch und erneut ent-
11. Dual-use-Forschung und -Technologie 245

stehender Ambivalenz kann am Beispiel der nuklea- Im Nachhinein mag die Dual-use-Strategie als
ren Technologie eindrücklich demonstriert werden kostengünstigere Alternative zur wirtschaftlich
(Liebert 1999). relevanten technologischen Innovation über den
Umweg des spin-off erscheinen  – bei gleichzeitiger
Förderung militärischer Innovation –, die die ver-
Dual-use-Konzeptionierung gleichsweise kleineren militärisch deklarierten öf-
der Forschung fentlichen Militärforschungsetats (West-)Deutsch-
lands in anderem Licht erscheinen lassen. In heuti-
Mag es bis zu einem gewissen Grad als unvermeid- gen Positionierungen aus der Politik, den beteiligten
lich erscheinen, dass der militärische Gebrauch von Bundesministerien und interessierter Industrie wird
zivil intendierter Forschung möglich wird oder un- das ganze Dual-use-Spektrum von cots bis add-on
gewollt zivil-militärisch ambivalente Forschungs- und convergence genannt. Dies gilt gerade auch im
und Technologiefelder entstehen, so ist als beson- Zusammenhang mit neuerdings  – teilweise in An-
ders problematisch zu sehen, dass in den letzten Jah- lehnung an die Homeland-Security-Bemühungen
ren und Jahrzehnten verstärkte Bemühungen um der USA  – etablierter Sicherheitsforschung, wo
eine regelrechte Implementierung von Dual-use in deutliche Synergien mit der Verteidigungsforschung
der Forschungsplanung und -finanzierung vorge- einerseits und ziviler Forschung andererseits gese-
nommen wurde. Hier wird eine staatliche Indienst- hen bzw. erzeugt werden sollen.
nahme der Wissenschaft für letztlich insbesondere In den USA ist erst zum Ende des Kalten Krieges
militärische Ziele und Zwecke inszeniert, die den be- ein Umdenken in Richtung Dual-use-Strategien in
teiligten Wissenschaftlern und der Fördermittel ver- der Forschungsplanung zu beobachten (Gansler
gebenden Gesellschaft meistenteils verborgen bleibt. 1988). Angesichts der damals absoluten Dominanz
Es gibt deutliche Indizien dafür, dass in West- militärischer Zielsetzungen in der staatlichen For-
deutschland spätestens seit den 1980er Jahren Dual- schungs- und Entwicklungs-Förderung ging die Ar-
use-Konzepte in der staatlichen Forschungsplanung gumentation dahin, auf die Gefahr hinzuweisen,
und -förderung implementiert wurden (Liebert et al. sich selbst ›totzurüsten‹  – und nicht nur den östli-
1994). Dies geschah zu einer Zeit, als die offiziell als chen Gegner im Rüstungswettlauf – bzw. die Wett-
solche deklarierte Verteidigungsforschung weit klei- bewerbsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft ange-
nere Anteile am nationalen Forschungsbudget hatte sichts geschickterer Konkurrenten in Westeuropa
als in anderen NATO-Staaten. In gelegentlichen Stel- und in Asien zu riskieren. Nach Verblassen der Hoff-
lungnahmen der politischen Entscheidungsträger – nung auf den spin-off erhielt die Förderung zivil
bis hin zu Aussagen im Bundesforschungsbericht – nutzbarer technologischer Innovation höhere Prio-
wurde insbesondere auf add-on gesetzt: Die breite rität unter der Voraussetzung, dass in Dual-use-
wissenschaftlich-technologische Basis wird von zivi- Konzepten parallel die weitere Förderung des Militä-
len Instanzen gefördert, sog. »militärische Durch- rischen und der globalen militärtechnologischen
entwicklungen« setzen darauf auf und werden von Dominanz ungebrochen, aber kostengünstiger, fort-
Verteidigungsministerium finanziert. Dabei wurde gesetzt werden kann (Alic et al. 1992).
davon ausgegangen, dass die Basistechnologien für Parallel erfolgte eine schleichende Veränderung
militärische und zivile Zwecke häufig weitgehend der europäischen Förderinstrumente. Programme
identisch seien. Im »Zukunftskonzept Informations- wie EURECA (European Research Coordinating
technik« der Bundesregierung von 1989 wurde bei- Agency), ESPRIT (European Strategic Program on
spielsweise angestrebt, »militärische Forderungen Research in Information Technology) und EUCLID
bei zivilen Entwicklungen frühzeitig mitberücksich- (European Cooperation for the Long Term in De-
tigen zu lassen beziehungsweise auf derartige Dual- fence) wurden bereits unter dem Dual-use-Aspekt
use-Technologien in Form von Add-on-Program- angelegt, wobei aber noch zumeist darauf geachtet
men aufzusetzen, um den militärischen Bedarf zu wurde, dass add-on-Programme gezielt von den na-
decken«. Zu diesem Zweck hat es ganz offensichtlich tionalen Verteidigungsministerien gefördert wur-
Absprachen zwischen den zivilen und den militäri- den. So konnte die traditionelle Grenzziehung zwi-
schen Instanzen gegeben, um eine solche Dual-use- schen nationaler Militärforschung und ausschließ-
Nutzung der Entwicklungsdynamik im Bereich von lich ziviler europäischer Forschungsförderung
Wissenschaft und Technik überhaupt erst möglich zunächst – zumindest formal – noch aufrecht erhal-
zu machen. ten werden. Mit den Bemühungen um eine Gemein-
246 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

same Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hat sich nigen Ländern setzt geradezu auf ambivalente Tech-
die Europäische Kommission aber schrittweise von nologien, die einerseits mit zivilwirtschaftlichen
dieser Grenzziehung verabschiedet und militärisch Zielsetzungen begründet werden können, aber an-
relevante europäische Forschungsförderung ermög- dererseits die Basis schaffen, um gefährliche Potenti-
licht (Molas-Gallart 2002). ale im Bereich von Massenvernichtungswaffen auf-
Eine wesentliche Rolle spielt hier die Europäische bauen können. Daraus kann die Weiterverbreitung
Sicherheitsforschung, die erstmals im 7. Forschungs- (Proliferation) von Massenvernichtungswaffen re-
rahmenprogramm  – bemerkenswerterweise unter sultieren.
dem Kapitel »Security and Space« – ins Leben geru-
fen wurde. Die Kommission übernahm dazu Emp-
fehlungen einer »Group of Personalities«, die deut- Ethische Fragestellungen
lich von Schlüsselrepräsentanten des Verteidigungs-
Establishments geprägt war und massiv in Richtung Von besonderer Bedeutung ist die Dual-use-Kon-
einer Dual-use-Strategie argumentierte. Die Haupt- zeptionierung im Bereich von Forschung und Tech-
these bestand darin zu behaupten, dass zivile, Si- nikentwicklung. Politisch und ethisch problematisch
cherheits- und Verteidigungsanwendungen zuneh- ist hier die bewusste Erzeugung von wachsenden zi-
mend dieselbe technologische Basis hätten, die vil-militärischen Grauzonen. Die Unterscheidbar-
Trennlinie zwischen ziviler und Verteidigungs-For- keit von friedlichen oder militärischen Zielsetzun-
schung ein Hindernis für kosteneffektive Lösungen gen in der Forschung wird unmöglich gemacht, was
darstelle und es nunmehr um die volle Ausbeutung einerseits spätere anders orientierte Steuerungsmög-
von Synergien zwischen Verteidigungs-, Sicherheits- lichkeiten der Politik erschwert und andererseits die
und ziviler Forschung gehe (Research for a Secure Beteiligten in der Forschung selbst in Konflikte
Europe 2004). Die 2004 gegründete Europäische bringt. Die bewusste Verwischung von Grenzlinien
Verteidigungsagentur (EVA) arbeitet ebenfalls in erscheint inakzeptabel angesichts der Zuweisung öf-
Richtung verstärkter Dual-use-Kooperation und fentlicher Mittel und der Unterlaufung von Möglich-
will u. a. das Bewusstsein für die Rolle von zivilen keiten der demokratischen Kontrolle, was die Rich-
Technologieentwicklungen für Verteidigungszwecke tung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts
fördern. angeht. Muss nicht ein (zumindest teilweises) ›Ver-
Etwa seit dem Jahr 2000 hat sich insbesondere die stecken‹ militärisch relevanter Forschung als ›unmo-
Regierung Großbritanniens um eine starke Dual- ralisch‹ gelten? Reicht als Rechtfertigung für das
use-Strategie in der Forschungsplanung und Indus- Steuern in Grauzonen das erklärte Ziel, mit zivil-mi-
triepolitik bemüht. Das Ziel ist die »cross-fertilisa- litärischen Synergien mehr Kosteneffizienz zu er-
tion between the defence and civil sectors« (British zeugen? Dies wird umso fraglicher angesichts der
MoD 2002). Industrie und Universitätsforschung Unklarheit, ob überhaupt die Dual-use-Konzeptio-
sollen u. a. über eine Defence Diversification Agency nierung die intendierten volkswirtschaftlichen Vor-
und Defence Technology Centers zusammenge- teile, Kostenersparnisse und doppelt-verwendbaren
bracht werden. Die staatliche Förderung in diesem technischen Innovationen schafft, die von den poli-
Bereich ist massiv und umfasste nach unabhängigen tischen Proponenten und interessierter Industrie ge-
Schätzungen jährlich mehr als 200 Millionen Pfund wollt sind. Trotz der Schwierigkeit angesichts der
für die britischen Universitäten, darunter insbeson- wachsenden Intransparenzen zu wissenschaftlich
dere fast alle sog. Spitzenuniversitäten (Langley fundierten Aussagen zu kommen, existieren zumin-
2005). Die Informationspolitik über Details der För- dest Studien, die sich hierzu äußerst skeptisch äu-
dersummen und -ziele ist äußerst restriktiv. Die be- ßern (z. B. Altmann 2000). Gleichzeitig wird in man-
teiligten Universitäten ziehen sich aus der Affäre mit chen Bereichen deutlich, dass die konkreten Bedarfe
dem Hinweis auf »commercial sensitivities«. und Spezifikationen, die durch gezielte Entwick-
Dual-use hat nicht nur in fortgeschrittenen In- lungsarbeit bedient werden sollen, durchaus diver-
dustriestaaten eine Rolle gespielt. Dual-use-Kon- gieren können, was die zivilen und militärischen
zepte in der Forschungsplanung und Technologie- Zwecksetzungen angeht. Daraus ließe sich ableiten,
entwicklung waren in den letzten Jahrzehnten in ei- dass nicht nur Dual-use möglich ist, sondern auch
ner Reihe weiterer Staaten gerade auch im Bereich umgekehrt Wege beschritten werden könnten, um
von Nuklear-, Raketen- und Weltraumprogrammen aus den Grauzonen wieder herauszumanövrieren.
zu beobachten. Die nachholende Entwicklung in ei- Dazu müssten auf den konkreten Fall bezogen be-
11. Dual-use-Forschung und -Technologie 247

wusst die Differenzen zwischen zivilen und militäri- lediglich zu verhindern sei, greift jedenfalls zu kurz.
schen Spezifikationen und entsprechenden Zweck- Carl Friedrich von Weizsäcker hat dem entgegenge-
setzungen und Entwicklungsnotwendigkeiten in halten: »Man spricht von Mißbrauch der Wissen-
den Blick genommen werden. Hier wäre aus ethi- schaft. Aber der heute geschehende Gebrauch ist der
scher, wissenschaftlicher und politischer Perspek- unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhält-
tive, ein Potential zur Trennung ziviler und militäri- nissen selbstverständliche Gebrauch« (Weizsäcker
scher Forschung  – und je nach politischer Zielset- 1983, 565). Die zugehörige Tendenz, lediglich die
zung  – auch gegebenenfalls zur Umsteuerung zu technischen Potentiale »in den falschen Händen« zu
konkretisieren. problematisieren, ist ebenfalls vom ethischen Stand-
Eine radikale (pazifistische) Position könnte auch punkt aus kaum zu rechtfertigen. Kann man legiti-
die Vergeudung der wertvollen Ressource Forschung merweise den Dual-use – beispielsweise in Schwel-
und Technologie durch die bewusste Verquickung lenländern  – brandmarken und in Folge dessen
militärischer und ziviler Zwecksetzungen anpran- einen Technologieverzicht dort einfordern, aber
gern und demgegenüber das Ziel einer ausschließli- gleichzeitig entsprechende Technologien selbst nut-
chen von Forschung und Technikentwicklung zur zen (gegebenenfalls auch militärisch) und den Dual-
Nutzung und zum Wohl von Gesellschaft und der use im eigenen Hause als innovatives Konzept pro-
Menschheit insgesamt propagieren. Aus dieser Sicht pagieren?
müsste demnach die Fehlallokierung von Mitteln für Eines wird in Zeiten von wachsender Ambivalenz
Dual-use-Forschung und Entwicklung beendet wer- und Konzeptionierung von Dual-use in der For-
den. schung unvermeidlich: Eine besondere Anstrengung
Wenn man die Wissenschaft insgesamt in den der Forschenden selbst wird erforderlich. Für welche
Blick nimmt und – eigentlich entschuldigend – an- Zwecke und in welchem wissenschaftlichen und an-
nimmt, dass sie generell und unvermeidlich von wendungsbezogenen Kontext steht die eigene Ar-
Ambivalenz und Dual-use durchzogen sei, dann beit? Die Berufung auf die innerwissenschaftliche
wird auch ihre schöpferische Kraft insgesamt frag- Traditionen und wissenschaftliche Neugier reicht
würdig. Bewusst gewollter Dual-use verändert die nicht mehr hin für eine Selbstrechtfertigung. Eine
Richtung des wissenschaftlich-technischen Fort- tiefgründige zugleich ethische und wissenschaftliche
schritts in besonderer Weise und hat Einfluss auf das Aufgabe wird den Forschenden abverlangt. Sie müs-
in Summe akkumulierte wissenschaftlich-techni- sen sich die Entwicklungstendenzen und die Ein-
sche Potential. Selbst wenn man die erstere generelle satzmöglichkeiten ihrer Forschung bewusst machen
Aussage akzeptiert, muss die zweite als besonders und Wege (er-)finden, um gegebenenfalls problema-
problematisch erscheinen. Die Erweiterung der zi- tische Perspektiven und Anwendungen zu vermei-
vil-militärischen Grauzonen bedeutet auch die Ein- den. Dieser Weg ist nicht einfach zu beschreiten.
beziehung von bislang nicht in die militärtechnische Anhand von Fällen von Dual-use-Forschung im Be-
Innovation involvierten Personen und Institutionen reich der modernen Biotechnologie konnte aber be-
in militär-relevante Forschung. Darf die Forschungs- reits beispielhaft gezeigt werden, dass bei guter
förderung die wissenschaftlich Arbeitenden bewusst Kenntnis der spezifischen Gegebenheiten ethische
in diesbezügliche Gewissenskonflikte bringen? Urteilsbildung, die zur Bewertung von Forschungs-
Die Forschenden werden über die Zielsetzungen bemühungen kommt und gegebenenfalls auch zum
ihrer Arbeit im Unklaren gelassen, sie werden in die Aufzeigen von Alternativpfaden innerhalb der An-
Erreichung von Zwecken involviert, die sie in vielen steuerung bestimmter Forschungsziele kommen
Fällen nicht gutheißen können. Widersprüche zu kann, prinzipiell möglich ist (Nixdorff/Bender 2002).
dem eigentlich persönlich Gewollten entstehen, Voraussetzung für solche bewusste – gerade auch
ohne dass diese Konflikte explizit gemacht würden. individuelle – Abwägungen und Entscheidungen ist
Dies ist ein deutlicher Unterschied zur bewussten aber allgemeine Transparenz über Zielsetzungen
Entscheidung für oder gegen eine Beteiligung an und Fördermittelgeber von relevanten Forschungs-
militärisch ausgerichteten Forschungsprojekten. So projekten und -institutionen sowie allgemein ver-
sind neue ethisch-moralische Dilemmata und Wi- fügbare – zumindest grobe – Angaben zu Ergebnis-
dersprüche zu wissenschaftlichen Idealen absehbar. sen aus Forschungsprojekten. Weiterhin ist ein
Der Versuch, die Debatte über zivil-militärisch Überblick über das zur Rede stehende Forschungs-
ambivalente und dual-use-orientierte Forschung zu feld und militärtechnologische und -strategische
vereinfachen durch die Figur des ›Missbrauchs‹, der Entwicklungen erforderlich. Dies wird voraussicht-
248 IV. Grundlagen – C. Querschnittsthemen

lich den einzelnen Forschenden überfordern. Daher ted States. In: Philip Gummett/Judith Reppy (Hg.): The
sind auch institutionelle Formen einer auf die Pro- Relation between Defense and Civil Technologies. NATO
Advanced Science Institutes Series. Dordrecht 1988,
blematik angepassten Technikfolgenabschätzung
138–158.
notwendig (s. Kap. VI.4), die in der Lage sind, Trans- Institute of Medicine and National Research Council: An
parenz zu erzeugen und Hilfestellung für die For- International Perspective on advanced Technologies and
schenden selbst, die Politik und die Gesellschaft Strategies for Managing Dual-use risks. Report of a work-
insgesamt zu geben. Daraus könnten auch ethische shop. Washington D.C. 2005.
Leitlinien abgeleitet werden, die Orientierung für International Association of Lawyers Against Nuclear
Arms (IALANA)/International Network of Engineers
die Forschung geben. and Scientists for Global Responsibility (INES): Commit
Eine Dual-use-Konzeptionierung von Forschung universities to peace: Yes to civil clauses! Sept. 2012. In:
und Technikentwicklung steht solchen Bemühun- http://www.inesglobal.com/download.php?f=f58fbdcfc
gen jedenfalls diametral entgegen, da sie eher von 1a7c7ae82d6be51737245ea (02.03.2013).
der Verwischung der Grenzziehungen profitieren Langley, Chris: Soldiers in the Laboratory. Military Involve-
ment in Science and Technology – and some Alternatives.
will und öffentliche Transparenz über Forschungs- Scientists for Global Responsibility (SGR). Folkstone
ziele und -ergebnisse scheuen muss. Auch daher UK 2005.
wird neuerdings vielerorts wieder für eine Veranke- Liebert, Wolfgang: Wertfreiheit und Ambivalenz – Janus-
rung von Zivilklauseln für die öffentlich geförderten köpfige Wissenschaft. In: Scheidewege 29 (1999), 126–149.
Universitäten und Forschungseinrichtungen, die – : Navigieren in der Grauzone. Kontrolle oder Gestaltung
von Forschung und Technik? In: Stephan Albrecht/Rei-
nicht zum Verteidigungssektor gehören, argumen- ner Braun/Thomas Held (Hg.): Einstein weiterdenken:
tiert (IALANA/INES 2012; Nielebock et al. 2012). Wissenschaft – Verantwortung – Frieden. Frankfurt a. M.
Damit soll die Forschung dort auf friedliche Ziele 2006, 143–160.
und zivile Zwecke einschränkt werden. Dies kann – : Military and Dual-use Research – Responsibility in Ques-
zur Bewusstseinsbildung bei den Forschenden bei- tion. 59th Pugwash Conference on Science and World
Affairs »European Contributions to Nuclear Disarma-
tragen, insbesondere wenn in Folge dessen geeignete ment and Conflict Resolution«. Berlin, 1–4 July 2011.
dauerhafte Foren geschaffen werden, in denen als – /Rilling, Rainer/Scheffran, Jürgen (Hg.): Die Janusköpfig-
problematisch erscheinende Fälle öffentlich disku- keit von Forschung und Technik – Zum Problem der zivil-
tiert werden können. Die nächste Generation von militärischen Ambivalenz. Marburg 1994.
Forschenden, die Studierenden von heute, kommen Molas-Gallart, Jordi: Coping with dual-use  – a challenge
for European research policy. In: Journal of Common
dabei mit in den Blick. Eine Sensibilisierung für die
Market Studies 40 (2002), 155–165.
Dual-use-Problematik bereits in der universitären National Research Council (NRC). Committee on Re-
Lehre wäre empfehlenswert. search Standards and Practices to Prevent the Destruc-
tive Application of Biotechnology: Biotechnology Re-
Literatur search in an Age of Terrorism. Confronting the Dual-use
dilemma. Washington D.C. 2003.
Albrecht, Ulrich: Die Nutzung und der Nutzen militärischer Nielebock, Thomas/Meisch, Simon/Harms, Volker (Hg.):
FuE-Ergebnisse für zivile Anwendungen. Köln 1989. Zivilklausel für Forschung, Lehre und Studium. Baden-
Alic, John/Branscomb, Lewis/Brooks, Harvey/Carter, Ash- Baden 2012.
ton/Epstein, Gerald: Beyond Spinoff – Military and Com- Nixdorff, Kathryn/Bender, Wolfgang: Ethics of university
mercial Technologies in a Changing World. Boston 1992. research, biotechnology and potential military spin off.
Altmann, Jürgen (Hg.): Dual-use in der Hochtechnologie. In: Minerva 40 (2002), 15–35.
Baden-Baden 2000. Research for a Secure Europe. Report of the Group of Per-
Bauman, Zygmunt: Ambivalenz und Moderne. Frankfurt sonalities in the field of Security Research. European
a. M. 1995 (engl. 1992). Communities, March 2004.
British Ministry of Defense (MoD): Defense Industrial Po- Weizsäcker, Carl Friedrich von: Wissenschaft und Mensch-
licy. The Ministry of Defense Policy Papers, No. 5, Oct. heitskrise. In: Ders.: Der bedrohte Friede. Politische Auf-
2002. sätze 1945–1981. München 1983, 559–568.
Gansler, Jacques: The need – and opportunity – for greater
Wolfgang Liebert
integration of defense and civil technologies in the Uni-
249

V. Technikfelder

1. Agrartechnik men der Nationalstaaten und der europäischen


Institutionen gefördert worden.
Die moderne Agrartechnik lässt sich lehrbuch-
Elemente moderner Agrartechnik mäßig in drei große Bereiche einteilen: Traktoren
und Transporttechnik, Technik und Verfahren der
Moderne Agrartechnik ist Teil der Industrialisie- Pflanzenproduktion, Technik und Verfahren der
rung seit etwa 1850 und kann mit den Charakteris- Nutztierhaltung (Eichhorn 1999). Alle drei Bereiche
tika der Mechanisierung, Chemisierung, Elektrifi- werfen ethische Fragen im Hinblick auf soziale, so-
zierung, Elektronisierung und Genetisierung (s. zial-ökonomische, ökologische und globale Zusam-
Kap. V.7) bezeichnet werden. Für die Kultivierung menhänge und Probleme auf. Von diesen stehen hier
von Nutzpflanzen und die Haltung von Nutztieren im Mittelpunkt: Die weltweite Gerechtigkeit einer
eigentümlich ist, dass technische Geräte, künstliche gesicherten Ernährung für alle Menschen, die Er-
stoffliche Substanzen, Maschinen und Anbauregime nährungssouveränität als Ausdruck der menschli-
ihre spezifische Wirksamkeit erst in Kombination chen Autonomie und die Erhaltung der natürlichen
mit natürlichen Elementen wie Böden, Wasser, Lebensgrundlagen. Dabei steht für den Autor starke
Fruchtarten und -folgen und dem Klima entfalten Nachhaltigkeit (s. Kap. IV.B.10) als übergreifendes
können. Seit es Literatur zur Agrikultur gibt, sind normatives Konzept im Hintergrund, in Verbindung
drei grundlegende Motive für den Gebrauch von mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Techniken dokumentiert: Verbesserung der Erträge (s. Kap. IV.B.1).
bzw. Leistungen, Minderung der schweren körperli-
chen Arbeiten und Erhalt bzw. Verbesserung der Bo-
denfruchtbarkeit. Dilemmata von Weltlandwirtschaft
Die Verfügbarkeit fossiler Energien als energie- und Welternährung
technischer Ausgangspunkt der industriellen Revo-
lution seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Im Lauf der vergangenen gut 70 Jahre hat sich agrar-
die Agrikultur grundlegend verändert. Der Ersatz technisch eine globale Spaltung der Landbewirt-
von Zugtieren durch Traktoren (in den Industrielän- schaftung herausgebildet. Auf der einen Seite steht
dern sich rasch ausbreitend nach 1945), der Ersatz eine energie- und chemieintensive (mineralische
tierischer durch chemisch erzeugte Handelsdünger Dünger, Pestizide, Maschinen, künstliche Bewässe-
(seit 1860; Fischer 1985), die durch die Haber- rung), spezialisierte (v. a. Trennung von Pflanzenbau
Bosch-Synthese ermöglichte Synthetisierung von und Tierhaltung) Praxis mit großflächigen Mono-
Stickstoffdünger (nach 1910) und die sich auch in kulturen (eine Fläche, eine Nutzpflanze, schmale bis
nicht industrialisierten Ländern ausbreitende Nut- keine Fruchtfolge) und Massentierhaltung (s. Kap.
zung von Mineraldüngern und synthetischen Pesti- IV.C.3), auf der anderen eine kleinräumige Praxis
ziden (nach 1945; ›Grüne Revolution‹) haben die von Mischanbau und Tierhaltung mit minimalem
Eingriffsmöglichkeiten der Menschen in die natürli- externen Betriebsmitteleinsatz (Weltagrarbericht
chen Kreis- und Abläufe von Pflanzenbau und Tier- 2009; 2012). Von den 536 Millionen bäuerlichen Be-
haltung ungemein erhöht. Hinzu tritt eine starke Zu- trieben weltweit liegen 96 Prozent unter einer Größe
nahme des Einflusses der privaten und öffentlichen von zehn Hektar. Diese Betriebe bewirtschaften le-
Forschung auf die Landbewirtschaftung: analyti- diglich 21 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen,
sche, synthetische und pharmazeutische Chemie, versorgen damit allerdings gut 57 Prozent der Bevöl-
Züchtungsforschung an Nutzpflanzen und -tieren, kerung in nicht industrialisierten Ländern – und 52
Maschinenbau und Informatik. Diese Industrialisie- Prozent der Weltbevölkerung (FAO 2008). Zu den
rung der Landbewirtschaftung einschließlich der historischen sozialen (Arbeiter, Pächter, Besitzer)
Tierhaltung ist in den OECD-Ländern durch gesteu- und ökonomischen (Großgrundbesitz, Landhandel)
erte politische, ökonomische und soziale Maßnah- Spaltungen der Landbewirtschaftung, die bis heute
250 V. Technikfelder

fortexistieren, sind durch technische und betriebsor- Prognosen, Visionen und Szenarien
ganisatorische Veränderungen weitere Spaltungen bis 2050/2100
hinzugetreten. Diese betreffen vor allem die teil-
weise oder gänzliche Auftrennung der Energie-, Die Vereinten Nationen rechnen mit gut 10 Mrd.
Material- und Nährstoffflüsse in bäuerlichen Betrie- Menschen für das Jahr 2100. Dabei stehen hohe Be-
ben. Spezialisierung, Massenproduktion und Inten- völkerungszuwächse vor allem in Afrika südlich der
sivierung führen zu paradoxen Verhältnissen. Wäh- Sahara (2,5 Mrd.) moderaten Zunahmen in Zentral-
rend in den OECD-Ländern vielfach Überschüsse und Südasien (0,4 Mrd.) gegenüber. Die Sicherstel-
bei landwirtschaftlichen Massengütern (Getreide, lung der Ernährung von 10 Mrd. Menschen ist, be-
Fleisch) anfallen, sind etwa eine Mrd. Menschen in rücksichtigt man die o. g. Defizite, alles andere als
nicht industrialisierten und sog. Schwellenländern selbstverständlich.
dauerhaft nicht mit Lebensmitteln versorgt. Eine Seitens der FAO und anderer UN-Organisationen
weitere Milliarde Menschen leidet infolge von wird geschätzt, dass Bevölkerungswachstum und
Fehlernährung an Übergewicht und Adipositas. Veränderungen im Ernährungsverhalten (höherer
Die bäuerlichen Betriebe in den Zentren von Hun- Fleischanteil, v. a. Rind und Schwein) schon bis zum
ger und Mangelernährung, vor allem in Südasien, Jahr 2030 eine Nachfrageerhöhung bei Nahrungs-
Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika, kön- mitteln um etwa 50 und bis 2050 um etwa 80 Prozent
nen nicht genügend Lebensmittel bereitstellen. ergäben. Auch wenn derartige Extrapolationen mit
Wichtige Gründe hierfür sind degradierte Böden, Vorsicht zu sehen sind, so ist deutlich, dass eine Stei-
fehlende beratende, finanzielle und soziale Unter- gerung der Tierproduktion die Konkurrenz zwi-
stützung, fehlender respektive ungesicherter Zugang schen Tierfutter und Lebensmittel für Menschen
zu Land, zu geringe Betriebsmittel wie Dünger und verschärfen würde. Gegenwärtig werden etwa 40
hohe Nach-Ernte-Verluste. Armut, Mittellosigkeit Prozent der Getreideernte weltweit als Tierfutter
und Hunger betreffen zu zwei Dritteln ländliche verwendet. Zum Flächenverbrauch durch Siedlun-
Räume, dort vor allem Frauen und Kinder. Eine gen, Verkehrswege und Futtermittelanbau ist in den
Folge – und zunehmend eine Ursache – der ungenü- letzten Jahren eine starke Zunahme des Anbaus von
genden Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen ist Nutzpflanzen (auch solchen Nahrungspflanzen wie
die Arbeitsmigration junger Menschen, vor allem Weizen, Mais und Soja) für Zwecke der Treibstoffer-
Männer, in urbane Räume, was die Arbeitsbelastung zeugung zu beobachten. Auch wenn wissenschaft-
der Mädchen und Frauen weiter erhöht, die ohnedies lich Konsens besteht, dass diese Form einer energeti-
den Bärenanteil der agrikulturellen Arbeiten erledi- schen Nutzung von Biomasse ineffizient und nicht
gen. Die Entvölkerung des ländlichen Raumes ge- zielführend im Sinne einer Einsparung von Treib-
schieht auch in den OECD-Ländern schon seit Jahr- hausgasemissionen ist, so führen doch politische
zehnten. In vielen nicht industrialisierten Ländern Rahmensetzungen (z. B. der EU und USA) und wirt-
hingegen arbeitet nach wie vor mehr als die Hälfte schaftliche Interessen zu einer Fortführung, teils
der Bevölkerung in den Landwirtschaften; in Afrika auch Ausweitung (Albrecht/Schorling 2010). Die
südlich der Sahara sind es zwei Drittel (Weltagrarbe- Verfügbarkeit fruchtbarer Böden für die Erzeugung
richt 2012, 22). Die finanziellen Mittel, die seit meh- von Lebensmitteln ist also perspektivisch nicht nur
reren Jahrzehnten im Rahmen der sog. Entwick- durch Degradation, sondern ebenso durch Nut-
lungshilfe oder -zusammenarbeit von vielen OECD- zungskonkurrenzen eingeschränkt.
Ländern ausgegeben werden, konnten bis heute Dass eine auskömmliche Ernährung von etwa
keine grundlegende Verbesserung herbeiführen; die 10 Mrd. Menschen Verbesserungen der Lebensmit-
Zahl der Länder, die Grundnahrungsmittel importie- telerzeugung erfordern, ist wissenschaftlich wie poli-
ren müssen, hat sogar noch zugenommen. Der Anteil tisch weitgehend unumstritten. Für das ›Wie‹ der
der landwirtschaftsbezogenen Hilfsgelder war über Verbesserungen werden allerdings divergente Stra-
mehrere Jahrzehnte rückläufig und steigt erst seit ei- tegien vorgeschlagen und verfolgt: Die produktivis-
nigen Jahren wieder an (BMZ 2011). Dabei betragen tische Strategie orientiert sich, aufbauend auf der
die Subventionen für die OECD-Landwirtschaften heute bestehenden energie- und chemieintensiven
mit etwa 250 Mrd. Euro im Jahr ein Mehrfaches der Landwirtschaft, auf Ertragssteigerungen an weltwei-
Hilfsgelder. Wir stehen heute weltweit vor einem ten Gunststandorten. Die gravierenden Umwelt-
massiven Ungleichgewicht: Überschuss auf der einen schäden dieser Wirtschaftsweise, die u. a. für einen
und bitterer Mangel auf der anderen Seite. Großteil der Verluste an biologischer Vielfalt ur-
1. Agrartechnik 251

sächlich ist, sollen durch neue Agrartechnik, z. B. das den bäuerlichen Betrieben etwa 40 Prozent Nach-
sog. precision farming, also den Einsatz von satelli- Ernte-Verluste eintreten, sind dies z. B. in Großbri-
tengestützter Fernerkundung in der Feldbearbei- tannien nur etwa 15 Prozent. Dafür werden dort 40
tung, vermindert werden. Technologische Innovati- Prozent der Lebensmittel bei den Endverbrauchern
onen wie gentechnisch veränderte Nutzpflanzen zu Abfall, was wiederum in nicht industrialisierten
werden als wichtiges Element einer weltweiten Er- Ländern statistisch gar nicht signifikant ist (Godfray
nährungssicherung und Wettbewerbsfähigkeit gese- et al. 2010).
hen (DLG 1999).
In einem deutlichen Kontrast hierzu steht die
agrarökologische Strategie, deren Kern die Einord- Ethische und moralische Kontroversen
nung der Agrikulturen in die standörtlichen Öko-
systeme und die intelligente Nutzung von deren Syn- Die Tatsache, dass ein Siebtel der Weltbevölkerung
ergien ist. Hieraus resultieren ganz viele standörtlich Hunger, Armut und Mittellosigkeit erleiden muss,
spezifische Bewirtschaftungs- und Vorgehenswei- während in anderen Weltregionen ein großer Teil
sen. Kernpunkte sind dabei möglichst die Vermei- der Nahrungsmittel verschwendet wird, ist anhal-
dung betriebsexterner Energien oder Stoffe, Nut- tend moralisch und politisch ein Stein des Anstoßes
zung oder Aufbau von Kreisläufen, insbesondere (EKD/Deutsche Bischofskonferenz 2003). Und weil
durch die Kombination von Tierhaltung (einschließ- der Hunger seit mehr als 50 Jahren ein persistentes
lich der Fische) und Pflanzenbau (einschließlich der Phänomen darstellt, haben sich um die Fragen nach
Bäume und Wälder), die Wertschätzung lokalen und Ursachen und Lösungswegen länger währende Kon-
traditionellen Wissens und die lokale Verfügungs- troversen herausgebildet. Diese betreffen nicht allein
hoheit über alle Elemente der Ernährungssicherung die Agrartechnik, sondern die gesamte Agrarkultur
(van der Ploeg 2009; Weltagrarbericht 2009, 2012; und, in Zeiten globaler Kapital- und Warenströme,
zur Ernährungssouveränität vgl. La Via Campesina die gesamten gesellschaftlichen Erzeugungs- und
2006; Bello 2010). Verbrauchsstrukturen.
Der ökologische Landbau nach den Regeln des Im Zentrum gesellschaftlicher Wahrnehmungen
International Federation of Organic Agricultural Mo- stehen oftmals divergierende Vorstellungen von der
vements (IFOAM 2012) nutzt ebenfalls grundsätz- Natur. Diese werden vielfach nach den Polen ›an-
lich die agrarökologischen Zusammenhänge aus, thropozentrisch‹ versus ›physiozentrisch‹ kategori-
verbindet diese aber zusätzlich mit tierethischen und siert. Im Blick auf die moralischen und ethischen
sozialen Prinzipien sowie einem Zertifizierungs- Implikationen der modernen Agrartechnik ist der
und Kontrollsystem. Insbesondere das letzte Ele- Blick allerdings noch umfassender auf die ökosyste-
ment stellt in etlichen Weltregionen ein erhebliches maren und lokal-globalen Zusammenhänge zu
Zugangshindernis dar, weil damit materielle und in- richten. Die Religionen und Mythologien in vielen
stitutionelle Aufwendungen verbunden sind, die von Teilen der Welt sehen die Erde als ein Ganzes, das
kleinen Betrieben in nicht gut vernetzten ländlichen von unbegreiflichen göttlichen Kräften geschaffen
Räumen schwer zu leisten sind. Eine spezielle und sinnvoll eingerichtet worden ist (z. B. die
Problematik für alle Strategien stellt die Frage dar, Schöpfung nach der Bibel, die andinische Mutter
aus  welchen Potenzialen die Verbesserungen der Erde/Pachamama oder die indische Ordnung der
Lebensmittelversorgung geschöpft werden sollen. Welt/Dharma). Das Leben der menschlichen Ge-
Rechnerisch werden heute etwa 4600 Kilokalorien meinschaften wird von und in diesem Ganzen er-
(kcal) pro Kopf der Weltbevölkerung geerntet. Das möglicht und erhalten. Deshalb dürfen Menschen
ist etwa das Doppelte dessen, was arbeitende Men- zwar die Güter und Leistungen der Erde für ihre Be-
schen am Tag zu sich nehmen sollten. Von diesen dürfnisse nutzen, sie jedoch nicht zerstören. Wissen
Kalorien gehen global 13 Prozent nach der Ernte als ein nur den Menschen zukommendes Vermögen
verloren, 26 Prozent werden als Viehfutter verwen- ist eine janusköpfige Gabe, die weise zum Wohle der
det und 17 Prozent gehen im Handel und bei den Erde oder aber eigensüchtig zugunsten der Kraft,
Verbrauchenden verloren, so dass am Ende nur 2000 die stets verneint, eingesetzt werden kann (Welt-
kcal effektiv verzehrt werden. Bei diesen globalen agrarbericht 2009, 213 ff.). Die Rolle des Menschen
Durchschnittszahlen ist wichtig zu sehen, dass ist die des »Vollstrecker[s] einer Pflegschaft, die er
enorme regionale Unterschiede vorhanden sind. allein sehen kann, aber nicht geschaffen hat (Jonas
Während in den nicht industrialisierten Ländern in 1994, 401).
252 V. Technikfelder

Teile der modernen Naturwissenschaften aus der lem deren Kreis- und Abläufe durch Nahrungs-,
Umwelt-, Klima-, Boden-, Energie-, Agrar,- Natur- Verwertungs- und Erzeugungsketten. Das beginnt
schutz- und Biodiversitätsforschung haben vielfache bei der Bodenbearbeitung, geht weiter über den Ein-
Evidenzen – bei immer noch erheblichen Wissenslü- satz von Pflanzengiften (›Pflanzenschutz‹), die Ernte
cken – dafür erarbeitet, dass die Erde ein interaktives und die Weiterverarbeitung.
Gesamtsystem ist, in dem die vielfältigen Ökosys- Bei den Nutztieren sieht es nicht anders aus. Die
teme für menschliches Leben unverzichtbare und Züchtung für die Massenmärkte ist großenteils in nur
technisch nicht substituierbare Leistungen und Gü- noch wenigen Unternehmen weltweit konzentriert,
ter hervorbringen (Schellnhuber et al. 2010). Auf die- auch die Mast findet überwiegend in spezialisierten
ser Basis hat sich auch ohne religiöse und transzen- Betrieben statt. Betriebswirtschaftliche Leistungsan-
dentale Bezugnahmen seit 1945 eine Land-Ethik forderungen regieren die Abläufe mit der Folge, dass
(Leopold 1992) herausgebildet, die starke Verbin- die Lebensbedingungen der Tiere vom Futter über
dungen zu den Erkenntnissen und Imperativen des die Haltungsbedingungen bis zu den Schlachtvorgän-
biologischen Landbaus aufweist (Howard 2006a, b; gen vielfach nicht artgerecht sind, nicht selten auch
Priebe 1990). Wird die Natur bzw. Mitwelt hingegen direkt tierquälerisch. Die Entfremdung betrifft aber
ausschließlich als nutzbare Ressource konzeptuali- keineswegs nur die in den Arbeitsvorgängen Beteilig-
siert (s. Kap. IV.C.2), dann werden Organismen und ten, sondern ebenso den Handel und die Konsumen-
Ökosysteme zu Faktoren, die Landbewirtschaftung ten, bei denen Tiere nur noch als glänzend verpackte
(Agrikultur) zu einem Geschäftszweig wie viele an- leblose Ware in Erscheinung treten.
dere auch, in dem monetärer Erfolg zentral ist und Die Abspaltung des Wissens um das Leben der
externe Effekte möglichst ausgeblendet werden. In Pflanzen und Tiere (von denen im Boden über die
dieser Sichtweise existiert kein Ganzes als beständi- frei lebenden bis zu den Nutztieren) vom Alltag ist
ger Lebenszusammenhang, in dem Menschen tätig technisch und organisatorisch immer radikaler ge-
sind, sondern nur Teile (Faktoren), die in der Pro- worden, so dass Fragen nach Rechtfertigung und
duktion möglichst profitabel zusammengesetzt und Verantwortbarkeit der Zerstörung von Leben für
dann vermarktet werden sollen. Entsprechend wer- welche Zwecke (Tierethik) nachgerade skurril er-
den auch Tiere, Pflanzen, fruchtbare Böden und scheinen können. Die angedeuteten Prozesse finden
Ökosysteme als monetär ver- und technisch behan- global – nicht überall, aber auf allen Kontinenten –
delbare Kompartimente gesehen (Eichhorn 1999). statt. Die neuen vertikal integrierten Weltkorporati-
Diese hier unvermeidlich etwas grobstrichig ange- onen im Agrar-Lebensmittel-Sektor führen in den
führten Grundannahmen sollen den Raum bezeich- moralphilosophischen Kern der Frage nach einer ge-
nen, in dem die ethischen und politischen Kontro- rechten (agrar-)sozialen Ordnung (s. Kap. IV.B.9).
versen um moderne Agrartechniken ausgetragen Die »Landwirtschaft ist für den Bereich des Lebens
werden. Dabei setzen die Debatten um die neuesten zuständig, dessen der Mensch immer bedurft hat
technischen Machbarkeiten wie transgene Nutz- und immer bedürfen wird, für die Ernährung […]
pflanzen oder -tiere (Ferrari et al. 2010; s. Kap. Aber die Landwirtschaft hat trotz dieser ihrer unver-
IV.C.3) auf Kontroversen um ältere technische Ver- änderten und unveränderbaren Bestimmung teil an
änderungen wie z. B. Spezialisierung, nicht artge- den großen Veränderungen des Erzeugens und
rechte Massentierhaltung, Chemie- und Pharmaka- Wirtschaftens« (EKD 1966, 9). Als diese Feststellung
einsatz, Bodenverdichtung und -erosion auf und aufgeschrieben worden ist, waren nur erste Risse in
verknüpfen sich mit diesen. den industriell-technologischen Fortschrittserwar-
Die Kontroversen berühren vor allem zwei ethi- tungen aufgetreten (s. Kap. III.5). Heute ist die Welt-
sche Grundfragen: Die Frage der Achtung vor Lebe- lage erneut erheblich verändert. Die Endlichkeit
wesen (zu Lebensphilosophie s. Kap. IV.A.4) und die vieler Lebensgrundlagen ist sehr viel klarer erkenn-
nach einer gerechten (agrar-)sozialen Ordnung. In bar, insbesondere die fruchtbaren Böden. Auf Köpfe
dem Maß, in dem die agrartechnischen und -indus- der  Weltbevölkerung umgerechnet wird das Stück
triellen Handlungsmöglichkeiten menschlicher Or- fruchtbarer Erde pro Mensch bis zum Jahr 2100 wei-
ganisation zugenommen haben, was heute als ›tech- ter schrumpfen, von heute etwa 7000 auf dann etwa
nologische Eingriffstiefe‹ gefasst wird, sind zwei 4500 Quadratmeter. Aber auch hierfür werden tech-
grundlegende Veränderungen vor sich gegangen. nische Auswege angeboten, z. B. die Verlagerung von
Die eine betrifft die Entfremdung zwischen land- Pflanzenbau in Hochhäuser, in denen in Nährlösun-
wirtschaftlich Tätigen und den Ökosystemen, vor al- gen und mit elektrischem Licht gearbeitet wird (das
1. Agrartechnik 253

sog. sky farming). Die mit der Industrialisierung ein- Eichhorn, Horst (Hg.): Landtechnik. Stuttgart 71999.
hergehenden Umweltschäden beschleunigen und Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Neuordnung
der Landwirtschaft. Eine evangelische Denkschrift mit Er-
befestigen die Degradation wie auch die Nutzungs-
läuterungen. Hg. von Eberhard Müller. Hamburg 1966.
konkurrenzen fruchtbarer Böden zwischen Stadt- Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bi-
entwicklung, Energiegewinnung und Lebensmittel- schofskonferenz (Hg.): Neuorientierung für eine nach-
erzeugung mit der Folge eines zusätzlichen morali- haltige Landwirtschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Lage
schen Dilemmas: Urbanisierung, Verkehrswege und der Landwirtschaft. Hannover/Bonn 2003.
Pflanzenbau für energetische Nutzungen zerstören FAO (Food and Agriculture Organization of the United
Nations): World Census of Agriculture. Rom 2008.
respektive reduzieren gerade gute und fruchtbare Ferrari, Ariana/Coenen, Chrisopher/Grunwald, Armin/
Böden und gefährden die wichtigste Grundlage der Sauter, Arnold: Animal Enhancement. Neue technische
Ernährungssicherheit. Möglichkeiten und ethische Fragen. Bern 2010.
In vielen Ländern des Südens wie auch in etlichen Fischer, Wolfram: Wirtschaft und Gesellschaft Europas
OECD-Staaten leben auch heute noch erhebliche 1850–1914. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Europäischen
Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 5. Stuttgart 1985,
Teile der Bevölkerung in und mit der Landwirt- 10–207, insbes. 137–147.
schaft. Die Geschichte der Agrarkulturen und Godfray, H. Charles J. et al.: Food Security: The Challenge
-strukturen wird nicht allein von den technischen of Feeding 9 Billion People. In: Science 327 (2010), 812–
Möglichkeiten geschrieben. In den meisten Ländern 818.
der Erde ist eine bäuerliche Familienlandwirtschaft Howard, Sir Albert: Farming & Gardening for Health or Di-
sease [1945]. Bristol 2006a.
lebendig, neben, vor und wohl auch nach den kom- – : The Soil and Health. A Study of Organic Agriculture
merziellen und industriellen Agrargewerben (van [1947]. With a new introduction by Wendell Berry. Ken-
der Ploeg 2009). Das der »Allgemeinen Erklärung tucky 2006b.
der Menschenrechte« (s. Kap. IV.B.1) zugehörige International Federation of Organic Agricultural Move-
Recht auf Nahrung kann nur materialisiert werden, ments (IFOAM): Prinzipien des Öko-Landbaus. Bonn.
In: http://www.ifoam.org/sites/default/files/poa_folder_
wenn eine soziale Ordnung der menschlichen Ge- german.pdf (01.07.2013).
sellschaften erhalten und neu entwickelt wird, die Jonas, Hans: Das Prinzip Leben. Frankfurt a. M./Leipzig
die illusorischen Prämissen des industrialisierten 1994.
und urbanen Lebens korrigiert. Die Aufgabe, eine La Via Campesina: Rice and Food Sovereignty in Asia Paci-
Gesellschaft zu gestalten, die den Grundpostulaten fic. Contributions and Final Declaration of the Asia Pa-
cific People Conference on Rice and Food Sovereignty,
der Nachhaltigkeit (s. Kap. IV.B.10) nachkommt,
14.-18. Mai 2006. Jakarta 2006.
wird ohne eine grundlegende Neuordnung in den Leopold, Aldo: Am Anfang war die Erde. Sand County
weiten Grenzen der natürlichen Lebensgrundlagen Almanac [1949]. München 1992.
nicht gelingen können. Das beschreibt enorme Her- Priebe, Hermann: Die subventionierte Naturzerstörung.
ausforderungen auch für eine nachhaltigkeitsorien- Plädoyer für eine neue Agrarkultur. München 1990.
Reichert, Tobias/Lanje, Kerstin/Paasch, Armin: Wer er-
tierte Agrartechnik. »Aufgabe ist nicht die Beherr-
nährt die Welt? Die europäische Agrarpolitik und Hunger
schung der Natur durch die Technik, sondern die in Entwicklungsländern. Hg. vom Bischöflichen Hilfs-
Anpassung der Technik an die Gesetze der Natur« werk Misereor. Aachen 2011.
(Priebe 1990, 98). Schellnhuber, Hans Joachim/Molina, Mario/Stern, Nicho-
las/Huber Veronika/Kadner, Susanne (Hg.): Global Sus-
tainability. A Nobel Cause. Cambridge 2010.
Literatur Van der Ploeg, Jan Douwe: The New Peasantries. Struggles
for Autonomy and Sustainability in an Era of Empire and
Albrecht, Stephan/Schorling, Markus: Arbiträre Politik & Globalization. London 2009.
Technology Governance. Das Problem der Pflanzen- Von der Goltz, Theodor: Geschichte der deutschen Land-
treibstoffe. In: Georg Aichholzer/Alfons Bora/Stephan wirtschaft. 2 Bde. Stuttgart 1902/1903 (autor. Nachdr.
Bröchler/Michael Decker/Michael Latzer (Hg.): Techno- Kettwig 2000).
logy Governance. Der Beitrag der Technikfolgenabschät- Wallerstein, Immanuel: Capitalist Agriculture and the Ori-
zung. Berlin 2010, 279–290. gins of the European World-Economy in the Sixteenth
Bello, Walden: Politik des Hungers. Berlin 2010 (engl. 2009). Century. The Modern World-System I [1974]. Berkeley
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit 2011.
und Entwicklung (BMZ): Entwicklung ländlicher Räume Weltagrarbericht: Synthesebericht. Hg. von Stephan Albrecht
und ihr Beitrag zur Ernährungssicherung. Konzept (BMZ und Albert Engel. Hamburg 2009.
Strategiepapiere 1/2011). Bonn 2011. – : Regionalbericht Afrika südlich der Sahara. Hg. von
Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) (Hg.): Land- Stephan Albrecht. Hamburg 2012.
wirtschaft 2010. Welche Wege führen in die Zukunft? Stephan Albrecht
Frankfurt a. M. 1999.
254 V. Technikfelder

2. Climate Engineering um die oben genannten Methoden von anderen


großtechnischen Eingriffen in die Natur, die man als
›Geoengineering‹ bezeichnet, abzugrenzen (s. Kap.
Als ›Climate Engineering‹ bezeichnet man groß- V.6). Als Geoengineering gelten auch großangelegte
technische Eingriffe in das Klimasystem, die darauf Versuche der systematischen Wettermanipulation,
abzielen, den anthropogenen Klimawandel zu kom- die im 20. Jahrhundert mehrfach (vergeblich) unter-
pensieren. Neben Mitigation- (Vermeidung) und nommen wurden (vgl. Fleming 2010). In den ver-
Adaptation-Maßnahmen (Anpassung) bilden Cli- gangenen Jahrzehnten wurden großtechnische In-
mate Engineering-Verfahren damit eine dritte Kate- terventionen in das Klimasystem praktisch nicht
gorie möglicher Reaktionen auf den anthropogenen wissenschaftlich diskutiert. Das änderte sich aber
Klimawandel (Keith 2000). schlagartig 2006, als Paul Crutzen in einem einfluss-
Technisch lassen sich zwei Arten von Climate reichen Artikel für die Erforschung von SRM-Me-
Engineering-Methoden unterscheiden. Das soge- thoden plädierte (Crutzen 2006). Seitdem ist bereits
nannte Solar Radiation Management (SRM) fasst eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur ent-
Verfahren zusammen, die die Strahlungsbilanz der standen, die ethische, juristische, ökonomische, po-
Erde direkt manipulieren. Dazu zählen etwa die Ein- litik- und naturwissenschaftliche Gesichtspunkte
bringung von Schwefel in Gestalt von Sulfat-Aero- umfasst. Einen wichtigen Meilenstein und Referenz-
solen in obere Schichten der Atmosphäre, die Instal- punkt in der Climate Engineering-Debatte stellte da-
lation von Sonnenschirmen im Weltall oder die bei der Bericht der Royal Society »Geoengineering
technische Manipulation mariner Wolkenbildung. the Climate« dar (Royal Society 2009).
All diese Methoden ›schirmen die Erde ab‹ oder In der Climate Engineering-Kontroverse ist nicht
›hellen sie auf‹  – was beides zu einer Abkühlung nur der etwaige Einsatz, sondern bereits die Erfor-
führte und die globale Erwärmung kompensierte. schung dieser Methoden umstritten. Forschungs-
Anders als bei SRM-Methoden wird beim Carbon und Einsatzfrage hängen dabei eng zusammen: Wer
Dioxide Removal (CDR) nicht direkt in die Strah- einen zukünftigen Einsatz für zulässig, womöglich
lungsbilanz der Erde, sondern in den globalen Koh- sogar für geboten hält, wird für die Erforschung der
lenstoffkreislauf eingegriffen. CDR-Methoden ver- entsprechenden Methoden plädieren. Lehnt man
suchen, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen und hingegen jedweden Einsatz als unmoralisch ab, so
so den anthropogenen Treibhauseffekt zu unterbin- bricht damit auch ein wichtiger Grund für die Erfor-
den. Dabei werden wiederum ganz unterschiedliche schung weg. Im Folgenden werden wichtige Überle-
Vorschläge gemacht, wie dies technisch bewerkstel- gungen der Kontroverse, die an die zwei zentralen
ligt werden könnte: durch Maschinen, die CO2 aus Fragen anknüpfen, umrissen (vgl. auch Betz/Cacean
der Umgebungsluft absondern (Air Capture); durch 2011).
massive Aufforstung, gegebenenfalls gepaart mit der
Herstellung von Holzkohle (Bio Char); durch die
großflächige Einbringung von Eisen in nährstoff- Argumente für den Bedarf an
arme Meeresgebiete (Ocean Fertilization); oder Climate Engineering-Verfahren
durch stärkere Vermischung unterschiedlicher Was-
serschichten im Ozean (Enhanced Upwelling). Dafür, dass Climate Engineering-Methoden in Zu-
Nicht nur zwischen SRM- und CDR-Verfahren, kunft eingesetzt werden oder zumindest einsatzbe-
sondern auch zwischen den spezifischen Climate reit sein sollten, wird auf dreierlei Weise argumen-
Engineering-Methoden innerhalb dieser Kategorien tiert: mittels des Lesser-Evil-Arguments, auf Basis
bestehen substantielle Unterschiede bezüglich ihrer von Effizienz- und Machbarkeitsüberlegungen so-
jeweiligen Effektivität, Unsicherheiten, Nebenfol- wie mit Verweis auf ambitionierte Klimaschutzziele.
gen, Kosten und Verteilungswirkungen. Letztlich Das Lesser-Evil-Argument begründet den Bedarf
sind Climate Engineering-Maßnahmen deshalb fall- an Climate Engineering damit, dass der Einsatz die-
spezifisch zu bewerten. In diesem Beitrag können ser Technologien in einem Klimanotfall das gerin-
indes nur übergreifende Probleme und Fragestellun- gere von zwei Übeln  – und damit eine Ultima Ra-
gen, die auf einzelne Methoden mehr oder weniger tio  – darstellen könnte (Schneider 1996; Gardiner
stark zutreffen mögen, dargelegt werden. 2010; Betz 2012). Für diese Notfallsituation, so das
Der Begriff des Climate Engineering wurde erst Argument, sollten wir bereits heute vorsorgen, in-
in den vergangenen Jahren geprägt, etwa seit 2009, dem wir entsprechende Technologien bereitstellen.
2. Climate Engineering 255

Dass es zu einem Klimanotfall kommen kann, wird könnten (so etwa Greene et al. 2010). Eine derartige
zum einen damit belegt, dass die Klimasensitivität Argumentation kann im Prinzip sowohl mit Verweis
tatsächlich sehr hoch sein könnte  – d. h. dass auch auf das 2-Grad-Ziel als auch auf Basis eines niedri-
eine geringe Erhöhung der CO2-Konzentration zu gen angestrebten Konzentrationsniveaus (etwa 350
einer signifikanten globalen Erwärmung um meh- ppm CO2 in der Atmosphäre) ausbuchstabiert wer-
rere Grad führen könnte. Zum anderen wird ange- den. Die Argumentation muss, so oder so, zweierlei
führt, dass es durchaus möglich sei, dass gar keine leisten: Zum einen muss sie begründen, dass das ent-
wirksamen globalen Klimaschutzmaßnahmen er- sprechende, ambitionierte Klimaziel auch tatsäch-
griffen werden. In einem Klimanotfall, der sich in lich angestrebt werden sollte; zum anderen muss sie
mehreren Jahrzehnten ergeben könnte, stünde die darlegen, dass dieses Klimaziel ohne Climate Engi-
Menschheit dann vor der Wahl, katastrophalen Kli- neering praktisch unerreichbar ist.
mawandel ungebremst geschehen zu lassen oder
mittels – womöglich hochriskanter – Climate Engi-
neering-Methoden den anthropogenen Klimawan- Argumente gegen einen Einsatz
del zu kompensieren. Das Lesser-Evil-Argument un- von Climate Engineering-Verfahren
terstellt, dass der Einsatz solcher Verfahren in die-
sem hypothetischen Fall das kleinere der zwei Übel Den Argumenten für einen Climate Engineering-
sei. Einsatz bzw. für die Einsatzbereitschaft entsprechen-
Effizienz- und Machbarkeitsüberlegungen gehen der Methoden, stehen zahlreiche, vor allem risiko-
deutlich weiter als die – auf Vorsorgeüberlegungen ethische, gerechtigkeitstheoretische, geopolitische,
basierende  – Lesser-Evil-Argumentation. Sie be- naturethische und zivilisationskritische Argumente
haupten, dass Climate Engineering-Methoden in je- gegenüber.
dem Fall (und nicht nur im Klimanotfall) bloßen Risikoethische Einwände halten den Einsatz von
Vermeidungs- und Anpassungsmaßnahmen überle- Climate Engineering mit Verweis auf bestehende
gen seien. Großtechnische Eingriffe in das Klima- Unsicherheiten für moralisch falsch. Das Reversibi-
system werden hier also nicht als Ergänzung von, litätsargument fordert zum Beispiel, dass die inten-
sondern als echtes Substitut für Mitigation und Ad- dierten und nicht-intendierten Folgen von Risiko-
aptation gesehen. Erstens, wird hier argumentiert, technologien reversibel sein müssten  – genau dies
könne mit Climate Engineering-Verfahren ein ge- sei beim Climate Engineering aber nicht der Fall (Ja-
fährlicher Klimawandel abgewendet werden, ohne mieson 1996). Andere Argumente unterstreichen,
dass ein Großteil der Menschheit ihren liebgewon- dass die heutigen Wissenslücken hinsichtlich Effek-
nenen Lebensstil ändern müsste. Zweitens sei Dank tivität und Nebenfolgen von großtechnischen Ein-
derartiger Methoden kein globaler Konsens mehr griffen in das Klimasystem irreduzibel, also nicht
erforderlich, um das Klima zu schützen: Auch eine durch weitere Forschung zu beseitigen seien (Bunzl
kleine Zahl entschlossener Staaten könne mit Cli- 2009; Sardemann et al. 2010). Ein weiterer Einwand
mate Engineering katastrophale Klimafolgen ab- stellt auf das sogenannte Termination-Problem ab:
wenden. Drittens schließlich seien diese Methoden Einmal in Gang gesetzt, so das Argument, gibt es für
den alternativen Vermeidungs- und Anpassungs- viele Climate Engineering-Methoden keine Exit-Op-
maßnahmen auch ökonomisch überlegen, weil sie tion, denn ein abrupter Abbruch des Einsatzes hätte
wesentlich kosteneffizienter seien. Insbesondere die- katastrophale Folgen, etwa eine schlagartige Erwär-
ses letztgenannte, ökonomische Argument ist in der mung um mehrere Grad binnen eines Jahrzehnts
Literatur einer detaillierten Kritik unterzogen wur- (Robock 2008). In der gesamten risikoethischen
den (vgl. Ott 2010a, 2010b). Dabei wird u. a. darauf Argumentation spielt das Vorsorgeprinzip (s. Kap.
hingewiesen, dass die entsprechenden Schätzungen VI.3) eine zentrale Rolle (Elliott 2010).
die indirekten Effekte und die makroökonomischen Gerechtigkeitstheoretische Argumente knüpfen
Folgen eines globalen Einsatzes schlicht ignorierten an die intra- und intergenerationellen Verteilungs-
und daher nicht die tatsächlichen Kosten abbilden effekte eines Climate Engineering-Einsatzes an (vgl.
würden. Bunzl 2008). Solche Verteilungseffekte resultieren
In einem dritten Begründungsstrang zugunsten aus unterschiedlichen Gründen: Solar Radiation
eines Einsatzes von Climate Engineering wird be- Management-Maßnahmen zum Beispiel können die
hauptet, dass ambitionierte Klimaschutzziele ohne anthropogenen Klimafolgen nur partiell kompensie-
Climate Engineering gar nicht mehr erreicht werden ren (die Versauerung der Ozeane wird nicht rück-
256 V. Technikfelder

gängig gemacht), außerdem ist mit deutlichen re- ment, sei aber nicht hinnehmbar. Dabei werden ver-
gionalen Veränderungen von Temperatur- und Nie- schiedene (psychologische und sozio-ökonomische)
derschlagsmustern zu rechnen. Dementsprechend Mechanismen genannt, aufgrund derer Climate En-
fallen Nutznießer und Kostenträger von Climate gineering-Forschung andere Klimaschutzmaßnah-
Engineering-Maßnahmen keineswegs zusammen. Je men untergraben könnte: Mit der Erforschung von
nach gerechtigkeitstheoretischer Axiologie lassen Climate Engineering komme eine neue Option ins
sich diese Folgen als mehr oder weniger ungerecht Spiel, die die (rationale) Risikowahrnehmung der
verurteilen (s. Kap. IV.B.9). gesellschaftlichen Akteure so verändern könnte,
Geopolitische Einwände verweisen zum einen auf dass Klimafolgen als weniger schlimm (da repara-
die Dual-use-Problematik (s. Kap. IV.C.11), der zu- bel) angesehen werden; die Erforschung von Climate
folge Climate Engineering-Methoden immer auch Engineering könnte einen regelrechten Hype auslö-
militärisch genutzt werden könnten. Zum anderen sen; die Ressourcen, die für die Forschung bereit ge-
warnen sie davor, dass durch die Fähigkeit, das stellt werden, stünden nicht mehr für die Erfor-
Klima großtechnisch zu regulieren, ganz neue Kon- schung anderer Klimaschutzmaßnahmen zur Verfü-
fliktpotentiale und womöglich auch militärische gung; und die finanzielle Förderung von Climate
Konflikte entstünden (Robock 2008). Engineering-Forschung könnte Interessengruppen
Naturethische Einwände kritisieren, dass der Ein- schaffen, die Vermeidungsmaßnahmen ablehnen.
satz von Climate Engineering-Verfahren zu einem Neben dem Moral-Hazard-Einwand gibt es wei-
bisher beispiellosen Verlust von Unberührtheit und tere Gründe gegen die Erforschung von Climate En-
Natürlichkeit führe. gineering, die (mögliche) negative Forschungsne-
Technologie- und Zivilisationskritik schließlich benfolgen anführen. Das Selbstläufer-Argument
artikuliert ein grundsätzliches Unbehagen mit Cli- mahnt, dass entsprechende Forschung, einmal in
mate Engineering-Verfahren, die als Ausdruck einer Gang gesetzt, politisch nicht mehr zu stoppen sei
fragwürdigen Weltanschauung betrachtet werden und daher unweigerlich auch zur Entwicklung und
(vgl. ETC Group 2010). So wird beispielsweise ein- letztlich Anwendung der Verfahren führe. Ein weite-
gewendet, dass solche Methoden auf maßloser res Argument weist auf die Gefahr eines unilateralen
Selbstüberschätzung basierten, die sich rächen Einsatzes der Methoden, sollten diese bis zur Ein-
werde (Hybris-Argument); oder es wird behauptet, satzreife erforscht werden, hin. Ferner wird argu-
Climate Engineering sei ein trügerischer Technical mentiert, dass Climate Engineering-Forschung auf
Fix, das bloße Herumdoktern an Symptomen. großangelegte Feldversuche angewiesen sei, die
praktisch einem Einsatz der Technologie gleichkä-
men; denn erst durch solche Feldversuche könnten
Forschungsnebenfolgen die Effektivität und die Nebenfolgen genau studiert
werden (Robock et al. 2010). Mit Vergleich zur
Einsatz- und Forschungsfragen sind in der Climate Pharmabranche wird schließlich eingewendet, dass
Engineering Kontroverse eng miteinander verbun- die Climate Engineering-Forschung und letztlich
den. Denn wird ein Einsatz ohnehin abgelehnt, ent- auch die dort entwickelten Verfahren der kommerzi-
fällt ein wichtiges Argument für die Erforschung von ellen Kontrolle großer Firmen unterliegen könnten.
Climate Engineering. Allerdings gibt es – unabhän-
gig von der Kritik an einem Einsatz der Methoden –
auch moralische Überlegungen, die sich direkt für Weitere Argumente für und gegen
oder gegen deren Erforschung aussprechen. Dazu Climate Engineering-Forschung
gehört insbesondere die Kritik an Climate Enginee-
ring-Forschung im Lichte ihrer Nebenfolgen (vgl. In der Climate Engineering-Kontroverse werden,
z. B. Robock 2008; Ott 2010a). über die Nebenfolgen-Einwände hinaus, wenigstens
Eines der prominentesten Argumente der gesam- zwei grundsätzliche Argumente gegen Climate Engi-
ten Climate Engineering-Kontroverse  – das soge- neering-Forschung geltend gemacht (Ott 2010a).
nannte Moral-Hazard-Argument  – prognostiziert, Das Risk-Transfer-Argument behauptet, dass man
dass bereits die Erforschung entsprechender Metho- bereits durch die Erforschung und Planung groß-
den zu einer merklichen Beeinträchtigung von Ver- technischer Eingriffe in das Klimasystem Risiken in
meidungsmaßnahmen (Mitigation) führen könnte unzulässiger Weise auf zukünftige Generationen
(vgl. z. B. Corner/Pidgeon 2010). Das, so das Argu- abwälze. Denn jede Generation sollte die Probleme,
2. Climate Engineering 257

die sie erzeugt, so weit wie möglich selbst lösen. gumente wahr oder falsch werden. Insofern kann die
Während das Risk-Transfer-Argument auf Prin- moralische Kontroverse dazu dienen, Governance-
zipien der intergenerationellen Gerechtigkeit fußt Maßnahmen (im Sinne einer Global Governance) zu
(s.  Kap. IV.B.10), buchstabiert der No-Informed- entwickeln, die wenigstens einige Kritikpunkte an
Consent-Einwand einen demokratietheoretischen Climate Engineering-Forschung entschärfen.
Gedanken aus. Er besagt, dass Climate Engineering-
Forschung nur im Falle der informierten Zustim-
mung aller Betroffenen zulässig sei; eine derartige Einschlägige Forschungsprogramme
globale Legitimation sei indessen unerreichbar.
Der (etwaige) zukünftige Einsatz der Verfahren Climate Engineering-Maßnahmen werden in zahl-
ist mitnichten der einzige Grund, der für die Erfor- reichen interdisziplinären Projekten untersucht. Da-
schung von Climate Engineering angeführt wird. So bei steht in der Regel die Erforschung von Risiken
wird Climate Engineering-Forschung etwa auch mit der Technologien unter Berücksichtigung sozialwis-
grundsätzlichen forschungsethischen Überlegungen senschaftlicher sowie ethischer Aspekte – und nicht
begründet (vgl. Gardiner 2010): Durch Forschung etwa die Technologieentwicklung  – im Vorder-
selbst, so das Argument, sei man noch auf keine An- grund. Exemplarisch seien hier genannt: Integrated
wendung festgelegt; und das Prinzip der For- Assessment of Geoengineering Proposals, IAGP,
schungsfreiheit verbiete es, Climate Engineering- 2010–2014 (UK); European Trans-disciplinary As-
Forschung zu unterbinden. Weitere Argumente sessment of Climate Engineering, EuTRACE, 2012–
rechtfertigen die Erforschung der entsprechenden 2014 (EU); DFG Schwerpunktprogramm Climate
Methoden wiederum instrumentell: Wie bei der Engineering: Risks, Challenges, Opportunities,
zentralen Forschungsbegründung dient die For- 2012–2018 (D).
schung bestimmten Zwecken, allein dass der For-
schungszweck nun nicht darin besteht, Climate En-
Literatur
gineering-Verfahren einsatzbereit zu machen. Statt-
dessen, so die erste Alternativbegründung, soll die Betz, Gregor: The case for climate engineering research: An
Forschung vielmehr darauf abzielen, die bisher un- analysis of the »arm the future« argument. In: Climatic
terschätzten Risiken aufzudecken und so einen vor- Change 111/2 (2012), 473–485.
– /Cacean, Sebastian: Ethical Aspects of Climate Enginee-
schnellen Einsatz zu verhindern. Ganz ähnlich lässt
ring. Karlsruhe 2012. http://dx.doi.org/10.5445/KSP/100
sich auch argumentieren, dass Climate Engineering- 0028245 (22.04.2013).
Forschung Vermeidungsmaßnahmen stärken soll, Bunzl, Martin: An ethical assessment of geoengineering.
indem sie nachweist, dass die Verfahren keine effek- In: Bulletin of the Atomic Scientists 64/2 (2008), 18.
tive und attraktive Alternative zu Mitigation-Maß- – : Researching geoengineering: should not or could not?
In: Environmental Research Letters 4 (2009), 045104.
nahmen darstellen.
Corner, Adam/Pidgeon, Nick: Geoengineering the climate:
The social and ethical implications. In: Environment
52/1 (2010), 24–37.
Governance Crutzen, Paul: Albedo enhancement by stratospheric sulfur
injections: A contribution to resolve a policy dilemma?
Die moralischen Argumente für und wider Climate In: Climatic Change 77/3–4 (2006), 211–220.
Elliott, Kevin C.: Geoengineering and the precautionary
Engineering-Einsatz oder -Erforschung setzen je- principle. In: International Journal of Applied Philosophy
weils normative und deskriptive Prämissen voraus. 24/2 (2010), 237–253.
Unter den deskriptiven Prämissen finden sich dabei ETC Group: Geopiracy: The Case Against Geoengineering.
typischerweise Prognosen (über Nebenfolgen, Ef- Stockholm 2010.
fektivität einer Maßnahme, Verteilungseffekte etc.). Fleming, James Rodger: Fixing the Sky: Checkered History
of Weather and Climate Control. New York 2010.
Manche der Prognosen sind sozio-ökonomischer Gardiner, Stephen M.: Is »Arming the future« with geoen-
Natur: Sie treffen gesellschaftliche oder wirtschaftli- gineering really the lesser evil? Some doubts about the
che Vorhersagen. Ob diese Vorhersagen eintreten, ethics of intentionally manipulating the climate system.
hängt ganz maßgeblich von den sozio-ökonomi- In: Stephen M. Gardiner/Dale Jamieson/Simon Caney
schen, insbesondere auch den institutionellen und (Hg.): Climate Ethics: Essential Readings. Oxford 2010,
284–312.
rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Das heißt: In- Greene, Chuck/Monger, Bruce/Huntley, Mark: Geoengi-
stitutionelle und völkerrechtliche Strukturen kön- neering: The inescapable truth of getting to 350. In: Solu-
nen dafür sorgen, dass bestimmte Prämissen der Ar- tions 1/5 (2010), 57–66.
258 V. Technikfelder

Jamieson, Dale: Ethics and intentional climate change. In: 3. Computerspiele


Climatic Change 33/3 (1996), 323–336.
Keith, David W.: Geoengineering the climate: History and
prospect. In: Annual Review of Energy and the Environ-
ment 25 (2000), 245–284. Computerspiele sind Spiele, d. h. es gibt Regeln, die
Ott, Konrad: Argumente für und wider »Climate Engi- die Basis aller Handlungen sind. Zudem haben
neering«. Versuch einer Kartierung. In: Technikfolgenab- Computerspiele eindeutig definierte Ziele, deren Er-
schätzung – Theorie und Praxis 19/2 (2010a), 32–43. reichung den Gewinn eines Spiels ausmacht. Im Un-
– : Die letzte Versuchung: Geo-Engineering als Ausweg aus terschied zu anderen Medien (s. Kap. V.13) wie Film
der Klimapolitik? In: Internationale Politik 66/1 (2010b),
58–65. oder Buch hängen Computerspiele von den perfor-
Robock, Alan: 20 reasons why geoengineering may be a mativen Handlungen der Spielenden ab. Da Spiele
bad idea. In: Bulletin of the Atomic Scientists 64/2 (2008), aus dem Arbeitsalltag exkludiert werden, findet
14–18. diese Tätigkeit in einem magic circle statt: Die Regeln
– /Bunzl, Martin/Kravitz, Ben/Stenchikov, Georgiy L.: A werden befolgt, um das Spiel zu erleben – immersiv
test for geoengineering? In: Science 327/5965 (2010),
530–531. darin einzutauchen und sich selbst weniger wahrzu-
Royal Society: Geoengineering the Climate: Science, Gover- nehmen –, obwohl die Regeln willkürlich sind und
nance and Uncertainty. London 2009. das Spiel zunächst als konsequenzlos erscheint. Zu-
Sardemann, Gerhard/Grunwald, Armin: Einführung in dem erzählen Spiele häufig Geschichten (Juul 2005).
den Schwerpunkt. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie Spiele geben meistens visuelle und auditive Ele-
und Praxis 19/2 (2010), 4–7.
Schneider, Stephen: Geoengineering: Could or should we mente auf einem Bildschirm bzw. Lautsprecher aus,
do it? In: Climatic Change 33/3 (1996), 291–302. die von den Spielenden interpretiert werden müs-
sen, um danach mittels eines spezifischen Gerätes –
Gregor Betz
Tastatur, Controller etc. – einen Input zu geben. Die
Software berechnet die Reaktionen unter Rückgriff
auf die Hardware eines Computers, weshalb auch
Konsolenspiele unter diese Definition fallen.
Die ersten ›Computerspiele‹ waren Konstruktio-
nen von Technikern, die diese in ihrer Freizeit her-
stellten. Sie gehörten zu den wenigen, die damals
überhaupt Zugang zu Rechnern hatten. Als früheste
Spiele gelten Tennis for Two von Higinbotham (1958)
sowie Spacewar! von Russell/Graetz/Wiitanen (1962).
In den ersten Jahrzehnten der Computerspiele kon-
struierten zumeist nur sehr wenige Personen sowohl
Hardware als auch Software (Pias 2000). Während
wirtschaftlicher Hoch- und Tiefphasen von 1970 bis
1985 differenzierte sich die Spielindustrie in Arcade-
Produktionen, Spielkonsolen und Spiele für den PC
aus. Seit 1985 kann die Spielindustrie kontinuierli-
che Zuwächse verzeichnen. Mit der Verbreitung von
Spielen etablierten sich LAN(Local-Area-Network)-
Partys und schließlich die – zumindest in Deutsch-
land inzwischen semi-professionellen – eSports. Das
Internet ermöglichte zudem das Entstehen von per-
sistenten Online-Welten in fiktiven Universen.
In den 2000er Jahren locken Casual Games  –
Spiele, die wenig zeitlichen Aufwand erfordern  –
bisher vernachlässigte Zielgruppen an. Durch die
Einführung der Nintendo Wii 2006 und der Mi-
crosoft Kinect für die Xbox 360 2010 werden ver-
stärkt bewegungsbetonte Spiele möglich. Smart-
phones und Tablets enthalten Spiele und verstärken
den Trend, ständig vernetzt zu sein und mit anderen
3. Computerspiele 259

zu spielen. Das sogenannte Mobile Gaming ermög- 2012). Zudem existiert  – teilweise in Überschnei-
licht zudem die Benutzung von GPS, um Spiele mit dung – eine lebhafte Kunstszene im Gaming-Bereich.
einer konkreten Benutzung des Aufenthaltsorts der
Spieler/innen zu kombinieren. Die Erweiterung der
physischen Realität mit virtuellen Zusatzinformatio- Spielen als ökonomische Ressource
nen, die sogenannte Augmented Reality (s. Kap.
V.25) hält in Zukunft noch weitere Spieloptionen be- Die Computerspielindustrie hat seit fast 20 Jahren
reit. In Staaten, in denen der Besitz von Computern durchgängig einen Zuwachs zu verzeichnen. Im
nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten ist, Jahr  2011 wurde weltweit ein Umsatz von 56 Mrd.
wird vor allem über Handys und in Spielhallen ge- US-Dollar erwirtschaftet, davon alleine in Deutsch-
spielt. land 1,99 Mrd. Euro. Geschäftsmodelle, die über
herunterladbare, zusätzliche Inhalte oder Abonne-
ment-Gebühren funktionieren, machen dabei knapp
Verbreitung 20  Prozent aus, Tendenz steigend. Dabei werden
Spiele zumeist von Entwicklungsstudios hergestellt
Laut einer Studie von Quandt et al. (2011) bezeich- und mittels größerer Distributoren vertrieben, die
nen sich in Deutschland 30 Prozent der Männer als auch das Marketing übernehmen.
regelmäßig Spielende, während es bei den Frauen Computerspiele haben sich entlang bestimmter
nur knapp 20 Prozent sind. Nach Alter differenziert, Produktionstechniken entwickelt. So korreliert die
sinkt die Anzahl an Spielenden von 67,1 Prozent der Erfindung moderner Strategiespiele mit den sich
10- bis 17-Jährigen bis hin zu 9,7 Prozent der über entwickelnden Datenbanksystemen. Computerspiele
65-Jährigen. Es ist davon auszugehen, dass die An- transformieren mitunter Anforderungen aus dem
zahl an Spielenden in den nächsten Jahren steigen Arbeitsleben in ludische Anforderungen (Pias 2000;
wird. In den Staaten Korea und Japan gelten Compu- Nohr 2008). Mittlerweile gibt es Ansätze in der Wirt-
terspiele bereits heute eher als selbstverständlicher schaft, ebenso Tätigkeiten im Arbeitsprozess durch
Teil des alltäglichen Lebens. Punkteverteilung einen spielerischen Charakter zu
Die obige Studie attestiert Frauen eine Präferenz verleihen. Dieser Prozess wird Gamification genannt.
für Spiele mit weniger Einarbeitungszeit, vor allem Auf einer anderen Ebene haben Rollenspiele, die
den als Casual Games vermarkteten Spielen, Männern auf einen langfristigen Ausbau eines virtuellen Cha-
hingegen eher für Spiele, die eine intensive Nutzung rakters ausgerichtet sind, zu einem Handeln mit ent-
voraussetzen, insbesondere Strategie-, Renn- und sprechenden Charakteren und Gegenständen ge-
Rollenspiele. Da Computerspiele als ›Spielzeug für führt. Als Konsequenz verbreitete sich beispiels-
Jungs‹ gelten, gibt es für weibliche Personen weniger weise das Goldfarming; d. h., manche Menschen
Raum des ungezwungenen Ausprobierens, was eine verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie virtuelle
gender-neutrale Verbreitung erschwert (Yee 2008). Charaktere zeitintensiv ›aufbauen‹ und zum Verkauf
Der Mythos des ›vereinsamten Spielers‹ lässt sich anbieten. Aufgrund der Angewiesenheit auf das
mittlerweile nicht mehr aufrechterhalten. Spielhal- hierdurch erworbene Geld ist dies aber kein Spielen
len, LAN-Partys, Computerspiele für Partys und im emphatischen Sinne.
Online-Spiele zeigten und zeigen die Bedeutung so-
zialer Interaktion für die Spielenden. Allerdings gel-
ten in der öffentlichen Diskussion virtuelle Bezie- Lernen durch Computerspiele
hungen weitestgehend als ›nicht-real‹, obwohl diese
Beziehungen sehr reale Konsequenzen haben. Spiele sind schon immer als Technik des Lehrens
In Deutschland ist seit 2008 der Bundesverband eingesetzt worden. Heute vermitteln Computer-
der Entwickler von Computerspielen Mitglied im spiele zumindest den Umgang mit dem Computer.
Deutschen Kulturrat, Computerspiele sind damit Die Forschung zum Game-Based Learning fragt
Kulturgut (Zimmermann/Geißler 2008). Neben den nach den Vermittlungsmöglichkeiten bestimmter
großen Spiele-Herstellern und -Distributoren eta- Inhalte durch Computerspiele (zum Überblick vgl.
bliert sich seit etlichen Jahren eine Independent- Breuer 2010). Der Einsatz von Computerspielen gilt
Szene, in der Einzelpersonen oder kleine Grup- aufgrund ihrer Verbreitung bei vielen Kindern und
pen gemeinsam Spiele herstellen, die andere Inhalte Jugendlichen als guter Einstieg, um sie für ein
und Spielfunktionalitäten thematisieren (Anthropy Thema zu gewinnen.
260 V. Technikfelder

Spiele beruhen auf Prinzipien, die für nachhalti- führt  – Vernachlässigung sozialer Beziehungen au-
ges Lernen als förderlich erachtet werden. So ent- ßerhalb des Spiels, Versäumnis beruflicher bzw.
scheiden Spieler selbst, wie sie angebotene Inhalte schulischer Aufgaben – lässt sich begründet von ei-
nutzen. Die Spielenden müssen aktiv und konstruk- ner Abhängigkeit sprechen (zum Überblick vgl. Fritz
tiv mit den Medieninhalten umgehen, um zu gewin- et al. 2011).
nen. Des Weiteren sind Spiele unterhaltend, weswe- Es ist immer noch unklar, ob ›Computerspiel-
gen sich längere Zeit mit ihnen auseinandergesetzt sucht‹ eine eigene Form von Abhängigkeit ist, oder
wird. Das intendierte Wissen wird deutlich besser als eine sekundäre Abhängigkeit als Ausdruck ande-
vermittelt, wenn es nicht auf einer narrativen Ebene rer, als pathologisch definierter Zustände auftritt.
verbleibt, sondern Teil der eigentlichen Spielhand- Insbesondere die Abgrenzung zur ›Internetsucht‹ –
lung wird (Gee 2007). deren Existenz ebenfalls umstritten ist – erweist sich
Während viele Action-Spiele vor allem die Hand- als schwierig. Die American Psychiatric Association
Augen-Koordination und die Reaktionsgeschwin- hat sich 2007 dagegen entschieden, ›Video Game
digkeit trainieren, vermitteln andere Spiele Einblicke Addiction‹ in ihren Katalog Diagnostic and Statisti-
in effizientes Wirtschaften, andere schließlich för- cal Manual of Mental Disorders (DSM) aufzuneh-
dern gar das kreative Gestalten oder die Selbstrefle- men, da die Ergebnisse nicht eindeutig sind.
xion. Sofern mit anderen Personen gespielt wird, Die Diagnosekriterien der ›Verhaltenssucht Com-
werden durch die Interaktionen meistens auch sozi- puterspielabhängigkeit‹ sind häufig angelehnt an die
ale Kompetenzen vermittelt. Entscheidend für die Kriterien zu Substanzabhängigkeit oder Glücks-
Kompetenzförderung ist die situative Einbettung. spielssucht. Das heißt, die Untersuchungen erfolgen
Mit einer kompetenten pädagogischen Begleitung anhand von Kriterienkatalogen, die mithilfe des
lassen sich bereits diverse Mainstream-Spiele sinn- DSM oder der International Classification of Diseases
voll im Unterricht einsetzen, Educational Games erstellt werden. Auf dieser Grundlage werden ab-
bzw. Serious Games werden hingegen gezielt für die hängigkeitsbezogene Gedanken, Verhaltensweisen
Vermittlung von Wissen entwickelt (Ritterfeld et al. und Konsequenzen überprüft.
2009). Umstritten ist die Nutzung von Computer- Forschende, die von der Existenz einer Sucht aus-
spielen für militärisches Training. gehen, attestieren je nach Methode <1 bis 8,5 Pro-
Spiele schaffen zudem Orte des Ausprobierens, die zent der untersuchten Personen pathologisches Spie-
schließlich eine Weltorientierung außerhalb des len, dabei sind mehr männliche als weibliche Perso-
Spiels ermöglichen. Allerdings bilden Medieninhalte nen betroffen. Die Anzahl gefährdeter Personen
nicht nur die Welt ab, sondern konstruieren sie auch wird auf 5 bis 13 Prozent geschätzt (Kuss/Griffiths
ein Stück weit (s. Kap. V.13). Die im Spiel verwende- 2012). Allerdings sind die Fallzahlen bei vielen Un-
ten Zeichen beanspruchen ihre Bedeutung aus ihrem tersuchungen eher gering, ihr Fokus meist auf Kin-
Kontext heraus. Daher wird die Vermittlung einer der und/oder Jugendliche gerichtet und ihre Reprä-
spezifischen Spiele-Lesekompetenz eingefordert, die sentativität daher unklar.
auch den sozio-historischen Kontext für die Spielen- Das Bildungsniveau gilt nicht als Faktor für eine
den verständlich macht. Spiele können gezielt ethi- Suchtherausbildung. Relevant ist insbesondere ein
sche Erfahrungen bieten, indem sie die Spielenden wenig reglementierter Zugang zu Medien im Allge-
mit moralischen Dilemmata konfrontieren oder ge- meinen und Computerspiele im Besonderen über ei-
nerell zur Selbstreflexion anregen (Zagal 2012). nen längeren Zeitraum. Computerspielsucht scheint
mit Schulangst und Konzentrationsdefiziten zu kor-
relieren. Zugleich werden abhängigen Personen aus-
Sucht geprägte kognitive Fähigkeiten und ein starkes Or-
ganisationstalent attestiert. Die hier ausgelebte sozi-
Zur Beurteilung von Computerspielsucht wird häu- ale Kompetenz wird aber nicht außerhalb des Spiels
fig auf das exzessive Spielen einzelner Personen ver- transferiert; den pathologisch Spielenden wird eher
wiesen. 11,2 Prozent der Spielenden im Alter von 14 eine fehlende Perspektivenübernahme zugeschrie-
bis 17 Jahren sind vielspielend, d. h. mehr als drei ben. Als Motivation gelten vor allem die Möglichkeit
Stunden am Tag (Quandt et al. 2011). Zur Beurtei- der Flucht vor Problemen sowie die Erfahrung von
lung einer Sucht sind Spielhäufigkeit und -dauer al- Macht und Kontrolle. Für die meisten als abhängig
lein jedoch keine aussagekräftigen Kriterien. Erst so- geltenden Personen sind Spiele eine wichtige Quelle
fern das Spielen zu problematischen Konsequenzen von Erfolgserlebnissen, sowohl durch das imma-
3. Computerspiele 261

nente Belohnungssystem als auch die Anerkennung len wird die virtuelle Ausübung physischer Gewalt
durch die Mitspielenden. Spielen wird zu einer me- gegen andere Figuren belohnt, teilweise ist dies die
dialen Bewältigungsstrategie, die von Frustration einzige Gewinnoption. Diese Handlungen werden
und Enttäuschung ablenken soll und bewusst zur durch die Narration legitimiert, da die Spielfigur
Stimmungsverbesserung eingesetzt wird (Fritz et al. sich meistens im Konflikt mit ›dem Anderen‹ befin-
2011, 205 ff.). det, und Gewalt als einzig mögliches Mittel der Kon-
Bei der Analyse der suchtfördernden Eigenschaf- fliktbewältigung verbleibt. In manchen Spielen wer-
ten einzelner Spiele wird entsprechend häufig das Be- den gewalttätige Handlungen in spezifischer Weise
lohnungssystem fokussiert, etwa die Möglichkeit ästhetisiert, etwa durch Zeitlupen-Modi oder wech-
schneller Erfolge, aufgabengebundene Entwicklung selnde Kameraperspektiven. Kritikpunkte sind ent-
von Charakteren sowie das Erringen und stetige Ver- sprechend die Verharmlosung oder Verherrlichung
bessern von High-Scores bzw. ›Errungenschaften‹/ von Gewalt.
›Achievements‹, sowie die Möglichkeit, dies der Ga- Im Unterschied zu anderen Medien funktioniert
ming Community mitzuteilen. Gamification setzt auf bei gewalthaltigen Spielen die Gewalt auf einer rein
diesen Prozess auf. Insbesondere Online-Spiele gelten symbolischen Ebene, die schlicht Gewinnen bzw.
für die Entwicklung von Abhängigkeiten geeignet. So Verlieren kennzeichnet. Andere verweisen auf die
spielen viele in festen Gemeinschaften (›Gilden‹, Konsequenzlosigkeit des Spiels – die den Spielenden
›Clans‹, ›Teams‹), deren Mitglieder im Spiel aufeinan- in der Regel bewusst ist – und sehen die Faszination
der angewiesen sind. Diese sozialen Verpflichtungen darin, an sich unmögliche Handlungen auszupro-
bauen entsprechend Druck auf; zugleich bilden sich bieren (Jahn-Sudmann/Schröder 2010).
Freundschaften aus (Fritz et al. 2011, 229 ff.). In On- Eine direkte und eindeutige kausale Verbindung
line-Spielen mit einer persistenten Welt entwickelt zwischen symbolischer Gewalt und gewalttätigen
sich diese auch ohne Zutun des Charakters weiter. Verhaltensweisen ist sehr schwer zu erfassen. Die
Hier entsteht zusätzlich die Angst, etwas Wichtiges zu psychologische Forschung kommt entsprechend zu
verpassen. Die Identifikation der Spielenden mit ih- unterschiedlichen Ergebnissen. Gängig ist die Mes-
ren Charakteren hat jedoch höchstens einen schwa- sung der Ausprägung von Aggressivität bei Spielen-
chen Einfluss auf die Suchtentwicklung. den gewalthaltiger Computerspiele in verschiedenen
Therapien finden sich in Selbsthilfe-Gruppen so- Forschungsdesigns (oft unter Labor-Bedingungen),
wie im Angebot verschiedener psychotherapeuti- auch wenn sich hieraus kein gewalttätiges Verhalten
scher Praxen. Spielende bleiben durchschnittlich ein ableiten lässt.
bis anderthalb Jahre in therapeutischer Beratung. Manche Meta-Analysen haben gezeigt, dass ge-
Problematisch ist die Abrechnung bei Krankenkas- walthaltige Spiele kurzfristig geringe bis mittelstarke
sen, da ›Computerspielsucht‹ nicht als eigenständige Effekte auf aggressive Emotionen, Kognitionen und
Krankheit anerkannt wird. Verhaltensweisen haben. Einige gehen davon aus,
dass bei einem wiederholten Umgang mit gewalthal-
tigen Computerspielen die aggressiveren Zustände
Gewalt als stabiler Teil in die Persönlichkeit der Spielenden
integriert werden, insbesondere bei Vielspielenden
Einige Computerspiele, insbesondere Shooter- (Anderson et al. 2010). In anderen Meta-Analysen
Spiele, werden in der öffentlichen Debatte als ›Killer- wurden derartige Ergebnisse nicht gefunden (Fer-
spiele‹ bezeichnet und als jugendgefährdend gewer- guson et al. 2010). Es bleibt umstritten, ob die Stei-
tet. Der Vorwurf der Jugendgefährdung ist bisher gerung aggressiven Verhaltens tatsächlich auf die
jedem Medium zu Beginn seiner Verbreitung wider- symbolische Gewalt zurückzuführen ist. So haben
fahren. Der Begriff ›Killerspiele‹ wird in der Wissen- etliche Studien die ludischen Spezifika ignoriert, ob-
schaft ob seiner Konnotationen weitestgehend abge- wohl eventuell Zeitdruck, Frustrationserlebnis oder
lehnt, stattdessen wird der Begriff ›gewalthaltige Realitätsnähe für die emotionale Erregung entschei-
Computerspiele‹ verwendet. dender sind.
Im Bezug auf Computerspiele meint ›Gewalt‹ In der BRD ist die Gewaltdarstellung ein Fall für
meist die Darstellung physischer Gewalttaten, an der den Jugendmedienschutz, gesichert durch Art. 6 Abs.
durch Spielhandlung partizipiert werden kann. Psy- 2 Satz 1 des Grundgesetzes sowie § 1 Abs. 1 des Kin-
chische oder strukturelle Gewalt spielen in dieser der- und Jugendhilfegesetz. 2003 wurden neue gesetz-
Diskussion selten eine Rolle. In den kritisierten Spie- liche Rahmenbedingungen erlassen, die auf das sich
262 V. Technikfelder

ändernde Medienangebot reagieren: das – 2008 ver- setzen. Generell scheint es sinnvoll, Kindern mehr
schärfte  – Jugendschutzgesetz des Bundes (JuSchG) Medienkompetenz zu lehren.
und der Staatsvertrag über den Schutz der Menschen- Die moralphilosophische Diskussion in der Ge-
würde und den Jugendschutz in Rundfunk und Tele- waltdebatte ist überschaubar. Das Töten der vom
medien der Länder (JMStV). Das JuSchG regelt den Computer gesteuerten Charaktere ist vor allem aus
Umgang mit Medieninhalten, etwa die vorgeschrie- tugendethischer Sicht umstritten. Hier werden unter
bene Alterskennzeichnung. Für diese zeichnet sich Umständen falsche Praxen eingeübt, die die Ausbil-
zunächst die von Unternehmen gestellte Unterhal- dung eines tugendhaften Selbst verhindern. Auf der
tungssoftware-Selbstkontrolle (USK) verantwortlich, anderen Seite bietet sich auch bei gewalthaltigen
hier sitzen Vertreter/innen der Länder, Kirchen, In- Spielen manchmal die Möglichkeit moralischer Re-
dustrie und Medienpädagog/innen. Sofern die USK flexion (Coeckelberg 2007; Sicart 2009). Deontolo-
die Kennzeichnung eines Spiels verweigert, entschei- gisch wird argumentiert (s. Kap. IV.B.5), dass die
det die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Me- vom Computer gesteuerten Charaktere keine mora-
dien. Diese darf ein Spiel indizieren; das heißt, sowohl lischen Entitäten sind, deren Tötung abzulehnen
Verkauf als auch Werbung an Minderjährige wird wäre; die Handlung sei entsprechend unproblema-
verboten. Die Maßgabe für die Indizierung ist, dass tisch. Utilitaristische Argumente (s. Kap. IV.B.4) be-
»Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und de- ruhen auf der Wahrscheinlichkeit, dass gewalthal-
tailliert dargestellt werden« und diese Spiele dadurch tige Spiele gewalttätiges Verhalten fördern (Wad-
»verrohend« wirken (JuSchG § 18 Abs. 1). dington 2007). Dem noch mangelnden Nachweis für
Zudem findet sich mit dem Pan-European Game diesen Zusammenhang wird ein behaupteter Nutzen
Information-System (PEGI) ein europaweiter Stan- gegenüber gestellt; eine gesicherte Position ist bisher
dard. Allerdings unterscheiden sich die europäi- nicht möglich. Es fällt schwer, Computerspiele auf-
schen Konzeptionen bestimmter Normen stark von- grund des möglichen Risikos von Gewaltförderung
einander, was das Verständnis der Kennzeichnungen stärker als bisher zu reglementieren, während eher
erschwert. Die Alterskennzeichnung ist jedoch nicht aggressive und physisch verletzende Aktivitäten wie
so effektiv wie gewünscht. Neben der Möglichkeit, Fußball gesellschaftlich gefördert werden (Schulzke
eine illegale Kopie des Spiels herunterzuladen, er- 2010).
halten viele durch nahe Bezugspersonen das ge- Auf der anderen Ebene steht die Auseinanderset-
wünschte Spiel, oft auch durch die Eltern selber. zung mit anderen Spielenden. Neben den allgemei-
Spiele stehen zudem aufgrund der Verbreitung nen Voraussetzungen eines akzeptablen Umgangs
gesellschaftlicher Diskriminierung im Fokus. So be- miteinander ist die Verbindung zwischen den Spie-
inhalten viele Spiele sexistische und rassistische Aus- lenden und ihren Charakteren relevant. Einige Spie-
sagen. Neben der allgemeinen Überrepräsentation lende haben starke Bindung zu ihren Charakteren
von weißen männlichen nicht-behinderten Perso- aufgebaut. Phänomene wie sexualisierte Gewalt ge-
nen mittleren Alters werden die minorisierten Per- gen diese schlägt sich auch auf die Spielenden nieder
sonen zudem häufig in stereotyper Form dargestellt. und sollten Sanktionen nach sich ziehen (Johansson
Hinzu kommt, dass diskriminierende Kommentare 2009).
durch andere Nutzende bei vielen Online-Spielen
üblich sind und nur selten Maßnahmen dagegen er-
Literatur
griffen werden. Einige weibliche Spielende nehmen
als Taktik in der virtuellen Umgebung männliche Anderson, Craig A./Shibuya, Akiko/Ihori, Nobuko/Swing,
Identitäten an, um seltener von sexuellen Übergrif- Edward L./Bushman, Brad J./Sakamoto, Akira/Roth-
fen betroffen zu werden (Yee 2008). Ideologische stein, Hannah R./Saleem, Muniba: Violent video game
Aussagen über gesellschaftliche kausale Zusammen- effects on aggression, empathy, and prosocial behavior
in Eastern and Western countries. A metaanalytic re-
hänge werden zudem in Algorithmen transformiert view. In: Psychological Bulletin 136/2 (2010), 151–173.
und dadurch vermittelt (Bogost 2007). Anthropy, Anna: Rise Of The Videogame Zinesters. How
Die Verantwortung (s. Kap. II.6) für die kritisier- Freaks, Normals, Amateurs, Dreamers, Dropouts, Queers,
ten Inhalte wird zumeist den Entwicklungsstudios Housewives and People Like You are Taking Back an Art
zugeschrieben. Diese verweisen auf die existierende Form. New York 2012.
Bogost, Ian: Persuasive Games. The Expressive Power of
Nachfrage bzw. die bestehende Alterskennzeich- Videogames. Cambridge, Mass./London 2007.
nung. Zudem wird von Eltern erwartet, dass sie sich Breuer, Johannes: Spielend lernen? Eine Bestandsaufnahme
mit dem Medienumgang ihrer Kinder auseinander- zum (Digital) Game-Based Learning. Düsseldorf 2010.
4. Endlagerung hochradioaktiver Abfälle 263

Coeckelbergh, Mark: Violent computer games, empathy, 4. Endlagerung hoch-


and cosmopolitanism. In: Ethics and Information Tech-
nology 9 (2007), 219–231. radioaktiver Abfälle
Ferguson, Christopher J./Olson, Cheryl K./Kutner, Law-
rence A./Warner, Dorothy E.: Violent video games,
catharsis seeking, bullying, and delinquency: A multiva- Die Einschätzung, Technik sei wertneutral, hat in
riate analysis of effects. In: Crime & Delinquency 20/10 den letzten Jahrzehnten auch durch die Nuklearde-
(2010), 1–20. batte ihre breite Unterstützung verloren. Die Nukle-
Fritz, Jürgen/Lampert, Claudia/Schmidt, Jan-Hinrik/Wit- ardebatte, zu der neben der Kernenergie (s. Kap.
ting, Tanja (Hg.): Kompetenzen und exzessive Nutzung
bei Computerspielern: Gefordert, gefördert, gefährdet. V.11) auch die nukleare Entsorgung gehört, wurde
Düsseldorf 2011. nicht nur hoch kontrovers, sondern auch in einer
Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach us About Weise geführt, bei der die Ethik neben energiewirt-
Learning and Literacy. New York/Hampshire 22007. schaftlichen, parteipolitischen und Standortfragen
Jahn-Sudmann, Andreas/Schröder, Arne: Überschreitun- ein eigener Topos wurde. Zahlreiche Positionierun-
gen im digitalen Spiel. Zur Faszination der ludischen
Gewalt. In: Peter Riedel (Hg.): ›Killerspiele‹  – Beiträge gen, Argumente und eine Reihe von Einzelthemen
zur Ästhetik virtueller Gewalt. AugenBlick. Marburger beziehen sich explizit auf Fragestellungen der Ethik.
Hefte zur Medienwissenschaft 46 (2010), 18–35. Die Verantwortung der Generation, die die Abfälle
Johansson, Marcus: Why unreal punishments in response verursacht hat und die die Folgen für zukünftige Ge-
to unreal crimes might actually be a really good thing. nerationen minimieren sollte, ist dabei wohl das
In: Ethics and Information Technology 11 (2009), 71–79.
Juul, Jesper: Half-Real. Video Games between Real Rules and prominenteste Thema. Nicht nur bei klassischen Ab-
Fictional Worlds. Cambridge, Mass./London 2005. fällen aus Haushalten oder Industriemüll (s. Kap.
Kuss, Daria J./Griffiths, Mark D.: Online gaming addiction IV.C.10), sondern auch bei Sonderformen wie hoch-
in children and adolescents: A review of empirical research. radioaktiven Abfällen gewann die Frage der Lang-
In: Journal of Behavioral Addictions 1/1 (2012), 1–20. zeitverantwortung für heute geschaffene proble-
Nohr, Rolf F.: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwin-
den des Gemachten im Computerspiel. Münster 2008.
matische Stoffe an Brisanz. Das Abwägen von Be-
Pias, Claus: Computer Spiel Welten (2000). In: http://e-pub. lastungen, die durch getroffene soziotechnische
uni-weimar.de/opus4/frontdoor/index/index/docId/35 Entscheidungen wie Zwischenlagerung und ver-
(22.04.2013). schiedene Formen der Endlagerung entstehen oder
Quandt, Thorsten/Festl, Ruth/Scharkow, Michael: Digita- entstehen können, fordern die breite Verständigung
les Spielen – Medienunterhaltung im Mainstream.
über Regeln und Normen.
GameStat 2011: Repräsentativbefragung zum Compu-
ter- und Konsolenspielen in Deutschland. In: Media Per-
spektiven 9 (2011), 414–422.
Ritterfeld, Ute/Cody, Michael J./Vorderer, Peter (Hg.): Seri- Ethik und die doppelte Komplexität
ous Games: Mechanisms and Effects. New York/London von Nuklearabfällen
2009.
Schulzke, Marcus: Defending the morality of violent video
games. In: Ethics and Information Technology 12/2 Technikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4) zur nuklea-
(2010), 127–138. ren Entsorgung stellt die gesellschaftliche Kontro-
Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. Cambridge, verse um die Errichtung eines sicheren Endlagers
Mass./London 2009. insbesondere für hochradioaktive Abfälle in das
Waddington, David I.: Locating the wrongness in ultra-vio-
Zentrum. Dabei versteht sie das Problem als doppelt
lent video games. In: Ethics And Information Technology
9 (2007), 121–128. komplex: einerseits als technisch-konzeptionelle He-
Yee, Nick: Maps of digital desires. Exploring the topogra- rausforderung bei der Suche nach einem Ort für die
phy of gender and play in online games. In: Yasmin B. Deponierung (z. B. mit oder ohne Rückholbarkeit
Kafai/Carrie Heeter/Jill Denner/Jennifer Y. Sun (Hg.): der Abfälle), andererseits angesichts komplexer sozi-
Beyond Barbie® & Mortal Kombat. New Perspectives on aler Verwerfungen unterschiedlicher Stärke als Her-
Gender and Gaming. Cambridge, Mass./London 2008,
83–96. ausforderung an die adäquate soziale Einbettung ei-
Zagal, José: Encouraging Ethical Reflection with Video- ner Standortsuche und den konkreten Bau eines
games. In: Ders. (Hg.): The Videogame Ethics Reader. Endlagers. Was in einigen Ländern (wie Finnland
San Diego, CA 2012, 67–82. oder Schweden) bisher weitgehend konfliktfrei gere-
Zimmermann, Olaf/Geißler, Theo (Hg.): Streitfall Compu- gelt werden konnte, führte in anderen Ländern (wie
terspiele. Computerspiele zwischen kultureller Bildung,
Kunstfreiheit und Jugendschutz. Berlin 22008. Deutschland oder der Schweiz) zu massiven innen-
politischen Konflikten. Ansätze des modernen Re-
Simon Ledder
gierens mit nennenswerter Bürgerbeteiligung sollen
264 V. Technikfelder

aktuell diese Auseinandersetzungen im Konfliktni- Da die Zeiträume für die Entsorgungssicherheit


veau reduzieren und zu einem nationalen ›Konsens‹ mehr als fünfstellige Jahreszahlen umfassen, stellt
führen. Was in diesem Fall die Antwort auf die Frage die Endlagerung extrem ungewöhnliche Anforde-
nach dem ›guten Leben‹ als einer Kernfrage der rungen an alle Entscheidungsträger. Die For-
Ethik ist (s. Kap. IV.B.8), erscheint dabei alles andere schungslage zu den ethischen Problemstellungen,
als klar, sondern ist durch Auseinandersetzungen die durch diese Zeitspannen entstehen, ist ausge-
und Dissens geprägt. Zugespitzt lassen sich bedeut- sprochen disparat. Eine Reihe von kleineren Veröf-
same ethische Problemstellungen an den ›hochra- fentlichungen und ein längeres Buchkapitel liegen
dioaktiven‹ Abfällen zeigen. vor und sind untereinander nur schwach verknüpft.
Zu charakterisieren sind hochradioaktive in Ab- Häufig sind es auch nur kleinteilig ausgearbeitete
grenzung zu schwach- und mittelradioaktiven Ab- Abhandlungen, die einem sorgfältigen Abwägen der
fällen durch das hohe Maß an radioaktiver Belas- verschiedenen Argumente nicht gerecht werden und
tung, das von ihnen ausgeht (Bracke 2012, 145 f.). daher als wissenschaftlich-ethisch unterkomplex
Während schwach- und mittelaktive Abfälle auch in einzustufen sind. Vor diesem Hintergrund ist es hilf-
der Medizin, der Industrie und in der Forschung an- reich, die vorliegenden Positionen von Streffer et al.,
fallen, stehen hochradioaktive Abfälle zu einem sehr zu denen auch der Philosoph Carl Friedrich Geth-
hohen Prozentsatz mit der Produktion von Strom in mann gehört, mit den Positionen von Robert Spae-
Kernreaktoren in Verbindung. Es handelt sich dabei mann zu kontrastieren, um anschließend Herausfor-
primär um Brennstäbe, die nach ihrer Nutzung in derungen für die ethische Debatte zu formulieren.
Reaktoren direkt endgelagert werden sollen, oder
Materialien und chemische Lösungen, die durch die
Weiterverarbeitung abgebrannter Brennstäbe ent- Problemlösung –
standen. Je nach Abfallkategorie sind für die Sicher- gedacht in normativer Ethik
heit Zeiträume von mehreren 10.000 bis zu 1 Mio.
Jahren zu betrachten (ebd.; BFE 2012). Diese Mate- Die Übernahme von Verantwortung für sehr lange
rialien müssen aufgrund ihrer radiologischen und Zeiträume ist bei Streffer et al. das Kernproblem bei
z. T. chemotoxischen Eigenschaften von Mensch und der Handhabung hochradioaktiver Abfälle. Sie be-
Umwelt isoliert werden. Gerade angesichts der an- ziehen sich auf Immanuel Kant sowie die Idee der
haltenden Kritik an vorwiegend technologisch- Aufklärung (Streffer et al. 2011, 237 f.). Die zu er-
orientierten Lösungsvorschlägen und der Ausblen- bringende philosophisch-ethische Leistung soll un-
dung notwendiger Verfahren der Konsensbildung abhängig von gesellschaftlicher und politischer Re-
werden ethisch-normative Positionierungen, Ver- sonanz geleistet werden (ebd., 234). Entsprechend
antwortungsfragen und Risikoeinschätzungen im- werden die Konsequenzen von Handlungen und die
mer wieder zum Streitpunkt. damit zusammenhängende Vernünftigkeit von Kos-
Die argumentative Auseinandersetzung um ange- ten und/oder Risiken der Verteilung der damit sach-
messene und belastbare ethische Argumente wird lich zusammenhängenden Nebenfolgen diskutiert.
immer wieder im Kontext von Versuchen ins Spiel Der Dissens, der  – insbesondere in Deutschland  –
gebracht, die hochpolitisierte und kontroverse dem Konflikt um die Endlagerung zugrunde liegt,
Endlager-Debatte zu ›schließen‹. Für eine Reihe von soll innerhalb einer ethischen Abwägung vor dem
Akteuren wie z. B. Regierungsorganisationen oder Hintergrund formulierter Claims (Geltungsansprü-
Stakeholdern sind dabei lineare Vorstellungen der che) rekonstruiert werden. Für die Prüfung der Gel-
Problemreduktion erkennbar (vgl. Boetsch 2003, 3 tungsansprüche wird der Kategorische Imperativ he-
oder Birnbacher et al. 2006), die von vielen Ethikern rangezogen (s. Kap. IV.B.5), dass nämlich individuell
zurückgewiesen werden: Ethik kann auch hier keine guter Wille dahingehend geprüft werden soll, ob
normativen Kriterien generieren, die – wie in der dieser als Maxime eines allgemeinen Gesetzes gelten
numerischen Sicherheitsanalyse zu Risikoanlagen – könne (Streffer et al. 2011, 238).
dazu führen, dass sich selbst steuernde Mechanis- Es geht also um einen besonderen Typ der Quali-
men für moralisch richtiges Entscheiden in Gang ge- fikation von claims im Sinne eines argumentativ be-
setzt werden. Ethik ist auch hier keine Zensur-Be- haupteten Anspruchs, nicht um einen moralisch
hörde und kein Wegweiser (vgl. Streffer et al. 2011, qualifizierten Typ von Handlung (Streffer et al. 2011,
236) und bringt nicht per se höhere Rationalität in 237). In diesem Sinne müssen claims sich als univer-
kontroverse Fachdebatten. sell erweisen und das Erfüllen der »Verpflichtungen«
4. Endlagerung hochradioaktiver Abfälle 265

ermöglichen, die durch die unmittelbare Verantwor- terschaft) reichen (ebd., 255). Dies spiele auch beim
tung für Abfälle entstehen, die selbst wiederum Umgang mit Langzeitverpflichtungen eine Rolle und
durch die aktuelle bzw. die aktuell möglicherweise müsse berücksichtigen, dass unsere Wissensbe-
nur in Deutschland auslaufende Kernkraftnutzung stände gegenüber zukünftigen Generation und da-
entstehen. Bei der Prüfung der dabei wichtigen mit auch gegenüber der Zukunft im Allgemeinen als
claims werden drei »Missverständnisse« benannt: die Kurve mit kontinuierlich absteigendem Niveau zu
»unmittelbare Handlungsnotwendigkeit«, das Ar- begreifen seien (ebd.).
gument der »Fairness« und das Prinzip »Der-Verur- Wie mit diesem komplexen Verhältnis von Ver-
sacher-zahlt!« (ebd., 243–246). pflichtungen und Wissensbeständen umzugehen ist,
Die »unmittelbare Handlungsnotwendigkeit« wird von Streffer et al. als Verhältnis von checks and
wird von Streffer et al. im Kern zurückgewiesen, da balances eingeführt, die allerdings weder auf indivi-
unmittelbare Handlungsnotwendigkeiten nur in dueller, noch auf kollektiver Ebene erläutert werden.
Notfallsituationen vorliegen. Diese sei bei der Ent- Ein spezifisches Zuweisen von Kompetenzen ist da-
sorgung hochradioaktiver Abfälle nicht gegeben; bei leitend. Für Streffer et al. muss zwischen »kogni-
dies wird verknüpft mit der Einschätzung, dass Zeit tiver« und »evaluativer Kompetenz« unterschieden
für eine gründliche Inspektion der Problemlage und werden. Wissenschaft sei trotz ihrer hochgradig
ein Vergleich der Optionen durchaus vorhanden sei. systematisierten und faktenorientierten Wissens-
»Fairness« wird als Tauschhandeln zwischen Belas- bestände nicht mit einer primär evaluativen Kom-
tungen und Vorteilen verstanden und damit nicht petenz ausgestattet (ebd., 258). Diese spezifisch eva-
mit Normen angereichert, sondern formalisiert und luative Kompetenz besäßen dagegen die Bürger,
dekontextualisiert; Kompensationsstrategien seien während – wie die Vergangenheit zeige – klassische
entsprechend neutral gegen kurative oder präventive demokratische Institutionen oft nicht in der Lage
Strategien abzuwägen. Die prinzipielle Kostenüber- seien, den Willen der Bürger auszuführen. Streffer et
nahme durch den Abfallverursacher wird dagegen al. zeigen sich aber auch skeptisch, ob das Indivi-
getrennt von der Verpflichtung, alle Verantwortung duum weiß, was gut für es ist. Sie verstehen den kol-
zu übernehmen. Die »availability of skills and re- lektiven Prozess von Interessenartikulation und In-
sources, rather than the boundaries between nations teressenaggregation in demokratischen Gesellschaf-
and generations must be fulfilled as the relevant fac- ten als einen überbewerteten Aspekt, da der sich
tors for the adaequate fulfilment of long-term obli- selbst herausfilternde Wille des Volkes von allein sei-
gations« (ebd., 245). Zeitliche und räumliche Gren- nen Pfad finde, auch hier mit Referenz auf Kant (vgl.
zen scheinen bloß als historische Kontingenzen und ebd., 263). Entsprechend fehlt der eindeutige Beleg
nicht als Notwendigkeiten. Arbeitsteilungen zwi- ausreichend vorhandener bürgerschaftlicher Kom-
schen Generationen und Nationen lägen nahe. petenz.
Die Verantwortung für lange Zeiträume ist bei
der Autorengruppe jedoch kein Thema intergenera-
tioneller Gerechtigkeit (ebd., 247–253); letztere wird Die Gegenrede Robert Spaemanns
in Abgrenzung von Max Weber und Hans Jonas (s.
Kap. IV.B.2) als Überziehen des Begriffs der Verant- Die Position von Robert Spaemann, die sich von der
wortung eingestuft. Vielmehr gelte es, eine Ver- von Streffer et al. sowohl vom Entstehungskontext
pflichtung für ausgesprochen lange Zeiträume zu als auch vom Grad der Ausarbeitung unterscheidet
entwickeln und dabei diese Langzeitverpflichtung (hier im Kern ein transkribierter Vortrag, dort eine
mit der Frage nach den relevanten Generationen ab- Monografie einer Autorengruppe), besitzt aber auch
wägend zu verknüpfen (Streffer et al. 2011, 250 f.). mit Streffer et al. eine Gemeinsamkeit: die Möglich-
Über die Unterscheidung von universeller und da- keit unterschiedlicher Nähe verschiedener Generati-
mit unbegrenzter Geltung einerseits und einem un- onen zueinander. Auch wenn die Textstellen, die bei
terschiedlichen Maß bindender Kraft (binding force) Spaemann direkt zur nuklearen Entsorgung zu fin-
andererseits, die abnimmt mit räumlicher, sozialer den sind, tendenziell essayistischen Charakter besit-
und zeitlicher Distanz, sei dann die ethisch plausible zen, zeigen sie sowohl konzeptionell als auch in ih-
Entscheidung zu fällen (ebd., 254). Dafür seien Modi rem Angelpunkt, also in Menschenbild und der hu-
moralischer Arbeitsteilung vorhanden, die von be- manen Urteilskraft, einen spezifischen Unterschied,
rufsbezogener Kompetenz über Delegation, Reprä- der sich auf die Rolle von Wissenschaftlern, Exper-
sentation bis zur Antizipation (in Form einer Wäch- ten und Bürgern bezieht.
266 V. Technikfelder

Die Annahme der Wahlmöglichkeit zwischen imaginierten Diskurs und können am Ende tun, was
verschiedenen ethisch-moralischen Gesichtspunk- uns beliebt« (ebd.).
ten ist nach Spaemann schief und führe zu der irri- Damit weist Spaemann den allgemeinen »Ver-
gen Annahme, Ethik sei Meinungssache. Um ein pflichtungen« gegenüber künftigen Generationen –
moralisches Projekt durchzuführen, sei vielmehr mit einer gewissen Nähe zur Thematisierung des
»Ethos« notwendig (Spaemann 2003, 27). »Das Generationenthemas bei Streffer et al. – eine beson-
Ethos beschränkt Zwecke und schränkt uns bei der dere Bedeutung zu. Dies geschieht jedoch mit einer
Verfolgung unserer Zwecke ein. Es wird korrum- spezifischen Differenz in Bezug auf die Stellung des
piert, wenn es selbst unter zweckrationalem Ge- Humanums. Er unterscheidet zwischen »sehr fer-
sichtspunkt gewählt oder entworfen wird  – auch nen« und »künftigen Generationen«. Aus seiner
wenn der Zweck z. B. heißt: Frieden« (ebd.). Unter Sicht muss in besonderer Weise auf die Generatio-
Bezug auf Kant (wie Streffer et al.) wird allerdings nen der nächsten Jahrhunderte Rücksicht genom-
nicht die Verpflichtung, sondern das Konzept der men werden, da sie unter Umständen von allen Res-
»Achtung« und »Menschenwürde« in den Mittel- sourcen (inkl. den fossilen) vielleicht einen qualita-
punkt gestellt: »Sie [Personen] sind Selbstzwecke tiv viel besseren Gebrauch machen könnten als wir.
und haben Anspruch nicht auf Wertschätzung son- Sie hätten also ein Recht auf unsere Sparsamkeit und
dern auf Achtung« (Spaemann 2003, 29). Daher unsere gute Klimaschutzpolitik. Entsprechend habe
müssten z. B. bei der nuklearen Entsorgung die »Le- unsere Generation kein Recht, nachfolgenden einen
bensinteressen« künftiger Menschen in besonderer status quo minus zu hinterlassen. Nukleare Abfälle
Weise bedacht werden. werden  – so Spaemann  – von einem Paradox cha-
Spaemann argumentiert an dieser Stelle mit einer rakterisiert: Die Langzeitwirkungen sind völlig un-
Analogie, die im ersten Moment erstaunt, aber seine proportional zu den normalen Langzeitwirkungen
Grundposition verdeutlicht: Angesichts generell menschlichen Handelns und gleichzeitig ein Eingriff
knapper medizinischer Ressourcen auch in Wohl- in die physikalische Infrastruktur des Lebens, dessen
standsgesellschaften muss immer gefragt werden, Folgen allen Wandel menschlicher Kulturen und Le-
was der Mensch darf. Darf er z. B. trotz des Selbst- bensformen überdauere (Spaemann 2003, 34). Das
zweckcharakters der Person Menschen in Gruppen Schaffen nuklearen Abfalls sei eine Veränderung, die
einteilen, die medizinisch unterschiedlich vorrangig sich jeder Integration in neue zivilisatorische Kon-
versorgt werden, um (Über-)Lebensinteressen zu si- texte entziehe (ebd.). Falls die geologische Konstanz
chern? Da es bei der nuklearen Entsorgung ebenfalls in der Umgebung der Endlager nicht gegeben sei,
um die Lebensinteressen von Menschen geht, wird könnten Menschen direkt getötet werden. Gewiss-
eine Analogie hergestellt, in der Abwägungen über heit, die das Nichteintreten dieser Fälle vermeintlich
Werte gerade nicht das zentrale Kriterium sind. garantiere, werde aus Analogieschlüssen abgeleitet,
»Das moralische Problem besteht [bei der Endlage- die auch in die Irre führen können.
rung] darin, dass im Interesse der gegenwärtigen Vielfach werde Sicherheit durch die Vorstellung
Generation eine Gefahrenquelle in unserem Erdbo- gewonnen, dass man bisher für jedes aktuelle Pro-
den versenkt wird, die das Leben sehr viel später le- blem noch immer eine Lösung gefunden habe. Da-
bender künftiger Generationen bedroht« (Spae- von sei aber nicht selbstredend auszugehen. Eine
mann 2003, 29). Spaemanns Antwort auf die Frage Diskontierung später anfallender Kosten wäre bei
»Dürfen wir das?« ist verhalten kritisch. Insbeson- Nuklearabfällen ebenso wie bei genetischen Eingrif-
dere lehnt er in diesem Zusammenhang die Diskurs- fen nicht möglich. Es gebe keinen Wertverlust durch
ethik ab (ebd., 28–30; s. Kap. IV.B.6). Sein Schlüssel- die Zeit (Spaemann 2003, 35). Was bei der Entsor-
argument lautet, dass zukünftige Generationen le- gungsproblematik anzutreffen sei, wäre die in der
diglich virtuelle Diskurspartner wären, aber die Scholastik beschriebene »perplexe Situation« (und
»Gegenseitigkeit« und somit die unmittelbare inter- in keinem Fall ein Umstand der Tragik), »das Rich-
aktive Kommunikation fehle. Diese zukünftigen tige« wäre durch frühere falsche Entscheidungen
Diskurspartner können sich nur »ein Urteil später nicht mehr möglich. Aber es gebe noch das bessere
bilden über das, was wir ihnen gegeben und was wir und das schlechtere Vorgehen angesichts des Pro-
ihnen genommen haben« (Spaemann 2003, 31). Der blems hochaktiven Abfalls. Die Reflexion habe sich
fiktive Diskurs, den wir mit ihnen heute führen kön- mit der Frage zu beschäftigen, was unter einem gu-
nen, sei alles andere als herrschaftsfrei: »[…] wir ha- ten Leben zu verstehen ist (ebd. 2003, 36) und wäre
ben die vollständige Herrschaft über den von uns damit unmittelbar eine Frage der Moral.
4. Endlagerung hochradioaktiver Abfälle 267

Zivilität als notwendiges Kriterium? tiven Abfallmenge) – die bereits von Kalinowski et
al. (1999) vorgeschlagen wurde, die aktuell verstärkt
In der Gesamtschau werden zwischen Streffer et al. Aufmerksamkeit erlebt und möglicherweise groß-
und Robert Spaemann, die sich beide explizit auf technisch in einigen Jahrzehnten realisierbar sein
die  Endlagerung beziehen, auffallende Differenzen wird – wird die Herkules-Aufgabe der notwendigen
sichtbar, die die ethische Reflexion in diesem Tech- humanen und gleichzeitigen zivilen Problemlösung
nikfeld strukturieren. Während bei Streffer et al. in- nicht gerade erleichtert.
nerhalb der normativen Ethik unter Bezug auf Kants Die spezifische Unterkomplexität, die in beiden
Kategorischen Imperativ die Suche nach universel- einschlägigen Positionen festzustellen ist, bezieht
len Normen im Vordergrund steht, hält Spaemann sich vielmehr auf die schwache Reflexion der Kon-
dem eine andere Grundüberlegung entgegen, bei der zepte von kollektivem »Handeln« und kollektivem
er sich an der Totalität des Lebens sowie einem un- »Entscheiden« unter Bedingungen von Öffentlich-
modernen, aber faszinierenden Konzept von »Ach- keit und Demokratie. Demokratie meint hier, dass
tung« und »menschlicher Gemeinschaft« orientiert. Entscheiden in fast allen entwickelten Industrielän-
Während die Referenz auf Aufklärung bei Streffer et dern mit Endlager-Vorhaben ein (gesellschafts-)po-
al. die besondere Rolle von Wissenschaft und die litisches Thema ist, bei dem nicht nur eine robuste
evaluative Kompetenz von Bürgern der analytisch und auch ethisch belastbare Entscheidung getroffen
überlegenen, weil kognitiven Kompetenz von Wis- werden soll, sondern auch die Balancen und Ab-
senschaftlern gegenüberstellt, ist bei Spaemann das stimmungsmodi reflektiert werden, die bei kollekti-
Ethos zentral. Von diesem Ethos hat für ihn die Re- ven demokratischen Entscheidungen stattfinden
flexion der Folgen menschlichen Handelns unter und plausibel sind. Speziell dafür sind die auf das
dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschen- Humanum ausgerichtete Position von Spaemann
würde auszugehen. Dies ist einerseits eine Perspek- ebenso wie die wissenschaftszentrierte und auf ko-
tive, die menschliche Handlungsfolgen zwischen be- gnitive Prozesse der Wissensgenese abgestellte Posi-
grenzten menschlichen Wirkungsräumen und den tion von Streffer et al. (und an anderer Stelle auch
Großstrukturen der Evolution einordnet. Gleichzei- von Gethmann) nicht genügend ausgearbeitet, um
tig wird aber andererseits auch eine menschliche Fä- Abwägungen und Klärungen voranzutreiben (Geth-
higkeit hervorgehoben, die es ihm erlaubt, mit allen mann 2008, 10).
Menschen und Generationen in »Freundschaft« zu- Zur Reflexion der kollektiven Modi und Abstim-
sammenzuleben und Interessengegensätze durch mungsmechanismen gehören die problemorien-
Sympathie für das Gegenüber mit seinen Interessen tierte Interpretation der Verfahren des zivilen Dia-
aufzulösen (Spaemann 2009). Sie wird getragen von logs (s. Kap. VI.5) und Modi der Aggregation von
einer Vorstellung des Humanums, in dem der Ein- Interessen (vgl. dazu auch Spaemann 2009, 46–59),
zelne ausgestattet ist mit natürlicher Nächstenliebe die als Formen kollektiven Handelns bei Streitfragen
und dem Bedürfnis, gemeinsam mit allen aktuellen der eigentlichen Entscheidung vorausgehen, ethi-
und künftigen Generationen ein glückliches Leben sche Reflexionen einzubinden haben und bei Un-
jenseits von Sachzwängen zu führen  – auch ange- terthemen mit Dissens auf Kompromisse abzustellen
sichts einmal getroffener Entscheidungen. Diese sind (zur Bedeutung von Kompromissen vgl. Sutor
Vorstellung ist als ziviles Potenzial und als Zivilität 1997, 61 ff.). So ist die Öffentlichkeit einer moder-
umsetzbar. nen und demokratischen Industriegesellschaft
Wie dieses zivilisatorische Potenzial zu aktivieren gleichzeitig Ort der Meinungsbildung und Wissens-
wäre, wird in den beiden hier referierten Grundposi- genese wie auch des Entstehens kollektiver Prozesse
tionen nicht ausführlich reflektiert. Streffer et al. set- der Vorbereitung von Entscheidungen, die durch
zen auf das Finden des richtigen Pfades – vermutlich spezielle Institutionen (wie Regierungsorganisatio-
getragen von einer sich selbst steuernden unsichtba- nen) mandatiert kollektiv verbindliche Entschei-
ren Hand, die Belastungen und Vorteile naturalis- dungen wie die der Standortauswahl und der Um-
tisch verteilt. Durch die Erweiterung der Hand- setzung der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle
lungsoptionen geologischer Tiefenlagerung (mit un- herstellen  – Entscheidungen, die durch öffentliche
terschiedlichen Konzeptes des Monitorings und Kritik, aber auch durch Debatten in unterschiedli-
Reagierens in verschiedenen Zeitphasen) und durch chen Arenen mit ihren jeweiligen Filtern einer mul-
Hinzunahme von technischen Optionen wie die der tiplen Bearbeitung und Prüfung unterzogen werden
Transmutation (als Verkleinerung der hochradioak- (Peters 2007; Habermas 1998, Kap.7).
268 V. Technikfelder

Armin Grunwald betont unter Gesichtspunkten Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit [1994]. In:
von Verfahrensgerechtigkeit und intergenerationel- Ders.: Der Sinn von Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 2007,
55–102.
ler Lastenverteilung, dass gerade die Klärung der
Spaemann, Robert: Ethische Aspekte der Endlagerung. In:
Deponierung hochradioaktiver Abfälle unter Be- Bruno Baltes (Hg.): Ethische Aspekte der Endlagerung.
dingungen von argumentativer Kommunikation Bonn 2003, 25–36.
und Information zu geschehen hat (Grunwald 2010, – : Moralische Grundbegriffe. München 82009.
82). Dazu bedarf es eines zivilen Prozesses, der ei- – : Nach uns die Kern-Schmelze Stuttgart 2011.
nen Austausch von Informationen, Meinungen und Streffer, Christian/Gethmann, Carl Friedrich/Kamp, Georg/
Kröger, Wolfgang/Rehbinder, Eckhard/Renn, Ortwin:
Gruppeninteressen ins Zentrum stellt, diese Pro- Radioactive Waste. Technical and Normative Aspects of its
zesse aber auch strukturiert und fördert sowie Disposal. Berlin 2011.
gleichzeitig Standards für eine qualitativ hochwer- Sutor, Bernhard: Kleine politische Ethik. Bonn 1997.
tige Problemlösung einführt (ebd.). Dies schließt Peter Hocke
für ihn wechselseitiges Beraten und die interaktive
Suche nach Konfliktlösungen ein, und bedeutet
mehr, als die innerwissenschaftliche Suche nach re-
levanten Fakten und sicheren Aussagen. Vielmehr
wäre darunter ein gesellschaftlicher Prozess zu ver-
stehen, in dem u. a. ethische und moralische Argu-
mente im Dialog auf den argumentativen Prüfstand
gestellt und systematisch Bezüge zwischen Positio-
nen und Argumenten hergestellt werden; diese wür-
den dann den Bürgern und ihren Repräsentanten
zur Evaluation vorgelegt. Insgesamt mag dies uto-
pisch erscheinen und unter diesem Niveau vermut-
lich in selbstbewussten Zivilgesellschaften nicht zu
leisten sein.

Literatur
BFE – Bundesamt für Energie (2012): Abfallkategorien. In:
http://www.bfe.admin.ch/radioaktiveabfaelle/01274/
01280/01284/index.html?lang=de (03.08.2012).
Birnbacher, Dieter/Gelfort, Eike/Schwager, Jörg/Schwarz,
Dietrich/Tietze, Alfons: Ethik und Kernenergie. Düssel-
dorf 2006.
Boetsch, Wilma: Ethische Aspekte bei der Endlagerung ra-
dioaktiver Abfälle. Abschlussbericht. Bonn 2003.
Bracke, Guido: Aspects of final disposal of radioactive
waste in Germany. In: Turkish Journal of Earth Sciences
21 (2012), 145–152.
Gethmann, Carl Friedrich: Wer ist der Adressat der Lang-
zeitverpflichtung? In: Ders./Jürgen Mittelstrass (Hg.):
Langzeitverantwortung. Ethik, Technik, Ökologie. Darm-
stadt 2008, 10–22.
Grunwald, Armin: Ethische Anforderungen an nukleare
Endlager. Der ethische Diskurs und seine Voraussetzun-
gen. In: Peter Hocke/Georg Arens (Hg.): Die Endlage-
rung hochradioaktiver Abfälle. Tagungsdokumentation
zum »Internationalen Endlagersymposium Berlin 2008«.
Karlsruhe 2010, 73–84.
Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.
1998.
Kalinowski, Martin/Borcherding, Katrin/Bender, Wolf-
gang: Die Langfristlagerung hochradioaktiver Abfälle
als Aufgabe ethischer Urteilsbildung. In: ETHICA 7/1
(1999), 7–28 (Teil 1+2), und 7/2 (1999), 115–142 (Teil 3).
269

5. Energie gieerzeugung sowie der Aufbau einer massenhafte


Durchflüsse gewährleistenden Transportinfrastruk-
tur können dabei nicht nur einen erheblichen Kom-
Hintergründe und Voraussetzungen fort- und Effizienzgewinn für den Verbraucher bie-
ten. Sie gleichen auch standortliche, aufgrund der
Energien können immer nur umgewandelt, nicht natürlichen Voraussetzungen gegebene Vor- und
aber ›erzeugt‹ oder ›verbraucht‹ werden (Energieer- Nachteile aus. Energieverfügbarkeit wird in zuneh-
haltungssatz). Nicht in jeder Form aber ist Energie mendem Maße losgelöst von Grund- und Kapitalbe-
für den Menschen auf kontrollierte Weise nutzbar, sitz, der Verfügbarkeit von tierischer Arbeitskraft
sondern muss, wo sie nicht ›von Natur aus‹ in geeig- und technischen Produktionsmitteln. Zusätzlich
neter Form vorliegt, durch gezielte Umwandlung zur sinkt tendenziell die Arbeitsleistung, die ein Ver-
Nutzung bereitgestellt werden. Mit Energieerzeu- braucher für den Gegenwert einer Einheit Energie
gung ist dann die Umwandlung der natürlich vorlie- aufwenden muss.
genden Energie (Primärenergie) in eine vom Men- Die Entwicklung lässt die Produktivität und da-
schen nutzbare Form (Endenergie) gemeint, im sog. mit den Wohlstand, zugleich aber auch den Pro-
Energieverbrauch mündet entsprechend der mitun- Kopf-Energie-Verbrauch steigen. Nicht unabhängig
ter mehrgliedrige Umwandlungsprozess in Energie- von dieser Entwicklung setzte in den westlichen Zi-
formen wie Bewegung, Wärme, Licht etc. (sog. Nutz- vilisationen in den letzten Jahrhunderten ein erheb-
energie), die der Nutzer für seine Zwecke einsetzen liches Bevölkerungswachstum ein – das dann seiner-
kann. Natürliche Energievorkommen, die zur Ener- seits für eine nochmals gesteigerte Nachfrage nach
gieerzeugung eingesetzt werden können, werden als Nutzenergie verantwortlich ist. Unter steigendem
Energieressourcen zusammengefasst. Menschheits- Effizienzdruck konzentriert man sich in der Folge
geschichtlich kommt dabei den in Energieträgern, in auf wenige Primärenergieträger und die jeweils spe-
Materialien mit konzentriertem Energiegehalt ge- zifischen Techniken zur Erzeugung und zum Trans-
bundenen Ressourcen, eine herausragende Bedeu- port der Energie. Auf der Ressourcenseite spielen
tung zu, weil sie ›portioniert‹, transportiert, bevorra- dabei seit Beginn der Industrialisierung die fossilen
tet und dosiert eingesetzt und nicht zuletzt auch Ge- Energieträger Kohle, Öl, Gas und seit den 1960er
genstand von Eigentumsrechten werden können. Jahren auch die Kernkraft die mit Abstand bedeu-
Erst in späteren technischen Entwicklungsstufen tendste Rolle. Endenergie wird v. a. durch Zuleitung
wird auch der Transport von Energie in Form von von Strom aus zentralen Kraftwerken oder von Gas
Bewegung, Wärme, Licht oder Elektrizität mit un- (insbesondere für Wohnraum-Heizung) und Erdöl-
terschiedlichen Reichweiten möglich. Mittels spezi- Raffinaten (Heizung, Fahrzeuge) gewonnen.
fischer Übertragungs-Infrastrukturen wird dabei die Die Konzentration auf wenige Energieträger und
Energie direkt zum Verbraucher transportiert und deren intensivierte Nutzung, aber auch die gewach-
dort unter Verwendung geeigneter Anlagen und sene Abhängigkeit der Lebensgestaltung von einer
Verbrauchsgeräte in die gewünschte Nutzenergie sicheren Energieversorgung bei gleichzeitiger Kon-
umgewandelt. Wegen des direkten Anschlusses der zentration der Energieanbieter auf wenige Akteure,
Verbrauchsgeräte an die Energie-Zuleitungen und ist mit ökonomischen, ökologischen und sozialen
der kontinuierlichen Bereitstellung nimmt dann ent- Folgen verknüpft, die eine aktive und umsichtige
sprechend die Beziehung zwischen Erzeuger und Gestaltung der Energieversorgung erforderlich ma-
Verbraucher eher die heute in den entwickelten Län- chen. Indikatoren für die technikethische Beur-
dern verbreitetste Form einer Versorgungs-Dienst- teilung von Energiesystemen im Hinblick auf ih-
leistung an. ren  Beitrag zu einer zukunftsfähigen Entwicklung
In Abhängigkeit von den jeweils vor Ort gegebe- (s. Kap. IV.B.10) lassen sich dabei gut in drei Berei-
nen Bedingungen haben sich über lange Zeit je nach che einteilen: (1) sichere und gerechte Versorgung,
Verwendungsart und lokalen Voraussetzungen viel- (2) Umwelteffekte und (3) Ressourcennutzung (vgl.
fältige und spezifische Formen der Energienutzung Steger et al. 2002).
herausgebildet. Die technische und wirtschaftliche Die Entwicklung, die zur Herausbildung der mo-
Entwicklung hat jedoch seit der industriellen Revo- dernen Formen der Versorgung mit Energie geführt
lution zu einer starken Homogenisierung der tech- hat, ist nicht denkbar ohne die modernen Formen
nischen Infrastruktur geführt. Die zunehmend der Vergesellschaftung (z. B. gesicherte Eigentums-
groß-industrielle Ressourcenabschöpfung und Ener- verhältnisse oder effizient durchsetzbare Vertragssi-
270 V. Technikfelder

cherheit). Ethische Fragen der Versorgung sind ent- (1) Mit der zunehmenden Homogenisierung der
sprechend – wenn sie relevant sein sollen – immer Energiebereitstellung sind erhebliche Effizienzpo-
nur sinnvoll zu stellen auf der Grundlage schon tentiale verbunden. Mit der dadurch erst ermöglich-
funktionierender, institutionell organisierter Groß- ten Entwicklung spezifischer Verbrauchsgeräte
kollektive und haben v. a. die Ausrichtung und Steu- nimmt aber auch die wechselseitige Abhängigkeit
erung institutionellen Handelns zum Gegenstand. von Produzent und Konsument zu: Endenergie und
Dabei geht es zum einen um Strategien zur konflikt- Verbrauchsgeräte bilden ›komplementäre Güter‹.
bewältigenden Handlungskoordination, gegebenen- Hat dabei eine Partei Investitionen getätigt, deren
falls auch um die Ermöglichung und Förderung der Amortisation nur über längere Zeit und während-
Kooperation der beteiligten Akteure innerhalb einer dessen nur bei einem fortdauernd kooperativen Ver-
Gemeinschaft, zum anderen um die Ausrichtung der halten der anderen Partei erfolgen kann, kann ein
Prozesse auf Belange, die jenseits des konkreten Anreiz zu einer einseitigen Übervorteilung entste-
Marktgeschehens liegen, seien es erwartbare künf- hen, der sogar langfristig die Kooperationsvoraus-
tige Interessen der beteiligten Akteure selbst oder er- setzungen erodieren und zur Benachteiligung oder
wartbare Interessen Dritter, wie etwa die Mitglieder gar zum Ausschluss einzelner Akteure führen
anderer Gemeinschaften oder künftiger Generatio- könnte. Institutionen, die die für die Marktakteure
nen. Letztere spielen vor allem dort eine Rolle, wo es bestehenden Anreize regulatorisch so verändern,
um eine nachhaltige (s. Kap. IV.B.10) und gerechte dass sie der Förderung und Absicherung langfristi-
(s. Kap. IV.B.9) Energieversorgung geht, erstere v. a. ger Kooperationen dienlich sind, bilden daher eine
dort, wo die sichere und bedarfsgerechte Versorgung wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung und
aller in Frage steht Fortentwicklung einer dauerhaft den gesellschaftli-
Risiken, die von den Produktionsstätten oder der chen Versorgungszielen dienenden Verbrauchsin-
Transportinfrastruktur, jeweils im Normalbetrieb frastruktur. Neben den institutionellen Vorausset-
oder im Störfall, ausgehen, bilden kein Spezifikum zungen für die effiziente Durchsetzbarkeit länger-
der Energietechnik und sind deshalb hier nicht ge- fristiger vertraglicher Bindungen können etwa, je
sondert zu behandeln. Eine Besonderheit energie- nach Marktsituation, Maßnahmen zur Aufrechter-
technischer, insbesondere kerntechnischer Anlagen haltung einer Angebotsvielfalt, die Wettbewerbsför-
besteht jedoch darin, dass es im Störfall aufgrund derung durch Durchsetzung allgemeiner techni-
der hohen Energiedichten zu Unfällen mit extrem scher Standards, aber auch zur Preis- und Absatz-
großem Schadensausmaß kommen kann (s. Kap. steuerung ergriffen werden.
V.11). (2) Die Verteilung von Gas und Strom erfolgt
durch Leitungssysteme, für deren Errichtung hohe
Investitionen notwendig sind. Auch und gerade
Sichere und bedarfsgerechte Versorgung dann, wenn hinreichende Planungssicherheit güns-
tige Amortisationsaussichten schafft, kann die Höhe
Da Energie für die individuelle Lebensgestaltung, der aufzubringenden Mittel dazu führen, dass sich
die Teilhabe am öffentlichen Leben und zunehmend nur ein Anbieter mit wenigen zentralen Verteilstati-
auch für die kommunikative Selbstorganisation der onen am Markt halten kann und der Versorgungs-
Gemeinschaft eine fundamentale Bedeutung hat, da markt quasi territorial aufgeteilt ist. Damit steigt die
ferner nach republikanischem Verständnis das Ge- Abhängigkeit der Verbraucher von einzelnen Ver-
meinwesen durch die Individuen begründet und da- sorgern, und damit zugleich auch das Risiko, relativ
durch gerechtfertigt ist, dass es den Interessen der zu den auf einem freien Markt möglichen Preisen
Einzelnen dient, gehört es zu den Aufgaben des Staa- ›übervorteilt‹ zu werden. Auch hier bedarf es einer
tes, eine dauerhaft sichere und bedarfsgerechte Ver- Marktregulation zur Abwehr von Monopolen und
sorgung Aller sicherzustellen. Aufgrund einiger Spe- Kartellen.
zifika des ›Gutes‹ Energie ist die Realisierung dieser (3) Auch dort, wo durchaus der Verbraucher zwi-
Ziele durch ein freies Marktgeschehen allein nicht schen den Angeboten verschiedener Anbieter wäh-
zu erwarten. Nachfolgend sind exemplarisch einige len kann, kann eine Regulierung zum Abbau von
spezifische Konfliktkonstellationen angeführt, die Wechselhindernissen wünschenswert sein. Ein sol-
Beschränkungen marktlicher Freiheitsrechte erfor- ches Wechselhindernis bestünde für den Verbrau-
dern, wenn die Versorgungsziele erreicht werden cher etwa dann, wenn mit dem Wechsel des Anbie-
sollen. ters ein kostspieliger Neuaufbau der Versorgungsin-
5. Energie 271

frastruktur verbunden wäre, der zu seinen Lasten Neubewertung vorher vernachlässigter Produkti-
ginge. Naheliegende regulatorische Maßnahmen onsfolgen (z. B. durch Emissionen) oder auch der
sind etwa die juristische Durchsetzung der Tren- Veränderung der technischen Möglichkeiten, ein
nung von Erzeugungs- und Transport-Infrastruktur, Wechsel der Strategien aufgrund drohender Verluste
die zudem auch Chancen bietet, Marktzugangshin- so lange als möglich vermieden wird. Solche sog.
dernisse für potentielle anderer Erzeuger zu beseiti- Locked-in-Effekte erweisen sich insbesondere dort
gen und die damit zugleich auch Innovationsanreize als problematisch, wo nach aktuellem Wissen eine
schafft. Die Durchsetzung einer solchen Trennung schnelle Veränderungen des Energiesystems aus an-
kann aber mit einem erheblichen Eingriff in Besitz- deren als ökonomischen Gründen dringend ge-
rechte verbunden sein und wäre entsprechend legiti- wünscht erscheint. Auch solche Veränderungen, mit
mierungsbedürftig  – wobei anzuführende Gründe denen die Ausrichtung auf neue gesellschaftliche
wie ›Beseitigung von Marktverzerrungen‹, ›Schaf- Ziele ermöglicht werden soll, können aussichtsreich
fung von Innovationsanreizen‹ zwar im Interesse des nur unter Einbeziehung einer gestaltenden und z. B.
Gemeinwohls liegen mögen, für den von den regula- über finanzielle Anreize auf das Verhalten der betei-
torischen Maßnahmen Betroffenen aber eine seine ligten Akteure einwirkenden Institution erfolgen.
Interessen entgegenstehende Zumutung darstellen. Die Gestaltungsziele und die dafür einzusetzenden
(4) In dünn besiedelten Gebieten können die Kos- Mittel bedürfen dann aber einer gesamtgesellschaft-
ten zur Anbindung an großflächig angelegte Verteil- lichen Legitimation.
netze deutlich höher sein als in dicht besiedelten Ge- (7) Der Locked-in-Effekt spielt auch eine bedeu-
bieten. Daher werden regulatorische Maßnahmen tende Rolle, wenn es darum geht, ob eher zentrale
notwendig, wenn standortliche Vor- und Nachteile, oder eher dezentrale Strategien für die langfristige
die teils durch kontingente marktliche und soziale Versorgungssicherheit und -gerechtigkeit förderlich
Entwicklungen, teils durch hoheitliches Entscheiden sind: Die zuletzt wesentlich auf der Basis (fossiler)
über Standorte und Trassen bedingt sind, nicht (un- Energieträger aufgebaute Versorgung hat wegen der
angemessen) zu Lasten der Einzelnen gehen sollen. so möglichen Effizienzgewinne die Konzentration
(5) Umwelt bzw. die Umweltqualität sind öffentli- auf große zentrale Einheiten befördert, mit der in
che Güter, die als solche nicht ohne weiteres über jüngerer Zeit vorherrschenden Orientierung auf re-
Märkte gehandelt werden. Die mit der Erzeugung generative Quellen ist auch die Forderung nach ei-
von Nutzenergie aus Energieträgern verbundenen nem dezentralen Umbau des Versorgungssystems
unerwünschten Umwelteffekte (s. u.) werden ent- laut geworden. Ob in der Gesamtbilanz die zentrale
sprechend auch nicht von den Verursachern kalku- oder die dezentrale Strategie ressourcenschonender
latorisch berücksichtigt, und es entsteht kein preisli- eingesetzt zu werden verspricht, hängt von einer
cher Anreiz zur Vermeidung dieser Effekte. Zur Vielzahl von Aspekten ab, so von der Art der in
Korrektur solcher Marktverzerrungen könnten die Frage stehenden Energieträger, den zur Verfügung
Kosten durch institutionelle Setzung bepreist wer- stehenden technischen Möglichkeiten zur Ausbeu-
den. Als Mittel kann der Staat etwa Steuern in Höhe tung der Energieinventare und zum Transport, gege-
der entstehenden ›externen‹ Kosten einführen (»Pi- benenfalls auch  – insbesondere mit Blick auf die
gou-Steuer«). Eine solche Steuer wird oftmals auch Möglichkeiten zur Abschöpfung von Wasser-,
›Ökosteuer‹ genannt und könnte z. B. auf Kraftstoffe Wind- und Sonnenenergie – von jeweils lokal vor-
erhoben werden. Die Umsetzungen im Rahmen der findlichen Bedingungen. Bei einer Umrüstung auf
›ökologischen Steuerreform‹ in Deutschland ent- dezentrale Versorgungseinheiten wären entspre-
sprechen aus verschiedenen Gründen allerdings nur chend Fairnessbedingungen zu beachten. So wäre
ansatzweise der Einführung einer Pigou-Steuer. etwa abzusichern, dass nicht diejenigen, die Vorteile
(6) Mit einem Zuwachs an organisatorisch herge- aus günstigen lokalen Voraussetzungen ziehen, den-
stellter Planungssicherheit wächst für die Energie- jenigen mit eher ungünstigen Bedingungen unbillig
versorger tendenziell auch die Bereitschaft, in grö- höhere Aufwendungen oder die Risiken einer nicht
ßere und damit effizienter produzierende Anlagen hinreichenden Versorgungssicherheit zumuten. Da-
zu investieren und die erforderlich werdenden län- bei ist auch die Versorgungssicherheit und -effizienz
geren Amortisierungsdauern in Kauf zu nehmen. großer Verbraucheranlagen, die sich nicht ohne wei-
Dies kann aber dazu führen, dass bei sich ändernden teres an ihrem Standort auf eine dezentrale Versor-
Produktionsbedingungen, etwa der Verknappung gung umstellen lassen, zu beachten. Um aber vor-
notwendiger Ressourcen, der gesellschaftlichen handene Potentiale einer (partiellen) Dezentralisie-
272 V. Technikfelder

rung nutzbar zu machen, ist auch sicherzustellen, zeitlichen Verzögerung, mit der die Effekte zu er-
dass nicht Marktmacht eingesetzt wird, um einen warten sind, eine besondere Herausforderung dar.
Wechsel dort, wo er gesellschaftlich sinnvoll er- Mit Blick auf diese Entwicklungen spielen seit
scheint, zu verhindern (etwa zur Absicherung be- Anfang der 1990er Jahre – unter dem Stichwort ei-
reits erfolgter Investitionen). ner ›nachhaltigen Entwicklung‹ (s. Kap. IV.B.10)  –
Durch die Schaffung und beständige Anpassung zunehmend weiterreichende Konzepte eine Rolle,
institutioneller Rahmenbedingungen, die sich für die die zur Realisierung einer gerechten Verteilung von
marktliche wie technische Entwicklung insgesamt als Grundlagen über die Grenzen von Nationen einer-
günstig erwiesen haben, wurde in den westlich ge- seits, über die Grenzen von Generationen anderer-
prägten Gesellschaften über mehr als zwei Jahrhun- seits beitragen wollen. Danach sind die Erforder-
derte hinweg die Produktivität pro Energieeinheit nisse einer sicheren und bedarfsgerechten Energie-
beständig gesteigert. Zugleich wurden immer mehr versorgung abzugleichen mit den Erfordernissen,
Energiequellen erschlossen. Infolgedessen ist dort die sich aus dem Ziel einer längerfristigen Ressour-
eine enorme Kaufkraft konzentriert. Aufgrund der cenverfügbarkeit, einer Gesundheit und Lebensqua-
besonderen Bedeutung der Energie für die dort vor- lität ermöglichenden Umwelt und eines stabilen und
herrschende technisierte Lebensgestaltung ist auch (im globalen Maßstab) gerecht verteilten Wohlstan-
die Zahlungsbereitschaft für Energie besonders des ergeben.
hoch. Länder, die diese Entwicklung (noch) nicht Dabei liegen besondere Herausforderungen darin,
vollzogen haben, sind an einem globalisierten Ener- dass unterschiedliche Nationen sehr unterschiedli-
gieträgermarkt daher zunehmend benachteiligt. Da che Optima des Abwägens zwischen diesen Zielen
die kostengünstige Verfügbarkeit von Energie auch formulieren  – teils, weil sie sehr verschiedene Aus-
Voraussetzung einer nachholenden Entwicklung gangssituationen haben, teils, weil sie in ganz unter-
wäre und der zum Teil geringe Entwicklungsgrad schiedlicher Weise (positiv oder negativ) von den
auch als Ursache für humanistische Missstände gilt, Entwicklungen betroffen sind, teils, weil sie sich hin-
wird die Verteilung zunehmend als ungerecht emp- sichtlich ihres Leistungsvermögens und ihrer Leis-
funden. Nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Mo- tungsbereitschaft erheblich unterscheiden. Da er sich
bilität der Weltbevölkerung entstehen dadurch auch ja u. a. auch in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit
Konfliktrisiken, denen durch Entwicklungsmaßnah- von Energie aus fossilen Rohstoffen entwickelt hat,
men begegnet werden soll. Eine Entwicklung aller- besteht etwa eine enge Korrelation zwischen dem
dings, die hinsichtlich Ressourcennutzung und technischen und ökonomischen Entwicklungsstand
Emissionsverhalten einen ähnlichen Verlauf nehmen der Nationen und dem Anteil, den sie historisch am
würde wie in den westlichen Industrieländern, wäre befürchteten Klimawandel haben. Weniger entwi-
mit erheblichen Folgelasten verbunden. ckelte Länder erwarten entsprechend eine höhere
Bereitschaft der entwickelteren Länder, in entspre-
chende Maßnahmen zu investieren, und fordern z. T.
Nachhaltige und gerechte Versorgung ihrerseits das Recht auf eine eigene (›nachholende‹)
Entwicklung, auch wenn dies unter bestehenden Ef-
Anfang der 1970er Jahre wurde deutlich, dass eine fizienzzwängen auf der Basis der noch immer kos-
Energieversorgung, die mit einer starken Nutzung tengünstigeren fossilen Ressourcen erfolgen müsste.
fossiler Energieträger einhergeht, an »Grenzen des Die Lösung solcher Konfliktkonstellationen erfordert
Wachstums« stößt (Meadows et al. 1972). Seither eine globale Organisation, die allen einen möglichst
werden Ansätze diskutiert, mit denen auch bei be- gerechten Anteil an den Beschlüssen über zu ergrei-
schränkten Ressourcen ein wohlstandssicherndes fende Maßnahmen sichern und in denen auch die
Wirtschaften möglich sein kann. Neben der endli- Ansprüche künftiger Generationen prozedural legiti-
chen Verfügbarkeit fossiler Ressourcen werden dann miert zur Geltung gebracht werden können.
zunehmend auch Umwelteffekte und Risiken der
Energieproduktion thematisiert, unter denen die
komplexen, auf einen möglichen Klimawandel hin- Umwelteffekte
wirkenden Effekte von besonderer Bedeutung sind.
Diese stellen einerseits wegen der globalen Dimen- Vor allem die chemische Umwandlung von Energie-
sion des Problemsyndroms, der kurzen zur Verfü- trägern in Wärmeenergie und Elektrizität führt ne-
gung stehenden Reaktionszeiten wie auch wegen der ben der gewünschten Freisetzung von Energie zu un-
5. Energie 273

erwünschten Auswirkungen, insbesondere stoffli- versorgung in die Umwelt gelangt, ist Kohlendioxid
chen Emissionen. Für die Energieversorgung sind im (CO2) als Hauptprodukt der Verbrennung organi-
Wesentlichen Umweltschadstoffe und Klimagase zu scher Stoffe. Werden organische Substanzen aus
unterscheiden (z. B. Europäische Kommission 2005). nachwachsenden Rohstoffen verwendet, so wurde in
Umweltschadstoffe sind chemische Substanzen, der Wachstumsphase der Pflanze der Atmosphäre
die selbst oder über ihre Folgeprodukte, durch che- CO2 in der Menge entzogen, wie es idealerweise bei
misch-physikalische Auswirkungen auf den mensch- der Verbrennung wieder freigesetzt wird. Daher
lichen Organismus und der belebten und unbelebten wird die Verwendung nachwachsender Ressourcen
Umwelt entstehen. Je nach ihrer Persistenz in der als klimafreundlich angesehen. Die Abschätzung der
Umwelt, ihren Ausbreitungspfaden und ihren Wirk- Folgen erhöhter Klimagas-Emissionen und die Ab-
mechanismen erstrecken sich die Auswirkungen der leitung von Gegenmaßnahmen erfolgt in internatio-
Schadstoffe über unterschiedliche Zeiträume und naler Abstimmung. Die Analysen des Intergovern-
geographische Regionen. Während Schadstoffe wie mental Panel on Climate Change (IPCC), in dem 195
Ozon, die stark oxidierend wirken, nur wenige Staaten vertreten sind, erarbeitet wissenschaftliche
Stunden schädlich sind, weil sie etwa sehr reaktiv Ergebnisse und Bewertungen als Grundlage für die
sind und sich schnell zu unschädlichen Folgepro- seit 1995 jährlich stattfindenden Weltklimakonfe-
dukten fortentwickeln, werden andere (›persistente‹) renzen.
Schadstoffe wie stabile organische Substanzen und
Schwermetalle nicht abgebaut, sondern reichern
sich in der Umwelt an und können auch über längere Ressourcennutzung
Zeit zu Schädigungen menschlicher Gesundheit und
Ökosystemen führen. Gerade die Schäden an Öko- Mit der Verwendung nichterneuerbarer energeti-
systemen und Materialien (z. B. an einmaligen Kul- scher Ressourcen ist nicht nur die Erhöhung der
turgütern) können langfristig und teilweise irrepa- CO2-Konzentration in der Atmosphäre, sondern
rable Auswirkungen haben. Neben lokalen Maßnah- auch die Verringerung der Menge verfügbarer Res-
men wie der Verlagerung von Industrien und sourcen verbunden. Zur Energieumwandlung wer-
Technologien aus den Städten (z. B. die Einrichtung den als Energieträger neben den nuklearen Brenn-
von Umweltzonen) oder die Einführung technischer stoffen Öl, Erdgas und Kohle herangezogen (s. Kap.
Maßnahmen wie hoher Schornsteine, werden inter- V.11). Vor allem bei Öl ist die Reichweite der gesam-
nationale Verhandlungen geführt und Vereinbarun- ten vermuteten und nachgewiesenen Vorkommen
gen über Minderung von Belastungen getroffen (vgl. im Vergleich zu anderen Energierohstoffen gering.
z. B. UNECE 2012). Bliebe die Produktion konstant, würden diese für
Klimagase sind chemische Substanzen, die den etwa 160 Jahre reichen (DERA 2011).
Strahlungshaushalt der Atmosphäre beeinflussen Durch die Umstellung auf erneuerbare Ressour-
und darüber voraussichtlich mittel- bis langfristig zu cen sinkt die Relevanz der Beschränktheit von Ener-
einer Veränderung des Erdklimas beitragen werden. gieträgern für die Energiebereitstellung. Allerdings
Dadurch werden Effekte wie Veränderungen in der ist mit anderen Knappheiten zu rechnen: Wesentlich
Wasserverteilung (Eisschmelze, Meeresspiegelan- für die Energieversorgung ist etwa immer auch die
stieg, Überschwemmungen) sowie Verlagerungen Ressource Land (z. B. als Ackerland zur Produktion
und Schädigungen der Ökosysteme mit ihren viel- von Biomasse) bzw. Raum (z. B. als Speicherkaverne
fältigen Folgen auf die menschliche Gesellschaft er- im Untergrund). Knappheit ergibt sich hier v. a. aus
wartet (vgl. IPCC 2007). Aufgrund der langen Ver- dem Ausschluss mehrerer (konkurrierender) Nut-
zögerungen zwischen Emission und zu erwartender zungen zur gleichen Zeit, z. B. Nahrungsmittelpro-
Klimaänderung und der nur statistischen Charakte- duktion versus Energiepflanzenanbau (s. Kap. V.1).
risierung des ›Klimas‹ sind Aussagen über Wir- Zur Gewährleistung einer kontinuierlichen Energie-
kungszusammenhänge sehr schwierig und über das versorgung werden ferner neue Technologien zur
Ausmaß der Wirkungen unsicher. Es wird befürch- Umwandlung und Speicherung von Energie erfor-
tet, dass bei sehr hohen Belastungen starke globale derlich. Damit rücken stärker spezifische Mineralien
Veränderungen in den Umweltsystemen zu erwar- in den Fokus, die als Produktionsressourcen benö-
ten sind, die zu inakzeptablen Auswirkungen auf die tigt werden. Neben der Begrenztheit der Vorkom-
Ökosysteme und menschliche Gesellschaften füh- men sind deren regionale Verteilung sowie die preis-
ren. Das wichtigste Klimagas, das durch die Energie- liche Entwicklung an den Märkten Aspekte, die bei
274 V. Technikfelder

einem großskaligen Einsatz neuer Technologien be- 6. Geo- und Hydrotechnik


rücksichtigt werden sollten. Da diese Rohstoffe nicht
verbraucht, sondern nur genutzt werden, können sie sowie Bergbau
am Ende der Lebenszeit der Produkte zu einem ge-
wissen Grad wiedergewonnen werden. Neben Recy-
cling und Ressourceneffizienz sind die Erschließung Gegenstandsbeschreibung
eigener Ressourcen sowie die Diversifizierung der
Herkunftsländer wesentliche Ziele der nationalen Die Umgestaltung der Erdoberfläche und der damit
und europäischen Politik. verbundenen Wasserkörper gehört zu den Grund-
formen technischen Handelns. Sehr früh in ihrer
Literatur kulturellen Geschichte haben Menschen systema-
DERA: Kurzstudie Reserven, Ressourcen und Verfügbar-
tisch Höhlen und Gruben im Gestein (aus-)geschla-
keit von Energierohstoffen 2011. In: Rohstoffinformatio- gen, Behausungen mittels Pfahlkonstruktionen in
nen. Hg. von der Deutschen Rohstoffagentur, Bundesan- unsicherem Grund verankert und Wasserläufe plan-
stalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Hannover voll manipuliert. Mit dem Übergang zum Ackerbau
2011. entstanden zudem entscheidende Techniken zur
Europäische Kommission: ExternE. Externalities of Energy –
Veränderung der Strukturen der obersten Boden-
Methodology 2005 Update. Directorate-General for Re-
search, EUR 21951. Brüssel 2005. schicht (was aber nicht zur Geotechnik gezählt wird,
IPCC: Climate Change 2007. The IPCC Fourth Assessment s. Kap. V.1). Ausgeklügelte Systeme zur sicheren
Report. Intergovernmental Panel on Climate Change. Gründung von Bauwerken aller Art, zur Bewässe-
Cambridge 2007. rung, Entwässerung und zum Überflutungsschutz
Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jor-
gehören zu den zentralen technischen Grundlagen
gen/Behrens, William W.: The Limits to Growth. A Re-
port for the Club of Rome ’ s Projects on the Predicament of agrarischer ebenso wie urbaner, letztlich aller tech-
Mankind. New York 1972. nisch-industriellen Gesellschaften. Nicht nur litera-
Nennen, Heinz-Ulrich/Hörnig, Georg (Hg.): Energie und risch einflussreich hat Johann Wolfgang von Goethe
Ethik. Leitbilder im philosophischen Diskurs. Frankfurt (1832) im fünften und letzten Akt seines Faust II
a. M. 1999. dem Erd- und Wasserbau ein ambivalentes Denkmal
Steger, Ulrich et al.: Nachhaltige Entwicklung und Innova-
tion im Energiebereich, Wissenschaftsethik und Technik- gesetzt. Auf der einen Seite wird dessen Fortschritt
folgenbeurteilung. Bd. 18. Berlin 2002. als gelingende Kulturleistung besungen: »Wie das
Streffer, Christian/Witt, Andreas/Gethmann, Carl Fried- Geklirr der Spaten mich ergetzt!/ Es ist die Menge,
rich/Heinloth, Klaus/Rumpff, Klaus: Ethische Probleme die mir frönet,/ Die Erde mit sich selbst versöhnet,/
einer langfristigen globalen Energieversorgung. Berlin Den Wellen ihre Grenze setzt,/ Das Meer mit stren-
2005.
UNECE 2012, http://www.unece.org/env/lrtap/welcome. gem Band umzieht« (Goethe 1948 ff., 347). Faust
html (12.04.2013). kommt am Ende seines Lebens durch den Deich-
Bert Droste-Franke und Georg Kamp und Dammbau zu Reichtum, doch andererseits for-
dern zugleich die Bauwerke ihren Tribut. Große
Menschenverluste gibt es bereits während des Baus;
der fast 100-jährige Faust büßt letztlich mit dem
Verlust seines Augenlichts. Und sogar Philemon und
Baucis, den Göttern gastfreundliche Figuren aus der
griechischen Mythologie, müssen in Goethes Faust II
eine geplante Zwangsumsiedlung und letztlich den
Tod erleiden – gleichsam als paradigmatische Opfer
eines sich ubiquitär ausbreitenden geo- und hydro-
technisch (mit-)bedingten gesellschaftlichen Fort-
schritts, der zugleich Sicherheit vor den Unbilden
der Natur und Voraussetzungen für die heutige
Form der Infrastrukturen des Zusammenlebens
bietet (vgl. Horkheimer/Adorno 1988).
›Geotechnik‹ wird als Oberbegriff für die Berei-
che des Bauingenieurwesens verstanden, bei denen
der Umgang mit dem Baugrund und die sichere Ver-
6. Geo- und Hydrotechnik sowie Bergbau 275

ankerung der Fundamente und damit des Gebäudes an Hydrotechnik in ausdrücklich moralischen
selbst im Zentrum stehen (Smoltczyk 2002/2003). In Kontexten verhandelt wird (vgl. Potthast 2001). Die
diesem Sinne wäre die Hydrotechnik (= Wasserbau) Abwesenheit einer ausdifferenzierten spezifischen
eine spezielle Richtung baulich-technischer Inter- Bereichsethik bedeutet aber keinesfalls, dass es
ventionen mit Blick auf das Substrat Wasser (Stro- ethisch relevante Diskurse um Geo- und Hydrotech-
bel/Zunic 2006). Gegenstandsbereiche und Zuord- nik nicht gegeben hätte oder aktuell nicht geben
nungen sind jedoch aus verschiedenen Gründen würde  – ganz im Gegenteil, nur sind sie anders
nicht eindeutig. Erstens müssen offenkundig Geo- unterlegt: Möglicherweise aufgrund der tiefen Ver-
und Hydrotechnik in Kombination auftreten, wo ankerung in der Kulturgeschichte des Menschen
Wasser im Baugrund hoch ansteht, oder auch beim werden Geo- und Hydrotechniken einschließlich
Damm- und Hafenbau. Zweitens bildet der Bergbau der Bergbautechniken nicht so sehr als bestimmte
einen – gerade auch institutionell – ganz eigenen Be- Techniken ethisch oder politisch kritisiert. Vielmehr
reich: Die Bergbautechnik umfasst zwar maßgeblich verlaufen Debatten im Rahmen einer grundsätzli-
Geo- und Hydrotechniken, jedoch gehören noch an- chen gesellschaftspolitischen Kritik umweltbezoge-
dere dazu, wie z. B. Fördertechniken (Reuther 1982). ner, sozioökonomischer und auch ästhetischer Art.
Im Folgenden werden geo- und hydrotechnische As- Sofern die geo- oder hydrotechnischen Maßnahmen
pekte des Bergbaus mitbehandelt, nicht jedoch der Teil von großen Infrastrukturprojekten sind, zielt die
Bergbau in seiner Gesamtheit, der in seiner kultur- Diskussion ebenfalls nicht genuin auf bestimmte
und technikhistorischen Bedeutung weit über das Techniken der Erd- und Wasseringenieure, sondern
hier Verhandelte hinausgeht. Drittens ist vor allem auf Macht- und Herrschaftskritik insgesamt. Hier
zu beachten, dass Erdreich und Gewässer nicht al- stehen dann das große Ganze gesellschaftlicher Pro-
lein Unterlage oder Umgebung für Bauwerke dar- jekte, deren Mittel und Ziele zur Debatte.
stellen, sondern dass es auch um deren Umgestal- Die genuin technikethische Frageperspektive
tung selbst geht, was mit den lebensweltlich sicht- setzt an unterschiedlichen Punkten an. Einerseits
baren und erheblichen Konsequenzen geradezu geht es um die mögliche Erlaubtheit oder Geboten-
symbolisch für die Macht technischen Handelns ins- heit bestimmter geo- und hydrotechnischer Maß-
gesamt steht: »Die Technik hat Berge versetzt und nahmen zur – in einem weiten Sinne – Verbesserung
Flüsse verlegt […]« (Lenk/Ropohl 1987, 5). der Lebensbedingungen von Menschen. Dies ge-
schieht zumeist im Rahmen einer Zweck-Mittel-
Folgen-Abwägung: Rechtfertigt der Zweck eines
Technikethische Einordnung Projekts  – in diesem Falle Bauten bzw. Erd- und
Wasserumgestaltungsmaßnahmen  – die eingesetz-
In den Übergängen vom Spaten zur Tunnelbohrma- ten technischen und sonstigen Mittel sowie die ab-
schine, vom Damm aus Natursteinen und Ast- sehbaren Folgen und Nebenfolgen? Die grundle-
Flechtwerk zum Massivwasserbau mit Beton und gende Betonung des Sicherheitsaspekts ist entschei-
Stahl zeigt sich die erhebliche Ausdehnung von dend (s. Kap. II.3) – und sie ist sehr eng an rechtliche
raum-zeitlichen Gestaltungsoptionen der Geo- und Rahmenbedingungen gebunden, wobei DIN- und
Hydrotechnik – und damit auch implizit die zuneh- zunehmend Europäische Normen entwickelt und
mende ethische Relevanz. Anders jedoch als aktuelle fortgeschrieben werden (vgl. Ziegler 2008). Dabei
Bio- oder Informationstechniken sind zumindest wird betont, dass hundertprozentige Sicherheit
die Geotechniken als solche kaum Gegenstand syste- schon aufgrund der Komplexität der Substrate nicht
matischer akademisch-ethischer Reflexion gewor- möglich sei. Aber zugleich ist das gewünschte Maß
den. Auch in den Debatten um den Bergbau sind die an Sicherheit auch abhängig von Einschätzungen der
einzelnen Techniken selbst nicht primärer Gegen- Notwendigkeit des Projekts, der Frage der finanziel-
stand der Kritik. Wenn in ästhetisierender Weise len und praktischen Realisierbarkeit  – und damit
von ›Bausünden‹ oder ›Wunden in der Landschaft‹ nicht zuletzt eine klassische Risikoabwägung.
gesprochen wird, geht es vielmehr um Architektur- Andererseits bzw. zugleich lässt sich auch grund-
und Landschaftsgestaltungskritik. Für die Hydro- sätzlicher die moralische Zulässigkeit bestimmter –
technik gilt für die philosophisch-ethische Fach- massiver  – Umgestaltungen von Erde und Gewäs-
debatte Vergleichbares, obwohl seit langem unter sern erwägen: Dieser Punkt wird oft im Zusammen-
Begriffen wie »Versteppung« (Seifert 1936) oder hang mit religiösen Fragen (Eingriffsverbot in
»Wassersünde« ästhetische und ökologische Kritik Heilige Berge oder Heilige Haine) oder des säkula-
276 V. Technikfelder

ren Landschafts- und Naturschutzes (Verschande- zuschreibung (allgemein zur Ingenieursethik vgl.
lung durch Tagebau, Staudämme; s. Kap. IV.C.2) ver- Hubig/Reidel 2003; s. Kap. III.7).
handelt. Schließlich ist auch das Berufsethos, mithin Ein bislang einzigartiger Fall rechtlicher Verant-
also die unmittelbare individuelle Verantwortung wortungszuschreibung von geologischer Expertise
des Geo- oder Wasseringenieurs betroffen (Inge- trug sich nach dem Erdbeben vom 6.4.2009 im mit-
nieurinnen sind dabei immer noch bei weitem in der telitalienischen L ’ Aquila zu. Sechs Wissenschaftler
Minderzahl). und ein Behördenvertreter wurden als Mitglieder ei-
ner politisch-administrativen Expertenkommission
verurteilt, weil sie nach leichten Erdstößen das Ri-
Aktuelle Konfliktfelder: Ingenieursethik siko eines unmittelbar drohenden schweren Bebens
ignoriert bzw. heruntergespielt hätten. Nach der An-
Professionsethische Richtlinien (Codes of Conduct klage und insbesondere dem erstinstanzlichen Urteil
o. Ä.; s. Kap. III.7) aus dem Bereich Geotechnik und im Oktober 2012 kritisierten verschiedene auch in-
Hydrotechnik betonen sowohl allgemeine als auch ternationale Fachvertreter das Urteil, weil auf dieser
spezifische Aspekte: Allgemein wird die Verantwor- Basis unter Bedingungen prinzipieller Ungewissheit
tung für Wohlergehen, Gesundheit und Sicherheit keine Expertise möglich sei, wenn absolute Sicher-
der Gesellschaft ausdrücklich vor diejenige gegen- heit der Prognosen politisch und (straf)rechtlich ge-
über Partial- und Privatinteressen gesetzt. Diese fordert werde (The L ’ Aquila Trial o. J.). Letztlich
Vorordnung begrenzt auch die gebotenen Loyalitäts- verweist die Frage der Risikovorsorge vor Erdbeben
pflichten gegenüber den Auftraggebenden. Die Wah- auf das geotechnisch-politische Problem, auf wel-
rung der Integrität und des guten Rufs der Profession cher rechtlichen Grundlage mit welchem zumutba-
wird betont. Ferner besteht eine Informationspflicht ren finanziellen Aufwand in welcher Region erdbe-
über mögliche technologische, soziale, umweltbezo- bensicher bis zu welcher Bebenstärke gebaut werden
gene und andere Folgen des technischen Handelns. könne bzw. müsse: »How safe is safe enough?« ist
Dieser letzte Punkt wird spezifisch für die Geotech- keine Frage, die Ingenieure allein beantworten kön-
nik noch einmal in der Forderung aufgegriffen, den nen (vgl. Brandl 2004; s. Kap. II.3).
Gesamtkontext (larger picture) ihrer Projekte zu be-
achten und sie von Anfang bis Ende zu begleiten,
einschließlich der Vor-Ort-Überprüfung zur Umset- Aktuelle Konfliktfelder: Geotechnik
zung des technischen Designs. Preisnachlässe auf
Kosten der Sicherheit werden ausdrücklich verbo- Vor allem große Bauprojekte werden – zutreffender-
ten, ferner gefordert ist die Kooperation mit anderen weise  – nicht primär als technikethischer Konflikt
Fachbereichen im Rahmen von Projekten. Zum In- wahrgenommen, werfen sie doch eine Vielzahl poli-
genieursethos gehört schließlich die Vermeidung tischer und ethischer Fragen der Zukunftsgestaltung
unnötig definitiver Aussagen zu geotechnischen, durch Infrastruktur insgesamt auf. Paradigmatisch
geologischen und umweltbezogenen Aspekten, wo dafür kann das Bauprojekt Stuttgart 21 stehen – die
Unsicherheit besteht (Brandl 2004; ISSMGE 2004). Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs unter die
Solche Richtlinien sind unschwer auf aktuelle Erde und der Bau einer Schnellbahntrasse unter der
Probleme zu beziehen, wenn Gebäude aufgrund der Schwäbischen Alb hindurch zwischen Plochingen
Instabilität des Baugrunds einstürzen. Doch oft stellt und Ulm. Gleichwohl ist die geo- und hydrotechni-
sich dabei die Frage, ob Sicherheitsbedenken grund- sche Dimension der Möglichkeiten und Grenzen
sätzlich zu wenig beachtet oder mit Blick auf finanzi- mitentscheidend. Eine Frage betrifft die angemes-
elle oder Reputationsfolgen der Auftraggeber igno- sene Kosten-Nutzen-Bilanz hinsichtlich der Sicher-
riert werden, oder ob es um eine mangelhafte, von heitsauslegung in der Stärke der Tunnelwände im
den ursprünglichen Plänen abweichende und wäh- Erdreich. Zudem werden mögliche Schäden an Mi-
rend des Baus zu wenig kontrollierte Umsetzung neralquellen durch hydrotechnische Maßnahmen
geht. Letzteres war offenbar der Fall beim Einsturz des Wassermanagements diskutiert. Ungewissheiten
des Kölner Stadtarchivs am 3.3.2009, der aufgrund über die Sicherheits- und Kostendimensionen beste-
von Maßnahmen des U-Bahnbaus erfolgte (Schma- hen zudem mit Blick auf das ausgesprochen hohl-
lenberg/Damm 2010). Doch zugleich zeigt sich in ei- raumreiche Gestein der Schwäbischen Alb. Geo-
nem solchen Fall die Schwierigkeit der moralischen und hydrotechnische Expertise ist dabei zur Bestim-
und nicht zuletzt der juristischen Verantwortungs- mung der Risiken, der Kosten des Machbaren sowie
6. Geo- und Hydrotechnik sowie Bergbau 277

der Komplexität technischer Systeme für unterir- Nicht zu vernachlässigen sind zudem Fragen der
dische Bauwerke mitentscheidend. Entsprechend Wasserentsorgung, da die Entscheidung für be-
strittig ist die Rolle von Expertisen im politischen stimmte großtechnische Lösungen wie die in Europa
Konflikt, weil diese letztendlich die Kosten-Nutzen- und zunehmend global verbreitete Schwemmka-
Risikoanalyse und die Entscheidung über Infra- nalisation erhebliche (positive) gesundheitliche und
strukturen maßgeblich bestimmen (vgl. Schlichtung (problematische) ökonomische, umweltbezogene
S 21). Ethisch relevant sind dabei die Frage der Neu- und wassertechnische Implikationen hatte. Derzeit
tralität von Expertisen im politischen Raum, der im- werden alternative Lösungen (wasserfreie WCs,
pliziten Festlegung von Bewertungen je nach Auf- Kompostierung, Pflanzenkläranlagen etc.) intensiv
traggeber, die Frage des Umgangs mit möglichen diskutiert (Lange/Otterpohl 2000).
falsch positiven oder falsch negativen Prognosen
und deren Folgen sowie die  – ausgesprochen strit-
tige  – Frage, inwiefern Experten und Expertinnen Aktuelle Konfliktfelder: Bergbau
auch ausdrücklich Stellung zum politischen Kontext
nehmen sollten, sofern sich dieser ohnehin nicht Die maßgebliche Bedeutung des Bergbaus bei der
ignorieren lässt. Entwicklung der menschlichen Zivilisationen ist
unstrittig. Die Bergbautechnik trug und trägt dabei
zu immer weiteren und im Wortsinne tieferen Er-
Aktuelle Konfliktfelder: Hydrotechnik schließungsmöglichkeiten bei. Ethisch relevant sind
seit jeher und bis heute die Arbeitsbedingungen
Die enge Verzahnung von politischer Macht und und die Sicherheit der Bergleute, zu denen die
Techniken der Wasserregulierung wird seit Karl Technik entscheidende Beiträge (Stützwerke, Belüf-
Wittfogel (1962) unter dem Topos der »hydrauli- tung, Ersatz von Handarbeit am Gestein durch Ma-
schen Gesellschaft« kontrovers diskutiert. Unstrittig schinen) geleistet hat. Die gelebte Praxis entsprach
ist, dass insbesondere umfangreiche Flussregulie- und entspricht aber – aus Gründen maximaler Ge-
rungen und der Bau großer Staudämme und -wehre winnerzielung  – zuweilen nicht dem Stand der
seit jeher zu erheblichen Konflikten geführt haben. Technik, wie bestimmte Grubenunglücke oder ver-
Das aktuell prominenteste Beispiel ist der Drei- meidbare chronische Gesundheitsfolgen für Berg-
Schluchten-Staudamm in China. Die technische leute zeigen.
Frage der Sicherheit und der möglichen verheeren- Gerade der großflächige Tagebau von Braunkohle
den Konsequenzen eines Dammbruchs geht einher oder Ölschiefer und zunehmend von Teersanden
mit Fragen möglicher negativer Umweltfolgen (Was- bringt erhebliche Umwelt- und im Fall des Ölschie-
sermangel, Verlust natürlicher Hoch- und Niedrig- fer-/Teersandabbaus auch gesundheitliche Probleme
wasserregime, Verschlammung und toxische Stoffe mit sich (Nikiforuk 2010). Die Förderung von Schie-
im Staubecken; hier wird immer wieder auf Erfah- fergas unter Einsatz von Wasserdruck und Lösungs-
rungen mit dem Bau des Assuan-Staudamms am Nil mitteln im Erdreich (»Fracking«) wirft analoge Fra-
verwiesen) sowie Fragen sozialer Gerechtigkeit, die gen auf (Fossati 2012). Ein weiteres aktuelles Kon-
sich insbesondere durch Zwangsumsiedlungen erge- fliktfeld stellt die Lagerung von CO2 (oder anderen
ben haben (Parodi 2008). Treibhausgasen) unter Tage zu Klimaschutzzwecken
Auch die technischen Systeme zur Trinkwasser- dar, wobei hier nicht die Landnutzungskonflikte im
versorgung sind neben Sicherheits- und Gesund- Vordergrund stehen. Vielmehr ist dieses Carbon
heitsfragen insbesondere in der politisch-ökonomi- Capture and Storage (CCS, Rackley 2010) zum einen
schen Diskussion von ethischer Bedeutung. Soll hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Relation und vor al-
Wasser ein Gemeingut im Sinne der Allmende sein, lem mit Bezug auf die technischen Risiko- und Si-
ein Gegenstand staatlicher und überstaatlicher Da- cherheitsfragen eines dauerhaften Abschlusses in
seinsvorsorge, oder als privatisiertes Gut dem freien den Lagerstätten strittig. Zum anderen geht es zu-
Markt überlassen werden (Ostrom 2011)? Insofern gleich um die Frage, ob solche Techniken nicht den
ist auch das technische Design (lokale, regionale, notwendigen Umstieg auf emissionsfreie Produk-
globale Systeme) Gegenstand politischer Gerechtig- tion und Verkehrssysteme sowie regenerative Ener-
keitsfragen und der Diskussion um Wasser(versor- giequellen erheblich bremsen und daher grundsätz-
gung) als Menschenrecht und seiner Implementie- lich kontraproduktiv sind. Einzubetten sind diese
rung (Llamas et al. 2009). Technik-Debatten also in die Frage des Energiebe-
278 V. Technikfelder

darfs und der globalen Energieversorgung insgesamt Grundtopos ausdifferenziert und konkretisiert wer-
(s. Kap. V.5 und Kap. V.2). den kann. Zu diesem Themenkomplex gehört
Nicht nur, aber gerade auch beim Thema Bergbau schließlich auch, inwiefern bestimmte Gebiete aus
ist ethisch problematisch, dass oft die Verteilung von Naturschutz- oder kulturhistorischen Gründen gar
Gewinnen (Ressourcennutzer sowie Shareholder der grundsätzlich vom technischen Zugriff ausgeschlos-
Abbauunternehmen) und Lasten (für die lokale Be- sen werden sollen.
völkerung) extrem ungerecht ist (Ali 2009). Die Be-
teiligung der lokalen Bevölkerung an der Frage des
Abbaus selbst sowie die Verteilung des Nutzens wer-
Literatur
den allgemein unter dem Stichwort ›Umweltgerech-
tigkeit‹ (Environmental Justice) geführt (Martinez- Ali, Saleem A.: Mining, the Environment, and Indigenous
Alier 2002). Development Conflicts. Tucson 2009.
Brandl, Heinz: The Civil and Geotechnical Engineer in Soci-
ety – Ethical and Philosophical Thoughts; Challenges and
Recommendations. Vancouver 2004, http://www.issmge.
Anschlusspunkte an umfassende org/images/Attachments/JML98 %2804 %29_Heinz
Erd- und Wasserethiken sowie Brandl.pdf (28.02.2013).
technikphilosophische Fragen Fossati, Jake: The Hidden Dangers of Marcellus Shale
Fracking. University of Pittsburgh Swanson School of
Engineering. Pittsburgh 2012, http://www.pitt.edu/~jmf
Die drei Elemente (1) Risiko und Gefahrenvorsorge 142/a3.pdf (28.02.2013).
im umfassenden Sinne, (2) Environmental Justice Goethe, Johann Wolfgang von: Faust – Der Tragödie zweiter
und (3) Ingenieursethos (Unparteilichkeit, Unbe- Teil [1832]. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3.
stechlichkeit, Risikobewusstsein, Kommunikation) Hamburg 1948 ff.
sind die entscheidenden ethischen Aspekte von Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Auf-
klärung  – Philosophische Fragmente [1969]. Frankfurt
Geo- und Hydrotechnik sowie Bergbautechnik als a. M. 1988 (engl. 1944/47).
Grundlage der ethischen Technikbewertung. Der Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Inge-
Anschluss an umfassendere Ethikkonzeptionen der nieurverantwortung: Handlungsspielräume und Perspek-
Risikoethik, der Sozialethik, der Umweltethik sowie tiven der Kodifizierung. Berlin 2003.
der politischen Ethik ist dabei offenkundig (vgl. Sko- ISSMGE  – International Society for Soil Mechanics and
Geotechnical Engineering: Policy Document No. 1: Guide-
rupinski/Ott 2000). Mit Bezug auf die Geotechnik lines for Professional Practice. London 2004, http://www.
liegen diesbezüglich kaum systematische Untersu- issmge.org/images/Attachments/Policy_20Doc_201.pdf
chungen und Ansätze vor. Eine umfassende Frage (28.02.2013).
würde lauten: Wie kann die Geotechnik inklusive Krüger, Timmo: Die Stabilisierung des hegemonialen Dis-
Bergbau eine Integrität der Infrastrukturen zwi- kurses der ökologischen Modernisierung in der interna-
tionalen Klimapolitik durch Carbon Capture and Sto-
schen Daseinsvorsorge, Sicherheitsverpflichtung,
rage (CCS). In: Tamina Christ/Angelika Gellrich/Tobias
Risikoaversion, Kosten-Nutzen-Fragen und auch Ide (Hg.): Zugänge zur Klimadebatte in Politikwissen-
der Stadt-/Landschaftsästhetik erreichen? Auszuar- schaften, Soziologie und Psychologie. Marburg 2012, 101–
beiten wäre in diesem Sinne, was konkret das Dik- 128.
tum der Land Ethic von Aldo Leopold (1949, 217) Lange, Jörg/Otterpohl, Ralf: Abwasser – Handbuch zu einer
zukunftsfähigen Wasserwirtschaft. Donaueschingen-
bedeuten kann: »A thing is right when it tends to
Pfohren 22000.
preserve the integrity, stability, and beauty of the Lenk, Hans/Ropohl, Günter: Einführung: Technik zwi-
biotic community. It is wrong when it tends other- schen Sollen und Können. In: Dies. (Hg): Technik und
wise«; wobei auch Menschen mit ihrer Ökonomie Ethik. Stuttgart 1987, 5–21.
und Technik Teil der biotic community sind und da- Leopold, Aldo: A Sand County Almanac. New York 1949.
mit insgesamt das land bilden. Llamas, M. Ramón/Martínez-Cortina, Luis/Mukherji,
Aditi (Hg.): Water Ethics – Marcelino Botín Water Forum
Weiter ausgearbeitet ist eine Wasserethik (vgl. Santander 2007. Leiden 2009.
Llamas et al. 2009), in der technikethische Fragen ih- Martinez-Alier, Juan: The Environmentalism of the Poor. A
ren festen Platz haben, diese jedoch zuweilen wenig Study of Ecological Conflicts & Valuation. Cheltenham/
im Detail reflektiert werden. Genauer zu unter- Northampton 2002.
suchen wäre hierbei beispielsweise, inwiefern die Nikiforuk, Andrew: Tar Sands – Dirty Oil and the Future of
a Continent. Revised edition. Vancouver 2010.
Gegenüberstellung der naturnahen versus der nicht- Ostrom, Ellinor: Gemeingüter fordern uns heraus. In:
naturnahen (Massivwasserbau) Herangehensweise Dies.: Was mehr wird, wenn wir teilen – Vom gesellschaft-
als naturethischer und technikphilosophischer lichen Wert der Gemeingüter. München 2011, 21–46.
7. Gentechnik 279

Parodi, Oliver: Technik am Fluss – Philosophische und kul- 7. Gentechnik


turwissenschaftliche Betrachtungen zum Wasserbau als
kulturelle Unternehmung. München 2008.
Potthast, Thomas: Gefährliche Ganzheitsbetrachtung oder
geeinte Wissenschaft von Leben und Umwelt? Episte- In der Debatte um die Gentechnik und ihre einzel-
misch-moralische Hybride in der deutschen Ökologie nen Anwendungsfelder stehen sich die Positionen
1925–1955. In: Verhandlungen zur Geschichte und teilweise diametral gegenüber. Unterschiedliche
Theorie der Biologie 7. Berlin 2001, 91–114. Auffassungen existieren nicht nur hinsichtlich ethi-
Rackley, Stephen A.: Carbon Capture and Storage. Burling- scher Grundpositionen, sondern auch in Bezug auf
ton/Oxford 2010.
Reuther, Ernst-Ulrich: Einführung in den Bergbau  – Ein die Einschätzung des Leistungspotenzials der Tech-
Leitfaden der Bergtechnik und der Bergwirtschaft. Essen nik sowie der ihrer möglichen ökologischen und ge-
1982. sellschaftlichen Implikationen. Von daher ist die
Schlichtung S 21: Informationsseiten der Schlichtung Stutt- Gentechnikdebatte nicht nur für die Technikfolgen-
gart 21, http://www.schlichtung-s21.de (28.02.2013). abschätzung und -bewertung von großer Tragweite
Schmalenberg, Detlef/Damm, Andreas: Geschlampt, ge-
fälscht  – Ursachenforschung. Schaden von mehr als 700 (s. Kap. VI.4), sondern auch für den Diskurs zwi-
Millionen Euro. Sonderbeilage des Kölner Stadtanzeigers schen Wissenschaft und Gesellschaft.
am 3. März 2010.
Seifert, Alwin: Die Versteppung Deutschlands. In: Deutsche
Technik 4 (1936), 423–427 u. 490–492. Grundlagen
Skorupinski, Barbara/Ott, Konrad: Technikfolgenabschät-
zung und Ethik. Zürich 2000.
Smoltczyk, Ulrich (Hg.): Geotechnical Engineering Hand- Der Begriff ›Gentechnik‹ beschreibt ein Ensemble
book. 3 Bde. Berlin 2002/2003. von biochemischen, molekular- und zellbiologi-
Strobel, Theodor/Zunic, Franz: Wasserbau: aktuelle Grund- schen sowie biotechnischen Methoden und Verfah-
lagen – neue Entwicklungen. Berlin 2006. ren, mit deren Hilfe die Erbsubstanz von Lebewesen
The L ’ Aquila Trial. Documents, articles and comments
from the scientific community about the trial to the par-
(die Nukleinsäuren DNS oder RNS) isoliert, neu
ticipants to the National Commission for Forecasting kombiniert oder verändert und schließlich per Gen-
and Predicting Great Risks meeting, http://processo transfer in lebende Zellen übertragen werden kann.
aquila.wordpress.com/ (28.02.2013). In chemischer Hinsicht ist das Erbmaterial aller Le-
Wittfogel, Karl A.: Die orientalische Despotie. Eine verglei- bewesen gleich. Von daher ist die Gentechnik ubi-
chende Untersuchung totaler Macht. Köln/Berlin 1962
(engl. 1957).
quitär einsetzbar; DNS-Sequenzen und die dadurch
Ziegler, Martin: Sicherheitsnachweise im Erd- und Grund- kodierte Information für die Bildung von Genpro-
bau. In: Karl-Josef Witt (Hg.): Grundbau-Taschenbuch, dukten (Proteine) oder die Regulation der Genex-
Teil 1: Geotechnische Grundlagen. Berlin 72008, 1–42. pression können von einer Art auf eine andere über-
Thomas Potthast tragen werden. Die erste Rekombination von isolier-
ter DNS im Reagenzglas (in vitro) und ihr Transfer
in ein Bakterium, dem dadurch eine zuvor nicht vor-
handene Resistenz gegenüber einem Antibiotikum
verliehen wurde, erfolgte 1973 (Cohen et al. 1973).
Diese und folgende Experimente waren Anlass für
die im Februar 1975 stattfindende Konferenz von
Asilomar (USA), auf der Wissenschaftler erstmals
über Sicherheitsfragen und mögliche Selbstbe-
schränkungen bei der Anwendung dieser Technolo-
gie diskutierten (Krimsky 1982; Radkau 1988).
Zu den grundlegenden Techniken der geneti-
schen Manipulation zählen im engeren Sinne dieje-
nigen, die an der DNS (bzw. RNS) selbst ansetzen.
Dazu gehört das an definierten Sequenzen erfol-
gende Zerschneiden mithilfe von Restriktionsenzy-
men, die Vervielfältigung mittels Polymerasen und
das Zusammensetzen, bei dem Ligasen zum Einsatz
kommen. Im weiteren Sinne gehören dazu aber auch
die Verfahren der Isolierung der Erbsubstanz und
280 V. Technikfelder

ihres Transfers in eine lebende Zelle, sowie die Tech- Transgene Tiere
niken zu ihrer Veränderung oder zur Analyse ihrer
Struktur, wie beispielsweise die Sequenzierung. Durch gentechnische Eingriffe können Nutz- oder
Gentechnische Verfahren können eine analyti- Haustiere mit neuen Eigenschaften erzeugt werden
sche oder eine konstruktive Zielrichtung haben. Er- (s. Kap. IV.C.3). Derartige Eingriffe gehen teilweise
gebnis der Genanalyse oder -sequenzierung sind weit über das hinaus, was mittels konventioneller
Kenntnisse über die Anordnung der chemischen Züchtung zu erreichen ist. Zu den so erzeugten Tie-
Bausteine der DNS, die u. a. Auskunft über be- ren gehören z. B. Fische, in deren Genom fremde
stimmte Krankheitsanlagen, aber auch über die Ver- Erbinformationen u. a. aus Korallen oder Quallen
wandtschaft eines Individuums mit anderen oder für unterschiedlich fluoreszierende Proteine einge-
über seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art baut wurden, so dass sie bei Tages- oder Kunstlicht
geben können. Produkt konstruktiver Verfahren ist grün, gelb oder rot leuchten. Gentechnisch verän-
die rekombinante und/oder gentechnisch verän- derte Zebrabärblinge kamen im Jahr 2004 in den
derte DNS. Wird sie in eine Zelle bzw. einen Orga- USA unter dem Markennamen GloFish als erste gen-
nismus eingeführt, entsteht ein gentechnisch verän- technisch veränderte Haustiere in den Handel. In
derter Organismus (GVO), der insbesondere bei Kanada und der EU sind die Zucht und der Vertrieb
Pflanzen oder Tieren auch transgener Organismus transgener Tiere verboten. Als Gene-Pharming wird
genannt wird. Der Gentransfer kann sowohl in Zel- die Erzeugung von transgenen Tieren bezeichnet,
len der gleichen Art, als auch in solche von anderen aus deren Körperflüssigkeiten (Blut, Milch, Urin,
Arten erfolgen. So wurden bereits sehr früh Gene Sperma) oder Eiern (bei Hühnern) medikamentöse
von Bakterien oder Viren auf Pflanzen oder solche Substanzen gewonnen werden können (Kind/
von Menschen auf Mäuse oder andere Tiere übertra- Schnieke 2008). So wurden beispielsweise transgene
gen. Ziegen hergestellt, die in ihren Milchdrüsen größere
Gentechnische Eingriffe erfolgen zumeist zu For- Mengen des rekombinanten humanen Anti-Throm-
schungszwecken. Versuchsorganismen sind über- bin III bilden. Dieser Wirkstoff verhindert die Ent-
wiegend Bakterien oder Mäuse, aber auch Fische stehung von Blutgerinnseln und wurde 2006 für die
oder Fruchtfliegen. Im Bereich der Grundlagenfor- Anwendung am Menschen zugelassen.
schung zielen gentechnische Eingriffe darauf ab, Ein weiteres Ziel ist die Herstellung von transge-
durch die Analyse vorhandener Gene, ihre Aus- nen Tieren, die als Organlieferanten für Menschen
schaltung oder den Einbau neuer Erbinformationen dienen könnten. Normalerweise werden tierische
grundlegende Fragen der Stammesentwicklung, der Organe oder Zellen vom menschlichen Immunsys-
Individualentwicklung oder der Entstehung von tem als fremd erkannt und umgehend abgestoßen.
Krankheiten zu klären. So dienen beispielsweise Deshalb möchte man die Strukturen und Proteine,
knockout-Mäuse, bei denen ein oder mehrere Gene die diese Abwehrreaktion auslösen, beispielsweise
funktionsunfähig gemacht (ausgeschaltet) wurden, bei Schweinen durch menschliche ersetzen. Auch
dazu, die Funktion dieser Gene oder Regulationsele- wenn bereits Schweine mit entsprechenden mensch-
menten zu erforschen. lichen Erbinformationen ausgestattet wurden, befin-
Aufgrund ihrer ubiquitären Anwendungsmög- det sich die Entwicklung einer solchen Xenotrans-
lichkeiten im ganzen Bereich des Lebendigen wird plantation in einem frühen Stadium; eine klinische
die Gentechnik auch als Querschnittstechnologie be- Anwendung ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
zeichnet. Je nachdem, ob sie bei Menschen bzw. Wir- Weiterhin wird versucht, die Leistungsfähigkeit von
beltieren, Pflanzen oder Mikroorganismen einge- Nutztieren zu verstärken. So stehen schneller wach-
setzt wird, unterscheidet man Rote, Grüne und sende, transgene Lachse in den USA kurz vor ihrer
Weiße Gentechnik. Während in der ersten Entwick- Markteinführung. Ein weiteres Ziel ist die Erzeu-
lungsphase der Gentechnik von ca. 1974 bis Ende gung von Krankheitsresistenz. So wurden transgene
der 1980er Jahre in ethischer Hinsicht hauptsächlich Hühner entwickelt, welche die Geflügelpest nicht
diskutiert wurde, ob derart weitreichende Eingriffe übertragen können. Am häufigsten wird die Gen-
in die genetische Konstitution lebender Organismen technik in der Nutztierzucht jedoch analytisch ein-
überhaupt vertretbar und verantwortbar sind, fokus- gesetzt; mit ihrer Hilfe können durch traditionelle
siert die Debatte heute auf die mit dem Einsatz der Kreuzung erzeugte Varianten untersucht und die für
Gentechnik verbundenen Fragen. Diese unterschei- die angestrebten Zuchtziele vielversprechendsten
den sich je nach Anwendungsbereich. identifiziert werden.
7. Gentechnik 281

Bei der gentechnischen Veränderung von Tieren tium 2012). Aufgrund technischer Weiterentwick-
(s. Kap. IV.C.3) müssen die einschlägigen Regelun- lungen sind die Kosten für die Sequenzierung in den
gen und Gesetze zum Tierschutz beachtet werden. letzten Jahren stetig gefallen, so dass solche Analy-
Danach bedürfen Tierversuche grundsätzlich einer sen auch für einzelne Patienten erschwinglich wer-
Genehmigung. Züchtungen, die in Qualen für die den.
Tiere resultieren, sind verboten. Für die Tierethik Die mithilfe der Gen- bzw. Genomanalyse ge-
stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage nach der wonnenen Kenntnisse können genutzt werden, um
Vertretbarkeit und den Grenzen weitreichender gen- Menschen auf der genetischen Ebene eindeutig zu
technischer Eingriffe, die tendenziell auch die Art- beschreiben. Im Rahmen von polizeilichen Ermitt-
zugehörigkeit des betreffenden Tieres zur Disposi- lungsverfahren können so Täter aufgrund hinterlas-
tion stellen. Besondere Kritik zog die Patentierung sener Spuren von Körpermaterial identifiziert wer-
transgener Tiere auf sich. Nach heftigen Protesten den. Auch Verwandtschaftsnachweise sind auf die-
und Einsprüchen gegen solche Patente hauptsäch- sem Wege zuverlässig möglich. In Kombination mit
lich durch die Umweltorganisation Greenpeace der Familienanamnese oder genetisch epidemiologi-
rückte die Legitimität von ›Patenten aufs Leben‹ in schen Befunden können genetische Untersuchun-
das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik. gen weiterhin DNA-Sequenzen bzw. deren Verände-
Während die Wirtschaft in der ethisch motivierten rungen identifizieren, die in die Entstehung von
Beschränkung von Patenten eine Behinderung der Krankheiten involviert sind. Im Rahmen der kli-
Innovation sieht, ist eine solche für andere ein not- nisch orientierten Gendiagnostik werden diese
wendiger Schutzwall gegenüber der fortschreiten- Kenntnisse eingesetzt, um Veranlagungen für erbli-
den Kommerzialisierung von Lebewesen und ihrer che oder durch genetische Veränderungen beein-
Degradierung zu Sachen. flusste Erkrankungen zu ermitteln oder auch gene-
Jenseits solcher normativer Debatten stellt sich je- tisch bedingte Empfindlichkeiten gegenüber (phar-
doch auch die Frage nach den möglichen Auswir- mazeutischen) Wirkstoffen festzustellen. Letzteres
kungen transgener Tiere auf die Umwelt bzw. ökolo- ist der Aufgabenbereich der Pharmakogenetik.
gische Zusammenhänge. So gibt es beispielsweise Insgesamt steht mit der Genomanalyse und Gen-
begründete Befürchtungen, dass transgene Lachse diagnostik ein weitreichendes analytisches und dia-
aus den Zuchtanstalten entkommen, sich mit Wild- gnostisches Potenzial zur Verfügung, das es ermög-
populationen kreuzen und diese damit zurückdrän- licht, einzelne Individuen anhand kleinster DNS-
gen können. Entsprechende Einwendungen haben Mengen zu identifizieren und die genetischen
dazu geführt, dass die Zulassung solcher Tiere in Grundlagen nicht nur menschlicher Erkrankungen
den USA immer wieder verschoben wurde. oder physiologischer Prozesse, sondern zukünftig
möglicherweise auch äußerer Merkmale oder
menschlichen Verhaltens zu bestimmen. Zuneh-
Genanalyse und Gendiagnostik mend wird allerdings anerkannt, dass genetische
Mechanismen äußerst komplex sein können und
Bei der genetischen Analyse des menschlichen Erb- nicht nur die Sequenz eines Gens, sondern vor allem
materials wird die Sequenz, also die Abfolge seiner Zeit, Ort und Menge seiner Expression entscheidend
Bausteine, entweder über das ganze Genom oder von für seine Wirkung sind. Menschliche Eigenschaften
bestimmten Teilen desselben ermittelt. Des Weiteren und auch Krankheiten werden durch vielfältige Fak-
können interindividuelle Unterschiede und gegebe- toren beeinflusst; die genetische Information ist nur
nenfalls solche zwischen verschiedenen Ethnien einer davon. Aufgrund ihrer konstitutionellen Be-
analysiert werden. Die Gesamtanalyse des ersten deutung, ihrer Unveränderbarkeit, ihrer zeitlich un-
menschlichen Genoms erfolgte im Rahmen des 1990 befristeten Wirkung und ihrer Familienrelevanz
in den USA gegründeten Humangenomprojektes, wird genetischen Faktoren bzw. genetischen Daten
das im Jahre 2003 abgeschlossen wurde. 2008 be- in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskus-
gann das internationale 1000-Genome Project, das sion dennoch eine erhebliche Bedeutung zugemes-
das Erbmaterial von 2500 Menschen sequenzieren sen. Entsprechend ist der Schutz dieser Daten ein
will, um eine detaillierte Karte der genetischen Vari- wichtiges Thema. Die Durchführung genetischer
ationen des Menschen zu erstellen. Im Oktober 2012 Untersuchungen bei Menschen sowie die Verwen-
waren bereits die Sequenzdaten von 1092 Indivi- dung genetischer Proben und Daten wurden durch
duen ermittelt (The 1000 Genomes Project Consor- das Gesetz über genetische Untersuchungen bei
282 V. Technikfelder

Menschen (Gendiagnostikgesetz  – GenDG) gere- Kraft. Durch eine Änderung des Gesetzes zum
gelt, das am 1. Februar 2010 in Kraft trat. Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz  –
Gewichtige ethische und gesellschaftliche Fragen ESchG) wird dabei die zuvor als verboten angese-
wirft vor allem die prädiktive genetische Diagnostik hene PID bei einem hohen Risiko für eine schwere
auf, die Krankheitsanlagen erkennt, lange bevor sich Erbkrankheit oder bei hoher Wahrscheinlichkeit für
ein Gesundheitsproblem entwickelt (Kollek/Lemke eine Fehl- bzw. Totgeburt des Fötus für nicht rechts-
2008). Prädiktive genetische Untersuchungen sind widrig erklärt.
nicht nur bei Erwachsenen, sondern in jedem Alter Neben der ethischen Diskussion besteht die Auf-
möglich: So kann die genetische Ausstattung einer gabe der Technikfolgenabschätzung und -bewertung
Eizelle mittels der Polkörperdiagnostik schon vor der der prädiktiven Diagnostik vor allem darin, empiri-
Befruchtung untersucht werden, und die des frühen sche Befunde zu den medizinischen, psychosozialen
Embryo in vitro mittels der Präimplantationsdia- und gesellschaftlichen Implikationen gendiagnosti-
gnostik (PID) ab etwa dem dritten Tag nach Befruch- scher Technologien in ihren unterschiedlichen Ein-
tung. Die Pränataldiagnostik, also die Untersuchung satzbereichen zu erheben und auszuwerten, damit
des Fötus während der Schwangerschaft, erfolgt üb- sich Gesellschaft und politische Entscheidungsträ-
licherweise zwischen der 14. und 16. Schwanger- ger ein möglichst genaues Bild über die erfassbaren
schaftswoche. Neuerdings kann man fötale DNA Auswirkungen ihrer Anwendung machen können.
auch aus dem Blut der Schwangeren isolieren und Die Folgen der Anwendung dieser Technik werden
daran eine genetische Untersuchung auf Chromoso- in unterschiedlichen Ländern jedoch mit unter-
menanomalien vornehmen. schiedlicher Intensität und verschiedenen Metho-
Die wachsenden Möglichkeiten, die genetische den erfasst; von daher ist es äußerst schwierig, in
Ausstattung eines Menschen schon kurz nach seiner diesem Bereich vergleich- und belastbare Daten zu
Zeugung im Reagenzglas zu ermitteln, haben weit- generieren.
reichende Kontroversen über die damit zusammen-
hängenden ethischen und sozialen Fragen provo-
ziert. Diskutiert werden nicht nur die unmittelbaren Herstellung von Medikamenten
medizinischen, psychischen und familiären Konse- und Gentherapie
quenzen der prädiktiven und vorgeburtlichen Dia-
gnostik, sondern auch Fragen der (informationel- Mithilfe gentechnischer Verfahren können lebende
len) Selbstbestimmung, der genetischen Diskrimi- Zellen so verändert werden, dass sie zuvor nicht
nierung sowie der Stellung von Behinderten in der vorhandene Wirkstoffe neu bilden oder vorhandene
Gesellschaft. Zwar ist in § 4 des GenDG ein Benach- in größerer Menge als zuvor produzieren. Der erste
teiligungsverbot rechtlich festgeschrieben. Danach gentechnisch hergestellte medikamentöse Wirkstoff
darf niemand wegen seiner oder der genetischen Ei- war das rekombinante Humaninsulin, das bereits
genschaften einer genetisch verwandten Person be- 1982 von der amerikanischen Food and Drug Ad-
nachteiligt werden. Befürchtet wird aber, dass das ministration für die Anwendung am Menschen zu-
Gesetz weder vor sozialen Ausgrenzungen schützt gelassen wurde. Das entsprechende Gen war zuvor
noch mögliche psychische oder soziale Auswirkun- aus menschlichen Zellen isoliert und in einen Bak-
gen einer als nachteilig wahrgenommenen geneti- terienstamm eingebracht worden. Dessen biotech-
schen Eigenschaft verhindert. nische Kultivierung ermöglichte es, nicht nur große
Wegen ihrer Möglichkeit, zwischen mehreren in Mengen des davor zumeist aus den Bauspeicheldrü-
vitro gezeugten Embryonen eine genetische Auswahl sen von Schweinen isolierten Hormons zu produ-
zu treffen, ist die PID besonders umstritten. Wäh- zieren, sondern auch modifizierte Varianten davon
rend manche sie als ethisch problematische Selek- mit verändertem Wirkungsspektrum. Im Septem-
tion werten, die wegen ihrer Voraussetzungen und ber 2012 spielte die Gentechnik in Deutschland bei
Konsequenzen nicht mit einem Schwangerschafts- der Herstellung von 109 Wirkstoffen (ca. 5 % aller
abbruch in einer Konfliktsituation vergleichbar ist, zugelassenen) eine Rolle. Wichtige Anwendungsge-
sehen andere darin den vorgezogenen Abbruch ei- biete sind neben Diabetes die Multiple Sklerose, an-
ner Schwangerschaft; die Entscheidung darüber geborene Blutgerinnungs- und Stoffwechselstörun-
stehe allein den betreffenden Eltern zu. Im Novem- gen, Krebserkrankungen und Schutzimpfungen.
ber 2011 trat in Deutschland das Gesetz zur Rege- Der Marktwert dieser rekombinanten Medika-
lung der Präimplantationsdiagnostik (PräimpG) in mente beträgt etwa 4,7 Mrd. Euro (16 % des Arz-
7. Gentechnik 283

neimittelumsatzes in Deutschland; alle Angaben: kung betroffene, 18-jährige Jesse Gelsinger an einem
VfA 2012). multiplen Organversagen infolge der massiven Re-
Nach der Thematisierung von Grundsatz- und aktion seines Immunsystems auf den viralen Vektor,
Risikofragen in der Anfangsphase der ethisch-ge- mit dem das therapeutische Gen in seinen Körper
sellschaftlichen Debatte zur Gentechnik ist ihr Ein- eingeschleust worden war. Kurz nach seinem Tod
satz bei der Entwicklung und Herstellung von Medi- wurden fünf Fälle bekannt, in denen Kinder, die an
kamenten weitgehend akzeptiert. Viele Menschen einer erblichen Immunschwäche litten, nach einem
erwarten von derartigen Entwicklungen und Pro- gentherapeutischen Eingriff an Leukämie erkrank-
dukten einen Fortschritt der Medizin und einen ten: Durch den Einbau des Vektors in das Genom
Nutzen für ihre eigene Gesundheit. Auch unter- waren andere Genfunktionen gestört und die Krank-
scheiden sich die meisten Fragen hinsichtlich der heit ausgelöst worden (Sheridan 2011). Infolgedes-
Nebenwirkungs- und Missbrauchspotenziale gen- sen wurden Gentherapiestudien weltweit zeitweise
technisch hergestellter Medikamente nicht grund- ausgesetzt, später jedoch mit modifizierter Vorge-
sätzlich von jenen, die sich auch bei anderen Medi- hensweise wieder aufgenommen. Inzwischen setzt
kamenten stellen. Bemerkenswert ist allerdings, dass man vor allem aufgrund der Weiterentwicklung und
das rekombinante humane Erythropoietin (re- Verfeinerung der Methoden und einer ausgefeilten
HuEPO), das die Bildung roter Blutkörperchen sti- Prüfung und Überwachung der Studienprotokolle
muliert und seit 1987 in Europa verfügbar ist, einer wieder mehr Hoffnungen in diese Therapieform.
breiten Öffentlichkeit vor allem durch seinen Ein- Am 1. November 2012 wurde das erste Genthera-
satz als Dopingmittel im Radsport bekannt wurde. peutikum für eine sehr seltene Erkrankung in Eu-
Das Internationale Olympische Komitee verbot ropa zugelassen.
seine Anwendung zwar 1990. Da es sich jedoch um Die Diskussion um die ethischen Aspekte der
ein Protein handelt, das im menschlichen Körper Gentherapie setzte bereits sehr früh ein (Walters
natürlicherweise vorkommt, ist der Nachweis eines 1986). Die somatische Gentherapie, also der Einbau
Dopingvergehens nach wie vor schwierig (Jelk- neuer Gene in Körperzellen, stößt auf vergleichs-
mann/Lundby 2011). Ähnliche Probleme ergeben weise wenig Vorbehalte, solange es sich um die Be-
sich beim Einsatz des rekombinanten menschlichen handlung einer schweren Erkrankung, und nicht um
Wachstumshormons als Muskelwachstumsfaktor eine Verbesserung oder Verstärkung existierender
(Gerlinger et al. 2008, 41 f.). Insgesamt wird jedoch Eigenschaften (enhancement) handelt. Umso stärker
der medizinische Nutzen solcher Produkte höher sind die Vorbehalte jedoch gegenüber – bisher noch
bewertet als ihr Schadens- oder Missbrauchspoten- nicht realisierten  – Keimbahneingriffen beim Men-
zial. schen. Dabei würde die neue genetische Information
Weitergehende medizinische und ethische Fragen in eine befruchtete Eizelle bzw. einen frühen Em-
werden durch die Gentherapie aufgeworfen. Der Be- bryo eingebracht. Nach Entwicklung des Individuums
griff beschreibt Verfahren, durch die rekombinante wäre sie Bestandteil aller seiner Zellen, auch seiner
Nukleinsäuresequenzen mittels eines Vektors (ein Keimzellen. Von dieser Person gezeugte Kinder und
Transportmolekül) zu therapeutischen Zwecken in Kindeskinder würden diese Information erben und
Körperzellen eines Individuums eingeführt werden. mit den Konsequenzen des Eingriffs leben müssen.
Ursprünglich wurde das Konzept für die Behand- Ethisch eingewandt werden gegen Keimbahnma-
lung monogener Erbkrankheiten entwickelt, die auf nipulationen nicht nur die unvorhersehbaren Risi-
der Funktionsstörung eines Gens beruhen. Mittler- ken solcher Eingriffe, sondern vor allem, dass die
weile gibt es jedoch auch Behandlungsansätze für zukünftigen Personen ihre Einwilligung zu einer
komplexe Erkrankungen wie beispielsweise Krebs. solchen Keimbahnveränderung nicht geben können.
Insgesamt sind die klinischen Erfolge bislang be- Auch handle es sich dabei um eine Art der Vorher-
grenzt (Fehse/Domasch 2011). Zwar konnte einigen bestimmung des Schicksals dieser Person durch an-
schwerkranken Menschen gentherapeutisch gehol- dere. Dies verletze ihre Würde und gefährde ihren
fen werden; in vielen anderen Fällen realisierten sich Status als Person (Habermas 2001). Im Gegensatz
die in solche Verfahren gesetzten Hoffnungen je- dazu sehen andere in der genetischen Veränderung
doch nicht. In einigen Fällen kam es sogar zu oder gar Verbesserung durch Keimbahnmodifikati-
schwerwiegenden Nebenwirkungen, teilweise mit onen ein legitimes Ziel der menschlichen Selbstbe-
Todesfolge. Im September 1999 verstarb beispiels- stimmung und Selbstgestaltung. Sie gehen davon
weise in den USA der von einer Stoffwechselerkran- aus, dass es – die Sicherheit solcher Eingriffe voraus-
284 V. Technikfelder

gesetzt – ethisch nicht vertretbar sei, ihre Entwick- lieren, erzeugt die Gentechnik solche Variationen
lung zu behindern oder sie aus Gründen der Vor- durch das Einbringen neuer Gene. Diese werden zu-
sorge zu verbieten (Smith et al. 2012). In Deutsch- dem oft aus Organismen oder Arten isoliert, mit de-
land sind Keimbahneingriffe beim Menschen nach nen sich die Pflanzen natürlicherweise nicht kreuzen
§ 5 des ESchG verboten. Ein Grund für dieses Verbot würden, so dass Eigenschaften erzeugt werden kön-
liegt auch darin, dass im Zuge der Etablierung eines nen, die mittels konventioneller Züchtung nicht er-
solchen Verfahrens menschliche Embryonen experi- reichbar sind. Die Übertragung der Gene selber ge-
mentell verändert und teilweise verworfen, und zu- schieht dabei nicht gezielt; vielmehr wird die neue
dem gezielt Schwangerschaften auf Probe etabliert Erbinformation zufällig in das Kerngenom der
werden müssten, um zu prüfen, ob sich der gene- Pflanzenzellen eingebaut. Zwar kann die direkte
tisch veränderte Fötus normal entwickelt. Wirkung des Transgens – beispielsweise die Bildung
eines Toxins  – im Labor oder Gewächshaus unter-
sucht werden. Indirekte Effekte der übertragenen
Gentechnik in der Pflanzenzüchtung und eingebauten DNA-Sequenz – beispielsweise die
Beeinflussung der Expression anderer Gene und die
Transgene Pflanzen werden erzeugt, um agronomi- dadurch möglichen systemischen Effekte  – zeigen
sche Eigenschaften zu verbessern, oder eine verän- sich jedoch häufig erst unter Anbaubedingungen,
derte oder neue Zusammensetzung ihrer Inhalts- ebenso wie Wechselwirkungen mit anderen Orga-
stoffe zu erzielen. Der Anbau solcher Pflanzen und nismen und der Umwelt.
ihre Verwendung für die Futter- und Nahrungsmit- Sechzehn Jahre nach der Markteinführung der
telproduktion (s. Kap. V.1) haben weltweit Kontro- ersten transgenen Pflanze sind weiterhin vor allem
versen über die ökologischen, gesundheitlichen und herbizid- und insektenresistente, und vereinzelt
sozioökonomischen Folgen sowie die ethischen Im- auch virusresistente Sorten verfügbar; man bezeich-
plikationen einer solchen Praxis ausgelöst. Die ers- net sie als transgene Pflanzen der ersten Generation.
ten gentechnisch veränderten Pflanzen entstanden Insektenresistente Pflanzen werden durch den Ein-
Anfang der 1980er Jahre; die Markteinführung er- bau eines Gens aus dem Bakterium Bacillus thurin-
folgte 1996 in den USA. Dabei handelt es sich bis giensis hergestellt, das für das Bt-Toxin kodiert. Das
heute überwiegend um Arten und Sorten, die durch Toxin ist ein Fraßgift für bestimmte Insekten; die
die Einführung neuer Gene entweder resistent gegen Larven sterben nach Aufnahme des entsprechenden
Insektenfraß wurden oder eine Herbizidtoleranz Pflanzenmaterials schnell ab. Vom Anbau solcher
entwickelten. Angebaut werden aktuell – in der Rei- Sorten erhofft man sich eine Reduktion des Insekti-
henfolge ihrer Anteile – transgene Soja-, Baumwoll-, zideinsatzes. Bt-resistente Sorten wurden vor allem
Mais- und Rapspflanzen auf etwa 9 Prozent der glo- von Mais und Baumwolle hergestellt. Herbizidresis-
balen Landwirtschaftsfläche; Hauptanbaugebiet sind tente Pflanzen sind deshalb interessant, weil sie den
die USA, wo sie etwa 90 Prozent der jeweiligen An- Einsatz von Breitbandherbiziden ermöglichen, die
baufläche ausmachen (Stand 2009; alle Angaben: unter normalen Bedingungen wichtige Stoffwech-
Transparenz Gentechnik 2012). Verbreitet sind sie selwege fast aller Pflanzen und damit auch von Nutz-
ebenfalls in Kanada, Brasilien, Argentinien und Süd- pflanzen hemmen und sie abtöten. Eines dieser Her-
afrika, nicht aber in Europa. Grund dafür ist u. a. bizide ist das Glyphosat (Markenname Roundup;
mangelnde Akzeptanz bei Landwirten und Verbrau- Monsanto). Durch Übertragung der entsprechenden
chern, Widerstand von Umweltverbänden und ver- genetischen Information lassen sich Pflanzen erzeu-
gleichsweise strenge Zulassungsbedingungen. Den- gen, die eine Behandlung mit Glyphosat überleben.
noch wirkt sich der internationale Anbau transgener Die Idee dabei ist, dass das Herbizid bei Unkrautbe-
Pflanzen auch auf Europa aus: Da ein großer Teil fall gezielter und in geringeren Mengen eingesetzt
transgener Sojabohnen als Tierfutter Verwendung werden kann. 85 Prozent aller weltweit transgenen
findet, landen sie indirekt auch bei europäischen angebauten Nutzpflanzen sind herbizidresistent  –
Verbrauchern auf dem Tisch. entweder alleine (59 %) oder in Kombination mit ei-
Gentechnische Züchtungsverfahren unterschei- ner Insektenresistenz (Clive 2011).
den sich von konventionellen Verfahren. Während Einige der erhofften Vorteile und befürchteten
die herkömmliche Pflanzenzüchtung meist spon- Nachteile solcher Pflanzen lassen sich mittlerweile
tane oder technisch induzierte Mutationen nutzt, anhand von empirischen Untersuchungen überprü-
um durch gezielte Selektion neue Varianten zu iso- fen. Tatsächlich konnte der Einsatz von Insektiziden
7. Gentechnik 285

in den USA nach Einführung von Insektenfraß-re- mittlungsverfahrens zu klären. 1996 diskutierten
sistenten transgenen Nutzpflanzen reduziert wer- Vertreter aus Industrie und Umweltverbänden,
den. Gleichzeitig stieg jedoch die Menge der ausge- Repräsentanten der zuständigen Regulierungsbe-
brachten Pestizide an. Beobachtet wurde auch, dass hörden und Wissenschaftler aller einschlägigen Dis-
die klassischen Fraßschädlinge, die durch das in die ziplinen (insgesamt etwa 60 Personen) die mit herbi-
Pflanzen eingebaute Toxin vernichtet oder zurück- zidresistenten Pflanzen zusammenhängenden ethi-
gedrängt wurden, durch andere Schadinsekten er- schen und gesellschaftlichen Fragen, ohne dass es
setzt wurden, die zuvor keine relevanten Auswir- letztlich zu einer gemeinsamen Stellungnahme kam
kungen hatten. Noch ernüchternder fällt die Bilanz (van den Daele et al. 1996). Ein wichtiger Punkt in
bei der Herbizidresistenz aus: Der Einsatz solcher der Kontroverse war, in welchem Umfang das Vor-
Pflanzen führte in den USA zwischen 1996 und 2011 sorgeprinzip (s. Kap. VI.3) geltend gemacht werden
zu einer Erhöhung des Herbizideinsatzes um 239 kann.
Millionen Kilogramm und einer Vielzahl von resis- Die Kritik an der Grünen Gentechnik fokussiert
tenten Unkräutern (Benbrook 2012). auf fünf Punkte: (1) Mögliche Gesundheitsbeein-
Von den transgenen Pflanzen der ersten Genera- trächtigungen; (2) schädliche Umweltwirkungen; (3)
tion haben die Verbraucher keine unmittelbaren nachteilige Einflüsse auf die traditionelle Landwirt-
Vorteile. Dies soll durch die der zweiten Generation schaft; (4) überbordender Einfluss von Wirtschafts-
geändert werden. Züchtungsziele sind hier vor allem interessen und Unternehmen und (5) die ›Unnatür-
die Erhöhung oder Verbesserung des Nährstoffge- lichkeit‹ der Technologie (Nuffield Council on Bio-
halts oder eine bessere Verarbeitungsqualität. Bei- ethics 1999). Nicht nur für Europa, wo die
spielhaft für das erste Ziel steht der Goldene Reis Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebens-
(golden rice), dessen Körner eine erhöhte Menge an mittel verpflichtend ist, fordern die Verbraucher
β-Carotin bilden; dadurch erhalten sie eine gold- Transparenz und Informationen ein. Als in China
gelbe Farbe. β-Carotin ist eine Vorstufe des Vitamin bekannt wurde, dass die Eltern von Kindern, die an
A; nach Aufnahme aus der Nahrung wird es im einer Verzehrstudie zum Goldenen Reis teilnahmen,
Darm in das Vitamin umgewandelt. Von der Ein- nicht darüber aufgeklärt worden waren, dass es sich
führung des Goldenen Reises erhofft man sich vor dabei um eine transgene Sorte handelt, wurden die
allem in Entwicklungsländern, in denen Reis den entsprechenden Wissenschaftler und Verantwortli-
Hauptbestandteil der Nahrung bildet, eine Reduk- chen entlassen (Qiu 2012). Dies verweist nicht nur
tion von Vitamin-A-Mangelerkrankungen. Dazu ge- auf die allgemeine Sensibilisierung der Bevölkerun-
hören Augen- und Hauterkrankungen, Wachstums- gen gegenüber transgenen Pflanzen für die Ernäh-
und Entwicklungsstörungen bei Kindern sowie eine rung, sondern auch auf die Bedeutung des aus der
erhöhte Sterblichkeit. Abhilfe könnte allerdings auch Medizinethik stammenden, bioethischen Prinzips
eine Erhöhung des Anteils frischen Gemüses in der der informierten Einwilligung (s. Kap. V.14), das bei
Nahrung, die Umstellung der Ernährung auf un- wissenschaftlich-technischem Erprobungshandeln
polierten Reis – dieser enthält ausreichende Mengen mittlerweile in vielen Bereichen Bedeutung erlangt
an Vitamin A – oder die Gabe von Vitamintabletten hat. Thematisiert werden auch mögliche nachteilige
schaffen. Besonders die zuerst genannten Maßnah- Auswirkungen auf die Umwelt – hier insbesondere
men würden auch helfen, andere Mangelerschei- die mögliche unkontrollierte Ausbreitung der trans-
nungen zu bekämpfen. Ökonomischen Kalkülen genen Eigenschaften in der Umwelt durch Auskreu-
zufolge wäre jedoch die Einführung des Goldenen zung – und auf die Landwirtschaft in Entwicklungs-
Reises kostengünstiger und effektiver als letzteres ländern. Befürchtet wird, dass die Grüne Gentech-
(Qaim 2010). nik die existierenden Konzentrationstendenzen im
Die Kritik an der Einführung transgener Pflan- Agrarbereich und die Abhängigkeit von multinatio-
zensorten entzündete sich bereits in den frühen nalen Agrarkonzernen verschärft, da sie u. a. mehr
1990er Jahren und führte dazu, dass Umweltgrup- als 75 Prozent aller einschlägigen Patente in diesem
pen Felder besetzten und Aussaaten von transgenen Bereich besitzen.
Pflanzen zerstörten. Eine Reaktion darauf war der Die Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit (zu Natur
Versuch, die mit solchen Pflanzen und ihrem Anbau und Technik s. Kap. IV.C.2) der gentechnischen
zusammenhängenden moralischen Fragen, die bei Pflanzenzüchtung und der dabei entstehenden Vari-
Zulassungsverfahren nicht erörtert werden konnten, anten ist ein weiteres für die technikethische Diskus-
im Rahmen eines wissenschaftlich begleiteten Ver- sion relevantes Thema. Hier wird einerseits vertre-
286 V. Technikfelder

ten, dass transgene Pflanzen sich nicht in so hohem konventionell gezüchteten Mikroorganismen gebil-
Maße von traditionell gezüchteten unterscheiden, det; zumeist jedoch in nur geringer Menge. Andere
dass die Art ihrer Herstellung selbst eine generelle Substanzen werden gentechnisch so modifiziert,
Ablehnung rechtfertigt. Vielmehr sei es nötig, jeden dass sie im Vergleich mit natürlicherweise vorkom-
Fall einzeln zu betrachten und zu bewerten. Dage- menden veränderte oder neue Eigenschaften erlan-
gen steht andererseits, dass mithilfe gentechnischer gen. Weiterhin soll die Produktion komplexer Stoffe
Eingriffe alle zeitlichen, räumlichen und biologi- durch die Nutzung der Synthese- und Stoffwechsel-
schen Barrieren durchbrochen werden, die im Laufe fähigkeiten von Mikroorganismen einfacher und
der Evolution zur Herausbildung der Arten und ih- kostengünstiger werden und weniger Material und
rer Vielfalt geführt haben. Bei Einführung transge- Energie verbrauchen als konventionelle chemische
ner Pflanzen sei deshalb die Wahrscheinlichkeit Synthesen. Da viele Produktionsverfahren auf der
groß, dass ohnehin bereits fragile ökologische Zu- Nutzung nachwachsender Rohstoffe beruhen, er-
sammenhänge gestört würden. Dies rechtfertige die hofft man sich von der (gentechnisch verstärkten)
Ablehnung der Einführung solcher Pflanzen. Disku- Biotechnologie auch eine Umweltentlastung (Bun-
tiert wird in diesem Zusammenhang auch eine desministerium für Bildung und Forschung 2007).
›Würde der Pflanze‹. Damit verbindet sich die For- Ein vergleichbarer Vorbehalt der Bevölkerung
derung, Pflanzen (wie auch Tiere) um ihrer selbst wie gegen die Grüne Gentechnologie ist im Bereich
willen zu berücksichtigen. Das Konzept der ›Integri- der Weißen Gentechnologie nicht auszumachen.
tät‹ der Pflanze könne als geeignetes Kriterium für Dies liegt vor allem daran, dass die veränderten Bak-
die Überprüfung von Würdeverletzungen dienen terien in geschlossenen Anlagen (Bioreaktoren) kul-
(Odparlik 2009). Widersprochen wird dem Postulat tiviert und nicht wie bei der Grünen Gentechnik in
der Pflanzenwürde mit dem Hinweis darauf, dass sie die Umwelt freigesetzt werden. Frühere Bedenken,
nicht mit der des Menschen vergleichbar sei. Wäh- dass solche Mikroorganismen aus den Anlagen ent-
rend diese absolut gesetzt wird, könne die anderer kommen und in der Umwelt Schäden verursachen
Lebewesen – auch die von Pflanzen – relativiert wer- könnten, haben sich nicht bestätigt; jedenfalls sind
den, um für den Menschen lebensdienliche Ziele zu keine einschlägigen Vorfälle bekannt geworden. Oft
verfolgen. Um diese nicht zu gefährden, bedürfe es wissen die Verbraucher jedoch nicht (und müssen
keiner pflanzenethischen Argumentation, sondern auch nicht darüber informiert werden), dass bei der
einer Technikbewertung (Knoepffler 2009). Herstellung von Wasch- oder Lebensmittelzusätzen
(wie beispielsweise beim Lab, das bei der Käseher-
stellung benötigt wird) gentechnisch veränderte Mi-
Gentechnische Veränderung kroorganismen zum Einsatz kommen.
von Mikroorganismen Weitaus mehr Befürchtungen artikulieren sich
hinsichtlich des möglichen Einsatzes der Gentech-
Die gentechnische Veränderung von Mikroorganis- nik zur Herstellung von Biowaffen. Durch den Gen-
men zu industriellen Zwecken wird häufig als Weiße transfer oder andere künstliche Modifikationen der
Gentechnik bezeichnet. Dominantes Ziel entspre- Erbsubstanz könnten aus wenig pathogenen Erre-
chender Eingriffe ist, die Mikroorganismen für ih- gern besonders virulente oder aggressive Mikroor-
ren Einsatz in der biotechnischen Produktion von ganismen (Bakterien und Viren) werden. Da die ver-
Stoffen zu optimieren, die in der Herstellung von wendeten Techniken nicht besonders viel kosten,
Wasch-, Nahrungs- oder Arzneimitteln zum Einsatz könnten solche Waffen auch in weniger entwickelten
kommen. Darüber hinaus sollen dadurch die Roh- Ländern erzeugt werden. Thematisiert wird in die-
stoffabhängigkeit sowie die Energie und Entsor- sem Zusammenhang zum einen das Dual-use-Pro-
gungskosten der Industrie reduziert und neue Pro- blem (s. Kap. IV.C.11). Diskutiert wird auch, ob und
dukte mit hohem Wertschöpfungspotenzial herge- in welchem Umfang Forschungsergebnisse, die für
stellt werden. die Konstruktion von Biowaffen möglicherweise re-
Bereits heute werden zahlreiche Produkte wie levant sein können, veröffentlicht werden sollen.
beispielsweise Enzyme, Antibiotika, Vitamine, Hor- Diese Diskussion entzündete sich u. a. Ende 2011, als
mone oder Biokunststoffe mittels biotechnischer niederländische und amerikanische Forscher gen-
Verfahren unter dem Einsatz gentechnisch verän- technisch ein Virus konstruierten, das Eigenschaften
derter Bakterien erzeugt. Viele der Stoffe werden des Vogelgrippevirus H5N1 aufwies, aber zusätzlich
auch von natürlicherweise vorkommenden oder durch die Luft übertragen wird, was beim ursprüng-
7. Gentechnik 287

lichen H5N1 nicht der Fall ist. Da ein solches Virus pdf/publikationen/berichte/TAB-Arbeitsbericht-ab124.
für Menschen sehr gefährlich werden kann, wurde pdf (27.02.2013).
Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
von Regierungsstellen gefordert, wichtige experi-
Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.
mentelle Details geheimzuhalten. Zwar waren die 2001.
Wissenschaftler bereit, ihre Experimente für einige Jelkmann, Wolfgang/Lundby, Carsten: Blood doping and
Monate auszusetzen (Fouchier et al. 2012). Da eine its detection. In: Blood 118/9 (2011), 2395–2404.
solche Geheimhaltung wichtige medizinische For- Kind, Alexander/Schnieke, Angelika: Animal pharming,
schungen behindert und letztlich auch nicht prakti- two decades on. In: Transgenic Research 17/6 (2008),
1025–1033.
kabel ist, werden die meisten Forschungsergebnisse Knoepffler, Nikolaus: Würde versus Gentechnologie? In:
schließlich doch veröffentlicht. Journal für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
Ein weiteres Problem ist das Kontrollproblem. So 4 (2009), 325–330.
können beispielsweise gefährliche Mikroorganis- Kollek, Regine/Lemke, Thomas: Der medizinische Blick in
men in teilweise kleinen biotechnischen Anlagen ge- die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver
Gentests. Frankfurt a. M. 2008.
züchtet werden, die auch für andere Zwecke Ver- Krimsky, Sheldon: Genetic Alchemy. The Social History of
wendung finden und deshalb von Waffenkontroll- the Recombinant DNA Controversy. Cambridge, Mass.
inspektoren nicht einfach zu identifizieren sind. 1982.
Andererseits bestehen grundsätzliche Zweifel daran, Nuffield Council on Bioethics: Genetically modified crops:
ob sich Mikroorganismen – auch gentechnisch mo- the ethical and social issues. London 1999. In: http://
www.nuffieldbioethics.org/sites/default/files/GM %20
difizierte  – für militärische Einsätze eignen. Ihre crops %20- %20full %20report.pdf (20.12.2012).
Verbreitung ist kaum zu kontrollieren und bei ihrem Odparlik, Sabine: Die Würde der Pflanze versus Gentech-
Einsatz wäre der Aggressor selber gefährdet. Disku- nik? In: Journal für Verbraucherschutz und Lebensmittel-
tiert werden entsprechende Fragen von der Frie- sicherheit 4 (2009), 367–375.
dens- und Konfliktforschung sowie von der Tech- Qaim, Matin: Benefits of genetically modified crops for the
poor: household income, nutrition, and health. In: New
nikfolgenabschätzung und -bewertung (s. Kap. Biotechnology 30/27 (2010), 552–557.
VI.4). Qiu, Jane: China sacks officials over Golden Rice contro-
versy. Chinese families did not give consent for children
Literatur to consume genetically modifed rice in the part US-fun-
ded study. In: Nature News 10 (December 2012), http://
Benbrook, Charles M.: Impacts of genetically engineered www.nature.com/news/china-sacks-officials-over-
crops on pesticide use in the U.S. the first sixteen years. golden-rice-controversy-1.11998 (20.12.2012).
In: Environmental Sciences Europe 24 (2012), 24 ff. Radkau, Jochen: Hiroshima und Asilomar. In: Geschichte
Bundesministerium für Bildung und Forschung: Weiße und Gesellschaft 14 (1988), 329–363.
Biotechnologie Chancen für neue Produkte und umwelt- Sheridan, Cormac: Gene therapy finds its niche. In: Nature
schonende Prozesse. Bonn/Berlin 2007. In: http://www. Biotechnology 29/2 (2011), 121–128.
bmelv.de/SharedDocs/Downloads/Landwirtschaft/ Smith, Kevin R./Chan, Sarah/Harris, John: Human germ-
Pflanze/GrueneGentechnik/WeisseBiotechnologie.pdf line genetic modification: scientific and bioethical per-
(20.12.2012). spectives. In: Archives of Medical Research 43/7 (2012),
Clive, James: Global Status of Commercialized Biotech/ 491–513.
GM Crops. In: ISAAA Brief 43 (2011) Ithaca, NY (exe- The 1000 Genomes Project Consortium: An integrated
cutive summary: http://www.isaaa.org/resources/publi map of genetic variation from 1,092 human genomes. In:
cations/briefs/43/executivesummary/default.asp, Nature 491 (2012), 56–65.
20.12.2012). Transparenz Gentechnik. In: http://www.transgen.de/an
Cohen, Stanley N./Chang, Annie C.Y./Boyer, Herbert W./ bau/eu_international/189.doku.html (20.12.2012).
Helling, Robert B.: Construction of biologically functio- van den Daele, Wolfgang/Pühler, Alfred/Sukopp, Herbert:
nal bacterial plasmids in vitro. In: Proceedings of the Na- Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipa-
tional Academy of Sciences, USA 70/11 (1973), 3240– tiven Technikfolgenabschätzung. Weinheim 1996.
3244. VfA – Die forschenden Pharma-Unternehmen. In: http://
Fehse, Boris/Domasch, Silke (Hg.): Gentherapie in Deutsch- www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/datenbanken-zu-
land. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Dorn- arzneimitteln/amzulassungen-gentec.html (12.10.2012).
burg 2011. Walters, LeRoy: The ethics of human gene therapy. In: Na-
Fouchier, Ron A. M./García-Sastre, Adolfo/Kawaoka, Yoshi- ture 320 (1986), 225–227.
hiro & 36 co-authors: Pause on avian flu transmission Regine Kollek
studies. In: Nature 481 (2012), 443.
Gerlinger, Katrin/Petermann, Thomas/Sauter, Arnold:
Gendoping. Endbericht zum TA-Projekt. Büro für Tech-
nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.
Berlin 2008. In: http://www.tab-beim-bundestag.de/de/
288 V. Technikfelder

8. Human Enhancement genz der NBIC-Technologien (Nano-, Bio-, Infor-


mationstechnologien und Technologien, die auf den
Kognitionswissenschaften basieren) erhoffen sich
Gegenstand und Begriff die Befürworterinnen und Befürworter weitere, teil-
weise radikale Optionen, die kognitiven Fähigkeiten
Menschen haben seit jeher versucht, ihre Eigen- des Menschen, sein Vorstellungsvermögen und
schaften oder Fähigkeiten zu korrigieren oder zu seine Gedächtnisleistungen zu optimieren, seine
verbessern. In den zurückliegenden Jahrzehnten psychischen Eigenschaften und sozialen Kompeten-
sind die Möglichkeiten hierzu dank pharmakologi- zen günstig zu beeinflussen oder auch seine Kom-
scher, chirurgischer und biotechnischer Fortschritte munikationsmöglichkeiten drastisch zu verändern
erheblich gewachsen. Diese neuen Verfahren zur (Roco/Bainbridge 2003).
Modifikation körperlicher und geistiger Leistungs- Enhancement zielt auf die ›Verbesserung‹ der Ei-
merkmale des Menschen sind seit ca. zehn Jahren genschaften oder Fähigkeiten eines Menschen. Die
Gegenstand einer kontroversen Debatte. Diese De- Modifikation einer Eigenschaft oder Fähigkeit als
batte wird unter dem Schlagwort ›Enhancement‹ Verbesserung zu bezeichnen, setzt voraus, dass es ei-
geführt (Parens 1995; Harris 2007; Sandel 2008; nen Ausgangszustand sowie evaluative Vorgaben
Schöne-Seifert et al. 2009; Savulescu/Bostrom 2009). gibt, relativ zu denen die Modifikation eine Verbes-
Enhancement bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie serung darstellt (Grunwald 2008, 249 ff.). In der Li-
›Verbesserung‹, ›Steigerung‹, ›Potenzierung‹, ›Er- teratur werden mit Bezug auf unterschiedliche Aus-
weiterung‹, ›Verstärkung‹, ›Erhöhung‹ oder ›Ertüch- gangszustände verschiedene, konkurrierende Defi-
tigung‹. nitionsvorschläge diskutiert. Ein Vorschlag beruht
Beispiele für Enhancement sind die Ästhetische zum Beispiel auf einer begrifflichen Unterscheidung
Chirurgie (Lüttenberg et al. 2011), Doping im Sport, zwischen Heileingriffen (therapy), Verbesserungen
Neuro-Enhancement (sensory, cognitive, mood en- (enhancement) und Veränderungen (alteration) (Jot-
hancement) durch psychopharmakologische Sub- terand 2008). Ob sich diese Begriffe trennscharf und
stanzen, magnetische oder elektrische Stimulations- ohne Rekurs auf problematische Normalitäts- oder
verfahren, Neuro-Prothesen oder Gehirn-Compu- Natürlichkeitsvorstellungen explizieren lassen, ist je-
ter-Schnittstellen (Schöne-Seifert et al. 2009) oder doch fraglich.
auch Anti-Aging-Maßnahmen, die das Ziel verfol- Umstritten ist vor allem die Unterscheidung zwi-
gen, den Alterungsprozess des Menschen zu ver- schen Therapie und Enhancement. Die Autoren des
langsamen bzw. seine Lebensspanne radikal zu ver- Berichts des President ’ s Council on Bioethics in den
längern (Knell/Weber 2009). USA beispielsweise verstehen unter Enhancement
Die gegenwärtig im Hinblick auf Enhancement- »the directed use of biotechnical power to alter, by
Zwecke diskutierten bzw. zu Enhancement-Zwecken direct intervention, not disease processes but the
genutzten Mittel und Verfahren, wie z. B. das übli- ›normal‹ workings of the human body and psyche, to
cherweise zur Therapie des Aufmerksamkeitsdefi- augment or improve their native capacities and per-
zit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern formances« (President ’ s Council 2003, 13). Die Au-
eingesetzte Medikament Ritalin, das bei gesunden toren des Berichts verstehen unter Enhancement
Probanden eine erhöhte kognitive Leistungsfähig- also Interventionen, die »jenseits der Therapie« an
keit hervorrufen soll, entstammen überwiegend ei- gesunden Menschen erfolgen. Vor dem Hinter-
nem medizinischen Kontext, dienen einem engen, grund, dass viele der gegenwärtig diskutierten bzw.
mehr oder minder klar umrissenen Zweck und sind genutzten Mittel zur Verbesserung oder Leistungs-
in ihren Auswirkungen eher moderat. Diese Situa- steigerung zunächst im medizinischen Kontext ent-
tion wird sich zumindest langfristig aber voraus- wickelt und angewendet wurden und erst sekundär
sichtlich ändern: Nicht wenige Stimmen in der De- mit dem Ziel der Leistungssteigerung auch bei Ge-
batte sagen die Entwicklung radikaler Enhance- sunden genutzt werden, liegt eine solche Bestim-
ment-Optionen voraus: »Stage 2 enhancement mung nahe. Die notorische Unschärfe des Krank-
technologies are multifunctional; have an autocata- heitsbegriffes, der für die Unterscheidung zwischen
lytic aspect that leads to accelerating development; Therapie und Enhancement herangezogen werden
and involve the convergence of multiple kinds of soll, und der Umstand, dass es in der Medizin eine
technology and technology platforms« (Khushf Pluralität verschiedener, mehr oder weniger gut be-
2008). Von den neuen Verfahren und der Konver- gründeter Krankheitsbegriffe gibt, die jeweils unter-
8. Human Enhancement 289

schiedliche Implikationen für die Unterscheidung die Nutzung von Enhancement-Maßnahmen ein
zwischen Therapie und Enhancement besitzen, ha- Recht auf den Verzicht entsprechender Eingriffe
ben aber zu Recht Zweifel daran geweckt, ob diese bzw. ein Recht darauf, nicht-enhanced bleiben zu
Unterscheidung zielführend ausgearbeitet werden können, korrespondieren muss. Darüber hinaus setzt
kann. eine moralisch akzeptable Nutzung von Enhance-
ment-Interventionen voraus, dass die Möglichkeit
eines Missbrauchs durch Arbeitgeber, Ausbildungs-
Human Enhancement als Heraus- institutionen, das Militär etc. durch wirksame poli-
forderung für Philosophie und Ethik tische Vorkehrungen unterbunden bzw. einge-
schränkt wird. Zudem müssten die gesellschaftli-
Aus philosophischer Perspektive stellen die Mög- chen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen
lichkeiten eines Human Enhancement in mindes- das Risiko eines latenten Zwangs zur Nutzung von
tens drei Hinsichten eine Herausforderung dar: Ers- Enhancement-Verfahren akzeptabel erscheinen las-
tens stellt sich das Problem einer ethischen Bewer- sen, und Ausnahmen von einer strikten Freiwillig-
tung von Enhancement-Eingriffen (1). Zweitens keitsregel, sofern überhaupt begründbar, auf genau
verweist die Enhancement-Debatte auf zentrale poli- definierte Ausnahmesituationen begrenzt werden.
tische und soziale Auseinandersetzungen (2). Drit- Diskutiert werden auch Eingriffe an Kindern oder
tens handelt es sich bei der gegenwärtig geführten auch an Ungeborenen mit dem Ziel, diesen einen
Debatte über Enhancement auch um eine Selbstver- möglichst guten Start ins Leben zu verschaffen. Of-
ständigungsdebatte über (normative) Menschenbil- fenkundig liegt die Rechtfertigungshürde für ent-
der und Gesellschaftsentwürfe (3). sprechende Eingriffe sehr hoch. Dies gilt nicht nur
(1) Pharmakologische, chirurgische und biotech- im Hinblick auf die mit entsprechenden Eingriffen
nische Mittel und Verfahren bieten bereits heute, verbundenen Risiken, sondern auch im Hinblick auf
wenn auch in eher beschränktem Umfang, die Mög- mögliche Einschränkungen der (zukünftigen) Wahl-
lichkeit, individuelle und soziale Ziele des Menschen freiheit und der Selbstbestimmung der Betroffenen,
zu unterstützen und zu befördern. Voraussetzungen die es zu vermeiden gilt (›Recht auf offene Zukunft‹).
für eine individuelle oder kollektive Akzeptanz sol- Manche Kritikerinnen und Kritiker befürchten
cher Möglichkeiten sind freilich, (a) dass mit ›ver- darüber hinaus, dass Enhancement-Maßnahmen
bessernden‹ Eingriffen keine erheblichen gesund- gravierende Probleme im Hinblick auf die persönli-
heitlichen Risiken oder unerwünschten Wirkungen che Identität bzw. die Persönlichkeit der Nutzerin-
für die Nutzerinnen und Nutzer verbunden sind, nen und Nutzer aufwerfen könnten. So stellt sich
und (b) mögliche Nutzerinnen und Nutzer  – im beispielsweise im Hinblick auf Eingriffe in das Ge-
Sinne eines über den Gesundheitsschutz hinausge- hirn eines Menschen (s. Kap. V.19), die zur Folge ha-
henden Verbraucherschutzes – über die mit Enhan- ben, dass sich wesentliche seiner Charakterzüge ver-
cement-Eingriffen möglicherweise verbundenen ändern, die Frage, inwiefern die Handlungen und
weiteren ›biographischen‹ oder sozialen Risiken in- Entscheidungen einer solchen Person noch als au-
formiert sind. thentisch angesehen werden können. In ethischer
Aus der Perspektive des Prinzips der Nichtschädi- Hinsicht könnte dies weitreichende Probleme im
gung ist daher zu fordern, mögliche Nutzerinnen Hinblick auf die Zuschreibung individueller Verant-
und Nutzer von Enhancement-Maßnahmen und wortung aufwerfen. Es stellt sich beispielsweise die
auch die Öffentlichkeit nicht nur über die direkten Frage, ob die Nutzerinnen und Nutzer von Enhance-
gesundheitsbezogenen Schadensrisiken und Neben- ment-Maßnahmen überhaupt – und wenn ja: in wel-
wirkungen einer Enhancement-Nutzung, sondern chem Sinne – für ihre Handlungen oder für etwaige
auch über mögliche weitere Risiken und Chancen zu Fehlfunktionen zum Beispiel eines bioelektrischen
informieren und aufzuklären. Dies gilt, nicht zuletzt Implantates verantwortlich gemacht werden kön-
aufgrund der möglicherweise deutlich einge- nen.
schränkten prognostischen Möglichkeiten, in be- Aus der Perspektive des Prinzips der Gerechtigkeit
sonderer Weise für radikale (im Unterschied zu mo- (s. Kap. IV.B.9) ist unter anderem bedeutsam, dass
deraten) und irreversible (im Unterschied zu rever- ein gerechter Zugang zu Enhancement-Maßnahmen
siblen) Interventionen. nicht nur für die individuelle Entfaltung und Ent-
Aus der Perspektive des Prinzips der Selbstbestim- wicklung eines Menschen wichtig sein kann, son-
mung ist zu fordern, dass einem möglichen Recht auf dern auch im Hinblick auf seine sozialen Chancen,
290 V. Technikfelder

da sich mit Hilfe von Enhancement-Verfahren mög- Enhancement-Technologien werfen insofern


licherweise wichtige soziale Schlüsselkompetenzen nicht nur die Frage auf, warum es in moralischer
wie Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Er- bzw. in gerechtigkeitstheoretischer Perspektive ei-
innerungsvermögen etc. modifizieren lassen. Auch nen Unterschied machen sollte, ob die negativen so-
könnte eine breite Nutzung von Enhancement-Tech- zialen Auswirkungen einer ungünstigen natürlichen
nologien Wettbewerbsspiralen in Gang setzen und Ausstattung bloß ausgeglichen oder aber direkt
zu Standardverschiebungen führen, da sich ihr Ein- (kausal) korrigiert werden, sondern auch die weitere
satz in vielen Fällen dem Motiv verdanken dürfte, Frage, in welchem Umfang liberale Staaten gegebe-
Distinktionsgewinne gegenüber Konkurrenten zu nenfalls zu »kompensatorischem Enhancement«
erzielen. Ob Enhancement-Maßnahmen tatsächlich (Gesang 2007, 70) verpflichtet sein könnten.
ein Gerechtigkeitsproblem darstellen, hängt daher (3) Die Möglichkeiten des Enhancement werfen
nicht nur von der Art ihrer Wirkung und Nutzung nicht nur eine Reihe ethischer und politischer Fra-
ab, sondern insbesondere von ihrer Verfügbarkeit. gen und Probleme auf, sondern ebenso auch grund-
Selektive Zugangsmöglichkeiten bergen die Gefahr legende Fragen nach dem Selbstverständnis des
des Ausschlusses Einzelner vom gesellschaftlichen Menschen (s. Kap. IV.A.3). Im Zentrum stehen hier
Leben bzw. beschwören neue Formen der Diskrimi- die beiden Fragen, ob die ›Natur‹ einer ›Verbesse-
nierung herauf. Ein zentrales gesellschaftliches Pro- rung‹ oder gar ›Selbsttranszendierung‹ des Men-
blem wird also möglicherweise darin bestehen, hin- schen Grenzen setzt, und welche Folgen eine zuneh-
reichend faire Zugangsmöglichkeiten zu den ent- mende ›Technisierung‹ für das evaluative Selbstver-
sprechenden Mitteln und Verfahren zu organisieren. ständnis des Menschen haben könnte. Welche
Dies gilt zumindest für den Fall einer ›kompetiti- Folgen hätte es für das menschliche Selbstverständ-
ven‹ Nutzung von Enhancement, die mit dem Ziel nis, wenn mehr und mehr Teile des menschlichen
unternommen wird, positionale Güter zu erwerben Körpers gegen Implantate ausgetauscht werden
und sich im Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Im könnten? Welche Bedeutung hätte eine solche Ent-
Falle eines non-kompetitiven Enhancement werden wicklung für das Verständnis von Leiblichkeit und
Argumente, die auf mögliche soziale Verwerfungen menschlicher Identität? Welche Auswirkungen hätte
durch den Gebrauch von Enhancement-Mitteln ab- diese Entwicklung auf die Konzepte von Autonomie,
zielen, dagegen keine große Rolle spielen. Eine pri- Personalität oder Verantwortung? Was gehört »an-
mär an der Vermeidung von sozioökonomischen gesichts der Artefaktibilität des Menschen sowie der
Ungleichheiten orientierte Einschränkung von En- Anthropomorphisierung der Technik noch intrin-
hancement-Möglichkeiten liefe insofern Gefahr, sisch zur Natur des Menschen, zu seinem Mensch-
auch die Möglichkeiten der Realisierung positiver sein? Was am Menschen darf man also nicht verän-
intrinsischer Ziele und Werte zu vereiteln. dern, will man nicht das Verschwinden des typisch
(2) Gerechtigkeitsargumente könnten jedoch Menschlichen riskieren? Was genau unterscheidet
auch in eine andere Richtung weisen. So haben ver- den Menschen vom Artefakt?« (Gordijn 2004, 133).
schiedene Autorinnen und Autoren dafür plädiert, Etwas vereinfacht lassen sich in dieser Debatte drei
Enhancement als eine Chance zur Beseitigung oder verschiedene Positionen oder ›Lager‹ unterscheiden:
jedenfalls zur Eindämmung von Ungerechtigkeit zu Die Vertreter/innen einer biokonservativen Posi-
nutzen. Enhancement-Eingriffe bieten die Möglich- tion lehnen die Nutzung von Enhancement-Techno-
keit, so das Argument, die Folgen der »natürlichen logien unter Verweis auf die menschliche Natur, die
Lotterie« zu kompensieren und damit jenen, die es zu erhalten gelte, ab, oder stehen ihnen zumindest
»von Natur aus« schlechtere Startbedingungen mit- sehr skeptisch gegenüber. Francis Fukuyama bei-
bringen als andere, zu ermöglichen, im Wettbewerb spielswiese befürchtet, »dass die Biotechnologie uns
mitzuhalten (Buchanan et al. 2000). Für liberale Ge- auf irgendeine Art dahin bringen wird, unser
sellschaften, die dem Prinzip der fairen Chancen- Menschsein zu verlieren, also eine wesentliche Qua-
gleichheit verpflichtet sind, scheint dies allerdings lität, die stets unserer Auffassung darüber zugrunde
zur Konsequenz zu haben, dass sie unter bestimmten gelegen hat, wer wir sind und wohin wir gehen, und
Voraussetzungen und bis zu einem gewissen Aus- dies gilt trotz allen augenscheinlichen Veränderun-
maß dazu verpflichtet wären, nicht nur einen fairen gen, die die menschlichen Verhältnisse im Laufe der
Zugang zu Enhancement-Maßnahmen zu ermögli- Geschichte erfahren haben« (Fukuyama 2004,
chen, sondern gegebenenfalls auch dazu, diese für 146 f.). Mit ähnlicher Stoßrichtung sehen die Auto-
benachteiligte Gesellschaftsmitglieder vorzuhalten. rinnen und Autoren des Berichts Beyond Therapy
8. Human Enhancement 291

des President ’ s Council on Bioethics mit der Möglich- sein scheinen. Sofern ihre Nutzung überhaupt regu-
keit von Enhancement zwar nicht das Wesen oder liert oder eingeschränkt werden soll, darf dies aus li-
die menschliche Natur in toto in Gefahr, befürchten beraler Perspektive nur aus ethischen, rechtlichen
aber, dass Enhancement-Eingriffe, indem sie bei- und sozialen Gründen erfolgen, die dem Schutz der
spielsweise zu einem Verlust an Trainings-, Lern- Interessen Dritter dienen. Es gibt dabei nach libera-
oder Arbeitsherausforderungen führen, zentrale As- lem Verständnis keine in irgendeinem Sinne ›objek-
pekte unseres evaluativen Selbstverständnisses be- tiven‹ Ziele von ›Verbesserung‹, die nicht von evalu-
drohen oder gar zerstören könnten. Für andere ativen oder normativen Vorentscheidungen abhän-
stellen die verschiedenen Enhancement-Technolo- gig wären, und die in liberalen Gesellschaften nur in
gien den Versuch dar, die – als normativ wertvoll an- sehr begrenztem Maß allgemeinverbindlich gemacht
gesehene – Kontingenz, Imperfektion oder Vulnera- werden können.
bilität des Menschen zu beseitigen. Mit der ›Natur‹ Die Vertreter/innen einer post- oder transhuma-
oder dem ›Wesen‹ des Menschen zu argumentieren nistischen Position schließlich begrüßen die Entwick-
ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch. lung von Enhancement-Technologien und sehen in
Dies liegt zum einen daran, dass der Begriff der radikalen Enhancement-Technologien gerade eine
›menschlichen Natur‹ hoffnungslos mehrdeutig zu Chance zur Überwindung der Limitierungen der
sein scheint, zum anderen aber auch daran, dass er, menschlichen Natur bzw. der human meat machine
soll er überhaupt zielführend verwendbar sein, von (Warren Robinett), für ein ›posthumanes‹ Überwin-
normativen Annahmen abhängt, die ihrerseits hoch- den der Gattungsgrenzen und den Beginn einer
gradig kontrovers sind (Bayertz 2005). neuen, selbstbestimmten Form der Evolution. Trans-
Auch Jürgen Habermas ist der Auffassung, dass humanistische Positionen zeichnen sich insbeson-
mit den Möglichkeiten des Enhancement nicht we- dere durch eine ausgesprochen technik-euphorische
niger als die »Zukunft der menschlichen Natur« Perspektive aus. Welche Probleme auch immer dem
(Habermas 2001) auf dem Spiel steht. Enhancement- Menschen begegnen mögen: mit Hilfe moderner
Technologien – Habermas denkt dabei vor allem an Technologien scheinen sie lösbar. Die transhumanis-
Gen- und Reproduktionstechnologien  – untermi- tische Diskussion trägt insofern teilweise Züge (tech-
nieren seiner Auffassung nach das »gattungsethische nokratischer) Erlösungsphantasien. Zudem werden
Selbstverständnis«, von dem es abhänge, »ob wir uns hier nicht selten durchaus realistische Entwicklungen
auch weiterhin als ungeteilte Autoren unserer Le- mit solchen vermengt, die auch langfristig als sehr
bensgeschichte verstehen werden und uns gegensei- unwahrscheinlich gelten müssen, und bei denen
tig als autonom handelnde Personen anerkennen noch nicht einmal im Ansatz erkennbar ist, wie sie ei-
können« (ebd., 49). Erforderlich im Sinne einer Be- nes Tages verwirklicht werden könnten  – wie zum
dingung der Möglichkeit einer Moral gleicher Ach- Beispiel die Idee, sich selbst in eine andere Hardware
tung sei daher eine »Moralisierung der menschli- downloaden zu können. Schließlich werden in dieser
chen Natur« bzw. eine »gattungsethische Einbet- Debatte neben zweifelsohne diskutablen auch solche
tung« der Moral, die bestimmte Arten biotechnischer Ziele genannt, bei denen fraglich ist, ob es sich über-
Interventionen ausschließe. haupt um positive Utopien oder nicht vielmehr, wie
Vertreter/innen einer liberalen Position sind typi- zum Beispiel bei der Idee eines ›kollektiven Bewusst-
scherweise der Auffassung, dass der Mensch »Al- seins‹, um Anti-Utopien handelt.
leinherrscher über sich selbst, über seinen Körper
und seinen Geist« (John Stuart Mill) ist. Das Recht
auf Selbstbestimmung schließt nach liberaler Auf- Aktuelle Tendenzen
fassung grundsätzlich nicht nur die Ablehnung, son- und Fragestellungen
dern ebenso die Nutzung von Enhancement-Tech-
nologien ein, die die Wahloptionen der Individuen Die verschiedenen als Enhancement diskutierten
vervielfältigen und individuelle Entfaltungsmöglich- (und teilweise bereits genutzten) Mittel und Verfah-
keiten vergrößern. Liberale Gesellschaften müssen ren befinden sich gegenwärtig noch in sehr unter-
dem Einzelnen die Möglichkeit zugestehen, selbst schiedlichen Realisierungsstadien. Es ist aber davon
erhebliche Risiken oder Nebenwirkungen leistungs- auszugehen, dass sich das Spektrum der Möglichkei-
steigernder Mittel oder Verfahren freiwillig und in- ten in Zukunft enorm erweitern wird. Eine vorbe-
formiert zugunsten der angestrebten Ziele in Kauf reitende Diskussion über ethische, rechtliche und
zu nehmen, wenn ihm diese vielversprechend zu soziale Aspekte sowie regulatorische Erfordernisse
292 V. Technikfelder

scheint aus diesem Grund unerlässlich. Angesichts letztlich nur in einer Änderung des Gesellschafts-
der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der Enhancement- modells selbst, nicht aber in der Kritik oder gar in ei-
Optionen sind in dieser Diskussion keine Generali- nem Verbot einzelner Methoden oder Verfahren be-
sierungen, sondern Einzelfallbeurteilungen erfor- stehen kann.
derlich. Da sich eine exzeptionalistische Position im
Hinblick auf pharmakologische, chirurgische und Literatur
biotechnologische Enhancement-Verfahren vermut- Bayertz, Kurt (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und
lich nicht begründen lässt, scheint es aussichtsrei- wieviel Wert hat sie? Paderborn 2005.
cher, in dieser Diskussion die Ziele leistungsverbes- Buchanan, Alan/Brock, Daniel/Daniels, Norman/Wikler,
sernder Eingriffe unabhängig davon, ob es sich um Daniel: From Chance to Choice. Genetics and Justice.
konventionelle oder um pharmakologische bzw. Cambridge 2000.
Fukuyama, Francis: Das Ende des Menschen. München
technische Verfahren oder Technologien handelt, in
2004 (engl. 2002).
den Blick zu nehmen. Gesang, Bernward: Perfektionierung des Menschen. Berlin/
Im Zusammenhang mit einer zukünftigen Regu- New York 2007.
lierung von Human Enhancement werden insbeson- Gordijn, Bert: Medizinische Utopien. Eine ethische Betrach-
dere die Themenfelder Forschung, Marktzulassung, tung. Göttingen 2004.
Grunwald, Armin: Auf dem Weg in eine nanotechnologische
Wettbewerb und sozialer Ausgleich Bedeutung er-
Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen. Freiburg/Mün-
langen (TA Swiss 2011; Sauter/Gerlinger 2012). For- chen 2008.
schungsbedarf besteht sowohl im Hinblick auf mög- Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
liche gesundheitliche als auch hinsichtlich mögli- Frankfurt a. M. 2001.
cher weiterer biographischer und sozialer Risiken Harris, John: Enhancing Evolution. The Ethical Case for Ma-
der Nutzung von Enhancement-Mitteln und -Ver- king Better People. Princeton 2007.
Jotterand, Fabrice: Beyond therapy and enhancement: the
fahren. Evaluations- und Risikostudien liegen bis- alteration of human nature. In: NanoEthics 2 (2008), 15–
lang nur für solche Enhancement-Verfahren vor, die 23.
ursprünglich in einem medizinischen Kontext zu Knell, Sebastian/Weber, Marcel (Hg.): Länger leben? Philo-
präventiven, therapeutischen oder palliativen Zwe- sophische und biowissenschaftlichePerspektiven. Frank-
cken entwickelt wurden, und auch dort nur in Bezug furt a. M. 2009.
Khushf, George: Stage two enhancements. In: Fabrice Jotte-
auf eine indikationsgerechte Nutzung der fraglichen rand (Hg.): Emerging Conceptual, Ethical, and Policy Is-
Präparate, nicht aber für einen off label use oder eine sues in Bionanotechnology. Dordrecht 2008, 203–218.
Nutzung als Enhancement. Studien zu Enhance- Lüttenberg, Beate/Ferrari, Arianna/Ach, Johann S. (Hg.):
ment-Eingriffen, die außerhalb eines medizinischen Im Dienste der Schönheit? Interdisziplinäre Perspektiven
Kontextes entwickelt werden, existieren nicht. Mit auf die Ästhetische Chirurgie. Berlin 2011.
Parens, Erik (Hg.): Enhancing human traits. Ethical and so-
Bezug auf die Zulassung von Enhancement-Mitteln cial implications. Washington 1995.
und -Verfahren wird daher mittelfristig insbeson- President ’ s Council: Beyond Therapy. Biotechnology and
dere über die Frage diskutiert werden müssen, wie the Pursuit of Happiness. A Report of the President ’ s
ein umfassender Verbraucherschutz im Hinblick auf Council on Bioethics. New York/Washington 2003.
solche Enhancement-Mittel und -Verfahren garan- Roco, Mihail C./Bainbridge, William S. (Hg.): Converging
Technologies for improving human performance. Nano-
tiert werden kann, die außerhalb der etablierten Re- technology, Biotechnology, Information Technology and
gularien des Medizinsystems entwickelt und ange- Cognitive Science. Dordrecht 2003.
boten werden. Eine breitere Nutzung von Enhance- Sandel, Michael: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im
ment setzt ethische, rechtliche und soziale Zeitalter der genetischen Technik. Berlin 2008 (engl. 2007).
Rahmenbedingungen voraus, die die Gefahr sozialer Sauter, Arnold/Gerlinger, Katrin: Der pharmakologisch ver-
besserte Mensch. Leistungssteigernde Mittel als gesell-
Verwerfungen zumindest begrenzen. Wie entspre-
schaftliche Herausforderung. Berlin 2012.
chende ›Leitplanken‹ auszusehen hätten, die eine in- Savulescu, Julian/Bostrom, Nick (Hg.): Human Enhance-
dividuelle Nutzung von Enhancement-Optionen ment. Oxford 2009.
nicht ungebührlich einschränken, ist Gegenstand ei- Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davinia (Hg.): Enhance-
ner kontroversen Debatte. Dabei ist zu bedenken, ment. Die ethische Debatte. Paderborn 2009.
Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davinia/Opolka, Uwe/Ach,
dass Enhancement nicht nur die Leistungs- und El-
Johann S. (Hg.): Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen
lenbogengesellschaft, sondern auch die Realisierung Herausforderungen. Paderborn 2009.
›intrinsischer‹ Ziele befördern könnte, und dass das TA-Swiss: Human Enhancement. Zürich 2011.
Mittel der Wahl gegen mögliche soziale Verwerfun- Johann S. Ach und Beate Lüttenberg
gen wie Leistungsdruck oder soziale Ungleichheit
293

9. Information schaft von Informationstechniken und Medien ins-


gesamt zu tun, Kommunikation von ihren ursprüng-
lichen lebensweltlichen Zusammenhängen zu lösen.
Information ist keine eigene Technik, gleichwohl Solch eine Dekontextualisierung von Information
sind Techniken für die Weitergabe und Verarbeitung führt zusammen mit ihrer maschinellen Verarbei-
von Information eine notwendige Voraussetzung. tung wie auch ihrer Veränderung im Kommunikati-
Von der mündlichen Informationsvermittlung, über onsprozess zu einer neuen Konfiguration von Infor-
die Medialisierung der Information in Buch, Tele- mation. Damit erhöht sich die geforderte Leistung
fon, Rundfunk oder digitaler Informationstechnik zu ihrer Interpretation, gleichzeitig erweitert sich je-
bis hin zum Auslesen der Information in einer Gen- doch auch das Potenzial in Hinsicht auf Verständi-
sequenz war es ein weiter Weg. Entlang dieses Wegs gung und die Entstehung sowie die Verbreitung von
veränderten Gesellschaften die Form ihrer Selbstor- Wissen.
ganisation, ihre Wirtschaftsweise, die interpersona-
len Kommunikationsweisen und vieles mehr.
Während es in der mathematisch fundierten In- Anwendungsformen technisch
formationstheorie insbesondere um die technischen vermittelter Information
Aspekte der Nachrichtenübermittlung geht, steht für
die gesellschaftliche Dimension die Funktion von Informationstechniken finden in einer groben Un-
Information für soziale Verständigung (Kommuni- terteilung in drei unterschiedlichen Bereichen An-
kation) und die Herstellung von Wissen im Vorder- wendung: für die soziale Interaktion, also für den
grund. Begriffsgeschichtlich bedeutet das lateinische Austausch von Informationen zwischen Menschen;
informare ›eine Auskunft geben‹ wie auch ›formen‹ für die Mensch-Maschine-Interaktion, z. B. über
und ›gestalten‹. Für eine Information ist charakteris- Computer-Interface und für den Austausch von Da-
tisch, dass sie einen gewissen Neuigkeitswert hat ten zwischen verschiedenen Informationsträgern als
und zu der Reduktion von Ungewissheit beiträgt. reine Maschine-Maschine-Interaktion. Unter einem
Für viele Möglichkeiten der Informationsvermitt- alltagssprachlichen Verständnis von ›Information‹
lung durch neue Informationstechniken treffen wird jedoch zumeist die Übermittlung einer für den
diese Bestimmungen jedoch nicht mehr zu oder Menschen semantisch bedeutsamen sprachlichen
müssen neu interpretiert werden. Informationstech- Einheit verstanden. Dieses Verständnis wird auch im
niken sind nicht einfach Übermittlerinnen von In- Folgenden überwiegend im Vordergrund stehen,
formationen, sondern bringen selber Informationen wobei aber gleichzeitig davon ausgegangen wird,
hervor, die ohne diese Techniken gar nicht existieren dass auch technisch induzierte Information (wie z. B.
würden oder nicht zugänglich wären; zum Beispiel durch eine automatische Gesichtserkennung oder
kann man in diesem Zusammenhang an Verfahren einen Temperatursensor gegeben) Ausdruck und
zur Datenauswertung (Data-Mining) oder perso- Bestandteil menschlicher Kommunikationsbezie-
nenbezogene Auskünfte in Sozialen Netzen denken. hungen ist.
Neben diesem unmittelbaren Einfluss der Informa- Technisch vermittelte Information findet sich in
tionstechniken auf die Art der Information erhält Presse, Fernsehen und Radio, wie auch im Internet,
auch der Neuigkeitswert einer Information eine nutzbar durch unterschiedlichste Dienste und An-
neue Prägung. Angesichts der Konkurrenz der An- wendungen (s. Kap. V.13). An der Schwelle zum
gebote und der Möglichkeit, ständig neue Inhalte 21.  Jahrhundert bahnte sich zusätzlich eine Tech-
bereitzustellen, wird der Neuigkeitswert vieler Infor- nologie den Weg, die unter der Bezeichnung Ubi-
mationen zum Wert an sich, ohne dass die Informa- quitous Computing (s. Kap. V.25) die Miniaturisie-
tion als solche wertvoll sein muss. Ebenso steht der rung und Implementierung der Informationstech-
Beitrag von Information zur Reduktion von Unge- nik in den Bereich der gegenständlichen Umwelt
wissheit in Frage. Die Menge an Informationen und beschreibt. Informationen aus der Umgebung kön-
die Schwierigkeit, sie für den jeweiligen Kontext an- nen durch mobile Endgeräte (Context-Aware-Com-
zupassen und in ihrer Qualität einzuschätzen, kann puting) oder aber direkt durch Apparaturen als Be-
statt zu einer Reduktion eher zu einem Mehr von standteil der Umgebung (Ambient Intelligence) aus-
Ungewissheit führen. gelesen werden.
Diese Schwierigkeiten, Informationen anzupas- Im Wechselspiel von technischen Möglichkeiten
sen und zu bewerten, haben vor allem mit der Eigen- wie Data-Mining oder Gendiagnostik, politischen
294 V. Technikfelder

Vorgaben (z. B. Speicherungspflichten, biometrische Information als Mittel der gesell-


Datenbanken, Körperscanner) und der individuel- schaftlichen Organisation
len Nutzung von Diensten wie digitalen Sozialen
Netzen, dem Online-Handel oder Lokations- und Medien-, Informations- und Meinungsfreiheit sind
Geodiensten (Google Street View), entsteht somit ein unabdingbare Voraussetzungen für die Etablierung
immenses Geflecht von Informationen. Im Unter- und den Bestand eines demokratischen Rechtsstaa-
schied zu den Informationsquellen der sog. One-to- tes. Insofern ist auf staatlicher Ebene die Pflege einer
many-Kommunikation wie Zeitung, Buch oder allgemeinen Öffentlichkeit von elementarer Bedeu-
Fernsehen bietet die digitale Many-to-many-Ver- tung für die Artikulation individueller oder korpo-
breitungsform darüber hinaus für jeden und jede rativer Interessen und Standpunkte sowie der kriti-
Einzelne/n die Möglichkeit, Informationen selbstän- schen Kommunikation zwischen Bürger/innen, Po-
dig bereitzustellen, wie auch gleichzeitig die Mög- litik und Verwaltung (Habermas 1962/1996). Eine
lichkeit, Informationen direkt am Individuum zu er- Öffentlichkeit, die sich als Kritik- und Kontroll-
heben (z. B. Weitergabe von Aufenthaltsdaten, Kon- instanz für Politik und staatliche Institutionen ver-
sumvorlieben; s. Kap. V.10). steht, ist somit angewiesen auf ein gemeinsames Ori-
Die große Menge an verfügbarer Information legt entierungswissen. Wissen unterscheidet sich von In-
die Vermutung nahe, dass hiermit auch dem Grund- formation durch einen individuellen Prozess der
satz der Informationsfreiheit Genüge geleistet Bewertung und Einordnung. Wissen ist insofern im-
würde. Transparenz, Informationszugang und Infor- mer an Personen gebunden, die Wissen herstellen,
mationsvermittlung sind essentielle Bestandteile indem sie Information als gerechtfertigt und wahr
jeder demokratischen Gesellschaftsordnung. Das prüfen und anerkennen.
Recht auf Informationsfreiheit  – die »Freiheit, sich An diesem Punkt setzen skeptische Positionen zur
aus allgemein zugänglichen Quellen zu informie- Pluralisierung des Medienangebots und zum An-
ren« (GG Abs. I, II Art. 5) – ist dem Recht auf Mei- wachsen der sogenannten Informationsflut an. Die
nungsäußerungsfreiheit im deutschen Grundrechts- interaktiven und individualisierten Möglichkeiten des
katalog auf gleicher Ebene zugeordnet. In ähnlicher Internets – jeder Nutzer kann gleichzeitig Empfänger
Formulierung ist es auch Bestandteil der Menschen- und Sender von Medieninhalten sein  – lassen die
rechtscharta der Vereinten Nationen. Die freie Ver- Menge der veröffentlichten Inhalte enorm ansteigen.
fügbarkeit von Information an sich sagt jedoch noch Die gesamte Kommunikationsinfrastruktur ist zu-
nichts aus über einen klugen, ökonomischen oder nehmend an subjektiven Interessen und Bedürfnissen
ethisch gerechtfertigten Umgang mit Information. ausgerichtet. Soziale Netze, personalisierte Dienste
Grundsätzlich kann zwischen zwei unterschiedli- sowie »Überall-Dabei-Medien« wie Smartphones er-
chen Begriffen von Freiheit unterschieden werden: öffnen eine private und individuelle Perspektive auf
einerseits der Freiheit von allen Beschränkungen die Relevanz von Information. Eine solche Super-Plu-
(negative Freiheit) und andererseits der Freiheit zu ralität von Information verlangt nach Strukturierung
einem selbstbestimmten Leben (positive Freiheit). und Auslese, um überhaupt bestimmte Themen für
Hier geht es um die Wahrung größtmöglicher Hand- den Diskurs in großen und kleinen Öffentlichkeiten
lungsfreiheit in einem lebensweltlichen Kontext, der zugänglich zu machen oder auch um unerwünschte
den oder die Einzelne/n jedoch in die Verantwor- Inhalte z. B. in Hinsicht auf Jugendschutz oder die
tung stellt, durch das eigene, frei gewählte Handeln, Wahrung der Privatsphäre auszuschließen.
die Freiheit der anderen nicht zu beschneiden (vgl. Probleme der Informationsbewältigung beziehen
Taylor 1992). Parallel zu dieser Denkfigur erfordert sich also einerseits auf diese Fragen der Bewertung
auch die Informationsfreiheit die (Selbst-)Verpflich- und Einordnung von Information; andererseits geht
tung auf bestimmte ethisch gerechtfertigte Rahmen- es um die Gewährleistung eines die gesamte Gesell-
bedingungen. Nur auf diese Weise kann gewährleis- schaft umfassenden Informationsstands (vgl. Dahl-
tet werden, dass die Freiheit der Information kein gren 2005). Die Diskussion über den letztgenannten
Privileg, sondern gemeinsame Ressource pluraler Punkt wird unter dem Begriff der Fragmentierung
Lebensverhältnisse ist. geführt. Mit der Fragmentierungsthese soll ange-
zeigt werden, dass ein zunehmendes Spektrum von
Medienangeboten eine abnehmende Überschnei-
dung bei der Nutzung von Medien hervorrufe (s.
Kap. V.13).
9. Information 295

Vor diesem Hintergrund wächst die Bedeutung viduell bei den Nutzerinnen und Nutzern. Diese
von Informationsquellen von hoher Reputation, die sind aufgrund fehlender Möglichkeiten und Kompe-
gleichzeitig durch allgemeine Verständlichkeit und tenzen jedoch häufig überfordert.
leichte Zugänglichkeit charakterisiert sind. Dazu ge- Ein weiterer Baustein für die Strukturierung und
hören z. B. die sogenannter Qualitätsmedien (Online Bereitstellung von Informationen sind (kommerzi-
und Offline) oder die durch einen gesellschaftlichen elle) Dienste sowie gesellschaftliche und staatliche
Funktionsauftrag gebundenen öffentlich-rechtlichen Institutionen. Im Unterschied zur individuellen
Rundfunkanstalten. Empirische Studien können Nutzungsebene lassen sich insbesondere auf institu-
überdies zeigen, dass zwar die Mittel, sich zu infor- tioneller Ebene häufig die Kompetenzen vorfinden,
mieren, ständig an Vielfalt zunehmen, die aktuellen die professionell mit der Auswahl und Weitergabe
Medieninhalte aber trotzdem häufig die gleichen von Information beschäftigt sind (Journalismus, Bi-
sind (vgl. Mende et al. 2012). bliothekswesen). Während journalistisch orientierte
Gleichwohl ist die Fragmentierungsthese in be- Institutionen das aktuelle öffentliche Interesse an
stimmten Aspekten nicht von der Hand zu weisen: Information im Blick haben, fragen Archive und Bi-
Der Zweck der Informationsübermittlung in digita- bliotheken nach dem nachhaltigen Nutzen von Da-
len Netzen richtet sich zunehmend an individuellen ten und Informationen. So kann z. B. der Verlust von
Bedürfnissen aus, nicht aber an der Herstellung von technischem Sachverstand zu einem gesellschaftli-
Öffentlichkeit. Technisch spiegelt sich diese Aus- chen Risiko führen (vgl. Kornwachs/Berndes 1999);
richtung wider in der Bereitstellung adaptiver Sys- der Verlust von kultureller Information zu einer Ver-
teme. Solche adaptiven Techniken, die insbesondere armung von Identitäten (vgl. UNESCO) und beides
von Suchmaschinen und Sozialen Netzen eingesetzt zusammen zu einer Verarmung von Problemlö-
werden, verarbeiten Informationen über die jeweili- sungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten.
gen Interessen zu einem Nutzerstereotypen und bie- Daneben spielen technische Angebote zur Ver-
ten bei zukünftigen Recherchen die entsprechend wertung von Information eine bedeutende Rolle.
besonders passenden Fundstellen und Dienste an. Suchmaschinen, Semantische Netze oder Reputati-
Informationstechnische Systeme bieten insofern onsdienste sind, wie oben bereits angesprochen,
häufig keine allgemeine Information und insofern selbstverständlicher Bestandteil des Internets. Bei
keine Orientierung am Wissen der anderen, sondern dieser maschinellen Auswertung von Netzinhalten
eine durch algorithmische Berechnungen anhand stellt sich wie auf individueller und institutioneller
von Nutzerstereotypen selektierte Information (vgl. Ebene die Frage nach den Kriterien, der Legitima-
hierzu »Filter Bubble«, Pariser 2011). tion und der Verantwortung für die Auswahl von In-
halten. Obwohl das Internet häufig mit Chancen auf
Transparenz und Informationsfreiheit in Verbin-
Bewertung und Auswahl dung gebracht wird, bleiben die maschinellen Selek-
von Information tionsprozesse für die Allgemeinheit intransparent
und weitgehend unbeeinflussbar.
Neben diesen, auf die Größe der Adressatenkreise Ein anderes Problem im Zusammenhang mit der
von Information bezogenen Problemen, stellt sich demokratischen Bedeutung von Information liegt
die Frage nach dem Wert und der Wünschbarkeit ei- nicht in der Bewertung und Archivierung, sondern
ner Information. Insbesondere geht es hier um die in der gerechten Verteilung der vorhandenen Infor-
Wahrheit einer Information, ihre moralische Be- mationen sowie in einer gerechten Repräsentanz von
schaffenheit und ihre Relevanz. Neben diesen As- Inhalten im Netz (s. Kap. IV.B.9). Die demokra-
pekten, die viel mit der Vertrauenswürdigkeit der tischen Potenziale des Internets werden nur dann
Quelle zu tun haben, ergibt sich die Schwierigkeit, hinreichend ausgeschöpft, wenn seine passiven
Informationen einen Sinn zu geben. Dies ist umso Rezeptions- wie auch seine aktiven Beteiligungs-
anspruchsvoller, als die weltweit verfügbare Online- möglichkeiten problemlos und barrierefrei genutzt
Information territoriale und kulturelle Grenzen und werden können. Neben Grundgütern wie Nahrung,
damit auch den intendierten Interpretationskontext Behausung oder Sicherheit ist Information ein ele-
überschreitet. Bei wem liegt die Verantwortung für mentares Gut, das in vielen Fällen die Bedingung der
eine solche Bewertung und Zusammenführung von Möglichkeit für eine Verbesserung der Grundversor-
Information? Nach einem liberalen Verständnis liegt gung und der politischen Entwicklung ist. Diese Pro-
die Verantwortung (s. Kap. II.6) an erster Stelle indi- blematik wird unter dem Begriff ›Digitale Spaltung‹
296 V. Technikfelder

als Frage nach einer gerechten Verteilung von Infor- zesse beschädigen, für deren Gelingen ein gewisses
mation und der dazugehörigen Kommunikationsin- Maß an Vertraulichkeit und Zeit notwendig ist. Unbe-
frastruktur behandelt (s. Kap. V.10). Zur Stärkung schränkte Veröffentlichungen können darüber hinaus
der Zivilgesellschaft ist die Einbindung der lokalen staatliches und individuelles Handeln durch erleich-
Ebene durch die Schaffung von entsprechenden In- terte feindliche Übergriffe gefährden.
frastrukturen und Kompetenzen von besonderer Grundsätzlich muss im Zusammenhang von
Wichtigkeit. Nur auf diesem Weg kann die Pluralität Transparenz-Konzepten unterschieden werden zwi-
des Internets auch die Pluralität der Weltgesellschaft schen öffentlichen und privaten Daten  – obwohl
widerspiegeln. Ohne Verankerung in den lokalen eine solche Unterscheidung einerseits in Hinsicht
Identitäten der Internetnutzer/innen gerät die Digi- auf die private Nutzung öffentlich zugänglicher Me-
tale Spaltung selbst bei ihrer Aufhebung auf techni- dien im Web 2.0 und andererseits in Hinsicht auf die
scher Ebene zu einer digitalen Kolonialisierung wachsenden Ansprüche an die persönliche Integrität
durch eine Informationselite auf inhaltlicher Ebene. im öffentlichen Kontext nicht klar vorzunehmen ist.
In diesem Zusammenhang und für die Ausschöp- Der Gesetzgeber hat verschiedene Anforderungen
fung des demokratischen Potenzials der IT insge- für den Umgang mit Daten festgelegt, die sich auf
samt, ist auch die Veränderung der öffentlichen Ver- das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung be-
waltung eine Voraussetzung. An dieser Stelle zeigt ziehen (vgl. Volkszählungsurteil 1983). Eine erste
sich deutlich, dass Techniken nicht neutral, sondern Voraussetzung lautet, dass die Erhebung und Verar-
als Faktoren für die Entstehung neuer Organisati- beitung personenbezogener Daten nur dann zulässig
onsprinzipien auftreten. Die technisch gleichsam ist, wenn der oder die Betroffene explizit eingewilligt
multiplizierte Freiheit der Information schlägt sich hat. Bei Einwilligung in die Erhebung sollte der Um-
im zivilgesellschaftlichen Kontext nieder als Forde- gang mit den Daten insbesondere den Anforderun-
rung nach freiem Zugang zu Informationen der öf- gen Transparenz, Zweckbindung, Erforderlichkeit,
fentliche Verwaltung (Open Access, Open Data) und Datenvermeidung und -sparsamkeit entsprechen. In
neuen Beteiligungsformen (E-Democracy). Bezug auf Transparenz bedeutet das zum Beispiel,
dass die Erhebung der Daten unmittelbar beim Be-
troffenen stattfinden soll, dass die Person über den
Freie Information über alles Vorgang unterrichtet wird und sie Möglichkeiten
und für alle? des Zugriffs auf die über sie erhobene Daten hat.
In Bezug auf personenbezogene Daten geht es aber
Informationsfreiheit ist häufig verbunden mit der nicht nur um ihren Schutz vor unbefugten Zugriffen,
Forderung nach Transparenz. Transparenz wird hier sondern auch um die willentliche Steuerung der Frei-
als Mittel zur Veröffentlichung oder wenn man so will gabe durch die berechtigte Person. Information ist in-
zur Befreiung von Information verstanden. Doch ist sofern Mittel des Identitätsmanagements. In den sozi-
derjenige freier, der alles offenlegt und teilt oder der- alen Verhältnissen der sogenannten Informationsge-
jenige, der kontrolliert, was er selbst lieber verbergen sellschaft gehört zur Selbstverwirklichung auch die
will? Wollen wir also eine Freiheit, in der weder Ein- Gestaltung des Selbst durch Informationskontrolle.
zelpersonen noch Staaten Informationen verbergen Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung
oder eine regulierte Freiheit, in denen Persönlich- steht in einem engen Verhältnis zum Schutz der Pri-
keits-, Urheber- und Geheimhaltungsrechte als not- vatsphäre (s. Kap. V.10). Die Informationelle Selbst-
wendige Voraussetzung für eine freiheitliche Ord- bestimmung ist notwendiger Bestandteil des Schut-
nung begriffen werden? Am Beispiel von WikiLeaks zes der Privatsphäre, geht definitorisch aber nicht
werden die Probleme deutlich, die mit der Forderung darin auf. Die Privatsphäre beschreibt in einer wei-
absoluter Transparenz verbunden sind. Die unbe- tergehenden überindividuellen Bestimmung immer
schränkte Veröffentlichung von Dokumenten, die ur- einen Gesellschaftsbereich, der aus der Abgrenzung
sprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren zu spezifischen Handlungsregimen (Staat, Markt,
(Videoaufzeichnungen, Geheimdienstprotokolle usw.), Öffentlichkeit) hervorgeht. Eine Privatsphäre zeich-
kann gleichwohl im öffentlichen Interesse sein, wenn net sich – zumindest aus der Perspektive derjenigen,
es z. B. um die Aufdeckung von Gräueltaten oder die die Privatheit beanspruchen – als selbstorganisierter,
Aufklärung wahrer und nicht bloß vorgetäuschter po- autonomer Handlungsraum aus, der nur deshalb Be-
litischer Motive geht. Andererseits können solche stand hat, weil er frei ist von der Beobachtung und
Veröffentlichungen gesellschaftlich wünschbare Pro- Einflussnahme von Außenstehenden. Kommt vor
9. Information 297

diesem Hintergrund auch einer staatlichen Institu- Grundsätzlich lässt sich festhalten: Unter den
tion oder der Politik das Recht zu, unbeobachtet  – Stichworten ›Informationsbewertung‹ und ›Infor-
also intransparent – und insofern frei von der Kon- mationsgerechtigkeit‹ lassen sich basale Struktur-
trolle durch Beobachter zu kommunizieren? Was auf probleme der modernen Informationstechniken zu-
den ersten Blick plausibel erscheint, wird grundsätz- sammenfassen. Es handelt sich hierbei um Heraus-
lich wieder durch einen starken partizipatorischen forderungen, die durch die Charakteristika der
Ansatz in Frage gestellt. Denn staatliche und politi- Informationstechniken wie Interaktivität, Rechenge-
sche Verwaltung sind selbst Bestandteil und nicht schwindigkeit und beinahe unbegrenzte Kapazitäten
Gegensatz der bürgerschaftlichen Selbstorganisation für exakte Reproduktionen hervorgerufen werden,
und legitimatorisch in der Pflicht gegenüber Öffent- die aber durch ein Bündel von Aktivitäten einerseits
lichkeit. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, In- beherrscht und andererseits fruchtbar gemacht wer-
formationen über und von staatlichen Einrichtun- den können. Dazu gehören die Steigerung der Me-
gen grundsätzlich einem Transparenzgebot unterzu- dien- bzw. Informationskompetenz durch staatliche
ordnen. In Abwägung der Handlungsfreiheit der und zivilgesellschaftliche Einrichtungen, die Beglei-
Akteure in politischen und öffentlichen Einrichtun- tung informationstechnischer Entwicklungen durch
gen ist eine partielle Intransparenz zwar legitim, einen kritischen öffentlichen Diskurs und, last but
aber auch jeweils rechtfertigungsbedürftig. not least, die Schaffung von Transparenz in Bezug
Interessenkonflikte in Hinsicht auf Transparenz auf das Informations- und Datenmanagement in
durchziehen auch zahlreiche andere Gesellschafts- staatlichen und teils auch privatwirtschaftlichen
bereiche. Beispielsweise erleichtern Informations- Einrichtungen. Transparenz bezieht sich hier in ei-
techniken die Bewertung von Produkten für den nem erweiterten Verständnis auf einen freien Infor-
Konsum, etwa über Kundenbewertungen im Inter- mationszugang, auf Fragen der Systemarchitektur
net oder Quick-Response Codes, die sich direkt am wie auch auf Auskünfte über Art und Umfang (per-
Produkt befinden. Leitend ist hier die Vorstellung sonenbezogener) Information.
vom wohlinformierten Bürger, der über sein Kon-
sumverhalten eigenen Interessen nachgeht und ge- Literatur
gebenenfalls Märkte steuern kann, während die An-
Dahlgren, Peter: The internet, public spheres, and political
bieter häufig gerne die Details der Produktionsbe- communication: Dispersion and deliberation. In: Politi-
dingungen im Ungefähren lassen. cal Communication 22 (2005), 147–162.
Andere Konflikte sind weniger eindeutig durch Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Un-
eine gerechtfertigte Zielsetzung aufzulösen: Zum Bei- tersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesell-
schaft [1962]. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990.
spiel werden Informationstechniken häufig gleich-
Frankfurt a. M. 51996.
zeitig als Sicherheitstechniken verwandt z. B. bei der Heesen, Jessica: Computer and information ethics. In: Ruth
biometrischen Datenerkennung durch eine intelli- Chadwick (Hg.): Encyclopedia of Applied Ethics. Bd. 1.
gente Videoüberwachung (s. Kap. V.22). Solche For- San Diego ²2012, 538–546.
men der Datenerhebung und Informationsbeschaf- Janich, Peter: Was ist Information? Kritik einer Legende.
fung können zwar der Sicherheit dienen, gleichzeitig Frankfurt a. M. 2006.
Kornwachs, Klaus/Berndes, Stefan: Wissen für die Zukunft.
stellen sie jedoch eine Form der Informationsasym- Abschlußbericht an das Zentrum für Technik und Gesell-
metrie her, das heißt, der Einzelne kann nicht mehr schaft (PT-03/1999). Cottbus 1999.
wissen, wer was über ihn weiß und sich verunsichert McLuhan, Marshall: Die Magischen Kanäle [1964]. Frank-
fühlen. Ein Mehr an Information auf Seiten der Si- furt a. M. 1970.
cherheitsbehörden konkurriert hier also mit einer Mende, Annette/Ekkehardt Oehmichen/Christian Schrö-
ter: Medienübergreifende Informationsnutzung und In-
Einschränkung der Handlungsfreiheit von Indivi- formationsrepertoires. In: Media Perspektiven 1 (2012),
duen durch ein mögliches Gefühl der Beobachtung. 2–17, http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/On
Andere bedeutende Formen einer umstrittenen Re- line11/Mende.pdf (14.04.2013).
striktion von Information stehen im Zusammenhang Pariser, Eli: The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding
der Verwertungsrechte und der Kommerzialisierung from You. New York 2011.
Taylor, Charles: Negative Freiheit? – Zur Kritik des neuzeitli-
von Information, in der Diskussion über ein Recht chen Individualismus. Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1988).
auf Nicht-Wissen im medizinischen Bereich oder Volkszählungsurteil 1983. BVerfGE 65, 1 – Volkszählung.
finden sich in den Debatten über das sogenannte BVerfGE. 65. [1], 1.
whistle-blowing, also der Preisgabe fremden Fehlver- Jessica Heesen
haltens im eigenen betrieblichen Kontext.
298 V. Technikfelder

10. Internet Handlungen zulassen und so Überwachung und


Kontrolle ermöglicht wird.
Lässt man kriminelle Aktivitäten unbeachtet, sind
Schon die Entstehung des Internets in den 1960er es drei Akteursgruppen, die interessiert sind, mög-
und 1970er Jahren gab und gibt Anlass zu kontro- lichst viel über (andere) Menschen zu erfahren:
versen (normativen) Debatten, da die Entwicklung Staatliche Institutionen, Unternehmen sowie die
des Internetvorläufers ARPANET von der Advanced Nutzer/innen selbst. Da Kriminalität vor dem Inter-
Research Projects Agency (ARPA) angestoßen und net nicht Halt macht, wollen Strafverfolgungsbehör-
finanziert wurde  – und die ARPA wiederum zum den nicht darauf verzichten, Einsicht in die Nutzung
Department of Defense der US-amerikanischen Re- des Netzes zu bekommen, um beispielsweise Verbre-
gierung gehörte. Damit kann an das Internet jene chen zu ahnden, die Verbreitung illegaler Inhalte zu
Frage gestellt werden, die jede Militär- und Dual- verhindern oder Terrorpläne zu durchkreuzen. Un-
use-Technik aufwirft (s. Kap. V.15 und Kap. IV.C.11): ternehmen wiederum wollen viel über Nutzer/innen
Ist die Entwicklung von Technik, die den Zweck hat, wissen, um ihre Produkte und Dienstleistungen zu
Sachwerte zu zerstören und Menschen zu verletzen verkaufen und/oder ihr Geschäftsmodell auf die Er-
oder gar zu töten, moralisch vertretbar? hebung und Verwertung personenbezogener Daten
Darüber hinaus wirft das Internet normative zu basieren. Schließlich sind es die Neugier der Nut-
Konflikte auf, die vermutlich mit jeder global ver- zer/innen und deren Wunsch nach Aufbau von Be-
netzten und ubiquitär genutzten Informations- und ziehungen beispielsweise mittels Social Media-Platt-
Kommunikationstechnologie verbunden sind. In formen, die eine Nachfrage nach personenbezoge-
vielen Aspekten sind beispielsweise Internet und nen Daten erzeugen.
Mobilfunk (s. Kap. V.16) vergleichbar, tatsächlich In allen Fällen ist dies nicht per se moralisch gut
verschmelzen diese Technologien immer stärker  – oder böse: Es gibt ein berechtigtes Interesse des
Ubiquitous Computing ist hierfür nur ein Stichwort Staates und seiner Bürger nach Schutz vor Verbre-
(s. Kap. V.25). Viele der normativen Fragen, die wir chen (s. Kap. V.22); es ist legitim, als Unternehmen
heute diskutieren, wurden jedoch bereits vor der erfolgreich sein zu wollen; es ist legitim, auf andere
Entwicklung des Internets aufgeworfen, zumindest Menschen neugierig zu sein und Beziehungen auf-
aber vor dessen allgemeiner Verbreitung: Alan F. zubauen. Zum normativen Problem wird das Da-
Westin stellte 1967 einen engen Zusammenhang tensammeln, wenn andere schutzwürdige Interes-
zwischen Privatsphäre und Freiheit her, in den sen, moralische Normen und Werte beeinträchtigt
1970er Jahren wurde über Sicherheit und Privat- werden. Damit wird auch deutlich, dass das Internet
sphäre in Computersystemen diskutiert (vgl. Martin allgemeine Fragen der Ethik und politischen Philo-
1973), Richard O. Mason (1986) stellte »property, sophie erneut stellt. Neu ist dabei jedoch, dass viele
access, privacy, and accuracy« in das Zentrum der Konflikte unmittelbar aus der Art und Weise ent-
Informationsethik. springen, wie Technik realisiert und genutzt wird –
damit sind technikethische Überlegungen gefor-
dert.
Privatsphäre und Datenschutz Gerade Social Media-Plattformen, derzeit vor al-
lem Facebook, werfen durch ihre Geschäftsmodelle
Stilbildend für die Diskussion über Privatsphäre war normative Fragen auf. Aus Sicht der Nutzer/innen
jedoch der Aufsatz »The Right to Privacy« von Sa- stellen sie eine informationstechnisch gestützte
muel D. Warren und Louis D. Brandeis aus dem Jahr Plattform zur Kommunikation und Aufrechterhal-
1890. Privatsphäre ist hier das Recht, in Ruhe gelas- tung persönlicher Beziehungen dar; Unternehmen,
sen und nicht gestört zu werden. Damals war ein die dort präsent sind, wollen Kundenbeziehungen
sich rasant verbreitendes Medium Anlass für nor- aufbauen und pflegen; Social Media-Plattformen
mative Überlegungen: Fotografieren wurde zum selbst sind daran interessiert, möglichst genaue In-
weitverbreiteten Hobby und zum Werkzeug der formationen über Nutzer/innen zu gewinnen, um
journalistischen Berichterstattung. Heute ist das In- auf dieser Basis zielgenaue Werbung schalten zu
ternet Ausgangspunkt der Besorgnis, da dessen Ge- können – denn darüber finanzieren sich Social Me-
brauch mit sich bringt, dass die Nutzer/innen Da- dia-Plattformen; sie fördern oder erzwingen deshalb
tenspuren hinterlassen, die Rückschlüsse auf deren etwas, was man als ›Daten-Exhibitionismus‹ be-
Vorlieben, Verhaltensweisen, Überzeugungen und zeichnen könnte – Nutzer/innen werden unter ande-
10. Internet 299

rem durch die Gestaltung der Benutzeroberfläche Wiederum kann als normative Ausweichstrategie
verleitet, möglichst viele personenbezogene Daten auf geltendes Recht verwiesen werden. Doch dieses
über sich selbst und ihre Internetbeziehungen preis- benötigt selbst normative Begründungen: Man kann
zugeben. Dabei bleibt den Nutzer/innen meist ver- z. B. die Persönlichkeits- und Eigentumsrechte von
borgen, welche Reichweite die Preisgabe von Infor- Urhebern in den Vordergrund stellen; in diesem Fall
mationen hat; von einer informierten Zustimmung wären technische Maßnahmen wie der Einsatz von
kann daher in der Regel nicht gesprochen werden. Digital-Rights-Management-Systemen prima facie
Zudem ändert Facebook ständig einseitig die Nut- normativ angeraten, doch ein zweiter Blick zeigt,
zungsbedingungen; da die Kosten für einen Wechsel dass dann andere Rechte wie die Privatsphäre ge-
sehr hoch sind, haben die Nutzer/innen kaum eine fährdet wären oder kreative Prozesse erschwert wer-
andere Möglichkeit, als solche Änderungen, die oft den würden. Priorisiert man hingegen das Recht auf
zu ihrem Nachteil gestaltet werden, zu akzeptieren. Informationszugang, damit möglichst viele Men-
Hier zeigt sich eine Machtasymmetrie, die zu erheb- schen an der Fülle verfügbarer Informationen ohne
lichen Teilen darauf beruht, wie Social Media-Platt- Zugangsbarrieren teilhaben können, greift man tief
formen technisch gestaltet werden. in Eigentumsrechte der Urheber ein; außerdem be-
Aus technikethischer Sicht gibt es mehrere An- steht die Gefahr, dass (ökonomische) Anreize fehlen,
sätze, mit dieser Herausforderung umzugehen: Als überhaupt neue Informationen zu produzieren (vgl.
Ausweichstrategie kann man sich auf die herr- Dreier/Nolte 2006). In beiden Fällen wären zentrale
schende Gesetzeslage berufen und formulieren, dass Intuitionen bezüglich der Wahrung von Gerechtig-
der Schutz der Privatsphäre und der Datenschutz keit betroffen. Lösungsvorschläge, die an Gerechtig-
Aufgaben des Gesetzgebers seien (s. Kap. V.9). Dies keitskonzeptionen z. B. von John Rawls anknüpfen
würde jedoch verkennen, dass die Gestaltung der (s. Kap. IV.B.7) und Informationen als Grundgüter
(Informations- und Kommunikations-)Technik de- ansehen, haben das Problem, dass Informationen
ren Nutzungsweisen mit bestimmt – »code is law«, immer Informationen über etwas sind: Es macht
wie Lawrence Lessig (1999) sagt. Daher kann man es also beispielsweise keinen Sinn, dem Rawlsschen
als Aufgabe von Informatikerinnen und Ingenieuren Gleichheitsgrundsatz folgend jeder Person von allen
ansehen, Technik so zu gestalten, dass diese im Sinne vorhandenen Informationen einen gleichen Anteil
von privacy by design (vgl. Cavoukian et al. 2010) zu geben, da dies nicht nur Eigentumseingriffe nach
Privatsphäre sicherstellen kann. Weitere Lösungsan- sich zöge – die selbst schon einen erheblichen Recht-
sätze sind, die Autonomie der Nutzer/innen dadurch fertigungsbedarf mit sich bringen –, sondern auch
zu stärken, dass sie selbst informiert entscheiden, Eingriffe in die Privatsphäre (vgl. Weber 2004).
welche Daten sie über sich selbst preisgeben wollen Die Herausforderung aus technikethischer Per-
(vgl. Tavani 2007); dies kann beispielsweise durch spektive liegt auch im Fall der Informationsfreiheit
eine entsprechende Gestaltung der Benutzeroberflä- darin, dass die Festlegung technischer Parameter
che von Programmen und Webangeboten erreicht wesentlich mit darüber bestimmt, ob und inwieweit
werden, fällt also wiederum in die Verantwortung (s. bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen realisiert
Kap. II.6) von Informatikerinnen und Ingenieuren. werden – die Verantwortung der Akteure, die Tech-
nik gestalten, wächst damit erheblich (s. Kap. II.6).

Geistiges Eigentum, Informations-


freiheit und Informationsgerechtigkeit Digitale Spaltung und Nachhaltigkeit

Spätestens mit dem Aufkommen der ersten (illega- Der Zugang zu Informationen genauso wie der Zu-
len) Internettauschbörsen vor allem für Musik in gang zum Internet selbst wirft somit Gerechtigkeits-
den späten 1990er Jahren drang das Thema der mas- fragen auf (s. Kap. IV.B.9). Besonders deutlich wird
senhaften Verletzung geistigen Eigentums in das öf- dies im Zusammenhang mit der digitalen Spaltung –
fentliche Bewusstsein (vgl. Haug/Weber 2002). Seit- dem Faktum, dass es sogenannte information haves
her wird kontrovers diskutiert, wie im Internetzeital- und information have nots gibt – sowohl innerhalb
ter Rechte an geistigem Eigentum auf der einen und einer Gesellschaft als auch im staatlichen Vergleich
das Recht auf Informationszugang auf der anderen (z. B. Warschauer 2003). Sieht man den Zugang zu
Seite in Einklang zu bringen wären, um so Informa- Informationen als soziales Grundgut, so ist dieses in
tionsgerechtigkeit herzustellen. vielen Ländern ähnlich ungleich verteilt wie Ein-
300 V. Technikfelder

kommen; vergleicht man Länder miteinander, ist Cyberkriminalität, Information


dieses Grundgut auch global sehr unterschiedlich Warfare und Cyberwar
verteilt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im
Rahmen der World Summits on the Information Soci- Selbst wenn das Internet nun technisch so gestaltet
ety (WSIS) 2003 in Genf und 2005 in Tunis diese Un- werden könnte, dass die Erwartungen aller oben ge-
gleichverteilung als Gerechtigkeitsproblem benannt nannten Akteure erfüllt und normative Konflikte
und es als moralische Pflicht der entwickelten Län- befriedet werden würden, könnte es für Cyberkrimi-
der bezeichnet wurde, Maßnahmen zur Behebung nalität missbraucht werden. So ist beispielsweise
der Ungleichheit in Bezug auf den Informationszu- Identitätsdiebstahl ein erhebliches Problem, da der
gang zu ergreifen. potenzielle Schaden immens ist und damit gesamt-
Doch die digitale Spaltung ist nicht nur eine Frage wirtschaftlich relevant wird.
des Zugangs zum Internet, sondern auch eine Frage Auch hier gibt es für Informatikerinnen und In-
der Vermittlung von Fähigkeiten (vgl. Zillien 2006) genieure die moralische Pflicht, technische Systeme
und eine Aufgabe der barrierefreien Gestaltung von so zu gestalten, dass Missbrauchsmöglichkeiten mi-
Technik. Im letzteren Fall sind insbesondere wieder nimiert werden – absolute Sicherheit werden sie je-
jene Akteure angesprochen, die Technik entwickeln doch nicht herstellen können (s. Kap. V.22). Deshalb
und implementieren  – man kann es durchaus als gehört es auch zu ihren Pflichten, dies offensiv zu
normativ begründete Forderung ansehen, dass (In- kommunizieren. Nur dann ist es den Nutzer/innen,
formations- und Kommunikations-)Technik so ge- zumindest im Prinzip, möglich, das entstehende Ri-
staltet wird, dass deren Verwendung möglichst vor- siko abzuschätzen sowie selbst zu entscheiden, ob sie
aussetzungsarm beispielsweise in Hinblick auf die dieses Risiko tragen wollen und welche Maßnahmen
physische Konstitution der Nutzer/innen ist. sie selbst ergreifen können, um Gefährdungen zu
Dies würde zudem der sozialen Dimension der minimieren (s. Kap. II.2 und Kap. IV.C.7). Doch be-
Nachhaltigkeitsidee entsprechen (s. Kap. IV.B.10). steht gleichzeitig die Gefahr der Überforderung,
Tatsächlich ist im Zusammenhang mit dem Internet denn Komplexität und Durchschaubarkeit der In-
bzw. der Technik des Internets eine Hauptaufgabe formations- und Kommunikationstechnologie ste-
von Informatikerinnen und Ingenieuren darin zu se- hen in einem umgekehrt proportionalem Verhältnis
hen, dass sie diese Technik im Sinne maximaler Res- zueinander. Entwickler und Betreiber von Informa-
sourcenschonung entwickeln. Dazu gehört die Opti- tions- und Kommunikationssystemen dürfen ihre
mierung des energetischen und materiellen Auf- eigene Verantwortung für sichere Systeme nicht mit
wands für den gesamten Lebenszyklus inklusive der Hinweis auf die Verantwortung der Nutzer/innen
Entsorgung bzw. des Recyclings ebenso wie die Ver- auf diese abwälzen.
meidung von umweltschädigenden Produktionswei- Cyberkriminalität wird zuweilen in die Nähe von
sen oder die Nichtverwendung umweltschädigender Cyberwar (z. B. Schönbohm 2011) bzw. Information
oder gesundheitsgefährdender Materialien  – dies Warfare gebracht. In der Realität mögen die Grenzen
betrifft die ökologische Dimension der Nachhaltig- zwischen diesen Handlungsformen fließend sein,
keit. Selbst für die ökonomische Dimension können analytisch sind sie jedoch zu trennen. Denn bezüg-
Informatikerinnen und Ingenieure einen Beitrag lich Cyberwar und Information Warfare sind morali-
leisten: (Informations- und Kommunikations-)Tech- sche Anfragen zu stellen, wie sie im Fall von Militär-
nik sollte so gestaltet werden, dass diese bei Defekten technik grundsätzlich zu stellen sind (s. Kap. V.15).
repariert werden kann und nicht gleich entsorgt Allerdings zeigt sich hieran auch, dass technikethi-
werden muss. Dies würde die Entstehung eines sche nicht von anderen normativen Überlegungen
Dienstleistungsangebots und die allgemeine wirt- wie der Frage nach dem gerechten Krieg (z. B. Wal-
schaftliche Gesundung gerade in Entwicklungs- und zer 1977) isoliert werden können. Ohne dass Techni-
Schwellenländern fördern – auch das wäre ein Bei- kerinnen und Ingenieure dadurch weniger Verant-
trag zur Schließung der digitalen Spaltung. wortung hätten, lässt sich somit festhalten, dass
Cyberwar und Information Warfare über diese Per-
sonengruppen und über Technikethik weit hinaus-
weisen.
10. Internet 301

Meinungsfreiheit mobbing, die Verbreitung von Nazipropaganda oder


von Kinderpornografie; sie gefährden damit wie-
In vielen Ländern wird der Zugang zum Internet re- derum den Grundsatz der Waffengleichheit.
striktiv gehandhabt, da die jeweiligen Regierungen Nagel bezieht sich in seinem Plädoyer für eine
den politisch subversiven Charakter dieser Medien liberale Konzeption von Bürgerrechten und insbe-
fürchten: Über das Internet kann politisch infor- sondere des Rechts auf freie Meinungsäußerung al-
miert werden; Bürgerrechtsbewegungen, verbotene lerdings auf ein nationalstaatlich organisiertes Me-
Parteien und ähnliche Gruppierungen können sich diensystem; das Internet überschreitet aber Landes-
organisieren. Militante, antidemokratische und ter- grenzen sowie Kultur- und Rechtsräume. Nicht nur
roristische Vereinigungen können sich ebenfalls des aus Sicht der Technikethik werden dadurch eine
Internets bedienen. Neonazis tun dies seit langer Fülle unterschiedlicher und meist widerstreitender
Zeit, schon vor den Zeiten des Internets betrieben Forderungen aufgeworfen: Alle, die durch das und
entsprechende Gruppierungen Mailbox-Systeme; is- mit dem Internet technisch handeln, sollen den Ge-
lamistische Fundamentalisten verwenden virtuos setzen des eigenen Landes und den Normen der ei-
das Netz, um ihre Aufrufe zum heiligen Krieg zu genen Kultur gehorchen, sie sollen nicht in die
verbreiten; des einen Freiheitskämpfer ist des ande- Rechte und Pflichten eingreifen, die den Nutzer/in-
ren Terrorist. Daher stellt das Internet die Frage nen in anderen Ländern zukommen, sie sollen Men-
nach der Reichweite und den Grenzen der Mei- schenrechte und Demokratie global fördern, sie sol-
nungsfreiheit – nun aber in einem globalen Kontext. len den Glauben schützen, die Zivilgesellschaft stär-
Die Debatte bezieht sich dabei sowohl auf die kom- ken etc. Es ist offensichtlich, dass die Akteure, die
munizierten Inhalte als auch auf die Form der Kom- Technik entwickeln, implementieren und anwen-
munikation. den, diese vielfältigen normativen Ansprüche nie
Staaten regeln die Reichweite und Grenzen der einholen können; dies ist aber noch kein ›Persil-
Meinungsfreiheit meist über Verfassungsgrund- schein‹ dafür, (technik-)ethische Ansprüche und die
sätze  – so beispielsweise im First Amendment der Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns
US-amerikanischen Verfassung oder dem Artikel 5 grundsätzlich abzuweisen.
des Grundgesetzes. Darin manifestieren sich sehr
unterschiedliche Auffassungen insbesondere bezüg-
lich der Grenzen der Meinungsfreiheit: Vieles, was Politik im Internet
in den USA erlaubt ist – hate speech, neonazistische
Äußerungen etc.  – ist in der Bundesrepublik In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends kam
Deutschland infolge der Lehren, die man aus dem auf, was mit Web 2.0 oder auch ›Mitmachnetz‹ be-
Scheitern der Weimarer Republik zog, verboten; bei zeichnet wird. Dazu gehören Social Media-Plattfor-
der Abwägung verschiedener Bürgerrechte sind un- men wie Facebook, Mikrobloggingsysteme wie
terschiedliche Antworten gefunden worden. Die Twitter, Videoportale wie YouTube, aber auch Web-
normativen Probleme, die mit der Einschränkung logs und nur noch online verfügbare Zeitungen wie
der Meinungsfreiheit einhergehen, hat Thomas Na- die Hufftington Post. Alle diese Angebote bauen sehr
gel (1995) überzeugend dargestellt – alle seine Über- stark auf user generated content: Die Nutzer/innen
legungen lassen sich auf das Internet anwenden. selbst produzieren Inhalte  – ihre Doppelrolle wird
Ein Maßstab, an dem sich nun (technik-)ethische mit Produtzer oder Prosumer bezeichnet. Die er-
Überlegungen orientieren könnten, wäre der leichterte Bereitstellung von selbst produzierten In-
Grundsatz der Waffengleichheit (vgl. Spinner 2002): halten hat die Erwartung beziehungsweise Hoffnung
Solange es beispielsweise staatliche Repressalien be- geweckt, dass die klassischen Massenmedien an
züglich der Meinungsäußerung, solange es Abhör- Macht verlieren werden, weil sie nun nicht mehr
maßnahmen und Vorratsdatenspeicherung und so- ihre Gatekeeper-Rolle spielen könnten, sich deshalb
lange es die Medienmacht großer Konzerne gibt, mehr Menschen zu Wort meldeten und politisch ak-
seien Schutzmechanismen wie die Nutzung von tiv werden würden.
Kryptografie und Anonymisierung der Internet- Das Internet kann demokratische Prozesse er-
kommunikation normativ legitimiert  – eine Argu- leichtern oder ermöglichen, doch es wird z. B. auch
mentationsform, wie sie beispielsweise in Deutsch- von den Parteigängern Vladimir Putins genutzt, um
land seit einigen Jahren genutzt wird. Kryptografie die ›Demokratur‹ in Russland zu stützen, es wird
und Anonymisierung erlauben aber auch Cyber- von religiös motivierten Fundamentalisten zur Ver-
302 V. Technikfelder

breitung von Hasspredigten verwendet, von Neona- unterworfen sind, und mit staatlichen Institutionen,
zis und Linksextremisten, von Rassisten und vielen die anderen Verfassungen und Gesetzen folgen als
anderen, die mit Demokratie nur insoweit etwas zu jenen des eigenen Landes (vgl. hierzu die Beiträge in
tun haben, als sie die Demokratie nutzen, um sie zu Capurro et al. 2007). Wer Daten gegenüber einem
zerstören. Die Annahme, dass die bloße Nutzung Unternehmen außerhalb Deutschlands preisgibt,
des Netzes für politische Prozesse die Demokratie wird nicht durch das Bundesdatenschutzgesetz ge-
gleichsam automatisch herstellen werde, gilt es kri- schützt; hat das Unternehmen seinen Sitz außerhalb
tisch zu prüfen: Gerade technikaffine Professionen der EU, ist der Rekurs auf die Richtlinie 95/46/EG
haben die Pflicht, solchen Heilsversprechungen auf kaum hilfreich – die juristische Regulierung hat die
sachlicher Ebene zu begegnen und eine nüchterne Globalisierung des Internets nicht mit vollzogen.
Analyse der Chancen und Risiken der Technik zu Ähnliches gilt für die (Technik-)Ethik und für das
liefern. moralische Handeln im Netz: Es existiert kein allge-
Es gilt einer weiteren Gefahr entgegenzutreten: mein verbreitetes und akzeptiertes normatives Kon-
Demokratie funktioniert nach sehr einfachen Re- zept beispielsweise von Privatsphäre oder Mei-
geln und kann im Prinzip mit Low-Tech realisiert nungsfreiheit sowie den Grenzen solcher Konzepte.
werden  – im Idealfall benötigt man Handzeichen Umso mehr sind jene Personen gefordert, die
und die Fähigkeit, diese zu zählen. Im Gegensatz Technik entwerfen, entwickeln und implementieren.
dazu sind Systeme wie Liquid Feedback oder Adhoc- Wie Joel Reidenberg schon 1998 bemerkte, kann
racy  – internetbasierte Softwaresysteme, die politi- man ihre Fähigkeit, durch die Gestaltung von Tech-
sche Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse wie nik Handlungsmöglichkeiten zu öffnen und zu
Diskussionen und Abstimmungen unterstützen und schließen, durchaus mit der Festlegung von Geset-
virtualisieren sollen  – kompliziert und vorausset- zen vergleichen. Angesichts des Fehlens allgemein
zungsreich. Sie führen Komplexitätsebenen ein, die anerkannter normativer Grundsätze für diese Ge-
für viele Menschen politische Partizipation eher er- staltungstätigkeit und der unterschiedlichsten nor-
schweren denn erleichtern werden, da sie kognitive mativen Forderungen, die an Technikerinnen und
und technische Fertigkeiten voraussetzen, die bei Ingenieure gerichtet werden, stehen diese vor einer
weitem nicht allgemein verbreitet sind. Wiederum nur schwer zu erfüllenden Herausforderung. Umso
ist zu beachten, dass das Design der Technik darüber notwendiger ist es daher, dass in Schule, Ausbildung
entscheiden kann, wer wie handeln kann – Informa- und Studium die enge Verzahnung von Gesellschaft,
tikerinnen und Ingenieure, die an der Gestaltung Recht, Kultur und Technik vermittelt wird.
entsprechender Technik arbeiten, sind daher aufge-
rufen, möglichst barrierefreie Technologien zu ent-
wickeln, die nicht dazu beitragen, neue Machtasym- Literatur
metrien im politischen Prozess zu erzeugen.
Capurro, Rafael/Frühbauer, Johannes/Hausmanninger,
Thomas (Hg.): Localizing the Internet. Ethical Aspects in
Intercultural Perspective. München 2007.
Globales Netz, lokale Normen Cavoukian, Ann/Taylor, Scott/Abrams, Martin E.: Privacy
und nationales Recht by design: essential for organizational accountability and
strong business practices. In: Identity in the Information
Society 3/2 (2010), 405–413.
Die genannten normativen Konfliktfelder – und die Dreier, Thomas/Nolte, Georg: Einführung in das Urheber-
vielen anderen, die hier nicht berücksichtigt werden recht. In: Jeanette Hofmann (Hg.): Wissen und Eigen-
konnten – sind bereits im nationalstaatlichen Kon- tum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter.
text schwer zu lösen. Doch das Internet ist nicht auf Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2006, 41–
den Geltungsraum der Gesetze eines Staates be- 63.
Haug, Sonja/Weber, Karsten: Kaufen, Tauschen, Teilen. Mu-
schränkt, es überschreitet Grenzen und ist, zumin- sik im Internet. Frankfurt a. M. 2002.
dest im Prinzip, in jedem Land der Welt nutzbar. Der Lessig, Lawrence: Code and Other Laws of Cyberspace. New
Reichweite des individuellen und korporativen Han- York 1999.
delns und damit der Handlungsfolgen im Internet Martin, James: Security, Accuracy, and Privacy in Computer
sind keine Grenzen mehr gesetzt: Wer das Internet Systems. Englewood Cliffs 1973.
Mason, Richard O.: Four ethical issues of the information
nutzt, interagiert mit Nutzer/innen aus unterschied- age. In: MIS Quarterly 10/1 (1986), 4–12.
lichsten Gesellschaften und Kulturen, mit Unterneh- Nagel, Thomas: Personal rights and public space. In: Philo-
men, die primär dem Recht ihres Herkunftslandes sophy & Public Affairs 24/2 (1995), 83–107.
11. Kernenergie 303

Reidenberg, Joel R.: Lex informatica: The formulation of 11. Kernenergie


information policy rules through technology. In: Texas
Law Review 76/3 (1998), 553–584.
Schönbohm, Arne: Deutschlands Sicherheit  – Cybercrime
und Cyberwar. Münster 2011. Die Kernenergie ist nach wie vor eine der am hef-
Spinner, Helmut F.: Informationelle Waffengleichheit als tigsten umstrittenen Techniken der Energieerzeu-
Grundprinzip der neuen Informationsethik: Über gung (zu Energie allgemein s. Kap. V.5). Obwohl den
Gleichheit, Ungleichheit, Unterlegenheit im Wissen. In: Kontroversen um sie implizit ethische – vor allem ri-
Ulrich Arnswald/Jens Kertscher (Hg.): Herausforderun- sikoethische  – Annahmen zugrunde liegen, ist sie
gen der Angewandten Ethik. Paderborn 2002, 111–135.
Tavani, Herman T.: Philosophical theories of privacy: Im- vergleichsweise selten zum Gegenstand technikethi-
plications for an adequate online privacy policy. In: scher Überlegungen gemacht worden. Ein mögli-
Metaphilosophy 38/1 (2007), 1–22. cher Grund dafür ist u. a. in der weitgehenden Unge-
Walzer, Michael: Just and Unjust Wars: a Moral Argument klärtheit vieler grundlegender Fragen der Risiko-
with Historical Illustrations. New York 1977. ethik (s. Kap. IV.C.7) zu suchen, aber auch in den
Warren, Samuel/Brandeis, Louis D.: The right to privacy.
In: Harvard Law Review 4/5 (1890), 193–220. zahlreichen noch offenen technischen Fragen, etwa
Warschauer, Mark: Technology and Social Inclusion. Re- im Zusammenhang mit der Endlagerung der aus der
thinking the Digital Divide. Cambridge, Mass./London Nutzung der Kernenergie resultierenden radioakti-
2003. ven Rückstände (s. Kap. V.4).
Weber, Karsten: Digitale Spaltung? Informationsgerechtig- Angesichts der zentralen Rolle der Dimension der
keit! In: Rupert M. Scheule/Rafael Capurro/Thomas
Hausmanninger (Hg.): Vernetzt gespalten. Der Digital Störfall- und Unfallsicherheit (s. Kap. II.3) in der
Divide in ethischer Perspektive. München 2004, 115–120. deutschen Debatte um die Kernenergie, die im Ge-
Westin, Alan F.: Privacy and Freedom. New York 1967. folge des schweren Reaktorunfalls in Fukushima zur
Zillien, Nicole: Digitale Ungleichheit: Neue Technologien endgültigen Aufgabe dieser Technologie in Deutsch-
und alte Ungleichheiten in der Informations- und Wis- land geführt hat, werden die weiteren mit dieser Tech-
sensgesellschaft. Wiesbaden 2006.
Karsten Weber
nologie zusammengehenden ethischen Dimensionen
leicht vernachlässigt: Wirtschaftlichkeit, Umwelt-
verträglichkeit und Versorgungssicherheit. Auch hin-
sichtlich dieser Dimensionen wird die Kernenergie
kontrovers eingeschätzt. Die Frage der Wirtschaft-
lichkeit – die Frage, ob die Kernenergie ihre Kosten
(einschließlich der Entwicklungskosten) amortisiert
hat  – ist bis heute nicht endgültig geklärt. Was ihre
Umweltverträglichkeit betrifft, gestehen auch Kern-
energiegegner zu, dass sie ein wichtiger Schritt zu ei-
ner Reduktion des Treibhauseffekts sein könnte, wei-
sen aber zugleich darauf hin, dass sie möglicherweise
eine konsequente Umstellung der Energieerzeugung
auf regenerative Energieträger erschwert. Darüber
hinaus ist bis heute ungeklärt, wie weit auch der Nor-
malbetrieb durch radioaktive Emissionen bei Anlie-
gern Gesundheitsschäden hervorrufen kann. So
zeigte sich beim Kernkraftwerk Krümmel südlich
von Hamburg während der Betriebszeit eine signifi-
kante Erhöhung der Leukämiehäufigkeit, jedoch
keine dafür möglicherweise ursächliche erhöhte
Emission radioaktiver Substanzen. Kontrovers wird
insbesondere die Rolle der Kernenergie für die Ver-
sorgungssicherheit beurteilt: Befürworter warnen vor
einer sich aus dem Verzicht auf die Kernenergie erge-
benden »Energielücke«, u. a. auch angesichts den aus
Umwelt- und Klimaschutzschutzgründen zu erwar-
tenden Verzögerungen bei der Ersetzung der auslau-
fenden fossilen Kraftwerke durch Nachfolgemodelle.
304 V. Technikfelder

Weltweit herrscht ein ausgesprochener Pluralis- Die gebotene Relativierung des jeweils gebotenen
mus der politischen Strategien, teilweise erklärbar Sicherheitsstandards heißt auch, dass die von Hans
durch die sich für verschiedene Nationen und Welt- Jonas geforderte »Heuristik der Furcht« (Jonas 1979,
regionen jeweils anders darstellenden Optionen. Da 63 ff.; s. Kap. IV.B.2), nach der bei neuen oder erwei-
keine der ethisch relevanten Beurteilungsdimensio- terten Formen menschlicher Naturbeherrschung die
nen allein entscheidend ist, müssen zwischen ihnen Risiken grundsätzlich schwerer wiegen als die durch
Abwägungen (trade-offs) getroffen werden, die je sie eröffneten Chancen, allenfalls auf einem hohen
nach verfügbaren Alternativen unterschiedlich aus- Niveau an Wohlstand und Sicherheit angemessen sein
fallen. So spielt die Sicherheitsdimension zumeist kann. Dass wir keinen Anlass haben, uns weitere Um-
nur in denjenigen Ländern eine ausschlaggebende weltgefährdungen aufzubürden, heißt nicht, dass wir
Rolle, in denen alternative Energieerzeugungstech- anderen, denen es schlechter geht, verbieten dürfen,
niken zur Verfügung stehen (in Deutschland etwa sich diese Risiken aus freien Stücken zuzumuten, es
Windenergie, Braunkohle und gegenüber Kohle- sei denn, wir versetzten sie in die Lage, sich ebenfalls
kraftwerken emissionsärmere erdgasbetriebene mehr Sicherheit leisten zu können.
Kraftwerke). Demgegenüber hält etwa das an fossi-
len Energieträgern arme Industrieland Japan an der
Kernenergie trotz der Fukushima-Katastrophe fest. Die ethische Perspektive
Auch innerhalb der Länder und Regionen wechseln
die ethischen Einschätzungen mit der Gewichtung Von der politischen Perspektive unterscheidet sich
der Dimensionen: Wer die Zielgröße der Versor- die ethische Perspektive u. a. dadurch, dass sie von
gungssicherheit als möglichst weitgehende Unab- den faktisch bestehenden Ungleichgewichten in der
hängigkeit von Energieträgerimporten interpretiert, Verteilung der wirtschaftlichen und politischen Ver-
wird – entsprechend der faktisch betriebenen Poli- handlungs- und Durchsetzungsmacht absieht und
tik – die Braunkohleverstromung trotz ihrer Klima- einen universalistischen und insofern zwangsläufig
schädlichkeit anderen Optionen vorziehen. Wer die idealisierenden Blick auf die Dinge wirft. Die erste,
Zielgröße der Emissionsminderung hoch gewichtet, inhaltliche Frage, die sie stellt, ist, ob, oder wenn ja,
wird die Nutzung der Kernenergie zumindest als unter welchen Bedingungen die Nutzung der Kern-
Übergangstechnologie bis zur verbesserten Nutzbar- energie unter globalen Aspekten und unter Einbe-
keit der regenerativen Energieträger durch erhöhte ziehung der absehbaren Interessen der zukünftigen
Speicherungskapazitäten und verstärkte internatio- Generationen (s. Kap. IV.B.10) ethisch vertretbar ist.
nale Vernetzung favorisieren. Die zweite, prozedurale Frage ist, wie die Verfahren
Die Unterschiede in den Trade-offs zwischen den gestaltet sein sollten, mit denen über die Akzeptabi-
Risiken der Kernenergie und weiteren Dimensionen lität der Kernenergie bei bestehendem Dissens über
sind nicht nur faktisch, sondern auch normativ von die inhaltliche Frage entschieden werden soll.
Bedeutung. Die Ungleichheit in den Ausgangslagen Die erste Frage ist auf dem Hintergrund der Tat-
hat die unvermeidliche Konsequenz, dass eine risi- sache zu beantworten, dass die Verfügbarkeit von
kobehaftete Technik hier verantwortbar sein kann, Energie als essenzielle und prinzipiell unersetzbare
dort aber nicht. Bezogen auf das CO2-Problem heißt Ressource als eine entscheidende Bedingung der Er-
das, dass man von den Ländern der sog. Dritten Welt haltung und Steigerung des Wohlstands gelten muss,
nicht nur nicht erwarten kann, dass sie die Gefahren nicht nur im Sinne der Verfügbarkeit von Gütern
aus einer fortgesetzten Freisetzung von Treibhausga- und Dienstleistungen, sondern auch im Sinne von
sen in ihren Wirtschaftsplanungen ebenso ernstneh- Arbeitserleichterung, Freiheitsspielräumen, Bildung
men, wie es für die Planungen der Industrieländer und Kultur. Bereits die Ernährung von – für das Jahr
zu Recht gefordert wird, sondern dass dies auch un- 2050 zu erwartenden  – 9 Milliarden Menschen ist
gerechtfertigt wäre. Die Sicherheit, die eine Strategie kaum vorstellbar ohne eine (etwa durch den Einsatz
der Vermeidung globaler und regionaler Risiken aus von Kunstdünger) energieintensive Landwirtschaft
der Freisetzung von Treibhausgasen gewährt, bedeu- (zu Agrartechnik s. Kap. V.1).
tet nicht jedem gleich viel. Wer auf einem hohen Darüber hinaus ist ethisch bedeutsam, dass die
Wohlstandsniveau die sicherere Strategie verfolgt, Verfügung über Energie in unserer Welt radikal un-
kann nicht erwarten, dass diese Strategie von denen, gleich verteilt ist, teils aufgrund der ›natürlichen
die sich auf einem niedrigeren Niveau befinden, ak- Lotterie‹ der geografischen Verteilung der Energie-
zeptiert wird. ressourcen, teils aufgrund gravierend ungleicher
11. Kernenergie 305

wirtschaftlicher, kultureller und natürlicher Aus- dern, in denen Umstellungen auf alternative Energie-
gangsbedingungen. Eines der ethischen Anliegen träger möglich sind, angemessen in Rechnung gestellt
der globalen Energiepolitik muss es sein, in den werden. Während eine ›Diskontierung‹ zukünftigen
Grenzen der Umwelt- und Sozialverträglichkeit die Nutzens und Schadens spätestens seit Henry Sidg-
ungleiche Verfügung über Energie auszugleichen wick (Sidgwick 1907, 381; vgl. Birnbacher 2001) in
und damit als Nebeneffekt eine sich aus der unzurei- der Ethik überwiegend abgelehnt wird, gehen viele
chenden Energieausstattung großer Teil der Welt er- Wirtschaftswissenschaftler und Risikoanalytiker wei-
gebenden Verteilungskämpfe und Wanderungsbe- terhin davon aus, dass in der Zukunft anfallende
wegungen zu verhindern (s. Kap. IV.B.9). Schäden aus heutiger Sicht in ihrer Erheblichkeit ge-
Aus beiden Annahmen ergeben sich nach Auffas- mindert werden können, zumeist unter Berufung auf
sung vieler Beobachter zwei für die Beurteilung der entsprechende faktische Präferenzen von Konsumen-
Kernenergie relevante ethische Konsequenzen: ten, Wirtschaftsplanern und Politikern. Legitim kann
(1) Der Verbrauch fossiler Energieträger zur eine Diskontierung zukünftigen Nutzens jedoch al-
Energieerzeugung (in Deutschland gegenwärtig ca. lenfalls aus pragmatischen Überlegungen sein, näm-
80 %) ist nicht nur aus Umwelt- und Klimagründen lich um als nicht zumutbar empfundene Extremfor-
problematisch, er führt auch zusammen mit der stei- derungen an die Adresse der politischen Akteure zu
genden Nachfrage der Schwellenländer zu Steige- vermeiden (vgl. Lumer 2001 und 2002).
rungen des Weltenergiepreisniveaus, mit denen sich
die Lage der Entwicklungsländer – zusätzlich zu den
Folgen der Klimaveränderungen  – tendenziell ver- Risikoethische Aspekte
schlechtert.
(2) In der Mehrzahl der Länder der sich entwi- Die bisherige Unfallbilanz der Kernkraftwerke zeigt,
ckelnden Welt herrschen instabile politische Ver- dass die systemischen Risiken der Kernenergie auch
hältnisse, die eine verantwortliche Nutzung der mit avancierten technischen Schutzvorkehrungen
Kernenergie ausschließen. Insofern scheint es sinn- nicht vollständig eliminiert werden können. Die bis-
voll, diesen Ländern die Nutzung der endlichen Be- her gravierendsten Unfälle (Super-GAU) kamen zu-
stände an fossilen Energieträgern im Wesentlichen stande durch menschliches Versagen (Tschernobyl)
zu überlassen. Aufgabe der fortgeschrittenen Indus- bzw. durch ein in der Auslegung des Kraftwerks
trieländer wäre primär die Weiterentwicklung der nicht berücksichtigtes seltenes Naturereignis (Fuku-
regenerativen Energieträger. Kontrovers ist, wie weit shima). Eine zentrale Frage, an der sich die Geister
die – ebenfalls auf endliche Rohstoffressourcen an- scheiden, ist die Frage, ob derartige ›Restrisiken‹  –
gewiesene  – Kernenergie als »Übergangstechnolo- dazu gehört u. a. auch das Risiko der Proliferation,
gie« den Übergang in das nicht-fossile Zeitalter er- der Aneignung des kerntechnischen Know-hows
leichtern kann (vgl. Birnbacher et al. 2006). durch an militärischen Nutzungen interessierten
Unter dem Aspekt der zeitlichen Universalisierung Staaten – zugunsten der Chancen der Kernenergie-
müssen Energieerzeugungstechniken u. a. nach ihren nutzung in Kauf genommen bzw. zugemutet werden
langfristigen Zukunftschancen beurteilt werden, z. B. dürfen. Eine deontologische Risikoethik (vgl. Nida-
als Reservetechnologien für den Fall anderweitiger Rümelin 1996; Ders./Rath/Schulenburg 2012; s. Kap.
Verknappungen. Zukunftsverantwortung bewährt IV.C.7) kann (aber muss nicht) in dieser Frage zu
sich auch darin, dass die forschungsstarken Nationen anderen Folgerungen kommen als eine konsequen-
Energieoptionen im Dienste der langfristigen Versor- tialistische, etwa indem sie eine Schadensobergrenze
gungssicherheit weiterentwickeln, auch wenn ihr Ein- festlegt, oberhalb derer Schäden unabhängig von der
satz im eigenen Land nicht zu erwarten ist oder sie Eintrittswahrscheinlichkeit auf keinen Fall in Kauf
aus heutiger Sicht nicht oder noch nicht wirtschaft- genommen werden dürfen (vgl. Shrader-Frechette
lich einsetzbar sind. In diesem Sinn beteiligt sich 1985). Danach hängt die Akzeptabilität einer Tech-
Deutschland zu Recht weiterhin an der europäischen nologie weniger vom Gesamtrisiko (bzw. vom Ge-
Forschung zur Energiegewinnung aus Kernfusion. samt-Nutzen-Risiko-Verhältnis) ab als vielmehr
Eine weitere Konsequenz der Langzeitperspektive ist, vom Risikoprofil: Sobald zum Risikoprofil einer
dass die klimatischen Risiken, die absehbar im Laufe Technologie u. a. auch  – wie bei der Kernenergie,
der nächsten Generationen vor allem die Entwick- aber auch möglicherweise bei der Freisetzung gen-
lungsländer treffen werden, angesichts ihrer zeitli- technisch veränderter Organismen – Katastrophen-
chen Distanz nicht ›diskontiert‹, sondern in den Län- risiken gehören, ist sie nicht akzeptabel.
306 V. Technikfelder

Gegen die Setzung einer kategorischen Schadens- schätzten Ängste der Öffentlichkeit zu beschwich-
obergrenze sind vor allem zwei Einwände vorge- tigen. Bei dem für Sicherheitsvorkehrungen bei
bracht worden: Kernkraftwerken betriebenem Aufwand werde ein
(1) Wenn auch die Alternativen nicht ohne Kata- verhinderter Todesfall als um mehrere Zehnerpo-
strophenrisiken sind, wäre nach dieser Regel keine tenzen wertvoller eingestuft als bei risikoträchtige-
der verfügbaren Optionen wählbar. So könnte es ren technischen Systemen wie dem Autoverkehr.
etwa auch durch den Verzicht auf die Kernenergie zu Dem ist entgegenzuhalten, dass es sich auch bei
katastrophalen Notlagen kommen, z. B. zu systemi- Ängsten, Verunsicherung und Vertrauensverlust um
schen Schädigungen der Lebensgrundlagen vieler reale, wenn auch rein psychische und entsprechend
Entwicklungsländer aufgrund des Treibhauseffekts. schwer messbare Schäden handelt. Sie dürfen bei der
(2) Die Wahrscheinlichkeiten, mit denen Kata- Risikobewertung nicht weniger ernstgenommen
strophen eintreten, können nicht gänzlich vernach- werden als Todes- und Krankheitsfälle.
lässigt werden. Auch bei vielen ›konventionellen‹ Ein weiterer die Aufrechnung von Chancen und
Techniken sind katastrophale Schadensszenarien Risiken begrenzender Aspekt ist die in der Bevölke-
nicht nur denkbar, sondern beklagenswerte Realität, rung überwiegend bestehende ausgeprägte Sicher-
etwa die katastrophalen Chemie-Unfälle in Seveso heitspräferenz. Auch diese verbietet eine Strategie
in den 1970er und in Bhopal in den 1980er Jahren. der Maximierung des Erwartungswerts. Bei Ent-
Auch viele Formen einer rein konsequentialisti- scheidungen über risikobehaftete Handlungen sind
schen Risikobewertung sehen sich Einwänden aus- durchweg die – möglicherweise vom Entscheidungs-
gesetzt. Ingenieurwissenschaftliche Risikobewer- subjekt nicht geteilten – Risikoaversionen der poten-
tungen verlassen sich häufig auf die Grundsätze der ziell Betroffenen zu berücksichtigen. Carl Friedrich
Entscheidungstheorie und vernachlässigen die spe- Gethmann hat in diesem Sinne vorgeschlagen, die
zifischen normativen Probleme, die durch Handlun- Zumutbarkeit von Risiken nach einem »Prinzip der
gen aufgeworfen werfen, von denen andere als der pragmatischen Konsistenz« zu bemessen, nach dem
jeweilige Akteur betroffen sind. Sobald andere be- Risiken soweit als zumutbar gelten sollen, wie sie
troffen sind, stößt ein Nutzen-Risiko-Kalkül an den im lebensweltlichen Handeln zum Ausdruck
Grenzen. Es geht dann nicht mehr primär darum, gebrachten Risikoakzeptanzen entsprechen (Geth-
welche Risiken für welche Chancen aus Gründen der mann 1993). Die Risikobereitschaft, die ein Akteur
Klugheit in Kauf zu nehmen sind, sondern darum, durch seine Handlungsvollzüge offenbart, soll den
welche Risiken anderen (mit möglicherweise abwei- Maßstab dafür abgeben, welche Risiken ihm andere
chenden Präferenzen und Sicherheitspräferenzen) zumuten dürfen. Dieses Prinzip wird der Forderung
zugemutet werden dürfen (s. Kap. IV.C.7). gerecht, neben dem aus den risikobehafteten Hand-
Einer der für die Zumutbarkeit von Risiken be- lungen erwachsenden Nutzen und Schaden auch die
deutsamen zusätzlichen Aspekte ist die unabhängig Risikoeinstellungen der Betroffenen zu berücksich-
von einem möglichen Schadenseintritt von dem Be- tigen, etwa die bei der Kernkraft besonders ausge-
stehen der jeweiligen Risiken ausgehende Bedro- prägte Risikoaversion. Zugleich scheint es jedoch in
hungswirkung. Zu den Folgen der Einführung einer einigen Hinsichten ergänzungsbedürftig:
Technik gehören nicht nur die Folgen und Sekun- (1) Es vernachlässigt die ethisch relevante Unter-
därfolgen aus dem Eintritt eines möglichen Scha- scheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen
dens, sondern auch die Folgen davon, dass diese Risiken. Dass eine Person ein Risiko freiwillig über-
Möglichkeit allererst besteht. So wird auch eine Ver- nimmt, legitimiert nicht, ihr ein gleich hohes Risiko
sicherung nicht nur nach den zu erwartenden Er- zuzumuten. Unfreiwillige (zugemutete) Risiken wie-
satzleistungen bei Eintritt des Versicherungsfalls be- gen ethisch schwerer als freiwillige (auf sich genom-
wertet, sondern auch nach dem Nutzen der Sicher- mene) Risiken. Der Tod eines sich korrekt verhalten-
heit, im Schadensfall Versicherungsleistungen in den Fußgängers infolge des Fahrfehlers eines ange-
Anspruch nehmen zu können. trunkenen Autofahrers wiegt schwerer als der Tod
In der ingenieurwissenschaftlichen Literatur zur eines Autofahrers durch selbstgewählte überhöhte
vergleichenden Risikobewertung findet man gele- Geschwindigkeit. So besteht auch bei der Energienut-
gentlich Bedauern ausgedrückt darüber, dass bei zung ein Unterschied zwischen der Selbstgefährdung
Allokationen von Sicherheitsinvestitionen teilweise etwa durch die unvorsichtige Nutzung eines strombe-
eine erhebliche Zahl statistischer Toter in Kauf ge- triebenen Geräts und der Fremdgefährdung durch
nommen werden, nur um die als unberechtigt einge- aus einem Kernkraftwerk austretende Radioaktivität.
11. Kernenergie 307

(2) Wie weit ein Risiko zumutbar ist, hängt we- der Umstrittenheit der Standards von Sicherheit und
sentlich auch von der Nutzendimension und den Al- Risikozumutung ist dieses Ziel wenig realistisch. So-
ternativen ab. Stehen alternativ risikoärmere Ener- lange die Konsensbedingung aufrechterhalten wird,
gieerzeugungsmöglichkeiten zur Verfügung, ändert sind Diskursmodelle nicht nur bei dauerhaften Streit-
sich nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die Ak- fragen wie der Kernenergie in der Praxis kaum an-
zeptabilität der riskanteren Variante. wendbar. Für die Praxis relevanter sind einige neuere
(3) Es ist fraglich, ob die Tatsache, dass die Betrof- Diskursmodelle (vgl. z. B. Skorupinski/Ott 2000), die
fenen bestimmte Risiken nicht nur für sich akzeptie- auf die Konsensregel verzichten, ohne den diskursiv-
ren, sondern auch als zumutbar empfinden (wie prozeduralen Ansatz ganz aufzugeben.
etwa gegenwärtig die Risiken des motorisierten Stra- (2) Die legitimierende Kraft einer ausdrücklichen
ßenverkehrs), ein gutes Maß für ihre tatsächliche Zustimmung wird durch die vielfältigen kognitiven
Zumutbarkeit ist. Die Risikowahrnehmung und -be- Unzulänglichkeiten der Risikobewertung begrenzt.
urteilung kann durch Fehlwahrnehmungen verzerrt Dazu gehören die vielfach unzureichende Berück-
sein, etwa – wie im Fall des Straßenverkehrs – durch sichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ri-
eine Überschätzung der Beherrschbarkeit des eige- siken und die Überrepräsentation des Schadensaus-
nen Fahrzeugs. maßes sowie die Unterschätzung vertrauter und die
Überschätzung unvertrauter Risiken. Ein Beispiel ist
die weitgehende Vernachlässigung der hohen Be-
Diskurs als Lösung? rufsrisiken von Arbeitern im Kohlebergbau in der
Kernenergiedebatte. Auch wenn, wie die Geschichte
In den letzten 20 Jahren sind eine Reihe von Model- der Uranförderung in der ehemaligen DDR gezeigt
len einer Problem- und Konfliktlösung im Zusam- hat, der Uranabbau mit erheblichen Belastungen für
menhang mit Energieoptionen und ihren Risiken die Arbeiter, vor allem durch radioaktive Strahlung,
auf der Grundlage diskursiver Rationalität (s. Kap. verbunden ist, so ist doch die Bilanz der Gesund-
IV.B.6) bzw. mit ausdrücklicher Berufung auf die heitsschäden und Todesfälle pro Einheit Nutzener-
Diskursethik entwickelt worden (zur Bürgerbeteili- gie bei der Steinkohle wesentlich ungünstiger.
gung s. Kap. VI.5). Die Diskursethik (vgl. Habermas (3) Betroffene, die nicht befragt werden können
1983) lässt sich als die konsequente Umsetzung des oder ihre Präferenzen nicht artikulieren können,
Demokratieprinzips auf der Ebene der Ethik be- z. B. Kinder, Unmündige, empfindungsfähige Tiere
trachten. Moralische Normen werden nicht ›von und die Angehörigen zukünftiger Generationen
oben‹ aufgrund privilegierter Einsichten von Eliten müssen durch Repräsentanten advokatorisch vertre-
gesetzt, sondern aus einer geregelten Abstimmung ten werden.
unter den Normunterworfenen selbst gewonnen. (4) Eine Zumutung von Risiken kann auch ohne
Diesem Modell wird am ehesten eine Kultur der par- Zustimmung oder gegen die ausdrückliche Ableh-
tizipativen Energiepolitik gerecht, die so weit wie nung der Betroffenen legitim sein, etwa wenn sie not-
möglich die Betroffenen selbst an Entscheidungen wendig ist, um von den Betroffenen selbst oder ande-
über längerfristige Energieoptionen beteiligt (vgl. ren größeren Schaden oder größere Risiken abzuwen-
Nennen/Hörning 1999). Eine Diskursstrategie emp- den, oder wenn ein insgesamt gerechtfertigtes Risiko
fiehlt sich u. a. bereits aus pragmatischen Gesichts- aus technischen Gründen (wie bei der Inbetrieb-
punkten: Ein Diktat führt zu Glaubwürdigkeits-, nahme eines Kraftwerks) entweder ›flächendeckend‹
Vertrauens- und Legitimationskrisen von Industrie, oder gar nicht zugemutet werden muss. Dies gilt nicht
Politik und Verwaltung und trägt entscheidend zur nur in geographischer, sondern auch in zeitlicher
Polarisierung der Standpunkte bei. Hinsicht, etwa bei der ethischen Abwägung zwischen
Wie Verfahrenslösungen allgemein ist allerdings den Unsicherheiten, die wir uns selbst und die wir
auch ein Diskurs im Fall der Kernenergie mit eini- späteren Generationen zumuten. Eine solche Abwä-
gen Schwierigkeiten konfrontiert, die Erweiterun- gung könnte durchaus zum Ergebnis haben, dass wir
gen dieses Modells erforderlich erscheinen lassen uns etwas mehr an Unsicherheiten zumuten sollten,
(vgl. Renn et al. 2007, 230 ff.): um zu verhindern, dass zukünftigen Generationen
(1) Viele Modelle übernehmen von der ursprüng- noch schwerwiegendere Unsicherheiten zugemutet
lichen Diskursethik die Zielvorstellung der Errei- werden müssen. In diesem Sinn könnte man argu-
chung eines lückenlosen Konsenses (vgl. Shrader- mentieren, dass wir die Verpflichtung haben, so viele
Frechette 1991a; Rehmann-Sutter 1998). Angesichts und verschiedenartige Techniken der Nutzenergie-
308 V. Technikfelder

erzeugung wie möglich zu entwickeln und zu er- 12. Lebensmittelverarbeitung


proben  – auch unter Inkaufnahme einer gewissen
Zunahme an Risiken –, sofern dies die den Zukünf-
tigen verbleibenden Optionen erweitert (s. Kap. Das Technikfeld der Lebensmittelverarbeitung un-
IV.B.10), falls die Vorräte an fossilen Energieträgern terscheidet sich von den anderen Technikfeldern
zur Neige gehen oder sich die Energiebilanz ihrer insbesondere unter zwei Gesichtspunkten. Erstens
Gewinnung gravierend verschlechtert. ist die Vielzahl von Agrartechniken (s. Kap. V.1) auf
natürliche Wachstumsprozesse angewiesen bzw.
Literatur macht sich diese wenn auch in unterschiedlicher In-
Birnbacher, Dieter: Läßt sich die Diskontierung der Zu-
tensität zunutze. Es besteht also eine enge Verzah-
kunft rechtfertigen? In: Ders./Gerd Brudermüller (Hg.): nung zwischen Technik und Natur (s. Kap. IV.C.2).
Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Zweitens sind die Menschen zur Deckung ihrer vita-
Würzburg 2001, 117–136. len Bedürfnisse auf den Verzehr von Lebensmitteln
– /Gelfort, Eike/Schwager, Jörg/Tietze, Alfons: Ethik und (›Mittel zum Leben‹) zur Selbsterhaltung angewie-
Kernenergie. Expertise für den Fachausschuss Kerntech-
sen. Wenn man davon ausgeht, dass sich weltweit
nik der VDI-Gesellschaft Energietechnik. Düsseldorf
2006. Konsummuster entwickeln, die denen der Industrie-
Gethmannn, Carl Friedrich: Zur Ethik des Handelns unter länder ähneln, würde dies bei der heutigen Ernäh-
Risiko im Umweltstaat. In: Ders./Michael Kloepfer rungsweise und einer weiter steigenden Weltbevöl-
(Hg.): Handeln unter Risiko im Umweltstaat. Berlin 1993, kerung die Tragekapazität der Erde übersteigen. Da
1–55.
im Lebensmittelbereich die Nachfrageseite einen
Habermas, Jürgen: Diskursethik – Notizen zu einem Be-
gründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewusstsein und immensen Einfluss auf die Angebotsseite ausübt, be-
kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1983. steht also zudem eine enge Verzahnung zwischen
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik Produktion und Konsumtion.
für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 1979. Aus ethischer Perspektive ist deshalb nicht nur
Lumer, Christoph: Treibhauseffekt und Zukunftsverant- nachhaltige(re) Produktion (s. Kap. IV.B.10), son-
wortung. In: Dieter Birnbacher/Gerd Brudermüller
(Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidari- dern auch die Änderung der Konsummuster erfor-
tät. Würzburg 2001, 185–225. derlich. Besonders drastisch zeigt sich dies bei den
– : The Greenhouse. A Welfare Assessment and some Morals. Methoden der industriellen Viehwirtschaft. Welt-
Lanham 2002. weit steigt die Nachfrage nach höherwertigeren Le-
Nennen, Heinz-Ulrich/Hörning, Georg (Hg.): Energie und bensmitteln, insbesondere nach Fleisch und den da-
Ethik. Leitbilder im politischen Diskurs. Frankfurt a. M.
1999. zugehörenden Ressourcen. Der weltweite Pro-Kopf-
Nida-Rümelin, Julian: Ethik des Risikos. In: Ders. (Hg.): Verbrauch von Fleisch hat sich in den letzten 50
Angewandte Ethik. Stuttgart 1996, 806–832. Jahren verdoppelt, die absolute Nachfrage mehr als
Nida-Rümelin, Julian/Rath, Benjamin/Schulenburg, Jo- verfünffacht, die Tendenz ist weiter steigend, mit
hann: Risikoethik. Berlin/Boston 2012. entsprechend (immensen) negativen Auswirkungen
Rehmann-Sutter, Christoph: Ethik. In: Ders./Adrian Vat-
ter/Hansjörg Seiler: Partizipative Risikopolitik. Opladen/
auf Umwelt und Gesellschaft.
Wiesbaden 1998, 29–167.
Renn, Ortwin/Schweizer, Pia-Johanna/Dreyer, Marion/
Klinke, Andreas: Risiko. Über den gesellschaftlichen Um- Sozial-ökologische Auswirkungen
gang mit Unsicherheit. München 2007.
Shrader-Frechette, Kristin S.: Risk Analysis and Scientific
Method. Dordrecht 1985.
Hoher Flächen- und Wasserbedarf: Die negativen
– : Risk and Rationality. Philosophical Foundations for Popu- Auswirkungen auf die Umwelt hängen eng damit zu-
list Reforms. Berkeley u. a. 1991a. sammen, dass Fleisch ein Veredelungsprodukt ist.
– (Hg.): Nuclear Energy and Ethics. Genf 1991b. Im weltweiten Durchschnitt benötigen wir 1200 m³
Sidgwick, Henry: The Methods of Ethics. London 71907. Wasser pro Jahr und Person zur Erzeugung von Le-
Skorupinski, Barbara/Ott, Konrad: Technikfolgenabschät-
zung und Ethik. Eine Verhältnisbestimmung in Theorie
bensmitteln. Dieser Wert verändert sich sehr stark in
und Praxis. Zürich 2000. Abhängigkeit von der Region und von dem Anteil an
Streffer, Christian/Gethmann, Carl Friedrich/Heinloth, tierischen Produkten an der Ernährung. Er variiert
Klaus/Rumpff, Klaus/Witt, Andreas: Ethische Probleme zwischen 600 m³ pro Jahr und Person in den ärms-
einer langfristigen globalen Energieversorgung. Berlin/ ten Ländern und 1800 m³ pro Jahr und Person in
New York 2005.
den Ländern mit hohem Fleischkonsum (USA und
Dieter Birnbacher
EU). Bei einer ausreichenden Ernährung (80 Pro-
12. Lebensmittelverarbeitung 309

zent pflanzlicher, 20 Prozent tierischer Anteil) liegt (Soja, Raps, Palmöl, Sonnenblumen) ist der Anteil
der durchschnittliche Wasserbedarf bei 1300 m³ pro noch geringer.
Jahr und Person, bei einer rein vegetarischen Ernäh- Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und
rung ist er nur halb so hoch. Zur Erzeugung von ei- das tierische Wohl: Zum einen erfordern die Lebens-
nem Kilogramm Fleisch sind sieben bis sechzehn bedingungen in der Massentierhaltung einen hohen
Kilogramm Futtermittel wie Getreide oder Sojaboh- Einsatz von Arzneimitteln (z. B. Antibiotika, Hor-
nen notwendig. Dementsprechend ist nicht nur der mone, Tranquilizer). Das Risiko der Entstehung von
Flächen- und Wasserbedarf zur Produktion von Antibiotika-resistenten Krankheitserregern (super
Fleisch extrem hoch, sondern die Ressourcen wer- pathogens) wird dadurch erhöht. Man schätzt, dass
den zudem stark belastet (Steinfeld et al. 2006; SRU bereits knapp vier Prozent der Resistenzprobleme in
2012). der Humanmedizin ihren Ursprung in der Anwen-
Verlust der Bio- und Agrodiversität: Innerhalb dung antimikrobieller Wirkstoffe bei Nutztieren ha-
der vergangenen 40 Jahre wurden in Mittelamerika ben. In der EU werden multiresistente Bakterien für
40 Prozent des gesamten Regenwaldes gerodet bzw. den vorzeitigen Tod von jährlich etwa 25.000 Men-
abgebrannt, hauptsächlich, um Weideland zu erhal- schen verantwortlich gemacht (WHO 2011). Aus er-
ten oder Futtermittel – zum großen Teil für den Ex- nährungsphysiologischer Sicht gilt ein Schwerpunkt
port  – anzubauen. Im Amazonasgebiet sind heute bei pflanzlichen Lebensmitteln als empfehlenswert,
70  Prozent des vernichteten Regenwaldes Weide- dagegen weniger bei Fleisch und anderen, vom Tier
land. Dadurch trägt die Viehwirtschaft – neben der stammenden Produkten. Mit der weltweit zuneh-
Stickstoffbelastung – durch die Ausbringung von or- menden Angleichung der Ernährungsstile nach dem
ganischem Dünger einen bedeutenden Anteil am westlichen Muster ›zu viel, zu fett, zu salzig, zu süß‹
Verlust der Biodiversität. Zudem ist die Vielfalt der erhöhen sich gleichermaßen die ernährungsbeding-
genutzten Pflanzen und Tiere global in den letzten ten Krankheiten und Gesundheitskosten. Zum an-
einhundert Jahren um geschätzte 75 Prozent zurück- deren intensiviert die Massentierhaltung einen frag-
gegangen. Heute wird die Welternährung haupt- würdigen Umgang mit den Tieren (s. Kap. IV.C.3).
sächlich durch zehn Kulturpflanzenarten gedeckt, Dies äußert sich in unnatürlichen Haltungsbedin-
ähnliches gilt für die Tierarten. gungen wie beengtem Lebensraum, keinem Zugang
Steigende Treibhausgasemissionen: Die Viehwirt- zu frischer Luft und Tageslicht oder geringer Inter-
schaft ist für 18 Prozent der anthropogenen Treib- aktion mit Artgenossen sowie artfremder Fütterung
hausgasemissionen (gemessen in Kohlendioxidäqui- und auf maximale Leistung gezüchteten Nutztierras-
valenten) verantwortlich. Die Hälfte davon entfallen sen. Aus tierethischer Perspektive sind auch die
auf Kohlendioxidemissionen und sind im Wesentli- Schlachtmethoden kritisch zu hinterfragen.
chen auf die Veränderungen der Landnutzung, ins-
besondere durch Entwaldung, zurückzuführen. Zu-
dem verursacht allein die Viehwirtschaft, vor allem Geteilte Verantwortung
die Wiederkäuer, mehr als ein Drittel (37 %) der an-
thropogen erzeugten Methangasemissionen, die ein Die weitestgehend industrialisierte und globalisierte
23-mal höheres Treibhausgaspotential als Kohlen- Produktion, Verarbeitung und Distribution von
dioxid besitzen. Auch gehen fast zwei Drittel der Nahrungsmitteln wird bis heute durch eine globalpo-
Stickoxide (64 %) mit einem 296-mal höheren Treib- litische Regulierung der Handelsfreiheit forciert. Die
hausgaspotential als Kohlendioxid auf die Viehwirt- Konsequenz ist, dass sich die sozial-ökologischen
schaft zurück, der Hauptanteil für Dünger. Probleme insbesondere in der Viehwirtschaft ver-
(Flächen-)Nutzungskonkurrenz: Nahrungsmittel schärfen. Demgemäß müssen die Prozesse der Le-
kommen bei vielen, die sie benötigen, nicht an. bensmittelverarbeitung entlang der Wertschöpfungs-
Knapp 40 Prozent des weltweit produzierten Getrei- kette nachhaltiger (s. Kap. IV.B.10) gestaltet werden
des und sogar 80 Prozent der Sojabohnen werden an (McIntyre et al. 2009). Das Bedürfnisfeld ›Ernäh-
Schlachttiere verfüttert. Immer mehr Agrarprodukte rung‹ muss als Netzwerk verstanden werden, das
gehen in die Erzeugung von Agrartreibstoffen, Fa- sämtliche Tätigkeiten und Wirkungen der verschie-
ser- oder anderen Industrieprodukten oder werden densten Akteure entlang des gesamten Lebenszyklus
als Futtermittel verwendet  – nur noch 47 Prozent von Lebensmitteln berücksichtigt (Hofer 1999). Im
der Weltgetreideproduktion (Weizen, Reis, Mais) Folgenden soll das Hauptaugenmerk auf die Produ-
dienen der unmittelbaren Ernährung. Bei Ölsaaten zenten- und Nachfrageseite gerichtet werden.
310 V. Technikfelder

Produzentenverantwortung Unternehmen zu erhalten und ihnen Orientierungs-


hilfe durch Grundsätze und Leitlinien zu geben. Es
Die industrialisierte Viehwirtschaft obliegt Konzen- ist aber unter anderem mit einer Rechtsvorschrift
trations- und Spezialisierungsprozessen, die zur über die Transparenz der sozialen und ökologischen
Folge haben, dass wenige, dafür aber stark speziali- Informationen zu rechnen (Nachhaltigkeitsbericht-
sierte Betriebe die Fleischproduktion und -verarbei- erstattung). Auf nationaler Ebene hat der Rat für
tung dominieren. Ein stetig anwachsendes Produkt- nachhaltige Entwicklung den »Deutschen Nachhal-
angebot (z. B. convenience food) erfordert komplexe tigkeits-Kodex« entwickelt, der sich an Unterneh-
Produktionstechniken mit entsprechend höherer men verschiedener Größe und Branchen richtet und
Verarbeitungstiefe. Kleinbäuerliche Betriebe werden die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien
verdrängt, heimische Produktionsstätten werden einfordert.
vermehrt durch entfernte Großbetriebe ersetzt. Die Vor diesem Hintergrund sieht sich auch die in-
Folge ist die physische und sozio-kulturelle Heraus- dustrialisierte Lebensmittelwirtschaft damit kon-
lösung der Produktionsprozesse aus lokalen und na- frontiert, dass sozial-ökologische Anforderungen an
turnahen Bezügen. Bedeutung gewinnen, jedoch nach wie vor keine an-
Diesem Trend steht durch vermehrte Lebensmit- gemessenen Regulierungen existieren. Gleichzeitig
telskandale seit den 1980er Jahren eine sensibili- hat die globale Zergliederung der Produktionspro-
sierte Bevölkerung gegenüber: dioxinverseuchte zesse dazu geführt, dass die Komplexität der Liefer-
Futtermittel, zunehmende Anzahl von BSE- und ketten sich immens erhöht hat. Zur Gewährleistung
Schweinepestfällen, Umetikettierung von Gammel- einer sozial-ökologischen Produktions- und Pro-
fleisch als Frischware, um nur einige zu nennen. In- duktqualität muss deshalb die Koordination zwi-
folgedessen ist insbesondere das Vertrauen der Ver- schen den Partnern der Wertschöpfungskette ver-
braucher gegenüber der Fleischwirtschaft gravie- bessert werden, d. h. Informationsflüsse müssen lü-
rend geschädigt. Dadurch stehen mehr oder weniger ckenlos ineinandergreifen und aktuell abgestimmt
sämtliche Akteure der Produktionskette der Fleisch- sein. Hier gilt es beispielsweise die »International
erzeugung vom Landwirt über die Schlachtung und Food Standards« zur Sicherstellung der Lebensmit-
Verarbeitung bis zum Einzelhandel in Verruf. tel- bzw. Produktsicherheit konsequent unter Nach-
Besonders in den letzten Jahren sind deshalb haltigkeitsgesichtspunkten weiter zu entwickeln. Es
nicht mehr nur die Produktqualität und die Waren- sollten zudem vermehrt Kontroll- und Einflussme-
sicherheit, sondern auch sozial-ökologische Aspekte chanismen bei Lieferanten (z. B. Mast- und Schlacht-
der Produktion in den Fokus der Öffentlichkeit ge- betrieben) installiert werden, um die notwendige
raten. Die allgemeine Debatte um die gesellschaftli- Transparenz über die differenzierten Produktions-
che Verantwortung von Unternehmen hat sich ne- schritte her- und sicherzustellen. Dies erfordert
ben dem Textil- vor allem im Lebensmittelbereich nicht nur hochspezialisierte IT-Technologien und
intensiviert. Standardisierungsbemühungen auf glo- Logistiklösungen, sondern bedeutet bei globalen
baler, europäischer und nationaler Ebene sind ein Wertschöpfungsketten auch, dass Verbraucher und
Indiz dafür, dass hinsichtlich globalisierter Produk- Endkunden verstärkt in ethische Informations- und
tionsprozesse ein regulatives Umdenken stattfindet. Konsumtionsprozesse integriert werden. Ein Bei-
Auf internationaler Ebene wurde im November spiel hierfür ist die Initiative des Deutschen Tier-
2010 die ISO Guideline 26 000 verabschiedet, ein schutzbundes, durch die mit Beginn des Jahres 2013
Leitfaden, der Organisationen unterschiedlicher Art das Label »Für Mehr Tierschutz« für Produkte tieri-
Orientierung und Empfehlungen gibt, wie sie gesell- schen Ursprungs eingeführt wurde (DTSchB 2012).
schaftlich verantwortlich handeln. Auf europäischer
Ebene hat die EU im Oktober 2011 in ihrer neuen
Strategie (2011–14) Corporate Social Responsibility Konsumentenverantwortung
(CSR) generell als die »Verantwortung der Unter-
nehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft« Wenn man davon ausgeht, dass der weltweite Bedarf
definiert. Damit rückt sie von der bisher betonten an Nahrungsmitteln zwischen 2000 und 2050 um
freiwilligen Übernahme von CSR ab; denn mit ihrer geschätzte 100 Prozent anwachsen wird (Witzke
neuen Strategie ist ein Mix aus freiwilligen und ver- 2011), wird die Verantwortung von Konsumenten
pflichtenden Instrumenten geplant. Vorerst besteht im Rahmen der Lebensmittelverarbeitung beson-
das Ziel zwar weiterhin darin, die Flexibilität der ders deutlich. Konsumenten sind grundsätzlich
12. Lebensmittelverarbeitung 311

durch den Kauf, den Gebrauch und die Entsorgung nünftige Verwaltung der eigenen Finanzen oder
von Gütern sowie die Inanspruchnahme von Dienst- auch das Streben nach Selbstverwirklichung und
leistungen maßgeblich an der Entstehung der sozia- einem gelingenden Leben. Die Selbstfürsorge ist
len und ökologischen Probleme beteiligt, welche die letztlich die Grundlage für die Erfüllung der an-
Lebensgrundlagen zukünftiger und heutiger Gene- deren Normen, denn erst die Sicherung des eige-
rationen gefährden. Zwar ist der Beitrag des einzel- nen Wohlergehens setzt Kapazitäten für die Ver-
nen Konsumenten zu Folgeschäden wie dem Klima- folgung des Gemeinwohls frei.
wandel oder übermäßigem Ressourcenverbrauch als
marginal zu bezeichnen. Moralisch muss sein indivi- Verantwortliches Konsumentenhandeln kann somit
duelles Verhalten dennoch in Rechnung gestellt wer- als ein Akt des Konsumierens definiert werden, bei
den, da es aufgrund seiner kollektiven Auswirkun- dem Belange der sozialen und natürlichen Umwelt
gen dem moralischen Grundsatz der Verallgemeine- sowie des eigenen Wohlergehens im Vordergrund
rungsfähigkeit von Einzelhandlungen in der Regel stehen. Die besondere Mitverantwortung des Kon-
nicht standhält: »Ist eine Konsumhandlung derge- sumenten für das Feld der Lebensmittelverarbeitung
stalt, dass sie, einmal verallgemeinert, die Natur folgt aus dem Umstand, dass das Konsumverhalten
selbst zerstört, deren Prinzip das des Lebens ist, so in westlichen Industrienationen maßgeblich zu
ist die Norm, sie auszuführen, nicht moralisch« sozial-ökologischen Problemlagen wie wachsende
(Cortina 2006, 96). Treibhausgase, Waldrodung für den tierischen Fut-
Angesichts der Tatsache, dass solche nicht verall- teranbau, Seuchenrisiken sowie Wasserverknappung
gemeinerbaren – d. h. ökologisch und sozial schädi- und Niedriglöhne in der Agrarwirtschaft insbeson-
genden  – Konsumhandlungen bislang fast aus- dere in den Entwicklungsländern beiträgt. Über ein
schließlich von einem relativ kleinen, überwiegend ethisch reflektiertes Nachfrage-, Verbrauchs- und
nordamerikanischen und europäischen Bevölke- Entsorgungsverhalten, aber auch durch ihr zivilpoli-
rungsteil ausgeführt wurden, muss der Konsum der tisches Engagement – etwa durch Kampagnen und
westlichen Industrienationen insbesondere unter Boykotte – für sozial- und umweltverträgliche Lie-
Aspekten der globalen Gerechtigkeit als moralisch fer- und Wertschöpfungsketten können Verbraucher
fragwürdig bezeichnet werden (s. Kap. IV.B.9). Für auf globale Folgeschäden ihres Alltagskonsums we-
den Konsumbürger westlicher Industrienationen sentlichen Einfluss nehmen (Kneip 2009).
besteht somit eine spezielle Verpflichtung, sein Ver- Verantwortlicher Konsum stellt so gesehen zwar
halten moralisch zu legitimieren und die Mitverant- eine moralische und politische Verpflichtung dar
wortung für die Verhinderung weiterer sozial-öko- (Young 2008). Die alltagspraktische Umsetzung der
logischer Schäden zu übernehmen (Heidbrink/ Konsumentenverantwortung steht allerdings häufig
Schmidt 2011). im Widerspruch zu ihrer normativen Begründung
Diese Mitverantwortung der Konsumenten lässt und dem ethischen Selbstverständnis der Verbrau-
sich in dreifacher Hinsicht unterscheiden, in die cher. Folgt man quantitativen empirischen Umfra-
Norm der Sozialverträglichkeit, die Norm der Na- gen, hat sich bei deutschen Konsumenten zwar die
turverträglichkeit und die Norm der Fürsorgepflicht Einsicht durchgesetzt, dass soziale und ökologische
für sich selbst (Neuner 2008): Problemlagen einer besonderen Aufmerksamkeit
• Die Norm der sozialen Verträglichkeit des Kon- bedürfen. So fordern 60 Prozent der deutschen Be-
sums bezieht sich darauf, Auswirkungen auf Mit- völkerung eine Vorreiterrolle Deutschlands beim
menschen im Nah- oder Fernbereich sowie in der Klimaschutz, 53 Prozent geben an, umweltschädli-
Zukunft zu vermeiden, sofern sie diese negativ che Firmen zu boykottieren und 67 Prozent ziehen
treffen und ihre sozialen Lebensbedingungen be- beim Einkauf Produkte vor, welche die Umwelt we-
einträchtigen. niger belasten (Borgstedt et al. 2010). Ganze 94 Pro-
• Mit der Norm der Naturverträglichkeit ist die Ver- zent stimmen zudem der Aussage zu, dass es fairen
meidung solcher Verhaltensweisen gemeint, die Handel zwischen den reichen Ländern dieser Erde
aufgrund der aus ihnen resultierenden Umwelt- und den Entwicklungsländern geben sollte (Wipper-
schäden die physischen Lebensgrundlagen jetzi- mann et al. 2008).
ger oder folgender Generationen (beziehungs- Dennoch zeigt ein genauerer Blick auf das tat-
weise Lebewesen) irreversibel zerstören. sächliche Verhalten der Konsumenten, dass sie ihre
• Die Fürsorgepflicht des Konsumenten für sich moralischen Einsichten vergleichsweise selten im
selbst umfasst die eigene Gesundheit, die ver- Alltag realisieren und eine auffällige Kluft zwischen
312 V. Technikfelder

Einstellung und Verhalten besteht. Obwohl der Ab- • Veränderte Rahmengesetze und politische Maß-
satz fair gehandelter Produkte in 2011 um 16 Pro- nahmen wie der verbesserte Schutz von Rechten
zent zugenommen hat (Forum Fairer Handel 2012) sowie mehr Informationen und Bildung tragen
und der Umsatz der Bio-Branche in 2011 um neun ebenfalls zur Aktivierung der Konsumentenver-
Prozent auf 6,6 Milliarden Euro gewachsen ist antwortung bei. Mit dem Verbraucherinformati-
(BÖLW 2012), liegt der gesamte Marktanteil nach- onsgesetz (VIG) aus dem Jahr 2007, das Konsu-
haltiger Produkte bei gerade einmal vier bis fünf menten den Zugang zu Produktinformationen
Prozent. Im Lebensmittelsektor neigen Verbraucher erleichtert, ist ein wichtiger Schritt in diese Rich-
vor allem dazu, die konkreten Umstände der Mas- tung getan worden. Zertifizierte Bio-Siegel und
sentierhaltung aktiv auszublenden und eine kogni- Öko-Labels, die verlässlichen Aufschluss über die
tive Mauer zwischen sich und den Produktionsbe- Nachhaltigkeit von Lebensmitteln liefern, bilden
dingungen in der Fleischindustrie aufzubauen (Si- weitere Mittel auf dem Weg zum verantwortungs-
mons/Hartmann 2012). Als weitere Gründe für das fähigen Verbraucher. Jüngst hat die EU in ihrer
begrenzt nachhaltige Konsumentenverhalten lassen »Verbraucheragenda für mehr Vertrauen und
sich mangelnde Informationen, Intransparenz der mehr Wachstum« das Ziel vorgegeben, im Lebens-
Wertschöpfungsketten, fehlendes Vertrauen in die mittelsektor die Verbrauchersicherheit durch ge-
Unternehmen, höhere Preise, aber auch Zeitnot und änderte Rechtsrahmen und eine bessere Markt-
das Festhalten an herkömmlichen Einkaufs- und überwachung zu stärken, den Wissenshorizont
Alltagsgewohnheiten nennen (Teitscheid 2011). durch transparentere Informationen zu erweitern
Trotz der Verbreitung postmaterieller Lebensstile und nachhaltige Konsummuster durch wirksame
und nachhaltiger Konsummustern klafft somit in Verbraucherkompetenzen und Teilhabe am Markt
der Alltagspraxis eine Lücke zwischen Bewusstsein zu fördern (EU 2012).
und Handeln, die eine nachhaltige Transformation • Durch Stakeholder-Foren (wie z. B. den Natio-
der Lebensmittelindustrie erschwert. nalen Dialogprozess zur Unterstützung nachhal-
tiger Konsum- und Produktionsmuster), soziale
Medien und Verbraucherplattformen lassen sich
Schlussfolgerungen und Ausblick Kommunikationsprozesse zwischen der Lebens-
mittelindustrie, Konsumenten und politischen
Die ethischen Konsequenzen für die Lebensmittel- Institutionen in Gang setzen, die zu einer Förde-
verarbeitung bestehen nicht nur darin, den »überlas- rung alternativer Konsumstile führen. Internet-
teten, zeitknappen, wenig kompetenten, bedingt in- portale wie Utopia oder Suchmaschinen wie
teressierten, nicht immer disziplinierten Verbrau- WeGreen tragen dazu bei, durch transparente In-
cher« (BMELV 2010, 1) in der Übernahme seiner formationen über die Nachhaltigkeit von Wert-
Verantwortung zu unterstützen, sondern auch wirt- schöpfungsketten die Barrieren zwischen Unter-
schafts- und konsumpolitische Maßnahmen zu för- nehmen und Konsumenten abzubauen und das
dern, die zu einer verstärkten Berücksichtigung von Vertrauen der Konsumenten in die großtechni-
Nachhaltigkeitsstandards in der Lebensmittelwirt- sche Lebensmittelverarbeitung zu stärken.
schaft führen. Hierfür sind vor allem folgende In-
strumente und Mittel relevant: Aus ethischer Sicht sind in Zukunft somit nicht nur
• Für Verbraucher sind realistische Preise, welche nachhaltigere Produktions- und Distributionsme-
die tatsächlichen Kosten widerspiegeln, eine thoden in der Lebensmittelindustrie erforderlich,
wichtige Voraussetzung dafür, bewusste Konsum- die durch ein verbessertes Controlling der Wert-
entscheidungen treffen zu können. Viele Verbrau- schöpfungs- und Lieferketten erreicht werden. Dar-
cher sind bereit, bis zu zehn Prozent höhere Preise über hinaus bedarf es auch einer subsidiären Ver-
für nachhaltigere Produkte zu zahlen (Wipper- braucherpolitik, die den Konsumenten darin unter-
mann et al. 2008). Sollten sich die Preise für nach- stützt, die vorhandene Bereitschaft zu sozial- und
haltige und konventionelle Lebensmittel durch umweltverträglichen Verhaltensweisen im Lebens-
die Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten mittelsektor durch eine konsequentere Änderung
stärker als bisher angleichen, würde dies voraus- seiner Einkaufs- und Nutzungsgewohnheiten zu re-
sichtlich zu einer größeren Verbreitung entspre- alisieren.
chender Produktions- und Konsummuster bei-
tragen.
12. Lebensmittelverarbeitung 313

Literatur Simons, Johannes/Hartmann, Monika: CSR in the meat in-


dustry. Do good, but should you talk about it? Vortrag
BMELV  (Bundesministerium für Ernährung, Landwirt- auf der 5. Internationalen Konferenz »The Future of
schaft und Verbraucherschutz): Der vertrauende, der CSR«. Berlin 2012.
verletzliche oder der verantwortungsvolle Verbraucher? SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen): Umweltgut-
Plädoyer für eine differenzierte Verbraucherpolitik. Stel- achten 2012. Verantwortung in einer begrenzten Welt.
lungnahme des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- Berlin 2012.
und Ernährungspolitik beim BMELV. In: http://www. Steinfeld, Henning et al.: Livestock ’ s Long Shadow. Environ-
bmelv.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/Bei mental Issues and Options. Hg. von Food and Agricul-
raete/Verbraucherpolitik/2010_12_StrategieVerbraucher ture Organization of the United Nations und Livestock,
politik.pdf?__blob=publicationFile (12.10.2012). Environment and Development (LEAD) Initiative.
BÖLW – Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft: Zah- Rome 2006.
len, Daten, Fakten: Die Bio-Branche 2012. In: http:// Teitscheid, Petra: Nachhaltigkeit in der Ernährungswirt-
www.boelw.de/uploads/pics/ZDF/ZDF_Endversion_ schaft – Der lange Weg vom Acker bis zum Teller. Welche
120110.pdf (12.10.2012). Konzepte verfolgt die Branche? In: https://www.fh-muens
Borgstedt, Silke/Christ, Tamina/Reusswig, Fritz: Umweltbe- ter.de/fb8/downloads/alumni/alumni_2011/Teitscheid.
wusstsein in Deutschland 2010. Ergebnisse einer repräsen- pdf (12.10.2012).
tativen Bevölkerungsumfrage. Heidelberg/Potsdam 2010. WHO (World Health Organization): Tackling Antibiotic
Cortina, Adela: Eine Ethik des Konsums. Die Bürgerschaft Resistance from a Food Safety Perspective in Europe.
des Verbrauchers in einer globalen Welt. In: Peter Copenhagen: WHO, Regional Office for Europe 2011.
Koslowski/Birger P. Priddat (Hg.): Ethik des Konsums. Wippermann, Carsten/Calmbach, Marc/Kleinhückelkot-
München 2006, 91–103. ten, Silke: Umweltbewusstsein in Deutschland 2008. Er-
DTSchB – Deutscher Tierschutzbund: Tierschutzlabel. In: gebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Hei-
http://www.tierschutzbund.de/tierschutzlabel.html delberg/Hannover 2008.
(05.11.2012). Witzke, Harald von: Nutzungskonkurrenz um Boden: Teller,
EU: Eine Europäische Verbraucheragenda für mehr Ver- Trog und Tank. Vortrag auf der Veranstaltung der Kom-
trauen und Wachstum. In: http://ec.europa.eu/consu mission Bodenschutz beim Umweltbundesamt am
mers/strategy/docs/consumer_agenda_2012_de.pdf 06.12.2011 in Berlin, http://www.umweltbundesamt.de/
(12.10.2012). boden-und-altlasten/veranstaltungen/weltbodentag-
Feyder, Jean: Mordshunger. Wer profitiert vom Elend der ar- 2011/index.htm (10.04.2013).
men Länder? Frankfurt a. M./München 2010. Young, Iris Marion: Responsibility and global justice: a so-
Forum Fairer Handel: Zahlen und Fakten. In: http://www. cial connection model. In: Andreas Georg Scherer/
forum-fairer-handel.de/#zahlen_und_fakten (12.10.2012). Guido Palazzo (Hg.): Handbook of Research on Global
Heidbrink, Ludger/Schmidt, Imke: Das Prinzip der Konsu- Corporate Citizenship. Cheltenham/Northampton 2008,
mentenverantwortung. Grundlagen, Bedingungen und 137–165.
Umsetzung verantwortlichen Konsums. In: Ludger
Ludger Heidbrink, Nora Meyer und Johannes Reidel
Heidbrink/Imke Schmidt/Björn Ahaus (Hg.): Die Ver-
antwortung der Konsumenten. Über das Verhältnis von
Markt, Moral und Konsum. Frankfurt a. M./New York
2011, 25–56.
Hofer, Kurt: Ernährung und Nachhaltigkeit. Entwicklungs-
prozesse  – Probleme  – Lösungsansätze. Geographisches
Institut der Universität Bern, Arbeitsbericht Nr. 135
(1999).
Kneip, Veronika: Unternehmenskritik und Discountpoli-
tik. Konsumenten und Unternehmen in der Verantwor-
tung. In: Michael S. Aßländer/Konstanze Senge (Hg.):
Corporate Social Responsibility im Einzelhandel. Mar-
burg 2009, 127–158.
McIntyre, Beverly D./Herren, Hans R./Wakhungu, Judi/
Watson, Robert T. (Hg.): Agriculture at a Crossroads. In-
ternational Assessment of Agricultural Knowledge, Sci-
ence and Technology for Development (IAASTD). Synthe-
sis Report. A Synthesis of the Global and Sub-Global
IAASTD Reports. Hg. von International Assessment of
Agricultural Knowledge Science and Technology for De-
velopment Secretariat. Washington/Rome u. a. 2009.
Neuner, Michael: Die Verantwortung der Verbraucher in
der Marktwirtschaft. In: Ludger Heidbrink/Alfred
Hirsch (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches
Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie.
Frankfurt a. M. 2008, 281–305.
314 V. Technikfelder

13. Medien weg wahrnehmbar zu machen. Dies geht einher mit


der Produktion, Speicherung, Bearbeitung, Aus-
wahl, Löschung, Übertragung, Reproduktion, Ver-
Der Begriff ›Medium‹ lässt sich im Deutschen seit breitung und Zugänglichmachung von Inhalten.
dem 17. Jahrhundert in der natur- und sprachwis- Nicht bei allen Medien kommt diesen Schritten
senschaftlichen Fachsprache nachweisen. Seit der die gleiche Bedeutung zu. Die Möglichkeit, Inhalte
Mitte des 18. Jahrhunderts wird ›Medium‹ allgemein im Vorfeld herzustellen oder zu speichern, war z. B.
für das »Mittlere« oder das »Vermittelnde« ge- im Fall des Telefons über lange Zeit zweitrangig. Bü-
braucht (Schulte-Sasse 2010, 1), z. B. auch für das cher hingegen wurden bis zur Einführung des E-
zwischen Dies- und Jenseits vermittelnde personale Books vor allem über den Handel verbreitet, nun
›Medium‹. werden sie auch zunehmend elektronisch übertra-
Im 20. Jahrhundert meint insbesondere der Plu- gen. Insofern sind Unterscheidungen wie jene zwi-
ral, ›die Medien‹, die zu diesem Zeitpunkt etablier- schen Speicher- und Übertragungsmedien zwar hilf-
ten (Massen-)Medien wie das Buch, die Zeitung, das reich, jedoch sollten die Unterschiede zum einen im
Radio, das Fernsehen oder den Film. Auch andere Zuge der technischen Medienkonvergenz nicht
Kommunikationsmittel wie das Telefon oder der überbetont werden, zum anderen sollten derartige
Brief werden als Medien bezeichnet bzw. wie der Unterscheidungen nicht über die faktische Hetero-
Computer und das Internet als neue Medien ausge- genität von Medien hinwegtäuschen. Unter Print-
wiesen (s. Kap. V.9). Der Zusammenhang mit dem bzw. Druckmedien werden in der Regel z. B. Bücher,
technisch Möglichen und Machbaren ist insbeson- Zeitungen und Zeitschriften zusammengefasst,
dere im Fall der Massenmedien offensichtlich: Ohne während etwa Plakate, Postkarten, Fahrpläne oder
Kamera ist kein Film, ohne Computer kein Internet Telefonbücher nicht immer beachtet werden.
denkbar. Die hier zugrunde gelegte funktionale Bestim-
Ausgehend von den Arbeiten von Harold Adams mung sowie die Ausdifferenzierung in Hinblick auf
Innis, Marshall McLuhan, Eric Havelock u. a. wird die notwendigen Schritte zur Produktion und Dis-
der Medienbegriff zudem in der Medientheorie, tribution sind aus technikethischer Perspektive inso-
-wissenschaft und -philosophie zu einem Grundbe- fern hilfreich, als dass sie es erlauben, auf die techno-
griff in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaf- logischen Aspekte von Medien zu fokussieren und
ten. In diesem Zusammenhang etabliert sich eine z. B. die mit Innovationen einhergehenden Verände-
starke Bedeutungsvariante von Medium, welche rungen zu reflektieren. Zugleich vermeidet sie die
»[…] das Medium als einen Träger von Informatio- Verengung auf ein bestimmtes Medium. In diesem
nen [betrachtet], der diese nicht mehr oder weniger Sinne hatte z. B. Werner Faulstich angemerkt, dass
neutral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt, nicht die Erfindung des Buchdrucks, sondern des
sich ihnen medienspezifisch einschreibt und da- Drucks im Allgemeinen als »Faktor des gesellschaft-
durch dem menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit lichen Wandels [anzusehen sei]. […] Der Weg
Form verleiht« (Schulte-Sasse 2010, 1). speziell zum bürgerlichen Status des Buches als
Die umfassende, grundlegende und zugleich eines kulturellen Leitmediums war in der frühen
starke Bedeutungsvariante ist ohne Zweifel für die Neuzeit noch längst nicht erreicht; das sollte erst
ethische Reflexion von großem Interesse und ermög- dem 18.  Jahrhundert vorbehalten bleiben« (Faul-
licht es beispielsweise, »Technik als Medium« (s. Kap. stich 1998, 231).
IV.A.8) zu analysieren. In Ergänzung und Abgren- Diese erste funktionale Bestimmung von Medien
zung hierzu soll eine funktionale Bestimmung von sollte nicht dahingehend missverstanden werden,
Medien als Ausgangspunkt für das Folgende dienen, dass Medien stets nur funktional zu betrachten sind
die sich am Alltagssprachgebrauch orientiert. und kein ›Eigenleben‹ entwickeln. Ein gängiger To-
pos der Medienkritik ist dementsprechend auch,
dass Medien uns weniger über die Welt informieren,
Die funktionale Bestimmung sondern den Blick auf die Welt verstellen. Albert
von Medien Borgmann hat dies z. B. auf die Formel gebracht,
dass der Typus der »Information über die Realität«
Medien dienen dazu, bestimmte Inhalte (z. B. alpha- von der »Information als Realität« abgelöst wurde
numerische Codes oder audio-visuelle Darstellun- (Borgmann 1999). Die funktionale Bestimmung sagt
gen) über eine räumliche oder zeitliche Distanz hin- zudem noch nichts über deren soziale Einbettung
13. Medien 315

und kulturelle Bedeutung, auf die wir später zu spre- richten zum ersten Mal mit übermenschlicher Ge-
chen kommen werden. schwindigkeit verbreiten, während sie zuvor – etwa
Allerdings lassen sich zahlreiche, als problema- mit dem Zug oder der Kutsche – genauso schnell be-
tisch erachtete Phänomene auf die genannten Ele- fördert wurden wie Menschen und Waren. Der Ein-
mente zurückführen. Die Veröffentlichung von Sa- fluss auf das Zeitungswesen, insbesondere durch die
muel D. Warrens und Louis D. Brandeis’ Aufsatz Entstehung von Nachrichtenagenturen, die aus sog.
»The right to privacy« (1890) ist z. B. auch vor dem Telegraphen-Büros hervorgingen, ist gut belegt
Hintergrund der Entwicklungen im Bereich der (Faulstich 2004, 57–59). Ähnlich verhält es sich z. B.
Foto- und Reproduktionstechnik zu sehen (Nagen- mit der Einführung der elektronischen Berichter-
borg 2005, 111–119): Nicht nur waren die Aufnah- stattung für das Fernsehen, die in den 1980er Jahren
megeräte kleiner und transportabler geworden; 1880 durch die Umstellung auf Videoaufzeichnung und
war auch zum ersten Mal ein Foto in einer Zeitung die Nutzung von Satellitenübertragung ermöglicht
veröffentlicht worden (Faulstich 2004, 38–39). Hier wurde.
sind es also Veränderungen hinsichtlich der Mög-
lichkeiten der Produktion, Reproduktion und Ver-
breitung, welche die Frage nach dem Wert und dem Medienethik und Medienwandel
Schutzbedürfnis des Privatlebens aufwerfen.
Umgekehrt können Veränderungen in der Medi- Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, las-
ennutzung technologischen Innovationen vorausge- sen sich Veränderungen der Medien auch im Zu-
hen. Obwohl Bücher bis zum Ende des 18. Jahrhun- sammenhang mit technischen Entwicklungen be-
derts wie im 16. Jahrhundert mittels Handpressen schreiben. Wie in anderen Technikfeldern auch,
gedruckt wurden, kam es im 18. Jahrhundert zu ei- kann ein solcher Medienwandel bzw. Medienum-
nem radikalen Anstieg der Anzahl gedruckter Bü- bruch dazu führen, dass die bisherigen moralischen
cher in Westeuropa. Der Rotationsdruck, der dann Werte, Prinzipien und Regeln als unzureichend er-
höhere Auflagen ermöglichte, wurde jedoch erst scheinen, um die neuen Handlungsoptionen zu be-
1790 patentiert (Schulte-Sasse 2010, 19). Auch im werten. Oder es wird die Gefahr gesehen, dass wich-
Bereich der Medien sollte deshalb keinem Technik- tige Funktionen der etablierten Medien durch den
determinismus das Wort geredet werden (s. Kap. Medienwandel gefährdet werden. Im Fall von Me-
IV.A.9). dien tritt hinzu, dass diese zum einen als konstitutiv
Die Veränderungen von Medien durch techni- für Gesellschaften angesehen werden, zum anderen
sche Innovationen sind zudem nicht immer offen- auch hinsichtlich ihrer Wirkung auf bestimmte
sichtlich. Im Gegensatz zum Übergang von der ge- Gruppen oder Individuen als problematisch erschei-
sprochenen Sprache zur Schrift wird der Übergang nen können.
vom skripto- zum typographischen Buch z. B. weit- Konstitutiv sind Medien für Gesellschaften dabei
aus seltener behandelt. Innovationen wie die Einfüh- in zweierlei Hinsicht. Zum einen ermöglichen und
rung von Registern, die seit dem 12. Jahrhundert das strukturieren Medien die Kommunikation zwischen
gezielte Suchen von Textstellen in Büchern und so- den Mitgliedern einer Gesellschaft und haben einen
mit einen ganz neuen Umgang mit dem Medium er- wesentlichen Anteil an der generationsübergreifen-
möglichen (Illich 1991), finden kaum Erwähnung. den Vermittlung von Wissen. Zum anderen wird
Dabei verweist die Einführung von Registern und zumindest in westlichen Demokratien die durch
die Schaffung von Konkordanz-Werken auch auf Medien ermöglichte Form der Öffentlichkeit als
eine zunehmende Standardisierung von Büchern, wesentlicher Bestandteil dieser Herrschaftsform an-
die beim mit beweglichen Lettern gedruckten Buch gesehen. Zudem können bestimmte Medien Teil des
augenscheinlich wird. Selbstbildes einer Gesellschaft sein, weswegen die
Schließlich gilt es zu beachten, dass die Einfüh- abnehmende Bedeutung der bürgerlichen Leitme-
rung eines neuen Mediums Veränderungen bei ei- dien ›Buch‹ und ›Zeitung‹ und das zeitgleiche Auf-
nem anderen Medium bewirken kann. Dies gilt es kommen von digitalen, vernetzten Medienformen in
nicht nur hinsichtlich der Wechselwirkung der je- Westeuropa zu einer Debatte über die Neubewer-
weiligen neuen mit den jeweiligen alten Medien zu tung von Medien führen musste.
beachten, sondern auch in Hinblick auf den Einfluss Der Medienwandel bildet eine wichtige erkennt-
von Medien auf die Produktion von anderen Me- nistheoretische Voraussetzung für die (wissenschaft-
dien. Mit dem Telegraphen konnten sich z. B. Nach- liche) Beschäftigung mit Medien, da Medien in ihrer
316 V. Technikfelder

Nutzung transparent bleiben. Wenn wir Fernsehen Jahren der (Qualitäts-)Journalismus. Während Max
schauen oder eine Zeitung lesen, dann betrachten Weber in »Politik als Beruf« (1919) anmerkt, dass
wir nicht das Gerät ›Fernseher‹ oder das Artefakt der Journalist »[…] zu einer Art von Pariakaste [ge-
›Zeitung‹, sondern unsere Aufmerksamkeit richtet hört], die in der ›Gesellschaft‹ stets nach ihren
sich auf die vermittelten Inhalte. Das führt dazu, ethisch tiefst stehenden Repräsentanten sozial ein-
dass die Komplexität von Medien leicht unterschätzt geschätzt wird« (Weber 1994, 54), wählt die Medien-
wird. Insofern ist es bezeichnend, dass im Deutschen ethik die umgekehrte Perspektive: Sie betrachtet vor
›das Radio‹, ›das Telefon‹, ›die Zeitung‹ oder ›das allem diejenigen Akteure, von denen am meisten
Buch‹ zugleich das Endgerät oder -produkt eines gefordert und erwartet wird. Neben den sich ver-
komplexen Mediensystems als auch das System an ändernden wirtschaftlichen (u. a. Einführung des
sich bezeichnen. Dies gilt es darüber hinaus auch Privatfernsehens) und technischen Rahmenbedin-
hinsichtlich der (wissenschaftlichen) Diskussion gungen sind es deswegen auch Skandale, wie die
über Medien zu beachten, die ebenfalls auf Medien Veröffentlichung der Fotos des toten Uwe Barschel
angewiesen ist und oftmals in Medien geführt wird. (1987) und die Berichterstattung zur Geiselnahme
Dieser Punkt wurde insbesondere in der Medienphi- von Gladbeck (1988), die der medienethischen De-
losophie hervorgehoben (Münkler et al. 2003). batte seit den frühen 1980er Jahren Auftrieb verlieh.
Eine Bedingung, unter der Medien als Medien ins Die akademische Beschäftigung mit der Medien-
Bewusstsein treten, ist das Vorliegen einer Störung. ethik setzt im deutschen Sprachraum somit ver-
Der Fernseher wird erst dann als technisches Artefakt gleichsweise spät ein. In den USA erscheinen z. B.
wahrnehmbar, wenn der Bildschirm schwarz bleibt. bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts erste Beiträge
In diesem Sinne lassen sich Medienwandel und Me- (Funiok 2007, 24). Dass die akademische Debatte im
dienumbruch als Störungen des Normalbetriebes deutschsprachigen Raum relativ spät begann, wird
deuten, in denen Medien als Medien zum Gegen- allerdings auch durch den Anlass des grundlegen-
stand der Diskussion werden. In der wissenschaftli- den Beitrages von Manfred Rühl und Ulrich Saxer
chen Diskussion hat sich zudem ein (synchroner oder (1981) deutlich: Das 25-jährige Bestehen des deut-
diachroner) kulturvergleichender Zugriff auf Medien schen Presserates. Arbeit, Funktion und Legitima-
für deren Analyse bewährt, da auch dieser dazu ge- tion von Presseräten und anderen Formen der mehr
eignet ist, die Spezifika der jeweils eigenen Medien oder minder freiwilligen (Selbst-)Kontrolle bilden
deutlicher hervortreten zu lassen. Deshalb wurde auch heute noch einen wichtigen Gegenstand der
auch der Einstieg über Beispiele aus der Technik- und medienethischen Debatte (z. B. Stapf 2006). Zugleich
Mediengeschichte für diesen Beitrag gewählt. wurden und werden in diesen Institutionen Ent-
scheidungen zum Teil explizit moralisch begründet.
Sie sind somit eine wichtige Quelle für die medien-
Medienethik und Medienberufe ethische Diskussion.
Andere Medienberufe finden im Vergleich hinge-
Die Medien der Gegenwart können nicht allein auf gen deutlich weniger Beachtung. So ist seit den
Grundlage ihrer technischen Aspekte beschrieben 1970er Jahren immer wieder kritisch angemerkt
werden, sondern sind als sozio-technische Systeme worden, dass die Bedeutung der visuellen Kom-
zu betrachten, in denen Menschen in unterschiedli- munikation zugenommen habe. Gleichwohl liegen
chen Rollen mittels unterschiedlicher Technologien bislang z. B. nur wenige Arbeiten zur Bildethik vor
zusammengeschaltet sind. (Isermann/Kniepe 2010). Hier besteht sicherlich
Von den unterschiedlichen Rollen, die Menschen noch Forschungsbedarf, gerade auch in Hinblick auf
in diesen Systemen wahrnehmen, finden insbeson- den Medien(technik)wandel.
dere ›die Autorin/der Autor‹, ›die Journalistin/der Einen wichtigen Impuls erhielt die Medienethik
Journalist‹ und ›die Redakteurin/der Redakteur‹ in hingegen aus der Professionsethik der informations-
der Medienethik Beachtung. Die Wahrung eines verarbeitenden Berufe, der Informationsethik. Ver-
ausgeprägten Berufsethos wird von diesen ebenso treter/innen dieser Berufe in Bibliotheken, Archiven
gefordert, wie ihre spezifische Berufsfreiheit vertei- und anderen Informationsdienstleistungen hatten
digt wird. Im Zentrum der deutschsprachigen Me- sich seit den 1980er Jahren eingehend mit den Her-
dienethik, die vor allem eine Angewandte Ethik der ausforderungen der zunehmenden Digitalisierung
Massenmedien ist, steht und stand dabei seit ihren von Inhalten auseinandergesetzt (Froehlich 2004; s.
Anfängen als akademische Disziplin in den 1970er auch Kap. V.8).
13. Medien 317

Medien und Gesellschaft rung von Inhalten relevant (Kuhlen 2004). Zum Bei-
spiel haben sich die Mitglieder der 2005 gegründe-
Insbesondere in westlichen Demokratien werden ten »Selbstkontrolle Suchmaschinen« (Google, MSN
bestimmte (Massen-)Medien als wesentlich für diese Deutschland, Yahoo.de u. a.) dazu verpflichtet, das
Herrschaftsform betrachtet, weil sie Öffentlich- sog. »BPjM-Modul« in ihre deutschen Angebote zu
keit(en) herstellen (Heesen 2008). Die Qualität des integrieren. Das Modul dient dazu, die Verweise auf
politischen Handelns hängt somit in hohem Maße jugendgefährdenden Inhalten in den Suchergebnis-
von der Qualität der Medien ab. Dies mag einerseits sen zu unterdrücken. Grundlage bildet dabei eine
erklären, warum von Journalist/innen ein besonde- entsprechende Liste, die von der »Bundesprüfstelle
res Maß an Verantwortungsbewusstsein gefordert für jugendgefährdende Medien« (BPjM) geführt
wird. Andererseits kann der Medienwandel als be- wird.
sonders bedrohlich erscheinen, wenn die Befürch- Die Verfügbarkeit von Medientechnik zur Pro-
tung besteht, dass Medien einen Einfluss auf die Art duktion, Bearbeitung und Verbreitung von Inhalten
und Weise haben, wie Politik gemacht wird (Stich- birgt hingegen einerseits emanzipatorisches Poten-
worte: Medien- oder Fernsehdemokratie, Mediokra- tial, andererseits führt sie auch zu einer Deprofessio-
tie). nalisierung. Die allgemeine Verfügbarkeit von Foto-
In diesem Kontext ist auch die Kritik an der Kom- kopierern ermöglichte in den 1970er Jahren das Ent-
merzialisierung von Medien zu sehen. Aus der Per- stehen von alternativen Print-Medien. In der
spektive der Medienethik wirft diese Kritik berech- Gegenwart bildet die Integration von Foto- und Vi-
tigte Fragen nach dem Einfluss der ökonomischen deokameras in vernetzten Endgeräten die Grund-
Rahmenbedingungen für die journalistische Tätig- lage für Bilder von Ereignissen, bei denen kein pro-
keit bzw. nach der Ethik der Medienunternehmen fessioneller Medienvertreter anwesend war. Gleich-
auf (Karmasin 2010). Allerdings sollte nicht überse- zeitig entsteht hierdurch die Herausforderung für
hen werden, dass z. B. der Buchhandel einen nicht die professionellen Medien und das Publikum, diese
unerheblichen Anteil an dem Erfolg des Mediums Bilder hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zu be-
›Buch‹ hatte: »Schon Gutenberg betrieb seine Dru- werten. Für die Medienethik bedeutet diese Ent-
ckerei als ein kommerzielles Gewerbe, die ausge- wicklung, dass sie sich nicht länger allein auf die be-
druckten Bücher wurden zu einer Ware wie jede an- sondere Verantwortung der Medienberufe konzen-
dere auch« (Giesecke 2007, 201). In Südostasien trieren kann.
sollte das gedruckte Buch hingegen keine vergleich-
bare Wirkung hervorrufen, was auch darauf zurück-
geführt wird, dass es nicht zur Handelsware wurde Medien, Kultur und (moralisches)
(ebd.). Die Tatsache an sich, dass Nachrichten und Subjekt
andere Inhalte als Waren gehandelt werden, sollte
also keinen Anlass zur Kritik bilden. Neben der Kommunikation zwischen Menschen, die
Der Handel mit Medieninhalten oder auch Me- zur gleichen Zeit leben, spielen Medien in der
dientechniken führt jedoch auch zu einem gesell- »Transmission« (Debray 1997), der generations-
schaftlichen Kontrollverlust, der historisch immer übergreifenden Vermittlung von Wissen, eine wich-
dann relevant wurde, wenn neue Benutzergruppen tige Rolle. Es stellt sich hier nicht nur die Frage nach
Zugang zu diesen erhielten. Die Diskussionen um den Archiven, sondern auch danach, welches Wis-
Schundliteratur und Schundfilme zu Beginn des sen durch welche Medien überhaupt vermittelt wer-
20.  Jahrhunderts sind z. B. auch vor dem Hinter- den kann.
grund zu sehen, dass in dieser Zeit jüngere und är- In einem fast schon trivialen Sinne lässt sich die
mere Menschen Zugang zu neuen Medien (Heft- letzte Frage auf die Verwendung von Medien im Un-
roman respektive Film) erhielten. Auch in der Ge- terricht beziehen. So deutet die seit den 1970er Jah-
genwart bleibt das Thema »Jugendmedienschutz« ren immer wieder artikulierte Skepsis gegenüber der
für die Medienethik relevant, sofern es die Grenze Nutzung von Computern als Unterrichtsmedium
zwischen Medienfreiheit und (legitimen) zensoralen (z. B. Dreyfus 2001), auf die besondere Bedeutung
Eingriffen zu bestimmen gilt. Man denke etwa an hin, welche dem Verhältnis von Lehrer/innen, Schü-
den Umgang mit Propaganda oder Pornographie in ler/innen und Medien, zugeschrieben wird.
Online-Medien. Technikethisch sind hierbei insbe- Die Frage verliert jedoch ihren trivialen An-
sondere Versuche der (teil-)automatisierten Filte- schein, wenn wir uns die gesellschaftlichen Voraus-
318 V. Technikfelder

setzungen eines Mediums wie dem Buch vor Augen Froehlich, Thomas: A Brief History of Information Ethics.
führen. Denn das Buch und andere Text-Medien Barcelona 2004. In: http://www.ub.edu/bid/13froel2.htm
(30.04.2012).
können erst dann als Massenmedien relevant wer-
Funiok, Rüdiger: Medienethik. Verantwortung in der Me-
den, wenn eine ausreichende Anzahl von Menschen diengesellschaft. Stuttgart 2007.
lesen kann. Zugespitzt formuliert Michael Giesecke Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den
für die Entwicklung im 19. Jahrhundert: »Die Visionen der Informationsgesellschaft. Frankfurt a. M.
Gleichschaltung der Hände und der Muskelbewe- 2002.
gungen in den Manufakturen und Fabriken einer- – : Nutzen und Schaden der typographischen Monokultur.
In: Ders.: Die Entdeckung der kommunikativen Welt.
seits und des Sprechens und Denkens in den Bil- Frankfurt a. M. 2007, 197–214.
dungsmanufakturen und Wissensfabriken anderer- Heesen, Jessica: Medienethik und Netzkommunikation.
seits liefen in Europa parallel« (Giesecke 2002, 237). Frankfurt a. M. 2008.
Die Tendenz zur Standardisierung, die sich auf der Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Auf-
formalen Ebene u. a. mit der Einführung des Buch- klärung [1969]. Frankfurt a. M. 1988 (engl. 1944).
Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Frankfurt a. M. 1991
drucks abzeichnete, wird nun auch zur Grundlage (engl. 1990).
einer Standardisierung der Sprache, die sich in der Isermann, Holger/Knieper, Thomas: Bildethik. In: Chris-
Ausbildung von Nationalsprachen niederschlägt. tian Schicha/Carsten Brosda (Hg.): Handbuch Medien-
Diese wiederum stellen eine Grenze der Buchmärkte ethik. Wiesbaden 2010, 304–317.
dar. Die kulturelle Präferenz für einen bestimmten Karmasin, Matthias: Medienunternehmung. In: Christian
Schicha/Carsten Brosda (Hg.): Handbuch Medienethik.
Medientyp, wie die bürgerlichen Leitmedien ›Buch‹ Wiesbaden 2010, 217–231.
und ›Zeitung‹, geht wiederum einher mit der Präfe- Kuhlen, Rainer: Informationsethik. Konstanz 2004.
renz bestimmter Formen der Sinneswahrnehmung Münkler, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hg.):
und der Welterschließung. Medienphilosophie. Frankfurt a. M. 2003.
Dies wiederum führt zu der Frage, inwieweit Me- Nagenborg, Michael: Das Private unter den Rahmenbedin-
gungen der IuK-Technologie. Wiesbaden 2005.
dien auch unser Selbstverständnis und vielleicht so- Rühl, Manfred/Saxer, Ulrich: 25 Jahre Deutscher Presserat.
gar unsere Wahrnehmung prägen. So behaupteten In: Publizistik 26/4 (1981), 471–507.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Schulte-Sasse, Jochen: Medien/medial. In: Karlheinz Barck
Kritik an der »Kulturindustrie«: »Die Leistung, die (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4: Medien – Popu-
der kantische Schematismus noch von den Subjek- lär. Stuttgart/Weimar 2010, 1–38.
Stapf, Ingrid: Medien-Selbstkontrolle: Ethik und Institutio-
ten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfal-
nalisierung. Konstanz 2006.
tigkeit vorweg auf fundamentale Begriffe zu bezie- Warren, Samuel D./Brandeis, Louis D.: The right to privacy.
hen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenom- In: Harvard Law Review IV/5 (1890), 193–220.
men« (Horkheimer/Adorno 1988, 150). Sofern ein Weber, Max: Wissenschaft als Beruf 1917 – 1919. Politik als
Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Aus- Beruf 1919. Studienausgabe. Tübingen 1994.
bildung des (moralischen) Subjektes besteht, kann Michael Nagenborg
allerdings auch gefragt werden, ob die zunächst am-
bivalent zu bewertende Prägung des Selbst durch die
Printmedien nicht auch als Grundlage eines libera-
len, demokratischen Selbstverständnisses positiv zu
bewerten ist (Ess 2010). Dies ist zurzeit jedoch noch
eine offene Frage.

Literatur
Borgmann, Albert: Holding on to Reality. Chicago 1999.
Debray, Régis: Transmettre. Paris 1997.
Dreyfus, Hubert L.: On the Internet. London 2001.
Ess, Charles: Brave new worlds? The once and future infor-
mation ethics. In: International Review of Informatio-
nethics 12 (2010), 35–43.
Faulstich, Werner: Medien zwischen Herrschaft und Re-
volte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700).
Göttingen 1998.
– : Medienwandel im Industrie- und Massenmedienzeitalter
(1830–1900). Göttingen 2004.
319

14. Medizintechnik ganz weiten Sinne alle regelgeleiteten und reprodu-


zierbaren Praxen darunter verstanden werden kön-
nen (s. Kap. II.1).
Geschichte und Begriff Im Folgenden werden unter ›Medizintechnik‹
Praxen, Verfahren, Geräte und Anlagen verstanden,
Die Möglichkeit, Defizite des menschlichen Orga- die das Ergebnis der Anwendung technischer bzw.
nismus mittels technischer Hilfsmittel zu kompen- ingenieurwissenschaftlicher Prinzipien und Regeln
sieren oder zu substituieren, gehört seit langem zur im Bereich der Medizin sind und dem Ziel der Ver-
menschlichen Kultur und zum Handlungsrepertoire besserung der medizinischen Prävention, Diagnose,
der Medizin (Schmitt/Beeres 2004). So können Therapie und Rehabilitation dienen sollen. Zur (mo-
etwa – auch wenn die aus heutiger Sicht großen Er- dernen) Medizintechnik können dann verschiedene
folge der Chirurgie erst mit der Entwicklung von medizinische Verfahren, zum Beispiel der Bildge-
Narkose (1846) und Antisepsis (1867) möglich wur- bung oder der Signalverarbeitung, medizinische Ge-
den – bereits für die Steinzeit chirurgische Eingriffe räte, wie zum Beispiel Herzschrittmacher, Herz-
(Trepanationen) an Lebenden nachgewiesen werden Lungen-Maschinen oder verschiedene Arten von
(Sachs 2000). In jüngeren Jahren wird mit dem Be- Prothesen gerechnet werden, aber auch medizini-
griff ›Medizintechnik‹ vornehmlich die komplexe sche- und labortechnische Anlagen oder die Medi-
technische Ausstattung von medizinischen Einrich- zininformatik.
tungen verknüpft, wie sie häufig unter dem Schlag- In ethischer Perspektive werfen (moderne) medi-
wort der ›Apparatemedizin‹ zusammengefasst wird. zintechnische Verfahren, Geräte und Anlagen eine
Dies deutet bereits eine begriffliche Unklarheit Reihe von Fragen und Problemen auf: Neben ›klassi-
an, denn es ist nicht unmittelbar evident, welche schen‹ medizinethischen Fragen sind dies sowohl sol-
Verfahren oder Geräte im Bereich der Medizin der che ethischen Fragen, die mit den Veränderungen des
Medizintechnik zuzuordnen sind und, falls über- Medizin- und Versorgungssystems zu tun haben, die
haupt, welche medizinischen Praxen als nicht-tech- sich aus verschiedenen medizintechnischen Ent-
nische Praxen verstanden werden sollten. Diese Un- wicklungen ergeben könnten, als auch eine Reihe von
klarheit erstreckt sich auf beide Komposita des Be- anthropologisch-ethischen Fragen und Problemen, die
griffs ›Medizintechnik‹. Wird unter medizinischem man als Orientierungs- bzw. als Fragen unseres
Handeln jenes Handeln verstanden, das auf den Er- menschlichen Selbstverständnisses bezeichnen kann.
halt von Gesundheit oder die Heilung bzw. Linde-
rung von Krankheit zielt, so kann unter ›Gesund-
heit‹ in einem sehr engen Sinne einmal das für die Klassische medizinethische Fragen
Angehörige einer Spezies typische biologische Nor- und Probleme
malfunktionieren verstanden werden, in einem sehr
weiten Sinne dagegen darüber hinaus ein Zustand Ob sich die verschiedenen medizintechnischen Ver-
vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen fahren zugunsten von Patientinnen und Patienten
Wohlbefindens (Schramme 2012). Zudem könnten nutzen lassen, hängt neben der Entwicklung techni-
über den Bereich der Prävention und Therapie scher Mittel zur Einsatzreife entscheidend auch von
hinaus typische medizinische Maßnahmen, die den ethischen, gesellschaftlichen und rechtlichen
darauf zielen, Menschen über ihre normalen Fähig- Rahmenbedingungen ab. Als normative Bezugs-
keiten hinaus zu verbessern (zu Human Enhance- punkte werden in der Medizinethik dabei häufig die
ment s. Kap. V.8), als medizinische Maßnahmen ver- Prinzipien der Schadensvermeidung, des Wohltuns,
standen werden. Entsprechend eng oder weit ist da- der Autonomie und der Gerechtigkeit herangezogen
mit das Feld der medizinischen Handlungen im (Beauchamp/Childress 2009).
Allgemeinen zu fassen. Nicht weniger klärungsbe- Eine zentrale Voraussetzung von Medizintechnik
dürftig ist der Begriff der Technik in diesem Kon- lautet in medizinethischer Perspektive, dass mit de-
text, da unter Technik in einem engen Sinne nicht- ren Anwendung keine unakzeptablen gesundheitli-
naturwüchsige, vom Menschen gemachte Artefakte chen Risiken oder unerwünschten Wirkungen für
verstanden werden, in einem mittel-weiten Sinne die Nutzerinnen und Nutzer oder unbeteiligte Dritte
aber auch deren Einbeziehung in menschliche verbunden sein dürfen. Dies ergibt sich aus dem
Handlungen und sozio-ökonomische Zusammen- Prinzip der Schadensvermeidung, das sowohl eine
hänge Berücksichtigung finden, während in einem Pflicht zur Unterlassung von Schädigungen an Leib,
320 V. Technikfelder

Leben oder Gesundheit als auch zur Unterlassung Kap. 3). Allgemein lässt sich sagen, dass die Verant-
von unzumutbaren Risiken beinhaltet. Im Hinblick wortungszuschreibung für menschliches Handeln
auf moderne medizintechnische Verfahren ist dies (zu Verantwortung s. Kap. II.6) durch den Einsatz
von Bedeutung, weil diese oftmals invasiv sind und von Technik, die eine eigene Fehlerquelle darstellt,
nicht selten über den Bereich des Gewohnten hin- komplexer wird. Dies wird beispielsweise im Hin-
ausgehen: Sie erfordern daher nicht nur eine Abwä- blick auf den Einsatz von Robotern, die Operationen
gung zwischen Nutzen, Erfolgsaussicht und Belas- durchführen (Da Rosa 2012) oder auch von Coch-
tung, sondern auch die Berücksichtigung neuer Fra- lea-Implantaten und Neuro-Prothesen (Fleischer/
gen der Zukunftserwartung und -bewertung, bei Decker 2005, 129) diskutiert.
denen nicht nur die Lebensdauer, sondern auch die Zum anderen stellen sich Fragen nach der Frei-
Lebensqualität relevant ist. willigkeit der Nutzung. Eine moralisch akzeptable
Die mit der Anwendung medizintechnischer Ver- Nutzung medizintechnischer Produkte setzt voraus,
fahren und Geräte assoziierten Risiken erfordern Ri- dass Missbrauchsmöglichkeiten durch wirksame
sikoforschung (s. Kap. II.2 und Kap. IV.C.7) und Tech- Vorkehrungen eingeschränkt werden, gesellschaftli-
nikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4). Verfahren oder che und sozioökonomische Rahmenbedingungen
Geräte müssen Sicherheitstest durchlaufen und pro- das Risiko eines ›stillschweigenden‹ Zwangs zur
duktspezifische Sicherheitsstandards erfüllen. In me- Nutzung akzeptabel erscheinen lassen und Ausnah-
dizinischen Kontexten sind dabei häufig auch Ethik- men von einer strikten Freiwilligkeitsregel, sofern
kommissionen involviert, die die ›klassischen‹ Krite- überhaupt begründbar, auf genau definierte Aus-
rien der Nutzen-Schaden-Relation für Patientinnen nahmesituationen begrenzt werden.
und Patienten und deren informierter Zustimmung Im Hinblick auf das Prinzip der Gerechtigkeit bzw.
(informed consent) anwenden (s. Kap. VI.8). der Fairness richten sich die ethischen Bedenken
Welche medizintechnischen Mittel durch das zum Beispiel auf eine mögliche ungleiche Verteilung
Prinzip des Wohltuns als geboten erscheinen, hängt von durch die medizintechnologischen Produkte er-
nicht zuletzt davon ab, wie das Wohl des Betroffenen öffneten Vorteile einerseits und den mit ihnen ver-
näher bestimmt wird. Wenn etwa eine ansonsten als bundenen Lasten andererseits sowie auf mögliche se-
unheilbar eingeschätzte Depression nur durch tech- lektive Zugangsmöglichkeiten. Der Zugang zu neuen
nisch anspruchsvolle invasive Verfahren (vgl. Mer- und sehr kostspieligen medizinischen Therapieopti-
kel et al. 2007) gelindert werden kann, können diese onen kann so kostenintensiv sein, dass er bestimm-
mit Blick auf das Wohl ethisch gefordert erscheinen. ten Bevölkerungsteilen verschlossen bleibt, weil er
Bei bestimmten lebensverlängernden Maßnahmen etwa nicht durch ein öffentliches Gesundheitssystem
dagegen kann es auch fraglich erscheinen, ob mit ih- getragen wird (zu Gerechtigkeit s. Kap. IV.B.9).
nen noch ein Niveau an Lebensqualität erreicht Weitere Bedenken richten sich gegen Patente im
wird, das tatsächlich als Förderung des Wohls aner- Bereich der Medizintechnik. Patente sollen einer-
kannt werden sollte. Vielmehr kann eine personale seits den Schutz des geistigen Eigentums des Erfin-
oder intersubjektiv-rationale (vgl. Quante 2010, Kap. ders garantieren und damit nicht nur ökonomische
I) Lebensqualitätsbewertung mit Blick auf das Wohl Entwicklungsanreize schaffen, sondern den Patent-
des Betroffenen auch das Unterlassen solcher Maß- inhaber auch in die Lage versetzen, frühzeitig mit
nahmen nahelegen. den Ergebnissen seiner Arbeit an die Öffentlichkeit
Das Prinzip der Autonomie fordert den Respekt zu gehen. Sie können aber auch zu Formen der Ab-
vor den selbstbestimmten Entscheidungen anderer hängigkeit vom Patentinhaber oder zu hohen Kos-
sowie eine Respektierung der Lebenspläne, Ziele, ten für die Patentnutzung führen, die die weitere
Wünsche und Ideale anderer. Aus der Perspektive Forschung und die Verbreitung von Erfindungen
des Autonomie-Prinzips sind insbesondere zwei einschränken.
Cluster von Fragen zu klären. Im Hinblick auf eine
Reihe von (modernen) medizintechnischen Geräten
beispielsweise stellen sich Fragen nach der Authenti- Veränderungen des Medizin-
zität der Nutzerinnen und Nutzer sowie der Zure- und Versorgungssystems
chenbarkeit von Handlungen. Diese Fragen werden
zum Beispiel im Hinblick auf Neuro-Prothesen und Neben den ›klassischen‹ medizinethischen Fragen
-Implantate (s. Kap. V.19) oder Brain-Computer-In- stellen sich im Hinblick auf die Medizintechnik auch
terfaces kontrovers diskutiert (vgl. Merkel at al. 2007, solche allgemeineren ethischen Fragen, die sich aus
14. Medizintechnik 321

den sich abzeichnenden, zumindest teilweise auch Experten in eigener Sache gegenüberstehen und
technikinduzierten Veränderungen der Medizin als letztere nicht länger als Türhüter für medizinische
Institution ergeben: Leistungen fungieren, ihnen also nicht mehr eine
(1) Die bereits angesprochene Nutzung medizin- wesentliche Rolle in der Einschätzung von Notwen-
technischer Verfahren und Geräte für Zwecke der digkeit und Nützlichkeit von Maßnahmen zugestan-
Verbesserung oder Optimierung menschlicher Leis- den wird.
tungsmerkmale lässt sich als Anzeichen einer mögli-
chen »Entgrenzung der Medizin« (Viehöfer/Weh-
ling 2011) deuten, im Zuge derer medizintechnische Allgemeine anthropologisch-
Verfahren, zunehmend losgelöst von präventiven, ethische und philosophische
diagnostischen, therapeutischen, rehabilitativen oder Fragen und Probleme
palliativen Kontexten zur Anwendung gelangen.
Dies wirft insbesondere die Frage nach den legiti- Die Medizintechnik kann in ihren verschiedenen
men Zielen medizinischen Handelns und nach der Formen und je nach Eingriffstiefe oder Substitu-
professionsethisch bestimmten ärztlichen Rolle auf. tionsgrad unterschiedlich gravierende Irritationen
(2) Die Verfügbarkeit zunehmend sensitiver Dia- unseres menschlichen evaluativen Selbstverständ-
gnoseverfahren, die teilweise, wie etwa die DNA- nisses hervorrufen, die sich unter den Gesichts-
Chip-Technologie, eine Erfassung zahlreicher Para- punkten (1) der Natürlichkeit, (2) der Perfektionie-
meter in kürzester Zeit erlauben, ermöglichen im rung, (3) der Gattungsethik und (4) der Opposition
Prinzip eine Individualisierung von Therapien und von Organismus und Artefakt erfassen lassen.
liefern die Grundlage für bisher in dieser Präzision (1) Der Naturbegriff zeichnet sich durch eine
nicht gegebene präventive Handlungsstrategien. Da- große Vielfalt von Verwendungsweisen aus (vgl.
bei kann es sich um medizinische Präventionsmög- Birnbacher 2006, Kap. 1). Die Vieldeutigkeit der le-
lichkeiten ebenso handeln wie um Lebensstilände- bensweltlichen Verwendungsweisen lässt sich an den
rungen auf Seiten der betroffenen Personen. Solche diversen alltäglichen Verwendungsweisen von ›na-
Techniken werfen komplexe ethische Fragen auf, türlich‹ ablesen. Dabei spielt das Begriffspaar ›Natur/
etwa im Hinblick auf den Umgang mit pränatalen natürlich‹ in die Ethik hinein. Es lassen sich drei für
oder präsymptomatischen Diagnosen (s. Kap. V.7) die ethische Perspektive auf die Medizintechnik rele-
oder das Problem des Schutzes sensibler gesund- vante Oppositionspaare identifizieren, denen para-
heitsbezogener Daten. Zudem birgt diese Entwick- digmatische philosophische Kontexte und damit
lung auch soziale Gefahren, da Individualisierung Verwendungsweisen von »Natur« entsprechen:
und Präventionsorientierung mit Tendenzen der Natur versus Technik: Der Gegensatz von Natur-
Entsolidarisierung oder Diskriminierung einherge- dingen und kunstmäßig hergestellten Dingen bildet
hen können, wenn gesundheitliche Risiken nicht den Ausgangspunkt und die Grundlage der Natur-
länger gesamtgesellschaftlich geteilt, sondern indivi- philosophie von Aristoteles (s. Kap. IV.A.1). Die Na-
dualisiert dem Risikoträger zugeschrieben werden tur ist dasjenige, was von sich aus existiert und das
(vgl. Quante 2010, Kap. VII). Prinzip von Bestand und Veränderung in sich selbst
(3) Verschiedene medizintechnische Verfahren hat, während hergestellte Gegenstände ihre Existenz,
und Geräte, von den bereits angesprochenen Dia- Form und Funktion den Absichten des Herstellers
gnosetools bis hin zu eHealth-Plattformen im Inter- verdanken, also auf eine äußere Ursache zurückzu-
net, führen zu einer zunehmend einfachen und führen sind. Einige Ängste und Irritationen sind
allgemeinen Verfügbarkeit gesundheitsrelevanter In- mit  der Aufweichung dieser Grenze verknüpft, so
formationen. Auch dies führt möglicherweise zu bei der Überwindung der Mensch-Maschine-Unter-
(kulturellen) Veränderungen im Medizinsystem der- scheidung, die sich paradigmatisch im Mythos des
gestalt, dass Patientinnen und Patienten ihre ge- Doktor Frankenstein niedergeschlagen hat. Heute
sundheitliche Versorgung am traditionellen Medi- kommen ähnliche Befürchtungen in der Rede vom
zinsystem vorbei in ihre eigenen Hände nehmen Menschen als Ersatzteillager zum Ausdruck, die bei-
werden. Eine solche Entwicklung könnte gravie- spielsweise im Kontext der ethischen Auseinander-
rende Folgen auch für das traditionelle Arzt-Patien- setzung um die Transplantationsmedizin zu hören
ten-Verhältnis haben, wenn Patientinnen und Pati- ist (zu Natur und Technik s. Kap. IV.C.2).
enten ihren Ärztinnen und Ärzten im Sinne einer Natur versus Geist: Die Opposition von Natur und
Kultur der gesundheitlichen Selbstverantwortung als Geist wird in der Neuzeit zum zentralen Konstituti-
322 V. Technikfelder

onsmerkmal der Natur. Räumliche und zeitliche (Bostrom 2005) entwickelt: Ist die technische Über-
Ausdehnung, kausale Determiniertheit sowie die windung der menschlichen Lebensform ethisch pro-
Abwesenheit intrinsischer Zweckbestimmungen gel- blematisch, neutral oder gar – im Sinne der Steige-
ten als Charakteristika der Natur, während der Geist rung von Leistungsfähigkeit und individueller
letztlich am Modell des introspektiv gegebenen Selbstbestimmung  – geboten? Angesichts der weit-
Selbstbewusstseins und der Freiheit konzipiert wird. gehend akzeptierten zentralen Bedeutung der indi-
Etwa im Kontext der Debatte um die Tiefenhirnsti- viduellen Autonomie geht es hier oft um die Frage,
mulation oder allgemein im Bereich der technischen ob sich Grenzen der Selbstbestimmung auf der
Eingriffe in das menschliche Gehirn sind Sorgen Grundlage solcher ethischer Argumente begründen
häufig mit einer Überschreitung dieser Grenze ver- und gegebenenfalls gesellschaftlich implementieren
bunden. Dabei werden Bilder wie die des Menschen lassen. Auch wenn sich diese Diskussion derzeit
als Marionette bemüht und die Angst vor manipula- kaum auf reale Handlungsoptionen stützen kann,
tiver Kontrolle ausgedrückt, die in Folge solcher belegt sie doch die Wirksamkeit anthropologischer
Techniken als möglich erscheint (s. Kap. V.19). Annahmen, die in der Konzeption des Transhuma-
Natur versus Kultur: Die Gegenüberstellung von nen gerade zur Disposition gestellt werden. Damit
Natur und Kultur wird in der Kulturphilosophie der kommt an dieser Stelle nicht nur die Aufhebung von
Aufklärung prominent. Hier dient Natur als norma- Mensch und Maschine oder Natur und Technik in
tive Kontrastfolie, vor deren Hintergrund eine um- den Blick, sondern auch die menschliche Lebens-
fassende Kulturkritik und Anthropologie entwickelt form als Ganze.
wird. Die so verstandene Natur übernimmt die Rolle (3) Hinter dem Stichwort der Gattungsethik ver-
des Unverfälschten und Echten, in der heutigen Dis- bergen sich zwei zentrale Gedanken. So geht es,
kussion häufig auch des Ungeplanten, Unverfügba- vornehmlich im Bereich der Humangenetik, aber
ren und nicht Manipulierten. Diese als evaluativ be- auch der speziesübergreifenden Xenotransplanta-
deutsam vorausgesetzte Grenze wird oft in der De- tion, zum einen um die Frage, ob die Natürlichkeit
batte um Reproduktionsmedizin und Gentechnik und die (genetische) Identität der menschlichen
zur Geltung gebracht. Hierbei ist zu berücksichtigen, Gattung für sich genommen ein intrinsischer oder
dass die Natur-Kultur-Unterscheidung selbst auf ei- gar absoluter Wert ist, den man nicht zugunsten in-
nen Rahmen kultureller Interpretationen angewie- dividueller oder gesamtgesellschaftlicher Interessen
sen ist (vgl. Vieth/Quante 2005) übertrumpfen darf. Zum anderen wird die Frage
(2) Neben der Kompensation und/oder Substitu- aufgeworfen, ob die neuen technischen Handlungs-
tion körperlicher oder mentaler Defizite des Men- möglichkeiten nicht die Voraussetzungen des mora-
schen erlauben verschiedene medizintechnische lischen Selbstverständnisses des Menschen unter-
Produkte auch eine gezielte Verbesserung menschli- graben, weil sie eine autonome Lebensführung des
cher Leistungsmerkmale. In der gegenwärtig unter Individuums unmöglich machen (Habermas 2001).
dem Stichwort ›Enhancement‹ (s. Kap. V.8) geführ- Jürgen Habermas hat vor diesem Hintergrund eine
ten Diskussion um die ethische Zulässigkeit einer »Moralisierung der menschlichen Natur« und eine
technisch induzierten Steigerung menschlicher Leis- »gattungsethische Einbettung der Moral« gefordert,
tungen zeigt sich, dass die Grenzziehung zwischen um strikte Grenzen des Einsatzes bestimmter tech-
therapeutischem Eingriff und verbessernder Maß- nischer Handlungsoptionen zu begründen. Haber-
nahme nicht leicht zu ziehen ist. Dass entsprechende mas sieht in der Verfügung über die natürliche
Abgrenzungsversuche zielführend sind, ist mit gu- Ausstattung eine Selbstinstrumentalisierung der
ten Gründen bezweifelt worden. Wie das Beispiel Gattung. Wenn irreversibel in die genetische Aus-
der das Immunsystem verbessernden Impfung be- stattung der Gattung eingegriffen wird, seien wir in
legt, ist darüber hinaus fraglich, ob der moralische unserer genetischen Ausstattung von vorherigen Ge-
Status einer Intervention davon abhängig gemacht nerationen abhängig und könnten uns nicht mehr
werden kann, ob es sich dabei um eine Form der ohne weiteres als verantwortliche Autoren unserer
Therapie oder aber um einen Eingriff ›jenseits der Lebensgeschichte betrachten und uns gegenseitig als
Therapie‹ handelt (President ’ s Council 2003; vgl. »ebenbürtige« Personen achten.
auch Quante 2009). (4) Die Unterscheidung zwischen Belebtem und
In der utopischen Verlängerung von heute bereits Unbelebtem, zwischen Mensch und Maschine oder
gegebenen Möglichkeiten des Enhancement (s. Kap. zwischen natürlichen Organismen und ›bloßen‹ Ar-
V.8) hat sich eine Debatte um den Transhumanismus tefakten gehört zu den am tiefsten verwurzelten Un-
14. Medizintechnik 323

terscheidungen der menschlichen Welt- und Selbst- einer Überforderung der menschlichen Entschei-
deutung (s. Kap. IV.C.1). Neben primär ethischen dungs- und Orientierungsfähigkeit mit berücksich-
Fragen, wie sie sich beispielsweise im Zusammen- tigt werden muss.
hang mit Implantaten und Prothesen bzw. bioelek-
trischen Systemen ergeben, stellen sich hier auch all- Literatur
gemeinere philosophische Fragen. Wenn die klassi- Ach, Johann S./Lüttenberg, Beate (Hg.): Nanobiotechno-
sche Grenze zwischen Organismus und Artefakt, logy, Nanomedicine and Human Enhancement. Berlin
wie es sich insbesondere in der Synthetischen Biolo- 2008.
gie (s. Kap. V.23) anbahnt, aufgehoben wird, stehen Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: Principles of Bio-
für unser lebensweltliches Weltverständnis und auch medical Ethics. Oxford 62009 (erheblich überarb. Aufl.).
Birnbacher, Dieter: Natürlichkeit. Berlin/New York 2006.
weite Teile unserer philosophischen Weltdeutungen
Bostrom, Nick: A history of transhumanist thought [2005].
zentrale Konzepte zur Disposition. In der Folge ist In: Michael Rectenwald/Lisa Carl (Hg.): Academic Wri-
damit zu rechnen, dass auch andere fundamentale ting across the Disciplines. New York 2011, http://www.
Konzeptionen, genannt seien hier paradigmatisch nickbostrom.com/papers/history.pdf (02.10.2012).
›Leben‹ und ›Tod‹, unter Druck geraten. Es liegt auf Da Rosa, Catarina Caetano: Operationsroboter in Aktion.
Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik. Biele-
der Hand, dass eine solche Erosion unserer funda-
feld 2012.
mentalen Kategorien weitere Irritationen auslösen Fleischer, Torsten/Decker, Michael: Converging Technolo-
wird, die sich in ethisch-anthropologischen Debat- gies. Verbesserung menschlicher Eigenschaften durch
ten Gehör verschaffen werden. emergente Technologien? In: Alfons Bora/Michael De-
cker/Armin Grunwald/Ortwin Renn (Hg.): Technik in
einer fragilen Welt. Die Rolle der Technikfolgenabschät-
zung. Berlin 2005, 121–132.
Offene Fragen Gordijn, Bert: Medizinische Utopien. Eine ethische Betrach-
tung. Göttingen 2004.
Den enormen Problemlösungskapazitäten von Wis- Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur.
senschaft und Technik korrespondieren ebenso Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.
enorme ›Problemproduktionskapazitäten‹. Dies gilt 2001.
Merkel, Reinhard/Boer, Gerard/Fegert, Jörg/Galert, Thors-
auch für die Entwicklung und Anwendung neuer ten/Hartmann, Dirk: Intervening in the Brain. Changing
medizintechnologischer Verfahren; hier sind es, ne- Psyche and Society. Berlin/Heidelberg/New York 2007.
ben anderen, insbesondere moralische Fragen und President ’ s Council: Beyond Therapy. Biotechnology and
Probleme, die aus dem immens gewachsenen Wis- the Pursuit of Happiness. A Report of the President ’ s
sen und den vervielfältigten Handlungsoptionen re- Council on Bioethics. New York/Washington 2003.
Quante, Michael: Therapieren oder Optimieren? Heraus-
sultieren. Biomedizinische Technologien eröffnen forderungen des ärztlichen Selbstverständnisses im
immer häufiger Handlungsspielräume, für deren 21. Jahrhundert. In: Christian Katzenmeier/Klaus Berg-
Bewältigung uns entweder das entsprechende theo- dolt: Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert. Dordrecht
retisch-begriffliche Rüstzeug (man denke dabei bei- u. a. 2009, 171–179.
spielsweise an die, etwa im Zusammenhang der – : Menschenwürde und personale Autonomie. Demokrati-
sche Werte im Kontext der Lebenswissenschaften. Ham-
Möglichkeit der Hirngewebstransplantation, unter burg 2010.
Druck geratenen Begriffe der Person oder der Iden- Sachs, Michael: Geschichte der operativen Chirurgie. Bd. 1:
tität; s. Kap. V.19) oder die praktischen Orientie- Historische Entwicklung chirurgischer Operationen. Hei-
rungskompetenzen (man denke an das Beispiel der delberg 2000.
Präimplantationsdiagnostik; s. Kap. V.7) oder beides Schmitt Joachim M./Beeres, Manfred: Geschichte und
Trends der Medizintechnologie. Hg. vom Bundesverband
nicht zur Verfügung stehen. Medizintechnologie e.V. Berlin 2004.
Diese Erfahrung gibt Anlass zu der Forderung, Schramme, Thomas (Hg.): Krankheitstheorien. Frankfurt
vor der Erforschung und erst recht vor der Imple- a. M. 2012.
mentierung neuer medizintechnischer Produkte die Viehöfer, Willy/Wehling, Peter (Hg): Entgrenzung der Me-
Frage zu stellen, ob deren Problemproduktionskapa- dizin  – Von der Heilkunst zur Verbesserung des Men-
schen. Bielefeld 2011.
zitäten nicht womöglich größer sind als ihre Pro-
Vieth, Andreas/Quante, Michael: Chimäre Mensch? Die
blemlösungskapazitäten. Diese Forderung ist kei- Bedeutung der menschlichen Natur in Zeiten der Xe-
neswegs neu: Dass neue Technologien nicht größere notransplantation. In: Kurt Bayertz (Hg.): Die menschli-
Probleme aufwerfen dürfen als sie lösen, gilt seit lan- che Natur. Welchen und wie viel Wert hat sie? Paderborn
gem als selbstverständliches Kriterium der Technik- 2005, 192–218.
bewertung. Neu ist, dass dabei heute die Möglichkeit Johann S. Ach, Dominik Düber und Michael Quante
324 V. Technikfelder

15. Militärtechnik gibt sich so aus dem Bemühen der Staaten, sich ein-
zeln durch ihr Militär sicher zu machen, in der inter-
nationalen Wechselwirkung erhöhte Unsicherheit
Militärtechnik ist kein Technikfeld, sondern ein aller. Neue Militärtechnik verschärft das Sicherheits-
breiter Bereich verschiedenartiger Anwendungen, dilemma oft  – im Kalten Krieg zwischen den USA
die durch die Aufgaben der Streitkräfte bestimmt und der UdSSR z. B. beim Übergang vom Nuklear-
werden. Von den in diesem Handbuch behandelten bomber zur -rakete oder bei den Raketen mit der
Technikfeldern sind die meisten auch militärisch re- Einführung der Mehrfachsprengköpfe.
levant. Besondere Felder für Streitkräfte sind solche, Bei der Frage, wer bei Gewaltausübung seinen
die mit Zerstörung und Schutz, Informationsgewin- Willen durchsetzen und den Gegner überwinden
nung und -übertragung zu tun haben, wie etwa Bal- kann, spielte technische Überlegenheit schon immer
listik, Sprengstoffe oder Kryptographie. Bei Militär- eine wichtige Rolle, man denke an Feuerwaffen ge-
technik stellen sich besondere ethische Fragen, die gen Speere oder Maschinen- gegen einfache Ge-
zunächst eine grundsätzliche Auseinandersetzung wehre. Weil schon ein kleiner Vorteil (etwa bei
mit der Frage von Krieg und Frieden erfordern. Reichweite oder Zielgenauigkeit von Geschossen
Ethikkodizes für Ingenieurinnen und Ingenieure oder bei der Informationsübermittlung) entschei-
lassen die Frage der Militärtechnik meist aus (z. B. dend sein kann, stieg mit der industriellen Revolu-
VDI 2002; GI 2006; s. Kap. VI.7 und Kap. III.7). tion auch die Rate der militärischen Innovationen
an. Seit dem Zweiten Weltkrieg werden Wissen-
schaft und Technik systematisch und in großem
Aufgaben des Militärs Umfang in den Dienst des Militärs gestellt (z. B.
und der Militärtechnik beim Bau der Atombombe, s. Kap. III.3). Der quali-
tative Rüstungswettlauf ist prinzipiell nach oben of-
Staaten haben Streitkräfte, damit sie im Fall eines fen. Alles, was in der Zukunft eigene Überlegenheit
Krieges bzw. bewaffneten Konflikts den/die Gegner ermöglichen oder die Überlegenheit anderer verhin-
besiegen können. Beim Krieg geht es im allgemeins- dern kann, soll zügig erforscht und bei Eignung
ten Sinn darum, einer anderen Macht den eigenen schnell entwickelt und eingeführt werden – im Rah-
Willen mit Gewalt aufzuzwingen. Früher gehörte es men der eigenen/angestrebten Rolle in der Welt und
zum Recht jedes Staates, jederzeit aus eigener Ent- der eigenen Wirtschaftskraft bzw. der für die Streit-
scheidung einen Krieg zu beginnen, und so wurde es kräfte je als nötig befundenen/leistbaren Aufwen-
durch die Geschichte hindurch gehandhabt, etwa dungen.
um Rohstoffgebiete zu erobern oder das eigene Ter- Anders als bei Industrieforschung und -entwick-
ritorium bzw. die eigene Machtbasis zu vergrößern. lung müssen sich die Ausgaben nicht in wenigen
Seit der Gründung der Vereinten Nationen (VN) Jahren am Markt refinanzieren – da es um höchste
1945 sind dagegen durch deren Charta den Staaten Prioritäten, bis zur nationalen Existenz, geht, sind
die Anwendung oder Androhung von Gewalt verbo- erheblich höhere Aufwendungen gerechtfertigt, die
ten (VN 1945, Art. 2). Weil sich die Staaten aber vom Staat getragen werden. Oft werden exotische
(noch) nicht auf die Mechanismen der VN zur Si- Materialien und Sonderanfertigungen genutzt, ein
cherung des Friedens verlassen, haben sie weiterhin Vorgehen, das im Zivilen vielleicht noch der Welt-
Streitkräfte, mindestens zur eigenen Verteidigung, raumtechnik vergleichbar ist. Im Weltraum sind
wenn entgegen der Charta doch ein Angriff erfolgen aber nur die Umgebungsbedingungen zu berück-
sollte. Solche Nutzung der Streitkräfte ist nach Art. sichtigen, bei Militärtechnik ist zusätzlich ein intelli-
51 der VN-Charta erlaubt, »bis der Sicherheitsrat die genter Gegner einzuplanen, der die entgegengesetz-
zur Wahrung des Weltfriedens und der internatio- ten Ziele hat, sie mit Gewalt durchsetzen möchte
nalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getrof- und prinzipiell dieselben wissenschaftlich-techni-
fen hat«. Da die entsprechenden Möglichkeiten der schen Möglichkeiten hat. Somit ist Militärtechnik in
Charta (z. B. der Generalstabsausschuss) bisher vielen Fällen Spitzentechnik, von der immer wieder
nicht umgesetzt worden sind, bleibt das sog. Sicher- auch Teile in die zivile Technik übernommen wur-
heitsdilemma bestehen. Dieses Dilemma ergibt sich, den (sog. spin-off). Viele Eigenschaften sind aber für
weil die Streitkräfte offensive Fähigkeiten haben, so das Zivile unnötig (bei Flugzeugen etwa Schleuder-
dass eine Stärkung der Verteidigung in der Regel sitz und Beschussfestigkeit; vgl. Altmann 2000), und
auch die Bedrohung anderer erhöht. Insgesamt er- inzwischen ist die zivile Technik in manchen Berei-
15. Militärtechnik 325

chen weiter, v. a. bei Informationstechnik, wo durch Anders als in den USA, wo militärische Forschung
die Massenmärkte erheblich mehr Geld für For- sehr breit angelegt ist und auch an vielen Universitä-
schung und Entwicklung von Hard- und Software ten stattfindet, soll in Deutschland möglichst viel zi-
anfällt, als Streitkräfte aufwenden können, so dass vil, z. B. mit Finanzierung durch das Bundesministe-
sie in wachsendem Maße auf zivile Komponenten rium für Bildung und Forschung, erarbeitet werden;
zurückgreifen (zu Dual-use-Technologien s. Kap. eigene Forschung soll nur dort erfolgen, wo es um
IV.C.11). spezifische wehrtechnische Aspekte geht. Militäri-
sche Entwicklung findet v. a. in der Industrie statt.
Das entsprechende Amt des Verteidigungsministe-
Forschung und Entwicklung riums nennt 16 ausgewählte Einzelprojekte, u. a.
für Militärtechnik gepanzerte Landfahrzeuge, Kampf- und Transport-
flugzeuge sowie -hubschrauber, IT- und Soft-
Etwa 10 Prozent der weltweiten Aufwendungen für waremodernisierung, ein Satellitenaufklärungssys-
Forschung und Entwicklung werden für militärische tem (BAAINBw 2012).
Arbeiten verwendet. Dabei sind die USA die Vorrei-
ter, sie tragen knapp zwei Drittel der weltweiten Aus-
gaben. 2009 waren das 85 Milliarden US-Dollar, bei Ethische Fragen
den nächsten beiden OECD-Ländern (und Kern-
waffenstaaten) Frankreich und Großbritannien wa- Im zivilen Bereich soll Technik dem menschlichen
ren es 4,6 bzw. 2,8 Milliarden US-Dollar (NSB 2012, Leben nützen oder das Leben angenehmer gestalten.
4–49), in Deutschland etwa 1,5 Milliarden US-Dol- Todesfälle, Verletzungen von Personen oder Schädi-
lar (Pires 2012, 12). Für China und Russland wurden gungen von Objekten sind schon durch die Ausle-
für 2004 5,0 und 4,0 Milliarden US-Dollar geschätzt gung technischer Geräte und Systeme zu vermeiden
(Brzoska 2006, 4). Wer wissen will, welche Militär- oder zu minimieren, wenn sie dennoch vorkommen,
technik in zehn oder zwanzig Jahren stationiert wer- dann durch Unfälle oder durch kriminelle Handlun-
den könnte, braucht nur auf die aktuellen Aktivitä- gen (mit Ausnahmen bei Objekten, z. B. beim Ge-
ten der USA zu sehen – die USA sind in Militärfra- bäudeabriss). Bei Militärtechnik dagegen ist Zerstö-
gen viel transparenter als alle anderen Länder. rung nicht unerwünschte Nebenfolge, sondern sie
Im Kalten Krieg lagen die Schwerpunkte militäri- ist von vornherein der Hauptzweck, von sehr geziel-
scher Forschung und Entwicklung bei Nuklearwaf- ter und begrenzter Art bis zu großflächig und mas-
fen und ihren Trägern sowie unterstützenden Syste- senhaft (wie bei Nuklearwaffen). Was bedeutet hier
men wie Aufklärungs-, Kommunikations- und Na- moralisches Handeln?
vigationssatelliten. Daneben wurde in großer Breite Ein traditionelles Herangehen ist, dem eigenen
an Technik für die Kriegführung mit konventionel- Land den Vorrang zu geben: Alles, was zum Sieg des
len Waffen gearbeitet. Heute liegt ein Schwerpunkt eigenen Landes im bewaffneten Konflikt beiträgt, ist
bei unbemannten (Luft-, Land-, Wasser-)Fahrzeu- gut und muss zügig und engagiert verfügbar ge-
gen, die zunehmend bewaffnet werden und perspek- macht werden. Dies kann aber nicht die moralische
tivisch autonom Ziele auswählen und angreifen sol- Richtschnur sein: Das eigene Land kann verbreche-
len (US DoD 2009). Die militärische Forschung der rische Angriffskriege führen, wie gerade die deut-
USA reicht von Grundlagen (wie Quanteneffekten sche Geschichte zeigt, oder eine Regierung kann die
und beschleunigtem Lernen) über Anwendungsfra- Öffentlichkeit über die eigenen Motive und die Be-
gen (z. B. Schnittstellen zu Nerven und Gehirn) zu drohung täuschen.
strategischen und taktischen Technologien (u. a. Eine differenziertere Betrachtungsweise basiert
keramischer Panzerung und Wegwerfsatelliten) auf der Theorie des gerechten Krieges (z. B. Orend
(DARPA 2012). 2005). Es wird anerkannt, dass Krieg Leid, Tod und
In Deutschland findet militärische Forschung vor Zerstörung mit sich bringt, so dass Krieg möglichst
allem in außeruniversitären Institutionen, etwa In- nicht sein soll. Es kann aber Umstände geben, unter
stituten der Fraunhofer-Gesellschaft oder des Deut- denen Krieg moralisch erlaubt oder gar geboten ist.
schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, statt; da- Die Theorie stellt dafür Bedingungen auf, in denen
neben hat das Bundesministerium der Verteidigung es einerseits um die Entscheidung zum Krieg geht,
eigene wehrtechnische und wehrwissenschaftliche andererseits um die Art, wie er geführt wird. Einen
Einrichtungen (Altmann 2007; BAAINBw 2012). Krieg zu beginnen, ist demnach nur dann gerecht-
326 V. Technikfelder

fertigt, wenn es um eine gerechte Sache geht, Krieg (1995) zur VN-Waffenkonvention von 1980 »nur«
das letzte Mittel ist, die Entscheidung durch eine le- nicht eingesetzt werden, aber Aktivitäten zur Ent-
gitime Autorität erfolgt, eine gerechte Absicht vor- wicklung und späteren Herstellung wurden darauf-
liegt, der Erfolg einigermaßen wahrscheinlich ist hin in den relevanten Ländern ebenfalls beendet.
und die Mittel verhältnismäßig sind. Die Anforde- Bilateral und multilateral vereinbarte Begrenzung
rungen an die Art der Kriegführung sind durch die der Rüstungen verringert das Sicherheitsdilemma
Prinzipien der Diskriminierung (Angriffe gegen und kann erheblich dazu beitragen, von einer kon-
gegnerische Streitkräfte sind erlaubt, gegen die Zivil- frontativen zu einer kooperativen Beziehung über-
bevölkerung und zivile Objekte nicht) und der Pro- zugehen, wie die Geschichte im und nach dem Kal-
portionalität gegeben: Das angewandte militärische ten Krieg zeigt. Vertragliche Rüstungsbegrenzung
Mittel muss in einem angemessenen Verhältnis zur steht jedoch in gewissem Widerspruch zum Ziel des
angestrebten Wirkung stehen; wenn bei Angriffen Sieges, sollte es zum Krieg kommen; das grundsätzli-
gegen ein militärisches Ziel zivile Schäden, sog. Kol- che Problem, dass Staaten ihre Sicherheit durch
lateralschäden, zu erwarten sind, müssen diese Streitkräfte gewährleisten wollen, bleibt bestehen. Es
ebenfalls in einem angemessenen Verhältnis zum könnte dadurch gelöst werden, dass die Menschheit
militärischen Erfolg stehen. Aus der Theorie des ge- auch auf internationaler Ebene das einführt, was im
rechten Krieges kann eine gewisse Zurückhaltung Innern von Staaten die Sicherheit der Bürger ge-
bei Militärtechnik folgen, nämlich je nur das für ge- währleistet: ein demokratisch legitimiertes Monopol
rechte Kriege unbedingt Notwendige zu erforschen legitimer Gewalt, das die individuelle Bewaffnung
und zu entwickeln. Da aber Verteidigung per Defini- unnötig macht.
tion gerecht ist und ein möglicher Angreifer auf
ähnlichem wirtschaftlichem und militärtechni-
schem Niveau stehen könnte, kann man auch hier Konsequenzen für den Umgang
Argumente für unbegrenzte Weiterentwicklung fin- mit Militärtechnik
den.
Bei allgemeinerer Betrachtung zeigt sich, dass Moralisches Handeln in Bezug auf Militärtechnik
weitere Aspekte einbezogen werden müssen. Kriegs- hat viele Dimensionen. Eine davon betrifft die Rege-
vorbereitungen können den Krieg wahrscheinlicher lung durch internationale Verträge. Offensichtlich
machen, etwa indem sie den Druck erhöhen, in ei- ist, dass durch solche Verträge verbotene Waffenar-
ner Krise oder unklaren Situation schnell zuzuschla- ten nicht entwickelt und hergestellt werden dürfen.
gen, um nicht entscheidende Nachteile zu erfahren, Dies gilt erst recht, wenn der eigene Staat das unter
sollte der potentielle Gegner als erster angreifen Strafandrohung verbietet (wie z. B. Deutschland in
(Destabilisierung der militärischen Lage). Wettrüs- Bezug auf Kernexplosionen, biologische und chemi-
ten insbesondere bei Hochtechnik bindet viele Mit- sche Waffen). Weniger klar ist die Lage, wenn es sol-
tel, die für Entwicklungsländer, nachhaltiges Wirt- che Verträge (noch) nicht gibt. Im Nachhinein lässt
schaften usw. sinnvoller genutzt werden könnten. sich feststellen, dass die von Fritz Haber vorangetrie-
Daher ist es sinnvoll, durch zwischenstaatliche Ver- benen Giftgasangriffe im Ersten Weltkrieg (Stoltzen-
träge die Rüstungen zu begrenzen und zu verrin- berg 1998) unmoralisch waren. Die Erfahrungen mit
gern, insbesondere auch besonders gefährliche neue dem Entlaubungsmittel Agent Orange im Vietnam-
Militärtechnik vorbeugend zu verbieten. Für diese krieg haben ein internationales Verbot der Umwelt-
präventive Rüstungskontrolle (Neuneck/Mutz 2000; kriegführung (1977) bewirkt – also kann man schlie-
Altmann 2008) gibt es eine Reihe von Präzedenzfäl- ßen, dass Entwicklung, Herstellung und Einsatz die-
len: Die Verbote von Kernexplosionen (partiell 1963, ses Mittels auch schon vorher moralisch verwerflich
vollständig 1996) schließen die Erprobung neuer waren – erst recht, wenn man zusätzlich die inzwi-
Kernwaffentypen aus. Der Nichtverbreitungsvertrag schen bekannten Erbschäden und Missbildungen
(1968) verbietet den Nichtkernwaffenstaaten die bei Menschen einbezieht (agentorange-vietnam
Entwicklung und Herstellung von Kernwaffen. Das 2012). Bei Nuklearwaffen liegt der Gedanke nahe,
Biologische-Waffen-Übereinkommen (1972) und dass mindestens Entwicklungen, die einen Atom-
das Chemiewaffen-Übereinkommen (1993) verbie- krieg führbarer erscheinen lassen, problematisch
ten neben Besitz auch Herstellung und Entwicklung waren und sind  – etwa die taktischen Atomwaffen
dieser Waffen. Laserwaffen zum dauerhaften Blen- oder die Neutronenbombe. Allgemeiner lässt sich
den von Menschen dürfen nach dem Protokoll IV argumentieren, dass die Weiterentwicklung von
15. Militärtechnik 327

Kernwaffen und ihren Trägern fast immer moralisch die Staaten nach der VN-Charta (Art. 51) das Recht,
fragwürdig war und ist und dass stattdessen der Ein- sich gegen Angriffe zu verteidigen, solange der VN-
satz für ihre Abschaffung moralisch geboten ist, wie Sicherheitsrat keine Maßnahmen zur Wahrung des
es die internationale Pugwash-Wissenschaftlerbe- Weltfriedens und der internationale Sicherheit ge-
wegung seit ihrer Gründung fordert (Pugwash 2013) troffen hat – und das wird er wegen der Vetomächte
und wozu sich die Atommächte in vielen Rüstungs- auch wohl weiterhin nicht so tun, dass die Staaten
begrenzungsverträgen verpflichtet haben. Antiper- sich darauf verlassen werden. Auch haben die Staa-
sonen-Landminen wurden erst 1997 verboten, vor- ten in der Regel im Rahmen ihrer Verfassung demo-
her haben sie Jahrzehnte lang Zivilisten verstümmelt kratisch beschlossen, Streitkräfte zu haben und mit
und getötet. Auch hier liegt der Schluss nahe, dass der nötigen Rüstung auszustatten. Andererseits sind
schon ihre Entwicklung moralischen Grundsätzen es gerade auch neue konventionelle Waffen, die neue
widersprochen hat. Gefahren für den Frieden und die internationale Si-
Diese Beispiele verweisen darauf, dass besonders cherheit (sowie die Sicherheit im Innern von Staa-
problematische Militärtechnik nicht einfach deswe- ten) bedeuten können, etwa heute besatzungslose
gen nicht zustande kommt, weil sie unmoralisch Kampffahrzeuge, die perspektivisch ihre Ziele auto-
ist  – mindestens wegen des Sicherheitsdilemmas nom auswählen könnten, oder zukünftig Kleinst-
sind in der Regel internationale Verbots- oder Be- roboter, die auch von Terroristen genutzt werden
schränkungsabkommen nötig. Auch ist i. d. R. nicht könnten. Besonders gefährlich wären konventionelle
zu erwarten, dass eine neue Militärtechnik dadurch Waffen, die strategische Nuklearwaffen und ihre
gestoppt wird, dass die Forscher und Entwicklerin- Führungssysteme ausschalten könnten (Miasnikov
nen sich weigern  – dazu ist der jeweilige Staat zu 2012) – das würde den Druck erhöhen, in einer Krise
stark und hat zu viele Motivationsmöglichkeiten. die Kernwaffen früher einzusetzen, bei Fehlalarm
Eine Ausnahme wäre gegeben, wenn es um grundle- könnte so der Atomkrieg aus Versehen beginnen.
gend neue Erkenntnisse geht, die nur wenigen Men- Solange es Streitkräfte gibt, wird es Bedarf an
schen zugänglich sind – interessant ist z. B. die Spe- technischer Innovation für sie geben. Ein gewisses
kulation, wie die Geschichte hätte verlaufen können, Maß davon lässt sich moralisch begründen, nämlich
wenn Ende 1944 nicht nur Joseph Rotblat aus dem so viel, wie für friedenserhaltende oder -erzwin-
Manhattan-Projekt ausgeschieden wäre (s. Kap. gende Einsätze der Vereinten Nationen bzw. im Rah-
III.3), sondern viele andere Wissenschaftler und In- men von Mandaten des VN-Sicherheitsrats nötig ist.
genieure ebenfalls die Arbeit an der ersten Atom- Problematisch ist, dass die Streitkräfteziele weit dar-
bombe aufgegeben hätten. über hinausgehen und dass die Streitkräfte nicht nur
Auch wenn die politischen Entscheidungen über im Rahmen der VN eingesetzt werden sollen. Ver-
neue Militärtechnik nicht durch Wissenschaftlerin- teidigung als Begründung für neue Militärtechnik
nen und Ingenieure getroffen werden, haben letztere ist rechtlich korrekt, führt aber wegen des Sicher-
doch ein deutliches Gewicht in der politischen Aus- heitsdilemmas in der Regel zu Wettrüsten und höhe-
einandersetzung über neue Rüstungsprojekte oder rer gegenseitiger Bedrohung. Einseitige Zurückhal-
Begrenzungsverträge, wie z. B. die Jahrzehnte lange tung von Staaten ist sinnvoll, wird aber nicht auf
Diskussion über Raketenabwehr zeigt. Die fachliche Dauer durchzuhalten sein. Die systematische Lö-
Kritik hat den Abschluss des ABM-Vertrags zur sung ist daher die international vereinbarte Begren-
Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (1972– zung der gefährlichsten Entwicklungen mit verlässli-
2002) befördert, hat dazu beigetragen, dass die »Stra- cher Überprüfung.
tegic Defense Initiative« von US-Präsident Ronald Für moralisches Verhalten der in Forschung und
Reagan mit ihren Weltraumwaffen nicht weiter ver- Entwicklung Tätigen kann man daraus die Forde-
folgt wurde, und wirkt bis heute als bremsendes Ele- rung ableiten, dass sie sich um die Fragen von Frie-
ment (z. B. APS 2004). In Bezug auf biologische Waf- den und internationale Sicherheit kümmern und sich
fen hoffen die Staaten selbst darauf, dass die in den auf allgemeiner Ebene dafür einsetzen, die Rolle des
Lebenswissenschaften Forschenden sich der Gefahr Militärischen in den internationalen Beziehungen zu
des zerstörerischen Missbrauchs ihrer Ergebnisse vermindern, insbesondere auch dafür, dass beson-
bewusster werden und sie mittels Verhaltenskodizes ders gefährliche neue Militärtechnik vorbeugend ver-
eindämmen (Millett 2011). hindert wird. Wer Einfluss auf die militärische For-
Wenn es nicht um Massenvernichtungswaffen schung und Entwicklung hat, sollte dafür eintreten,
geht, ist die Bewertung schwieriger. Einerseits haben dass sie sich eher an defensiven Zielen orientieren.
328 V. Technikfelder

In der allgemeinen Forschung und Entwicklung wachsenden gegenseitigen Bedrohungen und Desta-
sollten militärische Bezüge der eigenen fachlichen bilisierung. Um diese technikinduzierten Gefahren
Arbeit nicht ausgeblendet, sondern bewusst verfolgt einzudämmen, braucht es internationale Begren-
und ihren Konsequenzen für Frieden und internati- zungsabkommen, für deren Zustandekommen in-
onale Sicherheit durchdacht werden. Nur wenige tensive politische Aktivität nötig ist. Naturwissen-
Gruppen können sich hauptberuflich solchen Fra- schaftlich-technische Fachgemeinschaften können
gen widmen und z. B. neue Verfahren für Abrüstung diesen Prozess unterstützen.
und ihre Überprüfung erarbeiten (Altmann et al.
2011). Aber einen gewissen Teil der eigenen Zeit
sollte jede/r in Naturwissenschaft und Technik Tä- Literatur
tige für die Fragen der Verwendung der eigenen Er- agentorange-vietnam: Agent Orange. 2012. In: http://www.
gebnisse aufwenden und das gegebenenfalls auch in agentorange-vietnam.org/background (10.06.2013).
die Lehre einbeziehen – wobei die Möglichkeiten im Altmann, Jürgen: Zusammenhang zwischen zivilen und
militärischen Hochtechnologien am Beispiel der Luft-
akademischen Bereich, insbesondere für Hoch- fahrt in Deutschland. In: Ders. (Hg.): Dual-use in der
schullehrer, sicher größer sind als in der Industrie. Hochtechnologie – Erfahrungen, Strategien und Perspekti-
Die Problemfelder, in denen sich Wissenschaftler ven in Telekommunikation und Luftfahrt. Baden-Baden
und Ingenieurinnen unterstützend einbringen kön- 2000, 159–262.
nen, sind zum Teil schon länger aktuell, wie bei der – : Militärische Forschung und Entwicklung. In: Ders./Ute
Bernhardt/Kathryn Nixdorff/Ingo Ruhmann/Dieter
Verhinderung von Weltraumwaffen. Andere werden Wöhrle: Naturwissenschaft – Rüstung – Frieden – Basis-
durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung wissen für die Friedensforschung. Wiesbaden 2007.
relevant, insbesondere in Bezug auf die feindselige – : Präventive Rüstungskontrolle. In: Die Friedens-Warte
Nutzung der Lebenswissenschaften (zur Gentechnik 83/2–3 (2008), 105–126.
s. Kap. V.7, zur Synthetischen Biologie s. Kap. V.23). – /Kalinowski, Martin/Kronfeld-Goharani, Ulrike/Liebert,
Wolfgang/Neuneck, Götz: Naturwissenschaft, Krieg und
Die aktuellste militärtechnische Entwicklung ist die Frieden. In: Peter Schlotter/Simone Wisotzki (Hg.): Frie-
von bewaffneten unbemannten Fahrzeuge; ethisch dens- und Konfliktforschung – Ein Studienbuch. Baden-
besonders problematisch wären Angriffe durch au- Baden 2011, 410–445.
tonome Maschinenentscheidung (s. Kap. V.21). Ein APS (American Physical Society): Report of the American
anderes dringendes Feld ist die Bedrohung durch Physical Society study group on boost-phase intercept
systems for national missile defense: Scientific and tech-
Angriffe im Cyberspace, die unkontrollierte Wech- nical issues. In: Reviews of Modern Physics 76 (2004), S1–
selwirkungen und Waffeneinsatz in der realen Welt S424.
zur Folge haben können. BAAINBw (Bundesamt für Ausrüstung, Informationstech-
Die am Frieden orientierte Forschung hat die nik und Nutzung der Bundeswehr): Die Dienststellen im
Daueraufgabe, die Entwicklungen der Militärtech- Geschäftsbereich des Bundesamtes für Ausrüstung,
Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr,
nik laufend zu verfolgen, die jeweiligen Folgen abzu-
2012. In: http://www.baain.de (Dienststellen, Projekte,
schätzen und gegebenenfalls Vorschläge für präven- 02.01.2013).
tive Begrenzungen zu erarbeiten. Weiterhin stellen Brzoska, Michael: Trends in global military and civilian re-
sich Fragen wie die folgenden: Wie lässt sich das Si- search and development (R&D) and their changing in-
cherheitsdilemma durch Gestaltung militärischer terface. In: Proceedings of the International Seminar on
Defence Finance and Economics 13–15 (November 2006),
Technik verringern? Insbesondere: Lässt sich militä-
289–302.
rische Wirksamkeit in (begrenzten) Friedenseinsät- DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency:
zen der VN sowie in der Verteidigung erreichen, Our Work. 2012. In: http://www.darpa.mil/Our_Work
ohne dabei die Bedrohung für andere stark zu erhö- (AEO, DSO, I2O, MTO, STO, TTO, 19.12.2012).
hen? Wie lässt sich ein Weg zu einer kernwaffen- GI (Gesellschaft für Informatik): Unsere Ethischen Leitli-
freien Welt technisch unterstützen? nien. Bonn 2006. In: http://www.gi.de/fileadmin/redak
tion/Download/ethische-leitlinien.pdf (03.01.2013).
Miasnikov, Yevgeny: Precision-guided conventional wea-
pons. In: Alexei Arbatov/Vladimir Dvorkin/Natalia
Schluss Bubnova (Hg.): Nuclear Reset: Arms Reduction and Non-
Proliferation. Moscow 2012, 432–456.
Militärtechnik ist anders als sonstige Technik, da sie Millett, Piers (Hg.): Improving Implementation of the Biolo-
gical Weapons Convention: The 2007–2010 Intersessional
der Gewaltanwendung und Zerstörung dient. Unter Process. New York/Geneva 2011.
den Bedingungen des Sicherheitsdilemmas ergibt Neuneck, Götz/Mutz, Reinhard (Hg.): Vorbeugende Rüs-
sich ein prinzipiell unbegrenztes Wettrüsten mit tungskontrolle. Baden-Baden 2000.
16. Mobilfunk 329

NSB (National Science Board): Research and Develop- 16. Mobilfunk


ment: National Trends and International Comparisons.
In: Science and Engineering Indicators 2012. Arlington
2012, Ch. 4. In: http://www.nsf.gov/statistics/seind12/
pdf/c04.pdf (21.12.2012). Beim Mobilfunk dienen elektromagnetische Felder
Orend, Brian: Just war theory. In: Stanford Encyclopedia of im Frequenzbereich von 380 MHz bis 2,6 GHz
Philosophy. 2005. In: http://plato.stanford.edu/entries/ (Megahertz/Gigahertz) der Informationsübertragung,
war/#2 (05.01.2013). d. h. zur Erzielung der gewünschten Funktion. Hoch-
Pires, Maria Leonor: Defence Data: EDA participating frequente elektromagnetische Felder (HF EMF) ins-
Member States in 2010. European Defence Agency, Brus-
sels 2012. In: http://www.eda.europa.eu/docs/documents/ gesamt reichen von 30 kHz (Kilohertz) bis 300 GHz.
National_Defence_Data_2010_4.pdf (21.12.2012). Es wird nicht bestritten, dass HF EMF adverse ge-
Pugwash: Pugwash Conferences on Science and World Af- sundheitliche Effekte verursachen können, wenn die
fairs. 2013. In: http://www.pugwash.org (04.01.2013). Exposition bzw. Befeldung hoch genug ist. Deshalb
Stoltzenberg, Dietrich: Fritz Haber: Chemiker, Nobelpreis- wurden seitens der Internationalen Kommission für
träger, Deutscher, Jude. Weinheim 1998.
US DoD (Department of Defense) (2009). FY2009–2034 den Schutz von nicht-ionisierenden Strahlen (Inter-
Unmanned Systems Integrated Roadmap, Washington D.C. national Commission for Non-Ionizing Radiation
In: http://www.dtic.mil/cgi-bin/GetTRDoc?Location=U2 Protection, ICNIRP) Grenzwerte etabliert, die vor
&doc=GetTRDoc.pdf&AD=ADA522247 (20.01.2013). diesen Effekten schützen sollen (ICNIRP 1998).
VDI (Verein Deutscher Ingenieure): Ethische Grundsätze Die wissenschaftliche Kontroverse um die Ge-
des Ingenieurberufs. Düsseldorf 2002. In: http://www.vdi.
de/fileadmin/vdi_de/redakteur/bvs/bv_ruhr_dateien/ sundheitsrisiken des Mobilfunks bezieht sich allein
vdi/VDI_Ethische_Grundsaetze.pdf (03.01.2013). auf die Frage, ob auch bei Einhaltung der von der
VN (Vereinte Nationen): Charta der Vereinten Nationen. ICNIRP vorgeschlagenen Grenzwerte gesundheits-
San Francisco 1945. In: http://www.un.org/Depts/german/ schädliche Effekten auftreten können. Die Mehrzahl
un_charta/charta.pdf (25.10.2012). der Experten, wie auch die deutsche Strahlenschutz-
Jürgen Altmann kommission (SSK 2011), betont, dass gesundheits-
schädigende Effekte unterhalb der Grenzwerte wis-
senschaftlich nicht nachgewiesen sind. Sie können
allerdings auch nicht ausgeschlossen werden. So
stellt die Internationale Agentur für Krebsforschung
IARC (Baan et al. 2011) heraus, dass HF EMF mögli-
cherweise krebserregend sind. Die IARC hält einen
kausalen Zusammenhang zwischen Hirntumoren
und HF EMF Exposition für glaubwürdig, betont
aber auch, dass Fehler und systematische Verzerrun-
gen als Ursache für diesen Zusammenhang infrage
kommen könnten.
Der Mobilfunk hat, trotz seiner hohen faktischen
Akzeptanz – in Deutschland gibt es etwa 98 Millio-
nen Mobiltelefone (BITKOM 2011) – auch zu Ängs-
ten und Befürchtungen in der Bevölkerung geführt.
Die im Rahmen des deutschen Mobilfunk-For-
schungsprogramms durchgeführten Umfragen zei-
gen, dass sich seit 2002 die Anzahl der Besorgten
kaum verändert hat. Etwa 30 Prozent der Befragten
machen sich unverändert Sorgen wegen der Ge-
sundheitsrisiken von HF EMF. Auch eine Studie im
Auftrag des Umweltbundesamtes (Borgstedt et al.
2010) belegt, dass der Prozentsatz der bezüglich Mo-
biltelefonen und Basis-Stationen stark besorgten
Personen in den letzten Jahren weitgehend konstant
geblieben ist. Insbesondere sind Planung und Er-
richtung von Sendestationen in dicht besiedelten ur-
banen Umfeldern, etwa in der Nähe von Kindergär-
330 V. Technikfelder

ten oder Schulen, immer wieder Gegenstand von Das Regelwerk der Vorsorge
Besorgnissen und Konflikten (zu Technikkonflikten
s. Kap. III.6). Umfragen in der Europäischen Union Wenn in einem konkreten Fall über die Anwendung
finden jedoch beträchtliche Unterschiede: Die Risi- des Vorsorgeprinzips zu entscheiden ist, sind fol-
kowahrnehmung ist in Süd-Europa deutlich höher gende Fragen zu beantworten: (1) Ist Vorsorge nötig?
als im Norden (Eurobarometer 2010). (2) Was ist zu tun? (3) Ist das ausreichend für den
Die mögliche Verursachung eines Krebs-Risikos Schutz der Bevölkerung? Es geht um die Begründung
durch den Mobilfunk sowie die damit zusammen- der Handlungsnotwendigkeit, um die Auswahl ange-
hängenden Ängste und Befürchtungen in der Bevöl- messener Maßnahmen und um die Überprüfung des
kerung haben zur Anwendung des Vorsorgeprinzips Erreichens der angestrebten Schutzziele.
(s. Kap. VI.3) geführt. (1) Die Frage nach der Notwendigkeit von Vor-
sorge ist im Kern wissensbezogen, hat aber auch eine
normative Komponente. Im Falle des Mobilfunks
Das Vorsorgeprinzip geht es darum, gute – d. h. wissenschaftlich beleg-
bare – Gründe dafür anzugeben, dass auch unter-
Artikel 20a des Grundgesetzes verpflichtet den deut- halb der etablierten Grenzwerte ein Gesundheitsri-
schen Staat, dem Vorsorgeprinzip Rechnung zu tra- siko vorhanden sein kann. Dabei ist der konkrete
gen. Der zentrale Gedanke dieses Prinzips betrifft die Nachweis eines Risikos nicht erforderlich. Vorsorge-
Vermeidung von Gefahren – gerade auch dann, wenn maßnahmen sind schon bei Vorliegen eines wissen-
deren Existenz unsicher ist. Zum besseren Verständ- schaftlich begründeten Verdachts zu ergreifen. Die
nis des Vorsorgeprinzips ist es hilfreich, zwischen bloße spekulative Annahme einer Gefahrenlage
Vorsorge und Gefahrenabwehr zu unterscheiden (zu reicht jedoch nicht aus, um Vorsorge zu legitimie-
Technikrecht s. Kap. VI.2). Gefahrenabwehr ist erfor- ren. Allerdings ist strittig, wie groß und begründet
derlich, wenn eine Sachlage besteht, die eine erkenn- der wissenschaftliche Verdacht sein muss und wel-
bare, nicht entfernte Möglichkeit eines Schadensein- che Kriterien zur Beurteilung dieses Sachverhalts
tritts beinhaltet bzw. die – wie es der Sachverständi- herangezogen werden sollten. Ob die Gründe für die
genrat für Umweltfragen nennt – »bei ungehindertem Anwendung von Vorsorgemaßnahmen hinreichend
Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit sind, ist zumindest aus wissenschaftlicher Sicht nicht
hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden abschließend zu klären.
führt« (SRU 1999, 39). Demgegenüber besteht der (2) Nach der Entscheidung über die Notwendig-
Leitgedanke der Vorsorge gerade darin, auch ohne keit der Vorsorge sind geeignete Maßnahmen auszu-
eine solche Gewissheit zu handeln. wählen, die die Vorsorge auch verwirklichen. Die
In Bezug auf die Anwendung von Vorsorge sind ausgewählten Vorsorgemaßnahmen sollten den vor-
zwei Fälle zu unterscheiden. Zum einen kann es da- liegenden Verdachtsmomenten entsprechen. Je stär-
rum gehen, Vorsorge in Bezug auf ein Geschehen ker diese sind, desto strikter sollten die ausgewählten
zu etablieren, das – wie es der Sachverständigenrat Vorsorgemaßnahmen sein. Außerdem wird gefor-
für Umweltfragen (SRU) formuliert – unterhalb der dert, dass bei der Auswahl von Vorsorgemaßnah-
Schwelle einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit men der Nutzen der unter Risiko-Verdacht stehen-
liegt. Es handelt sich dabei um Ereignisse mit ex- den Technologie mitbedacht werden sollte (EU
trem kleinen Eintrittswahrscheinlichkeiten, aber 2000). Auch bezüglich dieser Fragen bestehen er-
katastrophalen Konsequenzen im Falle ihres Ein- hebliche Unsicherheiten.
tretens. Zum anderen ist Vorsorge auch insbeson- (3) Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass die
dere dann zu treffen, wenn nicht abschließend ge- ausgewählten Maßnahmen auch ihr Schutzziel errei-
klärt werden kann, ob ein Geschehen überhaupt chen. Sorgt Vorsorge wirklich vor? Und welche
Risiken verursacht, wie dies in der Gentechnik Maßnahmen sind ausreichend? Wann ist sicher si-
(s. Kap. V.7) und aktuell in der Debatte über Nano- cher genug? Es lässt sich zudem nicht immer bestim-
partikel (s. Kap. V.18) der Fall ist. Dabei wird vor- men, ob die vorsorglichen Schutzmaßnahmen auch
ausgesetzt, dass der mögliche Schadensfall, wenn er greifen. Gleichfalls kann ungewiss sein, ob die ge-
denn eintreten würde, erheblich ist und eine hin- troffenen Schutzmaßnahmen nicht selbst neue Risi-
reichend große Personengruppe betreffen kann. ken generieren. Diese Unbestimmtheiten führen fast
Unter letzteren Fall kann der Mobilfunk subsum- automatisch zu Konflikten zwischen den beteiligten
miert werden. Parteien und Interessenvertretern.
16. Mobilfunk 331

Bei der Umsetzung von Vorsorgemaßnahmen Ethische Orientierung


geht es auch um Kommunikation mit der Bevölke-
rung. Im Fall des Mobilfunks ist z. B. darüber zu in- Für die Entscheidung über die Frage der Notwendig-
formieren, welche persönlichen Vorsorgemaßnah- keit und das Ausmaß von Vorsorge lassen sich nur
men jeder Handynutzer selbst leisten kann. Gleich- bedingt ethische Richtlinien angeben (Grunwald
falls ist über Vorsorge zu informieren, die den Bau 2008). Weder die Heuristik der Furcht von Hans Jo-
oder den Betrieb von Mobilfunksendeanlagen be- nas (Jonas 1984; s. Kap. IV.B.2), noch die von Julian
trifft. Von dieser Vorsorgekommunikation wird zu- Nida-Rümelin vorgeschlagene Orientierung an In-
weilen auch ein positiver Effekt erhofft. Politik will dividualrechten (Nida-Rümelin 1996) versprechen
damit Ängsten entgegenwirken und Vertrauen stär- eine Lösung. Erstere scheitert an ihrem kategori-
ken. Die Information über Vorsorge hat aber nicht schen Anspruch, dem »In dubio pro malo«. Da die
diese Wirkung. Sie beruhigt nicht, sondern verstärkt Möglichkeit eines worst-case-Risikos sich nie aus-
die Risikowahrnehmung und kann das Vertrauen in schließen lässt, wäre immer Vorsorge erforderlich.
das Risikomanagement reduzieren (Schütz/Wiede- Damit schleicht sich eine gewisse Beliebigkeit ein.
mann 2005). Und weiter: Ein worst-case-Risiko lässt sich auch
konstruieren, wenn die Gesellschaft auf den Mobil-
funk verzichtet.
Varianten des Vorsorgeprinzips Julian Nida Rümelin fordert – bei der Entschei-
dung über zugemutete Risiken – das Einvernehmen
Eine US-amerikanische Variante des Vorsorgeprin- der Betroffenen. Wenn diese Forderung auch für
zips ist der Prudent Avoidance-Ansatz, den Granger unsichere Risiken gilt, müsste ebenfalls ein Einver-
Morgan vorgeschlagen hat (Sahl/Dolan 1996). Pru- nehmen darüber hergestellt werden, wie mit dem
dent Avoidance steht für umsichtige und besonnene Befund ›möglicherweise krebserregend‹ für das Mo-
Vermeidung von Risiken und basiert auf einem klug- bil-Telefonieren umzugehen ist. Zwar ist ein gesell-
heitsethischen Ansatz (zur Klugheitsethik s. Kap. schaftlicher Konsens über die Zumutung von unsi-
IV.B.3). Dieser Vorsorge-Ansatz wurde in den frü- cheren Risiken begrüßenswert, praktisch aber wohl
hen 1980er Jahren für den Umgang mit möglichen schwer zu erreichen. Denn die erforderlichen Dis-
Gesundheitsrisiken entwickelt, die von Hochspan- kursbedingungen, die allen Betroffenen eine faire
nungsleitungen ausgehen könnten. Prudent Avoi- Chance bei der Entscheidung einräumt und die zu
dance zielt darauf ab, solche Maßnahmen zur Emis- einem Konsens führen, sind in der realen Welt un-
sionsvermeidung zu treffen, die mit geringen ökono- wahrscheinlich (zu Partizipation s. Kap. VI.5).
mischen Kosten verbunden sind und keine anderen Allenfalls könnte man sich auf das Prinzip der
wesentlichen Nachteile hervorrufen. Dabei stützt pragmatischen Konsistenz von Carl Friedrich Geth-
sich der Ansatz nur bedingt auf Risikobewertungen mann (1987) beziehen. Demzufolge wäre mit dem
und setzt vor allem keine wissenschaftliche Bewer- möglichen Mobilfunkrisiko genauso zu verfahren
tung der Risikominderung durch die getroffenen wie mit Kaffee oder dem Insektizid DDT, die beide
Maßnahmen voraus. Diese Variante des Vorsorge- ebenfalls als möglicherweise krebserregend einge-
prinzips wird insbesondere in den USA, Neuseeland stuft sind. Aber auch hier stößt man auf operative
und Australien, aber auch in Skandinavien genutzt. Engpässe. Risikovergleiche beruhen auf kontrafakti-
Cass Sunstein (2007) schlägt eine an dem Erwar- schen Ceteris-paribus-Annahmen. Es ist offenkun-
tungswert des Schadens orientierte Variante des dig, dass je nach Vergleichsobjekt Kaffee oder DDT
Vorsorgeprinzips vor. Darunter versteht er den Ein- – bei einer Gesamtbetrachtung – ganz unterschiedli-
bezug von Schadenswahrscheinlichkeit und Scha- che Risiko- und Nutzenprofile vorliegen und damit
denshöhe, die beide für die Frage der Entscheidung differente Risikowahrnehmungen induziert werden
für Vorsorge wesentlich sind. Des Weiteren plädiert und der Vergleich der Risiken an nicht erfüllten An-
er dafür, Nutzen und Kosten der Vorsorgemaßnah- forderungen an die Vergleichbarkeit der Kontexte
men einzukalkulieren. Allerdings ist dieser Vor- scheitert.
schlag wenig brauchbar, wenn unklare Schadenspo-
tenziale im Spiel sind, d. h. wenn es bestenfalls um
die Wahrscheinlichkeit eines singulären Ereignisses
geht – genauer: um die Frage der Konfidenz in die
Existenz eines Risikopotenzials.
332 V. Technikfelder

Literatur 17. Mobilität und Verkehr


Baan, Robert/Gross, Yann/Lauby-Secretan, Beatrice/El
Ghissassi, Fatiha/Bouvard, Veronique/Benbrahim-Talla,
Lamia/Guha, Neela/Islami, Farhad/Galichet Laurent/ Spezifische Merkmale
Straif, Kurt on behalf of the WHO International Agency des Verkehrswesens
for Research on Cancer Monograph Working Group:
Carcinogenicity of radiofrequency electromagnetic
Ausgangspunkt aller Debatten über Technikethik ist
fields. In: The Lancet Oncology 12/7 (2011), 624–626.
BITKOM: Pressemitteilung 19. Dezember 2011. In: http:// auch im Verkehr die Beobachtung, dass die Hand-
www.bitkom.org/de/presse/70864_70750.aspx (20.04.2013). lungen von Menschen Auswirkungen auf andere
Borgstedt, Silke/Christ, Tamina/Reusswig, Fritz: Umwelt- Menschen haben. Den Besonderheiten des Verkehrs
bewusstsein in Deutschland 2010. Ergebnisse einer reprä- kommt man näher, wenn man nach Definitionen für
sentativen Bevölkerungsumfrage. Heidelberg/Potsdam
›Verkehr‹ sucht. Alle gängigen Definitionen definie-
2010. http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/
4045.pdf (20.04.2013). ren Verkehr »als Ortsveränderungen von Personen,
EU (Kommission der Europäischen Gemeinschaften): Mit- Gütern oder Informationen«. »Ortsveränderungen«
teilung der Kommission – die Anwendbarkeit des Vor- machen also den Kern aller Verkehre aus – und das
sorgeprinzips. KOM (2000) 1. Brüssel, 02.02.2000. In: hat Konsequenzen: Normalerweise kann man er-
http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= warten, dass eine spezielle Handlung von Person A
CELEX:52000DC0001:DE:HTML (20.04.2013).
Eurobarometer: Special Eurobarometer 347. Elektroma- einerseits auf alle Personen im Umfeld der Person A
gnetische Felder. 2010. In: http://ec.europa.eu/public_ wirkt, dass aber andererseits die Handlungen der
opinion/archives/ebs/ebs_347_de.pdf (20.04.2013). Personen im Umfeld von A auch wieder auf die Per-
Gethmann, Carl Friederich: Ethische Aspekte des Han- son A selbst zurückwirken (Reziprozität). In diesem
delns unter Risiko. In: VGB Kraftwerkstechnik: Mittei- Fall erkennen Individuen in der Regel schnell, dass
lungen der VGB Technischen Vereinigung der Großkraft-
werksbetreiber 67/12 (1987), 1130–1135. es Gründe geben kann (und muss), die das eigene
Grunwald, Armin: Ethical guidance for dealing with un- Verhalten beeinflussen oder einschränken. Im Ver-
clear risks. In: Peter Michael Wiedemann/Holger Schütz kehr ist dieser Lerneffekt erschwert, denn per Defi-
(Hg.): The Role of Evidence in Risk Characterization. nition verlassen Verkehrsteilnehmer rasch den Ort,
Weinheim 2008, 185–202. an dem eventuelle Auswirkungen ihres Handelns
ICNIRP: Guidelines for limiting exposure to time-varying
electric, magnetic and electromagnetic fields (up to 300 auftreten, sie »fahren vorbei«. Damit wird die direkte
GHz). In: Health Physics 74/4 (1998), 494–522. Reziprozität aufgehoben, und man kann (zunächst
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. einmal) vergessen, sich um die Wirkungen des eige-
1984. nen Handelns zu sorgen. Warum werden denn die
Nida-Rümelin, Julian: Ethik des Risikos. In: Ders. (Hg.): Abgase von Personenkraftwagen (die den Motor oft-
Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoreti-
sche Fundierung. Stuttgart 1996, 806–830.
mals über der Vorderachse haben) nicht direkt aus
Sahl, Jack/Dolan, Michael: An evaluation of precaution- dem Motorblock ins Freie entlassen, sondern statt-
based approaches as EMF policy tools in community en- dessen über eine aufwändige und rostanfällige Kon-
vironments. In: Environmental Health Perspectives 104/9 struktion bis ans Heck des Fahrzeuges geleitet? Die
(1996), 908-11. Konstruktion des Abgasstranges »löst« das Problem
Schütz, Holger/Wiedemann, Peter Michael: Vorsorgeprin-
zip und Risikowahrnehmung des Mobilfunks. In: Um-
der eigenen Abgase für die Fahrzeuginsassen, denn
weltmedizin in Forschung und Praxis 10/1 (2005), 29–34. nun sind ja nur noch Anwohner und Hinterherfah-
SRU: Umwelt und Gesundheit – Risiken richtig einschätzen. rende betroffen. Generell lässt sich sagen, dass im
Stuttgart 1999. Verkehr Verlagerungen schädlicher oder negativer
SSK: Vergleichende Bewertung der Evidenz von Krebsrisiken Auswirkungen auf Personen in anderen Räumen, im
durch elektromagnetische Felder und Strahlungen. Emp-
obigen Fall »hinter dem Fahrzeug zurückbleibende
fehlungen der Strahlenschutzkommission. Bonn 2007.
Sunstein, Cass: Worst-Case Scenarios. Cambridge 2007. Anwohner«, system- und definitionsbedingt stärker
Wiedemann, Peter Michael/Schütz, Holger (Hg.): The Role in Erscheinung treten als anderswo.
of Evidence in Risk Characterization. Weinheim 2008. Ein zweiter Aspekt folgt aus dem reinen techni-
Peter Wiedemann schen Sachverhalt, dass man für Verkehr vor allem
zwei Dinge benötigt, die man weitgehend voneinan-
der trennen kann:
• Infrastrukturen, auf denen die Ortsveränderung
stattfindet und
• Fahrzeuge, die die Infrastrukturen nutzen.
17. Mobilität und Verkehr 333

Dabei hat es sich in unseren Gesellschaften einge- Technikethische Fragen


bürgert, die Infrastrukturen als staatliche Aufgabe zu im Verkehrswesen
verstehen: »Die anderen« (vulgo: der Staat) müssen
dafür sorgen, dass die von Individuen gewünschten Betrachtet man die Fülle der konkreten offenen Fra-
Infrastrukturen erstellt und vorgehalten werden. Die gen, die nach technikethischer Diskussion und Klä-
Mehrheit der Verkehrsnutzer verbindet damit auch rung rufen, dann erscheint es erstaunlich, wie selten
die Vorstellung, dass »alle anderen« etwa über Steu- Ethik und Verkehr zusammengedacht werden:
ern diese Strukturen finanzieren müssen; eine Kos- (1) Die Anzahl der im Straßenverkehr getöteten
tendeckung nach dem Verursacher- oder Nutzer- Personen beläuft sich in den Ländern der EU-27 auf
prinzip über Wegekosten oder Gebühren oder eine etwa 35.000 Menschen jährlich (EU 2011, 97). Trotz
Kilometermaut wird in der Regel abgelehnt. Für die der signifikanten Verringerung der Straßenver-
Fahrzeuge wäre »dagegen das Individuum zustän- kehrsunsicherheit sterben auch in Deutschland noch
dig«, und nach dieser Auffassung bliebe auch der immer ca. 4000 Menschen jährlich im Straßenver-
Entscheidung des Einzelnen überlassen, in welchem kehr, das sind im Durchschnitt mehr als 10 Getötete
Umfang und mit welchem Verkehrsverhalten (und täglich. Wäre es dann nicht ethisch rechtfertigbar
welchen Konsequenzen) ein individuell gekauftes oder sogar geboten, verstärkt zu handeln? Sollte man
und unterhaltenes Fahrzeug genutzt wird. etwa ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen
Die Trennung zwischen Infrastrukturen einer- anordnen, mit dem man sicher Menschenleben ret-
seits und Fahrzeugen und Verkehrsverhalten ande- tet (die Datenlage ist erdrückend), oder wiegen an-
rerseits zerstört auch noch einen zweiten Regel- dere Interessen (z. B. auf schnelle Fahrt und auf [er-
kreis: Selbst dann, wenn man im gleichen Raum lebt hoffte] Reisezeiteinsparungen) möglicherweise stär-
(gleiche Stadt, gleiches Land), kann man nun Kosten ker?
des Wegebaus oder Schäden aus Abgasen, Lärm usw. (2) Die Europäische Gemeinschaft und die natio-
sowie andere negative Konsequenzen des eigenen nalen Gesetze schreiben Mindeststandards für die
Handelns auf die Gemeinschaft verlagern. Neben die Luftqualität vor (EU 2008). An den hochbelasteten
Verlagerung auf andere Räume tritt also auch die verkehrsnahen Messstationen in deutschen bzw. eu-
Möglichkeit der Verlagerung auf andere Menschen ropäischen Großstädten werden diese Werte nicht
im gleichen Raum. Damit sorgen gleich zwei Mecha- eingehalten, mit der Folge gravierender Gesund-
nismen dafür, dass zwar alle Vorteile des Handelns heitsbelastungen der dort lebenden Menschen. Der
beim Handelnden bleiben, dass aber große Teile der Verstoß gegen geltendes Recht ist offensichtlich; ob
Lasten, der Kosten, der Schäden bzw. der Nachteile nun aber sog. Umweltzonen oder andere Maßnah-
A1: auf andere Menschen und men im Verkehr eingerichtet werden sollen, wird
A2: auf die Menschen in anderen Räumen kontrovers diskutiert. Letztlich sind seit 2002, als die
verlagert werden. entsprechende europäische Regelung beschlossen
Ökonomisch werden solche Verlagerungen als wurde, in den europäischen Großstädten zwar viele
›Externalisierungen‹ bezeichnet, und sie stellen ein Maßnahmen diskutiert, geplant und teilweise auch
Grundproblem jeder volkswirtschaftlichen Betrach- umgesetzt worden, aber offensichtlich war die Mehr-
tung dar, denn dabei werden ineffiziente Allokatio- heit dieser Maßnahmen eher belletristischer Natur:
nen geradezu erzwungen: Müsste ein Verkehrsteil- Eine Einhaltung der seit 2002 geltenden Werte ist je-
nehmer alle durch sein Verhalten entstehende Kos- denfalls an hochbelasteten Straßen europäischer
ten bezahlen und würde er diese Kosten dann mit Großstädte nirgendwo die Regel.
seinem (fast ausschließlich individuellen) Nutzen (3) Das Beispiel der Luft- und Lärmbelastungen
vergleichen, um über die Fahrt zu entscheiden, dann in Großstädten zeigt noch grundsätzlichere ethische
wären volkswirtschaftlich effiziente Entscheidungen Fragestellungen auf: Denn an den betreffenden ver-
zu erwarten. Gerade das ist aber im Verkehr nicht kehrlich, akustisch und schadstofflich hochbelaste-
der Fall, denn die beiden obigen Mechanismen sor- ten Straßen wohnen vor allem sozial benachteiligte
gen dafür, dass große Teile der Kosten und Schäden Bevölkerungsgruppen, die häufig selbst über keinen
nicht dem Nutzer zugerechnet werden: Das aber ist eigenen PKW verfügen, aber den Lärm- und Abgas-
sowohl sozial ungerecht (s. Kap. IV.B.9) als auch Belastungen durch andere in besonderem Maße aus-
ökonomisch ineffizient. Auch deshalb haben wir gesetzt sind. Personengruppen mit höherer Bildung,
heute so viel Verkehr und so viel Stau. höherem Einkommen und höherem politischem
Einfluss wohnen dagegen eher in Gegenden mit sau-
334 V. Technikfelder

berer Luft und geringerer Lärmbelastung; auf dem (zu nachhaltiger Entwicklung s. Kap. IV.B.10). Die
Weg zur Oper, zum Einkauf oder in die Universität obige Liste muss also um eine weitere Externalisie-
fahren diese Personenschichten an den Wohnungen rungsdimension erweitert werden, denn es werden
der sozial benachteiligten Personen vorbei. auch umfangreiche Lasten (A3): auf die Menschen
(4) Nach der offiziellen Statistik (Verkehr in Zah- künftiger Generationen verlagert. Damit verbun-
len 2011, 305) verursacht der Verkehrssektor in dene grundsätzliche ethische Fragen sind nicht »ge-
Deutschland 2008 CO2-Emissionen von 152 Millio- meinsam zu lösen«, da die künftigen Generationen
nen Tonnen, das wären etwa 18 Prozent der deut- nicht für eine gemeinsame Suche nach Regeln heute
schen CO2-Gesamtemissionen (862 Mio. Tonnen). zur Verfügung stehen.
Dabei fehlen aber die Emissionen der nach/von
Deutschland kommenden Seeschiffe und der
Deutschland anfliegenden Flugzeuge außerhalb des Das Verhältnis von Ziel und Mittel
deutschen Hoheitsgebietes, die natürlich auch zum
deutschen Verkehr zählen. Und Emissionen der Wer wissen will, was zu tun wäre, muss zuerst sagen,
Flugzeuge in großen Höhen sind ca. 2- bis 5-mal welche Ziele er verfolgt. Deshalb versucht dieser Bei-
klimaschädlicher als die gleichen Emissionen am trag eine Annäherung an die Ziele des Handelns im
Boden (Radiative Forcing Index, RFI). Bezieht man Verkehr: Wozu soll eigentlich Verkehr dienen? Was
diese ein, dann steigt der Verkehrsanteil auf etwa ein wollen eigentlich die einzelnen Personen damit er-
Viertel der gesamten deutschen CO2-Emissionen. reichen, weshalb sind sie unterwegs? Und welche
Würde man zudem die Emissionen der Erdölförde- Ziele verfolgt die Gesellschaft damit, weshalb stellt
rung und -verarbeitung sowie der Fahrzeug- und sie so große Ressourcen (Geld, Energie, Rohstoffe,
Fahrwegerstellung und -beseitigung (»vor- und Flächen usw.) bereit?
nachgelagerte Prozesse«) mitberücksichtigen, dann Die ernüchternde Antwort darauf ist: Klare offizi-
ergäben sich rasch Anteile des Verkehrs von knapp elle Antworten auf diese Frage gibt es nicht. In der
unter einem Drittel der CO2-Emissionen. Ist der da- Regel wird im politischen Raum vor allem auf die
mit verbundene Stellenwert des Verkehrs ethisch ge- Bedeutung des Verkehrs für die Bevölkerung und
rechtfertigt, etwa im Vergleich zu den Emissionen die Wirtschaft verwiesen. Über Jahrzehnte ging es
der Landwirtschaft? als planerisches Leitziel um »Schnelligkeit, Leichtig-
(5) Die Nutzen von Verkehr genießen praktisch keit und Flüssigkeit des Verkehrs«. Und auch auf der
ausschließlich die heute fahrenden bzw. heute leben- Webseite des zuständigen deutschen Bundesminis-
den Personen; die Kosten des Klimawandels bei- teriums wird unter dem Menüpunkt »Verkehrspoli-
spielsweise werden aber insbesondere Menschen in tik/Infrastrukturplanung« (BMVBS 2012) zunächst
anderen Ländern (inter-regional) und in anderen über den Erhalt der Mobilität gesprochen, dieses
Zeiten (inter-generational) zu tragen haben. Sollte Oberziel wird dann aber konsequent mit der Bereit-
man vielleicht von den heutigen Verkehrsnutzern stellung guter, sicherer und bezahlbarer Verkehrs-
Einzahlungen in einen globalen »Klimaanpassungs- mittel gleichgesetzt. Man kann festhalten: In unserer
fonds« verlangen und die über die Zeit gesammelten Gesellschaft wird im Normalfall Mobilität mit Ver-
Gelder dann den künftigen Generationen in stärker kehr, wird das Ziel mit dem Instrument gleichgesetzt.
betroffenen Ländern zukommen lassen? Stattdessen Diese Gleichsetzung der übergeordneten Zielen des
werden die eher überschaubaren Kosten, die sich aus gesellschaftlichen Handelns mit den dazu eingesetz-
der Einbeziehung des internationalen Luftverkehrs ten Instrumenten ist aber nicht zielführend, denn
in das Europäische Emissionshandelssystem ergä- • ›Verkehr‹ und ›Mobilität‹ sind eben gerade nicht
ben, von den Airlines als auch von den Regierungen Synonyme. Unter ›Mobilität‹ ist zu verstehen,
Chinas, Indiens und der USA vehement bekämpft. dass Menschen Bedürfnisse abdecken, die mit
Für die technikethische Diskussion sind vor allem Ortsveränderungen zusammenhängen. Mobilität
die letztgenannten Wirkungen des weltweiten Ver- kann man etwa messen, indem man zählt, ob eine
kehrs auf das Weltklima lehrreich, denn sie zeigen Person zum Arzt gelangt, ein Medikament erhält,
besonders deutlich, dass die Auswirkungen des welt- Freunde besucht oder die Arbeitsstelle erreicht.
weiten Verkehrs inzwischen nicht nur zwischen ver- ›Mobilität‹ bewirkt Teilhabe, und Mobilität darf
schiedenen Personen (A1) und zwischen verschie- Menschen in angemessenem Umfang nicht ver-
denen Räumen (A2), sondern auch zwischen ver- wehrt werden. Mobilität steht damit für die Be-
schiedenen Generationen (inter-temporal) wirken dürfnisseite: Verkehr soll Menschen die Befriedi-
17. Mobilität und Verkehr 335

gung bestimmter Bedürfnisse ermöglichen, zu deutschen Planungen als Ziel verfolgt wird. Das aber
denen Ortsveränderungen notwendig sind. würde bedeuten:
• ›Verkehr‹ bezeichnet dagegen alle Aspekte, die die (1) Grundsätzlich ist die Frage nach den Zielen
konkrete Realisierung dieser Bedürfnisse betref- unseres Handelns zu stellen: Was wollen wir denn
fen, Verkehr steht damit für die Instrumenten- wirklich, was sind unsere Handlungsziele? Wollen
seite und wird mit den Indikatoren Fahrzeug- wir viel oder wenig Mobilität, und für welche Bevöl-
anzahl, Fahrleistung, Energieverbräuche, Netz- kerungsgruppe? Hier erschiene ein Konsens erreich-
längen, Flächeninanspruchnahmen, Kosten usw. bar, denn in aller Regel dürfte die Befriedigung von
gemessen. Verkehr ist das Instrument, das Mobi- Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Politisch wäre
lität ermöglicht (Becker/Rau 2004). dann die Frage zu diskutieren, welche Bevölkerungs-
gruppen bei welchen Mobilitätsbedürfnissen schon
Verfolgt ein Unternehmen oder eine Gesellschaft ganz gut gestellt sind bzw. bei welchen Bevölke-
ein bestimmtes Ziel, dann ist es immer sinnvoll (›ef- rungsgruppen ›Mobilitätsdefizite‹ für bestimmte Be-
fizient‹), dieses Ziel mit dem geringsten Einsatz von dürfnisse vorliegen. Dies ist eine Frage für Parla-
Geld, Ressourcen, Energie, Fläche usw. zu errei- mente, nicht für Professoren oder Ingenieure, aber
chen. Eigentlich wäre es ein sinnvolles gesellschaft- es drängen sich schon gewisse vermutete Mobilitäts-
liches Ziel, ein bestimmtes (auszudiskutierendes) defizite auf (Kinder in sozial benachteiligten Fami-
Maß an Mobilität für alle Bevölkerungsgruppen mit lien ohne erreichbaren Park oder Spielplatz in der
dem geringsten dazu notwendigen Verkehr bereit- Nähe; ältere Personen ohne PKW-Zugang in Schlaf-
zustellen. Man kann viel Mobilität mit wenig Ver- dörfern; Personen ohne Zugang zu Läden, Schulen,
kehr haben, etwa in einer multifunktionalen, dich- Ärzten in ländlichen Gemeinden usw.). Hier ist üb-
ten Stadt der kurzen Wege, denn dort sind viele Be- rigens keinesfalls zu diskutieren, wer denn im realen
dürfnisse mit wenig Geld, wenig Fahrzeugen, wenig Tagesablauf wie viel mobil sein solle, sondern nur,
Lärm, wenig Fläche und wenig Abgas befriedigbar. wem welche Mindeststandards der Mobilität quasi
Man kann aber auch viel Verkehr für wenig Mobili- als Menschenrecht zugebilligt werden sollten.
tät haben: Dann muss man möglichst zersiedelte, (2) Wäre dann geklärt, wie viel Mobilität bei wel-
spezialisierte und individualverkehrsorientierte cher Bevölkerungsgruppe wo und wann als ›ange-
Strukturen aufbauen wie etwa in Perth oder Los messen‹ betrachtet werden kann, dann müsste es um
Angeles, bei denen für jedes einzelne Bedürfnis ein den Verkehr gehen: Welcher Verkehr welcher Nut-
weiter Weg mit viel Verkehr, Energie, Fläche, Abgas zengruppe ist denn als notwendig, als angemessen
etc. notwendig ist. bzw. als effizient für dieses Niveau an Mobilität zu
Wer Verkehr einfach nur billiger und attraktiver betrachten? Die Antwort auf diese Frage könnte
macht, wird mehr Verkehrsleistungen produzieren nach dem Effizienzprinzip erfolgen: Es ist immer
und nicht etwa mehr Mobilität. Erst die Handlungs- der minimale Gesamtaufwand zur Erreichung des
maxime die »Gewährung eines bestimmten, angemes- dann definierten Mobilitätsniveaus anzustreben.
senen Mobilitätsniveaus mit möglichst wenig Ver- ›Minimaler Gesamtaufwand‹ bedeutet selbstver-
kehr« könnte diesen Widerspruch sinnvoll auflösen. ständlich, dass alle Kosten einer Verkehrsmittelnut-
Es wird Zeit, dass wir die gesellschaftliche Debatte zung (Kosten von Kraftstoffen und Fahrzeugen, der
darüber führen, ob wir viel Mobilität mit relativ we- Infrastrukturnutzung und die dabei entstehenden
nig Verkehr wollen oder lieber umgekehrt (vgl. Abgas-, Lärm-, Klima- und sonstigen Umweltschä-
hierzu SRU 2005 und Vogt 2003). den) zu ermitteln und möglichst dem Nutzer anzu-
lasten sind.
(3) Aus ethischen Gründen ist insbesondere zu
Folgerungen beachten, dass große Teile der Kosten unseres Ver-
kehrs, vor allem die Verkehrswegekosten, die nicht
Die obigen Beschreibungen und Beispiele zeigen: von Versicherungen getragenen Unfallkosten, die
Ethische und technikethische Fragen sollten in Ver- Klimakosten und fast alle Umweltkosten (Lärm, Ab-
kehrsplanung, Verkehrspolitik und Verkehrsablauf gas, Trennwirkung, Abfälle, Ressourcengewinnung,
eigentlich eine große, grundsätzliche Rolle spielen – Flächen usw.) derzeit externalisiert werden, dass
und unter ganz anderen Vorzeichen und Fragestel- aber die Nutzen von Verkehr praktisch ausschließ-
lungen als heute. Es geht eben nicht um Maximie- lich bei den Reisenden verbleiben. Damit ist die
rung der Verkehrsmenge, wie sie in den offiziellen ethische Kernfrage erreicht: Welche Kosten und Be-
336 V. Technikfelder

lastungen darf ein Einzelner auf andere Menschen chert dürfte lediglich sein, dass benachteiligte Be-
(die Gesellschaft), auf andere Länder und andere völkerungsgruppen mehr Lärm (Becker 2011) zu
Generationen verlagern? erdulden haben als sie verursachen. Ebenfalls ist hier
(4) Hier steht das Individuum gegen »andere an die extreme Ungleichverteilung von Verkehren
Menschen« (im gleichen Raum, A1) sowie gegen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu
»Menschen in anderen Räumen« (interregional, erinnern.
A2); zusätzlich kommt nun noch der Unterschied (8) Die einzelnen im Verkehrswesen eingesetzten
entlang der Zeitachse zwischen den heute lebenden Fahrzeuge (vielleicht mit Ausnahme von mit Atom-
Menschen und den künftig lebenden Generationen kraft betriebenen Fahrzeugen) bieten wenig Anlass
hinzu, in dem das Individuum gegen »andere Men- für dringende Technikfolgenabschätzungen (s. Kap.
schen in anderen Zeiten« (A3) steht. Auch hier ist VI.4). Dagegen ist technikethisch unbedingt zu dis-
unethisches Verhalten aus individueller Sicht kurz- kutieren, wie viele dieser Fahrzeuge auf diesem Pla-
fristig nutzenmaximierend. neten insgesamt angestrebt und wo diese Fahrzeuge
(5) Daraus ergibt sich direkt, dass es ökonomisch eingesetzt werden sollen. Woran es fehlt, sind Dis-
geboten und ethisch zwingend ist, kontinuierlich kussionen und Festlegungen »wofür und in welchem
Schritte hin zu weniger Kosten-Unwahrheit zu ge- Umfang« ein Verkehrsmittel wann sinnvollerweise
hen. Das Ziel einer möglichst gut zu erreichenden eingesetzt werden kann: Und hier mangelt es vor
Kostenwahrheit folgt dabei sowohl aus ökonomi- allem an der Festlegung und Überwachung sinnvol-
schen Effizienzüberlegungen als auch aus ethischen ler Rahmenbedingungen für die Nutzung von Ver-
und Gerechtigkeitserwägungen. Eine Situation mit kehrsmitteln.
»vollständiger Kostenwahrheit« ist unerreichbar Wer ist also verantwortlich für diese Situation,
(eben auch weil künftig entstehende Kosten unbe- wer ist verantwortlich dafür, dass sich diese ethisch
kannt bleiben müssen, diese aber auch heute einzu- nicht haltbare Situation ändert? Weil die Verhält-
preisen wären); aber ständig ist zu überprüfen, ob in nisse nun mal (wie immer) komplex und historisch
irgendwelchen Bereichen noch größere Externalisie- gewachsen sind, lässt sich keine eindeutige und ab-
rungen vorliegen und diese wären dann zu verrin- geschlossene Verantwortlichkeitsliste ableiten, denn
gern. Dies ist eine in allen Bereichen gebotene Ma- jeder ist natürlich wie immer auf seiner Ebene (mit-)
xime, nicht nur im Verkehr, dort aber in besonderem verantwortlich (s. Kap. II.6). Allerdings lässt sich un-
Maße. schwer eine erste Liste von Verantwortlichkeiten
(6) Die aus dem »Verkehr« entstehenden Effekte und Aufgaben erstellen (s. Tab. 1, S. 337).
wirken vor allem Und wie beginnt man diesen Weg am besten? Aus
A1: auf andere Menschen, meiner Sicht wäre vor allem zu sensibilisieren, und
A2: auf andere Länder bzw. andere Räume sowie dann umfassend zu diskutieren, auf allen Ebenen.
auch Natürlich wären andere rechtliche und gesellschaft-
A3: auf andere Zeiten bzw. Generationen. liche Rahmenbedingungen wichtig, nötig und hilf-
Gerade die globalisierungsnotwendigen Verkehre reich: Viele andere Verhaltensweisen der Verkehrs-
(Seeverkehre mit Unfallfolgen, Säureemissionen teilnehmer werden dadurch ja überhaupt erst mög-
bzw. Ölunfällen, Flugzeuge mit 2- bis 5-mal höhe- lich. Aber um die Akzeptanz dafür (auch beim
rem Treibhauspotential, Klimawirkungen) wirken Wähler) zu schaffen, wäre es vielleicht noch wichti-
hier über den dritten Mechanismus und erfordern ger, zunächst mit dem Onkel, dem Nachbarn, der
generationenübergreifende Lösungsvorschläge. Schulklasse und den Studierenden über die Dinge zu
(7) Eine völlig vernachlässigte Frage stellt die in- reden. Vielleicht können Bücher helfen. Armin
tragenerationelle Gerechtigkeit (s. Kap. IV.B.9 und Grunwald und Stephan Saupe beenden einen Text
Kap. IV.B.10) im Verkehrswesen dar. Zwar liegen über Technikethik (1999, 249) mit einem Zitat, das
Untersuchungen dazu vor, welche Personengruppen ich den Leser/innen nicht vorenthalten mag; sie
aus welchen Wohngebieten/Standorten und Ein- schreiben bereits 1999: »Die ethische Reflexion der
kommensschichten wie weit und mit welchem Ver- Teilnehmer an Technikgestaltung […] ist entschei-
kehrsmittel unterwegs sind, und man weiß daher, dend. Wenn diese es nicht tun, nützt keine Beleh-
dass besser gestellte Schichten tendenziell größere rung aus dem Elfenbeinturm.« Dem ist nichts mehr
Strecken (und mehr mit dem eigenen PKW) zurück- hinzuzufügen.
legen, wer aber die Kosten dieses Verkehrs in wel-
chem Umfang zu tragen hat, ist noch unklar. Gesi-
17. Mobilität und Verkehr 337

Wer? Ist (mit-)verantwortlich wofür? Und müsste zunächst was tun?


Jeder Verkehrs- Individuelles Verkehrsverhalten: Ungewohntes ausprobieren (nachdenken),
teilnehmer Wie oft, womit, wie weit, wie schnell? Angst vor Veränderungen überwinden
Fahrzeughersteller Art, Ausstattung und Menge Kurzfrist-Gewinnmaximierung überdenken,
bzw. Ingenieure/ der angebotenen Fahrzeuge Langfristperspektiven (auch zum Erhalt der
Ingenieurinnen eigenen Firma) untersuchen, Tragfähigkeits-
betrachtungen anstellen
Verkehrsplaner Vorhandenes Angebot Abkehr vom Postulat des »Verkehrs muss immer
und -planerinnen an Infrastruktur wachsen«, Hinwendung zur »Ermöglichung von
Mobilität« (mit möglichst wenig Verkehr)
EU, Bund und Rahmenbedingungen der Finanzie- Abkehr vom Postulat des »Verkehrs muss immer
Länder rung, der Steuergesetze (»Dienst- wachsen«, Hinwendung zur »Ermöglichung von
wagenprivileg«, »Pendlerpauschale«), Mobilität« (mit möglichst wenig Verkehr),
der Förderrichtlinien usw. Abbau »perverser Subventionen«
Kommunen Kommunale Entscheidungen, Weg von der Fixierung auf »Defizite in der
Siedlungsplanung, Stadtteilförderung, Fahrzeugnutzung« (z. B. Stau, Parkplatznot),
Nahmobilität, Aufenthaltsqualität hin zur Analyse/Lösung von Mobilitätsdefiziten
auf Straßen (»Wer kann welches Mobilitätsbedürfnis nicht
adäquat abdecken?«)
Medien Information und Meinungsprägung Vorhandene Alternativen erwähnen, Schwer-
punkte erweitern (statt »von Null auf 100 km/h
in 5 Sekunden« auch »250 g CO2/km« nennen)
Schulen, Vereine Information und Meinungsprägung Wege zur Schule thematisieren, Lehreinheiten
etc. ergänzen, Fahrgemeinschaften zum Auswärts-
spiel ermöglichen etc.

Tab. 1: Übersicht über Verantwortlichkeiten und mögliche Aufgaben

Literatur
Becker, Thilo: Social distribution of external costs of noise Verkehr in Zahlen 2010/2011. Hg. BMVBS, bearb. DIW, er-
impact caused by transportation in Berlin. In: Procee- scheint jährlich, eurailpress. Berlin 2011.
dings of inter.noise 2011. The Institute of Noise Control Vogt, Markus: Mobil für die Zukunft? Ethische Aspekte einer
Engineering of Japan (INCE/J). Tokio 2011. nachhaltigen Mobilitätsgestaltung. Forum Nachhaltigkeit
Becker, Udo/Rau, Andreas: Neue Ziele für Verkehrspla- und Mobilität des SPD-Präsidiums, 19.02.2003, Berlin,
nungen. In: Handbuch der kommunalen Verkehrspla- http://www.kath.de/benediktbeuern/clear/projekte/ver
nung, 38. Lieferung 2004, Kap. 3.2.10.3. kehr-forum.pdf (29.04.2012).
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Zeitler, Ulli: Grundlagen der Verkehrsethik. Berlin 1999.
lung (BMVBS): Mobilität. In: http://www.bmvbs.de/DE/
Udo Becker
VerkehrUndMobilitaet/Verkehrspolitik/Infrastruktur
planung/infrastrukturplanung_node (30.04.2012).
EU-Kommission, Richtlinie 2008/50/EG des europäischen
Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luft-
qualität und saubere Luft für Europa, Brüssel 2008. In:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri
=OJ:L:2008:152:0001:0044:DE:PDF (28.04.2012).
EU-Commission: EU Transport in Figures. Statistical po-
cketbook 2011. Brüssel 2011.
Grunwald, Armin/Saupe, Stephan: Ethik in der Technikge-
staltung. Praktische Relevanz und Legitimation. Berlin
1999.
SRU  – Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen,
Sondergutachten 2005: Umwelt und Straßenverkehr,
Hohe Mobilität  – Umweltverträglicher Verkehr, SRU
Berlin, Juni 2005. In: http://www.umweltrat.de/Shared
Docs/Downloads/DE/02_Sondergutachten/2005_SG_
Umwelt_und_Strassenverkehr.html (27.04.2012).
338 V. Technikfelder

18. Nanotechnologie die Nanotechnologie sein kann und sein wird – ihre
Folgen ließen sich schon ausmalen und diskutieren,
ehe sie in der Gegenwart richtig angekommen war
Ethische Reflexion ist eine Weise des Ernstnehmens, (Kaiser 2012, 403). Die Nanotechnologie war somit
sie rückt ihren Gegenstand in einen Brennpunkt des immer schon das, was unsere Lebensverhältnisse in
Handelns, der Ein- und Ausrichtung menschlicher der Zukunft mehr oder minder durchgreifend ver-
Verhältnisse. Hier soll verfolgt werden, wie die Na- ändern würde.
notechnologie durch ethische Fragestellungen ernst- In der Zeit vor ihrer Institutionalisierung ins-
genommen wird, und vor allem auch, was an ihr besondere durch die US-amerikanische National
ernstgenommen wird. Nanotechnology Initiative (der in Deutschland ent-
Kompliziert wird diese Untersuchung dadurch, sprechende Institutsgründungen vorausgegangen
dass die Nanotechnologie von Anfang an ganz unbe- waren) stand die Nanotechnologie vor allem als Ver-
dingt ethisch ernstgenommen werden wollte und ihr sprechung für »globalen Überfluss« (Crandall 2000).
diese Form des Ernstnehmens nicht unbeträchtlich Dieser sollte sich der präzisen Kontrolle einzelner
zur Glaubwürdigkeit verholfen hat. Somit unter- Atome verdanken, die die Konstruktion von Ma-
stützt ein großer Teil der öffentlich nachgefragten schinen oder Automaten ermöglichen würde und
Nanoethik eine rhetorische Figur, die sich auch jetzt vor allem die Konstruktion von Fertigungsanlagen,
noch als Fehlschluss erweisen könnte: Schon weil die die unbegrenzt viele nanotechnologische Produkte
ethischen Implikationen der Nanotechnologie dis- erzeugen würden. So träumte auch der Münchner
kutiert werden, muss es sich bei ihr ja ganz offenbar Nanoforscher Wolfgang Heckl in einer Fernsehsen-
um ein äußerst vielversprechendes und folgenrei- dung von einem Apparat, der wie eine Mikrowelle
ches Forschungsprogramm handeln. In Anbetracht aussieht, aber das Kunststück vollbringt, einfache
dieser Komplikation müssen mehr und weniger Erde in ein sättigendes Nanoschnitzel umzuwandeln
ernsthafte Weisen des Ernstnehmens unterschieden (Friedl 2003; Heckl 2004). Derlei Vorstellungen kris-
werden. Aber auch wo die Nanotechnologie durch tallisierten sich zunächst im nicht zufällig sogenann-
ethische Reflexion vor allem aufgewertet werden ten Foresight Institute des Visionärs Eric Drexler, wo
will, ist zumindest historisch interessant, wie sie und Protokolle zur Vermeidung wildwüchsig mutieren-
was an ihr ernstgenommen werden soll. Darum bie- der Nanoroboter entwickelt wurden und wo ein we-
tet der erste Teil dieses Beitrags einen sehr schemati- nig scheinheilig gefragt wurde, ob die Heilung vieler
schen Überblick über die wechselnden Ambitionen Krankheiten oder die Verlangsamung des Alte-
nanotechnologischer Forschung, wie sie in ethi- rungsprozesses womöglich auch negative Konse-
schen Reflexionen gespiegelt werden. Danach wer- quenzen hat. Das Motto schien zu lauten, dass wir
den die Herausforderungen an eine philosophisch lernen müssen, gut und richtig zu wünschen, weil
verstandene Ethik durch die nachfrageorientierte der Wunscherfüllung keine Grenzen gesetzt sind
Nanoethik thematisiert. Der dritte Teil stellt schließ- (z. B. Amato 1999).
lich ausgewählte Fragestellungen vor, die für die He- Bis heute tauchen in den Debatten Figuren des
rausbildung ethischer Diskurse wesentlich sind, in Überflusses auf, von win-win-Situationen und einer
denen es nicht nur um Fragen der Verantwortung Technologie, von der alle profitieren und für die es
geht, sondern die selbst verantwortbar sind, also ih- keinen Preis zu zahlen gilt. Mit den großen Förder-
rerseits verantwortet werden können. initiativen in den USA und Europa wurde eine so
große Kohorte geistes- und sozialwissenschaftlicher
Begleitforscher herangebildet, dass es heute zahlrei-
Nanotechnologie im Spiegel che Monographien, die Zeitschrift NanoEthics und
ethischer Begleitforschung eine internationale Gesellschaft gibt. Dass Nano-
ethik in Korea und Singapur gleichermaßen »dazu
Was die Nanotechnologie eigentlich ist, war immer gehört« wie in Deutschland oder den USA, etablierte
unklar und schlug sich in vagen Definitionsversu- sie als eine Art lingua franca, in der die verantwortli-
chen nieder  – es gehe ihr um die Erkundung von che Entwicklung der Nanotechnologie zur gemein-
Eigenschaften, die erst dort auftreten, wo Stoffe Di- samen Sache wurde und niemand sich sorgen
mensionen im Nanometerbereich aufweisen. So dif- musste, seine Bedenken würden kein Gehör finden.
fus diese Bestimmung von Nanotechnologie ist, so Da es aber heikel ist, Technikfolgen ethisch abzu-
wenig mangelt es an konkreten Vorstellungen, was schätzen schon lange bevor diese Technik in greif-
18. Nanotechnologie 339

bare Nähe rückt (s. Kap II.5 und Kap. VI.4), bildeten Frage offenbar einer normativen Betrachtungsweise.
sich unterschiedliche Haltungen des Wartens und Vielversprechender ist da schon die Behandlung des
Antizipierens heraus, konzentrierte sich die Begleit- zweiten greifbaren Problems, das sich aus der und
forschung insbesondere auf die Bilder und Visionen, für die Nanotechnologie ergab: Bezüglich der anti-
die für die Nanotechnologie werben sollten. Wäh- bakteriellen Anwendung von »Nanosilber« in Kühl-
rend ethische Fragen oft abwartend behandelt wur- schränken und Alltagskleidung vollzieht sich eine
den (nach dem Motto: »dieses bedarf größter Auf- Verschiebung der kritischen Aufmerksamkeit von
merksamkeit und jenes muss noch näher untersucht den schwer bestimmbaren Umweltrisiken auf den
werden«), entwickelten sich kulturwissenschaftliche bestenfalls erwartbaren Nutzen dieser Technologie.
Analysen und erweiterte sich das Instrumentarium Auch bezüglich der Verwendung von Nanopartikeln
von Meinungsforschung und Bürgerbeteiligung mit in Kosmetika wird gefragt, ob Nutzen und Risiko
dem Ziel, ein noch nicht vorhandenes gesellschaftli- wirklich gegeneinander aufgewogen werden müs-
ches Problembewusstsein allererst zu erzeugen (kri- sen, wenn schon das Argument für den Nutzen nicht
tisch hierzu vgl. Nordmann/Macnaghten 2010). zu überzeugen vermag.
Als schließlich ein erstes greifbares Problem iden-
tifiziert wurde, war die Begleitforschung hoch gerüs-
tet und sofort bereit, sich im großen Stil darauf zu Missverhältnisse
stürzen. Angesichts hochfliegender Erwartungen
mochte dieses Problem zunächst banal erscheinen: Wo ethische Begleitforschung nachgefragt wird, er-
Wie lässt sich die toxikologische Unbedenklichkeit geben sich zwei grundsätzliche Schwierigkeiten für
von Nanopartikeln nachweisen und wie fügen sich philosophisch verstandene Ethik: Geht die Nach-
ganz einfache Nanomaterialien in die bestehenden frage über das hinaus, was im Rahmen der Ethik ge-
Chemikalienverordnungen (s. Kap. V.24)? Mit dieser leistet werden kann? Und gibt es vielleicht Traditio-
fast altbackenen Frage verbinden sich allerdings nen ethischer Reflexion, aus denen heraus wichtige
äußerst brisante wissenschaftliche und politische Fragen gestellt werden, für die es keine Nachfrage
Herausforderungen, schon weil es zum Nimbus auch gibt? Ein kurzer Überblick verdeutlicht diese Miss-
des unscheinbarsten Nanoteilchens gehört, dass es verhältnisse in Bezug auf die Nanoethik an vier Pro-
Überraschungen birgt und womöglich andere Ei- blemfeldern.
genschaften hat als ein fast, aber eben nur  fast mit (1) Das erste Problemfeld ergibt sich aus den im
ihm identisches Nanoteilchen. Und wo Überra- Nachfragezusammenhang prozeduralistischen Vor-
schungen kultiviert werden, müssen wir auch mit gaben für ethische Reflexion, die vor allem als Ge-
unwillkommenen Überraschungen rechnen. Aus spräch, als Zusammenkunft vielfältiger Auffassun-
»ethischen und gesellschaftlichen Implikationen« gen aufgefasst wird und somit als Austausch dar-
wurde nun der Forschungsschwerpunkt »Umwelt, über, was als bedenklich erscheinen könnte. Obwohl
Gesundheit, Sicherheit«. die Rede von den bloßen ›Bedenkenträgern‹ negativ
Inzwischen haben sich die anspruchsvollen Ziele konnotiert ist, werden im Namen von Demokratisie-
der Nanoforschung in die Nanomedizin verlagert, in rungsidealen möglichst viele concerned citizens ein-
die Idee einer Konvergenz der Schlüsseltechnolo- geladen, um gemeinsam ihre ethical concerns zu
gien, auch in die Synthetische Biologie (s. Kap. V.23). identifizieren. Dieser zeitlich unabgeschlossene und
Was einst etwas abfällig als die bloß erste Generation alle Beteiligten akkommodierende Gesprächsverlauf
nanotechnischer Verfahren und Produkte bezeich- kann für ethische Urteilsbildungen zwar eine wich-
net wurde, könnte sich auch schon als ihre höchste tige heuristische Funktion haben, sie aber nicht er-
Stufe erweisen, nämlich die Entwicklung vielseitig setzen. Hiermit stellt sich also die Frage nach der Be-
anwendbarer neuer Materialien. Über Beiträge zur stimmung des Gegenstands und der Normativität
Nachhaltigkeit, das Konzept einer grünen Nano- von Nanoethik, also dem Verhältnis von matter of
technologie, die Vertrauenswürdigkeit des For- concern und ethical issue einerseits, ethischem Pro-
schungs- und Entwicklungsprozesses sowie verant- blem, Wertkonflikt und Urteilsbildung andererseits.
wortliche Innovation wird heute vornehmlich disku- (2) Die zweite Herausforderung hängt mit der
tiert. Hingegen ist kein Thema, ob und wie neue Diskontinuitätsannahme zusammen, die in die Defi-
Materialien die Textur unseres Alltags tiefgreifend nition der Nanotechnologie eingeschrieben ist, aber
verändern können – wie schon bei der Einführung auch für andere sogenannte NEST-Ethiken geltend
und Verbreitung des Kunststoffs entzieht sich diese gemacht wird (Ethics of New and Emerging Science
340 V. Technikfelder

and Technology; vgl. Swierstra/Rip 2007). Ethische schungsprogramm auszeichnen, das zwischen Ge-
Fragen stehen dabei immer unter dem Vorzeichen machtem und Gewordenem, Lebendem und Totem
der Vorbereitung auf das noch Unbekannte, was um- nicht mehr zu unterscheiden weiß (Dupuy 2007).
gekehrt bedeutet, dass Erfahrungswissen und der Dem Konsequentialismus entgegen stellen sich
schon verfügbare Bestand ethischer Theorien nicht auch im weitesten Sinne tugendethische Ansätze,
oder nur beschränkt aussagefähig sein sollen. Hier- die danach fragen, wie die nanotechnologische For-
mit entsteht der Bedarf, den Anspruch auf das ganz schung konstituiert ist, welche Auffassungen sie an
Neue oder Andere kritisch zu hinterfragen: Ist Na- ihren Gegenstand, die Natur und das Projekt einer
nomedizin oder Nanoelektronik vor allem die Fort- Weltgestaltung heranträgt, wie vertrauenswürdig
führung von theoretisch bereits erfassten und reflek- sie ist. Eine Zwischenposition nimmt hierbei ein
tierten Trends einer verwissenschaftlichten Medizin, vision assessment ein, das Forschungsprogramme
bzw. der Miniaturisierung, oder eröffnen sich thera- nicht nur auf ihre Realisierbarkeit und die vorge-
peutische Ansätze, die die bisherige klinische Praxis stellten Anwendungen hin befragt, sondern auch als
transformieren, bzw. die Möglichkeit neuartig in der Ausdruck einer ganz diesseitigen, heutigen Geistes-
Umwelt verteilter Kommunikationsnetzwerke? Dass haltung liest. Vielleicht bietet es daher einen beson-
Antworten auf diese Frage unterschiedlich ausfallen ders günstigen Ausgangspunkt, um nanoethische
können (nein für die Nanomedizin, ja für die Nano- Debatten auf ihren sachlichen Gehalt hin über-
elektronik), legt eine grundlegende Spannung offen: blicksartig darzustellen (Grin/Grunwald 2000;
Einerseits geht es darum, ethische Theorien und das Grunwald 2008).
historisch entwickelte Differenzierungsvermögen (4) Zu den Konsequenzen des Konsequentialis-
philosophischer Ethik fruchtbar zu machen, ande- mus lässt sich die vierte Herausforderung einer
rerseits setzt eben dies eine ganz anders orientierte nachgefragten ethischen Begleitforschung rechnen.
Unterscheidungskompetenz voraus, die tief in das Wer es sich zum Anliegen macht, mehr oder weni-
Feld eines technisch, wissenschaftlich und wissen- ger hypothetische sozio-technische Szenarien zu
schaftsphilosophisch sachverständigen technology bewerten, womöglich mit dem Anspruch, einige
assessment reicht (s. Kap. VI.4). Szenarien zu verhindern und andere zu ermögli-
(3) Ob und wie die philosophische Tradition für chen, verliert die Grenzen ethischer Reflexion aus
Nanoethik überhaupt fruchtbar gemacht werden den Augen. So verfällt die Nanoethik eben dem Ge-
kann, ist eine Frage, die sich mit dem dritten Pro- staltungsoptimismus, der an der Nanotechnologie
blemfeld einer nachfrageorientierten Nanoethik selbst zu kritisieren wäre. Beispielsweise hat das für
verbindet. Was nachgefragt wird, sind nämlich Be- seine ausgewogenen Urteile bekannte Woodrow
denken, Sorgen, Fragestellungen und Einschätzun- Wilson Center die Aufgabe von Gesellschaft und
gen, die sich auf mögliche Anwendungen der Nano- Politik im Umgang mit der Nanotechnologie wie
technologien beziehen. Damit wird die Nanoethik folgt beschrieben: Wie andere neue Technologien
tendenziell von vornherein auf eine konsequentia- käme auch das Wunderbare der Nanotechnologie
listische Herangehensweise festgelegt und einge- »in einer Schatztruhe voller Gutem und in einer mit
schränkt. In einem ersten Schritt geht es darum, so- Bösem gefüllten Büchse der Pandora«. Die Aufgabe
zio-technische Zukunftsszenarien anzunehmen bestünde nun also darin »aus dem Guten zu schöp-
oder zu imaginieren, um in einem zweiten Schritt fen und dabei den Deckel von Pandoras Büchse ge-
wenigstens zu benennen, wie diese Szenarien über- schlossen zu halten« (Davies 2008, 24). Schon die
lieferte Wertvorstellungen an ihre Grenzen führen. Formulierung dieser Aufgabe legt nahe, dass im ge-
Wenn die Nanotechnologie also überhaupt bewertet sellschaftlichen Umgang mit Nanotechnologie ähn-
wird, so nur an ihren in Aussicht gestellten Erzeug- lich Unmögliches möglich werden könne, wie es
nissen. Dass sich die philosophischen Traditionen bisweilen für ihre technischen Möglichkeiten gel-
der Ethik nicht auf diese Weise engführen lassen, tend gemacht wird. Hierbei geht es also nicht nur
hat vor allem bewirkt, dass viele Philosophen das um (mangelnde) Einsicht in die eigenen Grenzen,
Feld beherzteren Geistern überlassen haben. Es hat sondern auch um die (Un-)Möglichkeit kritischer
aber auch Gegenstimmen provoziert, die klugheits- Distanz gegenüber einem Gestaltungsoptimismus,
ethischen Ansätzen (s. Kap. IV.B.3) eine moralphi- der die Programme der Nanotechnologie allererst
losophische Perspektive entgegenhalten, der es motiviert und dem das Vertrauen zugrunde liegt,
nicht um Abwägungen geht, sondern um die unauf- das ganz Neue und Andere auch kontrollieren und
löslichen Konflikte, die ein metaphysisches For- regieren zu können.
18. Nanotechnologie 341

Bleibende Fragen chenschaft nicht dadurch bestimmt, wer etwas ur-


sächlich veranlasst hat, sondern danach, ob definier-
Die Kritik an einer im Modus der Begleitforschung ten Aufmerksamkeits-, Offenlegungs- oder Be-
betriebenen Nanoethik führt auf meta-ethische richtspflichten nachgekommen wurde. ›Jeder steht
Fragestellungen. Während einige dieser Fragestel- in der Verantwortung‹ heißt dann, dass jeder an der
lungen auf Einschränkungen und Grenzziehungen Entwicklung der Nanotechnologie beteiligt sein
führen, ergeben sich auch Weiterungen und Vertie- kann und damit auch gewisse Pflichten für das Ge-
fungen, die von allgemeinerem Interesse für die Be- meinwohl eingeht, sich also nicht etwa auf Betriebs-
wertung schlüsseltechnologischer Forschungspro- geheimnisse oder den bloßen Beobachterstatus zu-
gramme sind. rückziehen kann (Schomberg 2010). Beispiel für
Von ›verantwortlicher Entwicklung der Nano- eine derartige Konstruktion gegenseitiger Verant-
technologie‹ war lange die Rede und seither von wortlichkeit wäre hiernach etwa das no data, no
›verantwortlicher Innovation‹. Was damit gemeint market-Prinzip, demgemäß der Marktzugang nur
ist, erscheint auf den ersten Blick als ausufernde Ver- durch Offenlegung aller verfügbaren Daten über po-
dünnung, aber auch Zuspitzung des Verantwor- tenzielle Auswirkungen auf die Gesundheit von Ar-
tungsbegriffs (s. Kap. II.6). Dabei erweist sich insbe- beitern oder Konsumenten erkauft werden kann. Im
sondere die Verknüpfung von Verantwortung und Sinne einer kommunikativen Selbstverpflichtung er-
Rechenschaftspflicht in den auf breite Partizipation gibt sich hieraus auch, warum das oberste Prinzip
angelegten Entwicklungsprozessen der Nanotechno- des Verhaltenskodex Bedeutsamkeit (meaning) und
logie als schwierig. So heißt es in einem von der Eu- Verständlichkeit (comprehensibility) verlangt.
ropäischen Kommission formulierten Vorschlag zu Als schwieriger könnte sich die ethische Rechtfer-
einem freiwilligen Verhaltenskodex unter dem tigung dort erweisen, wo auf den ersten Blick gar
Stichwort Nachhaltigkeit: »N&N Forschungsaktivi- keine gefragt zu sein scheint – nämlich bezüglich der
täten sollten sicher und ethisch sein und zur nach- Forderung nach einer Ethisierung des Forschungs-
haltigen Entwicklung beitragen […] Sie sollten Men- prozesses selbst unter dem Stichwort ethics on the la-
schen, Tieren, Pflanzen oder der Umwelt jetzt und boratory floor (Swierstra/van der Burg 2013). Was
in der Zukunft keinen Schaden zufügen oder sie bio- sollte einzuwenden sein gegen die Sensibilisierung
logisch, physisch oder moralisch bedrohen«. Und für ethische Gesichtspunkte von ›gewöhnlichen‹ Na-
unter dem Stichwort Rechenschaftspflicht wird hin- noforschern? So wenig dagegen zu sprechen scheint,
zugefügt: »Forscher und Forschungsorganisationen so voraussetzungsreich und fragwürdig ist die For-
sollten verantwortlich bleiben für die Auswirkungen derung. Unterstellt wird hier, dass die gewöhnlichen
auf soziale, ökologische und menschliche Gesund- Forscher eine ungewöhnlich weitreichende For-
heit, die ihre nanowissenschaftlichen und -techni- schung betreiben, dass im Labor eine Art Weichen-
schen Forschungen auf jetzige und künftige Genera- stellung erfolgt, die für Politik und Öffentlichkeit
tionen haben können« (European Commission unzugänglich ist, also besonders verantwortungs-
2008). volle Forscher beansprucht. Vorausgesetzt wird
Während hier einerseits die Wirksamkeit eines auch, dass die Laborforschung gerade zur rechten
bloß freiwilligen Verhaltenskodex Skepsis auslöst, Zeit und am rechten Ort stattfindet, um einen Ein-
tut dies gleichermaßen die offenbar gar nicht einlös- griff in die Technikentwicklung weder zu früh noch
bare Rechenschaftspflicht. Wie soll jemand zur Re- zu spät vornehmen zu können. So problematisch
chenschaft gezogen werden, wenn womöglich kei- diese Annahmen sind, ist eine Rechtfertigung der
nerlei oder allenfalls ganz schwache Verursachung Forderung nach ethics on the laboratory floor immer
im Spiel ist, wenn Rechenschaft gleichermaßen für noch denkbar, vielleicht aber kann sie erst dann ein-
intendierte Folgen und langfristig unüberschaubare setzen, wenn sich das Selbstverständnis der For-
Nebenfolgen gefordert wird? Insofern die diesbe- schung bereits entsprechend gewandelt hat. So ist
zügliche Skepsis die politische und administrative die Forderung erst dann verständlich, wenn die For-
Glaubwürdigkeit des Kodex beeinträchtigt, ging es schung nicht mehr darin bestehen soll, neue Eigen-
auch den Verantwortlichen in der Europäischen schaften zu erkunden oder Phänomene beherrschen
Kommission um eine Antwort auf derlei Einwände. zu lernen, sondern von vornherein einem auf Welt-
So könnte es nach René von Schomberg auf die ge- gestaltung zielenden Designprozess gewidmet ist.
zielte Konstruktion von Mit-Verantwortlichkeit und Ein ganz anderer Experimentalbegriff tritt ange-
Gegenseitigkeit ankommen, wonach sich die Re- sichts der Schwierigkeiten in den Vordergrund, die
342 V. Technikfelder

Sicherheit von Nanopartikeln schon vor der Markt- Literatur


einführung nachzuweisen. Hiermit wird die Nano- Amato, Ivan: Nanotechnology: Shaping the World Atom by
technologie zum Test- und Probierfeld für das Kon- Atom. Washington: National Science and Technology
zept des kollektiven Realexperiments, in dem Nutzer Council – Committee on Technology (NSTC/CT) 1999.
und Konsumenten sich selbst zu Versuchskaninchen Crandall, B.C.: Nanotechnology: Molecular Speculations on
machen, an denen sie die Auswirkungen der Nano- Global Abundance. Cambridge 2000.
Davies, Clarence: Nanotechnology Oversight: An Agenda for
technologie in Echtzeit beobachten (Van de Poel
the New Administration. Washington: Project on Emer-
2009). Während das Humanexperiment unter La- ging Nanotechnologies, Woodrow Wilson International
borbedingungen ethisch kodifiziert ist, müssen die Center for Scholars, 2008.
ethischen Prinzipien erst artikuliert werden, die für Dupuy, Jean-Pierre: Some pitfalls in the philosophical
gesellschaftliche Lernprozesse im Modus des Kol- foundations of nanoethics. In: Journal of Medicine and
Philosophy 32/3 (2007), 237-61.
lektivexperiments gelten. So könnte etwa das schon
European Commission: Commission Recommendation of
bekannte Vorsorgeprinzip (s. Kap. VI.3) in diesen 07/02/2008 on a Code of Conduct for Responsible Nano-
Zusammenhang gestellt werden – es legt die Bedin- sciences and Nanotechnologies Research. Brüssel 2008.
gungen fest, unter denen ein Realexperiment abge- Ferrari, Arianna/Coenen, Christopher/Grunwald, Armin:
brochen werden muss. Dagegen ist beispielsweise Visions and ethics in current discourse on human en-
eine offene Frage, wie eine Entsprechung zum aus- hancement. In: NanoEthics 6/3 (2012), 215–229.
Friedl, Christian: Das Nanoschnitzel: Vision und Wirklich-
drücklichen Einverständnis (informed consent) zu keit in der Nanotechnologie Bayrischer Rundfunk, Erst-
formulieren wäre. ausstrahlung 23.10.03.
Die Vorstellung eines kollektiven Lernprozesses Grin, John/Grunwald, Armin (Hg.): Vision Assessment:
in Echtzeit konterkariert den Anspruch darauf, die Shaping Technology in 21st Century Society: Towards a
Zukunft der Technikentwicklung durch den strate- Repertoire for Technology Assessment. Berlin 2000.
Grunwald, Armin: Auf dem Weg in eine nanotechnologische
gisch situierten Eingriff in den Laboralltag gestalten Zukunft: Philosophisch-ethische Fragen. Freiburg 2008.
zu wollen. Diesen ganz unterschiedlichen Ausrich- Heckl, Wolfgang: Molecular self-assembly and nano-mani-
tungen philosophischer Aufmerksamkeit entspricht pulation: Two key technologies in nanoscience and tem-
der Kontrast zwischen einerseits ethischer Bewer- plating. In: Advanced Engineering Materials 6/10 (2004),
tung von Einstellungen oder Haltungen nanotech- 843–847.
Kaiser, Mario: Neue Zukünfte – Gegenwarten im Verzug.
nologischer Forschung, und andererseits ethischer In: Sabine Maasen/Mario Kaiser/Martin Reinhart/Bar-
Bewertung dessen, was sein könnte oder wird. In bara Sutter (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie.
diesem Problemfeld wird besonders intensiv die Wiesbaden 2012, 395–408.
Frage nach den Technologien zur Steigerung körper- Nordmann, Alfred/Macnaghten, Phil (Hg.): Symposium:
licher und geistiger Fähigkeiten (Human Enhance- Engaging narratives and the limits of lay ethics. In: Na-
noethics 4/2 (2010), 133–189.
ment, s. Kap. V.8) diskutiert. Hier formulieren sich Schomberg, René von: Organising collective responsibility:
interessante Zwischenpositionen, die sich beispiels- On precaution, codes of conduct and understanding pu-
weise dem Plausibilitätsbegriff zuwenden und Krite- blic debate. In: Ulrich Fiedeler/Christopher Coenen/Sa-
rien für eine verantwortungsvolle Auswahl sozio- rah Davies/Arianna Ferrari (Hg.): Understanding Nano-
technischer Szenarien entwickeln, bzw. die Diskre- technology – Philosophy, Policy and Publics. Heidelberg
2010, 61–70.
panz von reklamierter und tatsächlich erreichter Selin, Cynthia: Negotiating plausibility: Intervening in the
Eingriffstiefe thematisieren (Selin 2011; Ferrari/ future of nanotechnology. In: Science and Engineering
Coenen/Grunwald 2012). Ethics 17/4 (2011), 723–737.
Was von der Nanoethik bleibt, das sind hiernach Swierstra, Tsjalling/Rip, Arie: Nano-Ethics as nest-ethics:
vor allem metaethische Fragestellungen, die für die Patterns of moral argumentation about new and emer-
ging science and technology. In: Nanoethics 1/1 (2007),
Bewertung der neuen Schlüsseltechnologien insge-
3–20.
samt fruchtbar sind. Und auch dies deutet sich an: Swierstra, Tsjalling/van der Burg, Simone (Hg.): Ethics on
Wo ethische Reflexion den Rückbezug auf ihre eige- the laboratory floor: Towards a cooperative ethics for a re-
nen Traditionen und Theorien zu leisten vermag, sponsible technological future. Houndsmills 2013.
trägt sie zur Versachlichung des Umgangs mit den Van de Poel, Ibo: The introduction of nanotechnology as a
societal experiment. In: Simone Arnaldi/Andrea Loren-
Programmen und Projekten der Nanotechnologie
zet/Federica Russo (Hg.): Technoscience in Progress: Ma-
bei. naging the Uncertainty of Nanotechnology. Amsterdam
2009, 129–142.
Alfred Nordmann
343

19. Neurotechniken Rückrechnung der Magnetoenzephalographie (MEG)


und EEG auf den Kortex.
Gegenwärtig werden große Anstrengungen un-
In einer ersten Annäherung kann der neue und bis- ternommen, Dysfunktionen des Nervensystems mit
lang nicht eindeutig definierte Begriff der Neuro- Hilfe von mechatronischen Komponenten, die über
technik als Bezeichnung für technische Verfahren Mikrokontakte mit Nervengewebe verbunden wer-
verstanden werden, die neurobiologische, informa- den, zu kompensieren bzw. zu überbrücken. Das
tionstheoretische und ingenieurwissenschaftliche Einbringen von Cochlea-Implantaten ist mittler-
Methoden miteinander verbinden. Es wird ge- weile eine etablierte Operationsform, mit der annä-
meinhin unterstellt, dass Neurotechniken im Unter- herungsweise der Gehörsinn wiederhergestellt wer-
schied zu anderen Formen der Technik über ein er- den kann. Große Erwartungen richten sich auch auf
weitertes Beeinflussungspotenzial hinsichtlich des Retina-Implantate. Mit ihnen ist es allerdings nicht
Selbstverständnisses, der Wahrnehmung und Erfah- möglich, den Sehsinn wieder vollständig herzustel-
rung sowie der Lebensführung von Personen verfü- len. Es werden aber optische Orientierungen ermög-
gen. Das gilt neben Verfahren mit großer Eingriffs- licht, die den Umfang der Handlungsfähigkeit im so-
tiefe auch für die funktionelle Bildgebung, mit der zialen Raum gegenüber dem Zustand vor der Im-
neurale Prozesse, die für die Zustände und das Ver- plantation stark erweitern.
halten von Personen konstitutiv sind, veranschau- Aus Neurotechniken, die wie im Fall von Amputa-
licht werden können. tionen zur Kompensation von Bewegungseinschrän-
Das Feld der Neurotechnik kann in invasive und kungen eingesetzt werden, ergeben sich keine
nicht-invasive Anwendungen unterteilt werden. schwerwiegenden ethischen Probleme. Allenfalls ist
Darüber hinaus gibt es Techniken, die sowohl in- mit Entfremdungssyndromen bzw. Verschiebungen
vasive wie nicht-invasive Elemente enthalten. Das im Verständnis von Eigenem und Fremdem zu rech-
kennzeichnende Kriterium für die invasive Neuro- nen. Dem stehen aber auf der Seite der Patienten po-
technik ist die direkte Verbindung zwischen künstli- sitive Erfahrungen mit zumindest teilweise wieder-
chem Implantat oder Messvorrichtung und Nerven- gewonnener motorischer Kontrolle gegenüber. Da
gewebe. Das Kernstück von invasiven Verfahren ist neuroprothetische Verfahren zur Überbrückung von
die Gehirn-Maschine-Schnittstelle (Brain-Machine- Defiziten von außen auf den Patienten einwirken,
Interface, BMI) bzw. Gehirn-Computer-Schnittstelle müssen etwaige Manipulationsgefahren identifiziert
(Brain-Computer-Interface, BCI), die bei der Tiefen und ausgeräumt werden.
Hirnstimulation, der Vagusnervstimulation und der Neurotechniken sind Gegenstand extensiver nor-
Rückenmarkstimulation (Spinal Cord Stimulation, mativer Auseinandersetzungen, in denen neurode-
SCS), bei Implantaten wie beim Cochlea-Implantat terministische Ansätze (s. u.), die ausdrücklich oder
oder der künstlichen Retina (s. u.) sowie bei senso- zumindest stillschweigend unterstellen, dass men-
rischen Neuroprothesen eingesetzt werden. Erste tale Phänomene durch neuronale Mechanismen de-
Anwendungsfälle sind motorische Neuroprothesen, terminiert werden, stark vertreten sind. Auch jen-
die es Querschnittgelähmten ermöglichen, mit Hilfe seits von engen neurodeterministischen Positionen
von kortikal implantierten Mikroelektroden-Arrays wird in öffentlichen Diskursen davon ausgegangen,
Kontrolle über einen Greifarm zu gewinnen. dass sich externe Einwirkungen auf das Nervensys-
Bei nicht-invasiven Neurotechniken wird auf Ab- tem unmittelbar auf das Verhalten von Personen
leitungen von neuronalen Aktivitäten mit Hilfe der niederschlagen.
Elektroenzephalographie (EEG) zurückgegriffen.
Oft geht es um die Eröffnung von Interaktionsmög-
lichkeiten mit Patienten, die sich nicht mehr auf Neuroimaging
kommunikativ herkömmliche Weise mitteilen kön-
nen. Nicht-invasive Neurotechniken sind die Trans- Neuroimaging ist eine Form der Neurotechnik, die
kranielle Magnetstimulation und die Transkranielle Korrelationen zwischen neuronalen Prozessen und
Direkte Gleichstromstimulation sowie bildgebende mentalen Phänomenen zu visualisieren versucht.
Verfahren wie die Magnetresonanztomographie Dabei werden in Messverfahren Daten zum Aufbau
(MRT), die funktionelle Magnetresonanztomogra- und zur Funktionsweise des Gehirns erhoben und
phie (fMRT), die Positronen-Emissions-Tomogra- sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Verteilung
phie (PET), die Computertomographie (CT), die umgerechnet. Die Nachweise erfolgen indirekt
344 V. Technikfelder

durch die Erfassung der magnetischen Eigenschaf- Informationsrecht s. Kap. V.9) sowie des Patienten-
ten von Wasserstoffkernen in unterschiedlichen Ge- und Probandenschutzes.
webearten (MRT), der Sauerstoffbindung an das Hä- Um zu einer informierten Zustimmung in einem
moglobin (fMRT), des radioaktiven Zerfalls von ein- qualifizierten Sinne zu kommen und einen umfas-
gebrachten und markierten Substanzen (PET) oder senden Schutz von Patienten und Probanden ge-
direkt durch die Rückrechnung elektrischer Signale währleisten zu können, müssen die jeweiligen Belas-
(EEG) in Kombination mit struktureller Bildgebung. tungen der Untersuchungen genau ermittelt und in
Der Anwendungsbereich der funktionellen Bildge- ihren mittel- und langfristigen Folgen erfasst wer-
bung schließt sensorische und motorische Vorgänge den. Gefährdungen könnten insbesondere von den
genauso ein wie emotionale und kognitive Prozesse. Feldstärken der MR-Tomographen sowie von radio-
Mit der Klärung von Korrelationen zwischen aktiven Substanzen (PET) ausgehen.
neuronalen Prozessen und Erlebnissen verbinden Die Stärke der Magnetfelder bei Messungen be-
sich neue Optionen für medizinische Anwendun- wegt sich in der Regel zwischen 1.5 und 3 Tesla.
gen. Auf der Grundlage von durch fMRT gewonne- Nach heutigem Wissensstand gelten diese Größen-
nen Daten können etwa im Rahmen von Neurofeed- ordnungen im Hinblick auf mögliche Schädigungen
back-Verfahren Kommunikationssituationen mit als unbedenklich. In der Forschung steht aber mitt-
Patienten erzeugt werden, die unter einem Locked- lerweile eine Reihe von Geräten zur Verfügung, die
in-Syndrom leiden. Mit Bildgebung lassen sich auch über deutlich höhere Feldstärken verfügen. Um in
weitere Informationen zu den neuronalen Zustän- diesen Fällen zu einer verlässlichen Risikoabwägung
den von komatösen Patienten ableiten, die im Ideal- (s. Kap. IV.C.7) kommen zu können, müssen ent-
fall therapeutische Entscheidungen stützen können. sprechende Belastungsstudien in hinreichender
Eine für die jeweilige Person vollständig spezi- Zahl vorgenommen werden. Dabei ist der Unter-
fizierte Zuordnung von neuronalen Prozessen und schied zwischen Forschung und therapeutischer
subjektivem Erleben ist mit der funktionellen Bild- Maßnahme zu beachten. Was zur Identifikation und
gebung nicht möglich. Diese kann lediglich auf Behandlung einer Erkrankung im Zuge einer Abwä-
nicht-reflexartige Hirnaktivitäten in Assoziations- gung für den Patienten akzeptabel ist, kann gegebe-
arealen hinweisen. Gegenwärtig ist nur annähe- nenfalls einem Probanden nicht zugemutet werden.
rungsweise von allgemeinen Entsprechungen zwi- Im Rahmen von neurowissenschaftlichen For-
schen Einstellungen, Absichten und einfachen Ge- schungsprojekten kommt es zu unerwarteten Befun-
danken auf der einen Seite und erhöhter oder den, die daraufhin abgeklärt werden müssen, ob es
verminderter Aktivität in bestimmten Arealen des sich um nicht-behandlungsbedürftige neuroanato-
Gehirns auf der anderen Seite auszugehen. Beson- mische Varianten oder um Erkrankungen handelt.
dere Schwierigkeiten ergeben sich aus dem Sachver- Solche Zufallsbefunde können für Patienten wie für
halt, dass es unterschiedliche Korrelationsverhält- Probanden von großem Nutzen sein, wenn so
nisse zwischen bestimmten neuralen Prozessen und schwere Erkrankungen in einem frühen Stadium er-
Erlebnissen gibt. Beispielsweise kann eine erhöhte kannt werden, was gegebenenfalls die therapeuti-
Aktivität in einem spezifischen Areal mit emotiona- schen Möglichkeiten im Vergleich zum Zeitpunkt
len wie kognitiven Zuständen in Verbindung gebracht des ersten Auftretens von Beschwerden in der Regel
werden. stark erweitert.
Bildgebende Verfahren können entscheidend Die durch die Bildgebung deutlich verbesserten
zum Verständnis des Aufbaus sowie der Funktionen diagnostischen Möglichkeiten führen zu problema-
und Dysfunktionen des Gehirns beitragen. Sie er- tischen ethischen Situationen, wenn entsprechende
weitern die diagnostischen Optionen beträchtlich präventive bzw. therapeutische Optionen fehlen  –
und ermöglichen kontrolliertere Rahmenbedingun- was gegenwärtig bei demenziellen Erkrankungen
gen für neurochirurgische Eingriffe. Beim Einsatz der Fall ist. PET-Befunde können schon frühzeitig
der funktionellen Bildgebung zeichnen sich im Ver- ein sehr hohes Risiko anzeigen, an einer Alzheimer-
gleich zu anderen neurotechnischen Anwendungen Demenz zu erkranken. Der variable und zum Teil
keine grundsätzlichen normativen Schwierigkeiten lange Zeitraum, der nun zwischen der ersten Dia-
ab. Ethischer Klärungsbedarf besteht in den Berei- gnose und dem tatsächlichen Ausbruch der Erkran-
chen der informierten Zustimmung (zur Medizin- kung liegt, ist wegen der mit ihm einhergehenden
technik s. Kap. V.14), der Zufallsbefunde, des Um- Ungewissheit eine schwere Bürde für die weitere Le-
gangs mit Nicht-Wissen, des Datenschutzes (zum bensführung. Er bietet zwar die Möglichkeit, im
19. Neurotechniken 345

Sinne eines selbstbestimmten Lebensplans Vorkeh- verschiedenen Verfahren der Bildgebung gegen ih-
rungen für die zu erwartende Krankheit zu treffen, ren Willen private Daten preisgeben oder in ihrer
mit ihm verbinden sich aber v. a. auch schwere exis- Entscheidungsbildung manipulierbar sind, zumal
tenzielle Belastungen. Die Erwartung, sein Leben in alle einschlägigen experimentellen Szenarien auf der
hohem Maße autonom gestalten zu können, und der Seite der Patienten bzw. Probanden Interaktion oder
Wunsch, in Situationen, die therapeutisch nicht zu zumindest Mitwirkung voraussetzen.
beherrschen sind, den Anspruch auf ein unbefange-
nes Verhältnis zur zukünftigen Erkrankung bzw. auf
das Recht auf Nicht-Wissen in Anspruch zu neh- Tiefe Hirnstimulation
men, sind ethisch gleichermaßen gut begründet.
Unter den Bedingungen neuer diagnostischer Mög- Ein gut etablierter Bereich der Neurotechnik sind
lichkeiten können diese beiden Sichtweisen mitein- Interaktionssysteme, die mit technischen Mitteln auf
ander in Konflikt geraten. neuronale Prozesse einwirken. Wie im Fall der Tie-
Der lange Zeitraum zwischen mitgeteilter Dia- fen Hirnstimulation kommen sie vorrangig bei der
gnose und Ausbruch der Krankheit hat aufgrund der Therapie motorischer Dysfunktionen zum Einsatz.
mit dem Wissen einhergehenden psychischen Belas- Mittlerweile wird der Anwendungsbereich auf psy-
tungen eine Beeinträchtigung der Lebensqualität zur chiatrische Erkrankungen erweitert. Die Tiefe Hirn-
Folge. Der Zustand nach der frühen Diagnose weist stimulation ist das paradigmatische Modell für neu-
die Eigentümlichkeit auf, sich dem herkömmlichen rotechnische Interaktionssysteme. Sie kommt in
Krankheitsverständnis zu entziehen: Eine Person Betracht, wenn sich Patienten gegenüber herkömm-
wird sich weder unbefangen als gesund noch im lichen Therapiemaßnahmen resistent zeigen. Die
Sinne von Dysfunktionen als krank begreifen (dieser Behandlung von motorischen Dysfunktionen durch
Sachverhalt tritt auch bei prädikativen gentechni- die Tiefe Hirnstimulation ist mittlerweile ein gut
schen Diagnoseverfahren auf, s. Kap. V.7). Frühdia- etabliertes Verfahren. In anderen Bereichen befindet
gnosen auf der Basis von Neuroimaging weisen ei- sie sich technisch und therapeutisch noch in einer
nen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad auf, sie können Anfangsphase  – das gilt etwa für die Behandlung
aber keineswegs als Ausdruck von Zwangsläufigkei- von schweren Depressionen oder Suchterkrankun-
ten gedeutet werden. Zustände, die neurologisch gen. Insofern ist bei der Tiefen Hirnstimulation
oder genetisch lange vor deren Auftreten auf zu er- nicht von einem einheitlichen Verfahren, sondern
wartende Dysfunktionen verweisen, werden in der von unterschiedlichen Anwendungen für verschie-
Zukunft Anlass für Revisionen des herkömmlichen dene Krankheiten mit jeweils eigenen Zielpunkten
Verständnisses von Gesundheit und Krankheit bie- auszugehen. Diese Ausgangslage führt auch zu je-
ten. weils unterschiedlichen Zugängen für ethische Be-
Durch den umfassenden Einsatz von Neuroima- wertungen.
ging werden immer mehr Daten erhoben und Da- Die Tiefe Hirnstimulation ist ein invasives Ver-
tenbanken eingerichtet. Dieser Vorgang stellt eine fahren, bei dem Mikroelektroden des Stimulations-
permanente Herausforderung für den Datenschutz systems in einer mehrstündigen stereotaktischen
und die informationelle Selbstbestimmung dar (s. Operation tief in das Gehirn eingebracht werden.
Kap. V.9). Diese ist nicht mehr zu gewährleisten, Erwartungsgemäß haben sich viele postoperative
wenn für eine bestimmte Studie freigegebene Infor- Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, die bis in den Be-
mationen in Datenbanken eingehen und langfristig reich der personentypischen Verhaltensweisen rei-
vorgehalten werden. chen. Zu den Risiken der Tiefen Hirnstimulation
Es wird oft auf Gefährdungen von Persönlich- gehören intrakranielle Blutungen, Gewebeschädi-
keitsrechten, insbesondere der informationellen gungen, Infektionen, technische Defekte des Stimu-
Selbstbestimmung, oder Manipulationen durch lationssystems und v. a. nicht-intendierte Verände-
Neuroimaging hingewiesen. Prinzipiell ist nicht aus- rungen personaler Einstellungen wie aggressives
zuschließen, dass durch Neuroimaging erhobene Verhalten, Depressionen, erhöhte Suizidneigung,
Daten zu Eingriffen in das Allgemeine Persönlich- Hypomanie, Halluzinationen oder Apathie (vgl.
keitsrecht (APR) bzw. in das Recht auf informatio- Müller/Christen 2010).
nelle Selbstbestimmung führen. Unter den gegen- Aufgrund der Vielfalt neurotechnischer Einsatz-
wärtigen technischen Bedingungen ist allerdings möglichkeiten müssen sich normative Bewertungen
nicht davon auszugehen, dass Personen durch die direkt mit den jeweiligen Anwendungsfeldern ausei-
346 V. Technikfelder

nandersetzen. Das gilt für die Abgrenzung von The- denen sich Antworten auf Fragen nach der Akzep-
rapie und Enhancement (s. Kap. V.8) bzw. medizini- tanz und Rechtfertigungsfähigkeit von externer Be-
schen und nicht-medizinischen Eingriffen genauso einflussung der Persönlichkeit von Patienten in ei-
wie für die Analyse des Verhältnisses von Krankheit ner Weise orientieren können, die subjektive und
und Eingriffsfolgen. Die Bewertung des Einsatzes objektive Bestimmungen  – die Patientensicht und
der Tiefen Hirnstimulation bei psychiatrischen Er- die therapeutische Situation – zueinander in Bezie-
krankungen ist grundsätzlich mit der Schwierigkeit hung setzen.
belastet, dass sich diese selbst persönlichkeitsverän-
dernd auswirken. Die Frage der Eingriffsfolgen muss
deshalb anders beantwortet werden als etwa bei der Ethische Herausforderungen
Behandlung von motorischen Dysfunktionen. Auch
sind die Nebenwirkungen neurotechnischer Ein- Mit einer Reihe von Neurotechniken ist es möglich,
griffe in ihren langfristigen Folgen noch nicht gut direkt auf das zentrale Nervensystem einer Person
verstanden. Deshalb müssen in jedem Einzelfall einzuwirken. Von derartigen Eingriffen kann nicht
Abwägungen mit den psychischen und physischen erwartet werden, dass sie die jeweiligen Patienten in
Belastungen, die durch die Krankheit entstehen, ihrer Persönlichkeitsstruktur unberührt lassen. Un-
vorgenommen werden. Allerdings herrscht in der abhängig von herkömmlichen Risikoabwägungen
medizinethischen Forschung noch kein klares Ver- stellt sich in ethischer Hinsicht die Frage, ob Persön-
ständnis darüber, welche Kriterien dabei zur An- lichkeitsveränderungen im Zuge neurotechnischer
wendung kommen sollten (vgl. Synofzik/Schlaepfer Eingriffe immer als unzulässig einzustufen sind. Die
2008; Glannon 2009). Frage ist zu verneinen, wenn sich die Krankheit als
Der Begriff der Persönlichkeit bezieht sich auf die die größere Bedrohung für die Autonomie des Pati-
Dispositionen, Einstellungen und Verhaltensweisen, enten als der neurotechnische Eingriff erweist. In
die im Leben einer Person Dauer bzw. Kontinuität der modernen Philosophie der Psychologie herrscht
aufweisen. Er weist objektive, der medizinischen dahingehend Konsens, dass in dieser Entschei-
Diagnose zugängliche Bestimmungen genauso auf dungssituation nicht auf ein ›natürliches Selbst‹ oder
wie subjektive Bestimmungen, die nur begrenzt einen ›Wesenskern‹ der Person als Bewertungs-
kommunizierbar sind. Das Verhältnis von objekti- grundlage zurückgegriffen werden kann. In prakti-
ven und subjektiven Bestimmungen der Persönlich- scher Hinsicht kann es insofern nur darum gehen,
keit fällt praktisch spannungsreich aus. Bei der Tie- welche Form der Veränderung auf jeden Fall ver-
fen Hirnstimulation ist etwa mit der Möglichkeit zu mieden werden sollte.
rechnen, dass Veränderungen der Persönlichkeit aus Es lassen sich in diesem Zusammenhang eine
medizinischer Sicht oder aus der Sicht der Angehö- Reihe von Kennzeichen psychiatrischer Erkrankun-
rigen als problematisch angesehen, vom Patienten gen benennen, die für Beschädigungen personalen
jedoch begrüßt werden. In dieser Problemsituation Lebens charakteristisch sind. Das gilt für umfas-
wird des Öfteren ein Authentizitätsgedanke ins Spiel sende Passivität, drastische Einschränkungen von
gebracht, dem aber große epistemische Hindernisse Aktivitätspotenzialen sowie für den Verlust eines
entgegenstehen: Praktisch lässt sich nur schwer fest- kohärenten Lebensplans. Die Veränderung von Per-
stellen, wann eine Willensbekundung als authen- sönlichkeitsmerkmalen gehört nicht notwendiger-
tisch gelten kann. Das gilt selbst für die entsprechen- weise in den Bereich der Beschädigungen. Unabhän-
den subjektiven Einstellungen, die von relevanten gig von Prognosen und sorgfältigen Risikoabwägun-
und nachvollziehbaren Informationen abhängig und gen kann am Ende immer die Einsicht stehen, dass
in spezifische soziale Kontexte eingebettet sind. Er- ein neurotechnischer Eingriff zu Einschränkungen
schwerend kommt hinzu, dass viele Anwendungen der Autonomie einer Person geführt hat. Es wäre
der Tiefen Hirnstimulation bei Patienten vorgenom- dann immer noch zu bedenken, ob ohne diesen Ein-
men werden bzw. vorgenommen werden müssen, griff nicht ein noch schlechterer Zustand vorgelegen
deren Einwilligungsfähigkeit aufgrund des Krank- hätte.
heitsverlaufs eingeschränkt ist. Es ist in der einschlägigen Forschung umstritten,
Das Feld der invasiven Neurotechnik erzwingt ob es bei ethischen Bewertungen auf die Identität
neue normative Bewertungen zum Verhältnis von der Person ankommt. Oft wird gegen schwere neu-
Therapie und Persönlichkeitsveränderung. Dabei rochirurgische Eingriffe eingewendet, dass sie zu
müssen v. a. ethische Kriterien etabliert werden, an schweren Veränderungen der Identität führen wür-
19. Neurotechniken 347

den. Der Ausdruck ›personale Identität‹ bezeichnet Ansatz lässt sich auch auf die normative Analyse der
eine Relation, die größere Unterschiede der darin in Neurotechnik übertragen. Beim Einsatz neurotech-
Beziehung gesetzten Begriffe durchaus zulässt. Es nischer Verfahren sind hohe Anforderungen an die
mögen sich vielleicht Diskrepanzen zu vorherigen Wahrung der Patienten- bzw. Probandenautonomie
Einstellungen und Verhaltensweisen abzeichnen, bei der Umsetzung der aufgeklärten Einwilligung zu
aber es wäre immer noch ein und dieselbe Person, erfüllen. Bei Patienten muss eine durchgreifende
die an der Zeitstelle t1 spezifische Eigenschaften und Verbesserung der Lebensqualität absehbar und bei
an der Zeitstelle tn andere Eigenschaften hat. Die Probanden eine Verschlechterung nicht zu erwarten
Identität der Person über die Zeit hinweg ist durch- sein. Die Schadensvermeidung ist im Zuge einer
aus mit größeren Veränderungen von Einstellungen, umfassenden Risikoabwägung zu gewährleisten (s.
Charakter und Verhaltensweisen kompatibel. Kap. IV.C.7), die bei Patienten v. a. die Eingriffstiefe
Neurotechnische Eingriffe sind in der Regel Ma- und die psychische Situation vor dem Eingriff be-
nipulationen von neuronalen Vorgängen und mittel- rücksichtigt. Bei der Bewertung der therapeutischen
bar Veränderungen von Eigenschaften und Fähig- Situation sind Eingriffstiefe, Invasivität, Zielgenau-
keiten einer Person, ihr eigenes Leben zu führen. Bei igkeit auf der einen Seite und zu erwartende thera-
neurotechnischen Eingriffen und insbesondere bei peutische Wirksamkeit sowie die durchgreifende
der Tiefen Hirnstimulation sind letztlich lebens- Verbesserung der Lebensqualität auf der anderen
praktisch folgenreiche Fragen zur normativen An- Seite zueinander in Beziehung zu setzen. Schließlich
wendung des Begriffs der Persönlichkeit zu beant- ist der Zugang zu den neurotechnischen Verfahren
worten (s. o.). Es gibt aber bislang weder eine breitere sozial gerecht zu gestalten (zur Gerechtigkeit s. Kap.
Verständigung über die psychologische Semantik IV.B.9).
noch Ansätze zu einer konsensfähigen Konzeption
der normativen Bestimmungen von Persönlichkeit
bzw. von normativ relevanten Eigenschaften einer Neurodeterminismus
Person. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen
neurotechnischen Entwicklungen erscheint die de- Im Hintergrund von Bewertungen der Neurotech-
skriptive und normative Neubestimmung von Per- nik stehen zuweilen neurodeterministische Annah-
sönlichkeit bzw. Personalität im Sinne der Einheit men, nach denen menschliches Verhalten durchgän-
oder Kontinuität personaler Eigenschaften und Fä- gig durch neuronale Mechanismen festgelegt wird.
higkeiten als ein Desiderat interdisziplinärer For- Für die unterschiedlichen Formen der Neurotechnik
schung der Neurowissenschaften, Psychologie, Psy- scheinen in der gegenwärtigen Forschungssituation
chiatrie und Ethik. Die ethische Bewertung vieler neurodeterministische Positionen nahegelegt zu
neurotechnischer Anwendungen bliebe ohne eine sein. Bei der Bewertung des Für und Wider neuro-
Neubestimmung systematisch und inhaltlich unvoll- deterministischer Szenarien muss zwischen einem
ständig. allgemeinen naturalistischen Standpunkt, der die
Der Bereich der Neurotechniken verfügt über ein Einheit der Wirklichkeit und die Einheit bzw. Kom-
großes innovatives Potenzial und ist entsprechend patibilität wissenschaftlicher Disziplinen unterstellt
durch hohe Forschungstätigkeit gekennzeichnet, die und Verfahren nicht zurückholbarer Eliminationen
durch eine entsprechende forschungsethische Praxis unterschieden werden. Für den Bereich der Neuro-
begleitet werden sollte. Kriterien der forschungsethi- techniken scheint in methodischer oder zumindest
schen Bewertung sind v. a. wissenschaftlicher und in pragmatischer Hinsicht die Einnahme eines natu-
therapeutischer Nutzen, wissenschaftliche Qualität ralistischen Standpunkts unvermeidlich zu sein.
und gute wissenschaftliche Praxis, Risikoabwägung Auch auf methodische Reduzierungen kann kaum
und ethische Prüfung bzw. Abwägung, hohe Stan- verzichtet werden (vgl. Singer 2012). Methodische
dards für die aufgeklärte Einwilligung von Proban- Reduktionen sind konstruktive Schritte, die auf hö-
den, faires Studiendesign sowie umfassender Pro- heren Abstraktionsebenen wieder rückgängig ge-
bandenschutz (vgl. Emanuel et al. 2000). macht werden können. Nur enge eliminativistische
Ethische Bewertungen der Biowissenschaften Verfahren haben eine konstruktive Auflösung von
werden in der Regel auf der Grundlage der sog. vier Bewusstseins- in Gehirnprozesse zur Folge. Es sind
Prinzipien  – Autonomie, Wohltun bzw. Fürsorge, derartige Verfahrensweisen, welche die wissen-
Schadensvermeidung und Gerechtigkeit  – vorge- schaftstheoretische Kritik auf sich ziehen (vgl. Ben-
nommen (vgl. Beauchamp/Childress 2009). Dieser nett/Hacker 2003; Sturma 2006; Falkenburg 2012).
348 V. Technikfelder

Die Visualisierung des Gehirns ist nicht nur ein Schneider, Frank/Fink, Gereon (Hg.): Funktionelle MRT in
zentraler Bestandteil neurotechnischer Grundlagen- Psychiatrie und Neurologie. Heidelberg 22007.
Singer, Wolf: Neuronale und bewusste Prozesse  – Eine
forschung und therapeutischer Anwendungen, son-
schwierige Beziehung. In: Julian Nida-Rümelin/Elif
dern wirkt durch die medialen Vervielfältigungen Özmen (Hg.): Welt der Gründe. Hamburg 2012.
von Neurobildern auch auf persönliche und soziale Sturma, Dieter (Hg.): Philosophie und Neurowissenschaften.
Verständigungen über personales Leben. In öffentli- Frankfurt a. M. 2006.
chen Diskursen über das persönliche oder kulturelle Synofzik, Matthis/Schlaepfer, Thomas E.: Stimulating per-
Selbstverständnis übt Neuroimaging als vorgebliche sonality: Ethical criteria for deep brain stimulation in
psychiatric patients and for enhancement purposes. In:
Visualisierung des Geistes beträchtliche Wirkungen Biotechnology Journal 3/12 (2008), 1511–1520.
aus. Über den Weg der Bildgebung verbreiten sich
Dieter Sturma
neurodeterministische Annahmen auch außerhalb
fachwissenschaftlicher Grenzen. Es hat sich eine
Reihe von Publikationsformaten etabliert, welche
die vielfältigen Folgen neurowissenschaftlicher For-
schung für unser Alltagsleben thematisiert. Aller-
dings muss als umstritten gelten, welche Aussage-
kraft die Visualisierungen im Einzelnen tatsächlich
haben. Zunächst kann im Hinblick auf das Verhält-
nis von neuronalen Mechanismen und bewusstem
Erleben nur von Korrelationsbefunden ausgegangen
werden. Von Repräsentationen phänomenaler Er-
eignisse auf neuronaler Ebene kann allenfalls vage
und unspezifisch gesprochen werden.

Literatur
Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: Principles of Bio-
medical Ethics. New York/Oxford 62009.
Bennett, M. R./Hacker, P.M.S.: Philosophical Foundations of
Neuroscience. Malden/Oxford 2003.
Emanuel, Ezekiel J./Wendler, David/Grady, Christine:
What makes clinical research ethical? In: The Jounal of the
American Medical Association 283/20 (2000), 2701–2711.
Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus. Wieviel er-
klärt uns die Hirnforschung? Berlin/Heidelberg 2012.
Glannon, Walter: Bioethics and the Brain. Oxford/New
York 2007.
– : Stimulating brains, altering minds. In: Journal of Medical
Ethics 35/5 (2009), 289–292.
Heinrichs, Bert: A new challenge for research ethics: Inci-
dental findings in neuroimaging. In: Bioethical Inquiry
8/1 (2011), 59–65.
Illes, Judy/Desmond, John E./Huang, Lynn F. et al.: Ethical
and practical considerations in managing incidental fin-
dings in functional magnetic resonance imaging. In:
Brain and Cognition 50/3 (2002), 358–365.
Illes, Judy/Kirschen, Matthew P./Edwards, Emmeline et al.:
Incidental findings in brain imaging research. In: Science
311/5762 (2006), 783–784.
Müller, Sabine/Christen, Marcus: Mögliche Persönlich-
keitsveränderungen durch Tiefe Hirnstimulation bei
Parkinson-Patienten. In: Nervenheilkunde 29/11 (2010),
779–783.
Schleim, Stephan/Spranger, Tade M./Urbach, Hans/Walter,
Henrik: Zufallsfunde in der bildgebenden Hirnfor-
schung. Empirische, rechtliche und ethische Aspekte. In:
Nervenheilkunde 26/11 (2007), 1041–1045.
349

20. Raumfahrt staatlich geförderte technische Praxis etabliert hat,


realisiert sich durch sie kein regelmäßiger Personen-
oder Güterverkehr  – auch nicht in absehbarer Zu-
Als großtechnisches Unternehmen mit teilweise kunft. Vielmehr ist hier die Vorstellung von der Er-
sehr ambitionierten Zielen hat die Raumfahrt nicht füllung einzelner zweckgerichteter ›Missionen‹ lei-
nur von Anbeginn fasziniert, sondern war auch tend, anstelle zu absolvierender ›Flugpläne‹. Damit
Thema kritischer gesellschaftlicher Auseinanderset- unterscheidet sich die Realität der Raumfahrt erheb-
zung. Die Geschichte der Raumfahrt begann mit der lich von technikaffinen Visionen, die sie zeitweise
erfolgreichen Demonstrationsmission des russi- begleitet haben und die auch Gegenstand mancher
schen Satelliten »Sputnik« im Jahr 1957. Sie markiert programmatischer Überlegungen zur Exploration
zugleich den ersten Meilenstein zum Wettlauf ins des Weltraums waren bzw. sind. Diese Missionsori-
All, an dem sich die Großmächte UdSSR und USA entierung der Raumfahrt hat somit die Konsequenz,
messen lassen wollten, indem sie zunehmend dass Raumfahrtunternehmungen immer relativ
schwierigere Ziele zu verwirklichen trachteten (be- teure, ›maßgeschneiderte‹ Einzelanfertigungen dar-
mannte Flüge, Mondlandung, Raumstation und stellen. Sie erfüllen im Einzelnen vielfältige Zwecke,
Langzeitaufenthalte im All). Die Entwicklung der wie der Kommunikation, Ortung und Erkundung
Raumfahrt wurde in ihren ersten Jahrzehnten ganz sowie der Forschung unter Weltraumbedingungen
wesentlich vom ›Kalten Krieg‹ bzw. vom Wettstreit durch geeignete Satelliten und Sonden bzw. durch
der politischen Systeme vorangetrieben. Genauge- Forschungsplattformen im All (Raumstation). Letz-
nommen hatten bereits die hierfür notwendigen ra- tere sind zwar auf längere Zeitdauer ausgerichtet, be-
ketentechnischen Visionen, Überlegungen und Ent- inhalten aber hohe laufende Betriebskosten und er-
wicklungen z. B. von Jules Verne, Heinrich Oberth fordern den regelmäßigen Austausch von Personal
und Wernher von Braun einen mehr oder weniger und Gütern.
expliziten militärischen Hintergrund. Gleichwohl
sollten die Anfänge der amerikanischen und sowje-
tischen Satellitenprojekte auch ganz dezidiert den zi- Bemannte oder unbemannte Raumfahrt?
vilen Forschungszielen des »Internationalen Geo-
physikalischen Jahres 1957« dienen. Auch die wei- Bemannte Raumfahrtunternehmen sind in techni-
tere Erkundung des Weltalls und des Sonnensystems scher und finanzieller Hinsicht besonders aufwendig
war bei den raumfahrttreibenden Nationen immer und angesichts ihrer sensiblen menschlichen ›Nutz-
gleichzeitig von wissenschaftlichen Motiven getrie- last‹ auch riskant. Ausgeklügelte Lebenserhaltungs-
ben. Hinzu kommt, dass die globale Sicht auf den ei- systeme und Versorgungsgüter, die nur mit hohem
genen Planeten erst durch die Erdbeobachtung aus zusätzlichen energetischen Aufwand ins All trans-
dem Orbit ermöglicht wurde (»Overview-Effekt«). portiert werden können, ermöglichen den Astro-
Die Entwicklung der Raumfahrt, ihre Ambiva- nauten zwar ein Überleben und Arbeiten in der le-
lenz und die öffentlichen Kontroversen insbeson- bensfeindlichen Umgebung des Weltalls, lassen aber
dere über ihre bemannten Aktivitäten sind als para- die spezifischen Missionskosten in die Höhe schnel-
digmatisch zu nennen für das Spannungsverhältnis len. In dem Zusammenhang erlangte die »Sänger-
zwischen moderner Technik und aufgeklärter Ge- Studie« des Büros für Technikfolgenabschätzung
sellschaft sowie für deren weitere Gestaltung. Dabei beim Deutschen Bundestag (TAB 1992) ein beson-
spielen neben ihrer umstrittenen Alimentierung mit deres Echo in Deutschland. Auf der Basis realisti-
erheblichen Summen öffentlicher Mittel offenbar scher Start- und Landeszenarien führten ihre Mach-
auch kulturelle Gesichtspunkte oder solche der Iden- barkeits- und Wirtschaftlichkeitsabschätzungen am
tifikation mit der jeweiligen Raumfahrtnation eine Ende zur Stornierung des deutschen Hochtechnolo-
Rolle, wenn man z. B. das deutsche Meinungsbild gie-Programms für wieder verwendbare Raum-
hierzu mit den entsprechenden Haltungen in den transportsysteme. Nach dem jüngsten Ende der US-
USA oder in Russland vergleicht. Gleichwohl scheint amerikanischen Shuttle-Ära bringen sich nun kom-
der Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinander- merzielle Raumfahrtunternehmen auf dem noch
setzung hierüber überschritten zu sein. jungen Markt für bemannte Trägermissionen in Po-
Raumfahrt ist nicht einfach eine Form der Mobi- sition (Stern 2012), die gleichwohl zu überwiegen-
lität (s. Kap. V.17), wie Luft- oder Schifffahrt. Ob- den Anteilen auf Aufträge der öffentlichen Hand
schon sie sich seit einigen Dekaden als überwiegend hoffen.
350 V. Technikfelder

Unbemannte Raumfahrtsysteme sind in jedem genden völkerrechtlichen Bedenken. Allerdings


Fall wesentlich kostengünstiger, da sie erheblich we- wird dieser durch die relativ freizügige Datenpolitik
niger sicherheitskritische, materielle und energeti- der am europäischen Global Monitoring for Environ-
sche Anforderungen an die Nutzlastunterstützung ment and Security-System (GMES) beteiligten Län-
stellen. Robotische oder teleoperative Systeme ver- der oder ähnlichen Drittstaaten-Initiativen relati-
mitteln insofern zwischen beiden Seiten, als dass sie viert und könnte somit Missbrauchs- und Prolifera-
oder ihre Raumfahrtsegmente zwar unbemannt tionsgefahren sensibler Daten nach sich ziehen.
sind, aber den menschlichen Handlungsraum durch Vergleichbare Risiken werden sich auch im Zuge der
Aktuatoren und Manipulatoren ins All erweitern. So Realisierung des GPS-analogen Ortungssystems
sollen robotische Marsmissionen mit optischen Sen- »Galileo« einstellen (Geiger 2005). Die notwendige
soren und Kameras den Planeten quasi aus der Per- gesellschaftliche Kontrolle wird zudem durch den
spektive eines menschlichen Beobachters erkunden Trend zur Privatisierung vormals staatlicher Erkun-
und virtualisieren so seine bemannte Exploration in dungsaufgaben erschwert. Die zunehmende Kom-
einem beschränkten Maße. Desgleichen ermögli- merzialisierung unbemannter Fernerkundungs-
chen teleoperierte Systeme z. B. die gefahrlose Repa- systeme mag zwar Gewinne an Kosteneffizienz
ratur und Fernwartung von Satelliten von der jeweils versprechen, entzieht aber den Aufsichtsorganen
zuständigen Bodenstation aus. notwendige Informationen z. B. für die Regulierung
Aus der bisherigen Darstellung gewinnt man be- der Transparenz personen- oder gruppenbeziehba-
reits einen ersten Eindruck von der Grundlage, auf rer Daten. Staatliche Aufsicht ist damit zunehmend
der sich die öffentliche Diskussion über den Wert und mit dem Problem des ›Hinterherlaufens‹ hinter der
Nutzen von Raumfahrt vollzieht. Angesichts des un- Entwicklung in diesem Sektor konfrontiert. Hier be-
abweisbaren kommerziellen und gesellschaftlichen steht Klärungs- und Regelungsbedarf zugunsten der
Nutzens von Satelliten für die Telekommunikation, Privatsphäre und damit der Persönlichkeitsrechte
Wettervorhersage, Umwelt- und Weltraumforschung des Einzelnen, auch im Haftungsfall (Smith 2009).
und Krisenreaktion sowie angesichts ihrer moderaten Weitere Akzeptanzprobleme, mit denen sich
spezifischen Kosten scheint zunächst unbemannte manche zivile Erdbeobachtungssysteme konfron-
Raumfahrt aus gesellschaftlicher Sicht wünschbar tiert sehen, sind ihre sog. Dual-use-Fähigkeiten
oder zumindest unbedenklich zu sein (Bauer et al. (s. Kap. IV.C.11) und somit mögliche zweckfremde
1999). Dieses provisorische Urteil lässt sich dagegen Nutzungen zugunsten militärischer Vorhaben. Hier
für die bemannte Raumfahrt so nicht fällen, ist aber stellen sich zudem noch Abgrenzungsprobleme ein,
gleichwohl einer genaueren Prüfung zu unterziehen. z. B. hinsichtlich der diesbezüglichen Unterschei-
Dabei sind auch Fragen der Zwecke und Folgen von dung von Umweltinformationsdiensten und Verifi-
Raumfahrt zu erörtern, um diese in technikethischer kationsaufgaben. Moralische und politische Beden-
Hinsicht kritisch würdigen zu können. ken stellen sich auch angesichts des privilegierten
Zugangs zu hochauflösenden Satellitendaten und ih-
rer exklusiven Nutzung durch die Raumfahrtnatio-
Gesellschaftliche Fragen unbemannter nen und/oder durch die Betreibergesellschaften. Ge-
Raumfahrt rechtigkeitsfragen (s. Kap. IV.B.9) ergeben sich dabei
durch die faktische Diskriminierung überflogener
Bei näherer Betrachtung der Folgen von Raumfahrt Drittstaaten, die gleichwohl Bedarf an Geoinforma-
tauchen Akzeptanzprobleme auf, die keinesfalls auf tion haben und einfordern. Hier schafft die »Inter-
bemannte Aktivitäten im All beschränkt sind. So er- national Charter on Space and Major Disasters« ei-
möglichen die sog. »UN Remote Sensing Principles« nen Rahmen innerhalb dessen die europäische
den raumfahrttreibenden Nationen eine umfas- GMES-Initiative und ihr globales Pendant Group on
sende Erkundungsfreiheit der (unbemannten) Erd- Earth Observation (GEO) mehr Kooperation und
beobachtung aus dem All, die aber mögliche infor- freizügigen Datenzugang versprechen (Schreier
mationsethische Berechtigungen Dritter z. B. über 2012). Gleichwohl taucht damit die Frage auf, wie
öffentlich zugängliche Plattformen, wie GoogleEarth man auch die Drittnutzer von Satellitendaten ggf.
verletzen könnte. Immerhin regelt das deutsche Sa- auf den Schutz gefährdeter Persönlichkeitsrechte  –
tellitendatensicherheitsgesetz (SatDSiG) den Um- wie oben umrissen – verpflichtet.
gang mit hochauflösenden Fernerkundungsdaten Schließlich sind auch mit der zunehmenden Häu-
durch einen Genehmigungsvorbehalt z. B. bei vorlie- figkeit und Ausdehnung bemannter sowie unbe-
20. Raumfahrt 351

mannter Raumfahrtaktivitäten Probleme verknüpft, nutzenorientierten Zwecke und damit auf die öko-
die neue Lösungen erfordern oder den unbeschränk- nomische Rationalität (Kambartel 1982), die das lei-
ten Zugang zum All begrenzen. Zum letzten Punkt tende Paradigma in den Wirtschafts- und Sozialwis-
gehört das Problem des Weltraumschrotts (space senschaften und in den von ihnen geprägten Ansät-
debris), dessen Menge mit der kumulativen Zahl der zen der Technikfolgenabschätzung sind (Weyer
Raumfahrtmissionen korrespondiert, daher ständig 1994). Aus dieser Perspektive muss bemannte
zunimmt und Astronauten wie Satelliten zuneh- Raumfahrt kritisch beurteilt werden, da ihr kom-
mend gefährdet. Sich neu etablierende Raumfahrt- merzieller Nutzen nicht absehbar ist und ihr Kosten-
nationen könnten sich insofern benachteiligt fühlen, Nutzen-Verhältnis für den wissenschaftlichen Ertrag
als dass sich diese einem regulativen Regime unter- oder spezifischen Problemlösungsbeitrag  – insbe-
geordnet sehen, dessen Veranlassung sie nicht verur- sondere angesichts unbemannter Alternativen – un-
sacht haben. Beschränkungen werden zudem für günstig ausfällt. So können automatisierte Experi-
unbemannte und bemannte Missionen auch hin- mente im All, teleoperierte Systemwartungen im
sichtlich des Zugangs zu planetaren Körpern disku- Erdorbit oder robotische Missionen zu planetaren
tiert (planetary protection), um diese in ihrer Ur- Körpern vielfach den Menschen ersetzen, wenn das
sprünglichkeit für die langfristige wissenschaftliche Nutzenmotiv im Vordergrund steht. Eine kritische
Erforschung bzw. als »Schutzgebiete« zu erhalten Analyse des Diskurses um bemannte Raumfahrt
(Williamson 2003). Eine besondere Rolle spielt hier wurde in der sog. SAPHIR-Studie vorgenommen
die Vermeidung von biologischen Kontaminationen (DLR 1993).
erdähnlicher Körper (Mars). »Die […] Projekte der bemannten Raumfahrt
müssen sich also gegenüber unbemannten Alternati-
ven rechtfertigen lassen […]« – so das Statement von
Zwecke und Rechtfertigungsprobleme Fritz Gloede (2011, 382). Der Autor fordert in dem
bemannter Raumfahrt Zusammenhang, es müsse nachgewiesen werden,
inwieweit die Bemannung zu gesellschaftlichen
Wie oben dargestellt, sieht sich die bemannte Raum- Zwecken beitragen kann. Nun sind nicht alle Zwecke
fahrt angesichts ihrer hohen Kosten vor erhebliche einer Gesellschaft utilitärer Natur bzw. auf Gewinn-
Legitimationsprobleme gestellt. Hinzu kommt, dass erzielungsabsichten hin ausgerichtet. So wird z. B.
das allgemeine Interesse an bemannter Raumfahrt Sportförderung, Schauspiel und auch das Kunst-
bereits nach den ersten Mondlandungen abnahm schaffen subventioniert, ohne dass dabei marktfä-
und es ihren Befürwortern zunehmend schwer fiel, hige Güter entstehen. Dennoch wird die Alimentie-
diese vor dem Hintergrund ihrer öffentlichen Ali- rung des öffentlichen Kulturbetriebs nicht grund-
mentierung hinreichend zu rechtfertigen. Dabei sätzlich in Frage gestellt (vgl. Korff et al. 1999, 346).
wird von den Proponenten nach wie vor zumindest Die Kultur einer Gesellschaft konstituieren somit
langfristig ein Nutzen von bemannter Raumfahrt jene Zwecke, Mittel und Güter, die entweder unmit-
und ihrer möglichen spin-offs in Aussicht gestellt. So telbar nutzenorientiert oder eben nicht-utilitär sind
erhoffte man sich aus der bemannten Forschung (Gethmann 1994). Letztere stehen überwiegend im
unter Schwerelosigkeit bereits in den 1980er Jahren öffentlichen Interesse, sind aber als solche den Re-
einen Schub in Richtung Werkstoffproduktion im geln des Marktes nicht zugänglich. Ihre Förderung
All und deren Kommerzialisierung, die sich aller- wäre somit ggf. auch rational. Die prinzipielle Duali-
dings nicht bewahrheitete. Kritiker bemängeln u. a. tät von Zwecksetzungen lässt sich auch für den Teil-
hier die materialforschenden Astronauten selbst bereich des technischen Handelns in der Raumfahrt
als Quelle gestörter Mikrogravitationsbedingungen, rekonstruieren (ebd.). Somit sind die spezifischen
während Befürworter bemannter Raumfahrtaktivi- Zwecke der Raumfahrt zu beleuchten, bevor man
täten auf das intelligente Handeln des Menschen über die sachgerechte Wahl der Mittel urteilt – also
und seine flexiblen Interventionsmöglichkeiten hin- ob und inwieweit die Bemannung als Mittel in der
weisen. Raumfahrt zweckrational ist.
Unabhängig von den jeweiligen Einschätzungen Nachdem bemannte Raumfahrt für utilitäre Zwe-
eint viele Befürworter und Kritiker die Suche nach cke kurz- bis mittelfristig als eher ungeeignet er-
dem (langfristig) monetären Nutzen als Kriterium scheint, könnte sie aber ein Mittel für andere, näm-
für die Statthaftigkeit bemannter Raumfahrt. Dieser lich trans-utilitäre Zwecke sein. Wenn diese Zwecke
»technische Utilitarismus« beschränkt sich auf die aber partikularistischer Natur und damit potentiell
352 V. Technikfelder

konflikterzeugend sind, dann sind sie  – obschon Prinzip Verantwortung von Hans Jonas zurückfüh-
zweckrational  – nicht legitimierbar. Dies war z. B. ren, das sich im Zweifel gegen technische Innovatio-
der Fall, als der Wettlauf ins All von UdSSR und USA nen ausspricht (s. Kap. IV.B.2). Den raumfahrtkriti-
in den 1950er und 1960er Jahren die Überlegenheit schen Gedanken setzt Carl Friedrich Gethmann
des jeweiligen Gesellschaftssystems demonstrieren (1994; 2006) das Ethos der Transzendenz entgegen,
sollte. Dagegen wäre das Streben nach einer fried- das er mit Rückgriff auf anthropologische Arbeiten
vollen politischen Kultur auf der Erde ein gebotener z. B. von Max Scheler (1976) und Arnold Gehlen
Zweck, zu dem auch bemannte Raumfahrt beitragen (1986) entwickelt (s. Kap. IV.A.3) und auf die Raum-
könnte, etwa durch internationale Kooperation in- fahrt überträgt. Danach stünde es im Überlebens-
nerhalb komplexer und aufwendiger Vorhaben, die interesse des Menschen, seine Grenzen zu über-
nur gemeinsam getragen werden können, wie z. B. schreiten, um sein Anpassungsdefizit gegenüber der
der Aufbau und Betrieb der Internationalen Raum- Natur und seinen anspruchsvollen Zwecksetzungen
station. Die Pluralität der beteiligten Raumfahrtnati- auszugleichen. An anderer Stelle (DLR 1993) ist ent-
onen und deren Teilhabe an neuen Optionen wären sprechend von »Situationstranszendenz« die Rede.
demzufolge als Element einer polyzentrischen Welt- Unklar bleibt hier, ob sich diese Maxime auf berech-
ordnung zu sehen. Ein anderer legitimierbarer tigte individuelle Überlebens- und Entwicklungsin-
Zweck wäre langfristig etwa auch die extraterrestri- teressen Handelnder bezieht, oder ob damit letztlich
sche Erweiterung der menschlichen Kultursphäre die Persistenz der Menschheit als (biologische) Art
durch bemannte Erkundung des Sonnensystems z. B. durch Umsiedlung auf ferne Planeten mittels
und durch menschliche Präsenz im All. Die perspek- hochentwickelter Raumfahrttechnik gesichert wer-
tivische Entwicklung der conditio humana hin zu ei- den soll.
ner »kosmischen Kultur« würde anthropologisch
und historisch an das Veränderungsbedürfnis des
Menschen bzw. an die großen Entdeckungsreisen Raumfahrt als Kulturaufgabe?
der Geschichte anknüpfen (Gethmann 2006). Diese
hatten gleichwohl – wenn man wissenschaftliche Er- Nach den Erörterungen in diesem Beitrag erscheint
kenntnis als nutzenstiftend ansieht  – auch utilitäre Raumfahrt zunächst ganz allgemein als eine von
Aspekte (Knobloch 2006; Larson 2011), die gleich- mehreren Optionen der technischen Auseinander-
falls für die intelligente Erkundung planetarer Kör- setzung mit der Natur als Kulturleistung. (Geth-
per reklamiert werden (Wasserburg 1986). Die er- mann 2006). Inwieweit diese Leistung als Kulturauf-
wähnten Zusammenhänge begründen zwar keine gabe gewürdigt werden kann, hängt von ihrer ratio-
prioritäre Gebotenheit bemannter Raumfahrt, las- nalen Kritik ab. Pragmatisch ist der Gang der Kritik
sen sie aber statthaft erscheinen – nach gesellschaft- bemannter oder unbemannter Raumfahrt zunächst
licher Abwägung anderer Kulturoptionen – auch un- auf die Legitimität ihrer jeweiligen Zwecke zu bezie-
ter Kostengesichtspunkten. hen. So wäre der aggressive Wettlauf der damaligen
Residuale moralische Bedenken gegen bemannte Supermächte USA und UdSSR ins All aus technik-
Raumfahrt lassen sich unter der Forderung nach ethischer Sicht schwer zu rechtfertigen gewesen,
Suffizienz subsummieren. Sie reichen von Selbstbe- auch wenn z. B. ihre Mondlandemissionen einen ho-
scheidungserwartungen angesichts des bisher tech- hen wissenschaftlichen Zusatznutzen entfaltet ha-
nisch Erreichten und angesichts dringender terres- ben, da dieser Wettlauf wohl primär die Demonstra-
trischer Anliegen (z. B. Kampf gegen den Welthun- tion von Überlegenheit der jeweiligen Kontrahenten
ger) über risiko-averse Haltungen bezüglich der bezweckte. Anders dagegen die friedliche Koopera-
Lebensfeindlichkeit des Weltalls bis hin zum Postu- tion beim Aufbau der internationalen Raumstation
lat der Sakrosanz des Weltalls bzw. der naturgegebe- als Beitrag zur polyzentrischen Weltordnung; hier,
nen terrestrischen Grenze menschlichen Handelns. wie in vielen anderen Bereichen der bemannten
Hinsichtlich der Geltungsansprüche entsprechender Raumfahrt sind aber für den weiteren Gang der
Maximen stellt sich die Frage, inwieweit sie univer- kritischen Analyse diese und ggf. weitere trans-utili-
salisierbar sind. So sind Sakrosanz und natürliche tären Zwecke zu rekonstruieren, da sie von den Ak-
Grenzen religiöse bzw. deskriptive Kategorien, deren teuren oftmals nicht hinreichend explizit gemacht
Berücksichtigung partikularistischen bzw. naturalis- werden bzw. sich auf utilitäre und teilweise wieder-
tischen Sichtweisen genügt. Motive der Risikoaver- legbare Argumente beschränken. So ist Multilatera-
sion und Selbstbescheidung lassen sich z. B. auf das lität ein legitimer Zweck, zu dem bemannte Raum-
20. Raumfahrt 353

fahrt ein zweckmäßiges Mittel unter mehreren Al- Korff, Wilhelm et al. (Hg.): Handbuch Wirtschaftsethik. Bd.
ternativen darstellen kann. Die Nicht-Exklusivität 4, Stichwort »Kunst«. Gütersloh 1999, 334–347.
Knobloch, Eberhard: Erkundung und Erforschung: Alex-
schwächt allerdings die Argumentation für be-
ander von Humboldts Amerikareise. In: Poiesis & Pra-
mannte Raumfahrt (Ott 1997). Damit wendet sich xis. International Journal of Ethics of Science and Techno-
der Gang der kritischen Erörterung von Legitimität logy Assessment 4/4 (2006), 267–289.
zur Analyse der Zweck-Mittel-Rationalität. Die Ent- Larson, Edward J.: Turning the world upside down. In: Na-
scheidung für oder gegen eine Alternative bei gege- ture 480 (2011), 29–31.
benem legitimem Zweck ist nun unter Nutzen- bzw. Ott, Konrad: Zur neueren deutschen Debatte um die be-
mannte Weltraumfahrt. In: Johannes Hoffmann: Irratio-
Kostengesichtspunkten zu fällen, um effektive und nale Technikadaption als Herausforderung an Ethik,
effiziente Lösungen zu ermöglichen. Bei bestimm- Recht und Kultur. Frankfurt a. M. 1997, 81–141.
ten Zwecken (Erweiterung des menschlichen Kul- Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Ge-
turraums) ist bemannte Raumfahrt naturgemäß sammelte Werke. Bd. 7. Bern 1976.
ohne terrestrische Alternative. Ihre Legitimität vor- Schreier, Gunter: International coordination in the use of
remote sensing data. In: Mildred Trögeler/Stephan Ling-
ausgesetzt, wird man sie aber angesichts konkurrie- ner (Hg.): Remote Sensing Regional Climate Change.
render terrestrischer Zwecke und nach Abwägung ESPI Report 41, European Space Policy Institute, Wien
der Kosten nicht prioritär umsetzen können, mit der 2012.
Konsequenz, dass diese Raumfahrtzwecke ggf. auf- Smith, Lesley J.: Rechtliche Fragen der Bereitstellung von
zugeben bzw. zurückzustellen sind. Erdbeobachtungsdaten. In: Stephan Lingner/Wolf Rath-
geber: Globale Fernerkundungssysteme und Sicherheit.
Danach kann bemannte Raumfahrt als kulturelle Beiträge durch neue Sicherheitsdienstleistungen? Graue
Option für bestimmte legitime Zwecke gelten. Sie ist Reihe 49. Bad Neuenahr-Ahrweiler 2009, 85–97 (http://
weder apodiktisch abzulehnen, noch ist sie geboten, www.ea-aw.de/fileadmin/downloads/Graue_Reihe/
und damit ist sie Gegenstand wiederholter technik- GR_49_GlobaleFernerkundungssysteme.pdf, 29.04.2013).
politischer Entscheidungen. Stern, Alan: Commercial space flight is a game-changer. In:
Nature 484 (2012), 417.
TAB: Technikfolgenabschätzung zum Raumtransportsys-
Literatur tem SÄNGER. Büro für Technikfolgen-Abschätzung
beim Deutschen Bundestag. Arbeitsbericht Nr. 14 (1992).
Bauer, Peter/Seboldt, Wolfgang/Klimke, Michael: Earth Wasserburg, Gerald J.: Exploring the planets. A strategic
and climate control: can space technology contribute? but practical proposal. In: Issues in Science and Techno-
In: Space Policy 15 (1999), 27–32. logy (National Academy of Sciences) 3/1 (1986), 78–86.
DLR (Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raum- Weyer, Johannes: Raumfahrt als Großtechnologie. Tech-
fahrt) (Hg.): Technikfolgenbeurteilung der bemannten nikkontroversen und Technikfolgenabschätzung in
Raumfahrt. Systemanalytische, wissenschaftstheoretische netzwerktheoretischer Perspektive. In: Armin Grun-
und ethische Beiträge: ihre Möglichkeiten und Grenzen. wald/Hartmut Sax (Hg.) Technikfolgenbeurteilung der
Abschlussbericht für das BMFT, DLR-TB-318-1993/01. Raumfahrt. Anforderungen, Methoden, Wirkungen. Ber-
Köln-Porz 1993. lin 1994, 65–64.
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung Williamson, Mark: Space ethics and the protection of the
in der Welt. Bonn 1986. space environment. In: Space Policy 19/1 (2003), 47–52.
Geiger, Gebhard: Europas weltraumgestützte Sicherheit.
Stephan Lingner
Aufgaben und Probleme der Satellitensysteme Galileo und
GMES. SWP-Studie, Stiftung Wissenschaft und Politik,
Berlin 2005.
Gethmann, Carl Friedrich: Die Ethik technischen Han-
delns im Rahmen der Technikfolgenbeurteilung. Am
Beispiel der Raumfahrt. In: Armin Grunwald/Hartmut
Sax (Hg.): Technikfolgenbeurteilung der Raumfahrt. An-
forderungen, Methoden, Wirkungen. Berlin 1994, 146–
157.
– : Manned space travel as a cultural mission In: Poiesis &
Praxis. International Journal of Ethics of Science and
Technology Assessment 4/4 (2006), 239–252.
Gloede, Fritz: Die Kontroverse um den gesellschaftlichen
Nutzen von Raumfahrt. In: Reinhard Coenen/Karl-
Heinz Simon (Hg.): Systemforschung, Politikberatung
und öffentliche Aufklärung. Kassel 2011, 380–401.
Kambartel, Friedrich: Nutzen. In: Jürgen Mittelstraß (Hg.):
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd.
2. Stuttgart/Weimar 1982, 1045–1046.
354 V. Technikfelder

21. Robotik Androide aus Star Trek, zum Verwechseln men-


schenähnlich), das Roboter-Kind David (äußerlich
ebenfalls einem Kind ähnlich, aus dem Film A.I.  –
Spätestens mit Ron Arkins (2007) Überlegungen, Künstliche Intelligenz, dessen »Liebes-Chip« aktiviert
autonome Robotersysteme, die in der Lage sind zu wird) und Marvin (der Prototyp für Roboter mit
töten, mit ethischen Regeln auszustatten, hat die »echtem menschlichem Persönlichkeitsbild« aus Per
Technikethik ein neues Betätigungsfeld erhalten. Sie Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams).
ist unmittelbar mit der Frage verbunden, nach wel- Dessen Persönlichkeit zeichnet sich vor allem da-
chen ethischen Regeln Menschen im Kriegsfalle tö- durch aus, dass er sich ständig über alles beklagt und
ten, denn die Ersetzbarkeit menschlicher Handlun- depressiv ist. Alle diese Roboter dürfen insbesondere
gen durch robotische Systeme kann als Kerngedanke in der Gesamtheit ihrer Fähigkeiten als heute tech-
der Robotik angesehen werden. nisch unerreicht und möglicherweise auch uner-
reichbar gelten. Nichtsdestotrotz prägen sie das Bild
von Robotern und ihren Eigenschaften in der Gesell-
Begriffsgeschichte und Definition schaft. Eine Tatsache, die den Roboterentwicklern
gleichermaßen Nach- und Vorteil ist: Zum einen
Robotik darf, ähnlich wie das Förderband, als ein zeigen sich unbedarfte Zuschauer teilweise ent-
zentraler Begriff der Industrialisierung angesehen täuscht ob der (im Vergleich bescheidenen) Perfor-
werden. Als Schlüsselelement der industriellen Fer- manz, die modernste Robotertechnik heute errei-
tigung gilt die Zerlegung von Fertigungsprozessen in chen kann, zum anderen handelt es sich bei der Ro-
deren einzelne Arbeitsschritte. Der Effizienzgewinn botik um eine der Technologien, die schon weit vor
wurde dadurch erreicht, dass menschliche Hand- ihrer technischen Einführung in der Gesellschaft be-
werker nicht mehr das komplette Produkt fertigten, kannt war, was mögliche Ressentiments verringern
zum Beispiel einen Schrank oder ein Auto. Mit der kann (Christaller et al. 2001, 218).
Zerlegung der Produktion in ihre einzelnen Hand- Dieses Spannungsfeld zwischen einem ›bewegli-
lungen, wie beispielsweise das Aussägen des Türblat- chen Bestandteil einer Automatisierung‹ und einem
tes oder das Drehen einer Welle, war der Weg berei- ›Menschen zum Verwechseln ähnlich‹ kennzeichnet
tet für eine Automatisierung derselben, weil je ein- auch die technikethische Befassung mit der Robotik.
zeln analysiert werden konnte, ob die Handlung Die Ersetzbarkeit des Menschen kann als Ausgangs-
technisch ausführbar ist. basis der Betrachtungen herangezogen werden. Sie
Klassische Definitionen machen deutlich, dass wird beispielsweise nach technischen (Ist es tech-
Roboter als Universal-Werkzeug verstanden werden nisch machbar?), ökonomischen (Ist das kosten-
(VDI-Richtlinie 2860 [1990], weitgehend für inter- günstiger?), rechtlichen (Darf man diese Handlung
nationalen ISO-Standard 8373 [1994] übernom- ersetzen?) oder ethischen (Soll man diese Handlung
men): »Ein Roboter ist ein frei und wieder program- ersetzen?) Kriterien beurteilt. Bei Robotern, die
mierbarer, multifunktionaler Manipulator mit min- Menschen zum Verwechseln ähnlich sind, ist es die
destens drei unabhängigen Achsen, um Materialien, Gesamtheit aller Handlungen, die diesen Eindruck
Teile, Werkzeuge oder spezielle Geräte auf program- vermitteln. Allan Turing hat dieses »zum Verwech-
mierten, variablen Bahnen zu bewegen zur Erfül- seln« im Turing-Test mit Blick auf die Künstliche In-
lung der verschiedensten Aufgaben.« telligenz (KI) auf den Punkt gebracht, indem er die
Der Begriff ›Roboter‹ seinerseits wurde in der Li- Ununterscheidbarkeit zur Testaufgabe machte. Heu-
teratur geprägt und vom tchechischen robota für tige Tests wie zum Beispiel die RoboCup-Wettbe-
»Arbeit« abgeleitet, als der tschechische Schriftsteller werbe zielen nicht auf die KI alleine ab, stellen aber
Karel Čapek 1921 Rossum ’ s Universal Robots (1923) auch und gerade die Ersetzbarkeit in das Zentrum in
veröffentlichte. In diesem Theaterstück möchte der den Bereichen Fußballspielen, Rettung und Erledi-
Erfinder Rossum Maschinensklaven für seine Fami- gungen zuhause (http://www.robocup.org/).
lie bauen. Er brachte stattdessen seine Familie selbst
in die Sklaverei. Mit dieser Ambivalenz befassen sich
seither Sciencefiction-Literatur und -Filme. Hier Industrierobotik
›findet‹ man die am weitesten entwickelten Roboter,
wie wortgewandte humanoide Roboter im ›Blechde- Die Industrierobotik wird als eine Erfolgsgeschichte
sign‹ (C3PO aus Star Wars), Commander Data (ein der Industrialisierung angesehen. Seit Jahren wer-
21. Robotik 355

den Industrieroboter in nennenswerter bis großer qualifizieren, oder sie müssen, wieder das Angebot
Stückzahl verkauft und eingesetzt. 1998 waren vorausgesetzt, mit einer minderwertigeren Arbeit
720.400 Einheiten weltweit installiert und 2009 vorlieb nehmen, die auch schlechter vergütet ist.
mehr als eine Million Industrieroboter im Einsatz. Letztendlich kann es sogar dazu führen, dass sie kein
Die Anwendungsgebiete liegen in der Metall, Kunst- Angebot mehr erhalten. Die technische Innovation
stoff und Holz verarbeitenden Industrie. Branchen- bringt also Gewinner und Verlierer in Bezug auf den
bezogen gibt es nach wie vor einen Schwerpunkt in Status ex ante hervor, die nach utilitaristischen
der Automobilindustrie. Überlegungen (s. Kap. IV.B.4) gerechtfertigt sein
Die Technikfolgenforschung stellte die Verände- mögen. Denn, so das Argument, mit der Einführung
rung der Arbeit (s. Kap. IV.C.6) durch die Einfüh- des Fertigungsroboters wird immerhin überhaupt
rung von Industrierobotern in das Zentrum der noch Arbeit nachgefragt, während ansonsten mögli-
Überlegungen (Bartenschläger 1982; Malsch et al. cherweise Fertigungen, in denen nicht auf Automa-
1984; Urban 1988; Fischer/Lerl 1991). Vor dem Hin- tisierung gesetzt wurde, in Niedriglohnländer ausge-
tergrund der Tatsache, dass in den seltensten Fällen lagert werden müssten (Christaller et al. 2001, 21).
der gesamte Fertigungsprozess automatisiert werden Aus prinzipienethischer Sicht kann es geboten sein,
kann, kommt es notwendigerweise zu einer Kombi- hier entsprechende Kompensationen anzubieten.
nation aus Handlungen, die von Menschen ausge- (2) Das Instrumentalisierungsverbot weist, abge-
führt werden und Aktionen von Robotern. Setzt leitet aus dem Kategorischen Imperativ (s. Kap.
man ein ökonomisches Entscheidungskalkül voraus, IV.B.5), darauf hin, dass es der Würde einer Person
so werden diejenigen Arbeiten, die man mit akzepta- widerspricht, bloß als Mittel für einen ihr äußerli-
blem Aufwand automatisieren kann, automatisiert, chen Zweck eingesetzt zu werden (Kant 1968, 429).
während die restlichen Arbeiten weiterhin von Men- Andererseits kann eine nutzenethische Betrachtung
schen ausgeführt werden müssen. Vereinfacht gesagt Einschränkungen der Autonomie und Würde einzel-
kommt es dabei zu zwei Effekten: Da einerseits nur ner Personen zulassen, wenn das mit Hinweis auf
noch Anteile des Fertigungsprozesses von Menschen übergeordnete und umfangreichere Nutzenerwägun-
ausgeführt werden, kommt es zu einem down-skill- gen begründet werden kann. Damit ergibt sich für
Effekt, d. h. die Nachfrage nach komplexeren Fähig- die Beantwortung der Frage, ob eine Person in einem
keiten reduziert sich, die Nachfrage nach einfache- konkreten Handlungskontext instrumentalisiert wer-
ren Tätigkeiten erhöht sich. Andererseits erhöht sich den darf oder nicht, ein Interpretationsspielraum,
die Anzahl der technischen Überwachungsaufgaben der allerdings nicht den grundlegenden Gedanken
über die Tätigkeiten der Roboter. Dies kann ein up- des Instrumentalisierungsverbots in Frage stellt,
skill-Effekt sein: Höherwertige Arbeit wird nachge- nämlich sich umkehrende Zweck-Mittel-Relationen
fragt. Der ökonomische Nutzen geht normalerweise aufzudecken. Infolgedessen muss für eine ethische
mit dem Nettoeffekt einher, dass insgesamt in einer Beurteilung, ob das Einbringen von Robotern in die
Produktion weniger Arbeitsplätze benötigt werden, Fertigung instrumentalisierend wirkt, der konkrete
d. h. Personalkosten gesenkt werden. Handlungskontext herangezogen werden. Wenn sich
Aus technikethischer Sicht sind demnach zwei in einem Fertigungsprozess die Kombinationen aus
Fragen zu klären: (1) die Verteilungsgerechtigkeit in menschlichen und robotischen Tätigkeiten so dar-
Bezug auf die Arbeit und (2) die Gefahr einer Instru- stellen, dass der menschliche Arbeiter nur noch die
mentalisierung der menschlichen Arbeiter im Ferti- nicht rentabel robotisierbaren Übergangsarbeiten
gungsprozess. übertragen bekommt, kann das durchaus einer nicht
(1) Mit der Einführung einer technischen Innova- akzeptablen Instrumentalisierung gleichkommen.
tion, hier eines Fertigungsroboters, sind Folgen (zu Eine wesentliche Komponente bei der Beurteilung
Technikfolgen s. Kap. II.5) verbunden, die von den des Handlungskontextes nimmt dabei auch die Ar-
unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich bewer- beitsumgebung an sich ein. In der industriellen Ferti-
tet werden. Das Management, die Qualitätskontrolle gung ist zumeist eine Anpassung der Fertigungsum-
und die Arbeitnehmervertretung schätzen die Ver- gebung an die Automatisierung nötig. Dazu gehören
änderungen möglicherweise je sehr unterschiedlich beispielsweise auch Sicherheitskäfige um Fertigungs-
ein. Für die Arbeitnehmer bestehen nach oben skiz- roboter. Die konkrete Ausgestaltung dieser Umge-
ziertem Modell zwei Möglichkeiten. Entweder sie bung kann unter Umständen den Eindruck eines Ar-
sind in der Lage und erhalten das Angebot, sich beiters, ein »Rädchen im Fertigungsgetriebe« zu sein,
durch Fortbildung für die höherwertige Tätigkeit zu im schlimmsten Falle noch verstärken.
356 V. Technikfelder

Servicerobotik in lebensweltfernen reich des Serviceroboters betreten. Damit ist auch


Dienstleistungen die Möglichkeit gegeben, dass diesen Personen ein
Schaden durch den Roboter zugefügt wird, gefolgt
Mit Servicerobotern sind alle Nicht-Produktions- von der Frage, wer für die Verursachung dieses Scha-
roboter gemeint. Ihnen wird seit geraumer Zeit ein dens verantwortlich ist. Die Verantwortungsethik
ähnliches Innovationspotential wie Industrierobo- (s. Kap. II.6) als eine spezielle konsequentialistische
tern vorhergesagt (Schraft/Schmierer 1998). Von Ethik widmet sich dem Adressatenproblem der Ver-
den etwa 77.000 Servicerobotern für gewerbliche antwortung und zeichnet das Bestimmen des Sub-
Anwendungen, die bis Ende 2010 weltweit verkauft jekts oder der Subjekte der Verantwortung als wich-
wurden, wurden die meisten im Bereich Verteidi- tige Aufgabe aus. »Die Arbeitsteiligkeit des Han-
gung, Rettung und Sicherheit (30 %) eingesetzt, ge- delns löst die Folgenverantwortung nicht einfach
folgt von der Landwirtschaft (25 %) – hier vor allem auf, sondern verteilt sie auf die involvierten Indivi-
Melk- und Ernteroboter (World Robotics 2010; zur duen nach Maßgabe ihrer Bedeutung in dem be-
Agrartechnik s. Kap. V.1). In diesen Bereichen wer- treffenden kollektiven Handlungszusammenhang«
den Serviceroboter mit einem menschlichen Exper- (Bayertz 1991, 190). Im Fall der Servicerobotik ist
ten gemeinsam eingesetzt und unter dessen Aufsicht die Verteilung der Verantwortung zwischen dem Be-
und/oder in einem geschützten Raum (wenn auch treiber oder Halter des Serviceroboters und dem Ro-
nicht im Sinne einer Fertigungshalle) betrieben. Oft boterproduzenten aufgeteilt. Kann man hier davon
kann der Serviceroboter als eine Erweiterung der ausgehen, dass diese Aufteilung beim Betrieb tech-
menschlichen Handlungsfähigkeit beschrieben wer- nischer Anlagen eingespielten Üblichkeiten folgt,
den. Mithilfe von Überwachungsrobotern kann bei- so  stellen moderne Robotersysteme, insbesondere
spielsweise ein größeres Gelände überwacht werden. dann, wenn sie sich adaptiv an konkrete Aufgaben
Mit einem Melkroboter lassen sich im gleichen Zeit- anpassen können, neue Fragen. Es mehren sich die
intervall mehr Kühe melken etc. Der ökonomische Stimmen in den Rechtswissenschaften, dass sowohl
Nutzen, auch hier am deutlichsten über die Reduk- zivilrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Aspekte
tion von Personalkosten darstellbar, ist weniger ein beim Betrieb von Servicerobotern zu berücksichti-
down-skill, sondern das Substituieren von menschli- gen sind (Beck 2010; Decker et al. 2011).
chen Arbeitern. Die neuen Aufgabenbereiche (up-
skill) betreffen Überwachung und die möglicher-
weise nötige Steuerung der Robotersysteme und Servicerobotik in der Lebenswelt
könnten Schulungen zum ›Führen eines Servicero-
boters‹ erforderlich machen. In diesem Bereich kommen noch zwei weitere As-
Aus technikethischer Perspektive sind zunächst pekte hinzu. Zum einen werden Serviceroboter in
analog zu den Industrierobotern die Verteilungsge- privaten Umgebungen von Personen betrieben, die
rechtigkeit und auch das Instrumentalisierungsver- das nicht in einem beruflichen Sinne tun und ge-
bot zu berücksichtigen. Letzteres ist möglicherweise meinhin nicht durch besondere Schulungen darauf
hier weniger virulent, da im Dienstleistungsbereich vorbereitet werden. Das heißt, ein Kunde kauft ein
gemeinhin keine ähnlich kleinteilige Aufteilung der Produkt Serviceroboter, z. B. einen Staubsaugerro-
Handlungen wie bei der industriellen Produktion boter, und nimmt diesen in seiner privaten Woh-
möglich ist. Dennoch ist eine kontextabhängige nung in Betrieb. Zum anderen werden Servicerobo-
Analyse geboten. ter unmittelbar an Menschen eingesetzt, zum Bei-
Zusätzlich rückt bei den Servicerobotern eine spiel bringen diese Roboter Getränke oder werden
Verantwortlichkeit gegen unbeteiligte Dritte in den in die Pflege älterer oder kranker Menschen einge-
Fokus. Die Umgebung eines Serviceroboters lässt bunden, ob nun im privaten Umfeld oder im Kran-
sich vielfach nicht komplett auf den Serviceroboter kenhaus oder Pflegeheim. Die Akteurskonstellation
einstellen. Beispielsweise ist ein zu überwachendes ist dann im Vergleich zum vorherigen Kapitel erwei-
Gebiet oder auch der Einsatzbereich eines selbstfah- tert: Einerseits gibt es auch eine professionelle Fach-
renden Traktors, der im sogenannten Folgebetrieb kraft (Pflegekraft), die den Roboter als Mittel zum
einem von einem Menschen gefahrenen Traktor Zweck in der Pflege einsetzt. Andererseits ist mit
folgt, nicht beliebig anpassbar. Unbeteiligte Dritte, dem/der zu Pflegenden eine weitere Person im
z. B. Fahrradfahrer am Feldrand oder Passanten am Handlungskontext, an der oder in deren Umfeld der
Zaun eines Geländes, können den Anwendungsbe- Robotereinsatz stattfindet.
21. Robotik 357

Beim Einsatz in einem privaten Umfeld ist die Graubereich zwischen der Produzentenhaftung und
Adaptivität oder auch die Lernfähigkeit eines Robo- der Halterhaftung entstehen (Christaller et al 2001,
ters ein zentraler Aspekt seiner Funktionsfähigkeit. 220; Matthias 2004).
In einer privaten Wohnung erstmals installiert, ist es Schließlich stellen sich auch in diesem Falle Fra-
kaum vorstellbar, dass der Nutzer eine komplette gen der Verteilungsgerechtigkeit (s. Kap. IV.B.9), al-
Programmierung des Roboters vornimmt. Ein lerdings anders gelagert als die oben beschriebenen.
Staubsaugerroboter muss eigenständig – autonom – Robotersysteme, die für Patienten und ältere Men-
die neue Umgebung erfassen können und dann die schen einen Autarkiegewinn darstellen und dazu
Dienstleistung, das Staubsaugen, beginnen. Beim beitragen können, dass man noch länger in der eige-
Einsatz am Menschen erhöht sich die Anforderung nen Wohnung und damit im gewohnten sozialen
in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist die Anpassung Umfeld leben kann, sind nicht preiswert. Ob und in-
an je unterschiedliche Nutzer eine größere Heraus- wiefern ein solidarisch getragenes Versicherungssys-
forderung als an unterschiedliche Räumlichkeiten, tem die Kosten übernehmen kann und wird, ist un-
zum anderen sind die Bedingungen der Möglichkeit geklärt. Es droht eine Ungerechtigkeit dahingehend,
einer Anpassung deutlich anspruchsvoller. Eine dass nur diejenigen Personen ein solches Roboter-
selbst vorgenommene Erstinstallation eines Staub- system nutzen können, die auch in der Lage sind, es
saugerroboters in einer neuen Wohnung könnte selbst zu finanzieren.
zum Beispiel durchaus eine oder mehrere ganze
Nächte in Anspruch nehmen. Das mag zwar für den
Bewohner lästig sein, aber es kann ohne sein Zutun Grenzen der Ersetzbarkeit des Menschen
oder seine Anwesenheit erfolgen. Bei der Anpassung
an Menschen muss diese notwendigerweise mit dem Die Ersetzbarkeit des Menschen wurde hier in ei-
Menschen gemeinsam geschehen. Ein zeitaufwändi- nem klaren Zweck-Mittel-Zusammenhang gedeutet.
ger Initialisierungsprozess, der dann in einen Nor- Es geht jeweils um – mehr oder weniger komplexe –
malarbeitsmodus mündet, ist schwer realisierbar. Tätigkeiten, die zu verrichten sind und die gegebe-
Ein ständiger Anpassungsprozess im Sinne eines be- nenfalls von einem Roboter verrichtet werden kön-
gleitenden Lernens ist nötig. nen. Auch ein Robotersystem, das mehrere Tätigkei-
Damit stellt sich aus technikethischer Sicht die ten z. B. in einem Pflegezusammenhang verrichten
Frage nach der verteilten Verantwortung für das kann, natürliche Sprache versteht und sich adaptiv
Handeln eines Roboters verschärft (s. Kap. II.6). Der an neue Kontexte anpassen kann, ersetzt nur
Roboterproduzent stellt ein lernfähiges Robotersys- menschliche Tätigkeiten in Bezug auf zu erreichende
tem zur Verfügung. Nach einiger Zeit im Einsatz Zwecke. Es geht nicht um eine abstrakte Ersetzung
wird der Produzent keine verlässlichen Vorhersagen »des Menschen« (Christaller et al. 2001, 119; Sturma
bezüglich der Tätigkeiten des Roboters mehr ma- 2003). Die menschliche Lebensform muss als ein
chen können. Die Lerngeschichte ist ihm nicht be- vielschichtiges System beschrieben werden, das
kannt und kann, beispielsweise im Falle eines Lern- Bewusstsein und Handlungen sowie die Begründun-
algorithmus, der auf künstlichen neuronalen Netzen gen für dieselben in Zusammenhang bringt (Ram-
basiert, auch nicht durch eine Analyse des Roboters mert/Schulz-Schaeffer 2002). Diese Zusammen-
rekonstruiert werden. Der Roboterproduzent wird hänge herzustellen, stellt eine große Herausfor-
somit seine Verantwortung für eine fehlerfreie Funk- derung für eine technische Ersetzbarkeit dar, die,
tion einschränken wollen. Der Roboternutzer ande- wenn dennoch vertreten, typischerweise auf ein re-
rerseits wird gemeinhin nicht in der Lage sein, ein duktionistisches Bild des Menschen rekurriert, in-
komplexes, sich selbst veränderndes technisches dem sie eine Beschreibungsform wählt, die sich am
System wie den lernenden Roboter beurteilen zu technologisch Machbaren orientiert. Die technik-
können. Die Nutzerpflichten im normalen Rahmen ethische Reflexion muss hier durch die anthropolo-
einer Techniknutzung umfassen üblicherweise das gische Betrachtung (s. Kap. IV.A.3) ergänzt werden.
Befolgen der Gebrauchsanweisung inklusive der Diese geht davon aus, dass Menschen über spezifi-
darin vorgeschriebenen Wartung. Das verantwortli- sche Eigenschaften und Fähigkeiten, wie Selbst- und
che Überwachen eines Lernverfahrens in dem Sinne, Zeitbewusstsein, Fähigkeit zur Reflexion und zur re-
dass der Nutzer für Fehler des Roboters verantwort- aktiven Emotivität, praktische Vernunft, das Vermö-
lich gemacht werden könnte, würde diese Üblichkeit gen, Zwecke zu setzen und ähnliche verfügen, die
übersteigen. So kann durch lernfähige Systeme ein sich kaum substituieren oder simulieren lassen.
358 V. Technikfelder

Dennoch ist die Diskussion über das Menschenbild Bölker, Michael/Gutmann, Mathias/Hesse, Wolfgang (Hg.):
auch und gerade durch humanoide, Menschen zum Information und Menschenbild. Heidelberg/Berlin 2010.
Čapek, Karel: R.U.R. Übers. von Paul Selver. Garden City,
Verwechseln ähnliche gynoide oder androide, Robo-
NY 1923.
ter angeregt worden (Bölker et al. 2010). Capurro, Rafael/Nagenborg, Michael: Ethics and Robotics.
In diesem Zusammenhang sind auch Kombinatio- Heidelberg 2009.
nen aus Menschen und Robotern, sogenannte Cy- Christaller, Thomas/Decker, Michael/Gilsbach, Joachim
borgs zu nennen. Die Ersetzbarkeit des Menschen be- Michael/Hirzinger, Gerd/Lauterbach, Karl W./Schweig-
zieht sich hierbei auf Körperteile und steht somit in hofer, Erich/Schweitzer, Gerhard/Sturma, Dieter: Robo-
tik. Perspektiven für menschliches Handeln in der zukünf-
enger Verbindung zur Prothetik. Künstliche Glied- tigen Gesellschaft. Berlin/Heidelberg 2001.
maßen (Hände, Füße, Arme, Beine) und Sinnesor- Decker, Michael/Dillmann, Rüdiger/Dreier, Thomas/Fischer,
gane (Hör- und Seh-Implantate), aber auch ein Herz- Martin/Gutmann, Mathias/Ott, Ingrid/Spiecker gen.
schrittmacher können als Ersatzgeräte für Körperteile Döhmann, Indra: Service robotics: do you know your
und oder -funktionen beschrieben werden. Während new companion? Framing an interdisciplinary technol-
ogy assessment. In: Poiesis&Praxis 8 (2011), 25–44.
die medizinische Prothetik den Ersatz nicht mehr Decker, Michael/Gutmann, Mathias (Hg.): Robo- and In-
vorhandener Gliedmaßen mit dem Ziel einer Leis- formationethics. Some Fundamentals. Wien 2012.
tungsgleichheit verfolgt, ist bei Cyborgs auch ein Fischer; Martin/Lehrl, Walter: Industrieroboter – Entwick-
Übertreffen menschlicher Fähigkeiten angestrebt lung und Anwendung im Kontext von Politik, Arbeit,
(Warwick 2010; Beck 2010; s. Kap. V.8). Bill Joy (2000) Technik und Bildung. Bremen ²1991.
Joy, Bill: Why the future doesn’t need us. In: Wired 8.04 (2000),
hat darauf hingewiesen, dass sich Menschen mögli- www.wired.com/wired/archive/8.04/joy.html (15.04.2013).
cherweise, befördert über die kongruierende Ent- Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
wicklung von Robotik, Genetic Engineering und Na- [1785]. Werke, Akademieausgabe. Bd. IV. Berlin 1968.
notechnologie, komplett selbst durch Technik erset- Lin, Patrick/Abney, Keith/Bekey, George A. (Hg.): Robot
zen könnten. Diese sogenannte Joy-Debatte hat die Ethics. The Ethical and Social Implications of Robotics.
Cambridge, Mass. 2012.
ethische Befassung mit Robotertechnologien beflü- Malsch, Thomas/Dohse, Knuth/Juergens, Ulrich: Indus-
gelt (Veruggio/Operto 2006; Capurro/Nagenborg trieroboter im Automobilbau – auf dem Sprung zum auto-
2009; Lin et al. 2012; Decker/Gutmann 2012), in der matischen Fordismus. WZB-Bericht Nr: IIVG-dp-84-217.
zunehmend auch die Bedingungen der Möglichkeit Berlin 1984.
eines moralischen Handelns durch Roboter, unter Matthias, Andreas: The responsibility gap: Ascribing re-
sponsibility for actions of learning automata. In: Ethics
entsprechender Bezugnahme auf das menschliche
and Information Technology 6 (2004), 175–183.
moralische Handeln diskutiert werden (Wallach/Al- Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo (Hg.): Können
len 2009; Beavers 2010). Wobei die Frage, welche mo- Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhält-
ralische Fundierung in Robotersysteme implemen- nis von Mensch und Technik. Frankfurt a. M. 2002.
tiert werden sollte zwar eine ethische, aber letztend- Schraft, Rolf Dieter/Schmierer, Gernot: Serviceroboter. Pro-
dukte, Szenarien, Visionen. Berlin/Heidelberg 1998.
lich keine technikethische Frage darstellt.
Sturma, Dieter: Autonomie. Über Personen, künstliche In-
telligenz und Robotik. In: Thomas Christaller/Josef
Literatur Wehner (Hg.): Autonome Maschinen. Wiesbaden 2003,
38–55.
Arkin, Ronald C.: Governing Lethal Behavior: Embedding Urban, Gerd: Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung beim
Ethics in a Hybrid Deliberative/Reactive Robot Architec- Einsatz von Industrierobotern. In: Gerd Peter (Hg.): Ar-
ture. Technical Report GIT-GVU-07-1 des Georgia In- beitsschutz, Gesundheit und neue Technologien. Opladen
stitute of Technology (2007), www.cc.gatech.edu/ai/ 1988.
robot-lab/online-publications/formalizationv35.pdf Veruggio, Gianmarco/Operto, Fiorella: Roboethics: a bot-
(30.04.2013). tom-up interdisciplinary discourse in the field of applied
Bartenschläger Hans-Peter: Industrierobotereinsatz. Stand ethics in robotics. In: International Review of Informa-
und Entwicklungstendenzen. Düsseldorf 1981. tion Ethics 6 (12/2006), 2–8.
Bayertz, Kurt: Wissenschaft, Technik und Verantwortung. Wallach, Wendell/Allen, Colin: Moral Machines. Teaching
Grundlagen der Wissenschafts- und Technikethik. In: Robots Right from Wrong. New York 2009.
Ders. (Hg.): Praktische Philosophie. Grundorientierungen Warwick, Kevin: Implications and consequences of robots
angewandter Ethik. Hamburg 1991, 173–209. with biological brains. In: Ethics and Information Tech-
Beavers, Anthony: Editorial of the special issue: Robot nology 12 (2010), 223–234.
ethics and human ethics. In: Ethics and Information World Robotics: IFR Statistical Department, hosted by the
Technology 12 (2010), 207–208. VDMA Robotics + Automation Association 2010, www.
Beck, Susanne: Roboter, Cyborgs und das Recht – von der worldrobotics.org.
Fiktion zur Realität. In: Tade M. Spranger (Hg.): Aktuelle Michael Decker
Herausforderungen der Life Sciences. Berlin 2010, 95–120.
359

22. Sicherheits- und ten, bei ökonomischen oder bei politischen Ein-
schränkungen von Handlungsfreiheiten beobachten.
Überwachungstechnik Dies indiziert eine zum Teil höhere Wertung von
Freiheit im Verhältnis zu Sicherheit. Hier scheint ein
logischer Widerspruch zu bestehen, da die Existenz
Sicherheit versus Freiheit selbst notwendige Bedingung des Auslebens von
Freiheit ist, eine Gefährdung der Existenz im Sinne
Sicherheit lässt sich ex negativo als Abwesenheit von der Freiheit also nicht hinnehmbar erscheint. Aller-
Gefahr (in der institutionellen Auffassung von Si- dings ist dazu dreierlei zu beachten. Erstens steht oft
cherheit durch Krieg oder Kriminalität) definieren eine mögliche Gefährdung der Existenz einer fakti-
(s. Kap. II.3). Die Definition indiziert bereits Schwie- schen Einschränkung von Freiheit gegenüber, die
rigkeiten bei der genauen Beschreibung von Sicher- sogar deutlich hinter dem möglichen Gewinn an
heit, die sich auch real auf deren Implementierung Freiheit zurückbleiben kann. Zweitens identifizieren
ausprägen. Zu klären ist erstens, wie abwesend die sich Menschen häufig in übergeordneten, sozialen
Abwesenheit sein muss, wie sehr man also von Ge- Metaidentitäten (wie etwa ›der Nation‹), deren
fahren abgeschirmt sein sollte, um sicher zu sein. Bei Überleben bei ausreichend starker Identifikation als
dieser Abschätzung kommt zum Tragen, dass Si- übergeordnetes, größeres und wichtigeres Überle-
cherheit keine objektive Größe in Form bestimmter ben empfunden werden kann (Gaycken 2012). Drit-
Mengen von Sicherheitsvertretern oder Sicherheits- tens existieren genuine Motive zur Initiation von
technologien, sondern ein subjektives Erleben ist, Unsicherheit, die sich als Bedürfnisse nach Aufopfe-
das unabhängig von den objektiven Größen mitun- rung für ›eine größere Sache‹, nach ›Ruhm und
ter stark schwanken kann. Sind etwa Ereignisse wie Ehre‹ äußern. Damit ist aus ethischer Perspektive Si-
Terrorangriffe oder Flugzeugabstürze im subjekti- cherheit kein absoluter Wert, sondern sie kann rela-
ven Erleben präsent, entstehen Unsicherheit und der tiv zu anderen Bedürfnissen eingeschränkt werden.
Wunsch nach mehr Sicherheit. Zweitens ist zu be- Die Rolle von Freiheit ist noch in einer anderen
schreiben, was eine Gefahr ist. Hier tendieren unter- Hinsicht wesentlich für Sicherheit. Die Herstellung
schiedliche Personen und Kulturen zum Teil zu ver- von Sicherheit besteht in der Einschränkung von
schiedenen Bestimmungen und Priorisierungen. Handlungsfreiheit. Personen sollen davon abgehal-
Zudem besteht Gefahr in der volatilen Form des Ri- ten werden, schädliche Handlungen auszuführen.
sikos (s. Kap. II.2). Kein realer, sondern ein mögli- Dies kann direkt realisiert werden – etwa durch ei-
cher Schaden muss abgeschätzt werden. Dies lässt nen Zaun – oder durch Abschreckung, also die An-
erneut viel Raum für eher subjektive Deutungen, die drohung höherer Unfreiheit bis zur Gefährdung der
gemeinsam mit dem subjektiven Empfinden der Existenz bei Nichtbeachtung der gesellschaftlichen
Notwendigkeit von Sicherheit wesentlich sind für Bedingungen für Handlungsfreiheiten. Direkte Si-
das Zustandekommen eines großen Spannungsrau- cherheit lässt sich nur in gewissen Maßen und nur in
mes, wenn es um eine aus politischer Sicht ›ange- spezifischen Kontexten realisieren. Indirekte (auch:
messene‹ und ›realistische‹ Einrichtung von Sicher- aktive) Abschreckungssicherheit spielt daher eine
heit geht. Generell tendieren Menschen aber dazu, wichtigere Rolle. Sie wird durch Androhung der Ein-
Sicherheit als großen und prioritären Wert anzuse- schränkung von Handlungsfreiheit realisiert, die
hen, da der Zustand der Unsicherheit als mögliche vorrangig in der möglichen Ausübung einer relativ
und sehr unangenehme Bedrohung der Existenz gesehen deutlich höheren physischen Gewalt beste-
maximal ausgeschlossen werden soll. So lässt sich in hen muss. Nur wenn ein potentieller Missetäter – ein
Bezug auf den Wert der Sicherheit eine hohe Auf- militärischer Angreifer oder ein Krimineller – weiß,
merksamkeit und eine stark überschüssige Einrich- dass er kaum eine Möglichkeit hat, Nachteilen zu
tung von Schutz beobachten. Man nimmt weniger entgehen, die weit größer sind als die Vorteile seiner
Schaden und Variation in Kauf als in anderen Berei- geplanten Handlungen, kann eine Abschreckung zu-
chen. Sicherheit muss hochgradig effektiv sein. verlässig wirken und Sicherheit generieren. Das Po-
Diesem großen Bemühen um Sicherheit steht mit tential hoher physischer Gewalt wird gesellschaftlich
Unruhen und Kriegen allerdings auch ein bewusstes meist in einer spezifisch delegierten und regulierten
Streben nach Unsicherheit entgegen, das die Priori- Gruppe realisiert. So kann das Potential zu Gewalt
sierung von Sicherheit relativiert. So lässt sich das konzentriert und besser kontrolliert werden. Diese
Entstehen von Unsicherheit regelmäßig bei konkre- Konzentration kann allerdings auch problematisch
360 V. Technikfelder

werden, wenn sich zu stark konzentrierte Sicher- Spektrum der Surveillance-Technologien ist inzwi-
heitsorgane als ›eigene Gesellschaft‹ gegen die ei- schen aufgrund technischer Fortschritte in Sensorik,
gentlich beauftragende Gesellschaft wenden. Daher Miniaturisierung von Sensoren und Mikroelektronik
achten viele Gesellschaften auf eine quantitativ wie recht breit. So gibt es inzwischen Sensoren, die alle
qualitativ sorgfältige Einrichtung und strenge Regle- Sinne nachbilden können und dabei wesentlich hö-
mentierung ihrer Sicherheitsorgane, außerdem auf here Effizienz erreichen als Mensch oder Tier.
eine Diversifizierung der Sicherheit wie etwa durch Als Dataveillance-Technologien werden Techniken
Gewaltenteilung. verstanden, die bereits bestehende Daten als solche
Das relativ höhere Gewaltpotential wird heute vor erkennen, zuordnen und sammeln können. Diese
allem über technische Qualität produziert. Soldaten Techniken finden vor allem bei internetbasierter
und Polizisten sind heutzutage je nach Ausstattung Überwachung Anwendung und sind dort aufgrund
in der Lage, mehrere Gegner gleichzeitig zu kontrol- der inzwischen zahlreich vorhandenen Daten überaus
lieren, respektive zu töten. Dabei fächert sich die Si- effizient. Zudem lassen sich kriminelle Handlungen,
cherheitstechnik auf verschiedene funktionale Be- die entweder nur in digitalen Medien oder wesentlich
reiche des konkreten Sicherheitshandelns auf, so vor durch digitale Medien durchgeführt werden, vorran-
allem: gig über Dataveillance verfolgen und nachweisen.
• das Erkennen von Sicherheitsproblemen Aufgrund der medialen Popularität des Internets und
• das Bewerten von Sicherheitsproblemen der damit verbundenen Datenschutzprobleme (s.
• die Identifikation potentieller Täter oder Gegner Kap. V.9 und Kap. V.10) sind Dataveillance-Technolo-
• die Beobachtung potentieller Täter oder Gegner gien sehr sichtbar geworden und in Debatten oft po-
• die Koordination eigener Kräfte pulärer als die konventionelleren Surveillance-Tech-
• Zugriff und Angriff nologien, obwohl letztere nicht weniger weitgreifende
• Sicherung der Täter oder Gegner Gefahrenpotentiale mit sich bringen.
• die Vorbereitung und die Nachbereitung von Zu- Neben diesen beiden Technologiezweigen lassen
griff und Angriff sich einige wichtige Trends im Umgang mit diesen
Technologien beobachten. Eine ist die Smartifica-
Durch diese intensive Technisierung sind viele der tion, die im Überwachungskontext das Zusammen-
zu Sicherheit bereits existierenden ethischen Fragen wachsen von Surveillance und Dataveillance bedeu-
um technik- und ingenieursethische Dimensionen tet, indem die bei der Surveillance erfassten Merk-
anzureichern (s. u.). male nicht mehr einfach nur analog ausgegeben,
sondern digitalisiert werden. So sind die erfassten
Merkmale besser und umfänglicher der Speicherung
Überwachung und der weiteren Analyse und Kommunikation zu-
gänglich. In einigen Fällen ermöglicht diese Smarti-
Als Überwachung bezeichnet man im Sicherheits- fication bereits auch eine Automatisierung von Re-
kontext die Beobachtung begründet oder unbegrün- aktionen. Ein weiterer Trend ist die Konvergenz,
det verdächtigter Personen und Prozesse, um schä- d. h. die Zusammenführung von Daten aus verschie-
digenden Handlungen abschreckend vorzubeugen denen Quellen. Dies erlaubt die Bildung umfassen-
und verfolgen zu können. Überwachung ist damit derer und genauerer Profile. Aufgrund der vielen
ein wesentlicher Bestandteil der Herstellung von Si- vorhandenen Möglichkeiten der Überwachung in
cherheit und so alt wie die institutionelle Sicherheit Surveillance und Dataveillance verspricht eine bes-
selbst  – seit Beginn der Arbeitsteilung gibt es z. B. sere Konvergenz hohe Effizienz. Neben der techni-
Wachen auf Märkten. Allerdings haben sich die schen Dimension hat Konvergenz auch eine orga-
technischen Mittel zu sicherheitsbezogener Überwa- nisatorisch-regulative Komponente, indem auch
chung in der Moderne stark diversifiziert. Sie stiften Daten aus anderen Überwachungskontexten einbe-
einerseits neue Möglichkeitsräume (Hubig 2006) zur zogen werden können. So wird etwa Dataveillance
Entfaltung neuer Motive oder Motivpriorisierungen, vor allem kommerziell betrieben, insbesondere im
unterliegen verschiedenen Eigendynamiken und Web 2.0, also außerhalb eines unmittelbaren Sicher-
können in zwei Richtungen verstanden werden: heitskontextes, was häufig zu größerer Offenheit der
Als Surveillance-Technologien werden all diejeni- Betroffenen führt, wobei aber alle erhobenen Daten
gen neuen Geräte verstanden, die realweltliche Merk- auch von Sicherheitsinstitutionen angefordert und
male erfassen und technisch verarbeiten können. Das verarbeitet werden können.
22. Sicherheits- und Überwachungstechnik 361

Schließlich ist ein weiterer Trend die Bildung im- derte ist die Atombombe zumindest in ihrer bisheri-
pliziter Daten. Dabei werden aus expliziten Rah- gen Verwendungsgeschichte ein wichtiger, wenn
mendaten weitere Rückschlüsse auf mögliche Ver- nicht sogar einer der wichtigsten Fortschritte der
haltensweisen, Vorlieben, Abneigungen und Ge- Menschheit. Und auch die anderen Bereiche der Si-
wohnheiten gemacht, die dann als zusätzliche cherheitstechnik erfüllen vielfach ihre Funktionen
implizite Daten Eingang finden. Diese impliziten einer guten und immer besseren Sicherung des Le-
Daten müssen nicht immer zutreffen, werden aber bens vor Krieg und Kriminalität. Im Sinne ausgewo-
für massenhafte Profilbildung dennoch als wertvoll gener Urteile dürfen diese Funktionen und die durch
erachtet. sie realisierte Sicherheit nicht vernachlässigt werden.
Die ethisch zu adressierenden Gefahren neuer
Überwachung sind vielschichtig. Einmal sind Über-
Gefahren durch Sicherheit wachungstechnologien und -techniken als Erweite-
und Überwachung rungen konventioneller Sicherheitsfähigkeiten zu
adressieren. Dort erweitern sie den Funktionsraum
Die insbesondere im letzten Jahrhundert zum Teil der Sicherheit und intensivieren bestimmte Sicher-
drastischen Effizienzgewinne in Waffentechnik und heitshandlungen in zuvor kaum erreichtem Maß. So
Überwachungstechnik, aber auch durch neue und kann das Erkennen, Identifizieren und Überwachen
bessere bürokratische Techniken in Verwaltung und von Personen in modernen Informationsgesellschaf-
Gerichtsbarkeit haben zu einer deutlichen Verände- ten schneller, lückenloser und weitgreifender als je
rung der Sicherheit geführt. Dies führt einerseits zu zuvor stattfinden. Damit werden breitere Kontrol-
einer größeren Gewichtung ethischer Probleme in len, aber auch tiefere Eingriffe möglich, die zudem
diesem Bereich, andererseits zu neuartigen ethi- weiterführend neue organisatorische Ordnungen
schen Problemen wie: und Verfahren ermöglichen.
• Entstehung und Verbreitung hoher und vielfälti- Die Möglichkeiten des observierenden Eingriffs
ger technischer Potentiale zu Kontrolle und zur in die Privatheit werden in ethisch orientierten De-
Tötung batten vorrangig thematisiert. Eine dabei vorrangig
• Migration dieser Potentiale in nicht institutionell diskutierte Gefahr ist das erste Mal von Jeremy Ben-
gerahmte Kontexte (z. B. Terroristen) tham und systematischer von Michel Foucault er-
• höhere Zentralisierung von Gewalt durch bessere kannt worden: der Verlust selbstbestimmten Han-
Technik in den Händen von kleineren Gruppen delns durch (nach einem Gefängnisentwurf von
• Verhinderung gerechter und berechtigter Unsi- Bentham) sogenannte »panoptische« Effekte. Diesen
cherheit Effekten liegt die einfache Beobachtung zugrunde,
• Einschränkung von Privatheit durch stärkere dass sich Personen anders verhalten, wenn sie von
Überwachung in größerer Intensität und in neuen anderen Personen beobachtet werden und zwar
Bereichen umso stärker, je eher sie von diesen Beobachtern
auch Konsequenzen zu befürchten haben. Bei Ben-
Da die technischen Potentiale selbst oft stark sicher- tham und in der Analyse Foucaults erfährt dieser
heitsgefährdend anmuten, kommt es zu Kontrover- Gedanke eine Verschärfung durch die Einführung
sen, beispielsweise im Hinblick auf die Rüstungsin- einer Asymmetrie in der Beobachtung. Während
dustrie (s. Kap. V.15). Allerdings muss den Sicher- normale Beobachtungssituationen symmetrisch
heitstechnologien bei allen Bedenken zuerst auch sind, sind die Gefangenen im Benthamschen Ge-
ein Wert zugesprochen werden. Die Atombombe ist fängnis durch offene Zellen zwar jederzeit sichtbar,
ein extremes Beispiel. Sie ist ein grauenhaftes Werk- können aber ihrerseits die Wärter nicht sehen, die in
zeug. Aber gerade dieses Grauen sichert eben auch einem Turm mit nur schmalen und von außen nicht
den Frieden in nie dagewesenem Maße. Es verhin- zu durchblickenden Sehschlitzen verborgen sind.
dert offene, große Kriege zwischen Großmächten, Dies hat den Effekt, dass die Gefangenen nie wissen
die sich dank der immensen, prospektiven Zerstö- können, ob sie gerade konkret beobachtet werden
rungen nicht mehr lohnen können und die in dieser oder nicht und so dazu tendieren, sich sicherheits-
Form niemand mehr wollen kann. Zwar schwebt die halber so zu verhalten, als würden sie dauernd beob-
Angst eines hypothetischen Atomkrieges über den achtet.
Menschen, aber gemessen an dem realen Leid der Dies ist auch die Ausgangssituation der techni-
permanenten Kriege der vorangegangenen Jahrhun- sierten Überwachung durch Surveillance und Data-
362 V. Technikfelder

veillance, da eine hohe Unsicherheit herrscht, ob Bereiche identifiziert, in denen der Schutz der Pri-
man konkret beobachtet wird, wer beobachtet und vatsphäre als Schutz vor der Migration von Daten
ob die Beobachtung aufgezeichnet und ausgewertet aus einer Situation in eine andere gewährleistet wer-
wird. Diese Unsicherheit kann folglich dazu führen, den muss (situative Privatheit). So dürfen etwa
dass Menschen in technisierten Überwachungssitu- Krankendaten nicht ohne weiteres an einen Arbeit-
ationen ihr Verhalten anpassen. Diese Anpassung geber weitergegeben werden.
muss als Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit ge- Ethisch besonders problematisch ist der Nutzen
sehen werden, die in einigen Kontexten, wie zum von Überwachungstechnologien in repressiven Regi-
Beispiel der politischen Kommunikation im Inter- men, die solche Technologien sehr umfassend ver-
net, wichtige Freiheiten, wie die der freien Mei- wenden, um so etwa auch potentielle Oppositionelle
nungsäußerung und der unabhängigen politischen und Andersdenkende frühzeitig zu erkennen und zu
Bildung, deutlich einschränken können. Ethisch in- verhaften. Hier wird eine Totalisierung der inneren
teressant ist bei dieser Option zur Selbstzensur vor Sicherheit bemerkbar, die als technisches Potential
allem, dass sie erneut stark subjektiv und nicht an- dieser Gattung von Technik dringend auch als globa-
hand objektiver Abwägung geformt wird. So spielen les Problem erkannt und adressiert werden muss.
in der Wahrnehmung und der Bewertung von Über- Dies ist im Moment noch nicht ausreichend proble-
wachung historische Erlebnisse, fiktive, wissen- matisiert. Wissen und Technik, die hierzulande ent-
schaftliche oder journalistische Narrationen oder wickelt und rechtskonform eingesetzt werden, kön-
schlicht persönliche Haltungen zu den überwachen- nen in anderen Kontexten äußerst fragwürdige
den Akteuren eine entscheidende Rolle für die mög- Funktionen erlangen. Aus Sicht des kulturalistischen
liche Einrichtung einer Selbstzensur. Für die ethi- Relativismus vermindert sich dieser Einwand, wenn
sche Einschätzung ist zu überlegen, ob man eine Ob- angenommen werden muss, dass die entsprechenden
jektivierung einfordern soll, ob eine Objektivierung Gesellschaften entweder aus eigener Wahl repressiv
für Laien und angesichts ungenauer Informationen sind oder weil andernfalls zu große Risiken und Un-
überhaupt möglich ist oder ob man auf Basis der sicherheiten wie Bürgerkriege entstehen würden. Aus
subjektiven Wahrnehmungen über das Schicksal der Sicht der Menschenrechte (s. Kap. IV.B.1) und der
Überwachungstechnologien urteilen soll, selbst darin anerkannten Freiheitsrechte ist aber dennoch
wenn diese irrational sind. Realpolitisch scheint eine starke Kritik an solchen Technologien angebracht.
Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung Die inzwischen weltweit einsetzenden Exportkon-
unausweichlich, was aber die weitere Frage aufwirft, trollen gegen Überwachungstechnik stellen interes-
wie sehr und wie häufig Selbstzensur stattfinden sante und wichtige politische Maßnahmen dar.
darf, wie viel also toleriert werden kann oder nicht. Neben diesen realen Gefahren finden sich in den
Der Schutz vor Selbstzensur ist in Deutschland übri- öffentlichen Debatten auch Argumente, die wenig
gens sogar gesetzlich verankert als »informationelle Substanz aufweisen. So wird etwa aus Technikerkrei-
Selbstbestimmung«, nach der jedem Bundesbürger sen gerne betont, dass Überwachungstechnik auto-
zugesichert werden muss, jederzeit darüber infor- matisch zu einem Überwachungsstaat führe. Dieses
miert zu sein, welche Informationen in welchen Argument ist zurückzuweisen, da ein Überwa-
Kontexten über ihn existieren (s. Kap. V.9). Diese chungsstaat ein politisches Konstrukt ist und kein
Forderung ist heute allerdings im Internet schon technisches. Die technischen Möglichkeiten der
nicht mehr herstellbar, aufgrund der hohen Mengen Überwachung führen nicht automatisch zu gesell-
an Daten und der unklaren und unaufklärbaren Ver- schaftlichen Realitäten. Mit anderen Worten: Die
wendungen dieser Daten. technische Basis der Überwachung produziert kei-
Neben diesen Problemen lassen sich auch weitere nen Totalitarismus.
Privatheiten identifizieren, die von moderner Über-
wachung betroffen sein können und ethische Dis-
kussionen hervorrufen (Rössler 2001). Problema- Herausforderungen ethischer
tisch ist etwa neben der bereits erwähnten informa- Urteilsbildung
tionellen Privatheit (s. Kap. V.9) die erhöhte
Möglichkeit des Eindringens in die private Woh- Die ethische Betrachtung und Abwägung hoch tech-
nung (›lokale Privatheit‹) oder in Entscheidungspro- nisierter Sicherheit im Allgemeinen und hoch tech-
zesse (›dezisionale Privatheit‹). Außerdem wurden nisierter Überwachung im Besonderen steht vor
durch die juristischen Institutionen einige weitere mehreren zum Teil schwer zu überwindenden Hür-
22. Sicherheits- und Überwachungstechnik 363

den. Eine erste Schwierigkeit bei der ethischen Be- Geheimhaltung vieler Mechanismen der Sicherheit
handlung ist allgemeiner Art und betrifft die Abwä- erst deren Funktionieren garantiert (ein Beispiel
gung der beiden fundamentalen Werte Freiheit und sind Informanten). Sie führt aber auch dazu, dass
Sicherheit zueinander (s. o.). Da in diesen Abwägun- viele Prozesse nur sehr eingeschränkt einer ethi-
gen viele stark subjektive Faktoren eine Rolle spielen schen Bewertung zugänglich gemacht werden und
und da zudem keine objektive Priorisierung der bei- dass Kontrollorganen in hohem Maße vertraut wer-
den Werte vorgenommen werden kann – keiner be- den muss. Zudem tendieren Sicherheitsorgane oft zu
inhaltet den anderen – schwanken die Priorisierun- overclassification, also zu übermäßiger Geheimhal-
gen der Werte zueinander situativ stark und sind zu- tung, die diese Schwierigkeiten verstärkt.
dem in kontinuierlichem Fluss. Dies macht genaue Ein weiteres Problem der ethischen Betrachtung
Festsetzungen unmöglich und bietet anhaltendes ist die Globalität moderner Überwachung. Überwa-
Konfliktpotential, das ein eigenständiges ethisches chung kann häufig grenzüberschreitend von einem
Problem formiert. Land in ein anderes erfolgen (s. Kap. V.20) und folg-
Eine weitere Schwierigkeit ist die soziotechnische, lich aus einer Wertegemeinschaft in eine andere
organisatorische und juristische Komplexität und reichen. Dies kann zu Wertkonflikten führen, invol-
Dynamik technisierter Überwachung sowie deren viert allerdings auch noch das Problem, dass Werte
Entwicklung. Selbst Fachexperten haben kaum noch juristisch nicht mehr durchsetzbar sind, dass also
ausreichende Sachkenntnisse in allen notwendigen Überwachung auch dann noch umfangreich statt-
Bereichen, so dass häufig weder überblickende Per- finden kann, wenn sie gesellschaftlich abgelehnt
spektiven hergestellt werden noch im Detail infor- wird. Die Ethik muss sich hier fragen, welche Rolle
mierte Entscheidungen getroffen werden können. sie in diesem Fall hat, beziehungsweise haben kann.
Zudem ist bei vielen Technologien in der Entwick- Dies führt abschließend auf das Problem der
lungsphase noch vollkommen unklar, wie sie einge- Wirksamkeit von Technikethik in diesem Bereich.
setzt und wie sie sich entwickeln werden, was bei In- Technikethik ist im Falle der Überwachung eine
genieuren oft zu naiven Einschätzungen führt, bei wichtige Kompetenz, die bereits früh beratend in
politischen Aktivisten dagegen regelmäßig zu über- technische Trends dieses Bereichs eingreifen und
zogen dystopischen Sichtweisen. diese gegebenenfalls auch politisieren sollte. Zudem
Komplexität, Dynamik und unsichere Entwick- kann Technikethik bestehende gesellschaftliche Dis-
lungslinien kreieren eine anhaltende/andauernde kurse zu Überwachung klären, indem sie die realiter
Unsicherheit über Bedingungen und Möglichkeiten oft nicht hinreichende Gültigkeit der Prämissen
der Überwachung. Diese muss angemessen in ethi- oder Konsistenz der Argumente prüft. Dabei kann
sche Überlegungen involviert werden, wobei es je- sie zudem Heuristiken entwickeln, die die Komple-
doch schwierig (und eine weitere ethische Frage) ist, xität und Dynamik des Feldes stärker beherrschbar
was hier als ›angemessen‹ gelten soll. Die Unsicher- machen, und sie kann Kompetenzen der Technikfol-
heit behindert also den ethischen Diskurs, schafft genabschätzung (s. Kap. VI.4) einbinden, um Unsi-
aber außerdem zusätzlichen Raum für die eingangs cherheiten bezüglich der Entwicklungen zu begeg-
erwähnten Subjektivierungen (und oft: Dramatisie- nen.
rungen) der Themen, so dass die Frage nach der
Notwendigkeit einer Objektivierung zur informier- Literatur
ten Entscheidungsfindung noch drängender wird. Gaycken, Sandro (Hg.): Jenseits von 1984  – Datenschutz
Aufgrund der Dynamik kann zudem vielen Gefah- und Überwachung in der fortgeschrittenen Informations-
ren nicht rechtzeitig begegnet werden. Bis sich in der gesellschaft. Eine Versachlichung. Bielefeld 2012.
Vielzahl der Technologien und ihrer Einsatzformen – /Kurz, Constanze (Hg.): 1984.exe – Gesellschaftliche, poli-
die gefährlichen Varianten gezeigt haben, sind oft tische und juristische Aspekte moderner Überwachungs-
technologien. Bielefeld 2007.
Pfadabhängigkeiten entstanden, die einen Rückbau Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen 1 – Technikphi-
der Technologien schwierig machen, und gesell- losophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld 2006.
schaftliche Diskurse haben sich an Phänomenen Lyon, David: Surveillance Studies  – An Overview. Cam-
festgemacht, die nur prima facie als gefährlich be- bridge, Mass. 2007.
wertet wurden. So sind aus fachlicher Sicht oft die Petersen, Julie K.: Handbook of Surveillance Technologies.
Boca Raton 2012.
falschen Themen auf falsche Art und Weise besetzt. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten. Frankfurt a. M. 2001.
Ein weiteres Problem ist die Intransparenz von Si- Zurawski, Nils (Hg.): Surveillance Studies – Perspektiven ei-
cherheit. Sie ist zwar taktisch begründet, indem die nes Forschungsfeldes. Opladen/Farmington Hills 2007.
364 V. Technikfelder

Webseiten mit Papern und Hintergrundinformationen: 23. Synthetische Biologie


Surveillance & Society:
http://www.surveillance-and-society.org/index.htm
The Surveillance Studies Network:
http://www.surveillance-studies.net/ Das Forschungsfeld der Synthetischen Biologie lässt
Surveillance Studies Forschungsnetzwerk: sich als eine Fortentwicklung der Gentechnik (s.
http://www.surveillance-studies.org/ Kap. V.7) verstehen, bei der in besonderer Weise in-
Sandro Gaycken genieurwissenschaftliche Methoden und Paradig-
men zum Tragen kommen. Die Synthetische Bio-
logie profitiert dabei von den Fortschritten der
Gensequenzierungs- und DNA-Synthesetechnolo-
gien. Anders als in der Gentechnik können nun län-
gere DNA-Sequenzen bis hin zu ganzen Genomen
einzelliger Organismen rekombiniert und vollstän-
dig synthetisiert werden und die entsprechenden
intra- und interzellulären Prozesse zielgerichtet ver-
ändert werden. Mit dieser im Vergleich zur Gen-
technik erhöhten Eingriffstiefe verbindet sich in der
Synthetischen Biologie das ingenieurwissenschaft-
lich geprägte Ideal, DNA-Sequenzen modularisiert
und standardisiert zu beschreiben, so dass sie als
BioBricks je nach intendiertem Anwendungszweck
des zu verändernden Organismus frei miteinander
kombiniert – ›zusammengesteckt‹ – werden können.
Neben diesen Ansätzen werden zur Syntheti-
schen Biologie häufig auch Forschungsrichtungen
gezählt, deren Ziel es ist, lebensfähige Zellen (sog.
Protozellen) aus nicht lebenden Makromolekülen
aufzubauen. Diese Ansätze befinden sich im Sta-
dium der Grundlagenforschung und sind in diszipli-
närer Hinsicht stärker auf die molekulare Chemie als
auf die Ingenieurwissenschaft bezogen. Schließlich
gibt es drittens Bestrebungen, die materiale Basis der
natürlichen DNA zu erweitern oder zu ersetzen, z. B.
mit Hilfe weiterer Basen oder alternativer Zucker-
moleküle.
Im Unterschied zur Nanobiotechnologie (s. Kap.
V.18) werden in der Synthetischen Biologie der Be-
reich des Technischen und der Bereich des Lebens
daher nicht zusammengebracht, indem Artefakte
mit lebenden Entitäten verbunden werden, sondern
indem technisch-ingenieurwissenschaftliche Me-
thoden systematisch in das Feld der molekularen
Biotechnologie eingeführt werden. In den zentralen
Forschungsansätzen der Synthetischen Biologie tref-
fen daher die epistemologischen und ontologischen
Annahmen der Technikwissenschaften auf den Ob-
jektbereich der molekularen Biologie und Biotech-
nologie, d. h. den Bereich des Lebens (s. Kap. IV.C.1).
23. Synthetische Biologie 365

Historische Entwicklung sche Biologie zur Grundlage eines neuen und poten-
ten Wirtschaftszweiges werden könne, analog zu
Auch wenn der Begriff der Synthetischen Biologie den ökonomischen Entwicklungen im Anschluss an
erst um das Jahr 2000 für konkrete Forschungsan- die Wandlung der analytischen zur synthetischen
sätze verwendet und popularisiert worden ist, ist er Chemie um die 1900er Jahre (Carlson 2007).
doch schon deutlich früher für die mit diesen For- Diesem möglichen Nutzen der Synthetischen
schungsansätzen verbundene generelle Programma- Biologie stehen parallel ethische Herausforderungen
tik eingeführt worden (Campos 2009). Mit der Ent- in Bezug auf das Risiko schädlicher Auswirkungen
wicklung der ersten Verfahren zur Herstellung re- auf Gesundheit und Umwelt gegenüber. Wie andere
kombinanter DNA in den 1970er Jahren entstand medizinische Maßnahmen auch können synthe-
die Vision einer umfassend die DNA umstrukturie- tisch-biologisch modifizierte Viren und synthetisch-
renden Technologie, mit Hilfe derer sich die Biologie biologisch hergestellte Arzneistoffe unerwünschte
von einer molekulare Vorgänge beschreibenden, Nebenwirkungen haben. Ebenso könnten umfas-
analytischen Biologie, zu einer diese Vorgänge ge- send modifizierte Mikroorganismen bei Anwendun-
zielt verändernden und von Grund auf steuernden gen in der Natur zu unerwünschten Änderungen des
synthetischen Biologie wandeln werde. Vorbild für natürlichen Genpools führen und so die Balance von
diese Prognosen war die Entwicklung der Chemie Ökosystemen beeinträchtigen. Die Synthetische
um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von ei- Biologie könnte in dieser Hinsicht besondere Her-
ner Reaktionen beschreibenden, analytischen Che- ausforderungen mit sich bringen, wenn es gelingen
mie zur synthetischen Chemie mit ihrer heutigen sollte, Mikroorganismen herzustellen, zu denen es
großen ökonomischen Bedeutung und ihrer Vielfalt keine nahen Verwandten in der Natur gibt, die als
von neuen Produkten, die unser Alltagsleben prägen. Referenz für eine Risikobewertung herangezogen
werden können. Diese Aspekte potentiellen Scha-
dens werden in der Diskussion um die Synthetische
Chancen und Risiken Biologie als Fragen der biosafety zusammengefasst
(Schmidt et al. 2009).
Wie die Parallele zur Synthetischen Chemie vermu- In kritischer Hinsicht wird darüber hinaus darauf
ten lässt, eröffnet die Synthetische Biologie ein brei- verwiesen, dass der Einsatz von synthetisch herge-
tes Spektrum von Anwendungsfeldern. Im Zentrum stellten Organismen zu weiteren Ungleichheiten in
der Forschungen stehen zur Zeit die Bereiche Ener- der globalen Wohlstandsverteilung führen könnte
gie, Umwelt und Gesundheit. Synthetisch-biologisch (s. Kap. IV.B.9). Patentrechtlich geschützte, biotech-
hergestellte Organismen (im Folgenden kurz ›syn- nologische Verfahren und Produkte könnten tradi-
thetische Organismen‹ genannt) könnten zur Pro- tionell-landwirtschaftliche Produktionsweisen ver-
duktion von Kraftstoffen genutzt werden, sie könn- drängen und so zwar dem Wohlstand in Industrie-
ten Schadstoffe aus der Umwelt unschädlich machen nationen zugutekommen, der Wirtschaft ärmerer
(sog. bioremediation), optimierte Mikroorganismen Länder aber schaden. Beispielsweise wird kritisch
könnten Arzneistoffe produzieren und entsprechend auf die Produktion von Artemisinin mittels syntheti-
veränderte Viren könnten mit Hilfe von Biosensoren scher Organismen verwiesen, weil dieser Wirkstoff
im menschlichen Körper pathologische Zellverän- bisher aus Pflanzen (Artemisia annua) gewonnen
derungen detektieren und Therapeutika punktgenau wird, die in kleinen landwirtschaftlichen Betrieben
zum Einsatz bringen (DFG/Acatech/Leopoldina u. a. in Entwicklungsländern angebaut werden (ETC
2009; Presidential Commission 2010). Group 2007).
Bisher ist noch nicht abzusehen, ob und in wel- Im Hinblick auf die Gegenüberstellung von Scha-
chem Umfang die Synthetische Biologie zu erfolgrei- dens- und Nutzenszenarien lässt sich zusammenfas-
chen Anwendungen auf diesen Feldern führen wird. send sagen, dass die Diskussion um die Synthetische
Forschungen an umfassend modifizierten Hefen zur Biologie hier die aus der Gentechnik (s. Kap. V.7) be-
Produktion einer Vorläufersubstanz von Artemisi- kannten Argumente und Themen aufnimmt und
nin, das zur Therapie bei Malaria verwendet wird, weiterführt. Wie in der Debatte um die Gentechnik
befinden sich aber beispielsweise bereits in einem wird der potentielle Nutzen von Wissenschaftsver-
weit fortgeschrittenen Stadium. Sozioökonomische bänden und Biotechnologieunternehmen hervorge-
Prognosen postulieren angesichts der potentiellen hoben, während vor allem Nichtregierungsorganisa-
Weite ihrer Anwendungsfelder, dass die Syntheti- tionen (NGO) wie die kanadische ETC Group die
366 V. Technikfelder

Risiken in den Vordergrund stellen. Bemerkenswert öffentlicher oder anderer wissenschaftlicher Institu-
ist, dass diese Auseinandersetzung bisher in der Öf- tionen und ihrer expliziten und impliziten Kon-
fentlichkeit nicht dieselbe Aufmerksamkeit gefun- trollmechanismen Forschung betreiben. Auch diese
den hat wie die Risiken der Gentechnik. Es ist zu Entwicklung bestärkt Befürchtungen, es könne zu
vermuten, dass dies auch darauf zurückzuführen ist, Missbrauch oder zu unbeabsichtigten sicherheitsge-
dass bisher keine Ansätze forciert werden, das Po- fährdenden Ereignissen kommen.
tential der Synthetischen Biologie für Ernährungs- Generell ist zur Gefahr des Missbrauchs zu be-
zwecke zu erschließen. merken, dass Sequenzier- und Gensynthesemaschi-
nen zu überschaubaren Preisen erworben und die
Forschungen in kleinen Laboren von einzelnen Per-
Missbrauchsgefahren sonen oder kleinen Gruppen betrieben werden kön-
nen, weshalb eine nationale oder internationale
Während die Abwägung von potentiellem Nutzen Kontrolle solcher Aktivitäten schwer umzusetzen ist.
und Schaden in Europa im Vordergrund der ethi- Auf der anderen Seite kann man fragen, ob nicht auf
schen Debatte steht, wird in den USA vor allem dem absehbare Zeit natürlich vorkommende pathogene
Thema der Missbrauchsgefahren große Aufmerk- Mikroorganismen einfacher und effizienter für ter-
samkeit zuteil. Vor dem Hintergrund der Erfahrun- roristische Zwecke genutzt werden können als syn-
gen mit bioterroristischen Anschlägen, wie vor al- thetische Organismen und das Missbrauchspotential
lem den Anthrax-Anschlägen von 2001, wird disku- der Synthetischen Biologie daher vorläufig vergleichs-
tiert, welches spezifische Missbrauchspotential die weise begrenzt bleibt.
Synthetische Biologie mit sich bringt.
2001 ist es einer Gruppe von Wissenschaftlern ge-
lungen, das Poliovirus mit Hilfe frei bestellter DNA- Lebensbegriff
Sequenzen synthetisch herzustellen. Dieser Versuch
hat unter anderem die Befürchtung geweckt, auch Die Synthetische Biologie wirft des weiteren ethische
nicht-wissenschaftlich tätige Personen und Gruppen Fragen im Hinblick auf den normativen Status des
könnten auf diese Weise pathogene Organismen Lebens und das Mensch-Natur-Verhältnis auf. In
produzieren. Ein detailliertes Screening von DNA- den Texten der Synthetischen Biologie wird häufig
Sequenz-Bestellungen, das zurzeit in einigen Län- die Metapher der Maschine für die zu konstruieren-
dern und bestimmten Fällen vorgeschrieben ist und den Organismen verwendet. So lautet beispielsweise
in anderen Fällen freiwillig von Gensyntheseunter- der Titel des »iGEM«-Wettbewerbs am Massachu-
nehmen durchgeführt wird, könnte dazu beitragen, setts Institute of Technology, der sich an junge Stu-
diese Gefahren zu verringern. dierende richtet und ihnen das Feld der Syntheti-
2005 hat eine andere Forschergruppe das Genom schen Biologie nahe bringen soll, in ausgeschriebe-
des Virus’, das die Spanische Grippe ausgelöst hat ner Form: »International Genetically Engineered
und das als ausgestorben galt, aus Leichen, die in Machine Competition«. Diese begriffliche Modellie-
Permafrostböden lagen, sequenziert und darauf auf- rung von Lebewesen nach dem Muster der Ma-
bauend ein pathogenes Virus erzeugt. In Bezug auf schine folgt dem ingenieurwissenschaftlichen An-
dieses Experiment, das prominent veröffentlicht satz der Synthetischen Biologie. Die Tradition dieser
wurde, ist gefordert worden, Manuskripte, die bei Art des Lebensverständnisses reicht zurück bis ins
wissenschaftlichen Fachzeitschriften zur Veröffent- 17. Jahrhundert und ist in der Gentechnik und Bio-
lichung eingereicht werden, auf ihr Missbrauchspo- technologie des 20. Jahrhunderts, dann orientiert
tential zu prüfen und gegebenenfalls nicht oder nur am Vorbild der informationsverarbeitenden Ma-
in Teilen zu publizieren (Selgelid 2007). Experi- schinen, fortgeführt worden (Keller 1995).
mente zur Frage, welche genetischen Veränderun- In ethischer Hinsicht kann die Orientierung am
gen das Vogelgrippevirus auch für den Menschen Maschinenmodell erstens unter Umständen den
gefährlich machen könnten, haben diese Forderun- Blick auf mögliche unerwartete Veränderungen ei-
gen im Jahr 2012 wieder aufleben lassen. nes synthetischen Organismus einengen. Während
Schließlich hat sich schwerpunktmäßig in den die Ursachen eines Fehlers im Verhalten einer klassi-
USA eine kleine und lose Szene von sog. biohackern, schen Maschine vor allem im internen Aufbau der
oder auch ›Do-it-yourself-Biologen‹, gebildet, die in Maschine und den die internen Teile bestimmenden
privaten Räumen Labore einrichten und außerhalb Gesetzmäßigkeiten gesucht werden, sind Lebewesen
23. Synthetische Biologie 367

evolutionären Prozessen unterworfen, weshalb An- schaftlichen Methoden und Ideale des zielgerichte-
passung an neue Umgebungen und damit Veränder- ten Designs und der Modularisierung und Standar-
barkeit, die von Umweltbedingungen ausgeht und disierung von Bauteilen in die Biotechnologie ein.
intern durch Zufallsmutationen ermöglicht wird, zu Aus technikphilosophischer Perspektive ist die Syn-
ihren konstitutiven Eigenschaften zählen. Wenn thetische Biologie damit ein paradigmatisches Bei-
diese Annahme zutrifft, müsste das am Maschinen- spiel für den Handlungstyp des ›Herstellens‹, der
modell orientierte Wissen über Regularitäten inter- sich nach Jürgen Habermas vom ›kommunikativen
ner Abläufe um den Aspekt der evolutionären Ent- Handeln‹, oder nach Hannah Arendt vom ›Arbeiten‹
wicklungsfähigkeit und damit z. B. um Wissen aus und ›Handeln‹ (im spezifisch Arendtschen Sinn) ab-
der mikrobiologischen Ökosystemforschung er- grenzen lässt. Mit diesem Handlungstyp einher ge-
gänzt werden, um angemessene Prognosen über das hen ontologische und epistemologische Annahmen,
Verhalten synthetischer Organismen zu erhalten. die ein Verhältnis des Herstellers zu seinem Objekt
Zweitens muss unter der Maßgabe des Maschi- implizieren, in dem der Hersteller, das heißt der-
nenmodells der normative Gehalt, der mit dem jenige, der ein Objekt am Reißbrett entwirft und es
Lebensbegriff (s. Kap. IV.C.1) oft einhergeht, tenden- aus Teilen reproduzierbar zusammensetzt, als tech-
ziell unverständlich werden. Etwas als lebend zu be- nisch-kreativer Schöpfer seines Objekts erscheint.
zeichnen, heißt nicht nur, an dem Objekt bestimmte Mit dieser Beobachtung ist im Feld der Syntheti-
Eigenschaften zu konstatieren, sondern auch, dem schen Biologie die alte Frage nach der Rolle und Be-
Objekt in mehr oder weniger hohem Maß inhärenten wertung der neuzeitlichen Wissenschaft und Tech-
Wert zuzusprechen und deshalb anders als im Fall nik als ›prometheischer‹ Tätigkeit gestellt und es
von Maschinen nicht jedes Verhalten diesem Objekt wird, besonders im angelsächsischen Raum, der
gegenüber für ethisch akzeptabel zu halten (Jonas Vorwurf des Playing God laut. Diese Aspekte werden
1985; s. Kap. IV.A.4). im Rahmen der Debatte um die Synthetische Biolo-
Die Zuschreibung von inhärentem Wert zur be- gie mit unterschiedlichen Vorzeichen aus fachwis-
lebten Natur lässt sich auf unterschiedliche Weise ar- senschaftlicher, theologischer und philosophischer
gumentativ rekonstruieren und rechtfertigen. Eine Sicht diskutiert (Boldt 2012; Ried/Dabrock 2011).
einflussreiche Argumentationslinie verweist auf die Die Beschreibung der Synthetischen Biologie als
Erfahrung der Demut und Ehrfurcht angesichts der einer schöpferischen Tätigkeit legt eine Nähe dieser
Komplexität und evolutionären Geschichte des Le- Technologie zur Kunst nah. Es gibt einige Koopera-
bens. Ein weiterer Ansatz ist, in den Eigenschaften tionen von Künstlern und Fachwissenschaftlern, die
des Lebens rudimentäre Formen von Subjektivität auf dieser Parallelität von rationalem Design und
und Freiheit verwirklicht zu sehen, die den ethi- künstlerischer Schöpfung aufbauen.
schen Status eines Lebewesens so begründen, wie sie Schließlich kulminiert die Vorstellung des Schöp-
auch dem ethischen Status des Menschen zugrunde ferischen in der Synthetischen Biologie im Schlag-
liegen. Je nach Begründungsansatz ergeben sich un- wort von der »Erschaffung von Leben«. Im Bereich
terschiedliche Implikationen für das Projekt der der Forschungsansätze, die in vivo arbeiten, d. h. alle
Synthetischen Biologie (Deplazes-Zemp 2011). ingenieurwissenschaftlich geprägten Forschungen
Während z. B. der erste Begründungsansatz im Hin- der Synthetischen Biologie, leuchtet unmittelbar ein,
blick auf die Synthetische Biologie eher zu katego- dass diese Formulierung nicht zutrifft. In Bezug auf
risch-restriktiven Implikationen führt (Preston Ansätze, die lebende Entitäten aus nicht lebenden
2008), lässt der zweite Ansatz größeren Spielraum Molekülen aufbauen wollen, könnte man dieses
für graduierte Schutzvorstellungen, bis hin zu der Schlagwort in der Tat für angemessen halten, wie es
Einschätzung, die Herstellung neuartiger Organis- einige Forscher selbst auch explizit tun. Begreift man
men könne als Erhöhung des Werthaften in der Welt allerdings Leben als ›emergente‹ Eigenschaft eines
gelten und damit ethisch gefordert sein (Knoepffler/ komplexen Objekts, die nicht im Rückgriff auf die
Börner 2012). Eigenschaften der jeweiligen Teile dieses Objektes
für sich erklärbar ist, lässt sich einwenden, dass eher
von der Herstellung von Bedingungen für das Ent-
Mensch-Natur-Verhältnis stehen von Leben gesprochen werden müsse als von
der Herstellung von Leben selbst (Brenner 2007).
Als ingenieurwissenschaftlich geprägte Disziplin
führt die Synthetische Biologie die ingenieurwissen-
368 V. Technikfelder

Konsequenzen für Politik denster Interessengruppen diskutieren zu lassen


und Gesellschaft (Grunwald 2012). In dieser Hinsicht bietet sich im
Fall der Synthetischen Biologie die Chance, dass die
Zwar ist die Synthetische Biologie inzwischen häufi- gesellschaftliche, ethische und soziale Reflexion auf
ger zum Gegenstand von medialer Berichterstattung eine neue Technologie nicht nur nachträglich Tech-
geworden, die öffentliche Wahrnehmung beschäftigt nologieentwicklungen zur Kenntnis nehmen und
diese neue Technologie bisher aber im Unterschied rückblickend evaluieren muss, sondern bereits be-
zur Gentechnik kaum. Dies dürfte vor allem daran gleitend diese Entwicklungen frühzeitig wahrneh-
liegen, dass die aktuell meistdiskutierten Anwen- men und in ihrer Richtung gegebenenfalls mit be-
dungen der Synthetischen Biologie nicht den Be- einflussen kann.
reich der Landwirtschaft und Ernährung betreffen.
Dennoch ist zu erwarten, dass mit der zuneh- Literatur
menden Präsenz von Anwendungen der Syntheti-
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben [1960].
schen Biologie auf den übrigen Feldern von Medi- München 1981.
zin, Energie und Umwelt die öffentliche Diskussion Boldt, Joachim: »Leben« in der Synthetischen Biologie:
um diese Technologie lebhafter werden wird. Dabei Zwischen gesetzesförmiger Erklärung und hermeneuti-
wird der Charakter der Synthetischen Biologie als ei- schem Verstehen. In: Ders./Oliver Müller/Giovanni
ner herstellend-kreativen Technologie sicherlich Maio (Hg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische
Reflexionen zur Synthetischen Biologie. Paderborn 2012,
eine Rolle spielen bis hin zum Schlagwort von der 177–191.
»Erschaffung von Leben«. Politisch gesehen wird es Brenner, Andreas: Leben  – Eine philosophische Untersu-
darauf ankommen, einerseits falsche Annahmen chung. Bern 2007.
und übertriebene Befürchtungen, die sich mit der Campos, Luis: That was the synthetic biology that was. In:
hohen Eingriffstiefe der Synthetischen Biologie in Markus Schmidt/Alexander Kelle/Agomoni Ganguli/
Huib de Vriend (Hg.): Synthetic Biology. The Technosci-
die DNA verbinden, zu dämpfen, andererseits aber ence and its Societal Consequences. Dordrecht 2009, 5–21.
auch den Kern dieser Kritik nicht vorschnell als irra- Carlson, Rob: Laying the foundations for a bio-economy.
tional zu verwerfen (Catenhusen 2011). In: Systems and Synthetic Biology 1/3 (2007), 109–117.
Solange die Synthetische Biologie auf einzellige Catenhusen, Wolf-Michael: Synthetische Biologie  – wo
Organismen beschränkt bleibt, wird dieser Kern in liegt unsere gesellschaftliche Verantwortung? Ein politi-
sches Statement. In: Peter Dabrock/Michael Bölker/Mat-
Fragen der Sicherheit und Risikobewertung liegen. thias Braun/Jens Ried (Hg.): Was ist Leben – im Zeitalter
Wenn es der Synthetischen Biologie gelingt, ihre in- seiner technischen Machbarkeit? Beiträge zur Ethik der
genieurwissenschaftliche Programmatik umzuset- Synthetischen Biologie. Freiburg 2011, 387–392.
zen, dann könnte eine Re-Evaluierung etablierter Deplazes-Zemp, Anna: The moral impact of synthesising
Risikobewertungsverfahren bei der Freisetzung gen- living organisms: Biocentric views on synthetic biology.
In: Environmental Values 21 (2011), 63–82.
technisch veränderter Organismen notwendig wer-
DFG/Acatech/Leopoldina (Hg): Synthetische Biologie. Stel-
den. lungnahme. Weinheim 2009.
Ebenso könnte bei medizinischen Anwendungen, ETC Group: Extreme Genetic Engineering. An Introduction
die den Einsatz von synthetischen Organismen bein- to Synthetic Biology. ETC 2007. http://www.etcgroup.
halten, eine Überprüfung der bestehenden Regula- org/sites/www.etcgroup.org/files/publication/602/01/
synbioreportweb.pdf (30.04.2013).
rien zur Minimierung des Schadensrisikos bei der
Grunwald, Armin: Synthetische Biologie. Verantwortungs-
Durchführung von klinischen Studien angezeigt zuschreibung und Demokratie. In: Joachim Boldt/Oliver
sein, da die gesetzlichen Regelungen bisher auf Müller/Giovanni Maio (Hg.): Leben schaffen? Philoso-
pharmazeutische Arzneimittel und medizinisch- phische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biolo-
technische Produkte ausgerichtet sind und nicht auf gie. Paderborn 2012, 81–102.
Mikroorganismen, die zu therapeutischen Zwecken Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.
Frankfurt a. M. 1969.
im menschlichen Körper eingesetzt werden. Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des
Da die Synthetische Biologie jedoch ein noch jun- Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985.
ges Forschungsfeld ist, dessen Entwicklung aktuell Keller, Evelyn Fox: Refiguring Life. Metaphors of Twentieth-
kaum verlässlich prognostiziert werden kann, be- Century Biology. New York 1995.
steht die größte politische und gesellschaftliche Her- Knoepffler, Nikolaus/Börner, Kathleen: Die Würde der
Kreatur und die Synthetische Biologie. In: Joachim
ausforderung zunächst darin, diese wissenschaft- Boldt/Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.): Leben schaf-
lich-technische Entwicklung öffentlich transparent fen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthe-
zu machen und breit und unter Einbezug verschie- tischen Biologie. Paderborn 2012, 137–153.
24. Synthetische Chemie 369

Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues: 24. Synthetische Chemie
New Directions. The Ethics of Synthetic Biology and
Emerging Technologies. Presidential Commission 2010.
http://bioethics.gov/cms/sites/default/files/PCSBI-Syn
thetic-Biology-Report-12.16.10.pdf (30.04.2013). Die Synthetische Chemie hat ein schillerndes Ge-
Preston, Christopher J.: Synthetic biology: drawing a line in sicht. Auf der Basis der Synthetischen Chemie wur-
Darwin ’ s sand. In: Environmental Values 17/1 (2008), den die Stoffumsatzprozesse moderner Gesellschaf-
23–39. ten vollständig umgebaut. Welche Fülle von Stof-
Ried, Jens/Dabrock, Peter: Weder Schöpfer noch Plagiator. fen  – »Better things for better living through
Theologisch-ethische Überlegungen zur Synthetischen
Biologie zwischen Genesis und Hybris. In: Zeitschrift für Chemistry«, so der in den 1930er Jahren kreierte
Evangelische Ethik 55/3 (2011), 179–191. Slogan von DuPont – wurde erzeugt und veränderte
Schmidt, Markus/Kelle, Alexander/Ganguli, Agomoni/de damit die Lebenswelt moderner Menschen grundle-
Vriend, Huib (Hg.): Synthetic Biology. The Technoscience gend. Durch die industrielle Organisation der For-
and Its Societal Consequences. Dordrecht 2009. schungsergebnisse chemischer Forschung konnte
Selgelid, Michael J.: A tale of two studies. Ethics, bioterro-
rism, and the censorship of science. In: Hastings Center die Synthetische Chemie unmittelbar ökonomisch
Report 37/3 (2007), 35–43. und kulturell wirksam werden. Wir können uns
Joachim Boldt heute schlicht keine Welt mehr ohne synthetische
Farbstoffe, künstlichen Dünger, Pharmaka, Plastik,
Benzin oder chemische Putzmittel vorstellen. Jedoch
fand, gleichsam im Hintergrund, zugleich der Auf-
bau und fortlaufende Umbau einer in seinen Ausma-
ßen kaum zu ermessenden Infrastruktur industriel-
ler chemischer Stoffumsatzprozesse statt. Wenn man
das problematische Wort der Alternativlosigkeit
nutzen möchte, dann trifft dies auf die Chemie tat-
sächlich zu. Die Verflechtung, Komplexität und Be-
sonderheit der Organisation gesellschaftlicher Stoff-
umsatzprozesse lässt sich ohne die Chemie gar nicht
verstehen, geschweige denn bewerkstelligen. Man
kann in diesem Feld Probleme nicht einfach durch
Werksstilllegung lösen (wie Kernkraftwerke im Be-
reich der Energie-Erzeugung), sondern muss auf
kontinuierliche Lernprozesse setzen (vgl. Perrow
1986).
Denn die Synthetische Chemie steht auch für Ri-
siken (s. Kap. II.2). Mit Beginn der Industrialisie-
rung der Stoffproduktion zeigten sich direkt auch
die Nebenfolgen (zu Technikfolgen s. Kap. II.5):
Wasserkonflikte, Forstkonflikte, Konflikte über die
Schäden an fremden Produkten  – ganz abgesehen
von den Schäden, welche die industrielle Organisa-
tion der Synthetischen Chemie an den Arbeitern
verursachten. Entsprechend hat sich die chemische
Industrie schon früh umfangreichen Regulationsan-
forderungen ausgesetzt gesehen (Brüggemeier 1996).
Bei aller Dramatik im Einzelfall konnte sich jedoch
ein System etablieren, bei dem die Industrie ihre
Stoffproduktion immer weiter ausdehnen konnte
und zugleich die Gesellschaft vor den gröbsten Ne-
benfolgen geschützt war. Dieses System war stabil bis
in die 1950er Jahre, als die mit dem Zeitalter der
Massenproduktion einhergehenden Umweltbelas-
tungen massiv sichtbar wurden. Es sind die enormen
370 V. Technikfelder

Mengen von chemischen Produkten und nicht allein 19.  Jahrhunderts ein. Dabei stand die Industrieför-
die Produktionsabfälle, die als Umweltgefährdung derung im Vordergrund, so dass die Gefahrenab-
angesehen werden müssen. wehr so organisiert wurde, dass die Industrieförde-
Vor diesem Hintergrund geriet das industrielle rung nicht gefährdet wurde. Erstens wurden rechtli-
System der Synthetischen Chemie unter neue Legiti- che Regelungen so strukturiert, dass die Risiken für
mationsprobleme. Welche Konfliktlinien zeichneten Gesundheit und Umwelt kollektiviert wurden. Zwei-
sich hier ab? Welcher Wandel in der Werteordnung tens wurden Regelungen zur Lösung konkurrieren-
ging und geht damit einher? Welche Bedeutung hat der Nutzungsrechte an der natürlichen Umwelt ge-
dies für die ethische Reflexion? Der analytische schaffen. Drittens oblag es der Industrie mittels
Blickwinkel, der diesem Beitrag zugrunde liegt, Nachsorgetechnik in Form von Filteranlagen und
wurde von Philip Kitcher inspiriert (2011). Er argu- hohen Schornsteinen, technische Lösungen zu eta-
mentiert für die Beobachtung von »ethischen Pro- blieren. Und viertens wurde eine arbeitsteilige Struk-
jekten«, welche die Hintergrundfolie für das Zusam- tur bei der Beobachtung, Untersuchung und Lösung
menwirken von wissenschaftlichen und gesellschaft- von Gesundheits- und Umweltproblemen etabliert.
lichen Werten beim kollektiven Problemlösen Die Grundkonstante dieser Entwicklung war eine
abgeben. Die einleitend angedeutete Entwicklung im leistungsorientierte Arbeitsmedizin, die den Blick
Feld der Chemie spiegelt dies wider. Erstens soll das eher auf die »Giftfestigkeit« (Franz Koelsch) von Ar-
Zusammenwirken von wissenschaftlichen und ge- beitern lenkte als auf giftfreie Arbeitsbedingungen.
sellschaftlichen Werten im Feld der Chemie histo- Dies korreliert mit dem gesellschaftlichen Hinter-
risch-systematisch aufgeschlüsselt werden. Zweitens grundkonsens, der ›rauchende Schlote‹ primär als
werden Probleme der Bewertung mit Blick auf die Symbol des Fortschritts und nicht der Gefährdung
äußere und innere Entwicklung der Chemie disku- ansah. Dieses Modell hatte seine Gültigkeit bis in die
tiert. Die Überlegungen zeigen drittens die wachsen- 1950er Jahre.
den Kontextualisierungsansprüche, die an die Che- Danach drehte der Wind öffentlich-politischer
mie herangetragen werden. Debatten und Regulation. Erstens geriet die Chemie
(etwa über die Insektizid-Thematik DDT) in den
Fokus öffentlicher Debatten, und das Vorsorgeprin-
Konfliktlinien und Wertewandel: zip (s. Kap. VI.3) wurde politisch einflussreich (EEA
Historisch-systematische Bezugspunkte 2001). Zweitens veränderte sich die Risikocharakte-
ristik. Neue Substanzklassen und gewaltige Produk-
Die Gefährlichkeit ›der‹ Chemie war seit Beginn tionsmengen setz(t)en neue Randbedingungen. Die
ihrer industriellen Entwicklung ein Problem. Im ›Risikoproduktion‹ wurde beinahe ebenso bedeut-
Grunde ist es erstaunlich, dass sich in Gesellschaften sam wie die ›Stoffproduktion‹. Zudem markieren
ein solch riskanter Pfad der Industrialisierung eta- eine Reihe von Unfällen einen Umschwung in der
blieren konnte. Womit lässt sich dies erklären? Die öffentlichen Bewertung, die eine Ubiquität der Risi-
Chemie steht geradezu symbolisch für das Verspre- ken chemischer Produktion signalisiert (publikums-
chen einer durch wissenschaftliche Entwicklung er- wirksam mit der Schrift Seveso ist überall). Drittens
möglichten Technologie. Die Chemie ist eine der entstand ein eigenständiger Forschungszweig für
ersten science-based industries und löste das wissen- Monitoring und Gefahrencharakterisierung von
schaftliche Fortschrittsversprechen (s. Kap. II.4) pa- Umweltchemikalien: die ökologische Chemie. Die
radigmatisch ein. Die synthetischen Farbstoffe stel- Umweltrisiken von Chemikalien wurden somit sys-
len die erste wissenschaftsbasierte Produktgruppe tematisch in den Risikodiskurs (s. Kap. II.2) getra-
dar. Zudem wurden rasch weitere Produktgruppen gen. Viertens kristallisierte sich eine eigenständige
chemisch-synthetisch verfügbar, die von exponier- Chemiegesetzgebung heraus. Diese verfolgte weiter-
ter Bedeutung waren, etwa Pharmaka. Diesen Erfol- hin eine an wissenschaftlichen Erkenntnisansprü-
gen stand zugleich eine Risikogeschichte an der chen geschulte, erfahrungsbasierte Betrachtungs-
Seite. Chemie ist riskant – und: unersetzbar. Gesell- weise. Neben diesem allgemeinen ›Stoffgesetz‹ gibt
schaftlich gesehen eine explosive Mischung. Dies es  – und das ist eine Besonderheit bei der gesell-
spiegelt sich in der Geschichte der Regulierung che- schaftlichen Nutzung von Produkten der Syntheti-
misch-industrieller Praxis wider. schen Chemie  – eine Fülle von Bereichsgesetzen,
Erste Regulierungsbemühungen setzten mit dem welche die Herstellung und Nutzung von chemi-
Aufbau der chemischen Industrie ab Mitte des schen Substanzen kontextspezifisch ausdifferenzie-
24. Synthetische Chemie 371

ren; für die pharmazeutischen Wirkstoffe gibt es die Wert‹ gebändigt werden können. Zwar hoffte man,
Arzneimittelzulassung, für Pflanzenschutzmittel das dass das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung
Pflanzenschutzgesetz oder für Nahrungsergän- (Grunwald/Kopfmüller 2012), mit dem operative
zungsmittel das Lebensmittelgesetz. Unterschiedli- Werte, wie das Vorsorgeprinzip und darauf aufbau-
che Güter gilt es zu schützen und Anwendungsrand- ende Institutionalisierungen, eine größere Bedeu-
bedingungen zu beachten. tung erlangten, diese Lücke füllen würde. Und es gab
In den 1990er Jahren geriet die chemiepolitische auch Erfolge, da in der Debatte um Nachhaltige Ent-
Diskussion weiter in Bewegung, wobei zwei Ent- wicklung Globalität und Zukünftigkeit des Folgen-
wicklungen besonders bedeutsam waren. Erstens horizonts als relevante Bezugsgrößen etabliert wer-
wurde immer offensichtlicher, dass der wissensba- den konnten (zu Nachhaltigkeit s. Kap. IV.B.10).
sierte Ansatz nicht funktionieren würde: von Jedoch muss die kollektiv bündelnde Orientierungs-
100.000 hergestellten Substanzen waren in 20 Jahren kraft als begrenzt angesehen werden, zu breit ist der
etwa 120 hinsichtlich ihrer Risiken charakterisiert Definitionsraum und zu diffus die daraus abgeleite-
worden. Zweitens erlangte das Vorsorgeprinzip (s. ten kollektiven Handlungsstrategien.
Kap. VI.3) in der Regulierung von Risiken in der Eu-
ropäischen Union den Status eines zentralen Politik-
prinzips. Es wurde nicht nur erkannt, sondern auch Bewertungsprobleme in der
anerkannt, dass in der Vergangenheit oftmals wich- Synthetischen Chemie
tige Gefahrenhinweise übersehen worden waren, die
späterhin als konkrete Schäden in Erscheinung tra- Bewertungsprobleme in der Synthetischen Chemie
ten (EEA 2001). Die Chemikalienverordnung der lassen sich systematisch in zwei Gruppen einteilen.
Europäischen Union REACH (Registration, Evalua- Zum einen gibt es solche Bewertungsprobleme, wel-
tion, Auothorisation and Restriction of Chemicals; EU che letztlich auf einen umfassenderen Horizont ge-
1907/2006) stellt ein dem Vorsorgeprinzip verpflich- sellschaftlicher Entwicklung abstellen  – auch wenn
tetes Gesetzeswerk dar – mit einer Reihe von Inno- hierbei die Chemie zentral gefragt ist (1). Zum ande-
vationen (s. Kap. VI.2), so die Aufwertung und ren solche, welche den engeren Horizont der Che-
Gleichstellung der sogenannten Gefährdungsindika- mie selbst betreffen (2).
toren Persistenz und Bioakkumulation sowie den (1) Wertkonflikte der Synthetischen Chemie im ge-
Schadensindikatoren Kanzerogenität, Mutagenität sellschaftlichen Horizont: Die Wertkonflikte, die sich
und Reproduktionstoxizität (Scheringer et al. 2006). dem umfassenderen Horizont gesellschaftlicher Ent-
Messen letztere konkrete Schäden, so erstere allein wicklung verdanken, verweisen vor allem auf eine
mögliche Schäden. Zudem wird mit dieser Verord- spezifische Lage, wie sie sich in den 1970er Jahren
nung eine ›Risiko-Wissenskette‹ aufgebaut, bei der im kollektiven Bewusstsein verankert hat und durch
das Wissen der Produzenten mit dem Wissen der zwei Problemstellungen ausweist. Eine erste Pro-
Nutzer von Stoffen verknüpft und ausgetauscht blemstellung verbindet sich mit dem Begriff der
werden soll. Hinweise auf Nebenfolgen können so Knappheit. Dies betrifft nicht nur den Grundstoff
prinzipiell kommunikabel gemacht werden. Aller- Öl, sondern viele andere Elemente, die in der Zwi-
dings muss man hinzufügen, dass bei diesen Inno- schenzeit für Synthesen genutzt werden (Henseling
vationen weder die theoretisch-konzeptionellen 2008). Mit der Knappheitsproblematik wird der Be-
Grundlagen noch die industriellen Kommunika- zug von Gesellschaft und Ressourcenverbrauch the-
tionsketten bisher genau erforscht sind  – und hier matisch (zu Natur und Technik s. Kap. IV.C.2).
steckt z. T. gerade das Problem einer solchen Regu- Grundsätzlich gilt: Gesellschaften nutzen Funktio-
lierung (s. u. »Bewertungsprobleme in der Syntheti- nen, die Ressourcen mobilisieren. Jedoch wird die-
schen Chemie«). ser Bezug oft erst in Momenten der Krise, also der
In der Regulierung der chemischen Industrie Nicht-Mehr-Verfügbarkeit von Ressourcen begrif-
zeigt sich also das Ineinanderwirken von epistemi- fen und trifft dann Gesellschaften umso härter, je
schen und gesellschaftlichen Werten. Der Fort- stärker diese Mobilisierung von Ressourcen infra-
schrittswert trat, nachdem er lange Zeit das In- strukturell verfestigt ist. Diese Problemlage wird in-
kaufnehmen von Risiken legitimierte, in den Hin- nerhalb der Chemie unter dem Stichwort einer alter-
tergrund. In der Zwischenzeit treffen oftmals nativen Grundstoffbasis diskutiert. Das Problem be-
konfligierende Werte aufeinander, die nicht mehr steht mit Blick auf die Ressourcenfrage in zwei
selbstverständlich durch einen übergreifenden ›Leit- Richtungen. Zum einen basiert die chemische In-
372 V. Technikfelder

dustrie auf dem Rohstoff Rohöl. Deshalb werden un- Produkten der Synthetischen Chemie mit spezifi-
ter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit in der Zwi- schen Bewertungsproblemen einher. Immerhin wird
schenzeit auch Konzepte von ›Bioraffinerien‹ disku- die Dringlichkeit von Bewertungsfragen in der Zwi-
tiert. Zum anderen werden immer spezifischere schenzeit auch in der Chemie (im akademischen wie
Stoffe funktionalisiert (so das Problem der soge- im industriellen Bereich) so hoch eingeschätzt, dass
nannten seltenen Erden), was mit ganz eigenen Ab- sich ein Zweig Nachhaltige Chemie zu bilden be-
hängigkeiten des Abbaus und der Verfügbarkeit ginnt. Wie bedeutsam wird das Leitbild Nachhalti-
solcher Ressourcen einhergeht. Bislang werden die ger Entwicklung für die Chemie sein? Zwar erzeugt
Abhängigkeiten, an die sich die Infrastruktur indus- es einen gewissen politischen Sog, so dass Wissen-
trieller Stoffproduktion bindet, nur selten explizit schaftler sich als soziale Bewegung formieren
gesehen. Als Konzept wissenschaftlich-gesellschaft- (Woodhouse/Breyman 2005). Jedoch ist damit noch
licher Thematisierung solcher Ressourcenprobleme nichts über die Breitenwirkung in die verzweigten
wird gegenwärtig das der Kritikalität ins Spiel ge- Felder der Synthetischen Chemie und ihrer industri-
bracht (Schmidt/Reller 2012). ellen Produktion hinein gesagt. Auffällig sind gleich-
Eine zweite Problemstellung ergibt sich mit Blick wohl vielfältige Suchbewegungen, die alternative
auf das Problem globaler Gerechtigkeit (s. Kap. Synthesekonzepte ins Visier nehmen, Perspektiven
IV.B.9). Mit der Chemie als industrieller Produktion zu einer Transformation der Grundstoffbasis ent-
gehen spezifische Gerechtigkeitsprobleme einher wickeln oder auch Angebote für die Bewertung che-
(Scheringer 2002). Entscheider und Betroffene erge- mischer Stoffe unterbreiten. Aufschlussreich bei der
ben zwei Gruppen – und das nicht nur in einem na- Formierung dieses Forschungsfeldes ist die Frage,
tionalstaatlichen, sondern eben in einem globalen wie im Forschungsprogramm analytische und nor-
Maßstab. So können ökonomischer Nutzen und die mative Problemstellungen ineinandergreifen.
Betroffenheit von Nebenfolgen auseinanderfallen. Alternative Synthese- und Stoffkonzepte: Ein zen-
Viele der Chemikalien werden in der nördlichen He- trales Prinzip der Nachhaltigen Chemie ist die Atom-
misphäre produziert, wo denn auch die ökonomi- ökonomie, das gleichsam als Minimalismusgebot in-
sche Wertschöpfung stattfindet – die Nebenfolgen in terpretiert werden kann (Anastas/Warner 1998).
Form von Umweltschäden fallen jedoch aufgrund Stoffeinsatz und -ausbeute sollen in einem optima-
der Zirkulation von Stoffen in der Atmosphäre oder len Verhältnis stehen. Aber auch die genutzten Ein-
den Ozeanen oft in der südlichen Hemisphäre an. satzstoffe sollen hinsichtlich ihrer Nutzungsbedin-
Unter dem Gesichtspunkt global gerechter Vertei- gungen geprüft werden. Dies sind – genau betrach-
lung von Entwicklungschancen ist das inakzeptabel. tet  – Fragestellungen, die gute Synthesechemiker
›Stoffproduktion‹ und ›Risikoproduktion‹ durch die schon immer berücksichtigten. Aber es gibt in der
Chemie folgen einer verwickelten Logik. Diese Lo- Zwischenzeit auch Konzepte, die prinzipiell neue
gik kann nur unter der Perspektive einer arbeitsteili- Wege gehen. Klassischerweise hat man chemische
gen, globalisierten Ökonomie aufgeschlüsselt wer- Stoffe nach dem Paradigma der Stabilität syntheti-
den, bei der die Konkurrenz der Standorte auch als siert. In der Zwischenzeit finden sich auch neue Syn-
Konkurrenz um die niedrigsten Umwelt- und Ar- theseprinzipien, wie das einer ›Chemie der kurzen
beitsschutzstandards ausgetragen wird. Entschei- Reichweite‹. Nach diesem Konzept werden die Stoffe
dend ist also der vernetzende Blick auf die Ströme mit einer Stabilität auf Zeit versehen. Erfolgreich
globaler Wertschöpfung, der lokalen Platzierung be- wurde dieses Konzept etwa bei pharmazeutisch
stimmter (gefährlicher) Produktionsbereiche und wirksamen Substanzen angewandt, die aufgrund ih-
die geltenden Regulationsstandards entlang der rer Stabilität nicht nur die erwünschte Wirkung im
Wertschöpfungskette. Menschen als Therapeutikum zeigten, sondern auch
(2) Bewertungsprobleme innerhalb der Syntheti- unerwünschte als Umweltschadstoffe, weil sie von
schen Chemie: Die Bewertungsprobleme der Synthe- Klärwerken nicht aufgefangen werden konnten. Mit
tischen Chemie verdanken sich zunächst der unge- dem neuen Design gelangen sie bis zum menschli-
heuren inneren Differenzierung dieses Feldes. Es chen Wirkort, zerfallen dann aber zu ungefährlichen
gibt in der Synthetischen Chemie so unterschiedli- Stoffen (Kümmerer/Schramm 2008).
che Bereiche wie die Medizinische Chemie, Agro- Bewertungskonzepte: Ein wesentlicher Aspekt für
chemie, aber auch neue Materialien, wie z. B. Poly- die Frage nach der Nachhaltigkeit von Chemie ist die
mer-Chemie oder auch: Nano-Chemie. Zum ande- Möglichkeit der Bewertung unterschiedlicher Stoffe
ren geht die Polykontextualität der Nutzung von und Synthesekonzepte. Die Bewertung ist geradezu
24. Synthetische Chemie 373

die Schnittstelle von epistemischen und gesellschaft- erschallt weiterhin laut der Ruf nach Produkten der
lichen Werten. Da jedoch die Indikatoren der Nach- High-end chemistry. Dabei geht es darum, avancier-
haltigkeit eine komplexe Struktur aufweisen, ist die teste Synthesen zu kreieren, um immer spezifischere
Transparenz der Bewertung ein wesentlicher Ge- Funktionen zu erschließen. Auf der anderen Seite
sichtspunkt (Böschen et al. 2003). Bei der Analyse gibt es den Ruf nach einer nachhaltigen Entwick-
von der Chemikalienverordnung Registration, Eva- lung. Gemäß der zwei Einteilungen von Bewer-
luation, Auothorisation and Restriction of Chemicals tungsproblemen in Bezug zur Synthetischen Chemie
(REACh) wurde schon darauf hingewiesen, dass es (s. o.) lässt sich das Problem wachsender Kontextua-
eine Erweiterung bei den Indikatoren für Risiko gab: lisierungsleistungen genauer aufschlüsseln.
von Indikatoren des Schadens hin zu Indikatoren Erstens wird für eine nachhaltige Stoffnutzung
der Gefährdung. Persistenz und Reichweite waren vor allem die Menge und Vielfalt gesellschaftlichen
Indikatoren, die von der ökologischen Chemie aus- Stoffverbrauchs entscheidend sein (Reller/Holding-
gearbeitet worden sind (Scheringer 2002). Diese In- hausen 2011). Obgleich das Fortschrittsleitbild nicht
dikatoren adressieren komplexe Sachverhalte, wes- mehr unumschränkt wirksam ist (s. Kap. III.5), so
halb die faktischen Evidenzen mit kommuniziert dominiert dennoch der ökonomische Wert des
werden müssten. Um solche Bewertungskonzepte zu Wachstums viele Debatten gesellschaftlicher Ent-
stärken, bedarf es neuer Transparenzoptionen über wicklung. Dies korrespondiert nicht nur mit einer
die zugrunde liegenden Kriterien und Observablen Ausweitung, sondern ebenso mit einer Diversifizie-
(s. Kap. VI.2). Andernfalls führen solche Indikato- rung gesellschaftlichen Stoffkonsums. Vor diesem
ren nicht zur gewünschten besseren Entscheidbar- Hintergrund muss man begründet Zweifel an einem
keit, sondern erzeugen vielmehr neue Strategie- nachhaltigen Umbau gesellschaftlicher Stoffnutzung
räume der Intransparenz hinsichtlich der zu beurtei- hegen. Dabei steht zu befürchten, dass zwar Nach-
lenden Risiken. haltigkeit kommunikativ eingelöst wird, zugleich
aber in der Summe mehr nicht-nachhaltige Prozesse
denn je implementiert werden. Das Phänomen der
Synthetische Chemie im Kontext ›diskursiven Veredelung‹ kritikaler Stoffnutzung
muss also die ethische Reflexion über die Synthese-
Systematisch gesehen, wächst also die Vielfalt von chemie zentral beschäftigen. Kontextualisierungs-
Kontextualisierungsleistungen, die bei der Umset- optionen der Synthetischen Chemie bestehen hier
zung industrieller Synthesen erbracht werden müs- mit Blick auf Strategien der Minderung von Stoffein-
sen. Dieser Umstand findet seinen allgemeinen Aus- sätzen, einer anderen Funktionalisierung von Stof-
druck in der Diagnose der Risikogesellschaft, nach fen oder sogar Strategien der Dematerialisierung.
der es nämlich gerade die Nebenfolgen erfolgreicher Warum nicht über ein ›Stoff-Leasing‹ nachdenken?
Modernisierung (in unserem Fall der Ausweitung Zweitens gilt es, Kontextualisierungsoptionen der
wissenschaftlich-technologisch geformter Stoffum- Synthetischen Chemie systematisch zu verfeinern.
satzprozesse von Gesellschaften) sind, welche die Hier lässt sich etwa an eine veränderte Ausbildung
Entwicklungsdynamik in spätmodernen bzw. »refle- des wissenschaftlichen Nachwuchses der Synthese-
xiv-modernen« Gesellschaften bestimmen (Beck chemie denken. Wird in der Ausbildung mit erwei-
1986; Böschen et al. 2006). Die Nebenfolgen für die terten Heuristiken gearbeitet, die auch gesellschaft-
gesellschaftliche wie natürliche Umwelt, die etwa mit lich relevante Probleme reflektieren, so verbreitet
neuen Optionen von Stofffunktionalisierung ver- sich diese Form des Denkens und Arbeitens (es gibt
bunden sind, werden dadurch in einem steigenden schon Angebote für ein neues chemisch-organisches
Umfang begründungspflichtig und fallen unter sich Praktikum, vgl. Ranke et al. 2004). Zudem ließe sich
ausweitende regulative Ansprüche. Um diesen wie- die Frage nach der Verwirklichung gesellschaftlicher
derum begegnen zu können, zeichnen sich neue Werte im »ethischen Projekt« der Regulierung che-
Formen der Problembewältigung schon im Bereich mischer Stoffe und Verfahren positionieren und da-
der Forschung ab. Allerdings sind diese Prozesse bei auch die Kongruenz von Regulierungsideen und
verwickelt. So entfaltet etwa das Leitbild Nachhaltige Wissenspraktiken reflektieren.
Entwicklung (s. Kap. IV.B.10) eine heuristische Qua- Kurz: Die Synthetische Chemie bedarf einer
lität, aber keine Tiefenregulierung des Feldes der ethisch-praktischen Dauerreflexion, um Kontextua-
Synthetischen Chemie. Denn eine Kontrastierung lisierungsanforderungen wie -optionen aufzuzeigen.
kann nicht übersehen werden. Auf der einen Seite So können die Verbindung epistemischer und gesell-
374 V. Technikfelder

schaftlicher Werte in der Nutzung von Stoffumsatz- 25. Ubiquitous Computing


prozessen transparent gemacht und wissenschaftli-
che wie öffentlich-politische Suchprozesse nicht nur
in Gang gesetzt, sondern auch Strukturierungshilfen Definition und Charakteristika
angeboten werden.
Ubiquitous Computing (Ubicomp, Ubiquitäre Sys-
Literatur teme) bezeichnet keine konkrete Technologie, son-
Anastas, Paul T./Warner, John C.: Green Chemistry. Theory
dern eine informatische Vision allgegenwärtiger
and Practice. New York 1998. Datenverarbeitung und Nutzung informatischer
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Systeme, bei der es weder nennenswerte Bedie-
Moderne. Frankfurt a. M. 1986. nungsanforderungen noch Hardwarebelastungen
Böschen, Stefan/Kratzer, Nick/May, Stefan (Hg.): Nebenfol- für den Nutzer gibt. Ubiquitäre Systeme agieren
gen. Analysen zur Konstruktion und Transformation mo-
quasi unsichtbar im Hintergrund unseres Hand-
derner Gesellschaften. Weilerswist 2006.
Böschen, Stefan/Lenoir, Dieter/Scheringer, Martin: Sus- lungsfeldes. Bei den bisherigen Realisierungen
tainable chemistry: Starting points and prospects. In: handelt es sich um lokal begrenzte und anwendungs-
Naturwissenschaften 90 (2003), 93–102. spezifische Lösungen, die in unterschiedlichen in-
Brüggemeier, Franz-Josef: Das unendliche Meer der Lüfte. formatischen und nachrichtentechnischen Techno-
Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebat-
logien konkretisiert sind.
ten im 19. Jahrhundert. Essen 1996.
EEA (European Environment Agency): Late lessons from Alltägliche Handlungen sollen durch ubiquitäre
early warnings: the precautionary principle 1896–2000. Systeme jederzeit und überall eine Unterstützung er-
Environmental Issue Report 22. Copenhagen 2001. fahren. Sogenannte virtuelle Agenten sollen uns in
Grunwald, Armin/Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit. Alltagsgeschäften entlasten und unsere Intentionen
Frankfurt a. M. 2012. vorauseilend unterstützen; das heißt, sie sollen z. B.
Henseling, Karl Otto: Am Ende des fossilen Zeitalters. Mün-
chen 2008. unsere Reiseplanungen übernehmen und für uns die
Kitcher, Philip: Science in a Democratic Society. Amherst, unseren Präferenzen entsprechend günstigsten An-
NY 2011. gebote auswählen und buchen, sie sollen unsere
Kümmerer, Klaus/Schramm, Engelbert: Arzneimittelent- Gesundheit überwachen, uns mit Handlungsanwei-
wicklung. Die Reduzierung von Umweltbelastungen sungen in außergewöhnlichen Situationen versorgen
durch gezieltes Moleküldesign. In: Umweltwissenschaf-
ten und Schadstoffforschung 20 (2008), 249–263. usw. Dies soll ermöglicht werden, indem alle Gegen-
Perrow, Charles: Normale Katastrophen. Frankfurt a. M. stände der Mesosphäre  mit Sensoren, Radio-Fre-
1986. quency-Identification (RFID)-Chips und Rechen-
Ranke, Johannes/König, Burkhard/Diehlmann, Achim/ einheiten ausgestattet und nachrichtentechnisch
Kreisel, Günter/Nüchter, Matthias/Störmann, Reinhold/ miteinander verknüpft werden. Die gesamte Hand-
Hopf, Henning: NOP – Ein neues organischchemisches
Grundpraktikum: Nachhaltigkeit per Internet. In: Che-
lungsumgebung soll zu meinem Informanten und
mie in unserer Zeit 38 (2004), 258–266. Kommunikationspartner werden. Die Dinge meiner
Reller, Armin/Holdinghausen, Heike: Wir konsumieren uns Umgebung erfahren eine informatische Aufladung
zu Tode. Frankfurt a. M. 2011. bzw. Ergänzung (Augmented Reality) unter be-
Scheringer, Martin: Persistenz und Reichweite. Weinheim stimmten Handlungsoptionen. Diese ergeben sich
2002.
– /Böschen, Stefan/Hungerbühler, Konrad: Will we know
daraus, dass mich das System als jemanden, der eine
more or less about chemical risks under REACH? In: Rolle ausführt, wahrnimmt, also als Reisender, Ein-
CHIMIA 60 (2006), 699–706. kaufender, Kranker usw. und mich in dieser Rolle
Schmidt, Claudia/Reller, Armin: Bewerten lernen durch unterstützt.
Stoffgeschichten und Kritikalitätsanalysen. In: Natur- Die angestrebte Individualisierung der Systemnut-
wissenschaften im Unterricht  – Chemie 23/127 (2012),
zung ist prinzipiell begrenzt und wäre auch kontra-
44–47.
Woodhouse, Edward J./Breyman, Steve: Green chemistry produktiv, da das System sonst möglicherweise auch
as social movement? In: Science, Technology & Human Marotten und Neurosen unterstützen würde. Infor-
Values 30 (2005), 199–222. mationen können mir auf dem Display meines End-
Stefan Böschen gerätes oder über ein Headset mitgeteilt, in meine
Brillengläser projiziert oder direkt an der Oberfläche
eines Gegenstands angezeigt werden. Widerstände
sollen ausgeschaltet oder umgangen und kompatibel
mit allgemeinen Interessen gemacht werden.
25. Ubiquitous Computing 375

Die zentralen Charakteristika des Ubiquitous werden. Es kündigt sich damit ein technologisches
Computing sind das weitgehende Verschwinden von ›Zauberlehrlingsproblem‹ an. Aus dem Grundpro-
Hardwarekomponenten und der Mensch-System- blem des Widerständigkeits- und damit Wirklich-
Schnittstelle, die Adaptivität und Smartness des Sys- keitsverlusts ergeben sich Folgeprobleme: Das System
tems, die Selbstorganisiertheit und Kontextwahr- wird selbst anstelle des Handlungssubjektes zum Trä-
nehmung  – d. h. die Fähigkeit, Handlungssituatio- ger von Handlungen. Der Verlust an Widerstandser-
nen zu erkennen  – des Systems, die informatische fahrungen kann auch zu einer Schwächung der per-
Aufladung der Mesosphäre, die ubiquitäre Nutzbar- sonalen Identität führen, die sich in solchen Erfah-
keit sowie die handlungsrelevante Verknüpfung von rungen ausbildet, indem sie Anerkennung oder
lokalen und globalen Informationen. Einsatzfelder Nichtanerkennung erfährt sowie Kompetenzen und
mit unterschiedlichen ethischen Herausforderungen eigene Widerstandspotentiale ausbildet. Die Gefahr,
sind v. a. Militär und innere Sicherheit (s. Kap. V. 15 dass wir uns in von ubiquitären Systemen erschlosse-
und Kap. V.22), Produktion (Smart Factory), medizi- nen Welten wie Kleinkinder verhalten, die mit Hilfe
nische Anwendungen und Pflege bzw. Assistenz, des Systems eine instantane Wunscherfüllung erwar-
Mobilität, Wohnen (Smart Home), Katastrophenma- ten, ist gegeben. Technische Modelle werden mögli-
nagement, Einkaufen und Freizeit. cherweise auf soziale Verhältnisse übertragen. Die in-
telligente Handlungsumgebung sozialisiert dann in
gewisser Hinsicht die unbelebte Natur, entsozialisiert
Begriffsgeschichte aber zugleich die Gesellschaft, insofern sie soziale
Prozesse unter dem Gesichtspunkt der Effizienz bei
Der Begriff wurde 1991 von Mark Weiser eingeführt der Verwirklichung von Wünschen fokussiert. Dass
und basiert auf älteren Konzepten wie Mobile oder Wünsche sozialer und psychologischer Wandlungen
Context-aware Computing. Weiser bediente sich dabei unterliegen, dass sie verhandel- und korrigierbar sind,
eines Begriffes der mittelalterlichen Metaphysik. Die entzieht sich aber einer rein technischen Behandlung.
ubiquitas (Allgegenwärtigkeit) ist ein Attribut Gottes, Von grundlegender Bedeutung ist die Frage, ob
der allein überall und gleichzeitig wirken kann. Mit sich paternalistische Effekte und Entmündigungen
gewissen Akzentverschiebungen bezeichnen v. a. auch bei der Nutzung ubiquitärer Systeme vermeiden las-
die Begriffe Pervasive Computing (v. a. in ökonomi- sen. In der Kranken- und Altenpflege bzw. -assistenz
schen Kontexten), Ambient Intelligence (v. a. in euro- werden solche Effekte sogar angestrebt, wenn Hand-
päischen Forschungsprojekten) sowie Internet der lungsalternativen und Ausstiegsmöglichkeiten aus
Dinge das gleiche visionäre Anwendungsfeld. Auch der Systemunterstützung verschwiegen werden. Un-
wenn die Begriffe nicht deckungsgleich sind, so kon- ter dem Begriff Persuasive Computing (persuasive:
vergieren sie in der konkreten Entwicklung. überreden) erlangt der Paternalismus sogar ein stra-
tegisches Konzept. Das Privatheitsproblem erfährt
in intelligenten Umgebungen eine Zuspitzung. Die
Herausforderungen an die Ethik Allgegenwart des Systems bettet private Entschei-
dungen in den Kontext einer allgegenwärtigen Da-
Eine Erschließung unseres Alltags durch ubiquitäre tenverarbeitung ein und gibt sie damit einer tatsäch-
Systeme hätte enorme Auswirkungen auf die drei Be- lich existierenden oder potentiellen Öffentlichkeit
dingungen des ethischen Diskurses, nämlich die ›Be- preis, wodurch eine Einschränkung der dezisionalen
stimmbarkeit der Wirklichkeit‹, in der gehandelt wer- Privatheit stattfindet. Lokationsdienste erlauben das
den soll, die ›Identität des Handlungssubjekts‹, das die Auffinden von Personen in den unterschiedlichsten
Verantwortung für sein Handeln übernehmen soll so- Situationen, wodurch die lokale Privatheit eine Ein-
wie die ›Wahl‹, die verantwortliches Handeln ermög- schränkung erfährt. Die Umsetzung eines Rechts auf
licht. Als Grundproblem erweist sich der Verlust der informationelle Selbstbestimmung (s. Kap. V.9) ist in
Widerständigkeit als elementares Charakteristikum einer Flut von personenbezogenen Daten faktisch
von Wirklichkeit. Das Paradigma einer perfekt in den nicht mehr umsetzbar. Selbst Techniken zur Anony-
Alltag integrierten Technik, die sich wie eine gut sit- misierung von Identitäten verhindern nicht, dass
zende Brille quasi selbst zum Verschwinden bringt, Strategien der persönlichen Datenverwaltung Be-
wird zum Problem, denn eine Technologie, die keine standteil der Fremdwahrnehmung werden. Durch
Schnittstelle und keine Widerständigkeit mehr wahr- das Gewähren bzw. Verweigern von Lokationsanfra-
nehmen lässt, kann weder kontrolliert noch gesteuert gen wird eine Datenspur hinterlassen. Mit einer
376 V. Technikfelder

kaum vermeidbaren Dauerobservation durch ubi- Ethosbildung thematisieren, liegen bislang kaum vor.
quitäre Systeme könnte sich ein Panoptikumseffekt Zu den wenigen bisherigen Arbeiten gehören die von
einstellen, der jede Form individueller Äußerung Peter-Paul Verbeek (2011), Mark Coeckelbergh
verhindert (s. Kap. V.22). Zuletzt stellt sich die Frage, (2011) und Philip Brey (vgl. Philipps/Wiegerling
ob beim Ubiquitous Computing eine umgekehrte 2007) in den Niederlanden sowie von Christoph Hu-
Adaption stattfindet, ob sich also der Nutzer mehr big (2003, 2007) und Klaus Wiegerling (2011) in
an das System adaptiert als umgekehrt und es so zu Deutschland. Die meisten ethischen Diskussionen
einer ›sanften‹ Steuerung seines Verhaltens kommt. sind Problemfreilegungen und -sammlungen. In ein-
Die vielfältigen Problemlagen und unterschiedli- zelnen Anwendungsfeldern gibt es inzwischen eine
chen nationalen bzw. kulturellen Präferenzen haben Fülle von begleitenden ethischen Studien, die meis-
bisher keine einheitlichen Lösungsansätze hervorge- tens am Problem des Privatheitsverlustes (s. Kap. V.9
bracht. Das Hauptaugenmerk liegt derzeit vor allem und Kap. V.10) ansetzen. Exemplarisch seien einige
auf technischen und stark individualisierten Lösungs- darüber hinaus gehende Problemfelder benannt:
ansätzen der Datenschutz- bzw. Privatheitsfrage, was Ökonomie: Es wird eine weitere Anonymisierung
sich in unterschiedlichen Sicherheitsarchitekturen ar- und Unkontrollierbarkeit ökonomischer Handlun-
tikuliert. Ob individualistische Lösungsansätze, die gen befürchtet, wenn Systeme selbständig und ohne
allein darauf setzen, dem Nutzer Werkzeuge für seine ausdrückliche Aufforderung nicht nur an ökonomi-
Datensicherheit an die Hand zu geben, die Probleme schen Prozessen teilnehmen, sondern solche auch
lösen können, muss angesichts der Komplexität des eigenständig initiieren. Die bereits bestehenden Pro-
Ubiquitous Computing bezweifelt werden. Das im bleme bei der Verantwortungszuschreibung in der
Rahmen des Stuttgarter DFG-Forschungsprojektes netzbasierten E-Economy wird durch den Einsatz
Nexus  – Umgebungsmodelle für mobile kontextbezo- ubiquitärer Systeme eine Steigerung erfahren. Die
gene Systeme entwickelte Konzept der Parallelkom- permanente Überwachung von Arbeitsprozessen
munikation ist der Versuch, Probleme wie die Ent- kann enorme psychische und physische Auswirkun-
mündigung des Nutzers und die Unkontrollierbarkeit gen auf Arbeitnehmer/innen haben.
der Technik abzumildern (vgl. Hubig 2007; Wieger- Recht: Als ein Schlüsselproblem erweist sich neben
ling 2011). Indem bei Irritationen ad hoc über parallel der Datenschutzproblematik die Frage nach der Zu-
im System implementierte Kanäle Metainformatio- schreibung von durch die Systeme generiertem Wis-
nen zum Zustandekommen der Information (wie, sen mit entsprechenden Auswirkungen auf Fragen
wann, wo, von wem) erlangt und eine Kommunika- des Verursacherprinzips bzw. des Schadenersatzes (s.
tionsmöglichkeit mit Mitnutzern und Einrichtern ge- Kap. V.21). Wissensgenerierung erfolgt in der her-
geben wird, soll dem Nutzer eine Möglichkeit der Sys- kömmlichen automatischen Informationsverarbei-
temkontrolle nach Plausibilitätskriterien und eine Ein- tung in eingeschränkten Sphären mit Hilfe von Ex-
griffsmöglichkeit in Systemkonfigurationen gewährt pertensystemen für Experten, die diesen Prozess
werden. Parallelkommunikation ist für Laien entwi- durch gezielte Eingaben kontrollieren, steuern und
ckelt worden und stellt die Entlastungsfunktion der die Ergebnisse beurteilen können. Beim Ubiquitous
Technologie nicht infrage. Es geht darum, im Hinter- Computing erfolgt die Eingabe permanent und auto-
grund agierende Systeme in ihrer Funktions- und Wir- matisiert, wobei es nicht um die Generierung von Ex-
kungsweise wahrnehmbar zu machen und einen Bei- pertenwissen geht, sondern um die Unterstützung all-
trag zur Kompetenzwahrung bzw. -wiedererlangung täglicher Verrichtungen. Es handelt sich nicht nur um
zu leisten. Im Zentrum steht die Autonomiewahrung die automatische Eingabe von Wetterdaten, sondern
des Nutzers gegenüber dem System durch die Aufwei- um eine instantane Inbeziehungsetzung von Daten zu
sung und Gewährung von Handlungsoptionen sowie Handlungsintentionen des Nutzers. Gerade, weil die
Ausstiegsmöglichkeiten aus der Systembegleitung. Systeme Handlungswissen vermitteln sollen, das un-
mittelbar an den Alltag anschließbar ist, können Fehl-
informationen und Fehlleistungen der virtuellen
Ethische Untersuchungen Agenten enorme Auswirkungen haben. Die Frage
und Anwendungsfelder aber, wer die Folgen einer aufgrund von Fehlinforma-
tionen zustande gekommenen Handlung zu verant-
Systematische ethische Erörterungen, die sowohl worten hat, ist noch ungeklärt (s. Kap. II.6).
ethische Grundfragen als auch das Potential und die Versicherungswesen: Mit Hilfe ubiquitärer Sys-
Auswirkungen des Ubiquitous Computing auf die teme versucht man, eine vermeintliche Informati-
25. Ubiquitous Computing 377

onsasymmetrie zwischen Versichertem und Versi- ein anderes Wesen als wir es sind, und er wäre auch
cherung zugunsten letzterer aufzuheben, was aber in anderer, nämlich technischer Weise mit der Um-
zur totalen Überwachung des Nutzungsverhaltens welt und dem ›System der Gesellschaft‹ verbunden.
etwa eines PKW-Halters führen kann. Insbesondere Die Haut wäre nicht mehr die Außengrenze des Lei-
besteht die Gefahr einer weiteren Individualisierung bes, und er wäre ein permanent observiertes und von
von Versicherungstarifen bis hin zur kompletten außerorganischen Kräften gesteuertes Wesen.
Aushöhlung der Versicherungsidee. Auch aus sozial- Pflege: In der Krankenpflege und Assistenz von
politischen Gründen wäre eine solche Entwicklung älteren Menschen verspricht man sich mit auf ubi-
bedenklich, da günstige Tarife nur noch die erhalten, quitären Systemen basierenden Anwendungen wie
die für die Versicherung das geringste Risiko darstel- dem sog. Ambient Assisted Living (AAL) eine Mög-
len, also in besseren, von Diebstählen weniger belas- lichkeit, das Problem des demografischen Wandels
teten Wohnvierteln wohnen und über eine eigene in den Griff zu bekommen. Alte Menschen werden
Garage verfügen. Die Verweigerung der Systemnut- mit Systemunterstützung länger und weitgehend au-
zung könnte mit Einschränkungen des Versiche- tonom in der eigenen Wohnung leben können. Die
rungsschutzes und mit Mehrkosten verbunden sein. Systeme dienen ihnen als Erinnerungshilfen z. B. für
Medizinische Anwendungen: Von den vielfältigen die Medikamenteneinnahme, managen ihren Alltag,
Einsatzmöglichkeiten von der Notfall- über die Tele- beobachten ihre Gesundheit und erbringen über ro-
medizin und das Patientenmanagement bis zur Risi- botische Systeme Pflegeleistungen. Die Entlastungs-
kopatientenobservation sind vor allem neuere For- funktion der Systeme kann schnell, wie oben er-
schungsansätze massiv mit ethischen Fragen kon- wähnt, in Entmündigungen umschlagen. Die Ein-
frontiert. So findet eine Erweiterung der Vision richtung von Assistenzsystemen in der Pflege und
ubiquitärer Systeme dahingehend statt, dass es mit Altenbetreuung ist eine Gratwanderung zwischen
Hilfe intelligenter mit der Außenwelt verknüpfter Entlastung und Entmündigung. Paternalistische Ef-
Implantate und Prothesen einerseits zu einer perma- fekte entlasten die Gesellschaft auf Kosten der Mün-
nenten Überwachung und Regulierung des Vitalzu- digkeit des Individuums.
stands, andererseits aber auch zu Steigerungen (En-
hancement, s. Kap. V.8) körperlicher Potentiale kom-
men soll. Die Idee des Ubiquitous Computing wird Aktueller Stand und Perspektiven
dabei mit den Ideen des Cyborgs und des Biofakts
verknüpft und damit eine Konvergenz von Informa- Eine breitere ethische Erörterung des Ubiquitous
tions- und Biotechnologie eingeleitet (s. Kap. IV.C.1). Computing hat erst im neuen Jahrhundert begon-
Intelligente Implantate  – vom Kniegelenk bis zum nen, seither jedoch die Systementwicklung begleitet.
Hirnschrittmacher – sollen in ein verbessertes orga- Viele Probleme, die sich aus dem Einsatz von Ubi-
nisches Umfeld implantiert werden und nicht nur quitous Computing ergeben, werden unter andere
verlorene Funktionen und Vermögen wiederherstel- Bereiche der Angewandten Ethik, z. B. der Medizin-
len, sondern die physische Leistungsfähigkeit, die Le- ethik oder Informations- und Medienethik subsu-
bensqualität und möglichst auch die Lebensdauer er- miert. Im Wesentlichen geht es in der begleitenden
höhen. Dabei werden technische Normierungen zu- ethischen Forschung um Detailfragen, die im wei-
sehends auf Gesundheitsvorstellungen mit einer testen Sinne den Daten- bzw. Privatheitsschutz be-
eindeutigen Präferenz der Leistungsfähigkeit über- treffen (s. Kap. V.9), gelegentlich aber auch um Leit-
tragen. Es könnten leibliche Rhythmisierungen Ar- linien der Systementwicklung. Kulturelle Spezifika
beitsanforderungen angepasst werden, die wie beim und deren ethische Auswirkungen bei der System-
Piloten eine besonders hohe Aufmerksamkeit und entwicklung werden bisher eher selten erörtert. Der
physische Fitness verlangen. Der Mensch wäre in auf EU-Ebene favorisierte Begriff Ambient Intelli-
diesem Falle ständig von innen und außen observiert gence betont die Vertraulichkeitsidee und fordert im
und in seiner physischen Disposition manipuliert. weitesten Sinne eine ethische Begleitforschung in
Mit Hilfe von Verfahren des sog. Neurophysiological, den von ihr geförderten Projekten ein.
Biocybernetic oder Affective Computing könnten so- Die grundsätzliche, über Fragen des Daten- und
gar Denkvorgänge (Brain Reading) und emotionale Privatheitsschutzes hinausweisende, das gesellschaft-
Zustände erfasst und manipuliert werden. Das liche und individuelle Leben verändernde Dimen-
menschliche Leib- und Selbstverständnis würden sion des Ubiquitous Computing ist bisher selten dis-
sich radikal ändern. Der ›neue Mensch‹ wäre wohl kutiert worden. Die Gründe liegen wohl darin, dass
378 V. Technikfelder

die Vision des Ubiquitous Computing sich noch im- ›Internet der Dinge‹  – Grundlagen, Anwendungen, Fol-
gen. Berlin 2010.
mer in einem Entwicklungsprozess befindet und die
Heesen, Jessica/Hubig, Christoph/Siemoneit, Oliver/ Wie-
Fixierung von Potentialen einer Ermöglichungstech- gerling, Klaus: Leben in einer vernetzten und informati-
nologie angesichts ungelöster technischer, rechtlicher sierten Welt: Context-Awareness im Schnittfeld von Mo-
und ökonomischer Fragen als spekulativ empfunden bile und Ubiquitous Computing. Stuttgart 2005. In:
wird. Eine vollständige Realisierung der Vision des http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2007/3172/
index.html (20.06.2013).
Ubiquitous Computing wird zuweilen bezweifelt,
Hilty, Lorenz/Behrendt, Siegfried/Binswanger, Mathias/
d. h. die globale Ubiquität als nicht herstellbar erach- Bruinink, Arend/Erdmann, Lorenz/Fröhlich, Jörg/Köh-
tet. Trotz technischer Fortschritte sind wir selbst in ler, Andreas/Kuster, Niels/Som, Claudia/Würtenberger,
überschaubaren geographischen Räumen angesichts Felix: Das Vorsorgeprinzip in der Informationsgesell-
der fehlenden Infrastruktur und der letztlich unge- schaft. Auswirkungen des Pervasive Computing auf Ge-
klärten Kostenfrage, die auch Energie- und War- sundheit und Umwelt. Studie des Zentrums für Techno-
logiefolgen-Abschätzung (TA 46/ 2003). Zürich 2003.
tungskosten der Systeme einschließt, noch weit von Hubig, Christoph: Selbstständige Nutzer oder verselbst-
einer Realisierung der Vision entfernt. Ubiquitous ständigte Medien. Die neue Qualität der Vernetzung. In:
Computing ist zwar in der politischen Diskussion an- Friedemann Mattern (Hg.): Total vernetzt. Szenarien ei-
gelangt, allerdings verhindert die Fixierung auf aktu- ner informatisierten Welt. Berlin/Heidelberg/New York
elle Fragen, die sich aus der herkömmlichen Netznut- 2003, 211–230.
– : Ubiquitous Computing  – Eine neue Herausforderung
zung ergeben, oft die erweiterte Perspektive auf das für die Medenethik. In: David Phillips/Klaus Wiegerling
Ubiquitous Computing. Eine frühzeitige öffentliche (Hg.): International Review of Information Ethics (IRIE)
ethische Debatte über gesellschaftsverändernde Po- 8 (12/2007), http://www.i-r-i-e.net/inhalt/008/008_5.pdf
tentiale des Ubiquitous Computing könnte allerdings (28.03.2012).
eine die Entwicklung steuernde Wirkung haben. Langheinrich, Marc: Die Privatsphäre im Ubiquitous Com-
puting  – Datenschutzaspekte der RFID-Technologie. In:
Die seit 1999 jährlich stattfindende größte Fachta- http://www.vs.inf.ethz.ch/publ/papers/langhein2004
gung UbiComp (ACM International Conference on rfid.pdf (28.03.2012).
Ubiquitous Computing) integriert regelmäßig Work- Mattern, Friedemann (Hg.): Total vernetzt: Szenarien einer
shops und Vorträge, die ethische Fragen der System- informatisierten Welt. Berlin/ Heidelberg/New York
nutzung betreffen. In der Regel handelt es sich aller- 2003.
Nissenbaum Helen: Privacy in Context: Technology, Policy
dings nicht um Beiträge ausgewiesener Fachethiker, and the Integrity of Social Life. Palo Alto, CA 2009.
die Grundsatzfragen stellen und Anschlüsse an tradi- Norman, Donald: The Invisible Computer: Why Good Pro-
tionelle ethische Probleme herstellen, sondern um an- ducts Can Fail, the Personal Computer Is So Complex,
wendungsorientierte Berichte, die in breiterem Rah- and Information Appliances Are the Solution. Cambridge,
men ethische Konflikte thematisieren und entspre- Mass. 1998.
Phillips, David/Wiegerling, Klaus (Hg.): International Re-
chende Überblicke bzw. Einblicke in die Problemlage view for Information Ethics (IRIE) 8 (12/2007): Ethical
gewähren (Hilty et al. 2003; Heesen et al. 2005; BMBF Challenges of Ubiquitous Computing. In: http://www.
2006; einen Überblick über zentrale Konfliktfelder i-r-i-e.net/issue8.htm (20.06.2013).
verschaffen: Friedewald et al. 2010; EGE 2012). Roßnagel, Alexander/Jandt, Silke/Müller, Jürgen/Gutscher,
Andreas/Heesen, Jessica: Datenschutzfragen mobiler kon-
textbezogener Systeme. Wiesbaden 2006.
Tavani, Herman: Ethics & Technology: Ethical Issues in an
Literatur Age of Information and Communication Technology. Ho-
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) boken 2007.
(Hg.): TAUCIS  – Technikfolgenabschätzung Ubiquitäres Verbeek, Peter-Paul: Moralizing Technology: Understanding
Computing und informationelle Selbstbestimmung. Berlin and Designing the Morality of Things. Chicago 2011.
2006. In: www.bmbf.de/pubRD/ita_taucis.pdf (23.03.2012). Weiser, Mark: The Computer of the 21st Century. In: Scien-
Coeckelbergh, Mark: What are we doing? Microblogging, tific American 265/3 (September 1991), 94–104.
the ordinary privatem and the primacy of the resent. In: Wiegerling, Klaus: Philosophie intelligenter Welten. Mün-
Journal of Information, Communication & Ethics in Soci- chen 2011.
ety 9/2 (2011), 127–136. – /Heesen, Jessica/Siemoneit, Oliver/Hubig, Christoph:
EGE European Group an Ethics in Science and New Tech- Ubiquitärer Computer – Singulärer Mensch. In: Dieter
nologies: Ethics of Information and Communication Klumpp/Herbert Kubicek/Alexander Rossnagel/Wolf-
Technologies (Opinion No. 26). Brüssel 2012. In: http:// gang Schulz (Hg.): Informationelles Vertrauen für die In-
ec.europa.eu/bepa/european-group-ethics/docs/publi formationsgesellschaft. Berlin/Heidelberg 2008, 71–84.
cations/ict_final_22_february-adopted.pdf (20.06.2013). Klaus Wiegerling
Friedewald, Michael/Raabe, Oliver/Georgieff, Peter/Koch,
Daniel/Neuhäusler, Peter: Ubiquitäres Computing – Das
379

VI. Technikethik in der Praxis

1. Technik- und denen ebenfalls Innovationen identifiziert werden,


breiter aufgestellt. Neben technische Innovationen
Innovationspolitik treten nun beispielsweise ökonomische, kulturelle,
wissenschaftliche, politische und soziale Innovatio-
Technikethik, die Hintergründe von Technikbeur- nen. Für das Verständnis von Innovationsprozessen
teilungen und Technikentscheidungen aus ethischer wird das Ineinandergreifen und Zusammenwirken
Sicht reflektiert, um so zu verantwortbaren Ent- unterschiedlicher Innovationstypen betont. Drei un-
scheidungen beizutragen, ist gut beraten, auch das terschiedliche Phasen des Innovationsprozesses las-
Technikwissen anderer Disziplinen in ihre Fragestel- sen sich unterscheiden (Simonis 1999, 163):
lungen und Erkenntnissinteressen einzubeziehen, • die Invention einer neuen technischen Möglich-
um sich einerseits kritisch des eigenen Standpunktes keit,
zu versichern und lernfähig zu bleiben, und um • die Erforschung und Erprobung ihrer techni-
andererseits etwas über die Bedingungen und Mög- schen Realisierbarkeit und
lichkeiten zu erfahren, praktisch wirksam zu wer- • die Einbindung der neuen technischen Problem-
den. Der folgende Beitrag möchte aus Sicht der lösung in gesellschaftliche Kontexte der Anwen-
sozialwissenschaftlichen Technikforschung insbe- dung und Nutzung.
sondere zu dem zweiten Punkt einen Beitrag leisten.
Die letzte Phase des Innovationsprozesses, in der vor
allem soziale und institutionelle Faktoren bestim-
Begriffliche Einordnung mend sind, wird in der sozialwissenschaftlichen
Technikforschung als besonders bedeutsam für den
Der Titel dieses Beitrags »Technik- und Innovations- Erfolg von Innovation eingeschätzt.
politik« gleicht einer Matrjoschka-Puppe. Der Be- Technik und Innovation lassen sich jedoch nicht
griff erweist sich als verschachtelt, denn sein Inhalt nur begrifflich unterscheiden, sondern auch aufein-
beginnt sich erst zu erschließen, wenn die einzelnen ander beziehen. Eine wichtige Gemeinsamkeit be-
Dimensionen zunächst ›zerlegt‹, um anschließend steht darin, dass sich der Technik- wie auch der In-
wieder ›zusammengesetzt‹ zu werden. Drei Teildi- novationsbegriff als gesellschaftliche Institutionen
mensionen gilt es begrifflich zu unterscheiden: fassen lassen (Rammert 2008, 5f). Technik als Insti-
Die Bezeichnung ›Technik‹ (s. Kap. II.1) bezieht tution ermöglicht und beschränkt Handeln und
sich in einem engeren Sinne auf Artefakte, techni- Handelskalküle. Innovation kommt die – institutio-
sche Infrastrukturen, großtechnische Anlagen und nalisierte  – Funktion zu, die Ordnung in Frage zu
Querschnittstechnologien. Im weiteren Sinne wird stellen, zu irritieren oder (im Sinne Joseph Schum-
auch auf Methoden, Verfahren, Programme abge- peters) in einem kreativen Prozess sogar zu zerstö-
stellt. Nach der Verabschiedung des Technikdeter- ren. Die Zunahme technischer Innovationen pro-
minismus (s. Kap. IV.A.9) hat sich ein Verständnis duziert notwendigerweise die Zunahme von Unge-
durchgesetzt, das Technik als Ergebnis eines kom- wissheit. Im derzeitig bestimmenden Modell der
plexen mehrstufigen sozialen Auswahlprozess inter- ex-post-Steuerung des Innovationsprozesses folgt
pretiert (Lutz 1986). der technischen Innovation die Aneignung und Ein-
Auch der Begriff ›Innovation‹ weist eine beachtli- bettung der neuen Produkte und Verfahren im Rah-
che Bandbreite auf. In einem engen Verwendungs- men sozialer Prozesse.
zusammenhang wird er besonders auf technische Auch der Politikbegriff erweist sich als facetten-
Innovationen bezogen: die Erfindung neuer Pro- reich (Bröchler 2008, 183 ff.). Zunächst ist die Funk-
dukte, die Optimierung technischer Verfahren oder tion des politischen Systems als spezialisiertes Teil-
die Rekombination zu neuen Technologien (Ram- system der komplex ausdifferenzierten modernen
mert 2010, 2). Nach einem offeneren Verständnis ist Gesellschaft im Blick auf Technik- und Innovations-
der Begriff für andere gesellschaftliche Bereiche, in politik bedeutsam. Dem politischen System kommt
380 VI. Technikethik in der Praxis

die querschnittartige Funktion zu, gesamtgesell- beitung öffentlicher Aufgaben mit allem Nachdruck
schaftlich bindende Entscheidungen zu treffen und als staatliche Aufgabe reklamiert. Im Bereich der
umzusetzen, um öffentliche Probleme zu lösen. Im Technik- und Innovationspolitik sind nach diesem
Rahmen von Governance (Benz/Dose 2010) wird Modell autoritative Entscheidungen, die durch die
argumentiert, dass Akteure der Zivilgesellschaft für Exekutive, Gerichte und Vollzugsmaßnahmen der
die Lösung öffentlicher Probleme in die politische Verwaltung in der Regel durch Ge- und Verbote und
Willensbildung und Entscheidungsfindung einbezo- Verteilung von Leistungen gefällt werden, die Regel.
gen werden, um politische Handlungsfähigkeit zu Government wird heute zunehmend durch Gover-
verbessern (Mayntz 2010). nance abgelöst. Dies kommt darin zum Ausdruck,
Bedeutsam für das Verständnis des Politikbegriffs dass staatliche und konfliktfähige nicht-staatliche
im Kontext von Technik- und Innovationspolitik Akteure in die Bearbeitung öffentlicher Probleme
sind darüber hinaus unterschiedliche Politikdimen- tendenziell immer häufiger einbezogen werden, um
sionen. Die Politikwissenschaft spaltet Politik – ana- die politische Handlungsfähigkeit zu erhöhen.
lytisch  – in drei Teilbereiche auf: in Form (Polity), Für das Feld ›Technik- und Innovationspolitik‹
Prozess (Politics) und Inhalt (Policy). Bei Polity, be- etabliert sich der Begriff ›Technology Governance‹
zogen auf Technik- und Innovationspolitik, wird die (TG) (Bröchler 2010; Bröchler et al. 2012). Im Kern
institutionelle (Verfassungsnormen wie Artikel 5 geht es um die Art und Weise, wie Institutionen und
Absatz 3 Grundgesetz) und organisatorische Gestalt Akteure in modernen komplex organisierten Gesell-
(wie beispielsweise Funktion und Aufbau der zu- schaften gemeinsame Herausforderungen angehen
ständigen Ressorts oder netzwerkartiger Strukturen und Probleme bearbeiten, die aus der Entwicklung
im Bereich der Technik- und Innovationspolitik) und Reproduktion sozio-technischer Systeme resul-
zum Gegenstand. Politics stellt auf die Aspekte tieren. Technology Governance im Bereich der
Macht-, Konsens- und Durchsetzungsstrategien ab. Technik- und Innovationspolitik ist ein noch ver-
Policy fokussiert besonders politische Programme gleichsweise junges Forschungsfeld der mannigfach
im Bereich der Technik- und Innovationspolitik, wie ausdifferenzierten Governance-Forschung (Benz et
beispielsweise den »Aktionsplan Nanotechnologie al. 2007). Forschungen zur Technology Governance
2015« oder das Förderprogramm »Informations- lassen sich in den Bereichen Biotechnologie
und Kommunikationstechnologien (IKT 2020)« des (Schmidt 2010), Energieversorgung (Fuchs 2012),
Bundesministeriums für Bildung und Forschung Nachhaltigkeit (Albrecht/Schorling 2010), Technik-
(BMBF) in Deutschland. folgenabschätzung (s. Kap. VI.4; Bröchler 2010;
Nach der ›Zerlegung‹ des Begriffs und der Skiz- Bröchler et al. 2012; Grunwald 2012; Simonis 2012)
zierung der Teildimensionen kann der Begriff ge- erkennen. Da die Umsetzung neuer Ideen in Pro-
nauer bestimmt werden. Technik- und Innovations- dukte und Verfahren in Unternehmen und nicht
politik lässt sich als politischer Handlungsraum (Po- durch den Staat stattfindet, findet Technology
lity) bestimmen, in dem Akteure von Staat und Governance besonders in der Wirtschaft und der
Zivilgesellschaft, im Rahmen von Governance bzw. Wissenschaft statt. Entsprechend hat Technikethik
Technology Governance bei der Bearbeitung öffentli- unterschiedliche Ansatzpunkte, indem sie sich an
cher Probleme, die aus Herausforderungen und ge- unterschiedliche Akteure richtet und deren Hand-
meinschaftlichen Problemen technischer Innovatio- lungsmöglichkeiten reflektiert, z. B. im Rahmen der
nen erwachsen, in Prozessen von Problemlösung, Wirtschaftsethik (s. Kap. IV.C.8).
Machterhalt und -gewinn (Politics), beispielsweise Für das bessere Verständnis der Funktionsweise
im Blick auf staatliche Handlungsprogramme (Po- der Verhandlungssysteme ist es sinnvoll, zwischen
licy), zusammenwirken. Technology Governance in der Politik einerseits und
in der Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft an-
dererseits zu unterscheiden (Simonis 2012). Ein
Technik- und Innovationspolitik wichtiger Anlass für politische Technology Gover-
unter Bedingungen von nance liegt vor, wenn technikinduzierte Probleme
Technology Governance zu  öffentlichen Konflikten (zu Technikkonflikten s.
Kap. III.6) avancieren. Staatliche und zivilgesell-
Seit einigen Jahren vollzieht sich ein übergreifender schaftliche Akteure sind eigensinnig, sie sind unter-
struktureller Wandel von Staatlichkeit. Nach dem äl- schiedlichen Systemanforderungen ausgesetzt und
teren gouvernementalen Verständnis wird die Bear- verfolgen deshalb unterschiedliche Handlungsratio-
1. Technik- und Innovationspolitik 381

nalitäten. Technik- und Innovationspolitik vollzieht Governance. Bei dieser Reflexion geht es darum, wer
sich verstärkt in netzwerkartigen Strukturen, in de- in den netzwerkartigen Verhandlungssystemen ei-
nen staatliche und private Akteure wechselseitig – je- nes breiten Akteurskreises aus staatlichen und zivil-
doch im Schatten der Hierarchie des Staates – inter- gesellschaftlichen Akteuren Verantwortung für Ent-
agieren. scheidungen trägt.
Eine wichtige Herausforderung für Technology Im Government-Modell war diese Anfrage ver-
Governance liegt darin, ob und wie es gelingt, das hältnismäßig einfach zu beantworten: Verantwor-
Zukunftsparadox technischer Innovationen zu be- tung trägt der Staat als demokratisch legitimierte In-
wältigen. Denn Innovationen besitzen ein janusköp- stitution! Ganz im Verständnis von Government
figes Antlitz. Auf der einen Seite verspricht Technik hatte noch Max Weber politisches Handeln verant-
die Lösung von Problemen durch die Erweiterung wortungsethisch klar zugeordnet: Verantwortung
von Handlungsoptionen. Auf der anderen Seite ver- tragen die politischen Entscheider (Weber 1958, 524).
ursacht Technik Probleme. Konflikte um beispiels- Demgegenüber ist die Zurechenbarkeit von Ver-
weise die Kernenergie (s. Kap. V.11) und den Trans- antwortung im Blick auf Technology Governance
rapid sowie technische Infrastrukturvorhaben wie kritisch zu hinterfragen – eine Problemstellung, die
»Stuttgart 21« oder der Ausbau des Frankfurter in hohem Maße an ethische Diskurse zur Verant-
Flughafens verdeutlichen, dass neue Techniken wortungsproblematik anschlussfähig ist (Grunwald
nicht nur technische, sondern auch wirtschaftliche, 1999). Versteht man Verantwortung als einen »Zu-
ökonomische, ökologische, zivilgesellschaftliche schreibungsbegriff« (Grunwald 2011), so lassen sich
und politische Probleme verursachen können. Jede fünf Tatbestandsmerkmale festhalten: »[…] jemand
neue technische Innovation ruft notwendigerweise ist verantwortlich für etwas vor einer Instanz relativ
Paradoxien im gesellschaftlichen Umgang hervor zu einem Regelwerk und relativ zu einem Wissens-
(Simonis 1999, 150): Handlungsmöglichkeiten wer- stand« (ebd., 14). In Willensbildungs- und Ent-
den unum actum erweitert und verschlossen; Unsi- scheidungsprozessen der Technik- und Innova-
cherheit wird zugleich verringert und vergrößert; tionspolitik – unter Bedingungen von Technology
Gesellschaftliche Reproduktion wird in einem Akt Governance – ist jedoch nicht so ohne weiteres of-
zugleich stabilisiert und destabilisiert. fensichtlich, wer eigentlich das »Verantwortungs-
Aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Technik- subjekt« ist. Tragen auch nicht-staatliche Akteure
forschung kann es keine grundsätzliche ›Lösung‹ des Verantwortung und wenn ja, in welchem Maße? Klä-
Zukunftsparadoxes geben. Eine Strategie im Um- rungsbedürftig ist deshalb die Frage, wie einer mög-
gang besteht jedoch darin, das Ausmaß der Unge- lichen Gefahr der »Verantwortungsverdünnung«
wissheit und Risiken einzuhegen und durch eine (Bechmann 1993) durch unklare Zurechenbarkeits-
prospektive Technik- und Innovationspolitik zu- zuschreibung begegnet werden kann.
kunftsfähige technische Innovationen zu ermögli-
chen. Sozialen und institutionellen Faktoren wird
dabei für den Erfolg von Innovationen eine hohe Be- Ansatzpunkte für Technikethik
deutung zugemessen. in der Technology Governance
Entscheidend ist, ob es gelingt, durch die Kontex- im Politikprozess
tualisierungsleistungen sozialer Innovationsprozes-
se Korridore im Blick auf normative Ziele wie Demo- Technikethik, die einen gestaltenden Beitrag zur
kratieverträglichkeit (zu Demokratie und Technik s. Technik- und Innovationspolitik leisten möchte, be-
Kap. IV.C.5) oder Nachhaltigkeit (s. Kap. IV.B.10) zu wegt sich in einem voraussetzungsvollen politisch
gestalten, die zukunftsfähigere Innovationen zu er- vorstrukturierten Handlungsraum. Aus diesem
möglichen helfen. Grund ist es sinnvoll, sich der Eigenheit des Systems
Politik zu vergewissern, um mögliche Ansatzpunkte
für technikethische Reflexionen zu identifizieren.
›Verantwortungsverdünnung‹ Das gesellschaftliche Teilsystem Politik ist durch
durch Technology Governance? eine systemische Funktionslogik und eine spezifische
Handlungslogik der demokratisch legitimierten
Vor dem Hintergrund von Technik- und Innovati- (Mit-)Entscheider charakterisiert. Politisches Han-
onspolitik stellt sich die Frage nach der Verantwor- deln lässt sich als einen interessengeleiteten Prozess
tung (s. Kap. II.6) im Bereich von Technology mit dem Ziel der gesamtgesellschaftlich verbindli-
382 VI. Technikethik in der Praxis

chen Bearbeitung gemeinschaftlicher Probleme vor che verschiedenen Strategien der Problembear-
dem Hintergrund von Motiven des Machterhalts und beitung in Frage kommen, um darauf folgend
des Machtgewinns der politischen Akteure verste- eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Ent-
hen. Politik hat unterschiedliche Gattungen von Pro- scheidung zu treffen. Wie kann das Problem
blem zu bearbeiten, die sich aus sozialwissenschaftli- künftig gelöst werden? Auf welche Art und
cher Sicht analytisch auf drei Varianten verdichten Weise soll die Problemlösung erzielt werden?
lassen (Bröchler 2012; Bogner/Menz 2010): (3) Durchführung der beschlossenen Maßnahmen
• Verteilungskonflikte, wie z. B. Tarifkonflikte, wer- zur Problemlösung: In dieser Phase geht es um
den um die Frage geführt, welche Machtansprü- die Umsetzung einer legitimierten Entscheidung
che sich in der Auseinandersetzung um knappe in der Regel durch die öffentliche Verwaltung.
Ressourcen durchsetzen. Wie wird der Kuchen Wie setzen Regierung und Verwaltung die poli-
aufgeteilt und wer bekommt welches Stück? tischen Ziele in der gesellschaftlichen Wirklich-
• Wissenskonflikte, etwa um gesetzlich zulässige keit durch?
Strahlungsgrenzwerte bei Mobiltelefonen, ent- (4) Wirkungen und Auswirkungen der eingesetzten
zünden sich an der Frage, welche Wahrheitsan- Strategien: Im Zentrum steht die Überprüfung
sprüche politische Gültigkeit erlangen sollen und des gewählten politischen Problemlösungshan-
so gesamtgesellschaftlich als verbindlich gelten: delns. Hat die Politik mit der gewählten Strategie
Was ist das ›wahre‹ Wissen und wie lässt es sich ihre Ziele erreicht?
definieren?
• Wertekonflikte reiben sich an der Frage, welche Ein wichtiger Interventionspunkt im Politikprozess
moralischen Richtigkeitsbehauptungen als gültig ist die Politikformulierung und -entscheidung.
anerkannt und für politische Entscheidungen Technikethische Reflexionen finden hier in der
handlungsleitende Bedeutung erhalten: Was dür- Regel als institutionalisierte Form der Politikbera-
fen wir tun bzw. was sollten wir aus guten Grün- tung statt. Wichtige Akteure sind beispielsweise
den unterlassen? Ethikkommissionen (s. Kap. VI.8), Akademien und
Ethikinstitute. Prägend ist die Orientierung auf Ent-
Technikethik, so lässt sich im Blick auf ihre Funktion scheidungsträger und das Modell der Beratung in
bei der Bearbeitung von gesamtgesellschaftlichen Fragen der Technikethik durch wissenschaftliche
Problemen konkretisieren, stellt einen spezialisierten Experten.
Typus der Problembearbeitung dar, der sich in erster In jüngerer Zeit unterliegt Technik- und Innova-
Linie mit der Reflexion von Wertekonflikten befasst. tionspolitik besonders im Bereich der Energiepolitik
Doch an welchen Stellen im Politikprozess kann einer deutlichen Veränderungsdynamik (s. Kap.
Technikethik ihre Expertise zur Geltung bringen? V.5). Ein Ausgangspunkt im Blick auf Ansatzpunkte
Das Modell des Policy Cycle soll im Folgenden ge- für technikethische Reflexionen ist die Reaktorkata-
nutzt werden, um mögliche Interventionspunkte zu strophe von Fukushima. Die erste Veränderung er-
identifizieren. In der Politikwissenschaft wird der folgte unmittelbar nach dem radioaktiven Super-
Politikprozess als eine sequentielle Abfolge unter- Gau im Jahr 2011. Für die Klärung der Folgekonse-
schiedlicher Phasen differenziert (Jann/Wegrich quenzen für die bundesdeutsche Energiepolitik
2009), um möglichst differenziert die interne Dyna- wurde – außerhalb der bestehenden institutionellen
mik, die Eigenarten und die Ursachen des komple- Strukturen für ethische Technikprobleme – ein
xen Prozesses der Politik zu verstehen: neues Gremium konstituiert: die Ethikkommission
(1) Problemwahrnehmung und Definition eines ge- »Sichere Energieversorgung«. Diese sogenannte
meinschaftlichen Problems: Auf dieser Ebene »Töpferkommission« sollte die Frage klären, ob die
wird geklärt, welche Streitfragen überhaupt den Nutzung von Kernenergie weiterhin zu verantwor-
Status eines gemeinschaftlichen Problems zuer- ten sei (Ethikkommission Sichere Energieversor-
kannt bekommen, um im Anschluss durch das gung 2011, 8). Dabei avancierte die technikethische
politische System bearbeitet zu werden. Welches Sichtweise auf den Konflikt zum archimedischen
Problem soll auf die politische Tagesordnung ge- Punkt für die Legitimation der künftigen Energiepo-
setzt werden? litik. Kernenergie wird seitdem politisch nicht mehr
(2) Politikformulierung und politisch verbindliche als Wissenskonflikt um die Bestimmung der richti-
Entscheidung: Es wird definiert, mit welchem gen Risikodefinition definiert, sondern prima facie
Ziel Probleme bearbeitet werden sollen und wel- als Wertkonflikt eingestuft. Die Kommission folgte
1. Technik- und Innovationspolitik 383

grundsätzlich dem Politikberatungsansatz mit Fokus Bechmann, Gotthard: Ethische Grenzen der Technik oder
auf Entscheidungsträger und Expertendominanz technische Grenzen der Ethik? In: Geschichte und Gegen-
wart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschafts-
und zielte auf die Phase der Politikformulierung und
analyse und politische Bildung 12 (1993), 213–225.
-entscheidung. Benz, Arthur/Dose, Nicolai (Hg.): Governance  – Regieren
Ein Gelegenheitsfenster für die künftige technik- in komplexen Regelsystemen: Eine Einführung. Wiesba-
ethische Reflexion resultiert aus den Empfehlungen den ²2010.
der Ethikkommission und der hierauf aufbauenden Benz, Arthur/Lütz, Susanne/Schimank, Uwe/Simonis, Ge-
politischen Entscheidung zur künftigen Energiever- org (Hg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundla-
gen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden 2007.
sorgung Deutschlands. Die ›Energiewende‹ lässt sich Bogner, Alexander/Menz, Wolfgang: Konfliktlösung durch
als Versuch verstehen, eine neue Architektur der Dissens? Bioethikkommissionen als Instrument der Be-
Technology Governance in der Energiepolitik zu arbeitung von Wertkonflikten. In: Peter Feindt/Thomas
etablieren. Angestrebt wird, dass Staat, Energieun- Saretzki (Hg.): Umwelt- und Technikkonflikte. Wiesba-
ternehmen und Zivilgesellschaft im Gemeinschafts- den 2010, 335–353.
Bröchler, Stephan: Technik. In: Arthur Benz/Susanne Lütz/
werk »Energiezukunft Deutschland« zusammenwir- Uwe Schimank/Georg Simonis (Hg.): Handbuch Gover-
ken. Dabei sollen insbesondere auch die demokra- nance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwen-
tietheoretischen Lehren aus den Konflikten um die dungsfelder. Wiesbaden 2007, 413–423.
Kernkraft und mit technischen Infrastrukturprojek- – : Politikwissenschaftliche Politikberatung. In: Ders./
ten gezogen werden. Diese bestehen darin, die Parti- Schützeichel, Rainer (Hg.): Politikberatung. Stuttgart
2008, 180–193.
zipationsrechte qualitativ zu erweitern, um zu er- – : Technikfolgenabschätzung und Technology Gover-
möglichen, dass die Bürgerinnen und Bürger früh- nance. In: Georg Aichholzer/Alfons Bora/Stephan
zeitig und signifikant auf den Politikprozess Einfluss Bröchler/Michael Decker/Michael Latzer (Hg.): Technol-
nehmen können. Dieser Einschätzung folgend sol- ogy Governance. Der Beitrag der Technikfolgenabschät-
len neue Chancen der Mitwirkung bei dezentralen zung. Berlin 2010, 63–74.
– : Das Lächeln der Grinsekatze: Ethische Politikberatung
Entscheidungen geschaffen werden (Ethikkommis- als Instrument politischer Konfliktbearbeitung. In: Ka-
sion Sichere Energieversorgung 2011, 7). tarina A. Weilert/Philipp W. Hildmann (Hg.): Ethische
Die angestrebte neue Technology Governance Politikberatung. Baden-Baden 2012, 45–67.
könnte Handlungsspielräume für einen neuen An- – /Aichholzer, Georg/Schaper-Rinkel, Petra: Einleitung:
satzpunkt für technikethische Reflexionen erschlie- Von Governance zu Technology Governance. In: Ste-
phan Bröchler/Georg Aichholzer/Petra Schaper-Rinkel
ßen. Wird die Forderung nach Ausweitung der Par-
(Hg.): Theorie und Praxis von Technology Governance.
tizipationsmöglichkeiten ernstgenommen, so erge- ITA manu:script, Institut für Technikfolgen-Abschät-
ben sich Bedarfe nicht nur für die Phase der zung. Wien 2012, 5–9.
Politikformulierung und -entscheidung, sondern Ethikkommission Sichere Energieversorgung: Deutsch-
auch in der vorausgehenden Stufe der Problemwahr- lands Energiewende. Ein Gemeinschaftswerk für die Zu-
kunft. Berlin 2011.
nehmung und -definition, insbesondere bei der rati-
Fuchs, Gerhard: Zur Governance von technologischen In-
onalen Analyse und Kritik der Begründung und novationen im Energiesektor. In: Stephan Bröchler/
Rechtfertigung von Technikentscheidungen. Georg Aichholzer/Petra Schaper-Rinkel (Hg.): Theorie
Die Stärkung der Partizipation (s. Kap. VI.5) bei und Praxis von Technology Governance. ITA manu:script,
dezentralen Technikentscheidungen stellt nicht nur Institut für Technikfolgen-Abschätzung. Wien 2012,
die Politik, sondern auch die technikethische Refle- 65–78.
Grunwald, Armin: Verantwortungsbegriff und Verantwor-
xion vor Veränderungen. Technikethik, die sich auf tungsethik. In: Ders. (Hg.): Rationale Technikfolgenbeur-
die Erschließung neuer Ansatzpunkte im Politikpro- teilung. Berlin 1999, 172–195.
zess einlässt, steht vor der Herausforderung, sich ge- – : Synthetische Biologie. Verantwortungszuschreibung
genüber deliberativen Verfahren der Gesellschafts- und Demokratie. In: Information Philosophie 5 (2011),
beratung zu öffnen. 8–18.
– : Responsible Innovation: Neuer Ansatz der Gestaltung
von Technik und Innovation oder nur ein Schlagwort?
Literatur In: Stephan Bröchler/Georg Aichholzer/Petra Schaper-
Rinkel (Hg.): Theorie und Praxis von Technology Gover-
Albrecht, Stephan/Schorling, Markus: Arbiträre Politik nance. ITA manu:script, Institut für Technikfolgen-Ab-
und Technology Governace. Das Problem der Pflanzen- schätzung. Wien 2012, 11–24.
treibstoffe. In: Georg Aichholzer/Alfons Bora/Stephan Jann, Werner/Wegrich, Kai: Phasenmodelle und Politik-
Bröchler/Michael Decker/Michael Latzer (Hg.): Technol- prozesse: Der Policy Cycle. In: Klaus Schubert/Nils C.
ogy Governance. Der Beitrag der Technikfolgenabschät- Bandelow (Hg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0.
zung. Berlin 2010, 279–290. München 2009, 75–112.
384 VI. Technikethik in der Praxis

Lutz, Burkhart: Das Ende des Technikdeterminismus und 2. Technikrecht


die Folgen – soziologische Technikforschung vor neuen
Aufgaben und neuen Problemen. In: Ders. (Hg.): Tech-
nik und sozialer Wandel. Frankfurt a. M. 1986, 34–51.
Mayntz, Renate: Governance im modernen Staat. In: Arhut Wer Technik entwickelt, anwendet und (wirtschaft-
Benz/Nicolai Dose (Hg.): Governance – Regieren in kom- lich) nutzt, verfolgt damit regelmäßig ein Ziel, das
plexen Regelsystemen: Eine Einführung. Wiesbaden sich für ihn als vorteilhaft darstellt (Nutzenfunk-
²2010, 37–48. tion). Technik als »System der Mittel« (Hubig 2002,
Rammert, Werner: Technik und Innovation. Technical Uni- 28 ff.) ist gekennzeichnet durch ihren intentionalen
versity Technology Studies Working Papers. TUTS-
WP-1-2008. Berlin 2008. Charakter (s. Kap. II.1). Was sich für den einen als
– : Die Innovationen der Gesellschaft. Technical University erwünschte Wirkung des Technikeinsatzes darstellt
Technology Studies Working Papers. TUTS-WP-2-2010. (z. B. Fortbewegung ohne Muskelkraft), kann für
Berlin 2010. den anderen auch bei bestimmungsgemäßem Ge-
Schmidt, Yvonne: Rechtliche Rahmenbedingungen für die brauch der Technik mit negativen Folgen verbunden
grüne Gentechnik und derenen Bdeutung für das Kon-
zept von Technolgy Governance in Europa. In: Georg sein (Kollision mit der Eisenbahn oder dem Auto-
Aichholzer/Alfons Bora/Stephan Bröchler/Michael De- mobil). Hinzu kommen Fehlfunktionen (Dampfkes-
cker/Michael Latzer (Hg.): Technology Governance. Der sel-Explosion) und sonstige unerwünschte Wirkun-
Beitrag der Technikfolgenabschätzung. Berlin 2010, 225– gen (Brand infolge des Funkenfluges aus der Dampf-
235. lok; allgemein zu Technikfolgen s. Kap. II.5): Sowohl
Simonis, Georg: Die Zukunftsfähigkeit von Innovationen:
das Z-Paradox. In: Dieter Sauer/Christa Lang (Hg.): Pa- die intendierten als auch die nicht intendierten Fol-
radoxien der Innovation. Perspektiven der sozialwissen- gen des Technikeinsatzes können zu Konflikten füh-
schaftlichen Innovationsforschung. Frankfurt a. M. 1999, ren (s. Kap. III.6); das Technikrecht ist die Antwort
149–173. der Gesellschaft auf diese Konflikte (soweit sie als
– : Technikfolgenabschätzung als Ressource von Technol- solche wahrgenommenen wurden). Ansatzpunkt für
ogy Governance. In: Stephan Bröchler/Georg Aichhol-
zer/Petra Schaper-Rinkel (Hg.): Theorie und Praxis von
das Recht ist dabei nicht die Technik an sich, son-
Technology Governance. ITA manu:script, Institut für dern das menschliche Verhalten im Umgang mit der
Technikfolgen-Abschätzung. Wien 2012, 25–37. Technik.
Weber, Max: Politik als Beruf. Gesammelte Schriften. Tübin-
gen 1958.
Stephan Bröchler
Bewältigung von Konflikten
durch multipolare Abwägung
Konflikte ergeben sich aus Interessengegensätzen.
Diese können auftreten sowohl aufgrund der inten-
dierten Folgen als auch im Bereich der nicht inten-
dierten Folgen. Die intendierten Folgen kommen in
der Regel den Nutzern der Technik zugute, während
die nicht intendierten eher auf Seiten von Drittbe-
troffenen (etwa bei benachbarten Grundstücksei-
gentümern) auftreten. Mit dem Hinzutreten von
Drittbetroffenen entsteht die typische trianguläre
Konstellation: Die Rolle des Staates (Legislative, Exe-
kutive, Judikative) besteht dann darin, den Nutzern
und sonstigen Betroffenen von Technik jeweils spe-
zifische Rechte und Pflichten zuzuweisen. Über-
schreitet man kleinräumliche Konflikte, kommt zu-
sätzlich die Gemeinwohlperspektive hinzu. Auch
hier sind sowohl intendierte als nicht intendierte
Folgen zu berücksichtigen; zudem kommt es regel-
mäßig zu Zielkonflikten zwischen verschiedenen
Gemeinwohlgütern (etwa Mobilität versus Erhalt
von Biodiversität oder Gewährleistung von Lärm-
freiheit; s. Kap. V.17).
2. Technikrecht 385

In verfassungsrechtlicher Perspektive können etwa die der Verbraucher, zu analysieren und mög-
sich die Akteure bei der Verfolgung ihrer individuel- lichst auch zu quantifizieren, um auf dieser Grund-
len Interessen auf Grundrechte stützen, während die lage sowohl den Nutzen geplanter Maßnahmen als
Belange des Allgemeinwohls in die Hände des Staa- auch die damit verbundenen Kosten im Sinne einer
tes gelegt sind. Vorausschauende Konfliktbewälti- rationalen Entscheidungsgrundlage darzustellen
gung verlangt Rechtsnormen oder andere institutio- (ABC-Regel: Analyse Benefits and Costs; Hensel/Bi-
nelle Arrangements. Für die grundrechtlich gewähr- zer/Führ/Lange 2010, 328). Bei der Folgenanalyse
leisteten Verhaltensmöglichkeiten bedeutet dies eine zum Technikrecht, aber auch bei der Rechtsgestal-
Beeinträchtigung. Dies ist, da unvermeidlich, grund- tung und -anwendung ist ein Zusammenwirken meh-
sätzlich zulässig, bedarf aber einer Rechtfertigung, rerer Disziplinen im Sinne einer problemorientierten
wobei insbesondere die Kriterien des Übermaßverbo- Transdisziplinarität unverzichtbar.
tes (auch: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) zu
beachten sind: Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel
muss (1) als solches mit der Verfassungsordnung Normative Orientierung
vereinbar sein, die eingesetzten Mittel müssen (2)
geeignet sein, die Zielerreichung zumindest zu för- Normative – und damit auch technikethische – Ori-
dern, die Mittel müssen (3) auch erforderlich sein entierung bei den zu treffenden Abwägungsent-
(was nicht der Fall ist, soweit ein »milderes Mittel« scheidungen vermitteln neben den Grundrechten
zur Verfügung steht) und schließlich dürfen (4) die von Legislative und Exekutive zu wahrenden All-
Zielerreichung und Grundrechtsbeeinträchtigung gemeinwohlbelange. Dass es dabei nicht um die sta-
nicht in einem krassen Missverhältnis stehen (Ange- tische Bewahrung des Status quo geht, ergibt sich
messenheit oder Verhältnismäßigkeit im engeren nicht zuletzt aus dem Leitbild der nachhaltigen Ent-
Sinne). Gefordert ist mit anderen Worten eine ratio- wicklung, das sowohl europarechtlich als auch natio-
nale Ziel-Mittel-Relation. Danach nicht gerechtfer- nal durch Art. 20a Grundgesetz als Staatszielbestim-
tigte Freiheitseinbußen wären ein Verstoß gegen das mung das Handeln der Staatsgewalten anleitet (zur
Verschwendungsverbot des Rechts: Grundrechtlich Nachhaltigkeit s. Kap. IV.B.10). Für den Gesetzgeber
geschützte Möglichkeitsräume haben nur die ratio- ergibt sich daraus die Aufgabe, einen Orientierungs-
nal begründbaren Einschränkungen hinzunehmen; rahmen zu schaffen für eine Technikentwicklung,
Verwirklichungschancen kollidierender Verfassungs- die sich an den Kriterien nachhaltiger Entwicklung
güter sind möglichst verschwendungsfrei in Ein- ausrichtet (Technikrecht als Innovationsrecht; vgl.
klang zu bringen (Knappheitsproblem des Rechts; Hoffmann-Riem 2009). Dem Technikrecht ist nor-
vgl. Führ 2003, 254 ff.); eine Aufgabe, die durch mativ aufgegeben, Potentiale für nachhaltige Ent-
»praktische Konkordanz« (Hesse 1995, Rn. 72) zu wicklungslinien zu identifizieren und zu erschlie-
bewältigen ist. Dabei geht es nicht um eine bipolare ßen.
Abwägung; vielmehr ist eine Vielzahl von Belangen Eine solche dynamische normative Orientierung
zu berücksichtigen, was eine multipolare Optimie- ist eine besondere Herausforderung sowohl für die
rung verlangt. Regulierungsorgane als auch für die gesellschaftli-
Die Auswirkungen auf die Vielzahl der Akteure chen Akteure; und dies nicht nur wegen der damit
und Belange abzuschätzen und unterschiedliche Ge- verbundenen Unsicherheiten (s. u.), sondern auch
staltungsoptionen in ihren Auswirkungen zu be- deshalb, weil regelmäßig erst das Zusammenwirken
schreiben, ist Aufgabe Gesetzesfolgenabschätzung. unterschiedlicher Akteure jenes kreative Potential
Dieses Instrument – letztlich nichts anderes als eine freisetzt, das den Möglichkeitsraum für Innovatio-
»sozialwissenschaftlich abgesicherte Realanalyse der nen erschließt. Dabei geht es nicht allein darum, die
zu ordnenden Lebensverhältnisse« (Denninger Entwicklungslinien technischer Artefakte kreativ zu
1975, 546), ohne die eine fundierte Anwendung der erweitern, sondern auch darum, bei den Akteuren
Kriterien der Übermaßverbotes nicht möglich ist – Bereitschaft für Veränderungen zu wecken. Denn
ist sowohl auf europäischer Ebene als auch für Ge- regelmäßig gelingt es erst im Zusammenspiel von
setzesentwürfe der Bundesregierung (§ 44 Gemein- technischen Innovationen und Verhaltensänderun-
same Geschäftsordnung der Bundesministerien) gen, den normativen Gestaltungsauftrag mit Leben
vorgesehen. Es verlangt, auch die Auswirkungen auf zu erfüllen.
Gemeinwohlbelange, etwa auf die Umwelt (Bizer/ Die Regulierungsorgane stehen damit nicht nur
Lechner/Führ 2010) oder auf »diffuse Interessen«, vor der Aufgabe, durch Zuweisung von Rechten und
386 VI. Technikethik in der Praxis

Pflichten die Rechtssphären der Individuen vonein- gungen erst die Voraussetzungen für die Anwen-
ander abzugrenzen, sondern im Kern geht es vor al- dung und die Nutzung von Technik. Der Staat ist da-
lem darum, das (pro-)aktive Zusammenwirken der her mitverantwortlich für die Wirkungen, die aus
Akteure zu stimulieren. Dies weist deutlich hinaus der Anwendung der Technik entstehen. Der Staat
über den klassischen polizeirechtlichen Ansatz, die muss der Anwendung der Technik materiell- und
Akteure anzuhalten, »polizeywidriges« Verhalten zu verfahrensrechtliche Grenzen setzen, die den Schutz
unterlassen, sondern verlangt umgekehrt, deren ak- der Grundrechte sicherstellen (Führ 2011, Rn. 29 ff.
tives Zusammenwirken im Sinne des Gemeinwohls und 47 ff.).
zu stimulieren. Es handelt sich also nicht lediglich um ›freiwillig
gewährte‹ Gewährleistungen des Staates an seine
Bürger, die gegebenenfalls auch wieder entzogen
Funktionen des Technikrechts: werden könnten. Aus dem Verfassungsrecht ergibt
Freisetzung und Begrenzung sich vielmehr in gewissem Umfang eine ›Bestands-
garantie‹ sowohl für die materiell- als auch für die
Soweit die intendierten Folgen gesellschaftlich er- verfahrensrechtlichen Regelungen. Sie können
wünscht erscheinen, hat das Recht eine den Ge- durch den Gesetzgeber zwar im Rahmen seines Ge-
brauch der Technik freisetzende Funktion, im Übri- staltungsspielraums modifiziert, nicht aber substan-
gen strebt das Recht an, die unerwünschten Folgen tiell abgebaut werden.
zu minimieren (Winter 1988). In der Regel sind
beide Funktionen allerdings ineinander verschränkt:
So hat derjenige, der eine Industrieanlage errichten Materielle Anforderungen des
will, einerseits  – bei Erfüllung der Genehmigungs- Technikrechts im engeren Sinne
voraussetzungen – einen Rechtsanspruch auf Ertei-
lung der Genehmigung durch die Behörde, die ihn Materiellrechtlich verlangen Regelungen des Tech-
zudem gegenüber privatrechtlichen Abwehransprü- nikrechts im engeren Sinne (verstanden als Vor-
chen der Nachbarn privilegiert (§§ 6 und 14 BIm- schriften, die explizit die Entwicklung, Anwendung
SchG – Bundesimmissionsschutzgesetz); anderer- und Nutzung von Technik regeln) die Abwehr von
seits ist er dynamischen Betreiberpflichten ausge- Gefahren (Schutzpflicht), aber auch die Gewährleis-
setzt, die seine Rechtsposition inhaltlich bestimmen tung von Vorsorge (Rehbinder 2012, Rn. 19 ff.; s.
und ihn verpflichten, entschädigungslos auf neu er- auch Kap. VI.3). So ist es etwa nach § 1 Nr. 2 Zweck
kannte Risiken zu reagieren oder einen fortgeschrit- des Gentechnikgesetzes »Leben und Gesundheit von
tenen Stand der Technik zu realisieren (§ 5 BIm- Menschen, die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge,
SchG). Deutlich wird damit, dass selbst ein dem Tiere, Pflanzen und Sachgüter vor schädlichen Aus-
klassischen Ordnungsrecht zuzuordnendes com- wirkungen gentechnischer Verfahren und Produkte
mand and control-Instrument wie das der präventi- zu schützen [Schutzzweck] und Vorsorge gegen das
ven Eröffnungskontrolle (Errichtung und Betrieb, Entstehen solcher Gefahren zu treffen [Vorsorge-
aber auch die wesentliche Änderung einer Industrie- zweck]«; als Besonderheit hervorzuheben ist hier
anlage bleiben solange verboten, bis durch einen ho- zudem die Eingangsformulierung dieser Zweckbe-
heitlichen Gestattungsakt die einzuhaltenden Vorga- stimmung, die »unter Berücksichtigung ethischer
ben definiert sind) eine Doppelfunktion erfüllt, die Werte« erfolgt. Die juristische Bedeutung dieser
sowohl freisetzende als auch begrenzende Elemente Formulierung ist bislang ungeklärt (zu den Bezügen
enthält. des Verbotes, Lebewesen zu patentieren, s. u.).
Darin spiegelt sich die grundrechtliche Dreiecks- Bedingt durch historische Entwicklungslinien ist
konstellation: Der Gesetzgeber hat unternehmeri- das Technikrecht im eigentlichen Sinne in vielfälti-
sches Handeln zu stimulieren, gleichzeitig sind die ger Form differenziert: In Beantwortung der jeweils
Grundrechte Drittbetroffener zu wahren. Letzteres wahrgenommenen Konflikte und Problemlagen ha-
kommt prominent in dem in § 1 BImSchG veranker- ben sich sektorale Regelwerke entwickelt: Beginnend
ten Schutzzweck des Gesetzes zum Ausdruck. Im mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit
Zusammenspiel mit den Grundpflichten des Betrei- der Dampfkessel-Regulierung (s. Kap. III.2), dem
bers aus § 5 BImSchG kommt der Staat einer verfas- Gewerbe- und Eisenbahnrecht über mediale Ansätze
sungsrechtlichen Pflicht nach: Der Gesetzgeber aus der Perspektive von Wasser, Luft und Boden bis
schafft durch die von ihm gesetzten Rahmenbedin- hin zu jüngeren Regulierungen, die an bestimmte
2. Technikrecht 387

Produktgruppen oder an spezifische Gefährlich- Technikrecht im weiteren Sinne


keitsmerkmale anknüpfen, wie im Atom-, Chemika-
lien- oder Gentechnikrecht (zur Synthetischen Che- Zu dem Technikrecht im weiteren Sinne zählen alle
mie s. Kap. V.24). Zum Technikrecht im eigentlichen sonstigen Normen, die Entwicklung, Anwendung
Sinne wird man auch die Regelungsbereiche zu rech- und Nutzung von Technik ermöglichen, fördern
nen haben, die Vorgaben zur Nutzung von Informa- oder begrenzen. Bei einem entsprechend weit ge-
tions- und Kommunikationstechnologien (Telefon, fassten Technikbegriff (s. Kap. II.1) dürften sich
mobiles Telefonieren und Computing) enthalten, kaum Normen finden, die darunter nicht zu fassen
einschließlich der damit verknüpften Datenschutz- sind.
bestimmungen (s. Kap. V.9 und Kap. V.10). Die Einen etwas spezifischeren Technikbezug weisen
These, technikneutrale materielle Vorgaben seien da- Bestimmungen zum geistigen Eigentum auf, insbe-
bei besonders freiheits- und innovationsfreundlich, sondere im Patentrecht. Hier finden sich auch  –
hält einer näheren Überprüfung nicht stand (Roßna- letztlich ethisch begründete  – Grenzen der Paten-
gel 2009): Dagegen spricht schon die Pflicht des Ge- tierbarkeit, etwa die Ausnahmen in Art. 53 des Euro-
setzgebers, grundrechtswesentliche Entscheidungen päischen Patentübereinkommens: Keine Patente
selbst zu treffen und nicht der Definitionsmacht der werden erteilt auf »Erfindungen, deren gewerbliche
wirtschaftlichen Akteure zu überlassen (Entschei- Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die
dungsverantwortung); aber auch die rechtsstaatli- guten Sitten verstoßen würde« (a) sowie auf »Pflan-
chen Anforderungen an Erkennbarkeit der rechtli- zensorten oder Tierrassen sowie im Wesentlichen
chen Vorgaben und der daraus resultierenden Ver- biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen
haltensanforderungen (Bestimmtheitsgebot) sowie oder Tieren« (b). In der Patentpraxis haben sich al-
an die tatsächliche Steuerungswirkung (Effektivität) lerdings Strategien zur Umgehung des Verbots der
verlangen oftmals technikspezifische Vorgaben. Biopatente etabliert; Gegenstand des Patents ist
Dessen ungeachtet wird der Gesetzgeber nicht dann nicht die Pflanzensorte oder die Tierrasse an
umhin können, die materiellen Anforderungen mit sich, wohl aber das Verfahren, diese zu gewinnen,
unbestimmten Rechtsbegriffen, etwa der fast durch- was dann auch die auf diesem Wege gewonnenen Er-
gängig verlangte Stand der Technik oder  – an- zeugnisse mit einschließt (Herdegen/Feindt 2011).
spruchsvoller  – der Stand von Wissenschaft und Paradigmatisch dafür steht die mit einem menschli-
Technik (so im Atom- und Gentechnikrecht), zu chen Brustkrebsgen modifizierte »Harvard-Krebs-
umschreiben. Normtheoretisch handelt es sich dabei maus«, für die das Europäische Patentamt letztlich
um unvollkommene Pflichten, die aber  – entgegen doch ein Patent erteilte (EP 169672).
der Einordnung von Immanuel Kant – durchaus zu
den Rechtspflichten zu zählen sind (Führ 2003,
66 ff.): Es handelt sich zwar nicht um a priori eindeu- Berücksichtigung von Unsicherheit
tige Rechtsregeln, wohl aber um Prinzipiennormen, in der Risikoregulierung
die  – unter Berücksichtigung des institutionellen
Kontextes – bestimmbar sind, gleichzeitig aber eine Will das Recht seiner Aufgabe der prospektiven
gewisse Entwicklungsoffenheit und damit Flexibili- Konfliktbewältigung gerecht werden, muss es mit
tät im Hinblick auf sich wandelnde Kontextbedin- dem Wissensproblem umgehen (Bora 2009). Die zu-
gungen beinhalten. In der Regel finden sich ergän- künftig eintretenden Entwicklungslinien von Tech-
zende Konkretisierungen, etwa in Gestalt von Im- nik sind ebenso unbekannt wie Arten der Nutzung
missions- und Emissions-Grenzwerten (Winter und die damit verbundenen Folgen. Der Gesetzge-
1986; Führ 2011, 239 ff.), Sicherheitsanforderungen ber befindet sich mithin in einer unsicheren Ent-
etc. im untergesetzlichen Regelwerk, etwa in Verord- scheidungssituation, hat also eine Risikoentschei-
nungen und Verwaltungsvorschriften sowie  – von dung zu treffen (s. Kap. IV.C.7): Unsicherheit besteht
besonderer praktischer Bedeutung – in technischen sowohl über den Eintritt von Ereignissen im Zusam-
Normen; zunächst vor allem national  – etwa im menhang mit dem Technikgebrauch (Unsicherheit
Deutschen Institut für Normung (DIN) –, im Zuge 1. Ordnung) als auch über Art und Ausmaß der Fol-
der Europäisierung und Globalisierung zunehmend gen sowie der damit verbundenen Wirkungen auf
supranational unter dem Dach der Internationalen Interessen und Rechtsgüter der Akteure sowie auf
Standardisierungsorganisation (ISO) und dem Eu- die Belange der Allgemeinheit (Unsicherheit 2. Ord-
ropäischen Komitee für Normung (CEN). nung; vgl. Gottschalk-Mazouz 2011).
388 VI. Technikethik in der Praxis

Der Gesetzgeber bedient sich meist einer ge- chen Umstände zu ermitteln. Dazu zählt auch, dass
mischten Strategie (Rehbinder 2012, 234 ff.): Er for- sie – meist auf Kosten des Antragstellers – Sachver-
muliert materielle Vorgaben (siehe oben), kombi- ständigengutachten einholt.
niert diese regelmäßig mit Verfahrenselementen.
Prozedurale Anforderungen sind relevant sowohl
für den Prozess der Normgenese (als förmliches Ge- Transparenz
setz oder als untergesetzliches Regelwerk, Dennin-
ger 1990) als auch für die Normanwendung in Ge- Eng verknüpft mit den wissensgenerierenden Ele-
stalt behördlicher Einzelentscheidungen. Auf diese menten des Technikrechts ist die Transparenz der
Weise schafft der Gesetzgeber einen institutionellen gewonnenen Daten. Diese werden im behördlichen
Rahmen, der Lernprozesse bei allen Beteiligten er- Gestattungsverfahren (Genehmigung, Planfeststel-
möglicht. lung etc.) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Paradigmatisch in der neueren Gesetzgebung ist Nicht zuletzt infolge völkerrechtlicher (Aarhus-Ab-
diesbezüglich die europäische Chemikalienverord- kommen) und europarechtlicher Vorgaben kommt
nung REACh (Registration, Evaluation, Authoriza- dabei zunehmend das Internet als Vermittlungsme-
tion and Restriction of Chemicals; Führ 2011): Nach dium zum Einsatz, was die Zugangshindernisse für
bisherigem Recht war für die meisten Stoffe unbe- Drittbetroffene und die interessierte Öffentlichkeit
kannt, welche Wirkungen auf Mensch und Umwelt vermindert.
sie hervorrufen; womit zugleich eine hoheitliche Be- Eine besonders ausgeprägte Form der Transpa-
schränkung schwer zu rechtfertigen war (toxic igno- renz findet sich in der REACh-Verordnung. Hier
rance; siehe aber hierzu Kap. VI.3 zum Vorsorge- sind die im Registrierungsverfahren an die Europäi-
prinzip). In Abkehr davon gilt jetzt der Grundsatz sche Chemikalienagentur übermittelten Daten über
»no data, no market«. Nur derjenige Hersteller oder eine Internet-Datenbank verfügbar. Angaben zu den
Importeur, der seinen Stoff bei der Europäischen toxikologischen Eigenschaften, den abgeleiteten
Chemikalienagentur (ECHA) registriert hat, darf Schwellenwerten und zur Einstufung und Kenn-
diesen (weiter) vermarkten (s. Kap. V.24). Vorausset- zeichnung des Stoffes sind in jedem Fall zu veröf-
zung für die Registrierung ist, dass toxikologische fentlichen. Für andere Daten können die Unterneh-
und andere Daten zum Umgang mit den Stoffen auf men im Registrierungsdossier einen (gebühren-
elektronischem Wege übermittelt wurden. Dabei ist pflichtigen) Antrag auf Geheimhaltung stellen (Führ
der gesamte Lebenszyklus eines Stoffes im Stoff- 2011, 435 ff.). Im Februar 2013 waren dort Daten zu
sicherheitsbericht abzudecken und der Registrant 8032 Stoffen zu finden.
muss nachweisen, dass die stoffbedingten Risiken
»angemessen beherrscht« werden. Problematisch
wird das auf Eigen-Verantwortung beruhende Regu- Partizipative Elemente
lierungskonzept von REACh, wenn spezifische Ei-
genschaften, wie etwa die von Nano-Materialien, in Vor dem Hintergrund der Bewertungs- und Progno-
den Datenanforderungen nicht abgebildet sind und sedifferenzen zur den zukünftigen Technikfolgen
daher der wissensgenerierende Impuls ins Leere gewinnen partizipative Elemente besondere Bedeu-
läuft (Schenten 2012). tung (s. Kap. VI.5). Normativ lassen sie sich stützen
Auch jenseits des allgemeinen Stoffrechts, also auf die im Demokratieprinzip wurzelnden Prinzi-
etwa im besonderen Stoffrecht (Arznei- und Pflan- pien der Gegenmachtbildung und Kontrastinfor-
zenschutzmittel, Biozide, neuartige Lebensmittel, mation, mit denen prozedural die Intention auf Ge-
Kosmetika), aber auch im Anlagenrecht (Industrie- meinwohlrichtigkeit Wirkungsmacht erhält; zugleich
anlagen, Atomanlagen, gentechnische Anlagen) und dienen sie aber auch dem vorgelagerten Grund-
bei Infrastrukturplanungen (Straßen, Schienenwege, rechtsschutz (Denninger 1990). Über bloße Trans-
Flughäfen etc.) wird die Aufgabe, fehlende Wissens- parenz hinaus sind effektive Beteiligungsmöglich-
bestände zu generieren und zu dokumentieren, keiten dementsprechend  – als »zweite Säule« des
meist dem Techniknutzer (Antragsteller/Vorhaben- Aarhus-Abkommens  – vor allem im Anlagen-, zu-
träger) übertragen. Daneben greift, jedenfalls in nehmend auch im Produktrecht verankert.
Deutschland (§ 24 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensge- Einzigartig – auch in internationaler Perspektive
setz), der Amtsermittlungsgrundsatz: Die Behörde und auf europäischer Ebene – dürfte die Kombina-
hat »von Amts wegen« alle entscheidungserhebli- tion aus Elementen der inclusive governance sein,
2. Technikrecht 389

wie man sie in der REACh-Verordnung findet. Die Sanktionen nach sich. Grenzen ergeben sich aus der
Beteiligung der Öffentlichkeit und der »interessier- Zurechnung zu individuellen Akteuren, die zudem –
ten Kreise« (stakeholder) sowie der allgemeinen Öf- auch im Angesicht des Grundsatzes in dubio pro
fentlichkeit sieht REACh sowohl hinsichtlich der reo – keinem unvermeidbaren Verbotsirrtum unter-
Mitwirkung in den Gremien der Agentur als auch liegen dürfen.
bei Anwendung der REACh-Mechanismen in viel-
fältiger Form vor (Führ 2013). Diese Kombination Literatur
aus institutionalisierter Mitwirkung in praktisch al- Bizer, Kilian/Lechner, Sebastian/Führ, Martin (Hg.): The
len Entscheidungsorganen und Beratungsgremien European Impact Assessment and the Environment. Hei-
mit einer Vielzahl von – meist über das Internet ab- delberg 2010.
gewickelten – Mitwirkungsmöglichkeiten ist im bis- Boldt, Hans: Geschichte der Polizei in Deutschland. In: Er-
lang partizipationsarmen Stoff- und Produktrecht hard Denninger/Frederik Rachor: Handbuch des Polizei-
rechts. München 52012.
besonders bemerkenswert.
Bora, Alfons: Innovationsregulierung als Wissensregulie-
rung. In: Wolfgang Hoffmann-Riem/Martin Eifert
(Hg.): Innovationsfördernde Regulierung. Berlin 2009,
Rechtsschutz, Schadensersatz 23–43.
und Strafrecht Denninger, Erhard: Freiheitsordnung – Wertordnung –
Pflichtordnung. In: Juristenzeitung 30 (1975), 545–550.
– : Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung
Rechtliche Anforderungen ohne die Möglichkeit, im Umwelt- und Technikrecht. Baden-Baden 1990.
diese im Streitfall gerichtlich durchzusetzen, sind Ensthaler, Jürgen/Gesmann-Nuissl, Dagmar/Müller, Stefan:
nur von begrenztem Wert. Techniknutzende Ak- Technikrecht: Rechtliche Grundlagen des Technologie-
teure können sich gegen Beschränkungen umfas- managements. Heidelberg 2012.
send zur Wehr setzten. Anders stellt sich dies bei Europäische Chemikalienagentur: Internet-Datenbank mit
den Informationen zu den registrierten Stoffen, zugäng-
Drittbetroffenen und Belangen der Allgemeinheit lich über http://echa.europa.eu.
dar. Das deutsche Rechtsschutzsystem ist gekenn- Führ, Martin: Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat. Berlin
zeichnet durch eine traditionell subjektiv-rechtliche 2003.
Ausprägung: Nur wer in eigenen Rechten verletzt – : Praxishandbuch REACH. Köln 2011 (angegeben mit Sei-
sein kann, wird mit seinem Anliegen überhaupt vor tenzahlen).
– : Kommentierung zu § 1 BImSchG (angegeben mit Rand-
den Verwaltungsgerichten gehört. Geht es etwa um nummern – Rn.). In: Hans J. Koch/Eckhard Pache/Die-
eine Industrieanlage, kann nur der direkte Nachbar ter Scheuing: Gemeinschaftskommentar zum Bundes-Im-
klagen; und dies auch nur, soweit es um die Abwehr missionsschutzgesetz. Köln 2011.
von Gefahren geht. Gesetzliche Vorgaben zur Vor- – : REACh als lernendes System – Wissensgenerierung und
sorge können Drittbetroffene nur in sehr engen Perspektivenpluralismus durch Stakeholder Involve-
ment. In: Alfons Bora/Ann Henkel/Carsten Reinhardt
Grenzen geltend machen (Roller 2010). (Hg.): Wissensregulierung und Regulierungswissen. Wei-
Nur im Naturschutzrecht gab es die Verbands- lerswist 2013 (im Ersch.).
klage, die anerkannten Naturschutzverbänden Recht- – /Lewin, Daniel/Roller, Gerhard: EG-Umwelthaftungs-
schutzmöglichkeiten eröffnete. In Umsetzung der Richtlinie und Biodiversität. In: Natur und Recht 28/2
»dritten Säule« des Aarhus-Abkommens eröffnet (2006), 67–75.
Gottschalk-Mazouz, Niels: Risiko. In: Marcus Düwell/
das Umweltrechtsbehelfsgesetz seit 2006 anerkannten Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Hand-
Umweltvereinigungen die Möglichkeit, Rechtsbe- buch Ethik. Stuttgart/Weimar 32011, 502–508.
helfe auch im Hinblick auf andere umweltrechtliche Groß, Thomas: Rechtsschutz im Umweltschutz. In: Klaus
Vorgaben einzulegen. Hansmann/Dieter Sellner (Hg.): Grundzüge des Umwelt-
Schäden an Allgemeinwohlgütern können – auch rechts. Berlin 2012, 1209–1227.
Hensel, Stephan/Bizer, Kilian/Führ, Martin/Lange, Joa-
von Umweltvereinigungen – auf der Basis des Um-
chim (Hg.): Gesetzesfolgenabschätzung in der Anwen-
weltschadensgesetzes geltend gemacht werden. Dabei dung – Perspektiven und Entwicklungstendenzen. Baden-
geht es nicht nur um die Kosten der Wiederherstel- Baden 2010.
lung geschädigter Biotope, sondern auch um den Herdegen, Matthias/Feindt, Peter H.: Wissenschaftlicher
Ausgleich zwischenzeitlicher Verluste (Führ/Lewin/ Beirat für Biodiversität und Genetische Ressourcen beim
BMELV: Product-by-Process-Ansprüche auf Biopatente in
Roller 2006).
der Tier- und Pflanzenzucht – Voraussetzungen, Problem-
Strafrechtlich bewehrte Verhaltensanforderun- lagen und Handlungsempfehlungen. Bonn 2011.
gen  – etwa eine Atomanlage nicht ohne vorherige Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bun-
Genehmigung zu ändern  – ziehen strafrechtliche desrepublik Deutschland. Heidelberg 1995.
390 VI. Technikethik in der Praxis

Hoffmann-Riem, Wolfgang: Vorüberlegungen zur rechts- 3. Vorsorgeprinzip


wissenschaftlichen Innovationsforschung. In: Ders./
Jens-Peter Schneider (Hg.): Rechtswissenschaftliche In-
novationsforschung  – Grundlagen, Forschungsansätze,
Gegenstandsbereiche. Baden-Baden 1998, 11 ff. Hintergrund
– /Eifert, Martin (Hg.): Innovationsfördernde Regulierung.
Berlin 2009, 273–302. Die dynamische Entwicklung von Wirtschaft, Wis-
Hubig, Christoph: Mittel. Bibliothek dialektischer Grundbe- senschaft und Technik bringt neben den vielfältigen
griffe. Bd. 1. Bielefeld 2002. Chancen als unbeabsichtigte Nebenfolge auch neue
Rehbinder, Eckard: Ziele, Grundsätze, Strategien und In-
strumente. In: Klaus Hansmann/Dieter Sellner (Hg.): Risiken mit sich, die über die Gefahren der ersten
Grundzüge des Umweltrechts. Berlin 2012, 135–300. Industrialisierungsphase weit hinausgehen. Manche
Roller, Gerhard: Drittschutz im Atom- und Immissions- technologische Entwicklungen werfen darüber
schutzrecht. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 16 hinaus fundamentale ethische Fragen auf, andere
(2010), 990. sind mit neuartigen Umwelt- und Gesundheitsrisi-
Roßnagel, Alexander: »Technikneutrale« Regulierung  –
Möglichkeiten und Grenzen. In: Wolfgang Hoffmann- ken verbunden, deren Tragweite häufig anfangs
Riem/Martin Eifert (Hg.): Innovationsfördernde Regulie- nicht vorhergesagt werden kann. Insbesondere die
rung. Berlin 2009, 323–337. Nutzung von neuen Technologien bringt immer
Schenten, Julian: Recht und Innovation bei Nanomateria- auch Risiken mit sich, deren Natur und Größenord-
lien: Zwischenergebnisse einer juristisch-empirischen nung sich häufig erst im Prozess der Anwendung
Untersuchung. In: StoffR  – Stoffrecht für Praktiker 2
(2012), 79–87. und Weiterentwicklung herausstellt.
Schulte, Martin/Schröder, Rainer (Hg.): Handbuch des Da in der Forschung allenfalls begrenzt ethisch
Technikrechts. Heidelberg 2011. motivierte Ansätze zur Selbstbegrenzung und Fol-
Winter, Gerd (Hg.): Grenzwerte. Düsseldorf 1986. genverantwortung existieren und im Wettbewerb
– : Perspektiven des Umweltrechts. In: Deutsches Verwal- des freien Marktes grundsätzlich keine andere
tungsblatt (DVBI) 103 (1988), 659–666.
Martin Führ
Grenze als die der Wirtschaftlichkeit gilt, wird an
den Staat als Träger des Gewaltmonopols eine aus
den Grundrechten und der Staatzielbestimmung
»Umweltschutz« Art. 20a Grundgesetz folgende
Schutzpflicht herangetragen, im Zuge derer er der
gesellschaftlichen Risikoproduktion Grenzen zu set-
zen hat (Calliess 2001, 97 ff.).
Als Herausforderung erweist sich in diesem Zu-
sammenhang, dass die staatlichen Institutionen
mangels erfahrungsbasierter Kenntnis aller Scha-
densquellen und -folgen keine präzisen und wir-
kungssicheren Auflagen zur Schadensverhütung
machen können. Problematisch ist überdies, dass die
klassischen Instrumente staatlicher Steuerung, staat-
liche Genehmigungspflichten und privater Scha-
densersatz, dort versagen, wo mit Blick auf die ubi-
quitäre Dimension potentieller Schäden entweder
Verursacher und Kausalitäten nicht feststellbar sind,
oder aber die Schäden ein Ausmaß erreichen, das
vom Verursacher nicht mehr finanziell ersetzt wer-
den kann (Grimm 1991, 211 f.).

Von der Gefahrenabwehr


zur Risikovorsorge
Traditionell wird die Verwendung von Stoffen, Her-
stellungsverfahren oder Produkten erst dann staatli-
cherseits reguliert, wenn mehr oder weniger eindeu-
3. Vorsorgeprinzip 391

tige wissenschaftliche Beweise für Schadwirkungen Das Vorsorgeprinzip


vorhanden sind (zu Technikrecht s. Kap. VI.2). Ei-
nen Grund findet dies darin, dass die Gefahren- Das Vorsorgeprinzip ist sowohl im deutschen als
abwehr des Polizei- und Ordnungsrechts in histori- auch im europäischen Umweltrecht als maßgebliche
scher Perspektive gesetzlicher Kristallisationspunkt Ausprägung des Staatsziels Umweltschutz (vgl. Art.
der Freiheitssicherung im liberalen Rechtsstaat war 20a GG, Art. 191 Abs. 2 S. 2 AEUV), aber auch als
(Di Fabio 1994, 30 ff.): Je enger der Begriff der Ge- Konsequenz grundrechtlicher Schutzpflichten des
fahr bestimmt wird, desto weniger wird der von ei- Staates gegenüber dem Einzelnen als Verfassungs-
nem staatlichen Eingriff betroffene Bürger in seiner prinzip anerkannt (Calliess 2001, 179 ff.). Kommis-
(Wirtschafts-)Freiheit beschränkt, desto freiheitli- sion und Europäischer Gerichtshof (EuGH) betrach-
cher ist (im Hinblick auf den risikoversursachenden ten es über das europäische Umweltrecht hinaus so-
Akteur) also der Rechtsstaat; damit einher geht an- gar als allgemeines Rechtsprinzip des gesamten
dererseits freilich zugleich eine Einschränkung der Unionsrechts. Aus den genannten Normen folgt
Freiheitsgrade möglicher Drittbetroffener sowie die ein  – auch vom Bundesverfassungsgericht aner-
Inkaufnahme von Beeinträchtigungen des Allge- kanntes – »Untermaßverbot«, dem durch die gesetz-
meinwohls. Freiheit im Rechtsstaat verwirklicht sich geberische Entwicklung eines effektiven Schutzkon-
so gesehen in einem komplexen multipolaren Ver- zepts Rechnung zu tragen ist. In der Folge ist das
fassungsrechtsverhältnis (vgl. dazu Calliess 2001, Vorsorgeprinzip auch in vielen Umweltgesetzen ex-
253 ff.). plizit verankert.
Für das Vorliegen einer Gefahr im Rechtssinne Vorsorge bedeutet dem Wortsinn nach die Schaf-
maßgebend ist bis heute die Kenntnis von Umstän- fung eines Vorrats für die Zukunft durch Verzicht in
den, aus denen im Wege einer Prognose oder Erfah- der Gegenwart: Mit den zunehmend knapp werden-
rungsregel mit Wahrscheinlichkeit auf einen Schaden den natürlichen Ressourcen ist gegenwärtig sparsam
für ein zu schützendes Rechtsgut geschlossen wer- umzugehen, um sie künftigen Generationen im
den kann. Im Zentrum effektiver Sicherheitsge- Interesse ihrer Lebensfähigkeit als Vorrat zu erhalten
währ steht also das auf allgemeinen Erfahrungsre- (zu Nachhaltigkeit s. Kap. IV.B.10). Diese Ressour-
geln basierende konkrete ›Wissen‹ um ein potentiel- cenvorsorge erfüllt zugleich den Zweck, Umweltres-
les Schadensereignis. Je größer und folgenschwerer sourcen im Interesse ihrer zukünftigen Nutzung
letzteres ist, umso geringer sind die Anforderungen durch Nichtausschöpfung der ökologischen Belas-
an die für das Gefahrenurteil zu fordernde Wahr- tungsgrenzen zu schonen. Hierdurch sollen »Frei-
scheinlichkeit; die bloße Möglichkeit eines Schadens- räume in Gestalt künftiger Lebensräume« für
eintritts reicht für die Annahme einer konkreten Mensch und Natur sowie in Form von Belastungs-
Gefahr allerdings niemals aus. Wo keine die Scha- bzw. Belastbarkeitsreserven erhalten werden. Vor-
denskausalität bestätigenden Experimente und sorge ist aber darüber hinaus auf die Bewältigung
keine wissenschaftlichen Beweise vorhanden sind, von durch Ungewissheit und Unsicherheit definierte
kann eine hinreichende Wahrscheinlichkeit mangels Risikosituationen (Risikovorsorge) angelegt (s. Kap.
der notwendigen Beurteilungssicherheit nicht mehr IV.C.7). In Erweiterung des am Begriff der Wahr-
begründet werden. Weisen aber dennoch  – wie so scheinlichkeit orientierten Gefahrenbegriffs lässt
oft bei neuen Technologien  – bestimmte Anhalts- sich das Risiko als Sachlage definieren, in der bei un-
punkte auf eine entfernte Schadensmöglichkeit hin gehindertem Ablauf eines Geschehens ein Zustand
(zu den Beispielen Mobilfunk s. Kap. V.16 und Syn- oder ein Verhalten möglicherweise zu einer Beein-
thetische Chemie s. Kap. V.24), ist jener Übergang trächtigung von Rechtsgütern führt. Entscheidend
zwischen Gefahr einerseits und Risiko andererseits ist also die Ergänzung der konkreten, hinreichenden
erreicht (Wahl/Appel 1995, 86). Wahrscheinlichkeit durch die reine Möglichkeit ei-
Nicht zuletzt deswegen ist mit der Entstehung des nes Schadenseintritts (zu Risiko s. Kap. II.2).
modernen Umweltrechts neben die staatliche Auf- Ganz in diesem Sinne definieren auch die europä-
gabe der Gefahrenabwehr, die auf der Grundlage ischen Institutionen das Vorsorgeprinzip: So formu-
von Nahzurechnungen und kurzen, linearen Kausal- liert der EuGH in der Rs. C-157/96: »Wenn das Vor-
verläufen wahrgenommen werden konnte, die kom- liegen und der Umfang von Gefahren für die
plexe Aufgabe der Risikovorsorge – vermittelt über menschliche Gesundheit ungewiss ist, können die
das Vorsorgeprinzip – getreten. Organe Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten
zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser
392 VI. Technikethik in der Praxis

Gefahren klar dargelegt sind«. Daran anknüpfend troffen werden können. Für den Vorsorgeanlass
sieht die Kommission den Anwendungsbereich des reicht ein abstraktes Besorgnispotential, mithin ein
Vorsorgeprinzips eröffnet, wenn »[…] aufgrund ei- theoretischer – im Unterschied zur reinen Spekula-
ner objektiven wissenschaftlichen Bewertung be- tion aber auf wissenschaftliche Plausibilitätsgründe
rechtigter Grund für die Besorgnis besteht, dass die gestützter  – Anfangsverdacht, der allerdings empi-
(nur) möglichen Gefahren für die Umwelt und Ge- risch noch wenig verfestigt oder gar wissenschaftlich
sundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht im Sinne einer Mehrheitsmeinung bewiesen sein
hinnehmbar oder mit dem hohen Schutzniveau muss. Insoweit ist zunächst eine umfassende, mög-
der Gemeinschaft unvereinbar sein können« (KOM lichst erschöpfende Ermittlung aller für den Vorsor-
[2000] 1 endg., 24). Indem also nicht mehr nur bei geanlass maßgeblichen Informationen geboten. In
einer konkret nachweisbaren Gefahr Schutzmaß- einem ersten Schritt muss also naturwissenschaft-
nahmen getroffen werden können, sondern schon lich ermittelt und in einem ständig fortlaufenden
im Falle einer abstrakten Besorgnis, verstanden als Prozess erforscht werden, worin das jeweilige Risi-
wissenschaftlich begründeter Anfangsverdacht, er- kopotential besteht und wie umfangreich es ist (vor-
weitert sich solchermaßen der Handlungsspielraum läufige naturwissenschaftliche Risikoermittlung).
der staatlichen Institutionen. Erst dann kann auf dieser Grundlage bewertet wer-
In vielen Fällen wird in Anbetracht von Nichtwis- den, ob das jeweilige Risikopotential noch hinge-
sen auch zukünftig nach dem Recht der Gefahrenab- nommen werden darf oder nicht und mit welchen
wehr und im Zuge dessen auch nach der trial and er- Maßnahmen ihm entsprechend der gleitenden Skala
ror-Methode vorgegangen werden können. Diese der Sicherheitsdogmatik (Gefahr–Risiko–Restrisiko)
Methode ist jedoch nur für potentielle Schäden, die begegnet werden soll (vorläufige politische Risiko-
reversibel sind, angemessen. Wenn dagegen bei be- bewertung). Diese Bewertung obliegt dem Gesetz-
stimmten Projekten, Techniken und Eingriffen von geber, der im Rahmen der verfassungsrechtlichen
vornherein und begründet damit gerechnet werden Vorgaben (Calliess 2001, 256 ff.) einen Einschät-
kann, dass sie irreversible Auswirkungen haben kön- zungs-, Beurteilungs- und Prognosespielraum zu-
nen, stößt die trial and error-Methode gerade auch kommt. In Anlehnung an – mit naturwissenschaft-
in verfassungsrechtlicher Hinsicht an ihre Grenzen licher Hilfe – herauszuarbeitende Entlastungs- und
(vgl. dazu Calliess 2001, 298 ff., 410 ff.). Besorgniskriterien können Formeln entwickelt wer-
Wenn ein Schaden entweder völlig ungewiss ist den, die zur Bestimmung dieses Anfangsverdachts
oder seine Realisierung praktisch mit Sicherheit aus- dienen. Anhand solcher Formeln können konkrete
geschlossen werden kann, dann kann der demokra- Regeln für einen vorsorgeorientierten Umgang mit
tisch gewählte Gesetzgeber entscheiden, dass dieses Ungewissheit formuliert werden (vgl. dazu die Vor-
sog. Restrisiko hinnehmbar ist. Diese genuin politi- schläge des SRU in seinem Sondergutachten 2011,
sche Entscheidung ist rechtlich nur noch insoweit Rn. 430 ff.; zu Nanotechnologie s. Kap.V.18).
relevant, als eine Verpflichtung besteht, dass das Im Hinblick auf die zu ergreifende Vorsorgemaß-
Restrisiko nach dem neuesten Stand von Wissen- nahme können sodann auf dieser Basis – unter Be-
schaft und Technik immer so gering wie möglich ge- rücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips  –
halten wird (Wollenteit 2013, 323). unterschiedlich intensive Eingriffsstufen in die
grundrechtlich verbürgte Wirtschaftsfreiheit iden-
tifiziert werden. Insoweit geht es nicht von vorne-
Vorgaben des Vorsorgeprinzips herein um präventive Verbote mit Genehmigungs-
vorbehalt, sondern oftmals um die vorläufige
Mit Blick auf seinen so skizzierten Inhalt lässt sich Risikoabschätzung begleitende Generierung von In-
das Vorsorgeprinzip in einen Tatbestand, der durch formationen, die geeignet sind, die bestehende Un-
die Ermittlung und Bewertung eines Vorsorgeanlas- gewissheit aufzuklären. Daran anknüpfend geht es
ses (Ob-Frage) gekennzeichnet ist, und in eine um die Herstellung von Transparenz und die Er-
Rechtsfolge, die durch die jeweils zu ergreifende Vor- möglichung von Rückverfolgbarkeit für den Fall,
sorgemaßnahme (Wie-Frage), ergänzt um die Be- dass sich ein zunächst für ungefährlich gehaltener
stimmung eines Vorsorgeadressaten, definiert ist, Stoff in einem Produkt aufgrund neuer Erkenntnisse
strukturieren. als gefährlich herausstellt (ausführlich dazu am Bei-
Unter dem Vorsorgeanlass ist eine Sachlage zu spiel von Nanomaterialien SRU 2011, Rn. 438 ff.).
verstehen, im Zuge derer Vorsorgemaßnahmen ge-
3. Vorsorgeprinzip 393

Vorsorge durch transparente Verfahren lisierter Beteiligung von Vertretern der am öffentli-
chen Leben teilnehmenden gesellschaftlichen Grup-
Wenn sich aber ein angemessenes Schutzniveau an- pierungen ablaufen. Entscheidend ist dabei jedoch,
gesichts von fortbestehenden Unsicherheiten nicht dass die politische und die naturwissenschaftlich-
unmittelbar aus wissenschaftlichen Ergebnissen ab- technische Ebene angemessen miteinander prozedu-
leiten lässt, wächst die Notwendigkeit, Vorsorge- ral verkoppelt werden, so dass jede Seite die ihr zu-
entscheidungen durch geeignete Verfahrensregeln kommende Funktion erfüllen kann (Hey 2000, 85–
abzusichern. Vor allem, wenn die naturwissenschaft- 102). Die institutionalisierte Beteiligung von
liche Risikoermittlung nicht zu eindeutigen Bewer- gesellschaftlichen Gruppen erhöht die politische Le-
tungen gelangt, kommt dem Entscheidungsverfah- gitimität von Entscheidungen und soll erreichen,
ren eine wichtige kompensatorische Bedeutung zu; dass ein breites Spektrum an Kriterien der Risikobe-
es muss »sozial robust« (Nowotny/Scott/Gibbons wertung berücksichtigt wird (s. Kap.VI.5).
2001) sein. Nur so kann gesellschaftliche Akzeptanz
gesichert werden (dazu Grunwald 2005, 54, insbe-
sondere 58 ff.). Das Vorsorgeprinzip wird in der Lite- Absenkung des Beweismaßes
ratur daher auch als Prozessanforderung interpre-
tiert, im Zuge derer verschiedene Verfahrensanfor- Oftmals wird sich die Frage stellen, was geschehen
derungen formuliert werden (Stirling/Mayer 2000, soll, wenn die bestehende Ungewissheit mangels hin-
296–311; Wahl/Appel 1995, 1–216; O ’ Riordan/Ca- reichender Forschung (noch) nicht ermittelt bzw. mit
meron 1994; Raffensperger/Tickner 1999). den verfügbaren Untersuchungsmitteln im Hinblick
Durch verfahrensrechtliche Regelungen ist sicher- auf einen bestehenden Expertenstreit nicht aufgeho-
zustellen, dass die bei der Bewertung der naturwis- ben werden kann. Wenn, wie im Bereich der klassi-
senschaftlichen Daten und Erkenntnisse gegebenen schen Gefahrenabwehr, die hinreichende Wahr-
Einschätzungs- und Bewertungsspielräume offenge- scheinlichkeit eines Schadeneintritts nachgewiesen
legt werden. Ein transparenter Entscheidungsprozess werden muss, dann liegt die Darlegungs- und Beweis-
erfordert, dass im Prozess der Konkretisierung die last beim potentiell Betroffenen des Risikos bzw.  –
gesamte Bandbreite wissenschaftlich vertretbarer Ri- korrespondierend den staatlichen Schutzpflichten aus
sikobewertungen von optimistischen zu pessimisti- Art. 20a GG und den Grundrechten – beim Staat.
schen Annahmen dargestellt und Alternativlösungen Außerhalb der rechtswissenschaftlichen Diskus-
erarbeitet werden. Eine Berücksichtigung des gesam- sion, etwa in der mit Themen der Umweltethik be-
ten Spektrums wissenschaftlich vertretbarer Positio- fassten Philosophie, wurde für die Risiken neuer
nen schließt dabei auch fachliche Minderheitsmei- Technologien daher eine generelle Beweislastumkehr
nungen ein (KOM [2000] 1 endgültig). Nur wenn (»in dubio contra projectum«) gefordert (Jonas 1984,
Maßnahmen der Vorsorge im politischen Prozess 70 ff.; Böhler 1993, 389). Eine solche Risikoentschei-
hinreichend transparent begründet werden, kann ein dung stößt jedoch an die rechtsstaatlichen Grenzen
Verlust an Glaubwürdigkeit vermieden werden, der der Verfassung.
sich beispielsweise aus der Anpassung an neue Er- Vor diesem Hintergrund kann das Vorsorgeprin-
kenntnislagen ergeben kann. Daher müssen zur bes- zip im Recht ›nur‹ nach dem Muster einer widerleg-
seren politischen Durchsetzung von Maßnahmen baren Gefährlichkeitsvermutung wirken (ausführlich
fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse thematisiert Calliess 2001, 228 ff.). Um diese Vermutung zu er-
werden. Das setzt einen Wandel der politischen Risi- schüttern, ist der Risikoverursacher gehalten, Tatsa-
kokultur voraus (z. B. SRU 1999, Rn. 865). chen dafür darzulegen und im Sinne einer begrün-
deten Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass von sei-
nem Stoff, Herstellungsverfahren oder Produkt kein
Angemessene Beteiligung Schaden droht. Denn derjenige, in dessen Einfluss-
von gesellschaftlichen Gruppen sphäre die Ungewissheit entstanden ist, hat aufgrund
seiner Sachnähe einen Wissensvorsprung, der sinn-
Angesichts des immer auch politischen Charakters vollerweise genutzt werden muss. Diese Form der
der Risikobewertung muss der Entscheidungspro- »Beweislastumkehr« kann als Anreiz für den Risiko-
zess nicht nur transparent gestaltet sein, sondern verursacher wirken, parallel zur Entwicklungsfor-
auch einen pluralen Wertediskurs ermöglichen schung eigene Wirkungs- und Risikobegleitforschung
(Stern/Fineberg 1996) und daher unter institutiona- zu betreiben, um so die Gefährlichkeitsvermutung
394 VI. Technikethik in der Praxis

in einem  – vom Gesetzgeber dafür einzurichten- 4. Technikfolgenabschätzung


dem – Verfahren, in dem auch die Belange der Risi-
kobetroffenen berücksichtigt werden, zu widerlegen
(Calliess/Stockhaus 2011, 923; SRU 2011, Rn. 452). Programmatischer Anspruch
und Problemhintergrund
Literatur
Böhler, Dietrich: Gebt der Zukunft ein Recht! Plädoyer für ›Technikfolgenabschätzung‹ (TA, technology assess-
Technologie- und Zukunftsverantwortung im Sinne des ment, auch ›Technikbewertung‹) ist die geläufigste
dialogischen Prinzips. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 10
(1993), 389 ff.
Bezeichnung für ein heterogenes Forschungsfeld,
Calliess, Christian: Rechtsstaat und Umweltstaat. Tübingen das durch den programmatischen Anspruch geeint
2001. ist, zur Bewältigung gesellschaftlicher Problemlagen
– /Stockhaus, Heidi: Regulierung von Nanomaterialien  – im Kontext des wissenschaftlich-technischen Wan-
reicht REACH? In: Deutsches Verwaltungsblatt (2011), dels beizutragen. Dementsprechend wird TA übli-
921–929.
Di Fabio, Udo: Risikoentscheidungen im Rechtsstaat. Tübin-
cherweise als problemorientierte bzw. transdiszipli-
gen 1994. näre Forschung charakterisiert.
Europäische Kommission: Mitteilung über die Anwend- Den Problemhintergrund von TA bilden ver-
barkeit des Vorsorgeprinzips vom 02.02.2000, KOM schiedenerlei negative Erfahrungen mit der Ent-
(2000) 1 endgültig. Brüssel 2000. wicklung und Nutzung neuer Techniken, wie sie ver-
Grimm, Dieter: Die Zukunft der Verfassung. Frankfurt a. M.
1991.
stärkt seit der industriellen Revolution und bis heute
Grunwald, Armin: Zur Rolle von Akzeptanz und Akzepta- zunehmend zu verzeichnen sind. Dazu zählen v. a.
bilität von Technik in der Bewältigung von Technikkon- nicht intendierte Folgen (s. Kap. II.5) des Normalbe-
flikten. In: Technikfolgenabschätzung Theorie und Praxis triebs von Technik sowie katastrophale Unfälle in
14/3 (2005), 54–60. großtechnischen Anlagen, aber auch die Entwick-
Hey, Christian: Zukunftsfähigkeit und Komplexität. Insti-
lung gesellschaftlich geächteter Technologien. Hinzu
tutionelle Innovationen in der EU. In: Volker von Pritt-
witz (Hg.): Institutionelle Arrangements in der Umwelt- kommen soziale Konflikte, die sich am wissenschaft-
politik. Zukunftsfähigkeit durch innovative Verfahrens- lich-technischen Wandel entzünden. So ist oft strit-
kombinationen? Opladen 2000, 85–101. tig, ob die Entwicklung bzw. Nutzung bestimmter
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. Techniken moralisch erlaubt ist bzw. wie Technikfol-
1984.
gen in Bezug auf Umwelt, Wirtschaft, Gesundheit
Nowotny, Helga/Scott, Paul/Gibbons, Michael: Re-Think-
ing Science. Knowledge and the Public in an Aage of usw. zu beurteilen sind. Auch gründen Technikkon-
Uncertainty. Cambridge 2001. flikte häufig in einer gesellschaftlichen Asymmetrie
O ’ Riordan, Timothy/Cameron, James: Interpreting the Pre- zwischen Verursachern und Betroffenen von Tech-
cautionary Principle. London 1994. nikfolgen (s. Kap. III.6).
Raffensperger, Carolyn/Tickner, Joel A. (Hg.): Protecting
Wissenschaft und Technik sind indes nicht nur als
Public Health and the Environment: Implementing the
Precautionary Principle. Washington, D.C. 1999. Problemursache, sondern auch in ihrem Potenzial zur
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Umwelt und Lösung (häufig technikinduzierter) gesellschaftlicher
Gesundheit. Risiken richtig einschätzen. Sondergutachten. Problemlagen Gegenstand von TA. Dies umfasst die
Stuttgart 1999. Identifikation von Problemen, für die z. T. wissen-
– : Vorsorgestrategien für Nanomaterialien. Sondergutach-
schaftliche Methoden unabdingbar sind (z. B. Ozon-
ten. Berlin 2011.
Stern, Paul. C./Fineberg, Harvey. V.: Understanding Risk: loch), die Rückführung der problematischen Phäno-
Informing Decisions in a Democratic Society. Washing- mene auf mitunter äußerst komplexe Ursachen wie
ton, D.C. 1996. auch die Entwicklung von Problemlösungen.
Stirling, Andy/Mayer, Sue: Precautionary Approaches to Vor diesem Hintergrund zielt Technikfolgenab-
the appraisal of risk: A case study of a genetically modi- schätzung darauf, mögliche positive wie negative
fied crop. In: International Journal of Occupational and
Environmental Health 6/4 (2000), 296–311. Technikfolgen auf unterschiedliche Wirkungsberei-
Wahl, Rainer/Appel, Ivo: Prävention und Vorsorge: Von che unter Berücksichtigung ihrer oft ungleichen
der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung. In: Rai- räumlichen, zeitlichen und v. a. sozialen Verteilung
ner Wahl (Hg.): Prävention und Vorsorge: Von der Staats- zu antizipieren. Sie zielt ferner darauf, Technikkon-
aufgabe zu den verwaltungsrechtlichen Instrumenten. flikte frühzeitig zu erkennen und (u. a. prozedurale)
Bonn 1995, 1–216.
Wollenteit, Ulrich: Vom Ende des Restrisikos. In: Zeit- Wege argumentativer Konfliktlösung aufzuzeigen.
schrift für Umweltrecht (2013), 323–329. Entgegen dem Wortsinn ihres Namens beschränkt
Christian Calliess sich TA dabei nicht auf die ›Abschätzung‹ der ›Fol-
4. Technikfolgenabschätzung 395

gen‹ von ›Technik‹. Sie befasst sich nicht nur mit spruch der TA ein normativer Charakter der TA-For-
technischen Artefakten und Verfahren, sondern mit schung, der zwei Elemente umfasst: Zum einen muss
dem gesamten Prozess des wissenschaftlich-techni- in TA-Prozessen eine Problemstellung entwickelt
schen Wandels (u. a. die gesellschaftliche Einbettung werden, sei es durch Anknüpfung an öffentlich disku-
neuer Techniken); nicht allein mit Folgen von Tech- tierte Probleme, durch Einbeziehung außerwissen-
nikentwicklung und -nutzung, sondern auch mit ih- schaftlicher Akteursgruppen in einen Prozess der
ren Bedingungen sowie (z. B. ethischen) Implikatio- Problemdefinition (z. B. in Konstellationen der Poli-
nen, die nicht als Folgen im engen Sinn gefasst wer- tikberatung), durch normativ-ethische Reflexion oder
den können. TA zielt schließlich nicht auf eine aber durch Mischformen dieser idealtypischen Vorge-
deskriptiv verstandene Abschätzung, sondern ent- hensweisen. Zum anderen ist eine Rückbindung an
hält unumgänglich evaluative Anteile. Orte gesellschaftlicher Technikgestaltung vonnöten,
d. h. an die für Entwicklung, Herstellung und Ge-
brauch neuer Techniken maßgeblichen Akteursgrup-
Charakteristika pen sowie an übergreifende gesellschaftliche Urteils-
bildungsprozesse in Bezug auf Technik (s. Kap. VI.1).
Aus der programmatischen Ausrichtung auf gesell- Jenseits dieser Charakteristika ist das Forschungs-
schaftliche Problemlagen ergeben sich einige Cha- feld der Technikfolgenabschätzung durch eine große
rakteristika von Technikfolgenabschätzung (ähnlich Heterogenität gekennzeichnet. Diese betrifft u. a. die
Grunwald 2007): Formen der Institutionalisierung (als parlamentari-
(1) Interdisziplinäre Forschungspraxis: Eine kriti- sche TA, universitäre und außeruniversitäre For-
sche Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich- schung, TA in Verbänden) einschließlich deren Ein-
technischen Wandel erfordert ihrerseits einen wis- bindung in soziale Kontexte, die dominierenden dis-
senschaftlich fundierten Zugang: Zum einen ist eine ziplinären Einflüsse (v. a. aus Soziologie, Philosophie,
profunde Sachkenntnis von Techniken, ihrer Funk- Natur- und Ingenieurwissenschaften, Politik- und
tionsweise und Nutzungsbedingungen unerlässlich, Rechtswissenschaften), Forschungsmethoden sowie
zum anderen lassen sich Technikfolgen sowie die Schwerpunkte bei Forschungsgegenständen.
zugrunde liegenden Wirkungszusammenhänge oft
nur wissenschaftlich bestimmen. TA-Forschung ist
näherhin interdisziplinär: Die Problemdefinition in Historische Entwicklung
TA-Projekten muss aus lebensweltlicher Perspektive
und somit jenseits disziplinärer Erkenntnisinteres- Der Ursprung der Technikfolgenabschätzung wird
sen erfolgen. Verschiedene Disziplinen sind nach in aller Regel mit der Einrichtung des Office of Tech-
Maßgabe des konkreten Problems an einem integra- nology Assessment (OTA) beim US-amerikanischen
tiv angelegten Forschungsprozess zu beteiligen. Kongress 1972 identifiziert. Den Hintergrund hier-
(2) Zukunftsbezug in Gestaltungsanspruch und für bildete ein Komplex von Gründen, u. a. die stark
Folgenorientierung: Die programmatische Ausrich- gestiegene Bedeutung des Staates als Förderer der
tung der Technikfolgenabschätzung ist ein Gestal- technologischen Entwicklung sowie die zuneh-
tungsanspruch: TA zielt auf die Mitgestaltung der mende Wahrnehmung derselben als ambivalent.
technischen Zukunft in eine – wie immer zu bestim- Dem Kongress, der die Haushaltskontrolle inne-
mende – wünschenswerte Richtung. Sie ist in diesem hatte, standen nur unzureichend regierungsunab-
Sinne immanent zukunftsbezogen. Der Zukunftsbe- hängige Informationsquellen zur Verfügung. Den
zug der TA manifestiert sich insbesondere darin, hieraus resultierenden Beratungsbedarf der Legisla-
dass sich ihr Erkenntnisinteresse primär auf die Fol- tive sollte das OTA decken (Bimber 1996). Zu dessen
gen der Techniknutzung und -entwicklung richtet. Aufgaben zählten insbesondere die frühzeitige Iden-
Trotz der herausragenden Bedeutung von Technik- tifikation von wahrscheinlichen nützlichen oder
folgen in der TA ist diese nicht dem konsequentialis- aber negativen Technikfolgen sowie die Erarbeitung
tischen Paradigma ethischer Begründung verhaftet. politischer Handlungsalternativen. Dabei sollte das
Es gehört vielmehr zum Ethos der TA, auch deonto- OTA nicht einzelne Vorgehensweisen empfehlen
logische Begründungen in die Beurteilung neuer und gleichsam politische Entscheidungen ersetzen,
Technologien einfließen zu lassen (s. Kap. IV.B.5). sondern diese dem Kongress überlassen (United
(3) Normativität in der Definition und Bearbeitung States Senate 1972). Insofern folgte das OTA dem
von Problemen: Schließlich ergibt sich aus dem An- Modell dezisionistischer Politikberatung.
396 VI. Technikethik in der Praxis

Wenngleich die skizzierte TA-Gründungsge- sich diese besonders für die Reflexion der Rolle von
schichte die Literatur dominiert, existieren auch TA, da sie den Raum ihrer möglichen Situierungen
konkurrierende Sichtweisen. Sowohl von ingenieurs- im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und
ethischer als auch von sozialwissenschaftlicher Öffentlichkeit ausloten.
Warte wird eingewandt, dass Forschungsansätze Das Konzept der Technikbewertung des Vereins
derselben Programmatik weiter zurückreichten und Deutscher Ingenieure (VDI) wurde, angestoßen von
die Einrichtung des OTA lediglich den Beginn einer den Diskussionen um die Einrichtung des OTA und
bestimmten Institutionalisierungsform von Tech- anknüpfend an eine weiter zurückreichende Diskus-
nikfolgenabschätzung markiere. Dieser Kritik ist in- sionstradition zur Ingenieurverantwortung, seit Be-
sofern zuzustimmen, als ein beträchtlicher Teil der ginn der 1970er Jahre entwickelt und ist seit 1991 in
gegenwärtigen TA sich weder institutionell noch der VDI-Richtlinie 3780 kodifiziert (VDI 1991; s.
konzeptionell auf das OTA-Modell zurückführen Kap. VI.6). Zentrale Akteure gesellschaftlicher Tech-
lässt und eine Bestimmung gegenwärtiger TA unter nikgestaltung im Sinne dieses TA-Konzepts sind
Rekurs auf das OTA häufig zu Schieflagen führt. die – großenteils in der Privatwirtschaft tätigen – In-
Zweifellos jedoch wurde der Ausdruck technology genieure. Diese sollen ihre Forschungs- und Ent-
assessment und seine Kurzform ›TA‹ erstmalig 1966 wicklungstätigkeit an einem Satz von acht Werten
im Vorfeld der OTA-Einrichtung nachweislich ver- (Werteoktogon) ausrichten, die als gesellschaftlich
wendet und im Anschluss daran einer breiten anerkannt verstanden werden. Wenngleich die
(Fach-)Öffentlichkeit bekannt. Richtlinie stark rezipiert wurde, fand sie bislang
Die Einrichtung des OTA stieß insbesondere im kaum Anwendung in TA-Studien. Sie entfaltete je-
europäischen Raum eine breite Debatte über TA an. doch Wirkung in konkreteren VDI-Richtlinien
So brachte die damals oppositionelle CDU/CSU- (etwa in Richtlinie 5015 »Technikbewertung der Bü-
Fraktion 1973 einen Gesetzentwurf zur Einrichtung rokommunikation«) sowie auf dem Feld der Inge-
eines »parlamentarischen Amtes zur Bewertung nieursausbildung (s. Kap. VI.9).
technologischer Entwicklungen« in den Deutschen Zwar galt Partizipation bereits in den OTA-Doku-
Bundestag ein. In den 1980er Jahren wurde – begin- menten als Desiderat für TA-Prozesse, ihre breitere
nend 1983 in Frankreich – eine Reihe parlamentari- Umsetzung erfolgte jedoch erst in den 1980er sowie
scher TA-Einrichtungen etabliert. Als Resultat der v. a. den 1990er Jahren. Partizipative Technikfolgen-
deutschen Debatte wurde 1990 das Büro für Tech- abschätzung (s. Kap. VI.5) sollte einen Kontrapunkt
nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag zur Expertenzentrierung der dezisionistisch gepräg-
(TAB) eingerichtet (Petermann/Grunwald 2005). ten Politikberatung setzen. Sie ist – mehr oder weni-
Seitdem wurde und wird TA weiter an nationalen ger explizit  – in demokratietheoretischen Arbeiten
wie auch an regionalen Parlamenten institutionell v. a. von Jürgen Habermas und John Rawls verwur-
verankert. Im europäischen Raum sind die parla- zelt. Im Gegensatz zu den anderen skizzierten TA-
mentarischen TA-Institutionen seit 1990 im EPTA- Konzepten bezeichnet ›partizipative TA‹ keinen ein-
Netzwerk zusammengeschlossen, dem mittlerweile zelnen, deutlich umrissenen Ansatz, sondern eine
18 Einrichtungen angehören. Vielzahl von Verfahren (z. B. Konsensuskonferenz,
Während die historische Entwicklung der parla- Bürgerforum, Planungszelle). Ihnen ist gemein, dass
mentarischen TA gut dokumentiert ist, liegt zur Ge- sie auf politische Teilhabe von Laien, Betroffenen,
schichte der TA-Institutionen in außerparlamentari- Interessengruppen oder anderen Akteursgruppen
schen Kontexten keine umfassende Darstellung vor. (stakeholder) zielen. So soll u. a. die Wissensbasis
Zentral für die Selbstreflexion in der TA ist indes technikpolitischer Entscheidungen durch Einbezie-
weniger die Geschichte von Institutionen als viel- hung von lokalem Wissen verbreitert sowie die Legi-
mehr die Geschichte von ›TA-Konzepten‹, program- timität der Entscheidungen durch Einbeziehung von
matischer Entwürfe, die hinsichtlich der theore- Betroffenen erhöht werden. Partizipative Ansätze
tischen Fundierung, der Ausgestaltung des For- sind in der TA weit verbreitet. Sie kommen sowohl
schungsprozesses und Institutionalisierungsform im Kontext von Standortentscheidungen bzw. Ge-
umfassende Idealmodelle von TA skizzieren. Sie nehmigungsverfahren für Deponien und großtech-
wurden seit den 1970er Jahren in intensiver gegen- nische Anlagen als auch in grundlegenden Prozes-
seitiger Rezeption und Kritik entwickelt. Wenn- sen der Urteilsbildung über bestimmte neue Tech-
gleich sich ein beträchtlicher Teil der TA-Praxis kei- nologien (z. B. Agrogentechnik) zur Anwendung
nem der Konzepte eindeutig zuordnen lässt, eignen (Joss/Bellucci 2002).
4. Technikfolgenabschätzung 397

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde in Einrichtung einschlägiger Professuren ebenso wie
den Niederlanden das Konzept des constructive tech- die Gründung eines »Netzwerks TA« der deutsch-
nology assessment entwickelt (Rip et al. 1995). Das sprachigen TA-Community 2004 sowie die zuneh-
Attribut ›konstruktiv‹ verweist zum einen auf das mende Bedeutung, welche der Hochschullehre von
theoretische Fundament des Ansatzes in der sozial- TA zugemessen wird (Dusseldorp/Beecroft 2012).
konstruktivistischen Technikforschung, zum ande-
ren auf den Anspruch, die technologische Entwick-
lung nicht zu behindern, sondern sie konstruktiv Grundfragen, zentrale Kontroversen,
mitzugestalten (s. Kap. IV.A.10). Hierzu setzt con- aktuelle Forschungsfragen
structive TA möglichst früh und direkt am Prozess
der Technikentwicklung an. Unter Beteiligung ver- Die Technikfolgenabschätzung sieht sich seit ihren
schiedener Akteure (neben Technikentwicklern z. B. Anfängen mit einigen Grundfragen konfrontiert, die
auch künftige Nutzer, Regulierungsbehörden, Inter- zum Teil bis heute kontrovers diskutiert werden. Sie
essenverbände) soll es gelingen, »technology for a lassen sich anhand der oben skizzierten Charakteris-
better society« zu entwickeln. In den Niederlanden tika von TA systematisieren:
und – in geringerem Maße – in Deutschland ist die (1) Zunächst fragt sich, wie die unterschiedli-
Diskussion über den Ansatz bis heute rege, hat sich chen disziplinären Beiträge in interdisziplinären
jedoch kaum in zugänglichen Projektdokumentatio- Forschungsprozessen integriert werden können. Die
nen niedergeschlagen. disziplinären Zugänge unterscheiden sich hinsicht-
Rationale Technikfolgenbeurteilung wurde in ih- lich ihrer Grundbegriffe, Forschungsgegenstände
ren Grundzügen zu Beginn der 1990er Jahre im und -methoden beträchtlich. Die Herausforderun-
Rahmen des SAPHIR-Projekts (DLR 1993) entwi- gen der Integration erstrecken sich von der Entwick-
ckelt, die Ausarbeitung erfolgte bis zum Ende der lung eines geteilten Grundverständnisses des For-
1990er Jahre (Gethmann 1999). Das Konzept zielt schungsproblems bis hin zur Zusammenführung
auf eine kritische Revision herkömmlicher, v. a. sozi- der disziplinären Beiträge zu einem kohärenten Er-
alwissenschaftlich geprägter Technikfolgenabschät- gebnis. Sie sind – trotz langjähriger Praxiserfahrun-
zung mit wissenschaftstheoretischen Mitteln. Deren gen  – in neuen personellen Konstellationen stets
Position, Normativität im Technikfolgendiskurs sei aufs Neue zu bewältigen. Auf theoretischer Ebene
einer wissenschaftlichen Befassung nicht zugänglich spiegelt sich diese Problematik in einer Diskussion
(›deskriptivistisches Defizit‹), wird ein Ansatz zur wider, in der auf der einen Seite am Begriff einer
rationalen Diskursrekonstruktion und Kritik entge- (Disziplinen übergreifenden) ›Rationalität‹ festge-
gengesetzt. Die Themenstellungen rationaler TA halten wird, während auf der anderen Seite unter-
weisen einen starken Schwerpunkt auf Grundlagen- schiedliche, inkommensurable ›Rationalitäten‹ pos-
fragen mit ethischer Dimension auf. Ihre Ergebnisse tuliert werden, mit denen in interdisziplinärer For-
sind erklärtermaßen an Politik und Öffentlichkeit schung auf produktive Weise umgegangen werden
adressiert, allerdings ohne institutionalisiertes Bera- muss.
tungsverhältnis. (2) Darüber hinaus wirft der Zukunftsbezug der
Auch in der Folgezeit wurden neue TA-Konzepte Technikfolgenabschätzung grundlegende methodo-
entwickelt, die jedoch bis heute nur in vergleichs- logische Fragen auf. Auf welche Weise lässt sich
weise geringem Umfang in die einschlägigen Dis- überhaupt wissenschaftlich über Zukunft sprechen?
kussionen eingegangen sind. Die älteren Konzepte Prognostische Aussagen über die Zukunft, wie sie in
bestehen bis heute – mit mehr oder weniger grund- der TA in ihrer Anfangszeit eine zentrale Rolle spiel-
legenden Modifikationen – fort. Ihr Verhältnis ist im ten, sind nahezu gänzlich aus der TA-Praxis ver-
Wesentlichen komplementär: Jedes TA-Konzept schwunden, da sie für eine Anwendung auf kom-
hebt eine bestimmte Akteursgruppe – Politiker, In- plexe Systeme im Allgemeinen und auf den Bereich
genieure, Bürger, Wissenschaftler  – als zentral für menschlichen Handelns, in dem Prognosen ihrer-
die Technikgestaltung hervor und bietet dieser seits als Handlungsgründe aufgenommen werden
Orientierung für die Ausgestaltung ihrer Rolle. können, im Besonderen methodisch unzulänglich
Jenseits von Institutionen und Konzepten ist zu sind. An ihre Stelle treten Szenarien oder andere
konstatieren, dass sich TA in den letzten Jahrzehnten Modelle, mittels derer in der TA über ›mögliche Zu-
zunehmend in der universitären und außeruniversi- künfte‹ reflektiert wird. Fraglich bleiben der episte-
tären Forschung etabliert hat. Davon zeugen die mische wie auch der normative Status von Zukunfts-
398 VI. Technikethik in der Praxis

aussagen: Wie (gut) lässt sich begründen, dass be- Zum Verhältnis von Technikfolgen-
stimmte Zukünfte als möglich angesehen werden abschätzung und Technikethik
und andere nicht? Wie lässt sich die Auswahl be-
stimmter Zukünfte aus dem immensen Raum mög- Auf programmatischer Ebene ist eine große Über-
licher Zukünfte rechtfertigen, gerade vor dem Hin- einstimmung zwischen Technikfolgenabschätzung
tergrund, dass sie auf der politischen Arena – z. B. in und Technikethik zu konstatieren: Beide For-
Form von Energieszenarien  – große praktische schungsfelder beanspruchen, einen Beitrag zur Lö-
Wirksamkeit entfalten können? sung gesellschaftlicher Problemlagen im Kontext des
(3) Der normative Charakter der Technikfolgen- wissenschaftlich-technischen Wandels zu leisten.
abschätzung wirft schließlich einen Komplex von Unterschiede bestehen hinsichtlich der Umsetzung
teils heftig umstrittenen Fragen auf. Ein Großteil da- dieses Programms. Verallgemeinernd lässt sich sa-
von lässt sich unter folgender Frage subsumieren: gen, dass Technikethik gegenüber TA durch ein ge-
Wer soll auf welcher Grundlage über (gesellschaft- ringeres Maß an interdisziplinärer Projektarbeit so-
lich relevante) Technikgestaltung entscheiden? Eine wie an systematischer Analyse möglichst aller rele-
Beteiligung wissenschaftlicher Fachleute wird von vanten Folgedimensionen gekennzeichnet ist. Dies
allen TA-Konzepten vorgesehen, wenngleich mit und die mangelnde (institutionelle) Anbindung an
stark differierender Ausgestaltung. Die Konzepte gesellschaftliche Entscheidungsprozesse wurde der
unterscheiden sich v. a. hinsichtlich der Akteurs- Technikethik von Seiten der TA als »Operationali-
gruppen, die sie für entscheidungslegitimiert halten, sierungsdefizit« vorgehalten (Grunwald 1999). An-
sowie der normativen Grundlagen für die Entschei- dererseits ist für die TA grosso modo ein geringeres
dung. Eine zentrale Konfliktlinie verläuft zwischen Maß an normativer Reflexion zu diagnostizieren.
Anhängern des Modells repräsentativer Demokratie, Ein aus Sicht der Technikethik besonders interes-
die der Legislative die zentrale Rolle bei der gesell- santer Unterschied zur TA dürfte in den normativen
schaftlichen Technikgestaltung zuschreiben, und Grundlagen der jeweiligen Forschungsprozesse lie-
Proponenten direktdemokratischer Elemente. Als gen. In der Technikethik wird normative Reflexion –
Bewertungsgrundlage kommt dem Leitbild einer wie in jeder Bereichsethik – im monologischen oder
nachhaltigen Entwicklung in der TA große Bedeu- dialogischen (diskursiven) Modus vollzogen. Ersterer
tung zu (s. Kap. IV.B.10). Entsprechende konzeptio- ist dadurch gekennzeichnet, dass zum Zweck der
nelle wie auch angewandte Arbeiten reichen bis in Normbegründung im Gedankenexperiment der mo-
die 1990er Jahre zurück und spielen bis heute eine ralische Standpunkt eingenommen wird, letzterer
wichtige Rolle. In jüngster Zeit wird dem Konzept dadurch, dass Normbegründung in kommunikativer
des responsible research and innovation (RRI) in der Interaktion zwischen einer Mehrzahl von Personen
TA größere Beachtung geschenkt. Es verbindet den vollzogen wird. Beiden Modi ist gemeinsam, dass die
Verantwortungsbegriff der Ethik (s. Kap. II.6) mit beteiligten Personen mit gleichen Rechten und
dem Wissen um Forschungs- und Innovationspro- Pflichten bezüglich der Urteilsbildung ausgestattet
zesse der Wissenschafts- und Technikforschung. sind. Auch die TA kennt diese Modi normativer Re-
Auf Ebene der Forschungsgegenstände ist Tech- flexion, geht hinsichtlich ihrer normativen Grundle-
nikfolgenabschätzung laufend mit neuen Ergebnis- gung aber insofern darüber hinaus, als sie auch nor-
sen von Forschung und Entwicklung konfrontiert. mative Reflexion in asymmetrischen Sozialbeziehun-
Verallgemeinernd lassen sich diesbezüglich einige gen, d. h. mit nicht gleichgestellten Personen, kennt,
Tendenzen festhalten: TA ist gegenüber ihrer An- nämlich im Modus der Beratung. Beratung als Modus
fangszeit weniger mit großtechnischen Anlagen als normativer Reflexion ist für eine theoretische Befas-
vielmehr mit Techniken befasst, die in zahlreichen sung insofern ein vielversprechender Gegenstand, als
Nutzungskontexten auf unterschiedlichste Weise sie die Realität gesellschaftlicher Urteilsbildungspro-
eingesetzt werden können. Auch die Zusammenfüh- zesse mit ihren – zumindest zum Teil gut begründe-
rung unterschiedlicher Techniken  – klassisch aus ten – sozialen Asymmetrien zu fassen vermag. Wenn
den Bereichen Nano-, Bio- und Informationstechnik der TA v. a. in den 1990er Jahren von Seiten der Tech-
sowie den Neurowissenschaften (NBIC) – ist zu ei- nikethik ein »deskriptivistisches Defizit« vorgehalten
nem zentralen Gegenstandsbereich der TA avan- wurde, so ist dies jedenfalls nicht (mehr) haltbar.
ciert. Schließlich wendet sich TA zunehmend gro- Eine verbindende Perspektive auf Technikfolgen-
ßen gesellschaftlichen Transformationen mit star- abschätzung und Technikethik erlaubt Carmen Ka-
kem Technikbezug (etwa des Energiesystems) zu. minskys Ansatz einer Differenzierung zwischen Be-
4. Technikfolgenabschätzung 399

reichsethiken und Angewandter Ethik (Kaminsky Gethmann, Carl Friedrich: Rationale Technikfolgenbeur-
2005). Demnach stellen Bereichsethiken interdiszi- teilung. In: Armin Grunwald (Hg.): Rationale Technik-
folgenbeurteilung. Konzeption und methodische Grundla-
plinäre, ethisch-politische Diskurse dar. Diese seien
gen. Berlin 1999.
nicht vollständig der Moralphilosophie zuzuordnen, Grunwald, Armin: Technology assessment or ethics of
sondern hätten die Funktion, »zwischen der ethi- technology? Reflections on technology development
schen und der politischen Diskussion spezifischer between social sciences and philosophy. In: Ethical Per-
Themenstellungen zu vermitteln«, indem sie die spectives 6/2 (1999), 170–182.
ethische Normenbegründung und den Prozess der – : Auf dem Weg zu einer Theorie der Technikfolgenab-
schätzung  – Der Einstieg. In: Technikfolgenabschät-
politischen Entscheidungsfindung um den »Zwi- zung – Theorie und Praxis 16/1 (2007), 4–17.
schenschritt einer spezifisch moralpragmatischen – : Technikfolgenabschätzung  – Eine Einführung. Berlin
Diskussion« ergänzen (ebd., 12 f.). Gegenstände der 2
2010.
Bereichsethiken seien nicht von den Einzelwissen- Joss, Simon/Bellucci, Sergio (Hg.): Participatory Technology
schaften oder der Moralphilosophie aufgeworfene Assessment – European Perspectives. London 2002.
Kaminsky, Carmen: Moral für die Politik. Eine konzeptio-
Probleme, sondern im praktischen Lebensvollzug nelle Grundlegung der Angewandten Ethik. Paderborn
aufkommende Probleme von sozialem Belang. Dem 2005.
gegenüber versteht Kaminsky ›Angewandte Ethik‹ Ott, Konrad: Technik und Ethik. In: Julian Nida-Rümelin
als Beschäftigungsbereich der Moralphilosophie, der (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre
die methodischen und konzeptionellen Fragen der theoretische Fundierung. Stuttgart 1996.
Petermann, Thomas/Grunwald, Armin: Technikfolgen-Ab-
Bereichsethiken zum Gegenstand hat. Dieser Defi- schätzung für den Deutschen Bundestag. Das TAB – Er-
nition zufolge markiert die Bereichsethik, die sich fahrungen und Perspektiven wissenschaftlicher Politikbe-
mit gesellschaftlichen Problemen des wissenschaft- ratung. Berlin 2005.
lich-technischen Wandels befasst, ein Ideal sowohl Rapp, Friedrich (Hg.): Normative Technikbewertung. Wert-
der Technikfolgenabschätzung als auch der Technik- probleme der Technik und die Erfahrungen mit der VDI-
Richtlinie 3780. Berlin 1999.
ethik (in ihrem bereichsethischen Element): eine Rip, Arie/Misa, Thomas/Schot, Johan (Hg.): Managing
Forschungspraxis nämlich, die einerseits durch Fun- Technology in Society. The Approach of Constructive
dierung in der philosophischen Ethik normativ Technology Assessment. London 1995.
reflektiert, andererseits durch ein Verständnis der United States Senate: Technology Assessment Act of 1972.
sozialen Einbettung von Technikentwicklung und Washington D.C. 1972.
VDI (Verein Deutscher Ingenieure) (Hg.): Technikbewer-
-nutzung und Kenntnis der vielfältigen Technikfol-
tung – Begriffe und Grundlagen. Erläuterungen und Hin-
gen auf Grundlage eines möglichst gründlichen Ver- weise zur VDI-Richtlinie 3780. Düsseldorf 1991.
ständnisses ihres Gegenstandsbereichs agiert. Die- Vig, Norman/Paschen, Herbert (Hg.): Parliaments and
sem Ideal hätte sich die Technikfolgenabschätzung Technology: The Development of Technology Assessment
von der einen, die Technikethik von der anderen in Europe. Albany 1999.
Marc Dusseldorp
Seite weiterhin zu nähern.

Literatur
Abels, Gabriele/Bora, Alfons: Demokratische Technikbewer-
tung. Bielefeld 2004.
Bimber, Bruce: The Politics of Expertise in Congress: The
Rise and Fall of the Office of Technology Assessment. Al-
bany 1996.
Bröchler, Stefan/Simonis, Georg/Sundermann, Karsten
(Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung. Berlin 1999.
Decker, Michael/Ladikas, Miltos (Hg.): Bridges between
Science, Society and Policy. Technology Assessment – Me-
thods and Impacts. Berlin 2004.
DLR (Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raum-
fahrt) (Hg.): Technikfolgenbeurteilung der bemannten
Raumfahrt. Systemanalytische, wissenschaftstheoretische
und ethische Beiträge: ihre Möglichkeiten und Grenzen.
Köln-Porz 1993.
Dusseldorp, Marc/Beecroft, Richard (Hg.): Technikfolgen
abschätzen lehren. Bildungspotenziale transdisziplinärer
Methoden. Wiesbaden 2012.
400 VI. Technikethik in der Praxis

5. Bürgerbeteiligung • Es klafft häufig eine Kluft zwischen den von den


Experten berechneten Konsequenzen und Risi-
ken und den von der Bevölkerung wahrgenom-
Ausgangslage menen Folgeproblemen. Wie psychologische Un-
tersuchungen nachweisen, spielen bei der Beur-
Politikverdrossenheit, St.-Florian-Prinzip, Wutbür- teilung von Risiken neben der Wahrscheinlichkeit
ger, Protestkultur, Besitzstandswahrung, Anspruchs- und des Ausmaßes des Risikos auch sogenannte
mentalität  – diese Schlagworte kennzeichnen die qualitative Risikomerkmale eine wichtige Rolle.
aktuelle Situation um Akzeptanz von neuen Techno- So macht es einen wichtigen Unterschied, ob Risi-
logien, Infrastrukturvorhaben oder öffentlichen Pla- ken beispielsweise freiwillig auf sich genommen
nungen. Allein die Tatsache, dass ein Beschluss de- oder von dem Risikoträger aktiv kontrolliert wer-
mokratisch zustande gekommen ist, reicht oft nicht den können.
mehr aus, um Akzeptanz bei den Betroffenen zu er- • Schließlich ist der Protest gegen Risikoanlagen
reichen. Warum ist es zu dieser Legitimationskrise häufig auch ein Protest gegen die Art, wie Be-
gekommen? Ohne diese Frage erschöpfend beant- schlüsse in der politischen Arena zustande kom-
worten zu wollen, erscheinen folgende Faktoren von men. Der Prozess der Entscheidungsfindung ist
besonderer Bedeutung zu sein (Gabriel/Völkl 2004; mindestens ebenso bedeutend wie die Entschei-
Kulinski/Oppermann 2010; Renn 2004): dung selbst. Mit zunehmendem Bildungsstand
• In einer zunehmend dichteren Besiedlung und und ökonomischem Wohlstand wächst der
Vernetzung sind Risiken und Nutzen von Infra- Wunsch nach Teilhabe an der Entscheidungsfin-
struktur- und Planungsvorhaben nicht gleich ver- dung, vor allem dann, wenn die persönliche Le-
teilt. In der Regel fällt der Nutzen bei einer Menge benswelt betroffen ist.
meist anonymer Konsumenten oder Produzenten
an, während überwiegend die Standortbevöl- Proteste gegen Technologien und technische Einrich-
kerung das Risiko trägt. Dies führt zu wahrge- tungen ist durch viele Faktoren begründet und von
nommenen Verletzungen des Fairness-Prinzips. daher auch nicht als ein vorübergehendes Phänomen
Warum soll ein Teil der Bürgerschaft Nachteile in zu sehen (zu Technikkonflikten s. Kap. III.6). Ver-
Kauf nehmen, wenn überwiegend andere von trauensverluste lassen sich nicht durch Information
dem Nutzen profitieren? ausgleichen. Dementsprechend laufen auch alle Vor-
• Der Protest gegen technische Einrichtungen und schläge, die auftretenden Konflikte durch bessere Er-
Infrastrukturmaßnahmen nährt sich auch aus der ziehung, Aufklärung oder Informationskampagnen
Erfahrung der Bedrohung der eigenen Lebens- zu bewältigen, ins Leere. Vielmehr ist hier eine di-
welt. Immer mehr Bürger sehen sich in ihrem All- rekte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an-
tagshandeln durch professionelle Expertenurteile gebracht. Aktive Beteiligung setzt zweierlei voraus:
und institutionelle Eingriffe eingeengt. Was sich eine Legitimation durch Verfahren und eine offene
in ihrer Gemeinde abspielt, entzieht sich mehr Auseinandersetzung mit den betroffenen Bevölke-
und mehr ihrer Kontrolle und ihrer Einfluss- rungsgruppen. Im ersten Fall geht es um einen trans-
nahme. Als Gegenreaktion versuchen sie, alles, parenten und nachvollziehbaren Prozess der Ent-
was ihnen von außen aufgezwungen erscheint, scheidungsfindung, in dem alle Interessen und Werte
abzuwehren und ihre eigene kollektive Identität berücksichtigt werden; im zweiten Fall um eine ange-
zu wahren. messene Beteiligung der Menschen, die direkt oder
• Die Notwendigkeit der Einführung neuer Techno- indirekt von den Konsequenzen dieser Entscheidung
logien (etwa der Nanotechnologie oder der grü- betroffen sind. Beteiligung ist aber nicht nur notwen-
nen Gentechnik) ist häufig auch unter Fachleuten diges Übel in einer auf Mitsprache bedachten Gesell-
und Meinungsmultiplikatoren umstritten. In der schaft, sondern eine funktionale Bereicherung des
öffentlichen Auseinandersetzung um das Für und Entscheidungsprozesses sowie eine auf der demokra-
Wider lässt sich daher jede mögliche Haltung tischen Grundordnung basierende Verpflichtung ge-
durch Rückgriff auf irgendeinen Experten be- genüber den betroffenen Bürgern. Der Jurist Hans-
gründen. Das Expertendilemma führt dazu, dass jörg Seiler hat diese Verpflichtung treffend auf die
Sachwissen als potentiell integrative Kraft für den kurze Formel gebracht: »Betroffenheitsdemokratie
Ausschluss von Behauptungen nicht mehr oder ist nicht die Perversion, sondern im Gegenteil das
nur in geringem Maß zur Verfügung steht. Ideal der Demokratie« (Seiler 1991, 17).
5. Bürgerbeteiligung 401

Das Steuerungsdilemma der Politik Was kann Bürgerbeteiligung leisten?


Die Politik sieht sich in der Frage nach der Lösung Bürgerbeteiligungsverfahren bieten vor diesem Hin-
von Technikkonflikten einem schwierigen Dilemma tergrund einen möglichen Lösungsweg an. Als Bür-
ausgesetzt. Auf der einen Seite stehen die Gutachter, gerbeteiligungsverfahren sind hier kommunikative
Experten und Politiker, die eine bestimmte Lösung Prozesse gemeint, in denen Personen, die qua Amt
empfehlen, auf der anderen Seite stehen Bürgeriniti- oder Mandat keinen Anspruch auf Mitwirkung an
ativen und andere, meist der Umweltbewegung zu- kollektiven Entscheidungen haben, die Möglichkeit
gehörige Gruppen, die genau die von der Politik erhalten, durch die Eingabe von Wissen, Präferenzen,
oder Verwaltung vorgeschlagenen Lösungen ableh- Bewertungen und Empfehlungen auf die kollektiv
nen. Die Gegenvorschläge der Initiativen und Bür- wirksame Entscheidungsfindung direkten oder indi-
gergruppen werden wiederum von vielen Fachleu- rekten Einfluss zu nehmen. Dabei wird der Fokus
ten und manchen Verwaltungen als problematisch, weg von der eigentlichen Entscheidung und hin zu
illusorisch oder technisch nicht machbar eingestuft. dem Weg, auf dem die Entscheidung getroffen wird,
Diese Situation wird dadurch erschwert, dass sowohl verlagert. Es gibt fünf Gründe, die bei Technikkon-
innerhalb der Fachwelt unterschiedliche Meinungen flikten für eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen
vorherrschen als auch die Bürger keine einheitliche und Bürger in die Entscheidungsfindung sprechen
Front darstellen, sondern selbst wieder in vielerlei (Newig 2007; Stirling 2008; Renn/Schweizer 2009):
Gruppen zersplittert auftreten. Es entstehen immer • Durch Einbezug von örtlich betroffenen Bevölke-
wieder neue politische Allianzen und Zweckbünd- rungsteilen kann zum Ersten die Wissensbasis
nisse, die oft nur durch ein Interesse (etwa die Ver- erweitert werden. Neben dem systematischen
hinderung einer Technik) motiviert sind. Darüber Wissen der Experten und dem Prozesswissen der
hinaus entflammen immer wieder Konflikte zwi- Entscheidungsträger kann für viele Entschei-
schen denen, die an der konkreten Bewältigung ei- dungsprobleme auch das Erfahrungswissen der
ner gerade drängenden Aufgabe interessiert sind, betroffenen Bevölkerung von besonderer Bedeu-
und denen, die mit jeder Handlung eine abstrakte tung sein. Dieses Erfahrungswissen kann je nach
Orientierung für eine alternative Umweltpolitik zum Problemtyp eine wichtige Bereicherung und gele-
Ausdruck bringen wollen. gentlich auch eine Korrektur des Expertenwissens
Angesichts dieser Unübersichtlichkeit von Forde- darstellen, vor allem dann, wenn die Ursache-
rungen, Entwürfen und Gegenentwürfen fällt es den Wirkungszusammenhänge in der Realität stark
politischen Entscheidungsträgern schwer, eine sach- streuen oder die Wirkungen von den Entschei-
lich angemessene und politisch ausgewogene Ent- dungen der betroffenen Bevölkerung mit abhän-
scheidung zu treffen. Selbst wenn sich die Politiker gen.
durchringen, eine Entscheidung zugunsten einer der • Zum Zweiten kann Bürgerbeteiligung den jewei-
möglichen Optionen zu treffen, geraten sie ange- ligen Entscheidungsträgern wichtige Informatio-
sichts der Pluralität an Meinungen und Bewertun- nen über die Verteilung der Präferenzen und
gen unausweichlich in das Kreuzfeuer der Kritik. Werte der betroffenen Bevölkerungsteile vermit-
Unter Umständen müssen sie unter dem Druck der teln. Da Entscheidungen auf Folgewissen und Ur-
Öffentlichkeit auch getroffene Entscheidungen wie- teile über die Wünschbarkeit der zu erwartenden
der revidieren. In diesem Dilemma neigen viele Poli- Folgen beruhen, ist es für Entscheidungsträger
tiker dazu, so lange mit Entscheidungen zu warten, häufig unverzichtbar, die Wahrnehmung der
bis sie von äußeren Kräften zum Handeln gezwun- Wünschbarkeit der Folgen explizit zu erheben
gen werden (etwa durch nationale oder europäische und (mit) als Grundlage für die eigene Entschei-
Gesetzgebung), oder sie wälzen unpopuläre Ent- dung aufzugreifen. Es gibt viele Formen, Präfe-
scheidung auf andere Institutionen ab, wie etwa die renzen zu erkunden und in die Entscheidungs-
Wirtschaft, die Wissenschaft oder übergeordnete findung einzubinden. Das reicht von den eher
politische Entscheidungsinstanzen. Der schwarze passiven Instrumenten der Befragung und der
Peter wird dann von einem zum anderen gereicht. Fokusgruppen bis zu den eher gestaltenden For-
men von Konsensuskonferenzen, Bürgerforen,
Planungszellen und anderem mehr.
• Zum Dritten kann Beteiligung als Instrument zu
einem fairen Aushandeln von Ressourcen dienen.
402 VI. Technikethik in der Praxis

Die Literatur zu Spieltheorie, Mediation, Schlich- Legitimation (Webler 1995; Papadopoulos/Warin


tung und Aushandlungsprozessen gibt ein bered- 2007).
tes Zeugnis für diese konfliktvermittelnde Funk- Um diese Kriterien zu erfüllen, müssen in dem
tion von Bürgerbeteiligung. Dahinter steht die ausgewählten Partizipationsverfahren Grundwerte
Auffassung, dass diejenigen, die in Konkurrenz der Diskursführung eingehalten werden (Skorupins-
mit anderen Anspruch auf eine Ressource erhe- ki/Ott 2000). Aussagen in einem Diskurs können
ben, am besten in einem ›fairen‹ Verfahren (pro- vielfältige Formen annehmen. Sie können zum Bei-
cedural equity) eine eigene Lösung für eine faire spiel Behauptungen, Argumente, Gefühlsäußerun-
Verteilung finden sollen. Traditionelle Tarifrun- gen, Appelle, Versprechungen u. a. m. umfassen.
den zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer- Derartige Aussagen werden in einem Diskurs vorge-
vertreter sind ebenso Beispiele für diese Funktion stellt und begründet und stehen dann den anderen
wie Aushandlungsprozesse über Emissionszertifi- Diskursteilnehmern zur Kommentierung oder Kri-
kate oder Kompensationsverhandlungen für erlit- tik zur Verfügung. Im Rahmen dieses Austauschs
tene Umweltbelastungen. von Aussagen werden Geltungsansprüche angemel-
• Zum Vierten kann Bürgerbeteiligung als ein det. Diese Ansprüche besagen, dass die Aussagen
Wettstreit der Argumente angesehen werden, mit entweder hilfreich, wahr, wahrhaftig oder angemes-
dem Ziel, auf der Basis von Begründungen kollek- sen seien (Habermas 1981; 1998). Innerhalb des Dis-
tive Entscheidungen auf eine normativ abgesi- kurses muss dann die Gültigkeit dieser Ansprüche
cherte Grundlage zu stellen. Ziel eines solchen überprüft und eingelöst werden. Habermas unter-
Beteiligungsverfahrens ist die diskursive Austra- scheidet dabei vier Formen von Aussagen: kommu-
gung (s. Kap. IV.B.6) von begründeten Stand- nikative, kognitive, expressive und normative
punkten unter den Rahmenbedingungen einer Sprechakte. Diesen Aussagetypen sind vier Kriterien
strikt auf Logik und konsistenter Ableitung (Gel- zur Überprüfung der Geltungsansprüche gegen-
tungsanspruch und Geltungsnachweis) beruhen- übergestellt, mit deren Hilfe die Gültigkeit der jewei-
den Prüfung der jeweils vorgebrachten Argu- ligen Aussagen intersubjektiv bewertet werden kann
mente. Dabei geht es vor allem um die Frage der (Webler 1995). Aussagetypen und Kriterien sind
Zumutbarkeit von normativen Setzungen für alle Hilfsmittel, um legitime von illegitimen Aussagen
Betroffenen (über den Kreis derer hinaus, die an bzw. Einwänden zu trennen. Die vier Aussagetypen,
dem Diskurs teilnehmen). die Formen der Geltungsansprüche und die Krite-
• Zum Fünften kann Bürgerbeteiligung als ein Ele- rien zur Überprüfung dieser Ansprüche sind in der
ment der Gestaltung der eigenen Lebenswelt an- unten stehenden Tabelle zusammengefasst.
gesehen werden. In dieser Funktion wird den be- Diskurs und Konsensorientierung werden in der
troffenen Menschen die Möglichkeit gegeben, in Öffentlichkeit oft missverstanden. »Wieder eine
Form von Selbstverpflichtungen oder von Verant- neue Quasselbude«, meinen die einen, »ein weiterer
wortungszuschreibungen Veränderungen in ihrer Beleg für die Führungsschwäche der Politik«, mei-
eigenen Lebenswelt herbeizuführen. nen die anderen (Weinrich 1972). Beide Vorwürfe
sind zwar gemessen an der Praxis vieler Diskurse be-
rechtigt, verfehlen aber die innere Logik und die im-
Wie kann Partizipation bei Planung manente Leistungsfähigkeit diskursiver Konfliktaus-
und Konfliktlösung gelingen? tragung. Diskurs bedeutet nicht: Einigung auf den
kleinsten, meist trivialen Nenner. Es geht vielmehr
In dieser Situation sind innovative Verfahren der um eine Konfliktaustragung, bei der die Argumente
Entscheidungsfindung und Legitimation gefragt. in aller Klarheit und, wenn notwendig, auch in aller
Dabei sind beide Komponenten, die Einbindung von Schärfe ausgetauscht und die unterschiedlichen
betroffenen Personen in den Prozess der Entschei- Werte und Interessen dargelegt werden. Häufig en-
dungsfindung und die Legitimierung der Entschei- den diese Diskurse nicht mit einem Konsens, son-
dungen vor den Nicht-Beteiligten, untrennbar mit- dern mit einem Konsens über den Dissens. In die-
einander verbunden. Wie kann ein solch integrativer sem Fall wissen alle Teilnehmer, warum die eine
Ansatz konkret umgesetzt werden? Bei der Frage Seite für eine Maßnahme und die andere dagegen
nach den geeigneten Formaten und Verfahren lässt ist. Die jeweiligen Argumente sind dann aber im Ge-
man sich am besten durch vier Kriterien anleiten: spräch überprüft und auf Schwächen und Stärken
der Fairness, der Kompetenz, der Effizienz und der ausgelotet worden (Elster 1989). Die verbleibenden
5. Bürgerbeteiligung 403

Geltungs- Verständ- Normative


Evidenz Wahrhaftigkeit
kriterien lichkeit Angemessenheit

Aussage- Evaluativ/
Kommunikativ Kognitiv Expressiv
typus Normativ

Tatsachen- Versprechen, Werte, Ziele


Beispiel Definition
behauptung Gefühlsäußerung Interessen

Geltungs- Evaluativ: Gemeinwohl


anspruch Zweckmäßigkeit Wahrheit Aufrichtigkeit
auf: Normativ: Richtigkeit

Kriterien Erleichterung Für


Für Für
der Über- des systematisches
affektive Aussagen: evaluative Aussagen:
prüfung Verständnisses Wissen:
Kongruenz Methodologische Übersetzung in Kohärenz
zwischen Regeln kognitive oder (Widerspruchs-
Übersetzung normative Aussagen freiheit)
und Original Peer Review
Autorisierung der Verallgemeinerungs-
Autorisierung Übersetzung fähigkeit
durch Verfasser

Für anekdotisches Für Verhaltens- Für normative


Wissen: prognosen: Aussagen:

Singuläre Verhalten in der Universalisierungs-


Nachprüfbarkeit Vergangenheit gebot

Reputation Kompatibilität
mit Gesetzen

Abb. 1: Aussagetypen und Kriterien ihrer Geltung (aus: Renn 1999)

Unterschiede beruhen nicht mehr auf Scheinkon- ist eine möglichst wirklichkeitsgetreue Abbildung
flikten oder auf Fehlurteilen, sondern auf klar defi- und Erklärung eines Phänomens.
nierbaren Differenzen in der Bewertung von Ent- • Der Reflexionsdiskurs umfasst Kommunikations-
scheidungsfolgen (Schimank 1992). Alle Parteien prozesse, bei denen es um die Interpretation von
wissen, was sie sich mit ihren Präferenzen für die Sachverhalten, zur Klärung von Präferenzen und
eine oder andere Lösung an erwartbaren Konse- Werten sowie zur normativen Beurteilung von
quenzen einhandeln werden, mit allen Unsicherhei- Problemlagen und Vorschlägen geht. Reflexions-
ten, die damit verbunden sind. Das Ergebnis eines diskurse eignen sich vor allem als Stimmungsba-
Diskurses ist mehr Klarheit, nicht unbedingt Einig- rometer für Trends und neue Entwicklungen, als
keit. Hilfsmittel zur Entscheidungsvorbereitung und
Für die politische Praxis erscheint eine Klassifika- als Instrument zur vorbeugenden Konfliktver-
tion in drei Diskurskategorien hilfreich (Renn 1999): meidung.
• Der kognitive Diskurs umfasst Kommunikations- • Der Gestaltungsdiskurs umfasst Kommunikati-
prozesse, bei denen Experten für Wissen (nicht onsprozesse, die auf die Bewertung von Hand-
unbedingt Wissenschaftler) um die Klärung eines lungsoptionen und/oder die Lösung konkreter
Sachverhaltes ringen. Ziel eines solches Diskurses Probleme abzielen. Verfahren der Mediation oder
404 VI. Technikethik in der Praxis

direkten Bürgerbeteiligung sind ebenso in diese für repräsentative Gremien und/ oder für ihre Mit-
Kategorie einzuordnen wie Zukunftswerkstätten bürger und Mitbürgerinnen zu formulieren. Die
zur Gestaltung der eigenen Lebenswelt oder poli- moderne Gesellschaft braucht demnach keinen Er-
tische bzw. wirtschaftliche Beratungsgremien, die satz für ihre repräsentativen Gremien, sondern sie
konkrete Politikoptionen vorschlagen oder evalu- benötigt vielmehr eine Funktionsbereicherung
ieren sollen. durch diskursive Formen direkter Bürgerbeteili-
gung, die den repräsentativen Gremien wiederum in
Alle drei Diskursformen bilden das Gerüst für eine ihrem eigenen Streben nach Legitimation zugute-
demokratisch legitimierte und funktional erforderli- kommen (vgl. Abb. 2).
che Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Politik. Partizipative Verfahren der Beteiligung von Ex-
Die Ergebnisse der Diskurse haben dabei keine im- perten, Interessengruppen und betroffenen Bürge-
perative Gültigkeit; sie müssen in legitime Formen rinnen und Bürgern werden aber nur dann zu einer
der Beschlussfindung legitimierter politischer Ent- befriedigenden, d. h. sachlich kompetenten, fairen,
scheidungsträger eingebunden werden. Diskurse effizienten und legitimierten Lösung führen, wenn
können einer Fülle von Verfahren und Methoden alle Beteiligten gewillt sind, sich in einem diskursi-
mit je unterschiedlichen Zielen, Voraussetzungen, ven Prozess über die möglichen Lösungswege argu-
Stärken und Schwächen umgesetzt werden (Renn mentativ zu verständigen. Verständigungsorien-
1999). tierte, auf Argumentation aufbauende Dialogfüh-
rung ist dabei an die Bedingung geknüpft, dass die
am Diskurs beteiligten Personen und Gruppen
Zusammenfassung und Ausblick gleichberechtigt und ohne äußeren Zwang ihre Inte-
ressen und Werte offenlegen und durch Austausch
Moderne Gesellschaften brauchen mehr denn je von Argumenten eine gemeinsame Lösung anstre-
Verfahren partizipativer Entscheidungsfindung, in ben (Habermas 1998; Feindt 2011; s. Kap. IV.B.6).
denen betroffene Bürger und Bürgerinnen die Gele- Verständigungsorientierte Diskurse haben also das
genheit erhalten, in einem Klima gegenseitiger Ziel, in Abwägung der vorgetragenen Argumente
Gleichberechtigung, der Anerkennung von Sachwis- über die Zumutbarkeit von Risiken und die Reali-
sen und normativen Vorgaben sowie des Respekts sierbarkeit von Chancen eine für alle Beteiligten
vor der Legitimität unterschiedlicher Wertesysteme tragfähige Lösung zu entwickeln. Dabei geht es nicht
und Präferenzen Handlungsoptionen zu diskutie- um eine Einigung auf dem kleinstmöglichen Nen-
ren, die damit verbundenen Folgen und Implikatio- ner, sondern gerade im Gegenteil um harte Ausein-
nen zu bewerten und auf dieser Basis Empfehlungen andersetzungen, um Argumente und nachvollzieh-

Bürgerprojekte, Selbstverwaltung Gemeinsame


Entscheidungen,
Runde Tische, Mediation, Schlichtung Bürger sind
(Mit-)Entscheidungs-
Konsensuskonferenz, World Cafe, träger oder Träger der
Bürgergipfel, Zukunftswerkstatt, Delphi Projekte

Bürgerforen, Planungszellen, Präferenzen der Bürger,


Online-Partizipation
Zweiweg-Kommuni-
Bürgertelefon, Ombudsperson, Web 2.0 kation ist möglich,
Entscheidung bleibt
Anhörung, Planspiele, Interviews, bei den Behörden
Fokusgruppen, Umfragen

Flyer, Artikel, webbasierte Infos, Einweg-


Ausstellungen, Medienarbeit Kommunikation
Abb. 2: Formate
der Beteiligung
5. Bürgerbeteiligung 405

bare Begründungen sowie um intensive Suche nach munication, Cooperation, Participation) 1/1 (2007),
neuen, innovativen Lösungen. 51–71.
Papadopoulos, Yannis/Warin, Philippe: Are innovative,
Die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg
participatory and deliberative procedures in policy ma-
von Bürgerbeteiligung ist die Bereitschaft der Politi- king democratic and effective? In: European Journal of
ker und der Verwaltungsfachleute, die Formen der Political Research 46/4 (2007), 445–472.
Beteiligung nicht als lästige Pflichtübung sondern Renn, Ortwin: Diskursive Verfahren der Technikfolgenab-
als Hilfsstellung ihrer Arbeit und als Bereicherung schätzung. In: Thomas Petermann/Reinhard Coenen
der repräsentativen Demokratie anzusehen. In ei- (Hg.): Technikfolgenabschätzung in Deutschland. Bilanz
und Perspektiven. Frankfurt a. M. 1999, 115–130.
nem 2008 herausgegebenen Gutachten der US-ame- – : The challenge of integrating deliberation and expertise:
rikanischen Akademie der Wissenschaften zu Betei- Participation and discourse in risk management. In: Ti-
ligungsverfahren in Umwelt- und Gesundheitsfra- mothy McDaniels/Mitchell J. Small (Hg.): Risk Analysis
gen (National Research Council 2008) wurde auf der and Society: An Interdisciplinary Characterization of the
Basis von Metaanalysen der vorliegenden Evaluatio- Field. Cambridge 2004, 289–366.
– /Schweizer, Pia-Johanna: Inclusive risk governance: Con-
nen die zentrale Erkenntnis gewonnen, dass der Er- cepts and application to environmental policy making.
folg von Beteiligung am stärksten davon abhängt, In: Environmental Policy and Governance 19 (2009),
welche Erwartungen die Initiatoren damit verbin- 174–185.
den. Waren diese positiv und ergebnisoffen, kam es Schimank, Uwe: Spezifische Interessenkonsense trotz ge-
meist zu einem erfolgreichen Abschluss der Beteili- nerellem Orientierungsdissens. In: Hans-Joachim Gie-
gel (Hg.): Kommunikation und Konsens in modernen Ge-
gungsmaßnahmen. Waren die Initiatoren jedoch sellschaften. Frankfurt a. M. 1992, 236–275.
skeptisch oder sogar negativ eingestellt, wirkte sich Seiler, Hansjörg: Rechtliche und rechtsethische Aspekte der
dies direkt auf die Motivation und Kompromissbe- Risikobewertung. In: Sabyachi Chakraborty/George
reitschaft der mitwirkenden Personen auf. In zwei Yardigaroglu (Hg.): Ganzheitliche Risikobetrachtungen.
Drittel der untersuchten Fälle führte dies zu Ab- Köln 1991, 1–26.
Skorupinski, Barbara/Ott, Konrad: Technikfolgenabschät-
bruch oder einem wenig zufriedenstellenden Ergeb- zung und Ethik  – Eine Verhältnisbestimmung in
nis. Es ist also nicht sinnvoll, Beteiligung zu verord- Theorie und Praxis; Bericht über ein Forschungsprojekt.
nen, sondern es gilt vielmehr alle Beteiligte davon zu In: TA-Datenbank-Nachrichten 2 (2000), 88–94.
überzeugen, dass in einer komplexen und pluralen Stirling, Andy: »Opening up« and »Closing down«: Power,
Welt diese Form der Entscheidungshilfe die politisch participation, and pluralism in the social appraisal of
technology. In: Science, Technology and Human Values
verfasste Ordnung und Kultur beleben und berei-
33/2 (2008), 262–294.
chern kann. US-National Research Council of the National Academies:
Public Participation in Environmental Assessment and
Literatur Decision Making. Washington, D.C. 2008.
Webler, Thomas: »Right« discourse in citizen participation:
Elster, Jon: Solomonic Judgments: Studies in the Limitation An evaluative yardstick. In: Ortwin Renn/Thomas Web-
of Rationality. Cambridge 1989. ler/Peter Wiedemann (Hg.): Fairness and Competence in
Feindt, Peter H.: Regierung durch Diskussion? Diskurs- und Citizen Participation. Evaluating Models for Environmen-
Verhandlungsverfahren im Kontext von Demokratietheo- tal Discourse. Dordrecht/Boston/London 1995, 35–86.
rie und Steuerungsdiskussion. Frankfurt a. M. 2011. Weinrich, Harald: System, Diskurs, Didaktik und die Dik-
Gabriel, Oscar W./Völkl, Kerstin: Politische und soziale tatur des Sitzfleisches. In: Merkur 8 (1972), 801–812.
Partizipation. In: Oscar W. Gabriel/Everhard Holtmann
Ortwin Renn
(Hg.): Handbuch Politisches System der Bundesrepublik
Deutschland. München/Wien 2004, 523–573.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns.
2 Bde. Frankfurt a. M. 1981.
– : Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Han-
delns. In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie
des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 31998,
571–606.
Kuklinski, Oliver/Oppermann, Bettina: Partizipation und
räumliche Planung. In: Dietmar Scholich/Peter Müller
(Hg.): Planungen für den Raum zwischen Integration und
Fragmentierung. Frankfurt a. M. 2010, 165–171.
Newig, Jens: Does public participation in environmental
decisions lead to improved environmental quality? To-
wards an analytical framework. In: International Journal
of Sustainability Communication (Special Vol. on Com-
406 VI. Technikethik in der Praxis

6. VDI-Richtlinie Der lange Weg zur Richtlinie


zur Technikbewertung Technikbewertung
1971 tauchen dann erstmals – als Reaktion auf die
zeitgenössische Diskussion über Wertwandel, die
Technikphilosophie im Verein Wertgebundenheit technischer Entscheidungen
Deutscher Ingenieure und die Verantwortung des Ingenieurs – Pläne auf,
sich in den nächsten Jahren mit dem Themenkom-
Die Beschäftigung des 1856 gegründeten Vereins plex »Wertpräferenzen und technischer Fortschritt«
Deutscher Ingenieure (VDI) mit technikphilosophi- zu beschäftigen. Auf Sitzungen im kleinen Kreis
schen und technikethischen Fragen reicht bis ins wurden Vorträge diskutiert und zwei öffentliche
19. Jahrhundert zurück (Ludwig/König 1981; König Tagungen durchgeführt (Moser/Huning 1975,
1988). Getragen wurde sie von im VDI organisierten 1976). Im Anschluss an die Tagung 1975 »Wertprä-
Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, wie Max ferenzen in Technik und Gesellschaft« brachte Gün-
Eyth und Friedrich Dessauer. In der Nachkriegszeit ter Ropohl den Gedanken ins Gespräch, eine Richt-
veranlasste die Erfahrung des hoch technisierten linie zur Technikbewertung zu erarbeiten. Die
Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus die Überlegungen standen unter dem Einfluss der da-
Ingenieure, verstärkt Rechenschaft über ihr Tun und maligen politischen Diskussion um eine Institutio-
die politischen und gesellschaftlichen Kontexte tech- nalisierung der Technikbewertung bzw. Technikfol-
nischer Entwicklungen abzulegen. Hierfür suchte genabschätzung (s. Kap. VI.4). 1973 hatte sich der
man das Gespräch mit Vertretern anderer Fachrich- amerikanische Kongress ein »Office of Technology
tungen, insbesondere der Philosophie und Technik- Assessment« (OTA) angegliedert, und im gleichen
philosophie. Wichtige Anstöße gab der erste Kurator Jahr wurde erstmals ein Antrag im Deutschen Bun-
des VDI nach dem Krieg, der Karlsruher Ingenieur- destag gestellt, dort eine ähnliche Einrichtung zu
professor Rudolf Plank. Die technikphilosophischen schaffen.
Initiativen mündeten in eine Reihe von Tagungen 1975 schlug also eine kleine Gruppe von Technik-
und 1956 in eine Institutionalisierung des Themen- philosophen den zuständigen VDI-Gremien vor,
felds in Gestalt der VDI-Hauptgruppe »Mensch und »eine in Richtlinienform abgefaßte Wegweisung zur
Technik« sowie wenig später eines ihm zugeordne- Technikbewertung unter individual- und sozialethi-
ten Ausschusses »Philosophie und Technik«. schen Aspekten« zu erstellen. Der erste Abschnitt
In der ersten Phase seiner Arbeiten bemühte sich der geplanten Richtlinie sollte wichtige Begriffe der
der Philosophieausschuss vor allem darum, eine ge- Technikbewertung erläutern, der zweite Abschnitt
meinsame Gesprächsbasis zwischen Philosophen Aussagen über Absolutheit und Relativität ethischer
und Ingenieuren zu finden und fragte nach dem We- Weisungen enthalten, ein dritter Abschnitt einen
sen der Technik. In dieser Diskussion spielte Fried- Katalog von Zielvorstellungen für Ingenieure. Ein
rich Dessauer und seine Deutung der Technik als größeres Forschungsprojekt sollte empirische
»reales Sein aus Ideen«, die schon im göttlichen Grundlagen für den sehr breit angelegten zweiten
Weltschöpfungsplan angelegt seien, eine wichtige Teil bereitstellen. Es zielte ursprünglich auf die ge-
Rolle. Unter der Geschäftsführung von Klaus Tuchel schichtliche Bedingtheit von Wertsystemen, Unter-
wurde zwischen 1960 und 1968 verstärkt die gesell- schiede zwischen sachlogischen und sozialen De-
schaftliche Einbindung der Technik thematisiert. terminanten, Spielräume für Wertsetzungen, die Re-
Dabei ging es vor allem darum, wie es in einer lativität von Werten, anthropologische Aprioris,
Besprechungsniederschrift aus dem Jahr 1960 heißt, Moralsysteme in Ost und West sowie in Entwick-
»das Verhältnis der Technik zur Wirtschaft zu lungsländern. Schließlich wurde das Forschungspro-
klären, damit nicht viele Vorwürfe an die Technik jekt in Form von drei Teilen konkretisiert:
gerichtet werden, die eigentlich der Wirtschaft gel- (1) Analyse technischer Normen und Richtlinien
ten«. Neben diesen neuen Fragestellungen wurden hinsichtlich der Berücksichtigung außertechni-
ältere wie die Begriffsgeschichte der Technik und scher Ziele und Werte,
Probleme einer philosophischen Anthropologie der (2) die Bewertung der Technik in Geschichte und
Technik weiter verfolgt. Seit 1968 kam verstärkt Gesellschaft und
die  Diskussion wissenschaftstheoretischer Themen (3) der Einfluss der Technik auf gesellschaftliche
hinzu. Wertsysteme.
6. VDI-Richtlinie zur Technikbewertung 407

Der erste Teil wurde, finanziert durch die Volkswa- tete der Richtlinienausschuss neben der Arbeit an
genstiftung, durchgeführt (Ropohl/Schuchardt/Lau- den Entwürfen auch Vortrags- und Diskussionssit-
ruschkat 1984); die anderen Teile wurden später auf- zungen im eigenen Kreis und mit eingeladenen Re-
gegeben, nachdem der diesbezügliche Förderungs- ferenten, führte Symposien, Workshops und Tagun-
antrag abgelehnt worden war. gen durch, publizierte einen Teil der Ergebnisse
Der Berufspolitische Beirat des VDI stimmte dem (Ropohl 1979; Rapp 1982; Rapp/Mai 1989) und be-
Beginn der Arbeiten zu. Besonders die vorgesehe- gleitete das von der Volkswagenstiftung finanzierte
nen Begriffsklärungen betrachtete er als sehr wert- Forschungsprojekt. Es ist nicht zu übersehen, dass
voll. Die geplante Richtlinienform war jedoch um- der VDI und sein Richtlinienausschuss in der Tech-
stritten und blieb es fast bis zum Abschluss der Ar- nikbewertung teilweise unterschiedliche Interessen
beiten ein gutes Jahrzehnt später. An dieser Stelle verfolgten. Der VDI wollte sich in die politische und
einige Informationen zum Charakter von VDI- gesellschaftliche Diskussion über Technikfolgenab-
Richtlinien: Sie gehören zu den »Regeln der Tech- schätzung einbringen. Dem Richtlinienausschuss
nik«, die in zahlreichen Vereinen und Verbänden ging es um eine breite Diskussion über Technikethik,
von ehrenamtlichen Mitarbeitern erstellt werden. die gewissermaßen in der Richtlinie kulminierte.
Grundsätzlich besitzen technische Regeln empfeh- Über die Zeit veränderte sich die Mitgliedschaft des
lenden Charakter. Eine größere Verbindlichkeit kön- Richtlinienausschusses (Verein Deutscher Ingenieu-
nen sie erlangen, indem Gesetze oder Verordnungen re, VDI Hauptgruppe 1991, 94 f.). Der aktive Kern
auf sie verweisen. Außerdem kann die Rechtspre- bestand vor allem aus den Technikphilosophen
chung auf sie zurückgreifen. Die bekanntesten tech- Günter Ropohl, Friedrich Rapp, Alois Huning, Hans
nischen Regeln in Deutschland stellen die DIN-Nor- Heinz Holz, Ernst Oldemeyer und Hans Sachsse.
men dar. DIN-Normen erheben den Anspruch, den Einfluss besaßen darüber hinaus die betreuenden
jeweiligen Stand der Technik wiederzugeben. VDI- Wissenschaftlichen Referenten des VDI  – in der
Richtlinien haben demgegenüber mehr die Zukunft zeitlichen Reihenfolge – Bernhard Mack, Wolfgang
im Blick. Sie können zukunftsweisende Empfehlun- König, Manfred Mai und Volker M. Brennecke.
gen geben und Themen behandeln, deren Entwick- Die einzelnen Mitglieder vertraten teilweise ex-
lung sich noch im Fluss befindet. Man kann sie als trem unterschiedliche technikphilosophische und
richtungsweisende, aber unverbindliche Arbeitsun- gesellschaftspolitische Positionen. Sie nutzten die
terlagen und Entscheidungshilfen interpretieren. Richtlinienarbeit denn auch, um ihre jeweiligen
Mit der Richtlinie entschieden sich die Philoso- technikphilosophischen Auffassungen darzulegen
phen im VDI für ein Arbeits- und Publikationsme- und zur Diskussion zu stellen. In zeitaufwändigen
dium, das in der Technik und in der Wirtschaft eta- Diskussionsprozessen wurden Kompromisse zwi-
bliert war und damit einen Zugang zu dieser Ziel- schen den disparaten theoretischen Ansätzen gefun-
gruppe garantierte. Eine zusätzliche Attraktion den. Dabei entspann sich die diskursive Auseinan-
bildete das für Richtlinien vorgeschriebene Dis- dersetzung häufig um einzelne Begriffe, die Statthal-
kussions- und Verabschiedungsverfahren. Nach der terfunktion für theoretische Positionen erfüllten.
Publikation eines ›Gründrucks‹ erhalten alle Interes- Die Substanz und Differenziertheit theoretischer
sierten Gelegenheit zu Einsprüchen und Stellung- Ansätze musste auf diese Weise natürlich verloren-
nahmen. Auf die Einsprüche muss konkret einge- gehen. Der philosophische Diskurs verkoppelte sich
gangen werden. Die überarbeitete Fassung wird gewissermaßen mit dem politischen Geschäft des
dann auf einer Sitzung, zu der alle Einsprecher gela- Suchens nach Kompromissen. Darüber hinaus be-
den werden, zur Diskussion gestellt. Schließlich wird stand ständig die Gefahr, dass die Funktion einer
ein ›Weißdruck‹ publiziert, der eine Reihe von Jah- solchen Richtlinie und die angepeilten Zielgruppen
ren Gültigkeit besitzt und dann erneuert werden aus dem Blick gerieten. Und schließlich war die
kann. Über dieses vorgeschriebene Verfahren hinaus Funktion der Richtlinie zwischen den Polen ›Dis-
veröffentlichte der VDI-Ausschuss Technikbewer- kussionsbeitrag zur Technikbewertung‹ und ›kon-
tung mehrmals Zwischenergebnisse seiner Arbeit krete Arbeitshilfe für Industriebetriebe‹ lange Zeit
und schuf damit eine breitere Öffentlichkeit. umstritten.
Die Richtlinie entstand zwischen 1976 und 1990 Als die Arbeiten bereits weit fortgeschritten wa-
in insgesamt 54 Arbeitssitzungen. Dies kann – bezo- ren, erhielten sie aus dem VDI noch einmal be-
gen auf einen Text von wenigen Dutzend Seiten – als trächtlichen Gegenwind. Stark generalisierend las-
gänzlich ineffizient erscheinen. Allerdings veranstal- sen sich die Aktivitäten des VDI in zwei Bereiche
408 VI. Technikethik in der Praxis

einteilen: einen mehr technisch-ingenieurwissen- Die  vorgeschriebene Einspruchssitzung fand am


schaftlichen der VDI-Fachgliederungen und einen 29. März 1990 statt. Bereits im Vorfeld lagen Schrei-
mehr technik- und gesellschaftspolitischen der VDI- ben unter anderem von einem Vertreter des Bundes-
Hauptgruppe »Der Ingenieur in Beruf und Gesell- ministeriums für Forschung und Technologie sowie
schaft«. 1986 wandte sich der den Fachgliederungen eines leitenden Mitarbeiters von BMW vor, welche
angehörende VDI-Gemeinschaftsausschuss »Indus- die Änderungen begrüßten und sich mit dem neuen
trielle Systemtechnik« gegen die vorgesehene Richt- Text einverstanden erklärten. Die positive Auf-
linienform. Das vordergründige Argument lautete, nahme setzte sich auf der Sitzung fort; einzig ein
dass die Formulierungen des Technikbewertungs- Mitarbeiter von Bayer machte noch grundsätzliche
ausschusses für eine Richtlinie zu allgemein seien. Einwendungen geltend. Das Ergebnis der Sitzung
Hinter der Intervention des VDI-Gemeinschaftsaus- bestand darin, dass der vorgelegte ›Weißdruck‹ in
schusses stand die Absicht, selbst in die Technikbe- Kraft gesetzt wurde.
wertung einzusteigen. Dabei wollte man vor allem
die Methode der Wertanalyse einsetzen, ein in der
Wirtschaft vielfach erprobtes Bewertungsverfahren, Aufbau und Inhalt der Richtlinie
das aber einen viel engeren, einzelwirtschaftlichen
Bewertungshorizont besitzt als die Technikbewer- Die gegen Ende des Prozesses eingefügte »Vorbe-
tung. Manche Kritiker der Richtlinie Technikbewer- merkung« macht klar, dass die Richtlinie keine
tung fürchteten, dass diese einmal Grundlage politi- Handlungsanleitung und schon gar kein Rezeptbuch
schen Handelns oder gerichtlicher Entscheidungen darstellt, sondern ein Diskussionsangebot, mit dem
werden könnte, die sich gegen die Interessen der In- Ziel, das »Problembewusstsein für die Gestaltbarkeit
dustrie richteten. der Technik (zu) fördern« (VDI-Richtlinie 3780,
Der Widerstand gegen die Richtlinie Technikbe- 2000; Verein Deutscher Ingenieure, VDI-Haupt-
wertung hielt bis zum Abschluss der Arbeiten im gruppe 1991). Die Zielgruppe wird extrem breit be-
Jahr 1990 an, konnte sich aber im VDI nicht durch- nannt als »alle Verantwortlichen und Betroffenen in
setzen. Einen Ausdruck fand er in einer Reihe von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik«. Technikbe-
Einsprüchen nach der Publikation des Gründrucks wertungen – so die Richtlinie – sollen die Technik-
im April 1989. Die Einsprüche stammten erneut entwicklung kontinuierlich begleiten. »Das Neuar-
vom VDI-Gemeinschaftsausschuss »Industrielle tige der Technikbewertung im Sinne dieser Richtli-
Systemtechnik«, außerdem von leitenden Mitarbei- nie ist die Breite des Bewertungshorizontes und die
tern von Großfirmen wie Daimler-Benz, BMW, gesellschaftliche Organisation der Bewertungspro-
Bayer, Blohm + Voss und Telefunken, die teilweise zesse.« In diesem Zusammenhang ist auch von ei-
dem Gemeinschaftsausschuss angehörten oder ihm nem »Netzwerk gesellschaftlicher Einrichtungen«
nahestanden. Hinzu kamen Voten einzelner Vertre- die Rede, was eine Stoßrichtung gegen eine rein poli-
ter der Scientific Community der Technikfolgenab- tisch-etatistische Institutionalisierung der Technik-
schätzung. Einige Industrieeinsprüche bemängelten bewertung beinhaltet. In der Technikbewertung
die fehlende Konkretion und stellten erneut den setze man zwar wissenschaftliche Methoden ein,
Richtliniencharakter in Frage. Nach ihrem Dafür- aber »Zielsysteme und Entscheidungen […] können
halten war der Grundtenor des Entwurfs industrie- nur nach politisch-demokratischen Regeln in einem
kritisch, während andere Einsprecher eine zu große gesellschaftlichen Aushandlungsprozess zustande
Technikfreundlichkeit erkennen wollten. Unabhän- kommen«.
gig von diesen grundsätzlichen Bewertungsfragen Der Teil 1 »Begriffsbestimmungen« beginnt mit
enthielten die Einsprüche zahlreiche konstruktive der normativen Aussage, dass man die Technik nicht
und bedenkenswerte Vorschläge für eine Überarbei- als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Erreichung
tung. bestimmter Ziele betrachten dürfe. Nicht eingegan-
Wie es das Richtlinienverfahren vorschreibt, wur- gen wird auf Technik als zweckfreies Tun, als Spiel.
den die Einsprüche von dem Technikbewertungs- Im Folgenden werden Begriffe wie Ziel, Zielsystem,
ausschuss auf zwei Sitzungen ausführlich diskutiert Oberziel, Unterziel, Indifferenz-, Konkurrenzbezie-
und im Einzelnen beantwortet. Die Richtlinie erhielt hung, Mittel, Präferenz, Kriterium, Werte, Wertsys-
eine grundlegende Überarbeitung in zahlreichen tem, Bedürfnisse, Interessen und Normen erläutert.
Details. In einer »Vorbemerkung« wurden die In- In diesem Zusammenhang wird verdeutlicht, dass
tentionen der Richtlinie expliziert und präzisiert. zwischen Mittel und Ziel keine grundsätzliche, son-
6. VDI-Richtlinie zur Technikbewertung 409

dern nur eine relationale Unterscheidung je nach ih- niken gewichtet und ausdifferenziert werden muss.
rer Stellung in Ziel-Mittel-Ketten besteht. Damit Als Anregung hierfür werden etwa fünfzig im Text
wird sowohl einer Interpretation der Technik als angesprochene Werte aufgelistet.
wertfreies Mittel widersprochen als auch dem Tech- In Teil 4 »Methoden der Technikbewertung« wer-
nokratievorwurf, dass die Mittel die Ziele bestim- den zwar beispielhaft wichtige Methoden skizziert,
men. Mit dem Hinweis auf unerwünschte Folgen der Schwerpunkt liegt aber auf allgemeinen metho-
technischen Handelns (s. Kap. II.5), an die bei der dischen Überlegungen. Dabei geht die Richtlinie auf
Auswahl von Mitteln zu denken ist, wird ein zentra- wichtige Typen der Technikbewertung ein, die pro-
les Anliegen der Technikbewertung benannt. Werte blem- und die technikinduzierte sowie die reaktive
bilden in diesem Teil die zentrale analytische Kate- und die innovative Technikbewertung. In den ein-
gorie. Sie stellten keine idealen Entitäten dar, son- zelnen Phasen der Technikbewertung, untergliedert
dern gingen aus Bewertungsakten hervor und wie- in Definition und Strukturierung des Problems, Fol-
sen allenfalls eine soziale Existenz auf. Darüber genabschätzung, Bewertung und Entscheidung, tre-
hinaus werden mit den Begriffen ›Bedürfnisse‹, ›In- ten unterschiedliche methodische Probleme auf. Ab-
teressen‹ und ›Normen‹ Entstehungs- und Wir- schließend werden Forderungen formuliert, denen
kungszusammenhänge von Werten angesprochen. Technikbewertungen entsprechen sollten, wie Inter-
Dabei war die Aufnahme und Explikation des Be- disziplinarität, Transparenz, Unterscheidung von
griffes ›Bedürfnisse‹ besonders umstritten, da diese deskriptiven und normativen Aussagen, Formulie-
in marxistischer Betrachtungsweise als materieller rung von Entscheidungsalternativen usw.
Grund von Werten interpretiert werden können. Im Teil 5 »Institutionen der Technikbewertung«
In Teil 2 »Die Bedeutung von Wertsystemen für verwendet die Richtlinie einen weiten Institutionen-
die Technik« wird auf die Entstehung von Technik begriff, der die gesamte Gesellschaft erfasst  – also
und von Wertsystemen sowie auf deren Zusammen- nicht nur die Politik oder den Staat. Damit spricht
hänge eingegangen. Technisches Handeln unterliege sie sich gegen zentrale und für pluralistische Organi-
immer natürlichen und gesellschaftlich-kulturellen sationsformen der Technikbewertung aus. Im Ein-
Bedingungen und lege damit Entscheidungs- und zelnen thematisiert sie Institutionalisierungsmög-
Handlungsspielräume fest. Dabei bestünden keine lichkeiten im staatlichen, öffentlichen, technischen,
unabdingbaren ›Sachzwänge‹. Allerdings beeinfluss- wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich. Sie
ten realisierte Sachen als Elemente gesellschaftlich- geht zwar von Institutionalisierungsdefiziten aus,
kultureller Bedingungen technisches Handeln. Im gibt aber für deren Behebung keine Empfehlungen.
weiteren Text wird ausgeführt, aufgrund welcher
Einflussfaktoren sich technisches Handeln vollzieht.
Es wird auf den Stellenwert der Werte, die Ge- Rezeption
schichtlichkeit von Wertsystemen sowie der Technik
und auf das Phänomen des Wertwandels eingegan- Die »Richtlinie Technikbewertung« wird zu den »am
gen. weitesten verbreiteten Dokumenten der Technikfol-
Der Teil 3 »Werte im technischen Handeln« führt genabschätzung« gezählt (Grunwald 2010, Kap. 4.5).
aus, welche Werte im technischen Handeln eine be- Tatsächlich ergab eine Mitte Februar 2012 durchge-
sondere Rolle spielten und bei der Technikbewer- führte Suche mit Google etwa 37.000 Treffer. Zum
tung auf jeden Fall zu reflektieren seien (s. Kap. Vergleich: Das »Büro für Technikfolgen-Abschätzung
IV.A.11). Die Grundstruktur bildet das später soge- beim Deutschen Bundestag« erzielte etwa doppelt so
nannte ›Werte-Oktogon‹ der Richtlinie, bestehend viele. Eine kursorische Durchsicht der Treffer zeigt,
aus Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohl- dass ein Schwerpunkt der Verwendung der Richtli-
stand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Per- nie in der akademischen Lehre liegt. Offensichtlich
sönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität. besteht ein Bedürfnis nach übersichtlichen systema-
Unter didaktischen Gesichtspunkten wird von eher tischen Aussagen über Technikbewertung, das die
innertechnischen zu eher außertechnischen Werten Richtlinie besser erfüllt als andere Publikationen.
fortgeschritten. Das gegebene Werteschema, das be- Darüber hinaus haben Formulierungen der
stehende Instrumental- und Konkurrenzbeziehun- Richtlinie Eingang in Konversations- und Fachle-
gen zwischen den Werten beispielhaft anreißt, be- xika sowie in Lehr- und Schulbücher gefunden
zieht sich auf die Technik in ihrer Gesamtheit. Es ist (Rapp 1999). Das 1994/95 durchgeführte »Funkkol-
ohne Weiteres einsichtig, dass es für konkrete Tech- leg Technik« mit mehr als 10.000 eingeschriebenen
410 VI. Technikethik in der Praxis

Teilnehmern und weit mehr gelegentlichen Hörern 7. Ethikkodizes


basierte in wesentlichen Teilen auf der Richtlinie
(Hubig et al. 1994/95). Weitere vom VDI herausge-
gebene Richtlinien bauten auf der »Richtlinie Tech- Ethik- oder Verhaltenskodizes sind ganz allgemein
nikbewertung« auf. Und schließlich bezogen sich mehr oder weniger systematische Sammlungen von
eine Reihe konkreter Technikfolgenabschätzungen Regeln und Normen, die für eine Berufsgruppe oder
auf sie. Trotz solcher Anwendungen gewinnt man eine Organisation gelten. In ihnen wird v. a. fest-
den Eindruck, dass der Einfluss der Richtlinie auf gelegt, wie sich die jeweiligen Mitglieder verhalten
die praktische Technikbewertung geringer war als sollen. Unterscheiden lassen sich in den Kodizes
auf die allgemeine Technikbewertungsdiskussion. allgemeine universalmoralische und spezifische, mit
Damit dürfte sie jedenfalls dem eigenen Anspruch, einem Beruf verbundene, Normen und Regeln (Be-
das Problembewusstsein zu fördern, gerecht gewor- rufsethos bzw. Ethos). Da es eine Vielzahl unter-
den sein. schiedliche Kriterien zur Abgrenzung des Ethischen
bzw. der moralischen von der Rollenverantwortung
Literatur z. B. gibt, sind die Unterscheidungen hinsichtlich der
Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung. Eine Einfüh-
Normen und Regeln relativ zu den Kriterien und in
rung. Berlin ²2010. jedem Fall idealtypische. So schreibt Dagmar Fenner
Hubig, Christoph et al. (Hg.): Funkkolleg Technik  – ein- (2010, 181) im Hinblick auf Wissenschaftler, dass
schätzen, beurteilen, bewerten. 6 Studienbriefe. Tübingen deren »standesethische[…] Regeln […] eine ›uni-
1994–95. versalmoralische‹ Dimension« haben, da »sie die In-
König, Wolfgang: Zu den theoretischen Grundlagen der
teressen der anderen Wissenschaftler […] schüt-
Technikbewertungsarbeiten im Verein Deutscher Inge-
nieure. In: Walter Bungard/Hans Lenk (Hg.): Technikbe- zen«. Bereichsspezifische Werte wie »Wahrhaftig-
wertung. Philosophische und psychologische Perspektiven. keit« und »Fairness«, die ja auch in den Ethikkodizes
Frankfurt a. M. 1988, 118–153. der Ingenieure eine Rolle spielen, seien universal-
Ludwig, Karl-Heinz/König, Wolfgang (Hg.): Technik, Inge- moralische »Normen« (ebd.). In vielen Ethikkodizes
nieure und Gesellschaft. Geschichte des Vereins Deutscher spielte anfänglich die Ethik überhaupt keine Rolle.
Ingenieure 1856–1981. Düsseldorf 1981.
Moser, Simon/Huning, Alois (Hg.): Werte und Wertord- Berufsständisches bzw. professionelles Handeln
nungen in Technik und Gesellschaft. Düsseldorf 1975. stand im Mittelpunkt der Kodizes. Ethikkodizes gibt
Moser, Simon/Huning, Alois (Hg.): Wertpräferenzen in es nicht nur für Ingenieure, sondern auch für viele
Technik und Gesellschaft. Düsseldorf 1976. andere Berufsgruppen und Bereiche. Die Bezeich-
Privatarchiv Günter Ropohl, Ordner »VDI 3780, Aus- nungen sind oft unterschiedlich; im Englischen ge-
schuss«.
Rapp, Friedrich (Hg.): Ideal und Wirklichkeit der Technik- bräuchlich für Ingenieure sind z. B.: Code of Ethics,
steuerung. Düsseldorf 1982. Canons of Ethics, Code of (Professional) Conduct,
– (Hg.): Normative Technikbewertung. Wertprobleme der Code of Practice.
Technik und die Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie Ethikkodizes lassen sich auch als eine Form der
3780. Berlin 1999. Konkretisierung bzw. Institutionalisierung von Ethik
– /Mai, Manfred (Hg.): Institutionen der Technikbewertung.
Standpunkte aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. bzw. Bereichsethiken auffassen. Institutionalisierung
Düsseldorf 1989. bedeutet ganz allgemein die sozial normierte und ge-
Ropohl, Günter (Hg.): Maßstäbe der Technikbewertung. gebenenfalls kontrollierte Umsetzung in eine Hand-
Düsseldorf 1979. lungspraxis. Maßnahmen und Formen der Institutio-
– : Ethik und Technikbewertung. Frankfurt a. M. 1996. nalisierung der Ethik und der Berufsethik sind u. a.
– /Schuchardt, Wilgart/Lauruschkat, Helmut: Technische
Regeln und Lebensqualität. Analyse technischer Normen
die Einrichtung und Etablierung formaler Organisa-
und Richtlinien. Düsseldorf 1984. tionen bzw. organisatorischer Einheiten einerseits
VDI-Richtlinie 3780. Technikbewertung. Begriffe und und Verhaltens-, Berufs-, Ethikkodizes  – mit dem
Grundlagen [1991]. Düsseldorf 2000. Vorbild des hippokratischen Eides –, Unternehmens-
Verein Deutscher Ingenieure, VDI-Hauptgruppe: Technik- und Branchenkodizes, Kodizes internationaler Orga-
bewertung – Begriffe und Grundlagen. Erläuterungen und
Hinweise zur VDI-Richtlinie 3780 (VDI-Report 15).
nisationen (z. B. der Vereinten Nationen), Ethikleit-
Düsseldorf 1991. bilder, Umwelt- und Sozialbilanzen andererseits.
Wolfgang König Ethikbeauftragte, Ethikkommissionen, Ethiknetz-
werke und Ethikzentren sind Ersteren zuzuordnen.
Die Ethik- und Berufskodizes der Ingenieure
unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich des
7. Ethikkodizes 411

Adressatenkreises und bestimmter Aufgaben, Pflich- dizes in der Regel die Gründung einer Ingenieurge-
ten und Verantwortlichkeiten von Unternehmens- sellschaft voraus – so z. B. die britische Institution of
kodizes und Kodizes ökonomischer Berufe, von den Civil Engineers 1818, die amerikanischen Bauinge-
Unternehmensleitlinien, Geschäfts-, Führungs- nieure 1852, die amerikanischen Bergbauingenieure
grundsätze usw. 1871 und die Elektroingenieure 1884. Erstere verab-
Die Unternehmenskodizes, die ja auch für die in schiedete 1828 eine Satzung (Royal Charter) mit
den Unternehmen arbeitenden Ingenieure Geltung dem Ziel »foster and promote the art and science of
haben, bestimmen v. a. Ziele und Aufgaben für das civil engineering«. Die britischen Elektroingenieure
Unternehmen und dessen Mitarbeiter  – insbeson- folgten 1871 mit einem Ethikkodex, die britische
dere für Führungskräfte – sowohl im Innen- als auch Vereinigung der Bauingenieure  – Structural Engi-
im Außenverhältnis des Unternehmens. Vielfach neers (gegründet 1908, »incorporated« 1909, Royal
wird in den Unternehmenskodizes eigens das Ver- Charter 1934) – und die der Bergbauingenieure. Die
hältnis von Ertrag bzw. Gewinn und anderen Unter- amerikanischen Chemieingenieure haben seit 1912
nehmenszielen thematisiert; wobei ein angemesse- einen Kodex und die Maschinenbauingenieure seit
ner Ertrag oft als notwendige Bedingung für das 1914. Die Entwicklung der Kodizes ist weitgehend
›Überleben‹ des Unternehmens angesehen wird; von den amerikanischen und britischen Ingenieur-
dem Gewinn wird aber häufig keine Priorität gegen- gesellschaften ausgegangen (Beispiele und Übersich-
über Sicherheit, Umwelt usw. eingeräumt. ten zu solchen Ethikkodizes finden sich bei Gorlin
1999; Harris 1996; Hubig/Reidel 2003, 231 ff.; IIP;
Lenk/Maring 1991, 346 ff.; Lenk/Ropohl 1993,
Zur Geschichte der Ethikkodizes 313 ff.).
Die heutigen US-amerikanischen Kodizes für In-
Carl Mitcham (2009) unterscheidet vier Phasen in genieure ähneln sich alle stark (so schon Ropohl
der Entwicklung der US-amerikanischen Ethikkodi- 1996, 63). Wesentliche Änderungen, die beispielhaft
zes anhand folgender inhaltlicher Schwerpunkte: am Kodex der National Society of Professional Engi-
(1) »Implizite Ethik« bzw. »Ethos« mit »einer Ver- neers (vgl. NSPE) aufgeführt werden, betrafen die
pflichtung zu professioneller Solidarität und ei- Streichung der Passage »Engineers shall not actively
ner Verantwortung« für Auftraggeber (»Klien- participate in strikes, picket lines, or other collective
ten« oder »Arbeitgeber«)  – kurz auch »Loyali- coercive action« (im Jahr 2001) und die Hinzufü-
tät« ohne explizit formulierte Ethikkodizes (ca. gung des Satzes »Engineers shall strive to adhere to
1700–1900). the principles of sustainable development in order to
(2) »Ethik als Loyalität« mit expliziten Ethikkodizes protect the environment for future generation« (im
»als Mittel zur Förderung professioneller Ent- Jahr 2006).
wicklung« und des beruflichen »Ansehens« (ca. Schwierig im Hinblick auf die Übertragbarkeit
1900–1945). der US-amerikanischen und britischen Ethikkodizes
(3) »Ethik der Effizienz« bzw. des Strebens nach für Deutschland war und ist es, dass sich diese stark
»technischer Perfektion« leicht »abgekoppelt am Leitbild des Ingenieurs als eines Selbständigen
vom allgemeinen menschlichen Wohlergehen« oder leitenden Angestellten orientieren. Die aller-
(ebenfalls ca. 1900–1945) und nach dem Zwei- meisten Ingenieure in Deutschland  – ca. 80 Pro-
ten Weltkrieg. zent – sind aber abhängig Beschäftigte und gehören
(4) Ethik der »öffentlichen Sicherheit, Gesundheit somit diesen Gruppen nicht an.
und Wohlfahrt« als »neues Prinzip«. Neuere, Was in den USA z. B. weitgehend durch Berufsko-
heutige Tendenzen in der Engineering Ethics dizes geregelt ist, ist in der Bundesrepublik vielfach
führten – so Mitcham (ebd., 46 f.) – zur Berück- gesetzlich verankert. Neben den Berufsverbänden
sichtigung institutioneller Aspekte und einer (VDI, VDE usw.) gibt es in der Bundesrepublik in al-
»Makro-Ethik« neben den bislang dominieren- len Bundesländern Ingenieurkammern (Länderkam-
den individuenbezogenen Aspekten (vgl. hierzu mern) und eine Bundesingenieurkammer, die alle
auch z. B. Lenk 2009, 28 ff.; Ropohl 1996, 109 ff.). über Berufsordnungen verfügen, in der Freiberufler
Pflichtmitglieder und nicht selbstständig Beschäf-
Beispielhaft für die Geschichte der Ethikkodizes der tigte freiwillige Mitglieder sind.  – Die Ingenieur-
Ingenieure werden im Folgenden einige genannt. kammer in Baden-Württemberg beispielsweise
Zunächst ging den schriftlich formulierten Ethikko- wurde Anfang 1990 gegründet; sie ist eine Körper-
412 VI. Technikethik in der Praxis

schaft öffentlichen Rechts und erfüllt ihre Aufgaben technische Allgemeinbildung erhöht und die Wei-
in Selbstverwaltung. – Die Berufsordnungen der In- terbildung der Techniker nach dem Abschluss des
genieure in Deutschland ähneln sehr stark den an- Studiums gefördert werden« (§ 2.1). Des Weiteren ist
gelsächsischen Berufskodizes für Ingenieure. In den der Verein »bestrebt, das Ansehen des Ingenieur-
Standesregeln der Kammern werden weitgehend die und Architektenstandes in beruflicher, wissenschaft-
Rechte und Pflichten im Beruf, das richtige berufli- licher und ethischer Hinsicht zu heben« (§ 2.4).
che Verhalten behandelt und geregelt. Lediglich all- Auch zahlreiche technische und wissenschaftli-
gemein und pauschal wird auch in ihnen Bezug auf che Gesellschaften haben weltweit und ebenfalls in
den »Schutz der Allgemeinheit und der Umwelt« ge- Deutschland Ethik- und Verhaltenskodizes. So z. B.
nommen. Große Ähnlichkeiten mit den Ingenieur- die World Federation of Engineering Organizations,
kammern haben allerdings die Ingenieurgesellschaf- die European Federation of National Engineering
ten, die incorporated bzw. chartered sind, denn dies Associations, die Gesellschaft für Informatik in
macht sie zu Körperschaften mit regulatorischen Deutschland, die Deutsche Physikalische Gesell-
Aufgaben. So ist etwa das britische Engineering schaft, die Gesellschaft Deutscher Chemiker, die
Council durchaus mit den deutschen Ingenieurkam- Deutsche Gesellschaft für Soziologie. In der EU gibt
mern vergleichbar bzw. hat strukturelle Ähnlichkei- es einen »Verhaltenskodex für verantwortungsvolle
ten: Es ist nämlich »regulatory body for the enginee- Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und
ring profession«. Dies gilt auch für Chartered Engi- -technologien« der EU-Kommission, daneben auch
neers in vielen US-Bundesstaaten. »Empfehlungen« der deutschen NanoKommission
Beispiele für Ethikkodizes im weiteren Sinne sind und zahlreicher Unternehmen zu diesen Themen
in Deutschland das »Bekenntnis des Ingenieurs« des (z. B. BASF).
Vereins Deutscher Ingenieure (VDI, 1950), »Zu- Es gibt aber auch Kodizes bzw. Leitlinien aus-
künftige Aufgaben« des VDI (1980) und die VDI- drücklich technik- und wissenschaftskritischer Ge-
Richtlinie 3780 »Technikbewertung: Begriffe und sellschaften wie der Gesellschaft für Verantwortung
Grundlagen« (1991, vgl. in Lenk/Ropohl 1993, 314 ff.; in der Wissenschaft, des International Network of
s. Kap. VI.6). Im Jahr 2002 wurden dann die »Ethi- Engineers and Scientists, des Vereins Unterstützung
sche[n] Grundsätze des Ingenieurberufs« vom Prä- internationaler Kommunikation kritischer Wissen-
sidium des VDI angenommen und veröffentlicht. schaftlerInnen und IngenieurInnen (KriWi), der
Die Schweizerische Akademie der Technischen Scientists for Global Responsibility. Die Zielsetzung
Wissenschaften hat 2003 eine Kodex-Neufassung dieser Vereinigungen bzw. der Inhalt der Kodizes ist
mit u. a. folgenden Regeln veröffentlicht: meist politisch und nicht eng berufsspezifisch ausge-
richtet. So sind die Ziele von KriWi: »Frieden, zivile
»Der Ingenieur/technische Wissenschafter, die Inge-
nieurin/technische Wissenschafterin Konfliktbewältigung, vollständige Abrüstung und
1. trägt persönliche, ethische Verantwortung für sein/ eine Welt ohne ABC-Waffen. Ein nachhaltiger und
ihr Handeln verantwortungsbewusster Umgang mit der Natur.
2. handelt in ausgewogener Berücksichtigung seiner/ Eine gerechte und zukunftsfähige Entwicklung.«
ihrer gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftli-
chen Verantwortung […]
7. sorgt für die erforderliche technische Kompetenz
durch stete Weiterbildung Inhalt und Funktion von Ethikkodizes
8. erwirbt sich ein ergänzendes Sach- und Orientie-
rungswissen und damit die Fähigkeit zur Beurteilung Anfänglich waren die Ethikkodizes reine Standes-
grösserer Zusammenhänge und zur interdisziplinären und Berufskodizes. Sie regelten fach- und berufsspe-
Zusammenarbeit«.
zifische Fragen, hatten zunftinterne Normen und
Diese an Einzelpersonen gerichteten Regeln sollen berufspezifische Rollenpflichten zum Inhalt. Sie
in Institutionen- und Ordnungsethik eingebettet dienten aber auch der Abgrenzung zu anderen Be-
werden. rufsgruppen, sicherten Prestige und Einkommen.
Zwecksetzung des Österreichischen Ingenieur- Neuerdings hat bei den Kodizes  – insbesondere
und Architekten-Vereins, der 1848 gegründet wurde, den deutschen – eine gewisse Umorientierung statt-
ist, »die sinngemäße, gefahrlose und für den Men- gefunden. In den Präambeln und allgemeinen Teilen
schen nützliche Anwendung der Technik [zu] för- der Kodizes spielen das Allgemeinwohl, die nachhal-
dern und den Missbrauch derselben soweit wie tige Entwicklung und andere allgemeine und hu-
möglich [zu] verhindern« (§ 2.1). Auch soll »die mane – ethische – Werte eine durchaus prominente
7. Ethikkodizes 413

Rolle. Dies zeigt sich in der VDI-Richtlinie 3780 nieurinnen und Ingenieure den Vorrang der Men-
»Technikbewertung: Begriffe und Grundlagen« schengerechtigkeit vor einem Eigenrecht der Natur,
(VDI 1991; s. Kap. VI.6), in der acht Werte für das von Menschenrechten vor Nutzenerwägungen, von
technische Handeln einschlägig sind: Funktionsfä- öffentlichem Wohl vor privaten Interessen sowie von
higkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, hinreichender Sicherheit vor Funktionalität und
Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfal- Wirtschaftlichkeit«.  – Insbesondere Letzteres ist
tung und Gesellschaftsqualität (ebd., 7 ff.). Das wichtig, denn der typische Konflikt besteht zwischen
›Neuartige‹ dieser Richtlinie ist die »Breite des Be- Sicherheit und betriebswirtschaftlichen Zielen.
wertungshorizonts und gesellschaftliche Organisa- (3) Als höherstufige moralische Verantwortung
tion der Bewertungsprozesse« (ebd., 2). »Zielgruppe« könnte man die Erfüllung beruflicher Aufgaben und
bzw. Adressat der Richtlinie sind nämlich keines- Pflichten bezeichnen; hierzu gehören: Kompetenz-
wegs nur Ingenieure, sondern viel allgemeiner auch erhaltung (ebd., 3.1), Anerkennung »der rechtli-
»alle Verantwortlichen und Betroffenen in Wissen- chen Bedeutung ingenieurethischer Grundsätze und
schaft, Gesellschaft und Politik, die an Entscheidun- Richtlinien«, die »ingenieurethische und -wissen-
gen über technische Entwicklungen beteiligt und schaftliche Ausfüllung« »allgemeine[r] Wendungen
mit der Gestaltung der entsprechenden gesellschaft- im Umwelt-, Technik- und Arbeitsrecht«, die Bedeu-
lich-kulturellen Rahmenbedingungen befasst sind« tung »professionelle[r] Urteilskraft« (ebd., 3.3) und
(ebd., 2). Die Umorientierung in den Ethikkodizes die Unterstützung »geeigneter Einrichtungen, insbe-
zeigt sich noch stärker in den Ethikgrundsätzen des sondere auch im VDI« zur Konfliktlösung (ebd.,
VDI (VDI 2002). In diesen ist in der »Präambel« zu 3.4). Mit diesen Verantwortlichkeiten hängen eng
lesen, dass die Ingenieurinnen bzw. Ingenieure sich zusammen:
»im Beruf an ethischen Grundsätzen und Kriterien« (4)+(5) Zunftinterne Normen und berufspezifische
ausrichten. Die Grundsätze dienen der »Orientie- Rollenpflichten, die durchaus moralische Relevanz
rung« und der Unterstützung der einzelnen Inge- haben, wenn nicht gar die Konkretisierung allge-
nieurinnen bzw. Ingenieure hinsichtlich des Wahr- meinmoralischer Normen darstellen: Verhaltensre-
nehmens ihrer Verantwortung und »bei der Beurtei- geln gegenüber Angehörigen des eigenen Berufs-
lung von Verantwortungskonflikten«. Der VDI soll standes oder anderer Berufsstände, d. h. Verhaltens-
ferner aufklärend, beratend, vermittelnd und för- regeln professioneller, standesgebundener Art wie
dernd tätig sein »zum Schutz der Beteiligten in allen z. B. Verantwortung gegenüber »ihrem Berufsstand,
Fragen der Technikverantwortung«.  – Christoph […] den Arbeitgebern, den Auftraggebern und
Hubig (2011, 175) bezeichnet im Übrigen »die Über- Techniknutzern« (ebd., 1.2), die »[t]echnische Ver-
nahme« der »Ethischen Grundsätze« durch den VDI antwortung« und »[s]trategische Verantwortung«
als »[p]rominentes Beispiel« »institutioneller ethi- (ebd., 1.4).
scher Technikverantwortung«. (6) Als letzter Gesichtspunkt zu nennen ist die
Analysiert man die angelsächsischen Ethikkodi- (auch moralische) korporative Verantwortung der
zes für Ingenieure (vgl. hierzu Lenk 1991) und die Profession, des Standes insgesamt bzw. stellvertre-
Ethikgrundsätze des VDI, so lassen sich sechs ideal- tend der Berufsvereinigung, für das Gemeinwohl
typische Gesichtspunkte unterscheiden: oder für Sicherheit, Gesundheit und Wohlfahrt der
(1) Universalmoralische Verpflichtungen und Ge- Öffentlichkeit oder der Gesellschaft  – in der Prä-
bote, d. h. Regelungen, die sich auf das Verhalten des ambel der Ethikgrundsätze angedeutet. (In den ethi-
einzelnen Ingenieurs in Bezug auf andere (poten- schen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik [GI]
ziell) Betroffene, also auf die externe moralische wird ausdrücklich eine Verantwortung dieser Ge-
Verantwortung beziehen  – »Ingenieure sollen die sellschaft hervorgehoben; sie wird in den Leitlinien
Sicherheit, die Gesundheit und das externe Wohler- als »gemeinschaftliche« bezeichnet.)
gehen der Allgemeinheit […] über alles stellen« (so Wesentliche Funktionen der Ethikkodizes sind
die meisten angelsächsischen Kodizes; VDI 2002, Orientierungs- und Schutzfunktion. Wie alle insti-
2.3: Orientierung »an Grundsätzen allgemein mora- tutionalisierten Regeln haben die Kodizes eine Ent-
lischer Verantwortung«). Mit diesen Regeln verbun- lastungsfunktion und senken genauso wie morali-
den sind: sche Regeln die Kosten von wirtschaftlichen Trans-
(2) Prioritäts- und Entscheidungskriterien, die zur aktionen. Eine weitere Funktion der Kodizes ist die
Lösung von (moralischen) Konflikten hilfreich sein Sensibilisierung von Beschäftigten, von Ingenieuren,
können (ebd., 2.4): »In Wertkonflikten achten Inge- Forschungseinrichtungen, Ingenieurvereinigungen,
414 VI. Technikethik in der Praxis

wissenschaftlichen und technischen Gesellschaften Ethisierung der Ethikkodizes


für ethische Probleme und für typische Konflikte.
Auch die Bewusstmachung und kritische Reflexion Hinsichtlich der Entwicklung der Ethikkodizes lässt
von Folgen und Nebenfolgen technischer und wis- sich die folgende These aufstellen: Die für das
senschaftlicher Entdeckungen und Erfindungen ge- spezifisch Ethische kennzeichnenden universal-
hört dazu. Genauso die Beachtung humaner und ge- moralisch gültigen Regeln sind anfänglich kaum in
sellschaftlicher Werte in der Technikfolgenabschät- einem Ethikkodex vorhanden. Die Ethikkodizes
zung und Technikbewertung (s. Kap. VI.4 und Kap. statuier(t)en Regeln und Normen vornehmlich des
VI.6). Wesentlich für die Kodizes sind ebenfalls de- zumeist zunftinternen Ethos, die oftmals opera-
ren Akzeptanz, Verwirklichungs- bzw. Durchset- tionaler sind als die allgemein-ethischen Regeln.
zungsmöglichkeiten (vgl. aber auch Lenk 2009, 18 ff. Prioritäts- bzw. Vorzugsregeln zur Lösung von Kon-
zum Missbrauch von Kodizes). Für Armin Grun- flikten finden sich selten bzw. nicht. Die VDI-
wald (1999, 234) besteht die Funktion von »Berufs- Grundsätze von 2002 sind diesbezüglich eine Aus-
moralen« »nicht darin, ein umfassendes Ethos der nahme, denn in ihnen werden sowohl universalmo-
Technikgestaltung zu entwickeln oder dieses gar zu ralische Regeln als auch allgemeine Vorzugsregeln
ersetzen, sondern darin, erstens auf die Einhaltung genannt. Insofern kann man von einer Ethisierung
der Regulierungsvorhaben zu achten, mit möglichen der Ethikkodizes sprechen. (Dies gilt schon für Ein-
Verletzungen umzugehen, zweitens Hinweise auf beziehung der Ziele Allgemeinwohl, Nachhaltigkeit
möglicherweise unzureichende Regulierungen zu und für die VDI-Richtlinie 3780.) Seit der Einfüh-
geben und drittens bestehende Regulierungen ggfs. rung der VDI-Grundsätze ist es allerdings allzu ru-
zu kritisieren«. hig geblieben. Eine breite, auch öffentliche Diskus-
Die Schutzfunktion der Ethikkodizes sollte insbe- sion wäre wünschenswert gewesen, insbesondere
sondere bei die Fragen, die Arbeitnehmer betreffen, aber hätten die Grundsätze verbindlich für die VDI-
beachtet werden: Sollten die Kodizes nämlich Ein- Mitglieder eingeführt werden müssen und ergänzt
gang in das positive Recht finden  – über ausfül- werden müssen um rechtliche bzw. verbandsinterne
lungsbedürftige Generalklauseln wie etwa »gute Sit- Sanktionen, Ethikkommissionen und Schiedsge-
ten« (§ 138 BGB) –, so würden die Chancen für ihre richte.
Verwirklichung und Einhaltung steigen (vgl. Hubig
2011, 174 zu Ethikkodizes, solchen Klauseln und de-
ren Wirksamkeit). Denn Appelle allein und die Sen-
Literatur
sibilisierung der Beteiligten – insbesondere der ab-
hängig Beschäftigten  – genügen nicht, so nötig sie Fenner, Dagmar: Einführung in die angewandte Ethik. Tü-
freilich sind. Dies gilt auch beim whistle-blowing. In bingen 2010.
Gorlin, Rena A. (Hg.): Codes of Professional Responsibility.
manchen Ethikkodizes gibt es hierzu Regelungen – Washington, D.C. 41999.
z. B. in den Ethikgrundsätze des VDI (VDI 2002, Grunwald, Armin: Ethische Grenzen der Technik? Reflexi-
3.4): »In berufsmoralischen Konfliktfällen, die nicht onen zum Verhältnis von Ethik und Praxis. In: Ders./
zusammen mit Arbeit- und Auftraggebern gelöst Stephan Saupe (Hg.): Ethik in der Technikgestaltung. Ber-
werden können, suchen Ingenieurinnen und Inge- lin/Heidelberg 1999, 221–252.
Harris, Nigel G.E.: Professional Codes of Conduct in the Uni-
nieure institutionelle Unterstützung bei der Verfol-
ted Kingdom. A Directory. London 21996.
gung ethisch gerechtfertigter Anliegen. Notfalls ist Hubig, Christoph: Technikethik. In: Ralf Stoecker/Chris-
die Alarmierung der Öffentlichkeit oder die Verwei- tian Neuhäuser/Marie-Luise Raters (Hg.): Handbuch
gerung weiterer Mitarbeit in Betracht zu ziehen.« Angewandte Ethik. Stuttgart/Weimar 2011, 170–175.
Eine solche »Unterstützung« könnten z. B. Ethik- – /Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Ingenieurverantwor-
tung. Handlungsspielräume und Perspektiven der Kodifi-
kommissionen bei den Ingenieurgesellschaften leis-
zierung. Berlin 2003.
ten. Ethikkodizes sollten also durch entsprechende IIT: Center for the Study of Ethics in the Professions at Illi-
Ethikkommissionen ergänzt werden (s. Kap. VI.8). nois Institute of Technology. Chicago, IL (http://ethics.
Beide bedingen sich gegenseitig: Denn Ethikkom- iit.edu).
missionen ohne inhaltliche Leitlinien sind quasi KriWi: http://www.kriwi.org/mission-statement.phtml.
blind. Und Ethikkodizes müssten Kontroll- und Lenk, Hans: Ethikkodizes – zwischen schönem Schein und
›harter‹ Alltagsrealität. In: Hans Lenk/Matthias Maring
Sanktionsmechanismen enthalten, denn ohne solche (Hg.): Technikverantwortung. Güterabwägung  – Risiko-
ind weitgehend wirkungslos. bewertung  – Verhaltenskodizes. Frankfurt a. M. 1991,
327–353.
8. Ethikkommissionen 415

– : Zur Verantwortung des Ingenieurs. In: Matthias Maring 8. Ethikkommissionen


(Hg.): Verantwortung in Technik und Ökonomie. Karls-
ruhe 2009, 9–36.
– /Maring, Matthias (Hg.): Technikverantwortung. Güterab-
wägung  – Risikobewertung  – Verhaltenskodizes. Frank- Ethikkommissionen in technik-
furt a. M. 1991. und forschungspolitischen Fragen
– /Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Ethik [1987]. Stutt-
gart 21993. Ethikkommissionen werden im Hinblick auf technik-
Martin, Mike W./Schinzinger, Roland: Ethics in Engineering ethische Fragen vor allem dort von Bedeutung, wo
[1989]. Boston/London 42005.
Mitcham, Carl: A historico-ethical perspective on enginee- sie als Organ der Politikberatung in Technikfragen
ring education: from use and convenience to policy en- fungieren. Wenn im Folgenden von Ethikkommissi-
gagement. In: Engineering Studies 1 (2009), 25–53. onen die Rede ist, sind daher ausschließlich auf nati-
NSPE: http://www.nspe.org/Ethics/CodeofEthics/Code onaler oder internationaler Ebene operierende Bera-
History/historyofcode.html. tungsorgane gemeint, die auf der Basis von Gesetzen
Ropohl, Günter: Ethik und Technikbewertung. Frankfurt
a. M. 1996. oder Verordnungen in das Institutionensystem de-
VDI (Hg.): VDI-Richtlinie 3780. Technikbewertung: Begriffe mokratischer Entscheidungsfindung eingebaut sind.
und Grundlagen. Düsseldorf 1991. Klinische Ethikkommissionen, die vor allem an Kran-
VDI: Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Düsseldorf kenhäusern angesiedelt sind, oder Forschungsethik-
2002. Kommissionen, die primär für die Kontrolle der
Matthias Maring
Forschung am Menschen zuständig sind, fallen da-
mit ebenso außer Betracht wie die – in jüngerer Zeit
an Zahl zunehmenden  – berufsständischen Ethik-
kommissionen (Kettner 2005).
Gleichwohl ergeben sich innere Zusammenhänge
zwischen diesen differierenden Typen, finden doch
die für politisch regulierungsrelevante Technikfra-
gen maßgeblichen Ethikkommissionen ihr Organi-
sationsmodell an den – dem medizinischen Kontext
entstammenden  – klinischen Ethikkommissionen.
Im deutschsprachigen Raum wird dieser enge Zu-
sammenhang auch dadurch deutlich, dass die The-
menstellungen der nationalen Ethikkommissionen
zu Beginn vor allem dem Bereich jener biomedi-
zinischen Herausforderungen angehörten, die zu
politisch regulierungsrelevanter Materie geworden
waren. Herausragende Beispiele waren die Kontro-
versen um die Stammzellforschung, die Präimplan-
tationsdiagnostik (PID) und die Gendiagnostik
(s. Kap. V.7).
Die Konjunktur von Ethikkommissionen steht in
enger Verbindung mit dem Aufleben ethischer Dis-
kurse. Ihren Aufschwung nahm die Ethik (als ange-
wandte Ethik) in den 1970er Jahren, ein zentrales In-
diz ist die Herausbildung der Bioethik. Als Ursachen
für Entwicklung der Bioethik werden im Allgemei-
nen genannt: die Pluralisierung der Moralvorstel-
lungen in modernen Gesellschaften, eine für den po-
tenziell menschenverachtenden Instrumentalismus
der Forschung sensibilisierte Öffentlichkeit (insbe-
sondere seit den Nürnberger Ärzte-Prozessen)
und – nicht zuletzt – ein durch die fortschreitende
Technisierung im Medizinbereich (s. Kap. V.14) ver-
schärfter Problemdruck, der insbesondere bei ärztli-
416 VI. Technikethik in der Praxis

chen Entscheidungsdilemmata in Fragen des Le- setzliche Grundlage. Gemäß diesem Ethikratgesetz
bensbeginns und des Lebensendes deutlich wurde von 2007 werden nicht mehr alle 26 Mitglieder von
(Ach/Runtenberg 2002; Jennings 2000). Organtrans- der Bundesregierung ernannt, sondern die Hälfte
plantation, In-vitro-Fertilisation, Hirntod-Defini- der Mitglieder vom Bundestag. Thematisch ist das
tion – diese Stichworte markieren einige der großen Beratungsgremium laut Ethikratgesetz vor allem auf
Verunsicherungen, die zum Aufleben einer sich in die Lebenswissenschaften und ihre Anwendungen
den 1980er Jahren intensivierenden ethischen De- am Menschen fokussiert. In Österreich wurde eben-
batte beitragen. falls 2001 eine Bioethikkommission beim Bundes-
Im deutschsprachigen Raum erfährt diese De- kanzleramt eingerichtet, mit einer ähnlichen Aufga-
batte eine zentrale Anregung und Belebung durch benstellung. In der Schweiz hat der Bundesrat – nach
das 1979 erschienene Werk Das Prinzip Verantwor- allerdings langwierigen Debatten – im gleichen Jahr
tung von Hans Jonas (s. Kap. IV.B.2). Auch wenn eine »Nationale Ethikkommission im Bereich der
oder gerade weil Jonas keine Bioethik in systemati- Humanmedizin« konstituiert.
scher Absicht entwirft, ist es zur vielleicht prägends- Doch die »Ethisierung« (Bogner 2011) greift
ten Ethikschrift der Nachkriegszeit geworden. Im- mittlerweile weit über die Bio- und Medizintechnik
mens einflussreich wurde der Gedanke, dass die hinaus. Selbst in Energiefragen werden Ethikkom-
Ethik im technischen Zeitalter – in dem ›natürliche‹ missionen konsultiert. Die Ethikkommission »Si-
Grenzen zunehmend veränderlich werden – vor al- chere Energieversorgung« war von der deutschen
lem die Funktion der Grenzsetzung hat. Diese Per- Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Aufgabe be-
spektive erklärt sich aus der Wahrnehmung diverser traut worden, nach Fukushima die Risiken der Kern-
Bedrohungen, allen voran ökologischer Probleme. energie (s. Kap. V.11) neu zu bewerten. Im Ab-
Mit einigem Recht kann man daher festhalten: schlussbericht (Mai 2011) votierte die Kommission
»Der Grund für die Institutionalisierung der Bio- einstimmig für einen Ausstieg aus der Atomenergie
ethik war stets, dass man wissen wollte, ob die neuen innerhalb der nächsten zehn Jahre. Eine Ethik-
Technologien verantwortet werden können« (Dü- kommission in Risikofragen – das war ein Katego-
well 2008, 28). Im Zentrum aktueller bioethischer rienfehler oder aber der Versuch, eine typische
Debatten stehen jedoch längst nicht mehr nur kon- Risikofrage neu zu rahmen (Bogner 2011). Ent-
krete technische Anwendungen und medizinische sprechend wurde diese Ethikkommission meist in
Dienstleistungen, sondern auch Technisierungspro- Anführungszeichen gesetzt (Braun 2013).
jekte und Forschungsoptionen, die teilweise einen Doch zurück zu den nationalen Ethikräten. All
stark visionären Charakter aufweisen (wie z. B. das diese Gremien haben eine Reihe charakteristischer
Human Enhancement, s. Kap. V.8). Im Zuge der He- Gemeinsamkeiten:
rausbildung von Technowissenschaften (Nordmann (1) Sie teilen die Aufgabe, die Politik mittels schrift-
2004) beziehen sich heute ethische Reflexionen licher Stellungnahmen in den großen bioethi-
nicht allein auf (potenziell) kontroverse Technolo- schen Fragen zu beraten; außerdem ist ihnen die
gien, sondern immer stärker auch auf forschungspo- Belebung und Begleitung der öffentlichen De-
litische Fragen. batte über bioethische Themen aufgegeben.
(2) Sie sind vom Anspruch her als Expertengremien
konstituiert; die Grenzen zwischen Experten-
Ein Streifzug durch die Institutionen- und Stakeholdermodell erweisen sich in der Pra-
landschaft xis freilich als fließend, schließlich sind Exper-
ten- bzw. Stakeholder-Rollen in der Praxis nicht
In technik- und forschungspolitischen Kontroversen immer klar voneinander zu trennen.
spielen jene interdisziplinären Expertengremien (3) Diese Gremien sind disziplinär und weltan-
eine hervorgehobene Rolle, die unter dem Titel »Na- schaulich bunt zusammengesetzt. Es gehören ih-
tionale Ethikräte« in den letzten Jahren in vielen nen Fachleute insbesondere aus den Bereichen
westlichen Demokratien gegründet wurden (Fuchs der Medizin, Molekularbiologie und Genetik,
2005; Galloux et al. 2002). In Deutschland hat der Rechtswissenschaften, Ethik, Soziologie und
damalige Kanzler Gerhard Schröder 2001 einen Theologie an.
»Nationalen Ethikrat« einberufen. Seit 2008 heißt
dieses Beratungsgremium »Deutscher Ethikrat« und Allerdings ist die disziplinäre Zuteilung nicht immer
verfügt – anders als sein Vorgänger – über eine ge- eindeutig möglich und oft auch wenig aussagekräf-
8. Ethikkommissionen 417

tig. Es gibt Differenzen zwischen ›gelerntem‹ Fach erschien die Ethik nun prominent im Titel einer Po-
und aktueller Profession, und manche Mitglieder litikberatungskommission. Dieser Ethikbeirat hatte
sitzen gar nicht als Vertreter ihrer Disziplin, sondern Eckpunkte für die ethisch-rechtliche Bewertung prä-
gewissermaßen kraft ihrer Autorität als ›geachtete‹ diktiver Gen-Tests und – im Jahr 2000 – eine Stel-
Persönlichkeit im Gremium. In jedem Fall aber er- lungnahme zum geplanten Fortpflanzungsmedizin-
heben diese Ethikräte den Anspruch, dass unter- gesetz erarbeitet, die allerdings nicht veröffentlicht
schiedliche ethische Ansätze und ein plurales Mei- wurde. Ab 2001, mit der Einrichtung des Nationalen
nungsspektrum vertreten sind. Ethikrats, ruhte die Arbeit des Ethikbeirats erst ein-
Parallel zum Nationalen Ethikrat arbeiteten bis mal. 2002 wurde er schließlich formell aufgelöst.
zum Sommer 2005 zwei Enquete-Kommissionen
(EK) des Deutschen Bundestags. Die Enquete Kom-
mission »Recht und Ethik der modernen Medizin« Der aktuelle Trend zu technikethischen
existierte im Zeitraum der 14. Wahlperiode von Themenstellungen
März 2000 bis 2002. Sie war vom Bundestag ein-
gesetzt worden, um eine ethisch-soziale Bewertung Die Themenstellungen der genannten Ethikkom-
des biomedizinischen Fortschritts vorzunehmen. missionen waren zunächst sehr eng mit den großen
13  Mitglieder des Bundestags und 13 Experten ge- bioethischen Kontroversen verknüpft: Stammzell-
hörten ihr an. Diese Ethikkommission versuchte, forschung, Gendiagnostik, Präimplantationsdia-
Bioethik zu einem Thema zu machen, das unter ak- gnostik, Klonen – das waren die maßgeblichen, weil
tiver öffentlicher Beteiligung behandelt wird. So politisch regulierungsrelevanten Themen um die
wurden verschiedene Dialogveranstaltungen und Jahrtausendwende herum. In Deutschland sind die
Internetkonferenzen durchgeführt. Außerdem wur- diesbezüglichen politischen Entscheidungsprozesse
den regelmäßig öffentliche Anhörungen organisiert, mittlerweile durch diverse Gesetzesregelungen zu ei-
die die Themen Gendiagnostik, PID und Reproduk- nem (vorläufigen) Abschluss gekommen. Dement-
tionsmedizin zum Gegenstand hatten. sprechend haben sich auch die Themenstellungen
Dieser Ethikkommission folgte eine zweite unter der Ethikkommissionen in letzter Zeit gewandelt. In
dem Titel »Ethik und Recht der modernen Medizin« diesem Zusammenhang lässt sich eine Ausdifferen-
der 15. Wahlperiode nach; durch die vorgezogenen zierung des Themenspektrums konstatieren, wobei
Neuwahlen im September 2005 wurde deren Arbeit zwei Schwerpunktsetzungen auffallen. Sofern medi-
vorzeitig beendet. Ihr gehörten weiterhin 26 Mitglie- zinrelevante Fragestellungen weiter verfolgt werden,
der an; deutliche Differenzen ergaben sich jedoch stehen jetzt nicht mehr so sehr die großen Fragen
hinsichtlich der thematischen Schwerpunktsetzung. nach Beginn, Wert und Würde des menschlichen
Während in der 14. Wahlperiode biomedizinische Lebens im Mittelpunkt. Thematisiert werden viel-
Themen im Vordergrund standen, so diskutierte mehr sozioökonomische und soziokulturelle Kon-
man ab 2003 vor allem Fragen zum Lebensende, zur texte medizinischer Praxis. Dabei stehen einerseits
Transplantationsmedizin und zur Ethik medizini- die klassischen Fragen von Zugangs- und Vertei-
scher Forschung sowie zur Verteilungsgerechtigkeit. lungsgerechtigkeit im Zentrum (s. Kap. IV.B.9). An-
Die EK »Chancen und Risiken der Gentechnolo- dererseits befasst man sich in teilweise sehr tiefgrei-
gie« (1984–1987) und die interministerielle Arbeits- fenden Reflexionsprozessen mit Problemen wie Me-
gruppe »In-Vitro-Fertilisation, Genomanalyse und dikalisierung und Diskriminierung. So hat der
Gentherapie«, die sog. »Benda-Kommission« (1984– Deutsche Ethikrat im Jahr 2012 das Phänomen der
1985), sind aus heutiger Sicht als Vorläufer der poli- Intersexualität auf die Agenda gesetzt und dazu eine
tikberatenden Ethikkommissionen zu verstehen. In Stellungnahme auf Basis eigener, umfangreicher
diesen frühen Gremien waren ethische Fragen Forschung vorgelegt (Bora 2012). Hier wird das Be-
durchaus präsent, insbesondere da, wo es um An- mühen sichtbar, jenseits der politischen Themen-
wendungen der Gentechnologie am Mensch ging (s. konjunktur und des bioethischen Mainstreams ge-
Kap. V.7), wie z. B. bei der pränatalen Diagnostik sellschaftliche Debatten unter aktiver Beteiligung
oder Gentherapie  – aber noch keineswegs promi- von Betroffenen und Interessensvertretern anzusto-
nent. Über weite Strecken wurde über das Risiko- ßen. Auf diese Weise tritt die Ethikkommission als
profil der neuen Technologie diskutiert. Dies än- zivilgesellschaftlicher Akteur in Erscheinung.
derte sich in den 1990er Jahren. In dem 1995 einge- Zum anderen lässt sich feststellen, dass in jüngs-
richteten Ethikbeirat im Gesundheitsministerium ter Zeit zunehmend auch technikethische Fragestel-
418 VI. Technikethik in der Praxis

lungen Bedeutung erlangen. Die österreichische und Transparenz der Datensammlung und -verwer-
Bioethikkommission etwa hat sich in den letzten tung diskutiert. Im Fall der Synthetischen Biologie
Jahren mit der Nanotechnologie (s. Kap. V.18) und (s. Kap. IV.23) rekurriert die European Group on
den »Assistiven Technologien« auseinandergesetzt. Ethics in Science and New Technologies (EGE) auf
In der recht knapp gehaltenen Auseinandersetzung den in der aktuellen Debatte mittlerweile etablierten
mit der Nanotechnologie wird indes weniger auf Kanon ethischer Aspekte. Im Vordergrund stehen
ethische, denn auf Literatur aus der Technikfolgen- Sicherheitsfragen, d. h. technologieimmanente Risi-
abschätzung (TA) Bezug genommen. Genuin ethi- ken und der Bioterrorismus, des Weiteren Patentie-
sche Fragen wie z. B. Fragen der Verteilungsgerech- rungsfragen sowie Verteilungs- und Gerechtigkeits-
tigkeit (Nano Divide) oder risikoethische Aspekte fragen. Im Fall der Agrartechnologien (s. Kap. V.1)
werden angesprochen, aber nicht vertieft. In Bezug fällt aus fachethischer Perspektive auf, dass die EGE
auf die Entwicklung und den Einsatz Assistiver einen engen Bezug zur Umweltethik herstellt. Aber
Technologien werden informationsethische Pro- auch hier ist die Palette der unter dem Stichwort
bleme (Datenschutz und Privatsphäre; s. Kap. V.9), »Ethik« abgehandelten Aspekte bunt. Zur Sprache
klassische Aspekte der Bioethik (Spannungsverhält- kommen (nicht immer nur ethische) Aspekte wie
nis zwischen Autonomie und Fürsorge) sowie sozial- die Ernährungssicherheit, Chancen und Risiken
ethische Fragen angesprochen. Dabei stützt sich die gentechnisch veränderter Kulturpflanzen, Biotreib-
Darstellung der Ethikkommission zu weiten Teilen stoff oder auch die Verschwendung von Lebensmit-
auf eine Auftragsstudie aus der Technikfolgenab- teln.
schätzung (Tolar 2008; s. Kap. VI.4). In den USA hat Präsident Barack Obama im
Der Trend zur Beschäftigung mit technikethi- Herbst 2009 die Presidential Commission for the
schen Fragen bildet sich derzeit vor allem im inter- Study of Bioethical Issues (PCSBI) eingesetzt. Diese
nationalen Kontext ab. Der Titel des einschlägigen Kommission setzt eine mittlerweile 40-jährige Ge-
Beratungsgremiums der Europäischen Kommission schichte der Politikberatung durch nationale Ethik-
in Ethikfragen lautet bezeichnenderweise European räte fort, eine Geschichte, die 1974 mit der Einset-
Group on Ethics in Science and New Technologies zung der National Commission for the Protection of
(EGE). Das 15-köpfige Gremium hat in den letzten Human Subjects of Biomedical and Behavioral Re-
Jahren Stellungnahmen zu so diversen Technologie- search (1974–1978) begann. Die PCSBI ist Nachfol-
feldern wie den Internet-Technologien (s. Kap. gerin des von George W. Bush berufenen President ’ s
V.10), zur Synthetischen Biologie (s. Kap. V.23) so- Council on Bioethics (2001–2009). Als ersten Ar-
wie zu Entwicklungen der Agrartechnologie (s. Kap. beitsauftrag erhielt die PCSBI die Aufgabe, soziale
V.1) abgegeben. Außerdem gibt es Publikationen zur und ethische Implikationen der Synthetischen Bio-
Nanotechnologie (s. Kap. V.18) sowie zum Health logie zu untersuchen (PCSBI 2009). Ihre konkreten
Technology Assessment (ten Have 2004). Dem Bera- Empfehlungen, die auf Monitoring und breiten Dia-
tungsauftrag gemäß geht es dabei weniger um die log setzen, basieren auf fünf ethischen Prinzipien,
Dokumentation und Kommentierung fachethischer die die PCSBI als relevant für eine verantwortliche
Spezialdiskussionen; im Vordergrund steht vielmehr Steuerung emergierender Technologien betrachtet
die Positionierung des Themas im Kontext grundle- (public beneficence, responsible stewardship, intellec-
gender ethischer Prinzipien. Zuweilen – wie im Fall tual freedom, demorcatic deliberation sowie justice
der Agrartechnologie – geht es auch vordringlich da- and fariness).
rum, die Politik überhaupt an die Bedeutung ethi- Forschungs- und technikethische Themenstel-
scher Grundsätze zu erinnern und deren Berück- lungen verfolgt auf internationaler Ebene auch die
sichtigung einzufordern. Die spezifisch ethischen World Commission on the Ethics of Scientific Know-
Gesichtspunkte der einzelnen Technologien werden ledge and Technology (COMEST). Die COMEST ist
in der Regel in loser Anlehnung an weitgefasste nor- ein beratendes Organ der UNESCO. Die 18 Mitglie-
mative Prinzipien entwickelt, wie sie z. B. in Deklara- der aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften,
tionen oder EU-Verträgen festgeschrieben sind. den Rechtswissenschaften, der Philosophie, Religion
Ethische Aspekte der Informationstechnologien und Politik werden vom UNESCO-Generaldirektor
(s. Kap. V.9) werden u. a. anhand der Probleme ernannt. Die Kommission wurde 1998 eingerichtet,
neuer, ›digitaler‹ Formen der Identitätsbildung, der im Zuge einer bioethischen Institutionalisierungsof-
Gefahren der Verletzung personaler Freiheiten (pri- fensive der UNESCO. Zeitgleich wurden die Statu-
vacy) und dem Anspruch auf Nachvollziehbarkeit ten des International Bioethics Committee (IBC) ver-
8. Ethikkommissionen 419

abschiedet und das Intergovernmental Bioethics sense-Niveau ab. Eine hohe Theorieladung der De-
Committee (IGBC) eingerichtet. Dabei ging es zu- batte gilt innerhalb der politikberatenden Ethik-
nächst vorrangig um die ethische Begleitung des kommissionen überwiegend als unnötig, weil das
Humangenom-Projekts. Kernaufgabe des IBC war Ziel in der Verdichtung des Gruppendissenses zu ei-
die Erarbeitung einer Deklaration zum Schutz des nigen wenigen Positionen besteht. Maßgebliches
menschlichen Genoms. Die COMEST hingegen Handlungsziel der Experten ist die Konsolidierung
sollte vor allem auf die Entwicklung einer Deklara- eines integrativen Standpunkts, nicht aber die For-
tion zur Ethik in den Wissenschaften hinwirken, ge- mulierung einer Position, die von allen Beteiligten
wissermaßen als Vorläufer für einen global gültigen grundsätzlich als argumentativ überlegen verstan-
»ethical code of conduct for scientists«, so der Gene- den werden kann. Handlungsanleitende Überein-
raldirektor auf einer Konferenz 2005. Im aktuellen stimmung ist aber einfacher, wenn eine tiefgehende
Aufgabenprofil der COMEST hat außerdem die Konsenssuche ausbleibt. Um ›Koalitionspartner‹ in-
Ethik neuer Technologien einen zentralen Stellen- nerhalb der Kommission zu finden, bedarf es nicht
wert. Die Kommission soll ein Bewusstsein schaffen möglichst zugespitzter Argumentation, sondern
für ethische Aspekte moderner Technologien und strategischen Handelns. Schließlich lassen sich gre-
politischen Entscheidungsträgern dabei helfen, Be- mieninterne Koalitionen gerade auf Basis pragmati-
wertungskriterien jenseits rein ökonomischer Erwä- scher Diskussion realisieren – Koalitionen zwischen
gungen zu berücksichtigen. Kommissionsmitgliedern, die auf fundamentalethi-
scher Ebene vielleicht weit entfernten Positionen an-
gehören. Zu diesem Zweck erscheint es kontrapro-
Ethik interdisziplinär: duktiv, immer gleich die Frage mit zu thematisieren,
Zur Aushandlung von Ethikexpertise welche theoretischen Begründungstraditionen den
jeweiligen Positionen entsprechen. In diesem Sinne
Die typischerweise interdisziplinär zusammenge- sind fachethische Begründungsfiguren und Traditi-
setzten Ethikkommissionen stehen vor einer erheb- onsbestände für die gemeinsame Erarbeitung poli-
lichen Herausforderung: In diesen Gremien muss tikrelevanter Ethikexpertise weder unbedingt not-
Expertise in aller Regel zwischen Vertretern unter- wendig noch hilfreich. Kurz gesagt: Kommissions-
schiedlicher Disziplinen und Weltanschauungen ethik funktioniert nicht qua überlegener oder
ausgehandelt werden. Das heißt, Ethikexpertise ma- elaborierter ethischer Moralbegründung, sondern
terialisiert sich hier nicht in Form von konsensuellen vermittels der Pragmatisierung ethischer Delibera-
Sachstandsberichten oder Einzelgutachten. Ethikex- tion. Sie folgt eher dem Prinzip des Aushandelns,
pertise muss vielmehr in vivo, also in einem Kom- weniger dem des Ausdiskutierens.
munikationsprozess unter Anwesenden erarbeitet Für die (meist wenigen) professionellen Vertreter
werden. Die sich unmittelbar daran anschließende der Ethik in Ethikkommissionen hält die Gremien-
Forschungsfrage lautet: Auf welche Weise wird Ex- arbeit daher oft einige Enttäuschungen bereit. Er-
pertise in Ethikkommissionen ausgehandelt? Und: reicht doch die Aushandlung von Wertfragen in
Welche Rolle kommt der professionellen Fachethik Ethikkommissionen selten die Ebene, wo Ethik als
in diesem Zusammenhang zu? Diesen Fragen wurde disziplinäres Sonderwissen relevant werden könnte.
in den letzten Jahren innerhalb der Wissenschafts- Die Frage der ethischen Positionierung selbst kön-
und Technikforschung einige Aufmerksamkeit zu- nen die professionellen Ethiker nicht monopolisie-
teil, gerade im deutschsprachigen Raum. Mittler- ren: Hier beanspruchen – aus unmittelbar einleuch-
weile liegen darum eine Reihe empirischer Studien tenden Gründen  – vielmehr alle Mitglieder der
und Befunde zur Aushandlungslogik in nationalen Ethikräte, über entsprechende Kompetenzen zu ver-
Ethikräten bzw. Enquete-Kommissionen vor (vgl. fügen. Und die Logik der Positionsaushandlung un-
Bogner 2011; Braun 2008; Jung 2011; van den Daele terläuft jene Differenzierungsansprüche, die zum
2008). Stimulus für eine gremieninterne Nachfrage nach
Aus den vorhandenen Studien lässt sich schlie- fachethischer Expertise werden könnten.
ßen, dass der Spielraum für fachethische Argumen- Ethikkommissionen wohnt offenbar ein parado-
tationen und Beweisführungen in den Ethikkom- xes Moment inne: Einerseits sind sie der institutio-
missionen eher gering ist. Ethische Deliberation, so nelle Ausdruck der Tatsache, dass eine ethische Re-
die zentrale Beobachtung, spielt sich innerhalb der flexion über Technologien weithin anerkannt ist.
Kommissionen in der Regel auf einem common Wurde einstmals die Technikfolgenabschätzung als
420 VI. Technikethik in der Praxis

angemessene institutionelle Antwort auf eine von Kettner, Matthias: Ethik-Komitees. Ihre Organisationsfor-
der Politik kaum mehr zu überschauende Komplexi- men und ihr moralischer Anspruch. In: Erwägen Wissen
Ethik 16/1 (2005), 3–16.
tät der Technik verstanden (Grunwald 2010; s. Kap.
Nordmann, Alfred: Was ist TechnoWissenschaft? Zum
VI.4), so sind heute Ethikkommissionen an ihre Wandel der Wissenschaftskultur am Beispiel von Nano-
Seite getreten. In diesem Sinne repräsentieren Ethik- forschung und Bionik. In: Torsten Rossmann/Cameron
kommissionen gewissermaßen die Macht des ethi- Tropea (Hg.): Bionik: Aktuelle Forschungsergebnisse in
schen Diskurses. Andererseits scheint die konkrete Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften. Berlin
Arbeit in den Kommissionen ein hohes Maß an 2004, 209–218.
PCSBI (Presidential Commission for the Study of Bioethi-
Pragmatismus zu erfordern, so dass der spezifische cal Issues): New Directions. The Ethics of Synthetic Bio-
Mehrwert ethischen Spezialwissens mitunter nicht logy and Emerging Technologies. Washington, D.C. 2010.
recht deutlich wird. Eine tendenzielle Marginalisie- ten Have, Henk: Ethical perspectives on health technology
rung ethischen Sonderwissens in Ethikkommissio- assessment. In: International Journal of Technology As-
nen  – dies scheint der Preis der Popularisierung sessment in Health Care 20/1 (2004), 1–6.
Tolar, Marianne: Assistive Technologien. Studie im Auftrag
ethischer Diskurse zu sein. des Bundeskanzleramts. Institut für Gestaltungs- und
Wirkungsforschung, TU Wien. Wien 2008, http://www.
Literatur bundeskanzleramt.at/DocView.axd?CobId=32306.
van den Daele, Wolfgang: Über den Umgang mit unlösba-
Ach, Johann S./Runtenberg, Christa: Bioethik: Disziplin ren moralischen Konflikten im Nationalen Ethikrat. In:
und Diskurs – Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik. Dieter Gosewinkel/Gunnar Folke Schuppert (Hg.): Poli-
Frankfurt a. M./New York 2002. tische Kultur im Wandel von Staatlichkeit. Berlin 2008,
Bogner, Alexander: Die Ethisierung von Technikkonflikten. 357–384.
Studien zum Geltungswandel des Dissenses. Weilerswist Alexander Bogner
2011.
Bora, Alfons: Zur Situation intersexueller Menschen. Bericht
über die Online-Umfrage des Deutschen Ethikrates. Berlin
2012.
Braun, Kathrin: Ethics in time. Ethikberatung und Zeitlich-
keit in Kommissionen zu Biomedizin und Atomtechno-
logie. In: Alexander Bogner (Hg.): Ethisierung der Tech-
nik – Technisierung der Ethik. Der Ethik-Boom im Lichte
der Wissenschafts- und Technikforschung. Baden-Baden
2013.
– /Herrmann, Svea Luise/Könninger, Sabine/Moore, Al-
fred: Die Sprache der Ethik und die Politik des richtigen
Sprechens. Ethikregime in Deutschland, Frankreich und
Großbritannien. In: Renate Mayntz/Friedhelm Neid-
hardt/Peter Weingart/Ulrich Wengenroth (Hg.): Wissens-
produktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungs-
feld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Bielefeld
2008, 221–242.
Düwell, Marcus: Bioethik. Methoden, Theorien und Berei-
che. Stuttgart/Weimar 2008.
Fuchs, Michael: Nationale Ethikräte. Hintergründe, Funkti-
onen und Arbeitsweisen im Vergleich. Berlin 2005.
Galloux, Jean-Christophe/Mortensen, Arne Thing/De Che-
veigné, Suzanne/Allandsdottir, Agnes/Chatjouli, Aigli/
Sakellaris, George: The institutions of bioethics. In:
Martin W. Bauer/George Gaskell (Hg.): Biotechnology.
The Making of a Global Controversy. Cambridge, Mass.
2002, 129–148.
Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung – eine Einfüh-
rung. Berlin ²2010.
Jennings, Bruce: Liberale Autonomie und bürgerliche In-
terdependenz: Politische Kontexte angewandter Ethik.
In: Matthias Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politi-
kum. Frankfurt a. M. 2000, 51–75.
Jung, Corinna: Ethische Entscheidungen in der Politik. Die
Bedeutung von Kommissionen für die politische Debatte
über Patientenverfügungen. Stuttgart 2011.
421

9. Technische Bildung len technischen Bildung (etwa im Sinne einer beruf-


lichen Ausbildung oder entsprechender Studien-
gänge). Der damit verbundene Formenreichtum
Technische Bildung (Technikbildung) umfasst Ver- technischer Bildung reicht von spontan-unsystema-
lauf wie Resultat jener Prozesse, deren Zweck die tischen (z. B. durch mediale Darstellungen etwa in
Vermittlung bzw. Aneignung von Kenntnissen über Form von Werbung, durch Gebrauch technischer
technische Sachsysteme sowie deren Entstehung Sachsysteme oder durch Erfahrungstransfers) über
und Verwendung in lebensweltlichen Zusammen- mehr oder weniger systematische Formen für An-
hängen ist. Ziel ist ein über das sinnlich Erfassbare eignungsprozesse (z. B. durch Vorträge, Publikatio-
hinausgehendes Verständnis von Technik (Wissen nen oder Filme) bis hin zu curricular-organisierten,
als Einsichten in technische Strukturen und Pro- systematischen Bildungs-, Ausbildungs- und Wei-
zesse) sowie die Ausprägung entsprechender Kom- terbildungsprozessen (die vor allem in allgemeinbil-
petenzen im Umgang mit ihr (Können als technisch denden und Berufsschulen sowie in Fachhochschu-
relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten). Damit hat len und Universitäten stattfinden).
technische Bildung ein »emanzipatorisches Poten- Im Folgenden wird vornehmlich der Bereich der
zial«, ist sie doch eine notwendige Bedingung für ein technischen Allgemeinbildung betrachtet, da dieser
selbstbestimmtes Leben in einer technischen bzw. inhaltlich wie methodisch bislang am umfassends-
technisierten Lebenswelt. Sie bietet Orientierungs- ten reflektiert und  – wenn auch unterschiedlich  –
wissen als Lebens- und Entscheidungshilfe für zu- begründet wurde. Weitgehend konsensfähig dürfte
künftiges technikbezogenes Handeln und Verhalten dafür die Auffassung sein, dass diese Form der tech-
und ist somit gegen Techno- und Expertokratie ge- nischen Bildung ein breit in der Gesellschaft veran-
richtet. kertes, im besten Sinne kritisches Verständnis der
Technik ist ein bedeutender, weil wirkmächtiger Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen von
Bestandteil menschlichen Lebens und der Kultur al- Technik mit ihren sozialen und kulturellen Implika-
ler Menschen. Sie hat einen hohen Stellenwert für tionen bezeichnet und sich damit von technischer
die gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Spezialbildung  – z. B. in Form von technikwissen-
Entwicklung in Deutschland, Europa und weltweit. schaftlichen Studiengängen – durch einen generalis-
Trotz dieser herausragenden Rolle haben Technik tischen, umfassenderen Anspruch unterscheidet. Da
und Technologie im Prozess der allgemeinen Men- Technikentstehung wie -verwendung stets im Rah-
schenbildung eine eher untergeordnete Rolle ge- men bestehender Systeme von (oftmals konfligie-
spielt  – und spielen sie noch heute. Bildungskon- renden) Werten und Zielen (s. Kap. IV.A.11), inner-
zepte sparen den Bereich ›des Technischen‹ oftmals halb allgemeiner (gesellschaftlicher) Rahmenbedin-
aus oder reduzieren ihn auf das ›Naturwissenschaft- gungen und individueller Dispositionen erfolgen,
liche‹. Das hat Wurzeln und Traditionen im neuhu- muss Technikbildung auch so etwas wie Technikbe-
manistischen Bildungsanspruch. wertung einschließen.
Bildung ist ein sprachlich, kulturell und historisch
bedingter Begriff mit einem sehr komplexen Be-
griffsinhalt und -umfang. Da das Bildungsverständ- Wurzeln technischer Bildung
nis vom kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext
abhängt, gibt es keine einheitliche Definition des Seine Wurzeln hat technischer Unterricht Ende des
Bildungsbegriffs. Wissen, Intellektualität, Selbstbe- 19. Jahrhunderts vor allem im Handarbeitsunter-
stimmung, Mündigkeit und Kultiviertheit stehen für richt der zunächst zwischen Jungen und Mädchen
Bildung – doch auch Individualität und Persönlich- getrennt erfolgte. Während Mädchen in den Volks-
keit spielen eine große Rolle. Bildung ist ein Kon- und Fortbildungsschulen unter Anleitung zur An-
strukt, das zu den Grundrechten der Menschen ge- eignung gewisser Fertigkeiten im Stricken, Häkeln,
hört und nur in Relation zum unmittelbaren Umfeld Nähen, Flicken, Sticken, Klöppeln, aber auch im
bewertet und gesehen werden kann. Strohflechten und Holzschnitzen angeregt wurden,
Technische Bildung bezieht sich sowohl auf die vervollkommneten Jungen im Rahmen der Knaben-
Technik ›als Ganzes‹ im Sinne einer technischen All- handarbeit technisches Handeln in Schülerwerkstät-
gemeinbildung (»technologische Aufklärung« im ten.
Sinne von Günter Ropohl 1973) wie auf jeweils spe- Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nannte eine Rich-
zifische technische Bereiche im Sinne einer speziel- tung der deutschen Reformpädagogik ihr Reform-
422 VI. Technikethik in der Praxis

projekt »Arbeitsschule«, wobei der Begriff sehr he- Neben der sachgerechten Entwicklung motori-
terogen verstanden wurde. Zu einer besonderen scher Fertigkeiten geht es um ästhetische Gestaltung.
Entfaltung der technischen Bildung führten die Zugleich geht es um die Herstellung nützlicher Ge-
Schulreformen in der DDR. Mit Beginn der 1960er genstände unter schulischen Rahmenbedingungen.
Jahre wurde der polytechnische Unterricht zu einem Orientierung an technisch-konstruktiver Tätigkeit:
der Hauptmerkmale des Schulsystems der DDR. In Ein noch stärker am technischen Handeln als pro-
der für alle Schülerinnen und Schüler verpflichten- blemlösendes Tätigsein ausgerichtetes Modell fin-
den Polytechnischen Oberschule (POS) wurden Ler- den wir im Konzept des Designs. Dabei darf Design
nen und Arbeiten miteinander verschränkt und vor nicht nur auf ästhetische Aspekte von Industriepro-
allem produktionstechnische Inhalte thematisiert. dukten reduziert werden, sondern ist ein »gestal-
In den alten Bundesländern konnte in den 1970er tungsbezogener Ansatz« (vgl. Graube/Theuerkauf
Jahren Arbeitslehre als Unterrichtsfach vor allem zur 2002). Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung von
Reform der Volksschulen und im Prozess der Bil- Kreativität und Problemlösefähigkeit im Rahmen fi-
dung von Gesamtschulen eingeführt werden (vgl. naler Aufgabenstellungen auf der Basis der Zweck-
Meier 2012). Mittel-Relation. Akzentuiert wird vor allem das Ent-
wurfshandeln.
In der Planungsphase geht es um die Auswahl der
Konzepte und Modelle technischer Aufgabe und um die Formulierung des Entwick-
(Allgemein-)Bildung lungsauftrags. Das Konzipieren umfasst das Präzi-
sieren der Aufgabe, das Ableiten von Teilaufgaben
Technische Bildung ist heute sowohl in Deutschland und von entsprechenden Prinzipien zu ihrer Lösung
als auch international im Bereich der Allgemeinbil- sowie deren Kombination. Im Zentrum des Entwer-
dung überaus heterogen konzeptioniert. Die Kon- fens geht es um einen ersten maßstäblichen Entwurf,
zepte einer allgemeinen technischen Bildung stützen um dessen technisch-wirtschaftliche Bewertung so-
sich auf unterschiedliche Begründungszusammen- wie gegebenenfalls um optimierte Entwürfe. Die
hänge und verfolgen differenzierte Intentionen. Die Phase des Ausarbeitens beinhaltet das Gestalten und
Orientierungs- bzw. Ausgangspunkte der wichtigsten Optimieren der Einzelteile ebenso, wie die Erstel-
und einflussreichsten Konzepte der Gegenwart wer- lung der Ausführungsunterlagen. Das Realisieren
den nachfolgend kurz charakterisiert (vgl. Graube/ leitet dann zum Prozess Herstellung über.
Theuerkauf 2002; Meier 2011; Vries 1994, 2003). Orientierung an Schlüsselkompetenzen: Andere
Handarbeitsorientierung: Eine stärkere Ausrich- Modelle wiederum heben weitgehend von den kon-
tung auf manuelle Produktion im Rahmen hand- kreten Inhalten ab und setzen auf Schlüsselkompe-
werklicher Arbeiten unter Nutzung von vornehm- tenzen (key competencies) im Rahmen des techni-
lich Holzwerkstoffen finden wir in der Tradition des schen Handelns. Im Zentrum der Bildungsanstren-
Werkunterrichts in Deutschland bzw. der finnischen gungen steht die Entwicklung von Handlungs- und
Tradition von Sloyd (craft-oriented). Der Name ist Lernstrategien.
abgeleitet vom schwedischen Slöjd (Fingerfertigkeit) Dabei sollen Handlungen eingeschlossen werden,
und bedeutete ursprünglich »handwerklich« oder die sich auf das Konzipieren, Entwickeln, Produzie-
»geschickt«. Er bezieht sich auf die Herstellung von ren, Nutzen und Entsorgen sowie die Bewertung
Kunsthandwerk, vor allem aus Holz, aber auch technischer Artefakte beziehen. Orientierung bietet
durch Papierfalten und Nähen von Textilien. der Produkt-Lebenszyklus mit seinen verschiedenen
Einen wichtigen Schwerpunkt bildete die exakte Prozesselementen und technischen Handlungen
Ausführung von Arbeitstätigkeiten auf der Basis zu- (vgl. auch Graube 2009).
vor in Demonstrationen herausgestellter Griff-, Eine besondere Rolle nimmt der Umgang mit
Stell- und Bewegungselemente. Die wesentlichen technischen Kommunikationsmitteln im Rahmen
Ziele sind auf die Entwicklung der jungen Person, dieser Konzepte ein. Dabei geht es sowohl um das
ihrer Kreativität, Arbeitshaltung und ihrer geistigen Lesen von Skizzen und technischen Zeichnungen
Entwicklung gerichtet. Handarbeit wird als hohes sowie auch um das Anfertigen technischer Skizzen.
Gut für die Persönlichkeitsentwicklung erachtet, Eine besondere Konzentration erfolgt auf allgemein
weil es nicht wichtig erscheint, was der junge anwendbare Qualifikationen wie Team- und Kom-
Mensch mit dem Material macht, sondern was das munikationsfähigkeit, Gestaltungsfähigkeit, Wahr-
Material ihm oder ihr ermöglicht. nehmungsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Medien-
9. Technische Bildung 423

kompetenz, Planungskompetenz und die Fähigkeit Das Modell findet in modifizierter Form auch
zum lebenslangen Lernen. heute noch Anwendung. Dabei erfolgt vor allem
Orientierung an technischen Problem- und Hand- eine Konzentration auf ausgewählte spezielle Tech-
lungsfeldern: Die Orientierung an technisch gepräg- nologien, insbesondere Automatisierungstechnik. In
ten Problem- und Handlungsfeldern ist eine Form diesem Fall wird vornehmlich von engineering ge-
des Situationsansatzes. Das Modell akzentuiert be- sprochen.
sonders das Subjekt im Aneignungsprozess und Orientierung an Zukunftstechnologien bzw. Basis-
sieht von einer fachwissenschaftlichen Systematik innovationen: Aktuelle Konzepte setzen stärker auf
ab. Eine Strukturierung erfolgt im Rahmen des Mo- moderne Technologien (vgl. Meier 2001). Multi-
dells an individuell und gesellschaftlich bedeutsa- media, Gen-, Nano- und Solartechnologien, Um-
men Problem- und Handlungsfeldern wie Arbeit welt- und Mikrosystemtechnik – so heißen die Basis-
und Produktion, Bauen und Wohnen, Versorgung innovationen, die nach Meinung von Ingenieuren,
und Entsorgung, Transport und Verkehr, Informa- Naturwissenschaftlern, Ökonomen und Zukunfts-
tion und Kommunikation und später auch noch forschern das 21. Jahrhundert prägen werden. Ein-
Haushalt und Freizeit. zeln oder im Verbund können diese Technologien
Die Mehrperspektivität ist gegeben durch (vgl. unsere Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftswelt maß-
z. B. Sachs 1979): geblich verändern, indem sie neue Märkte schaffen
• Kenntnis- und Strukturperspektive: Perspektive und alte, bestehende Branchen grundlegend umge-
technischer Kenntnisse und sachstruktureller stalten. Derartige Umwälzungen enthalten Potenzial
Einsichten für gigantische Produktionsschübe ebenso wie für
• Handlungsperspektive: Perspektive technikbezo- Zukunftsunsicherheit und Angst. Sie können das
gener Fähigkeiten und Fertigkeiten Wirtschaftswachstum über Jahrzehnte tragen, Ar-
• Problem- und Bewertungsperspektive: Perspek- beitsplätze vernichten und neue schaffen. Problema-
tive der Bedeutung und Bewertung der Technik tisch für den Unterricht ist, dass moderne Technolo-
gien sich durch eine gegenüber dem klassischen In-
Da diese Perspektiven im Grunde nicht weit über dustriezeitalter noch einmal deutlich gesteigerte
Positionen zur Allseitigkeit der Persönlichkeitsent- Komplexität der eingesetzten Wirkzusammenhänge
wicklung bezüglich des Wissens, Könnens und der auszeichnen. Somit besteht die Gefahr, dass Schüle-
Erziehung im engeren Sinne oder der Ausbildung rinnen und Schüler überfordert werden oder unzu-
von Kopf, Hand und Herz hinausgehen, versuchte lässige Vereinfachungen vorgenommen werden.
Bernd Meier, weitere Perspektiven zur Betrachtung Orientierung am Zusammenhang von Naturwis-
soziotechnischer Zusammenhänge aufzuzeigen (vgl. senschaft, Technik und Gesellschaft: Das Konzept von
Meier 1999). STS (Science  – Technology  – Society) betont den
Orientierung an Industrie und Produktion: Beson- Zusammenhang von Naturwissenschaft, Technik/
ders in den ehemaligen sozialistischen Ländern do- Technologie und Gesellschaft. Damit wird der Cha-
minierte eine Orientierung der Inhaltskonzepte an rakter der Technik als natürliche und gesellschaftli-
Industrie und Produktion. Ausgehend von der Stel- che Erscheinung aufgegriffen und der Gedanke der
lung der Produktion im gesellschaftlichen Repro- Interdisziplinarität verstärkt. Inhaltlich geht es um
duktionsprozess wurden Elemente der Fertigungs-, eine Integration von ökonomischen, ethischen, sozi-
Maschinen-, Elektro- und Automatisierungstechnik alen und politischen Aspekten in der Auseinander-
in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt. Bezüg- setzung mit technologischen Entwicklungen.
lich der Fertigungsarten wurde besonders die mo- Bei STS handelt es sich um einen in didaktischer
derne Massenproduktion thematisiert. Absicht konstruierten Gegenstandsverbund, der von
Die Inhaltsauswahl war vor allem fachwissen- gesellschaftlichen Problemen ausgehend den Ler-
schaftlich orientiert. Im Zentrum stand die Profilie- nenden die spezifischen (naturwissenschaftlich-)
rung einer allgemeinen Techniklehre mit klaren Ele- fachlichen Zugänge eröffnet (hier: science = Natur-
menten, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten. Es ging wissenschaften) und zugleich die Rolle von Technik
darum, konkrete Einblicke in die materielle Produk- und Technologie in unserer Zeit thematisiert. Das
tion zu vermitteln und Interessen für eine spätere Modell ist in erster Linie darauf gerichtet, den na-
berufliche Bildung in diesem Bereich zu wecken. turwissenschaftlichen Unterricht durch konkrete
Der Beitrag des vermittelten Wissens zur Bewälti- Anwendungsbezüge interessanter zu gestalten. An-
gung des Alltags war untergeordnet. dererseits folgen neuere Rahmenpläne für eine ar-
424 VI. Technikethik in der Praxis

beitsorientierte Allgemeinbildung dieser integrati- Ansatz auch als systemtheoretischer Ansatz bezeich-
ven Betrachtung von bedeutsamen Problemen der net. Unterschieden werden Systeme des Stoff-, Ener-
Menschheit unter naturwissenschaftlich-technischer, gie- und Informationsumsatzes sowie die technolo-
ökonomisch-ökologischer und politisch-sozialer Per- gischen Grundfunktionen Wandeln, Transportieren,
spektive. Der Kerngedanke ist, dass nur über Arbeit Speichern. Aus der Kombination der verschiedenen
menschliche Bedürfnisse befriedigt werden können. Arbeitsgegenstände und den technologischen
Insofern besteht eine Interdependenz zwischen Ar- Grundfunktionen entsteht eine Matrix mit neun Fel-
beit, Technik und Wirtschaft, die ökologische, sozi- dern.
ale, politische und ethische Aspekte mit einschließt. Horst Wolffgramm beschäftigt sich neben den
Einen besonderen Schwerpunkt bildet hierbei ei- technologischen Vorgängen mit der Theorie techni-
nerseits die materielle Kultur (vgl. Ropohl 2004) im scher Systeme. Aus der Analyse technischer Systeme
Zusammenhang von Bedürfnis – Arbeit – Technik – verallgemeinert er acht technische Grundfunktio-
Wirtschaft – Gesellschaft. Akzentuiert werden ande- nen: Bearbeitungs-, Übertragungs-, Führungs-,
rerseits Technikbewertung (s. Kap. VI.6) und Tech- Positionierungs-, Antriebs-, Steuerungs-, Optimie-
nikfolgenabschätzung (s. Kap. VI.4). rungs- und Stützfunktion.
Orientierung an einem Verständnis von Technik als
angewandte Naturwissenschaft: Obwohl in der tech-
nikwissenschaftlichen und technikphilosophischen Technik als Bildungsgut
Diskussion die verengte Auffassung von Technik als
angewandte Naturwissenschaft längst überwunden So vielfältig technische Bildung sich auch darstellt,
ist, wird im Rahmen allgemeinbildender Konzepte sie reduziert(e) sich nie allein auf das ›Beschreiben‹
noch immer die Eigenständigkeit der Technik igno- oder ›Erklären‹ von technischen Sachsystemen oder
riert. Ausdruck dessen sind Konzepte, Technik als deren (natur-)wissenschaftlicher Grundlagen bzw.
angewandte Naturwissenschaft (applied science) zu den Umgang mit ihnen. Allein dadurch, dass sie
interpretieren. deren Beziehungen zu Herstellungs- und Verwen-
Im Mittelpunkt steht eine stärker auf Aufbau- dungszusammenhängen thematisiert, ›transzendiert‹
Funktions-Beziehungen gerichtete kausale Betrach- sie das unmittelbar Technische und dringt in den
tung technischer Gebilde. Typische Denk- und Ar- Bereich sozio-technischen Wissens vor, bezieht
beitsweisen der Technik werden nicht hinreichend Ökonomisches, Ökologisches, Soziales, Politisches,
berücksichtigt. Rechtliches, Historisches, Ethisches usw. ein. Tech-
Orientierung an der Allgemeinen Technologie: In nische Bildung setzt am Konkreten an: an techni-
dem Bestreben um die Schaffung von Grundlagen schen Sachsystemen, an technischen Entwicklungen
einer allgemeinen Techniklehre wurden vor allem in bzw. Entwicklungstendenzen, an technikbasierten
Deutschland Arbeiten zur Schaffung einer Allge- (Groß-)Ereignissen (seien es Erfolge oder auch
meinen Technologie vorgelegt (vgl. z. B. Banse 1997; Misserfolge), an technikbezogenen Entscheidungen
Ropohl 1979, 1999, 2009; Wolffgramm 1978, 1994/ oder an sogenannten Technikkonflikten. Sie will
1995), die auch die Entwicklung von Schulcurricula (oder sollte) jedoch das so Vermittelte bzw. Angeeig-
beeinflussten (vgl. Fast/Meier 2008). nete (zumindest ansatzweise) zu generalisierten, all-
Die Allgemeine Technologie befasst sich mit dem gemeintechnischen Einsichten weiter- und zusam-
Vergleich technologischer Prozesse und ihrer Be- menführen. Damit ist ein breites Spektrum werten-
standteile auf unterschiedlichen Hierarchieebenen der Aussagen bzw. Stellungnahmen verbunden, die
und strukturellen Niveaus mit dem Ziel, das All- sich sowohl auf die Voraussetzungen wie auf die
gemeine und Wesentliche technologischer Erschei- Nutzung technischer Sachsysteme, auf Gelingens-
nungen zu erfassen, um Gesetzmäßigkeiten zu wie auf Misslingensbedingungen der Erzeugung wie
erkennen und Prinzipien, Vorschriften, Empfeh- des Gebrauchs von Technik gleichermaßen bezie-
lungen und Methoden zur Gestaltung der materiell- hen. Technische Bildung hilft, »die Verwicklungen,
technischen Seite des Produktionsprozesses für die die die Lebenssituation des modernen Menschen so
Anwendung bereitzustellen, deren Aussagen für alle gewagt, widersprüchlich, verfänglich machen […]
bzw. eine abgrenzbare Summe technologischer Pro- nach ihrem Wie und Warum durchschaut« (Litt
zesse gültig sind (vgl. Banse/Reher 2008). 1957, 95). So verstandene wie ›praktizierte‹ techni-
Typisch für allgemeintechnologische Ansätze sche Bildung ist geeignet, die vielbeschworene – und
sind systemische Betrachtungen. Deshalb wird der noch mehr zitierte – ›Kluft‹ zwischen den sogenann-
9. Technische Bildung 425

ten »zwei Kulturen« zu überwinden (vgl. Snow Hubig, Christoph/Reidel, Johannes (Hg.): Ethische Inge-
1967), besser: gar nicht erst entstehen zu lassen. nieurverantwortung. Handlungsspielräume und Perspek-
tiven der Kodifizierung. Berlin 2003.
Allgemeine technische Bildung umfasst nicht nur
Litt, Theodor: Technisches Denken und menschliche Bil-
unmittelbar Technik bezogenes ›Sachwissen‹ vor al- dung. Heidelberg 1957.
lem in Form von funktionalem und strukturalem Meier, Bernd: Grundstrukturen der Ausbildung von Lehr-
Regelwissen, technologischem Gesetzeswissen sowie kräften. In: Dydaktyka techniki [Technikdidaktik]. Zie-
soziotechnologischem Systemwissen. Sie schließt lona Gora 1999, 121–136.
unverzichtbar auch ›Orientierungs-‹ und ›Hand- – : Zukunft der Technik: Zukunftstechnologien. In: Unter-
richt: Arbeit + Technik 9 (2001), 58–59.
lungswissen‹ ein, denn die Bewertung von Technik, – : Спецдидактика Техники. Методы и процессы учения
ihrer Entwicklungen und ihre Folgen ergibt sich и обучения (Fachdidaktik Technik. Methoden und
nicht aus dem Sachwissen, sondern bedarf normati- Techniken des Lernens und Lehrens). Berlin/Moskau
ver Prämissen und ethischer Überlegungen. Deshalb 2011 (russ.).
weisen vielfältige Bemühungen auf allen Ebenen – : Von der polytechnischen Bildung und Erziehung zur
Arbeitslehre  – Probleme der technischen Bildung aus
technischer Bildung in diese Richtung. Machbar- historischer und nationaler Perspektive. In: Ders. (Hg.):
keitsstudien, Risikoanalysen, Kosten-Nutzen-Abwä- Arbeit und Technik in der Bildung. Modelle arbeitsorien-
gungen, multikriterielle Entscheidungsfindungen, tierter technischer Bildung im internationalen Kontext.
Lebenszyklusbetrachtungen, Akzeptabilitätsabschät- Frankfurt a. M. 2012, 33–60.
zungen, Ökobilanzierungen, Technikfolgenbewer- Ropohl, Günter: Gesellschaftliche Perspektiven und theo-
retische Voraussetzungen einer technologischen Aufklä-
tungen, die Berücksichtigung von Nachhaltigkeits- rung. In: Hans Lenk (Hg.): Technokratie als Ideologie. So-
erfordernissen u. a. sind derartige ›nicht-technische‹ zialphilosophische Beiträge zu einem politischen Di-
Bestandteile technischer Bildung in der allgemein- lemma. Stuttgart 1973, 223–233.
bildenden Schule wie im Ingenieurstudium (vgl. z. B. – : Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der All-
VDI 1990, 1991). Sie umfassen aber auch die Refle- gemeinen Technologie. München/Wien 1979 (München/
Wien 21999, Karlsruhe 32009  – jeweils als Allgemeine
xion des Verhältnisses der eigenen Arbeit zur gesell- Technologie. Eine Systemtheorie der Technik).
schaftlichen Praxis. An dieser Stelle setzt etwa die – : Arbeits- und Techniklehre. Berlin 2004.
Ingenieursethik als allgemeine Befassung mit der Sachs, Burkhard: Skizzen und Anmerkungen zur Didaktik
Verantwortung von Technikentwicklern (Technik- eines mehrperspektivischen Technikunterrichts. In:
wissenschaftler, Ingenieure; s. Kap. III.7) z. B. durch Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität
Tübingen (Hg.): Technik. Ansätze für eine Didaktik des
einen Ethik-Kodex ein (vgl. Hubig/Reidel 2003).
Lernbereichs Technik. Fernstudienlehrgang Arbeitslehre.
Technische Bildung hat die heterogenen Anforde- Studienbrief zum Fachgebiet Technik. Tübingen 1979,
rungen an ›gute‹ technische Lösungen sichtbar zu 41–80.
machen – aber auch, dass diese ›Güte‹ nur zu einem Snow, Charles Percy: Die zwei Kulturen. Literarische und
Teil von der Erfüllung technischer Kriterien, zu ei- naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart 1967 (engl.
1959).
nem anderen Teil von der Berücksichtigung außer-
Spur, Günter: Technologie und Management. Zum Selbstver-
technischer Anforderungen abhängt. ständnis der Technikwissenschaft. München/Wien 1998.
VDI – Verein Deutscher Ingenieure: Empfehlung des VDI
zur Integration fachübergreifender Studieninhalte in das
Literatur Ingenieurstudium. Düsseldorf 1990.
Banse, Gerhard (Hg.): Allgemeine Technologie zwischen – : Richtlinie 3780 »Technikbewertung – Begriffe und Grund-
Aufklärung und Metatheorie. Johann Beckmann und die lagen«. Düsseldorf 1991.
Folgen. Berlin 1997. Vries, Marc de: Technology education in Western Europe.
– /Reher, Ernst-Otto: Verallgemeinertes Fachwissen und In: David Layton (Hg.): Innovations in Science and Tech-
konkretisiertes Orientierungswissen zur Technologie  – nology Education. Bd. V. Paris (UNESCO) 1994, 31–45.
ein Überblick zum erreichten Stand und zu weiteren – : School technology in Europe in the early twenty first
Aufgaben. In: Dies. (Hg.): Allgemeine Technologie – ver- century: towards a closer relationship with science edu-
allgemeinertes Fachwissen und konkretisiertes Orientie- cation. In: Edgar W. Jenkins (Hg.): Innovations in Science
rungswissen zur Technologie. Berlin 2008, 21–39. and Technology Education. Bd. VIII. Paris (UNESCO)
Fast, Ludger/Meier, Bernd: Über Technik kommunizieren. 2003, 229–248.
In: Unterricht: Arbeit + Technik 39 (2008), Einhefter, Wolffgramm, Horst: Allgemeine Technologie. Elemente,
1–20. Strukturen und Gesetzmäßigkeiten technologischer Sys-
Graube, Gabriele: Kommunikation und Technik. Ein syste- teme. Leipzig 1978 (Hildesheim 21994/1995 als Allge-
mischer Ansatz Technischer Bildung. Göttingen 2009. meine Techniklehre. Elemente, Strukturen und Gesetzmä-
– /Theuerkauf, Walter E. (Hg.): Technische Bildung  – An- ßigkeiten. Bd. 1 u. 2: Allgemeine Technologie. 2 Teile).
sätze und Perspektiven. Frankfurt a. M. 2002. Gerhard Banse und Bernd Meier
427

VII. Anhang

1. Auswahlbibliographie Frey, Raymond G./Wellman, Christopher (Hg.): A


Companion to Applied Ethics. Oxford/Boston 2004.
Hubig, Christoph/Huning, Alois/Ropohl, Günter
Die Themen der Technikethik erstrecken sich über (Hg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der
einen so weiten Bereich, dass es für die meisten An- Technikphilosophie. Berlin 2000.
liegen sinnvoll ist, sich auf die jeweilige Speziallitera- Illes, Judy/Sahakian, Barbara: Oxford Handbook of
tur zu konzentrieren. Diese findet sich in den Litera- Neuroethics. Oxford 2011.
turangaben zu den einzelnen Beiträgen des Hand- Korff, Wilhelm (Hg.): Lexikon der Bioethik. Gü-
buchs. Die folgende Bibliographie bietet ergänzend tersloh 2000.
dazu eine Auswahl von Büchern: LaFollette, Hugh (Hg.): The Oxford Handbook of
• allgemein zur Angewandten Ethik, insofern es Practical Ethics. Oxford/New York 2003.
sich um benachbarte Bereiche der Technikethik Meijers, Antonie (Hg.): Philosophy of Technology and
handelt, Engineering Sciences. Amsterdam 2009.
• zur Technikphilosophie, insofern sie für techni- Mitcham, Carl (Hg.): Encyclopedia of Science, Tech-
kethische Fragen relevant sind. nology, and Ethics. Detroit et al. 2005.
Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Angewandte Ethik. Die
Literatur zu den Kapiteln dieses Handbuchs wird an Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung.
dieser Stelle in der Regel nicht eigens genannt. Die Ein Handbuch. Stuttgart 22005.
Auswahl versucht, geordnet nach Nachschlagewer- Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hg.): Handbuch
ken und Einführungen bzw. Monographien mit ein- Medienethik. Wiesbaden 2010.
führendem Charakter, einen ausgewogenen Über- Singer, Peter A./Viens, Adrian M. (Hg.): The Cam-
blick zu geben, muss aber freilich stark selektiv blei- bridge Textbook of Bioethics. Cambridge u. a. 2008.
ben. Steinbock, Bonnie (Hg.): The Oxford Handbook of
Bioethics. Oxford/New York 2007.
Stoecker, Ralf/Neuhäuser, Christian/Raters, Marie-
Handbücher und Nachschlagewerke Luise (Hg.): Handbuch Angewandte Ethik. Stutt-
gart/Weimar 2011.
Aßländer, Michael S. (Hg.): Handbuch Wirtschafts-
ethik. Stuttgart/Weimar 2011.
Barber, Nigel (Hg.): Encyclopedia of Ethics in Science Einführungen
and Technology. New York 2002.
Bröchler, Stephan/Schützeichel, Rainer (Hg.): Poli- Ach, Johann S./Bayertz, Kurt/Siep, Ludwig: Grund-
tikberatung. Stuttgart 2008. kurs Ethik. Bd. 2. Paderborn 2011.
Bröchler, Stephan/Simonis, Georg/Sundermann, Asveld, Lotte/Roeser, Sabine (Hg.): The Ethics of
Karsten (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschät- Technological Risk. London 2008.
zung. 3 Bde. Berlin 1999. Brenner, Andreas: UmweltEthik. Fribourg 2008.
Callicott, J. Baird/Frodeman, Robert (Hg.): Encyclo- Crane, Andrew/Matten, Dirk: Business Ethics. Ox-
pedia of Environmental Ethics and Philosophy. De- ford u. a. 2010.
troit et al. 2009. Durbin, Paul/Lenk, Hans (Hg.): Technology and Re-
Chadwick, Ruth (Hg.): The Concise Encyclopedia of sponsibility. Dordrecht 1987.
the Ethics of New Technologies. San Diego et al. Düwell, Marcus: Bioethik: Methoden, Theorien und
2001. Bereiche. Stuttgart/Weimar 2008.
– /Callahan, Dan/Singer, Peter (Hg.): Encyclopedia of Fenner, Dagmar: Einführung in die Angewandte
Applied Ethics. London 1997. Ethik. Tübingen 2010.
Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha Fleddermann, Charles B.: Engineering Ethics. Upper
H. (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart/Weimar 32011. Saddle River, NJ 42011.
428 VII. Anhang

Grunwald, Armin: Technikfolgenabschätzung. Eine Pieper, Annemarie/Thurnherr, Urs (Hg.): Ange-


Einführung. Berlin ²2010. wandte Ethik: Eine Einführung. München 1998.
– /Kopfmüller, Jürgen: Nachhaltigkeit. Frankfurt a. M. Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie.
2012. Freiburg 1978.
Harris, Charles E./Pritchard, Michael S./Rabins, Mi- – : Dynamik der modernen Welt. Einführung in die
chael J.: Engineering Ethics: Concepts and Cases. Technikphilosophie. Frankfurt a. M. 1994.
Belmont 42008. Ropohl, Günter: Ethik und Technikbewertung.
Homann, Karl/Lütge, Christoph: Einführung in die Frankfurt a. M. 1996.
Wirtschaftsethik. Münster 2004. Schöne-Seifert, Bettina: Grundlagen der Medizin-
Hubig, Christoph: Technik- und Wissenschaftsethik. ethik. Stuttgart 2007.
Ein Leitfaden. Berlin u. a. ²1995. Van de Poel, Ibo/Royakkers, Lamber: Ethics, Techno-
Knoepffler, Nikolaus: Angewandte Ethik: Ein syste- logy, and Engineering: An Introduction. New York
matischer Leitfaden. Köln 2009. 2011.
Lenk, Hans/Ropohl, Günter (Hg.): Technik und Vieth, Andreas: Einführung in die Angewandte Ethik.
Ethik. Stuttgart 1993. Darmstadt 2006.
Mitcham, Carl: Thinking Through Technology: The Wiesemann, Claudia/Biller-Andorno, Nikola: Medi-
Path Between Engineering and Philosophy. Chi- zinethik. Stuttgart 2005.
cago 1994. Wuketits, Franz M.: Bioethik: Eine kritische Einfüh-
Nordmann, Alfred: Technikphilosophie zur Einfüh- rung. München 2006.
rung. Hamburg 2008.
Ott, Konrad: Umweltethik zur Einführung. Hamburg
2010.
429

2. Die Autorinnen und Autoren Instituts für Technologie (II.5 Technikfolgen; V.21
Robotik).
Neelke Doorn, Dr., Assistent Professor, Technology,
Johann S. Ach, Priv.-Doz. Dr., ist Geschäftsführer Policy and Management an der Delft University
des Centrums für Bioethik an der Westfälischen of Technology (IV.B.7 Überlegungsgleichgewicht).
Wilhelms-Universität Münster (V.8 Human En- Ole Döring, PD Dr. phil, Direktor des SIGENET-
hancement; V.14 Medizintechnik). Health am Horst-Görtz-Stiftungsinstitut für
Stephan Albrecht, Dr., Privatdozent, FSP BIOGUM, Theorie und Ethik Chinesischer Lebenswissen-
Universität Hamburg (V.1 Agrartechnik). schaften an der Charité Universitätsmedizin Ber-
Jürgen Altmann, Dr., Privatdozent, Experimentelle lin (IV.C.9 Globalisierung und Interkulturalität).
Physik III, Universität Dortmund (V.15 Militär- Bert Droste-Franke, Dr., wissenschaftlicher Mitar-
technik). beiter an der Europäischen Akademie GmbH Bad
Gerhard Banse, Professor am Institut für Technikfol- Neuenahr-Ahrweiler (V.5 Energie).
genabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Dominik Düber, M.A., wissenschaftlicher Mitarbei-
Karlsruher Instituts für Technologie (II.3 Sicher- ter der DFG-Kolleg-Forschergruppe 1209 »Theo-
heit; VI.9 Technische Bildung). retische Grundfragen der Normenbegründung in
Kurt Bayertz, Professor für Philosophie an der West- Medizinethik und Biopolitik« an der Westfäli-
fälischen Wilhelms-Universität Münster (IV.A.2 schen Wilhelms-Universität Münster (V.14 Medi-
Marxistische Technikphilosophie). zintechnik).
Udo Becker, Prof. Dr.-Ing. an der Fakultät Verkehrs- Marc Dusseldorp, Dipl.-Geoökol., wissenschaftli-
wissenschaften »Friedrich List« Lehrstuhl für cher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenab-
Verkehrsökologie an der Technischen Universität schätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsru-
Dresden (V.17 Mobilität und Verkehr). her Instituts für Technologie (VI.4 Technikfol-
Gregor Betz, Jun.-Prof. am Institut für Philosophie genabschätzung).
des Karlsruher Instituts für Technologie (V.2 Cli- Marcus Düwell, Professor am Ethiek instituut der
mate Engineering). Universität Utrecht (IV.B.5 Deontologische
Dieter Birnbacher, Professor für Philosophie an der Ethik).
Heinrich Heine Universität Düsseldorf (IV.B.4 Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltig-
Utilitarismus; V.11 Kernenergie). keit und Klimapolitik in Leipzig sowie Professor
Alexander Bogner, Dr., Privatdozent am Institut für für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an
Technikfolgenabschätzung der Österreichischen der Universität Rostock (IV.B.1 Menschenrechte;
Akademie der Wissenschaften (VI.8 Ethikkom- IV.B.10 Nachhaltigkeit).
missionen). Klaus Erlach, Dr. phil., Gruppenleiter für Fabrikpla-
Joachim Boldt, Dr., Privatdozent am Institut für nung und Produktionsoptimierung am Fraunho-
Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert- fer Institut für Produktionstechnik und Automa-
Ludwigs-Universität Freiburg (V.23 Synthetische tisierung IPA Stuttgart (IV.A.1 Antike Technik-
Biologie). philosophie).
Stefan Böschen, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter Waltraud Ernst, Dr., Universitätsassistentin am In-
am Institut für Technikfolgenabschätzung (ITAS) stitut für Frauen- und Geschlechterforschung der
des Karlsruher Instituts für Technologie (V.24 Johannes Kepler Universität Linz (IV.A.7 Femi-
Synthetische Chemie). nistische Technikphilosophie).
Stephan Bröchler, Dr., Privatdozent am Institut für Brigitte Falkenburg, Professorin für Philosophie am
Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen Institut für Philosophie und Politikwissenschaft
(VI.1 Technik- und Innovationspolitik). der Technischen Universität Dortmund (IV.A.9
Christian Calliess, Professor für öffentliches Recht Technikdeterminismus).
und Europarecht an der Freien Universität Berlin Arianna Ferrari, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin
und Mitglied im Sachverständigenrat für Um- am Institut für Technikfolgenabschätzung und
weltfragen der Bundesregierung (SRU) (VI.3 Vor- Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für
sorgeprinzip). Technologie (IV.C.3 Tier und Technik).
Michael Decker, Professor für Technikfolgenab- Martin Führ, Professor für Öffentliches Recht,
schätzung am Institut für Technikfolgenabschät- Rechtstheorie und Rechtsvergleichung an der
zung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Hochschule Darmstadt (VI.2 Technikrecht).
430 VII. Anhang

Sandro Gaycken, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter Regine Kollek, Professorin für Technikfolgenab-
am Institut für Philosophie, Abteilung Technik- schätzung der modernen Biotechnologie in der
philosophie und Wissenschaftstheorie an der Medizin am Forschungsschwerpunkt (FSP) BIO-
Universität Stuttgart (V.22 Sicherheits- und Über- GUM/FG Medizin der Universität Hamburg (V.7
wachungstechnik). Gentechnik).
Gerd Grübler, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter Wolfgang König, Professor für Technikgeschichte
am Philosophischen Seminar; Forschungsstelle am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissen-
Neuroethik/Neurophilosophie an der Universität schafts- und Technikgeschichte der Technischen
Mainz (IV.C.10 Abfall und Technik). Universität Berlin (VI.6 VDI-Richtlinie zur Tech-
Armin Grunwald, Professor für Technikphilosophie nikbewertung).
und Technikethik und Leiter des Instituts für Klaus Kornwachs, Professor für Technikphilosophie,
Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse Büro für Kultur und Technik (II.4 Fortschritt;
(ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie IV.C.4 Kultur und Technik).
(I. Einleitung; II.1 Technik). Bettina-Johanna Krings, M.A., wissenschaftliche
Mathias Gutmann, Professor für Philosophie am In- Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgenab-
stitut für Philosophie des Karlsruher Instituts für schätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsru-
Technologie (IV.A.3 Philosophische Anthropolo- her Instituts für Technologie (IV.C.6 Arbeit und
gie). Technik).
Jessica Heesen, Dr., Leitung der Nachwuchsfor- Rolf-Ulrich Kunze, Professor für neuere und neueste
schungsgruppe »Medienethik in interdisziplinä- Geschichte am Institut für Philosophie des Karls-
rer Perspektive« am Internationalen Zentrum für ruher Instituts für Technologie (III.5 Krise des
Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Univer- Fortschrittsoptimismus).
sität Tübingen (V.9 Information). Simon Ledder, Dipl.-Sozw., Kollegiat im Graduier-
Ludger Heidbrink, Professor für Praktische Philoso- tenkolleg Bioethik, Internationales Zentrum für
phie am Philosophischen Seminar der Christian- Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Univer-
Albrechts-Universität zu Kiel (V.12 Lebensmittel- sität Tübingen (V.3 Computerspiele).
verarbeitung). Wolfgang Liebert, Professor für Sicherheits- und Ri-
Peter Hocke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am In- sikowissenschaften am Institut für Sicherheits-
stitut für Technikfolgenabschätzung und System- und Risikowissenschaften (ISR) der Universität
analyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Tech- für Bodenkultur (BOKU) Wien (III.3 Entwick-
nologie (V.4 Endlagerung hochradioaktiver Ab- lung und Einsatz der Atombombe; IV.C.11 Dual-
fälle). use-Forschung und -Technologien).
Wolfgang E. Höper, Dr., Unternehmer in der Kunst- Stephan Lingner, Dr., stellvertretender Direktor der
stoff verarbeitenden Industrie und Immobilien- Europäischen Akademie GmbH Bad Neuenahr-
wirtschaft (III.4 Asbest). Ahrweiler (V.20 Raumfahrt).
Christoph Hubig, Professor für Philosophie an der Andreas Luckner, Professor für Philosophie an der
Technischen Universität Darmstadt (IV.A.8 Tech- Universität Stuttgart (IV.B.3 Klugheitsethik/Pro-
nik als Medium; IV.B.3 Klugheitsethik/Provisori- visorische Moral).
sche Moral). Beate Lüttenberg, Dr. M.A.E., stellvertretende Leite-
Peter Janich, Professor für Systematische Philoso- rin der Geschäftsstelle des Centrums für Bioethik
phie (IV.A.5 Kulturalistische Technikphilosophie). an der Universität Münster (V.8 Human Enhance-
Georg Kamp, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an ment).
der Europäischen Akademie GmbH Bad Neuen- Alexandra Manzei, Professorin für Methodologie
ahr-Ahrweiler (V.5 Energie). und Qualitative Methoden in der Pflege- und Ge-
Nicole C. Karafyllis, Professorin für Philosophie am sundheitsforschung an der Pflegewissenschaftli-
Seminar für Philosophie der Technischen Univer- chen Fakultät der Philosophisch-theologischen
sität Braunschweig (IV.A.4 Lebensphilosophie; Hochschule Vallendar (IV.A.6 Kritische Theorie
IV.C.1 Leben und Technik). der Technik).
Matthias Kettner, Professor für Praktische Philoso- Matthias Maring, Professor für Philosophie am In-
phie an der Fakultät für Kulturreflexion der stitut für Philosophie des Karlsruher Instituts für
Privaten Universität Witten/Herdecke GmbH Technologie (IV.C.8 Wirtschaft und Technik; VI.7
(IV.C.5 Demokratie und Technik). Ethikkodizes).
2. Die Autorinnen und Autoren 431

Bernd Meier, Professor für Technologie und berufli- Johann Schulenburg, Dr., wissenschaftlicher Mitar-
che Orientierung an der Lehreinheit Wirtschaft- beiter im Geschäftsbereich Biologische Innova-
Arbeit-Technik der Universität Potsdam (VI.9 tion und Ökonomie des Projektträgers Jülich der
Technische Bildung). Forschungszentrum Jülich GmbH (II.2 Risiko;
Nora Meyer, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin IV.C.7 Risikobeurteilung/Risikoethik).
am Kulturwissenschaftlichen Institut, Universi- Holmer Steinfath, Professor für Philosophie am Phi-
tätsallianz Metropole Ruhr (V.12 Lebensmittel- losophischen Seminar der Universität Göttingen
verarbeitung). (IV.B.8 Gutes Leben).
Kurt Möser, Professor für neuere und neueste Ge- Dieter Sturma, Professor für Philosophie an der Uni-
schichte am Institut für Geschichte des Karlsruher versität Bonn, Direktor des Instituts für Wissen-
Instituts für Technologie (III.1 Frühe Technik- schaft und Ethik (IWE), des Deutschen Referenz-
skepsis und -kritik). zentrums für Ethik in den Biowissenschaften
Michael Nagenborg, Dr., Assistant Professor für (DRZE) und des Instituts für Ethik in den Neuro-
Technikphilosophie am Institut für Philosophie wissenschaften am Forschungszentrum Jülich
der University of Twente (NL) (V.13. Medien). (V.19 Neurotechniken).
Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an Frank Uekötter, Dr., Reader an der School of History
der Ludwig-Maximilians-Universität München and Cultures an der University of Birmingham
(II.2 Risiko; IV.C.7 Risikobeurteilung/Risiko- (III.2 Entstehung des TÜV).
ethik). Ibo van de Poel, Dr., Professor für Ethik und Technik
Alfred Nordmann, Professor für Philosophie am In- an der Faculty Technology, Policy and Manage-
stitut für Philosophie der Technischen Universität ment der Delft University of Technology (IV.A.11
Darmstadt (V.18 Nanotechnologie). Werthaltigkeit der Technik).
Konrad Ott, Professor für Philosophie und Ethik der Dietmar von der Pfordten, Professor für Rechts- und
Umwelt am Philosophischen Seminar der Chris- Sozialphilosophie an der Georg-August-Universi-
tian-Albrechts-Universität Kiel (IV.B.6 Diskurs- tät Göttingen (IV.B.9 Gerechtigkeit).
ethik; IV.C.2 Natur und Technik). Karsten Weber, Professor für Allgemeine Technik-
Thomas Potthast, apl. Professor für Ethik, Theorie wissenschaften an der Fakultät 1  – Mathematik,
und Geschichte am Internationalen Zentrum für Naturwissenschaften und Informatik der Bran-
Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Univer- denburgischen Technischen Universität Cottbus
sität Tübingen (V.6 Geo- und Hydrotechnik sowie (V.10 Internet).
Bergbau). Raymund Werle, Dr., Visiting Scholar at the Max
Michael Quante, Professor Philosophie an der West- Planck Institute for the Study of Societies (IV.A.10
fälischen Wilhelms-Universität Münster (IV.A.2 Technik als soziale Konstruktion).
Marxistische Technikphilosophie; V.14 Medizin- Micha H. Werner, Professor für Praktische Philoso-
technik). phie am Institut für Philosophie der Ernst Moritz
Johannes Reidel, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter Arndt Universität Greifswald (II.6 Verantwor-
am Kulturwissenschaftlichen Institut der Univer- tung; IV.B.5 Deontologische Ethik).
sitätsallianz Metropole Ruhr (III.7. Ethische Inge- Peter Wiedemann, Professor für Philosophie, In-
nieurverantwortung; V.12 Lebensmittelverarbei- stitut für Technikfolgenabschätzung und System-
tung). analyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Tech-
Ortwin Renn, Professor für Technik- und Um- nologie (V.16 Mobilfunk).
weltsoziologie und Direktor des Zentrums für Klaus Wiegerling, Professor für Philosophie im
interdisziplinäre Risiko- und Innovationsfor- Fachgebiet Philosophie der TU Kaiserslautern
schung, Universität Stuttgart (III.6 Technikkon- und am Institut für Technikfolgenabschätzung
flikte; VI.5 Bürgerbeteiligung). und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Insti-
Jan C. Schmidt, Professor für Philosophie am Fach- tuts für Technologie (V.25 Ubiquitous Compu-
bereich Gesellschaftswissenschaften der Hoch- ting).
schule Darmstadt (IV.B.2 Prinzip Verantwortung).
432 VII. Anhang

3. Personenregister Camus, Albert 149


Čapek, Karel 354
Carson, Rachel 201
Adorno, Theodor W. 93, 110, 111, 193, 318 Cassirer, Ernst 15, 97, 126, 209
Agamben, Giorgio 112 Chadwick, James 55, 57
Aischylos 84 Chaplin, Charles 49
Anders, Günther 1, 15, 60, 68, 127 Chardin, Teilhard de 99
Antisthenes 85 Cicero 28
Apel, Karl-Otto 40, 42, 165 Coeckelbergh, Mark 376
Archimedes 76 Compton, Arthur Holly 57
Arendt, Hannah 68, 195, 221, 367 Corea, Gena 114
Aristoteles 14, 28, 41, 42, 83, 84, 86, 87, 88, 95, 101, Cortina, Adela 167
103, 144, 148, 149, 152, 160, 166, 177, 179, 181, Crutzen, Paul 198
196, 209
Arkin, Ron 354 Daniels, Norman 170
Augustinus 28 Darwin, Charles 95, 100
DeGroot, Gerard 58
Bacon, Francis 29, 143, 156, 198, 217 Deleuze, Gilles 99
Bacon, Roger 28 Derrida, Jacques 112
Baekeland, Leo Hendrik 129 Descartes, René 144, 149, 151, 201
Balsamo, Anne 117 Dessauer, Friedrich 1, 15, 406
Barad, Karen 116 Dewey, John 121, 214
Barlach, Ernst 14 Dickens, Charles 46
Barschel, Uwe 316 Diedrichs, Werner 29
Bauman, Zygmunt 244 Dilthey, Wilhelm 99
Beck, Ulrich 7, 20, 42, 61, 70, 71 Drexler, Eric 338
Bell, Daniel 70 Dronke, Ernst 47
Benjamin, Walter 93
Bentham, Jeremy 153, 154, 155, 156, 158, 174, 361 Eddington, Arthur Stanley 208
Bergson, Henri 99, 100 Einstein, Albert 56, 57
Bernard, Claude 203 Engels, Friedrich 90, 109, 156, 218
Bien, Günter 83 Epikur 174
Bijker, Wiebe 129 Eyth, Max 406
Birnbacher, Dieter 226
Bismarck, Otto von 51 Faulstich, Werner 314
Blackbourn, David 200 Feldman, Fred 175
Bloch, Ernst 93, 143 Fenner, Dagmar 410
Bohr, Niels 29, 56, 59 Fermi, Enrico 56, 57
Bonß, Wolfgang 20, 24 Feuerbach, Ludwig 89
Borgmann, Albert 314 Firestone, Shulamith 114
Braidotti, Rosi 117 Florman, Samuel 135
Brandeis, Louis D. 298, 315 Flügge, Siegfried 56
Brandt, Richard 176 Fontane, Theodor 48
Braun, Wernher von 349 Foucault, Michel 112, 165, 196, 361
Brennecke, Volker M. 407 Frankena, William K. 159, 160
Brey, Philip 376 Frayn, Michael 59
Broad, C. D. 160 Freiligrath, Ferdinand 47
Buber, Martin 164 Fried, Charles 160
Bush, George W. 418 Friedman, Batya 136
Butler, Judith 116
Buytendijk, Frederik Jacobus 94 Gamm, Gerhard 112
Byrnes, James Francis 57 Gärdenfors, Peter 21
3. Personenregister 433

Gaus, Gerald F. 158, 159, 160, 161, 162 Jonas, Hans 1, 2, 40, 42, 70, 101, 127, 143, 144, 145,
Gehlen, Arnold 1, 94, 96, 98, 124, 125, 352 146, 147, 198, 265, 304, 331, 352, 416
Geibel, Emanuel 48 Joy, Bill 358
Geiss, Imanuel 71 Jünger, Ernst 100
Gethmann, Carl Friedrich 264, 267, 306, 331, 352 Jungk, Robert 59, 70
Giedion, Siegfried 200
Giesecke, Michael 318 Kaiser, Georg 49
Gloede, Fritz 351 Kaminsky, Carmen 398
Goethe, Johann Wolfgang von 46, 201, 274 Kant, Immanuel 29, 99, 100, 101, 112, 123, 126,
Grass, Günther 69 144, 146, 148, 159, 160, 162, 221, 264, 265, 266,
Griffin, James 155, 176 267, 387
Groethuysen, Bernhard 94 Kapp, Ernst 1, 125
Groves, Leslie Richard 56, 58 Kitcher, Philip 370
Grunwald, Armin 268, 336, 414 Klages, Ludwig 201
Kollwitz, Käthe 47
Haber, Fritz 326 Kolmogorov, Adrej N. 21
Habermas, Jürgen 111, 165, 166, 195, 213, 291, 322, König, Wolfgang 407
367, 396 Kroes, Peter 134
Hahn, Otto 1 Kuhlmann, Wolfgang 165
Haraway, Donna 116 Kuhn, Thomas S. 107
Hare, Richard M. 154 Kunert, Günther 69
Hauptmann, Gerhad 47 Kymlicka, Will 159
Havelock, Eric 314
Heckl, Wolfgang 338 Landström, Catharina 116
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 29, 89, 93, 95, 99, Latour, Bruno 17
109, 120, 121, 198, 219 Lawrence, Ernesto O. 57
Heidegger, Martin 1, 15, 126, 127, 144, 201 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29, 235
Heider, Fritz 122 Lenin, Wladimir Iljitsch 93, 200
Hein, Christoph 69 Lenk, Hans 42
Heine, Heinrich 47 Leonardo da Vinci 76
Heisenberg, Werner 1, 59 Leopold, Aldo 278
Herder, Johann Gottfried 235 Lessig, Lawrence 299
Herman, Barbara 159 Lettow, Susanne 114
Hesiod 84 Lincoln, Abraham 213
Hirschmann, Albert 74 List, Elisabet 114
Hobbes, Thomas 211, 218 Locke, John 218
Hobsbawm, Eric 46, 47 Lorenz, Konrad 94
Hoffmann, E.T.A. 46 Loutherbourg, Philip James de 47, 49
Holz, Hans Heinz 407 Luckner, Andreas 151
Homer 85, 86 Luhmann, Niklas 20, 118, 122
Horkheimer, Max 97, 109, 110, 111, 126, 318 Lukács, Georg 99
Hubig, Christoph 209, 376, 413 Lumer, Christoph 155
Humboldt, Wilhelm von 164 Lund, Robert 228
Hume, David 145
Huning, Alois 407 MacIntyre, Alasdair 149
Hurwicz, Leonid 225 Mack, Bernhard 407
Mai, Manfred 407
Illich, Ivan 241 Mao Tse-Tung 29
Innis, Harold Adams 314 Marcuse, Herbert 1, 15, 70, 93, 110
Maring, Matthias 42
Jamieson, Dale 156 Marx, Karl 1, 30, 46, 89, 90, 91, 92, 93, 109, 110,
Joliot-Curie, Frédéric 55, 56 125, 156, 200, 218, 219
434 VII. Anhang

Marx, Leo 48 Raabe, Wilhelm 47


Mason, Jerry 228a Rabinowitch, Eugene 57, 58
Mason, Richard O. 298 Rapp, Friedrich 407
McLuhan, Marshall 314 Rawls, John 159, 169, 170, 171, 176, 177, 299,
Mead, George Herbert 96 396
Meadows, Dennis L. 70 Reagan, Ronald 327
Meadows, Donella 70 Reidenberg, Joel 302
Meier, Bernd 423 Rescher, Nicholas 30
Menzius 236 Ricardo, David 46
Merkel, Angela 416 Robida, Albert 47
Mill, John Stuart 153, 154, 156, 157, 174, Robinett, Warren 291
291 Roetz, Heiner 236
Mitcham, Carl 411 Roosevelt, Franklin D. 56, 57
Mittelstraß, Jürgen 126 Ropohl, Günter 14, 68, 228, 229, 406, 407,
Montaigne, Michel de 149 421
Moore, George Edward 145 Rotblat, Joseph 57, 58, 60, 327
Morgan, Granger 331 Rothacker, Erich 94
Möser, Justus 45 Rühl, Manfred 316
Mulloy, Larry 228 Rutherford, Ernest 55, 208

Nagel, Thomas 301 Sachsse, Hans 407


Needham, Joseph 234 Saupe, Stephan 336
Negt, Oskar 221 Saxer, Ulrich 316
Nekrasov, Nikolai 48 Scheler, Max 94, 95, 96, 99, 352
Nernst, Wilhelm 55 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 144
Newton, Isaac 99 Schleiermacher, Daniel Friedrich 164
Nida-Rümelin, Julian 331 Schomberg, René von 341
Nietzsche, Friedrich 99, 100 Schopenhauer, Arthur 99
Nozick, Robert 175 Schröder, Gerhard 416
Nussbaum, Martha 176 Schrödinger, Erwin 196
Schulz, Walter 40, 143
Obama, Barack 418 Schumpeter, Joseph 36, 379
Oberth, Heinrich 349 Schweitzer, Albert 99
Oldemeyer, Ernst 407 Seaborg, Glenn T. 57
Oppenheimer, Robert 56, 57, 58 Seiler, Hansjörg 400
Ortega y Gasset, José 15, 99, 100, 101 Selikoff, Irving 63
Otten, Karl 49 Sen, Amartya 176
Oudshoorn, Nelly 114 Seneca 28, 149
Sennett, Richard 221
Pfeiffer, Sabine 221 Shakespeare, William 208
Picht, Georg 40, 84, 143 Sidgwick, Henry 174, 305
Pinch, Trevor 129 Sieferle, Rolf-Peter 71
Plank, Rudolf 406 Simmel, Georg 99, 100
Platon 28, 83, 84, 86, 87, 121, 179, 181 Snow, Charles Percy 208
Plessner, Helmuth 94, 95, 96, 99, 100 Sokrates 164
Popitz, Heinrich 219 Sörgel, Herman 200
Popper, Karl 29 Spaemann, Robert 264, 265, 266, 267
Portmann, Adolf 94, 124 Spencer, Herbert 100
Poser, Hans 209 Spengler, Oswald 100
Putin, Vladimir 301 Stalin, Josef 93, 200
Stegmüller, Wolfgang 29
Qin Shihuangdi 235 Steinbeck, John 69
3. Personenregister 435

Stimson, Henry Lewis 57 Verne, Jules 349


Streffer, Christian 264, 265, 266, 267 Wajcmann, Judy 115
Suchman, Lucy 115 Warren, Samuel D. 298, 315
Sunstein, Cass 226, 331 Weber, Max 42, 119, 236, 265, 316, 381
Szilard, Leo 55, 56, 57, 60 Weerth, Georg 47, 49
Weiser, Mark 375
Taylor, Frederick Winslow 218 Weizsäcker, Carl Friedrich von 1, 59, 143, 247
Thomas von Aquin 28, 163, 179, 181 Westin, Alan F. 298
Thompson, Edward 47 Whitehead, Alfred North 99
Thoreau, Henry David 48 Wiegerling, Klaus 376
Toller, Ernst 49 Winner, Langdon 131
Truman, Harry S. 55, 59 Wittfogel, Karl 277
Tuchel, Klaus 406 Wolffgramm, Horst 424
Turing, Allan 354
Xunzi 236
Uexküll, Jakob Johann von 97, 98
Yu Kam Por 235
Van de Poel, Ibo 134
Verbeek, Peter-Paul 376 Zschimmer, Ernst 15

Das könnte Ihnen auch gefallen