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Eckart Otto

Neuere Forschungen zum Gründungsmythos Israels


Das Buch Exodus im Spiegel neuerer Kommentare1

Das Exodusbuch ist das Zeugnis einer Traditionsliteratur aus mehr wesentliche Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft sein,
als einem halben Jahrtausend von kontrovers geführten theologi- diese beiden divergierenden Auslegungsweisen in der Kommentar-
schen Diskursen zur Ursprungsgeschichte Israels in Ägypten und literatur biblischer Bücher wieder zusammenzuführen und sie als
in der Wüste am Gottesberg, die der Selbstvergewisserung Israels sich ergänzend und damit beide als unverzichtbar zu erweisen.
in Bezug auf seine Identität und ihrer jeweiligen Legitimation Jede Kommentierung des Buches Exodus ist darüber hinaus mit
diente. Die Legitimationsprobleme der Aktualisierungen der nar- den historischen und religionshistorischen Problemen konfron-
rativen Selbstvergewisserung wurden vornehmlich im Medium tiert, Antworten auf die Fragen nach den Ursprüngen Israels und
der Schriftauslegung gelöst. Für die neuzeitlichen Bibelwissen- der JHWH-Verehrung in Israel zu finden. Versuche, den Ursprung
schaften ist angesichts des erheblich größer gewordenen Zeitab- des Gottes JHWH aus Mittelpalästina abzuleiten, haben nicht zur
stands und des in der Neuzeit erwachten historischen Bewusst- historischen Aufklärung des Ursprungs der JHWH-Verehrung bei-
seins die hermeneutische Aufgabe erheblich komplexer gewor- tragen können, da noch im 1. Jt. bis zum 9. Jh. v. Chr. keine gesi-
den, als sie sich für die Autoren in der biblischen Antike darstellte. cherten epigraphischen Belege für diesen Gott in Palästina bekannt
Gefragt ist heutzutage eine Entscheidung, wie auf die konsequen- sind.2 Vielmehr weisen die ältesten epigraphischen Zeugnisse für
te Historisierung des modernen Welt- und Selbstbewusstseins mit JHWH nach Ägypten, da Inschriften an ägyptischen Tempeln in
der Kommentierung biblischer Bücher reagiert werden soll. Seit Amara West und in Soleb im 14. Jh. JHWH-Beduinen (š asu Jahu)
der Aufklärung antworten die Bibelwissenschaften mit einem im- für das Gebiet östlich des Wadi Araba oder in Nordarabien bezeu-
mer weiter ausdifferenzierten Methodenkanon historisch-kriti- gen. Umgekehrt ist der mit dem kanaanäischen Gott El verbun-
scher Exegese auf die hermeneutischen Herausforderungen, was dene Israel-Name im 13. Jh. in Palästina belegt, so dass sich die
zu einer immer weiter vorangetriebenen Ausdifferenzierung der Frage stellt, wie der Gott JHWH aus dem Süden von Palästina mit
historisch-kritischen Hypothesen zum literarhistorischen Wachs- Israel im Kulturland Palästina verbunden wurde. Stammt das bis-
tum des Bibeltextes führte, so dass das Bemühen um ein Verstehen lang wohl älteste epigraphische Zeugnis von JHWH in Palästina
des gegebenen hebräischen Textes hinter den Hypothesen zu sei- vom moabitischen König Meša im 9. Jh., so ist das Hinweis darauf,
ner literarischen Vorgeschichte zurücktrat. Die Alttestamentliche dass JHWH in der Zeit der Omri-Dynastie in Mittelpalästina Fuß
Wissenschaft hat auf diese Situation mit dem Auseinandertreten gefasst hat. Die Verbindung zwischen den epigraphischen Belegen
diachroner Kommentierungen, die sich auf die Literaturgeschich- für JHWH in Ägypten im 2. Jt. und im 1. Jt. in Palästina liefert die
te des Exodusbuches fokussieren, und solcher der synchronen Aus- Exodustradition3 in ihrer Differenziertheit.4 So ist eine im Norden,
legung des gegebenen hebräischen Textes reagiert. Es wird eine d. h. im omridischen Israel im 9. Jh. beheimatete Exodustradition,
die im Ursprung von einem Exodus ohne Mose erzählte, von einer
im 7. Jh. im Süden, d. h. in Juda beheimateten Tradition zu unter-
1) Rainer Albertz, Exodus. Bd. I: Ex 1–18 (Zürcher Bibelkommentar AT 2.1), Zü- scheiden, die mit Moses Geburt, die in Ex 2,1–10* nach assyrischem
rich 2012; Ders., Exodus. Bd. II: Ex 19–40 (Zürcher Bibelkommentar 2.2), Zürich Vorbild erzählt wird, einsetzte.5 Die Rezeptionsgeschichte der Exo-
2015; Davies, Graham I.: Exodus 1–18. A Critical and Exegetical Commentary.
2 Vols. London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2020. Vol. 1: Chapters 1–10. 728 S. =
dustraditionen in den Psalmen und dem prophetischen Schrifttum
The International Critical Commentary. Geb. US$ 100,00. ISBN 9780567688682. zeigt, dass sie als der wichtigste Gründungsmythos Israels ver-
Vol. 2: Chapters 11–18. 632 S. = The International Critical Commentary. Geb. US$ standen wurden,6 der darüber Auskunft gibt, wie Israel und JHWH
100,00. ISBN 9780567688712; Christoph Dohmen, Exodus 1–18 (Herders Theologi- zueinander fanden. Will man der Frage nachgehen, wie Israel in
scher Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i. Br. u. a. 2015; Ders., Exodus
19–40 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i. Br.
u. a. 2004; Fischer, Georg, u. Dominik Markl: Das Buch Exodus. Stuttgart: Ver-
lag Katholisches Bibelwerk 2009. 408 S. m. Abb. = Neuer Stuttgarter Kommentar 2) Zur Diskussion siehe Jürgen van Oorschot/Markus Witte (Hgg.), The Ori-
Altes Testament, 2. Kart. EUR 34,90. ISBN 9783460070219; Greenberg, Moshe: Un- gins of Yahwism (BZAW 484), Berlin u. a. 2017.
derstanding Exodus. A Holistic Commentary on Exodus 1–11. Ed. with a Fore- 3) Siehe dazu Klaus Koch, Jahwäs Übersiedlung vom Wüstenberg nach Ka-
word by J. H. Tigay. Second Edition. Eugene: Wipf & Stock (Cascade Books) 2013. naan. Zur Herkunft von Israels Gottesverständnis, in: Ders., Der Gott Israels und
XXIV, 192 S. Kart. US$ 26,00. ISBN 9781620327326; Houtman, Cornelis: Exodus. die Götter des Orients. Religionsgeschichtliche Studien II, hgg. v. Friedhelm Har-
Vols. 1–4. Leuven: Peeters Publishers 1993–2002. = Historical Commentary on the tenstein/Martin Rösel (FRLANT 216), Göttingen 1998, 171–209.
Old Testament. Vol. 1 (1993): XIX, 554 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9789042924673. 4) Siehe Thomas Römer, Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste?
Vol. 2 (1996): XII, 466 S. Kart. EUR 43,00. ISBN 9789042920064. Vol. 3 (1999): XIV, 738 Überlegungen zur Konstruktion der Exodustradition(en), in: Ruth Ebach/Martin
S. Kart. EUR 53,00. ISBN 9789042908055. Vol. 4 (2002): VIII, 70 S. Kart. EUR 14,00. Leuenberger (Hgg.), Tradition(en) im alten Israel. Konstruktion, Transmission
ISBN 9789042911260; Schmidt,Werner, H.: Exodus (1,1–6,30). Studienausgabe. und Transformation (FAT 127), Tübingen 2019, 89–107.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2003. 319 S. Kart. 5) Siehe Eckart Otto, Mose und das Gesetz. Die Mose-Figur als Gegenentwurf
EUR 35,00. ISBN 9783788722647; Schmidt, Werner H.: Exodus (7,1–15,21). Politischer Theologie zur neuassyrischen Königsideologie im 7. Jh. v. Chr., in: Ders.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2019. 361 S. = Bi- (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament (SBS 189), Stuttgart 2000, 43–83.
blischer Kommentar II/2. Geb. EUR 100,00. ISBN 9783788733940; Helmut Utz- 6) Siehe dazu Rainer Albertz, Ausprägungen der Exodustradition in der Pro-
schneider/Wolfgang Oswald, Exodus 1–15 (Internationaler Exegetischer Kom- phetie und in den Psalmen, in: Ebach/Leuenberger (Hgg.), Tradition(en) (s. Anm.
mentar zum Alten Testament), Stuttgart 2013. 4), 109–142.
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seiner narrativen Literatur im Verlauf einer Literaturgeschichte Befund nicht gestützt wird, da eine außerbiblisch-epigraphische
von mindestens sechs Jahrhunderten diesen Ursprungsmythos Bezeugung JHWHs in Juda erst im 8. Jh. einsetzt. Der Kommentar
theologisch interpretiert und die Lücke mehrerer Jahrhunderte in sammelt vornehmlich die Textbeobachtungen, die durch die Quel-
den epigraphischen Zeugnissen von JHWH zwischen dem 14. Jh. in lenscheidung eine Erklärung finden sollen, wobei der Vf. aber zwi-
Ägypten und dem 9. Jh. in Palästina überbrückt hat, so ist man auf schen Textbeobachtung und Deutung geschieden wissen will (360).
das Exodusbuch und seine Kommentierung gewiesen. Insofern nimmt er eine forschungsgeschichtlich wichtige Funkti-
on wahr, wenn er Ergebnisse der Literarkritik im Exodusbuch aus
der Epoche der Quellenscheidung zusammenfasst, wobei zahlrei-
I Kommentare mit einem vornehmlich literatur- che Textbeobachtungen auch in gewandelter Forschungssituation
historisch-diachronen Zugang zum Exodusbuch gültig bleiben und einer neuen Erklärung bedürfen. Eine synchro-
ne Interpretation des gegebenen Textes entfällt darüber in diesem
Die Aufgabe der Kommentierung des Buches Exodus war vor einem Kommentar weitgehend. Da seine Fortsetzung in der Reihe des
halben Jahrhundert einfacher, als sie es gegenwärtig ist, da in die- Biblischen Kommentars durch diesen Vf. nicht geplant ist, entfällt
sen Jahrzehnten seit den 70er Jahren des 20. Jh.s die Erforschung der die Nagelprobe für die Quellenscheidung in Ex 19–40, da es seit J.
Literaturgeschichte des Pentateuchs ihren exegetischen Konsens Wellhausen nicht gelungen ist, auch nur annähernd eine Überein-
einer sich auf J. Wellhausen berufenden Quellenscheidung der vier stimmung darüber zu erzielen, wie in der Sinaiperikope die nicht-
Quellen von J/E/D/P eingebüßt und unwiederbringlich überwun- priesterlichen Textanteile auf die zwei Quellen von Jahwist und
den hat.7 An ihre Stelle sind mehrere konkurrierende Thesen zur Elohist zu verteilen seien. Alles dies gilt auch für den Kommentar
literarischen Entstehung des Pentateuchs getreten, wie auch die zu Ex 1–18 von G. I. Davies, der, obwohl erst 2020 veröffentlicht,
Frage im Raum steht, ob ein Kommentar zum Buch Exodus über- ebenfalls weitgehend der traditionellen Quellenscheidung im
haupt noch die Aufgabe der Erklärung der literarischen Diachro- Horizont von J. Wellhausen folgt. Im Gegensatz zum Biblischen
nie des Textes hat, und nicht vielmehr die synchrone Erklärung Kommentar von W. H. Schmidt, dem eine Einleitung fehlt, ist der
nur des gegebenen Textes sein Ziel sein soll. Auf diese ungeklärte International Critical Commentary von G. I. Davies mit einer aus-
Forschungssituation reagieren Kommentatoren sehr unterschied- führlichen Einleitung versehen, in der der Vf. die Forschungsge-
lich – von einem Ignorieren der Situation des Umbruchs in der Pen- schichte des Pentateuchs skizziert und erneut die traditionelle
tateuchforschung bis hin zu dem Versuch, mit der Kommentie- Quellenscheidung begründet, wobei die Dubletten wie schon bei
rung einen Forschungsbeitrag zur Erhellung der ungeklärten For- Wellhausen zentrales Argument sind, nachdem mit der Offenba-
schungssituation zu leisten. rung des JHWH-Namens in Ex 3 und Ex 6 das Kriterium des Wech-
Die Kommentare von W. H. Schmidt und G. I. Davies gehen den sels der Gottesnamen weithin ausfällt.8 Im Gegensatz zu den »New
ersteren Weg. Die Genese des Kommentars zu Ex 1–18 von W. H. Documentarians«, die mit einer mechanischen Verknüpfung der
Schmidt, dessen erste Lieferung 1974 erschien, die letzte erst 2019, Quellen ohne theologisch profilierte Redaktion rechnen, spricht
erklärt das unbeirrte Festhalten an der traditionellen Quellen- der Vf. der jehowistischen Redaktion eine theologisch prägende
scheidung einschließlich der These eines früh zu datierenden Jah- Gestaltungskraft zu. Umgekehrt habe es keine deuteronomistische
wisten und Elohisten. Die Fortsetzung des Kommentars im Jahr Redaktion im Exodusbuch gegeben. Auch lehnen beide Kommen-
2016 knüpft unverändert und unbeeindruckt an die 1999 unterbro- tatoren Thesen ab, die im priesterlichen Textsegment nicht eine
chene Kommentierung des Exodusbuches an, ohne zu erkennen zu Quelle, sondern eine Bearbeitungsschicht sehen wollen.
geben, dass sich in diesen Jahren die Forschungsdiskussion grund- Die Kommentare von R. Albertz und W. Oswald/H. Utzschnei-
legend gewandelt hat. Noch in der letzten Lieferung von 2019 er- der ziehen tiefgreifende exegetische Schlussfolgerungen aus dem
neuert der Vf. die These, dass der vorpriesterschriftliche Textbe- Umbruch der Pentateuchforschung der letzten fünfzig Jahre. R. Al-
stand auch im Buch Exodus auf die Quellen des Jahwisten und Elo- bertz fasst den Abschied von der Quellentheorie und das Wieder-
histen zu verteilen sei (619–628), wobei er einräumt, dass die Quelle aufleben der ihr vorangehenden Fragmenten- und Ergänzungs-
eines Elohisten nur noch in Fragmenten erhalten sei. Da das theorien mit den Worten zusammen:
Exodusgeschehen in diesen beiden Quellen und in Ex 15,21 je un- »[D]iese Quellentheorie, die anhand des Buches Genesis entwickelt wurde,
terschiedlich erzählt werde, schließt der Vf. auf ein historisches [hatte] im Buch Exodus schon immer erhebliche Probleme, insbesondere
Geschehen eines Exodus als ihr jeweiliger Hintergrund, der als bei der Zuordnung der Sinaiperikope (Ex 19–40) zu den drei Quellen. Kon-
gedeutete Erfahrung einer unerwarteten Rettung Israels und des sensfähig war dabei eigentlich nur die Unterscheidung von priesterlichen
Untergangs der ägyptischen Verfolger tradiert worden sei. »Das und nicht-priesterlichen Texten. Da in den letzten Jahrzehnten die grund-
›Dass‹ des Geschehens ist in der Tat nicht zu bezweifeln, aber das sätzlichen methodischen und konzeptionellen Schwächen dieses Ent-
stehungsmodells immer deutlicher zutage getreten sind, soll in diesem
›Wie‹ des Hergangs – einschließlich der Lokalisierung und des Kommentar ein neues redaktions- und kompositionskritisches Modell vor-
Zusammenhangs mit der Folgegeschichte – bleibt im Einzelnen gestellt und auf seine Tauglichkeit geprüft werden. Dieses geht davon aus,
ungewiss.« (613) Da der Vf. den Jahwisten in Juda zur Königszeit dass der Pentateuch nicht aus durchlaufenden Quellenwerken, sondern aus
verortet, ist s. E. die Exodustradition dort auch schon frühzeitig kleinen Erzählkompositionen bzw. Rechtssammlungen entstanden ist, die
bekannt gewesen, was durch den außerbiblisch-epigraphischen sukzessive durch mehrere Bearbeitungen bzw. Redaktionen zu immer um-
fangreicheren Einheiten verkettet und dabei vielfach ergänzt worden sind,
bis sie schließlich den Umfang des vorliegenden Pentateuch bzw. Hexa-
teuch erreichten.« (19)
7) Der umfangreiche Sammelband zur Pentateuchforschung (Jan Christian
Gertz u. a. [Hgg.], The Formation of the Pentateuch. Bridging the Academic Cul-
Der erste größere literarische Zusammenhang sei eine Exodus-
tures of Europe, Israel, and North America [FAT 111], Tübingen 2016) legt auf komposition (KEx) aus dem 6. Jh., die von der Unterdrückung der
mehr als tausend Seiten Zeugnis davon ab, dass 1.) die Quellenscheidung über-
wunden ist, 2.) eine »New Documentary Hypothesis«, die davon ausgeht, dass der
vorliegende masoretische Text nicht interpretierbar sei, keinen Fortschritt in der 8) Cf. dazu auch Ernest Nicholson, The Pentateuch in the Twentieth Century.
Pentateuchforschung bringen kann (siehe dazu unten Anm. 29) und dass 3.) in The Legacy of Wellhausen, Oxford 1998, VI: »The work of Wellhausen, for all
Zukunft über einen längeren Zeitraum mit einer Pluralität der exegetischen Zu- that it needs revision and development in detail, remains the securest basis for
gänge zum Pentateuch zu rechnen ist. understanding the Pentateuch.«
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Israeliten in Ägypten (Ex 1,9–12) bis zur Erneuerung des Bundes in folgen eine priesterliche Hexateuchredaktion (HexRed) und weitere
Ex 34,28–32 reichte. Die Einbeziehung des Abfalls von JHWH in der priesterliche Bearbeitungen PB4 und PB5 als eine Pentateuchredak-
Erzählung vom Goldenen Kalb in Ex 32 lasse auf eine Abfassung der tion. Schließlich kommen noch eine Mal’ak-Redaktion, eine an der
Komposition in der Exilszeit um 540 v. Chr. schließen. Der Redak- Salbung Aarons interessierte priesterliche Bearbeitung PBSAL und
tor der Komposition (REx), der nicht in ein deuteronomistisches eine Anzahl chronistischer Ergänzungen (chrE) der Exoduserzäh-
Milieu gehöre, habe kleinere Erzählwerke aus Juda und Israel aus lung hinzu. Die literarische Tiefendimension von elf Schichten im
dem 10.–7. Jh. aufgenommen. So soll die Mose-Erzählung ein- Buch Exodus ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass der Vf.
schließlich der seiner Geburt in Ex 2,1–10 aus Israel im 9. Jh., die gleich mehrere Erklärungsmodelle zur Entstehung des Pentateuchs
älteste Exoduserzählung in Ex 14* sogar aus dem 10. Jh. stammen. jenseits der Quellenscheidung kombiniert.13 Der literarische Hori-
Der Vf. löst den historischen Kern der Erinnerung in dieser Meer- zont und Kontext des Exodusbuches wandelt sich von einem Trito-
wundererzählung von einem am Rande Ägyptens angesiedelten teuch (Gen–Lev), zu einem Enneateuch (Gen–2Kön) und zurück zu
Geschehen des 12. Jh.s und verlegt es nach Palästina in Gestalt einer einem Hexateuch (Gen–Jos) und schließlich zu einem Pentateuch
Erinnerung an einen überstandenen Einfall des ägyptischen Pha- (Gen–Dtn). Der Vf. kann aber weder die Hexateuch- noch die Penta-
rao Šošenk I. um 925 v. Chr., nach dem der Pharao bald verstarb. Der teuchredaktion theologisch profilieren, da sie in ihrem Textbestand
außerbiblisch-epigraphische Befund stützt allerdings eine derarti- so knapp ausfallen, dass man eher von Glossatoren sprechen müsste,
ge Frühdatierung der Exoduserzählung in das 10. Jh nicht. In der da die diesen Redaktionen zugehörigen Textbestände vom Vf. bereits
Sinaiperikope seien von REx Dekalog und Bundesbuch aus dem 8./7. den vielschichtigen D- und P-Bearbeitungen zugewiesen wurden.
Jh. sowie eine Gottesmahlerzählung in Ex 24 und die des Goldenen Der Vf. erkennt zwar, dass die P-Bearbeitungen in Konkurrenz zum
Kalbs in Ex 32, die jeweils aus der Exilszeit stammen sollen, aufge- Deuteronomium vorgenommen wurden, er sieht aber nicht, dass
nommen worden, um mit KEx ein Hoffnungsparadigma zu schaf- wesentliche Textanteile im Exodusbuch den post-priesterschrift-
fen, das zeigen wolle, dass auch nach Judas babylonischer Kata- lichen Redaktionen im Horizont von Hexateuch und Pentateuch
strophe JHWHs Befreiungs- und Verpflichtungsgeschichte wei- zufallen, die Priesterschrift und Deuteronomium zusammenden-
tergehe. Die weitere Literaturgeschichte der Exoduskomposition ken und literarisch verknüpfen.
ist die ihrer kontinuierlichen Fortschreibung durch zahlreiche Einen literaturhistorisch einfacheren Entwurf zur Literaturge-
Überarbeitungen und Redaktionen in der nachexilischen Zeit vom schichte des Buches Exodus legt W. Oswald in dem Kommentar der
6. bis zum 4. Jh. So sei nicht nur mit einer, sondern einer Vielzahl neu gegründeten Kommentarreihe »Internationaler Exegetischer
»priesterlicher Bearbeitungen« (PB1–5) zu rechnen. Wenn der Ein- Kommentar zum Alten Testament« vor, der nach Aussage der Her-
druck entstehe, dass sich priesterliche Texte oftmals nahtlos anein- ausgeber eine multiperspektivische Interpretation der Bücher des
anderfügen, so sei das nicht darin begründet, dass sie Teil einer Alten Testaments bieten will. Dazu sollen synchrone und diachro-
priesterschriftlichen Quelle gewesen seien, sondern der Autor von ne Auslegungen, in der Regel durch jeweils unterschiedliche Auto-
PB1 seine Texte zum Teil »schriftlich konzipierte, bevor er sie in die ren verantwortet, kombiniert werden.14 Wie R. Albertz erklärt auch
KEx einfügte«. Da liegt es zur Erklärung des unstrittigen literari- W. Oswald die klassische Quellenscheidung in der Nachfolge von
schen Befunds des engen Zusammenhangs der priesterschriftli- J. Wellhausen forschungsgeschichtlich für seit den 70er Jahren
chen Texte doch näher, weiterhin mit einer Quelle P zu rechnen.9 des 20. Jh.s überholt und durch ein kompositionsgeschichtliches
PB2 soll vor allem Lev 17–26 in die Sinaiperikope eingefügt10 und so Modell zu ersetzen, wonach mehrere, zunächst unabhängig von-
einen »Tritoteuch« (Gen–Lev) geschaffen haben, der sich als Alter- einander verfasste und überlieferte Themenblöcke im Pentateuch
native zum Deuteronomium verstanden habe.11 miteinander verknüpft wurden. Ein derartiger Block sei eine selb-
Vor weiteren priesterlichen Bearbeitungen soll eine spät-deute- ständige Exoduserzählung gewesen, die ausgehend von Ex 1,11 die
ronomistische Redaktion (D) die Exoduserzählung in eine Frühform Rechtmäßigkeit der Aufkündigung der Vasallität Israels unter der
des Pentateuchs und diesen als Teil eines Enneateuchs in ein Deute- ägyptischen Oberherrschaft begründen wollte und mit dem Un-
ronomistisches Geschichtswerk (DtrG) einbezogen haben.12 Darauf tergang Ägyptens in Ex 14,30–31* ihr Ziel erreichte. Als historischen
Hintergrund dieser Exoduserzählung schließt der Vf. eine ge-
glückte Flucht von semitischen Bausklaven aus Ägypten im frühen
9) Zum Stand der Diskussion um die Priesterschrift siehe Friedhelm Harten-
12. Jh. nicht aus, deren Erzählung im 7. Jh. zur Legitimation der
stein/Konrad Schmid (Hgg.), Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Vasallenrebellion gegen die Assyrer verschriftet worden sei.15 Eine
Pentateuchdebatte (VWGTh 40), Leipzig 2015 (englische Übersetzung im Druck).
So erschließt sich auch der Grund, warum der Vf. von PB1 als einer »Bearbeitung«
spricht, nicht aber von einer Redaktion oder Komposition, obwohl diese »Bear- M. Noths Konzept einer ein DtrG voraussetzenden Enneateuch-Hyothese wi-
beitung« Genesis und Exodus verbunden haben soll, durch sein Bemühen, jede derspricht, dass Dtn 1–3 nicht, wie M. Noth noch meinen konnte, Einleitung
Nähe zur Annahme einer Quelle P zu vermeiden. eines DtrG ist, sondern nur des Deuteronomiums und seiner Verbindung mit
10) Insofern entspricht P2 bei R. Albertz dem, was andere Exegeten als H-Texte dem Buch Josua in einer dtr Redaktion; siehe dazu Eckart Otto, Deuteronomium
im Pentateuch einer Holiness-School zuweisen; siehe dazu Reinhard Achenbach, 1–3 als Schlüssel der Pentateuchkritik in diachroner und synchroner Lektüre,
Das Heiligkeitsgesetz und die sakralen Ordnungen des Numeribuches im Hori- a. a. O., 284–420; Ders., Deuteronomium 1–11. Erster Teilband: Deuteronomium
zont der Pentateuchredaktion, in: Thomas Römer (Hg.), The Books of Leviticus 1,1–4,43 (HThKAT), Freiburg i. Br. u. a. 2012, 284–297.
and Numbers (BEThL 225), Leuven 2008, 145–175. 13) Siehe dazu Rainer Albertz, Pentateuchstudien (FAT 117), Tübingen 2018.
11) Diese Annahme erklärt nicht das Ineinander von dtr und P-Sprache in Lev Dem Leser des Kommentars ist empfohlen, diese Aufsatzsammlung beizuziehen,
17–26. da das Format der Zürcher Bibelkommentare ohne Anmerkungsapparat eine fach-
12) Diese These einer Verknüpfung des Pentateuchs mit einem Deuterono- exegetische Diskussion und Begründung der exegetischen Thesen nicht zulässt.
mistischen Geschichtswerk krankt daran, dass nach Umbruch in der Penta- 14) Zur synchronen Interpretation von Ex 1–15 durch H. Utzschneider siehe
teuchforschung auch die These eines Deuteronomistischen Geschichtswerks in unten II.
der von M. Noth in der ersten Hälfte des 20. Jh.s aus der Taufe gehobenen Gestalt 15) Der Vf. hat in seiner Monographie zur Staatsprogrammatik in Israel die
als sich von Dtn 1–2Kön 25 erstreckend längst ein Datum überholter For- Exoduserzählung genauer auf die Zeit des Pharao Necho II. zwischen 609–605 v.
schungsgeschichte ist und so wenig wie die Quellenscheidung im Pentateuch Chr. datieren wollen; siehe Wolfgang Oswald, Staatstheorie im Alten Israel. Die
unhinterfragt vorausgesetzt werden kann; siehe dazu Eckart Otto, Ein »Deute- politischen Diskurse im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Tes-
ronomistisches Geschichtswerk« im Enneateuch?, in: Ders., Die Tora. Studien taments, Stuttgart 2009, 81–85. Ansonsten folgt der Vf. in seinem Exoduskom-
zum Pentateuch. Gesammelte Schriften (BZAR 9), Wiesbaden 2009, 601–619. Der mentar weitgehend den literaturhistorischen Vorgaben dieser Monographie,
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Exodus-Gottesberg-Erzählung ergänze in der Exilszeit des 6.Jh.s dusbuch abgelehnt. So bleibt in der Kommentierung von W. Os-
die Exoduserzählung in Ex 3–4*; 15–24* und bringe das Bundesbuch wald das Verhältnis der dtr Einträge in das Exodusbuch zu denen
in Ex 20–23 als Verfassung für die im Lande Verbliebenen als kon- ungeklärt, in denen deuteronomistische mit priesterlicher Sprache
stitutioneller Personenverband ein, der der griechischen Polis ver- post-priesterlich amalgamiert ist.
gleichbar sei. So erweitert sei die Exoduserzählung in der zweiten Einen eigenen Weg in der Kommentierung des Exodusbuches
Hälfte des 5. Jh.s deuteronomistisch in der Sinaiperikope um die geht C. Houtman im Historical Commentary on the Old Testa-
Thematik von Bund und Bundesbruch mit der Erzählung vom ment (HCOT), der eine Übersetzung seines niederländischen Kom-
Goldenen Kalb in Ex 32 erweitert und Teil eines Deuteronomisti- mentars aus den 80er Jahren des 20. Jh.s ist. Sehen die Herausgeber
schen Geschichtswerks geworden, das mit 2Kön 25 geendet habe. dieser Kommentarreihe des HCOT vor, dass auf die Übersetzung
Dieses dtr Werk sei schließlich von einer priesterlichen Kompositi- des hebräischen Textes unter »Essentials and Perspectives« die For-
on überlagert worden, die sich als ein Gegenüber zum Deuterono- schungsergebnisse der bisherigen historisch-kritischen Exegese
mistischen Geschichtswerk verstanden habe. Auf eine Tora-Kom- der betreffenden Perikope vorgestellt werden (Bd. 1, 543–545), um
position sei die Abgrenzung des Pentateuchs durch die Unter- anschließend unter der Überschrift »Scholarly Exposition« den Text
brechung des Zusammenhanges zwischen Deuteronomium und versweise auszulegen, so verändert C. Houtman diese Vorgabe und
Josuabuch in Dtn 34,10–12 zurückzuführen. Mose werde im Exo- präsentiert unter »Essentials and Perspectives« jeweils ein close
dusbuch vom Volk Israel abgerückt und damit auch der Pentateuch reading des Textes der Perikope. Der Grund für diese Abweichung
von allen anderen biblischen Schriften, was auf die spätpersische ist nicht dem Kommentar zu entnehmen. Vielmehr hat der Vf. die
oder frühhellenistische Zeit des 4.–3. Jh.s weise. Es gelingt in die- gesamte Forschungsgeschichte einschließlich der Begründung sei-
sem Kommentar deutlicher als im Zürcher Kommentar, die unter- ner eigenen Position zur literarischen Entstehungsgeschichte des
schiedlichen literarischen Schichten theologisch und politisch zu Pentateuchs in eine gesondert publizierte Monographie ausgela-
profilieren und damit auch gegeneinander abzugrenzen. R. Albertz gert,18 in der er als Ergebnis der Forschungsgeschichte die Über-
aber hatte die dtr Bearbeitung der Exoduserzählung durch die windung der Quellenkritik im Horizont J. Wellhausens konstatiert
Redaktion D der grundlegenden priesterlichen Bearbeitung (PB1) und als seine Alternative einer darauf reagierenden Position die
literaturgeschichtlich nachgeordnet und trägt damit dem Um- These eines Enneateuchs entwickelt, der in 2Kön 25 seinen Ab-
stand Rechnung, dass sich sehr häufig dort, wo sich dtr Sprach- schluss gefunden habe und von einem Autor oder Autorenkreis
eigentümlichkeiten im Exodusbuch zeigen, sie es in Verbindung unter Verwendung von Stoffen unterschiedlicher Herkunft nieder-
mit priesterlicher Sprache und Motivik tun, so dass es sich um post- geschrieben worden sei. Der Abschluss mit der Begnadigung des
priesterliche Redaktionen handelt. Die Vorbehalte gegen die These Davididen Jojachin im babylonischen Exil in 2Kön 25 sei Hinweis
einer Integration der Exoduserzählung in einen deuteronomisti- auf die Abfassung des Enneateuchs um die Mitte des 6. Jh.s. Eine
schen Enneateuch, die bereits gegen den Zürcher Kommentar von literarische Vorgeschichte des Enneateuchs in Gestalt der in ihn
R. Albertz vorgebracht wurden, sind auch in Bezug auf diesen Kom- aufgenommenen Überlieferungen sei nach Meinung von C. Hout-
mentar gültig.16 Insgesamt aber wird man konstatieren dürfen, man nicht mehr exegetisch aufzuklären.19 Damit erübrigt sich für
dass die beiden Kommentare von R. Albertz und W. Oswald von ihn auch eine derartige exegetische Rückfrage im Rahmen des Exo-
dem Bemühen geprägt sind, der gewandelten Forschungssituation duskommentars, da das Exodusbuch eine tiefere literarische Dia-
in der Pentateuchforschung nach dem Abschied von der Quellen- chronie nicht mehr zu erkennen gebe. Der Vf. zieht daraus aber
scheidung Rechnung zu tragen, so u. a. mit dem ihnen gemeinsa- nicht die Konsequenz einer synchronen Interpretation des Textes,
men Ausgangspunkt der Literaturgeschichte des Pentateuch in was angesichts der Annahme literarischer Einheitlichkeit des Tex-
einer Fragmententhese und der redaktionellen Verknüpfung der tes nahegelegen hätte. Vielmehr sammelt er in der »Scholarly Expo-
Fragmente und ihrer Bearbeitungen in einer Redaktionsthese, so sition« Vers für Vers eine Fülle von Sprach- und Sacherklärungen
dass Quellenscheidungen hinfällig werden. Zu diskutieren bleibt, zum Text, so dass er es seinem Leser zuweist, mit Hilfe der als Inter-
ob oder wie die Überlieferungen des Pentateuchs mit solchen eines pretationshilfen gegebenen Erläuterungen den Text der Perikopen
Deuteronomistischen Geschichtswerks in 1Sam 1–2Kön 25 ver- eigenständig theologisch zu interpretieren. Offensichtlich versteht
knüpft wurden, und wie intensiv eine vorpriesterschriftlich-deu- der Vf. den Kommentar so als eine Form der Predigthilfe. Stellen-
teronomistische Bearbeitung in das Exodusbuch eingegriffen hat. weise gelingen ihm aber in den »Essentials and Perspectives« auch
In den Kommentaren von W. H. Schmidt und G. I. Davies wird wie theologisch weiterführende Interpretationen, die den calvinisti-
bereits von M. Noth17 die Annahme einer dtr Redaktion im Exo- schen Kontext des Vf.s sehr deutlich zu erkennen geben, so wenn es
um die theologische Bedeutung des Dekalogs oder um die Idolatrie
Israels in der Erzählung vom Goldenen Kalb in Ex 32 geht. Wenn
so dass für detailliertere Begründungen der diachronen Exegese im Kommentar der Text des Exodusbuches als literarisch einheitlich aus dem 6. Jh.
auch diese Monographie heranzuziehen ist. Zu ihrer Diskussion siehe Eckart
Otto, Staatsprogrammatik im antiken Israel. Zu einem Buch von Wolfgang Os- stammen soll, seien auch keine Aussagen des Textes über histori-
wald, ZAR 15 (2009), 388–399. sches Geschehen der Frühgeschichte Israels und den Exodus zu
16) Es ist erstaunlich zu sehen, dass gerade diejenigen Exegeten, die mit be- erwarten (189 f.), so dass der Vf. losgelöst und unabhängig vom Exo-
sonderer Verve die Pentateuchforschung einschließlich der Annahme von P als dusbuch einen Exodus schon im 14. Jh. für möglich hält, da die
Quelle umkrempeln wollen, sich umso verbissener an die ebenfalls längst in Amarna-Korrespondenz dem nicht widerspreche (173 f.241 ff.) und
Frage gestellte und forschungsgeschichtlich überholte These eines DtrG von Dtn
1–2Kön 25, wie sie von M. Noth konzipiert wurde, klammern. Die Schwierigkeit
die Nennung Israels in Palästina im 13. Jh. in der Merenptah-Stele
der gegenwärtigen Forschungssituation besteht gerade darin, dass beide Groß- eine Erklärung finden kann.
hypothesen aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh.s zum Pentateuch wie zu
den Vorderen Propheten nicht mehr tragfähig sind.
17) »Daß es einzelne Stellen gibt, in denen der alte Text in deuteronomisti-
schem Stil erweitert worden ist, wie etwa Ex. 23,20 ff. und Ex. 34,10 ff., hat mit
Recht meines Wissens noch niemand für ein Merkmal einer durchgehenden 18) Siehe Cornelis Houtman, Der Pentateuch. Die Geschichte seiner Erfor-
›Redaktion‹ gehalten«, so Martin Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien. schung neben einer Auswertung (CBET 9), Kampen 1994.
Erster Teil: Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten 19) C. Houtman lehnt in der Konsequenz neben einer Frühdatierung des En-
Testament, Darmstadt 1963, 13, Anm. 1. neateuchs auch Thesen seiner nachexilischen Bearbeitung ab.
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II Kommentare mit einem vornehmlich literarisch- Bibeltextes selbst zu profilieren.24 Sollen Sinnstrukturen des Textes
synchronen Zugang zum Exodusbuch in Gestalt des masoretischen Textes der hebräischen Bibel beschrie-
ben werden, entfällt die Suche nach einem »ursprünglichen Text«
Die Forschung zur Literaturgeschichte des Pentateuchs ist durch ebenso wie die nach der literarischen Vorgeschichte des gegebenen
eine zunehmende Ausdifferenzierung der exegetischen Methoden Textes. Wird konsequent zwischen Literatur und Geschichte ge-
gekennzeichnet, was mit einer immer weiter vorangetriebenen schieden, entfallen auch alle Rückfragen nach der Erinnerung his-
Differenzierung exegetischer Hypothesenbildung zur Entstehung torischen Geschehens in den Texten des Exodusbuches. Alle to-
des Pentateuchs geführt hat, hinter der das Verstehen des gegebe- pographischen und chronologischen Angaben seien nur auf einer
nen hebräischen Textes zurückzutreten scheint.20 Eine Reihe von synchronen Textebene der Erzählzeit zu interpretieren. Theolo-
Exegeten hat daraus die Konsequenz der Notwendigkeit einer gisch sieht der Vf. in den ersten 18 Kapiteln des Exodusbuches nicht
Wende zur synchronen Textinterpretation gezogen und das Ver- primär eine Erzählung von der Befreiung Israels aus der Gefangen-
stehen des kanonischen Textes, nicht aber die Interpretation von schaft in Ägypten, sondern wie auch im zweiten Teil des Exodus-
konstruierten Vorstufen zur Hauptaufgabe einer synchronen buches die einer Geschichte, die auf die Erfüllung der Verheißung
Kommentierung des Textes gemacht, um so die Subjekt-Objekt- der Gabe des Landes zielt. C. Dohmen verdient »Respekt vor einer
Relation zwischen Text und Kommentator wieder zugunsten des großartigen Leistung und Hochachtung für den Mut, ganz neue
gegebenen Textes umzukehren und diesen Text als aktives Subjekt Maßstäbe in der deutschsprachigen Landschaft der Kommentato-
der Auslegung zur Geltung zu bringen,21 dessen Objekt der Kom- ren biblischer Bücher zu setzen und einen vielleicht nicht neuen,
mentar als sein Metatext ist. C. Dohmen hat in seinem zweibändi- aber in dieser ›Radikalität‹ wohl einzigartigen, Weg zu gehen«25. C.
gen Herder-Kommentar der synchronen Textauslegung des Exo- Dohmens Kommentar ist ein in der gegenwärtigen Situation der
dusbuches eine überzeugende Einleitung zur synchronen Metho- Bibelwissenschaften notwendiger Weckruf, den gegebenen hebräi-
dik des Kommentars vorangestellt, in der er sein methodisches schen Text mit der Suche nach der intentio operis des Bibeltextes in
Vorgehen begründet. So habe der Bibeltext die Funktion, in einer das Zentrum der Kommentierung zu rücken. Das gilt auch für den
»zerdehnten Sprechsituation« diatopische und diachrone Hinder- Kommentar von G. Fischer und D. Markl in der Reihe »Neuer Stutt-
nisse zu überwinden. Da Bibeltext und heutiger Leser durch die garter Kommentar – Altes Testament«. G. Fischer knüpft damit an
Unterschiede der Kulturhorizonte geschieden sind, bedarf der seine synchron gearbeitete Dissertation zu Ex 3–4 und sein Schüler
Bibelleser der Vermittlung durch die Kommentierung des Bibel- D. Markl an seine Dissertation zu Ex 19–24 an.26 Die Vf. leiten ihre
textes. In diesem Prozess, so der Vf. mit Umberto Eco, begegnen sich konsequent synchrone Auslegung des Exodusbuches mit der Versi-
die intentio auctoris und die intentio lectoris in der intentio operis cherung ein, man wolle nahe beim biblischen Text bleiben, wäh-
des Bibeltextes,22 die zu erheben Aufgabe des Kommentars ist. Der rend die zahlreichen Hypothesen zur Entstehung des Exodustextes
Kommentar ist also ein Metatext zum hebräischen Text des Exo- keine Aufnahme in den Kommentar finden sollen: »Vielmehr soll
dusbuches, der die Sinnpotentiale des Bibeltextes herausarbeiten die Aussage und die Ausstrahlung des Buches in den Mittelpunkt
soll. treten«, so dass auch dieser Kommentar der von Benno Jacob pro-
pagierten Trennung von Exegese und historischer Kritik folgt.27
»Die Rekonstruktion der Genese des Textes (im Kommentar) hingegen muss Die Vf. arbeiten akribisch die literarischen Verknüpfungen in
dabei zurücktreten […] Im Rahmen eines Kommentars führt die Rekon-
struktion der Textgenese dazu, dass der auszulegende Text zuerst vom Gestalt von Stichwortverbindungen, Prolepsen, Wiederaufnahmen
Kommentator ›kreiert‹ wird. Dies aber birgt ein methodologisches Problem etc. des sich so als Einheit erweisenden Textes des Exodusbuches
in sich: Die (diachrone) Analyse im Sinne historisch-kritischer Exegese, die heraus. Die Komposition des gegebenen hebräischen Textes wird
zur Hypothese einer bestimmten Textgenese führt, setzt bei Urteilen über von den Vf. in das 5. Jh. datiert. Wie bereits C. Houtman ist auch G.
den Text an, um daraus Schlüsse zu ziehen, die eine vorgeschlagene Genese Fischer der Meinung, dass sich die literarische Vorgeschichte des
plausibel machen. Unter methodischer Hinsicht müsste man aber fordern,
dass der Text zuerst in seiner vorliegenden Gestalt aufgenommen und er-
Textes nicht mehr rekonstruieren lasse. »Angesichts dessen, dass
klärt wird.« (Bd. 1, 55)23 diese Texte innerlich ganz stark verflochten sind und auch gezielt
als einheitliches Ganzes präsentiert werden […], und angesichts der
So soll der Kommentar die »innere Sinnstruktur« des Bibeltextes im mehr als 130 Jahre währenden vergeblichen intensiven Bemühun-
Exodusbuch erfassen, die aber nicht auf eine einzige festgelegt wer- gen um eine akzeptable Deutung müssen wir heute eingestehen,
den kann, so dass sie dem Leser, der den Bibeltext für sich verstehen
soll, mit einer »unspezifischen Genauigkeit« (Hilde Domin) eine
Auslegung, die keine »Feststellung« sein soll, geboten wird. Der 24) Während C. Houtman den Prediger als Leser des Bibeltextes und des Kom-
Leser soll also ermächtigt werden, den für ihn gültigen Sinn des mentars im Blick hat, ist es bei C. Dohmen allgemeiner der »an der Bibel Interes-
sierte«, also gerade nicht der Fachexeget, so dass eine Forschungsgeschichte zum
Exodusbuch keine Aufnahme in den Kommentar gefunden hat.
25) So Simone Paganini, Wieviel Synchronie verträgt das Exodusbuch? Oder:
20) Siehe dazu Georg Fischer, Time for a Change! Why Pentateuchal Research Braucht es eine neue Kultur des Kommentierens von biblischen Texten?, ZAR 22
is in Crisis, in: Matthias Armgardt u. a. (Hgg.), Paradigm Change in Pentateuchal (2016), 283–286, 285. S. Paganini schließt die Vermutung an, dass die Zeit der »klas-
Research (BZAR 22), Wiesbaden 2019, 3–20. sischen Kommentarliteratur« angesichts überbordender und in ihrer Vollstän-
21) Siehe dazu Eckart Otto, Kommentieren in den Bibelwissenschaften. Ein digkeit nicht mehr zu rezipierender Forschungsliteratur sowie angesichts der
ökumenischer Dienst an der Theologie im 21. Jahrhundert, in: David Kästle/Nils immer unüberschaubarer werdenden Hypothesen zur Entstehungsgeschichte
Jansen (Hgg.), Kommentare in Recht und Religion, Tübingen 2014, 347–361. der Bibeltexte an ein Ende gekommen sei.
22) Siehe Umberto Eco, Die Grenze der Interpretation, München u. a. 1992, 49. 26) Siehe Georg Fischer, Jahwe unser Gott. Sprache, Aufbau und Erzähltech-
23) Christoph Dohmen knüpft an die Unterscheidung von Exegese und Kri- nik in der Berufung des Mose (Ex 3–4) (OBO 91), Fribourg u. a. 1989; cf. auch Ders.,
tik durch B. Jacob (Quellenscheidung und Exegese im Pentateuch, Leipzig 1916) Exodus 1–15. Eine Erzählung, in: Marc Vervenne (Hg.), Studies in the Book of
an, nach der die Kritik in Gestalt der Rekonstruktion der literaturhistorischen Exodus (BEThL 126), Leuven 1996, 149–178; Dominik Markl, Der Dekalog als Ver-
Entstehung des Bibeltextes der Exegese, die den Text-Sinn erhebt, nachzuordnen fassung des Gottesvolkes. Die Brennpunkte einer Rechtshermeneutik des Penta-
sei. Entsprechend will C. Dohmen Klärungen der Genese des Bibeltextes, deren teuch in Ex 19–24 und Dtn 5 (HBS 49), Freiburg i. Br. u. a. 2007.
Notwendigkeit keineswegs in Frage gestellt ist, nicht in einem Kommentar, son- 27) Der Konzeption der Reihe »Neuer Stuttgarter Kommentar« folgend bildet
dern in gesonderten Monographien abgehandelt wissen. Zu Benno Jacobs Kom- die unrevidierte Einheitsübersetzung die Grundlage der Kommentierung, wobei
mentar des Exodusbuches siehe im Folgenden. einige Verbesserungen zur Übersetzung angemerkt werden.
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dass alle Versuche, die Entstehung dieser Texte zu erklären, zu kei- Zielvorgabe einer »diachron reflektierten Synchronie« in der Kom-
nem überzeugenden Ergebnis geführt haben« (24), auch wenn ein- mentierung des Bibeltextes mit auf den Weg gegeben.32 Die Erfas-
geräumt werden müsse, dass das Exodusbuch eine »zusammenge- sung der intentio operis des Bibeltextes ist das Ziel der Kommentie-
setzte Einheit« ist und dass ursprünglich eigenständige Texte wie rung, die diachrone Rückfrage in die Literaturgeschichte des Textes
eine kasuistische Rechtssammlung in Ex 21,1–22,16 im Bundes- soll diesem Ziel nachgeordnet dienende Funktion haben. In der
buch in Ex 20–23* rezipiert wurden (288).28 Die im Exodusbuch Einleitung zur zweiten, erweiterten Auflage von M. Greenbergs
erzählten Geschehnisse haben, so die Vf., eine tiefe symbolische Kommentar zu Ex 1–11 beruft sich der jüdische Exeget J. Tigay auf
Bedeutung und haben sich in der Geschichte Israels von der assyri- die Verlautbarung der Päpstlichen Bibelkommission von 1993,
schen bis zur hellenistischen Zeit immer wieder ereignet. Die re- wenn er den Kommentar von M. Greenberg als den Versuch deutet,
zeptionsgeschichtliche Perspektive einer auch jüdischen, christ- diachrone und synchrone Methodik der Textinterpretation zu ver-
lichen und muslimischen Aufnahme der Exodusmotivik gibt dem knüpfen, wobei die Schlussredaktion des Textes aus verschiedenen
Kommentar insgesamt sein besonderes Profil, der mit dem Ruf Quellen das methodische Scharnier der Verknüpfung der Metho-
nach einer neuen »Theologie der Befreiung« in unserer Zeit schließt. den liefert. In diesem 1969 erstmals publizierten und von M. Green-
Die Kommentare von C. Dohmen sowie von G. Fischer und D. berg bis zu seinem Tod für eine zweite Auflage umfangreich erwei-
Markl sind Ausweis dafür, dass der gegebene, d. h. der kanonisierte terten Kommentar zu Ex 1–11 knüpft der Vf. an die synchrone Aus-
Text der Hebräischen Bibel, nachdem er lange Zeit unter den zahl- legung des Exodusbuches im Kommentar von Benno Jacob an, der
reichen Versuchen, seine Vorgeschichte zu rekonstruieren, als Ziel- zwischen 1935 und 1943 verfasst und 1997 veröffentlicht wurde.33
punkt der Kommentierung fast aus dem Blick geraten war, wieder Vorher waren nur einige Kopien des Manuskripts Interessierten, so
zurückgekehrt ist.29 Doch sollte man das Kind nicht mit dem Bade auch M. Greenberg, bekannt geworden. Während Benno Jacob in
ausschütten und die historischen und literaturhistorischen Rück- seinem Genesis-Kommentar die Quellenscheidung zugunsten
fragen nicht aus der Kommentierung des Exodusbuches ausgren- einer synchronen Interpretation des Bibeltextes detailliert zurück-
zen. Die alttestamentliche Wissenschaft lebt auch heutzutage wies34 und also im Exodus-Kommentar auf eine ausführliche Aus-
nicht von der Verdrängung der eigenen Forschungsgeschichte der einandersetzung mit der Quellenscheidung verzichtete, hat M.
letzten drei Jahrhunderte historisch-kritischer Arbeit am Bibeltext Greenberg die Grundzüge einer Quellenscheidung in den Exodus-
und seiner Literaturgeschichte, sondern von ihrer produktiven Kommentar aufgenommen und einen »tradition complex A«, der
Fortentwicklung zu einer Methodik der Verknüpfung von diachro- den nicht-priesterlichen Quellen J/E in der Neueren Urkundenhy-
nen und synchronen Arbeitsweisen. Es wäre eine Illusion zu mei- pothese entspricht, von einem »tradition complex B«, der den Text-
nen, man könne die Theologie eines biblischen Buches wie die des bestand der Quelle der Priesterschrift umfasst, unterschieden,
Exodus, das im Verlauf von mehr als einem halben Jahrtausend sei- wobei er für die Annahme eines deuteronomischen oder deutero-
ner Literaturgeschichte entstanden ist, auf eine einzige literarische nomistischen Traditionskomplexes im Buch Exodus keinen Raum
Ebene herunterbrechen,30 wie es auch ein Irrtum ist, den an der sieht: »Apart from a few possible exceptions, Deuteronomy does not
Bibel interessierten Leser würden die historischen und literatur- figure in Exodus.«35 Wie in dem Kommentar von Benno Jacob liegt
historischen Fragen, die der Text aufgibt, nicht interessieren. Der der Schwerpunkt des Kommentars von M. Greenberg auf dem Auf-
neuzeitliche Mensch ist wie der König Midas, dem alles, was er weis der literarischen Kohärenz des masoretischen hebräischen
berührte, zu Gold wurde. Dem neuzeitlichen Menschen wird alles Textes in Ex 1–11. Die Verknüpfung von Diachronie und Synchro-
zur Geschichte und das gilt auch für den Text der Bibel. Es bedarf nie über die These einer theologisch höchst produktiven Schlussre-
einer Vermittlung diachroner historisch-kritischer Auslegung mit daktion36 der Verbindung der Traditionskomplexe, die für das lite-
der synchronen Methodik der Erfassung der intentio operis der rarische Funktionieren des Textes verantwortlich zeichnet, ist ein
biblischen Bücher. Dazu hat sich 1993 die Päpstliche Bibelkommis- methodisch möglicher und weiter auszubauender Weg der Ver-
sion geäußert: »Was den Einschluss einer synchronen Analyse der mittlung der Methodik diachroner und synchroner Textinterpre-
Texte in die (s. c. exegetische) Methodik betrifft, muss man aner- tationen.
kennen, dass es sich um ein legitimes Unterfangen handelt. Denn Einen anderen Weg der Vermittlung von Diachronie und Syn-
der Text in seiner Endgestalt und nicht in irgendeiner früheren chronie beschreitet der Kommentar von W. Oswald und H. Utz-
Fassung ist der Ausdruck von Gottes Wort. Die diachrone Rekon- schneider, in dem neben die diachrone Analyse der Entstehungsge-
struktion bleibt jedoch unentbehrlich, um die geschichtliche Dy- schichte des Bibeltextes im Exodusbuch durch W. Oswald37 eine
namik, die der Heiligen Schrift innewohnt, und ihre reiche Kom-
plexität aufzuzeigen.«31 Erich Zenger hat als Konsequenz seiner
Erfahrungen aus der Kommentierung des Psalmenbuches dem von chen mit einer Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. (1993; Ver-
ihm konzipierten Herder-Kommentar zum Alten Testament die lautbarungen des Apostolischen Stuhls [VAS] 115), Bonn 2017, 39.
32) Siehe Christoph Dohmen, Vom Buch der Psalmen zum AT-Kommentar-
werk. Die Bedeutung von Erich Zengers Psalmenauslegung für »Herders Theo-
28) Siehe dazu Dominik Markl, The Redactional Theologization of the Book of logischer Kommentar zum Alten Testament«, in: Christian Frevel (Hg.), »Mit
the Covenant. A Study in Criteriology, BN (N.F.), 181 (2019), 47–61. Zu seiner Of- meinem Gott überspringe ich eine Mauer/By my God I can leap over a wall«. In-
fenheit für diachrone Perspektive in Bezug auf die Heiligtumstexte der Sinaipe- terreligiöse Horizonte in den Psalmen und Psalmenstudien/Interreligious Ho-
rikope cf. auch Ders., The Wilderness Sanctuary as the Archetype of Continuity rizons in Psalms and Psalms Studies (HBS 96), Freiburg i. Br. u. a. 2020, 33–48.
between the Pre- and the Postexilic Temples of Jerusalem, in: P. Dubovský u. a. 33) Siehe Benno Jacob, Das Buch Exodus, hg. von Sh. Mayer u. a., Stuttgart
(Hgg.), The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah (FAT 107), Tübingen 2016, 1997; siehe dazu Raik Heckl, Ein vollendeter Text für den Surrogat-Tempel. Struk-
227–252. tur, Chronologie und Funktion des Pentateuchs im Anschluss an Benno Jacob,
29) Deshalb dürften Versuche der »New Documentarians« vornehmlich in ZAR 22 (2016), 185–221.
den USA, die davon ausgehen, dass der kanonisierte Text nicht interpretierbar sei 34) Siehe Benno Jacob, Das Buch Genesis, Berlin 1934, 947–1049.
(siehe Joel S. Baden, Why is the Pentateuch Unreadable? – Or, Why Are We Doing 35) So fasst J. Tigay kurz und bündig M. Greenbergs Haltung in der Einlei-
This Anyway?, in: Gertz u. a. [Hgg.], Formation [s. Anm. 7], 243–251), wohl aber tung zu dessen Exodus-Kommentar (s. Anm. 1), X, Anm. 7, zusammen. Dem wird
die exegetisch rekonstruierten Vorstufen der Quellen, der Quellenscheidung wie- man zustimmen können.
der Geltung zu verschaffen, zum Scheitern verurteilt sein. 36) Cf. dazu Eckart Otto, Die nachpriesterschriftliche Pentateuchredaktion
30) Siehe auch Albertz, Exodus I (s. Anm. 1), 26. im Buch Exodus, in: Vervenne (Hg.), Studies (s. Anm. 26), 61–111.
31) Siehe Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in den Kir- 37) Siehe dazu oben I.
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synchrone Interpretation von Ex 1–15 durch H. Utzschneider ge- wurde. Die Diskussion der Problematik einer Textinterpretation
stellt wird. Jede Perikope wird zunächst getrennt diachron und unter Absehung von einer expliziten Intention von Textproduzen-
synchron interpretiert, um abschließend in einem Abschnitt zur ten kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Doch ein Problem
Synthese zu jeder Perikope beide Auslegungsweisen zusammen- steht im Raum, wenn die Textinterpretationen eines Vf.s, der den
zuführen. H. Utzschneider begreift im Anschluss an G. Fischer38 Text als »literarisch-ästhetisches Subjekt« jenseits jeder Autorenin-
Ex 1–15 als in Szenen und Episoden gegliederte und durch Stich- tention begreift, mit denen eines anderen Vf.s, der sehr wohl mit
worte wie »kämpfen«, »befreien« und »dienen« u. a. zusammenge- expliziten Autorenintentionen rechnet, in einer Synthese vermit-
haltene narrative Einheit mit einem Prolog in Ex 1,1–7 und einem telt werden sollen, was schwerlich gelingen kann und auch nicht
doppelten Abschluss in Ex 12,21–42 und Ex 15.39 Diese Erzählung in gelingt. Die jeweiligen »Synthesen« in dem Kommentar am Ende
Ex 1–15 verdichte narrativ die Jahrhunderte währenden Erfahrun- einer jeden Perikope, auf denen die Last der Vermittlung der dia-
gen, die Israel mit seinen assyrischen, babylonischen und helle- chronen und synchronen Auslegung liegt, zeigen die Schwierig-
nistischen Zwingherren machen musste, und konfrontiere sie mit keit, so unterschiedlich konzipierte Ausgangspositionen der Text-
JHWHs Rettungshandeln, um so Hoffnung für Israel durch die interpretation so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass für
Erzählung seines Ursprungsmythos zu begründen. Das methodo- den Leser das Verständnis des Textes befördert wird. So fällt eine
logische Problem dieses Vermittlungsversuchs von diachroner und Vermittlung der methodisch unterschiedlichen Interpretations-
synchroner Textinterpretation liegt darin, dass die beiden Vf. me- weisen weitgehend zugunsten von hermeneutischen Allgemein-
thodisch weit auseinander liegen. Während W. Oswald mit einer plätzen und der Wiederholung von bereits in den Textinterpreta-
Form von Autorenintention als Erklärungsziel der Textinterpreta- tionen Gesagtem aus. Die von den Herausgebern der Kommentar-
tion rechnet, wobei er gesellschaftliche Gruppen als Autorisatoren reihe angekündigte Synthese von diachronen und synchronen
des Textes als die für die Intention des Textes kollektiv Verantwort- Textzugängen durch die Beschreibung der synchronen Logik dia-
lichen hält (41), was aber, rechnet man mit »impliziten Autoren«40, chroner Transformationen als Ausweis einer Kommentierung »auf
für die Erhebung einer intentio auctoris keinen Unterschied macht, der Höhe der Zeit« (13 f.) wird in diesem Kommentar noch nicht
lehnt H. Utzschneider die Erhebung von Autorenintentionen ab eingelöst und bleibt ein Desiderat in der Kommentierung des
und arbeitet vielmehr mit dem Postulat, der Text sei ein »litera- Buches Exodus.
risch-ästhetisches Subjekt, das keinerlei Autorenhypothesen be-
darf« (20),41 was als Konsequenz eine historische Entkontextualisie-
rung des Textes nach sich zieht.42 Dieser Abschied von jeglicher Abstract
Form von Autorenhypothese wird nur postuliert und im Gegen-
satz zu dem Herder-Kommentar von C. Dohmen hermeneutisch The task of writing a commentary on Exodus became more complex
nicht weiter reflektiert. Roland Barthes hat 1968 vorschnell, aber than it was in pre-modern times because of the upcoming con-
wirkungsvoll den »Tod des Autors« ausgerufen,43 was in den Litera- sciousness of history as a kind of transcendentalism. Biblical scho-
turwissenschaften allzu leichtfertig als Schlagwort rezipiert larship answered with an increasing differentiation of exegetical
methods to reconstruct the literary history of biblical books. The
outcome was an increasing number of hypothetical reconstruc-
tions of the literary historical diachrony of Exodus. To this de-
38) Siehe oben Anm. 26.
39) Siehe dazu Helmut Utzschneider, Gottes langer Atem. Die Exoduserzäh- velopment other biblical scholars reacted in their commentary by
lung (Ex 1–14) in ästhetischer und historischer Sicht (SBS 166), Stuttgart 1996. renouncing of any literary historical diachrony in favor of a syn-
40) Zum »impliziten Autor« siehe Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, chronic interpretation of the given Hebrew text. We have com-
Chicago 21983, 73 f. mentaries on Exodus which differentiate between more than ten
41) Siehe auch Helmut Utzschneider, Die Renaissance der alttestamentlichen literary layers on the one side and commentaries which renounce of
Literaturwissenschaft und das Buch Exodus. Überlegungen zu Hermeneutik und
Geschichte der Forschung, ZAW 106 (1994), 197–223, 222: »Im lesenden Subjekt aller
any historical diachrony in favor of interpreting the given text syn-
Zeitstufen konstituiert sich der Text als ästhetisches und kommunikatives Er- chronically. It will be necessary to find methods of writing a com-
eignis jeweils neu, unbeschadet seiner bleibenden Identität als Ensemble von mentary which combine both perspectives of diachrony and syn-
sprachlichen Formen und vorstellungshaften Themen: mithin als ›Schrift‹«. Die- chrony. At the moment we are standing just at the beginning to
sen Grundsatz müsste der Vf. aber bei seiner so einseitigen Orientierung an der create such methods.
intentio lectoris auch in Bezug auf seine eigene Interpretation von Ex 1–15 zulas-
sen, was der Willkür in der Interpretation des Bibeltextes Tür und Tor öffnen
würde.
42) Siehe dazu auch die Rezension dieses Kommentars in ThLZ 140 (2015), 212– Begriffs, Tübingen 1999. Wenn M. Foucault (Was ist ein Autor?, in: Fotis Jannidis
214. u. a. [Hgg.], Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2012, 194–232) die Frage
43) Siehe dazu Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grund- nach den Autoren von Texten für einen Modernismus hält, so widerspricht dem
legung der Geisteswissenschaften, Münster 2018, 214–259.389–402, sowie Fotis die keineswegs erst neuzeitliche Diskussion zur mosaischen Autorenschaft des
Jannidis u. a. (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Pentateuchs, die bis auf die Antike zurückgeht.

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