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ARBEITSZEIT: 25 MINUTEN

Verstehendes Aufnehmen eines gehörten Textes (HV)

Der Text wird zweimal in normalem Lesetempo deutlich, aber ohne übertriebene Intonation
vorgelesen. Danach erst dürfen die Prüflinge die Aufgaben zum Inhaltsverständnis
bearbeiten.

Baustelle oder Kindergarten?

“Was ist denn nun eigentlich los? Liegt es an mir oder an dem Job?” Als Andreas Müller vor
10einigen Jahren die Ausbildung zum Elektriker nach gut acht Monaten abbrach, hatte er vorher
lange nachgedacht. Im Grunde machte ihm die praktische Arbeit doch Spaß. Aber den ganzen
Tag auf den Baustellen Elektroanlagen installieren – das war ihm nach einigen Monaten in der
Praxis dann doch zu wenig. “Ich vermisste den menschlichen Umgang und den Kontakt im
Arbeitsalltag so sehr, dass ich mir nicht vorstellen konnte, in diesem Beruf länger zu arbeiten.
15Schon gar nicht mein Leben lang. Ich wünschte mir eine Arbeit, die so sinnvoll ist, dass sie
mich ausfüllt. Denn schließlich besteht ja das halbe Leben aus Arbeit. Wenn’s da nicht
stimmt, ist es nicht einfach, glücklich zu sein”, erklärt Andreas.
Er sah sich nach anderen Berufen um. Seine Vorstellung: Ein Beruf mit vielen Kontakten zu
anderen Menschen - vielleicht auch im sozialen Bereich -, ein Beruf, bei dem man auch mit
20den Händen arbeitet, wo auch eine technische Vorbildung nützlich sein könnte. Andreas
informierte sich im Berufsinformationszentrum des Arbeitsamtes und redete mit seiner
Berufsberaterin. Einige Möglichkeiten wurden genauer besprochen. Krankenpflege zum
Beispiel, ein Beruf, bei dem man Einfühlungsvermögen haben sollte, aber auch kräftig
zupacken muss. Auch im Erzieherberuf kann handwerkliches Geschick ein großer Vorteil
25sein, zum Beispiel beim Basteln mit den Kindern.
Andreas ging schließlich zu einer Fachschule für Erzieher, um sich dort zu bewerben.
“Machen Sie erst einmal ein zweimonatiges Praktikum in einer Kindertagesstätte, da können
Sie ausprobieren, ob dieser Beruf überhaupt für Sie in Frage kommt”, so die Auskunft der
Schulleiterin. Sie bezweifelte, dass man problemlos von der Elektroinstallation zur
30Kindererziehung wechseln kann. “So etwas kommt bei uns selten vor, da muss man vorsichtig
sein, damit die Jugendlichen sich keine völlig falschen Vorstellungen machen. Ein Blick in die
Praxis ist in solchen Fällen immer richtig, denn im täglichen Umgang mit den Kindern zeigt
sich schnell, ob man für diese Berufsrichtung geeignet ist oder nicht.”
Doch nicht nur die Schulleiterin hatte ernste Bedenken. “Meine Eltern waren erst völlig
35irritiert”, erinnert sich Andreas Müller an diese Zeit. “Besonders mein Vater verstand die Welt
nicht mehr, als ich ihm sagte, ich wolle Erzieher werden. Er ist ebenfalls Elektriker und hatte
sich immer gefreut, dass ich denselben Beruf wie er erlernen wollte. Er meinte auch,
Kindererziehung sei Frauensache, aber da kam mir meine Mutter zur Hilfe und verbot ihm, so
konservativ zu reden. Bei meinen Freunden waren die Reaktionen ganz unterschiedlich.
40Manche grinsten nur, als sie von meinem Entschluss erfuhren, andere waren zwar erstaunt,
fanden es aber irgendwie mutig, so einen Berufswunsch zu verwirklichen. Die meiste
Unterstützung hatte ich wirklich von meiner Freundin. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ich
mit Kindern arbeiten würde und hat mir das auch immer wieder gesagt. Das hat mir viel Mut
gemacht.”
45“Die zwei Monate in der Kindertagesstätte waren für mich eine völlig neue Erfahrung”,
erzählt Andreas weiter. “Die praktische Arbeit mit den Kindern hat mir viel Spaß gemacht –
auch wenn man dabei schon nach drei, vier Stunden ganz schön kaputt ist. Das hätte ich
5 Deutsches Sprachdiplom der KMK, Stufe II, Herbst 2003, Seite 1 von 2
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vorher nicht gedacht. Ununterbrochen muss man sich etwas Neues ausdenken, damit keine
Langeweile aufkommt und trotzdem darf man nicht hektisch werden, wenn es mal Chaos gibt.
50Das merken die Kinder sofort. Aber mir ist diese Art von Stress lieber als der Termindruck auf
der Baustelle.”
Nach dem Praktikum bewarb Andreas sich bei der Fachschule und begann seine Ausbildung
als Erzieher – eine Entscheidung, die er bis heute nicht bereut hat. Auf einen Unterschied zu
seiner früheren Arbeitsstelle weist Andreas noch hin: “Früher auf der Baustelle oder in der
55Werkstatt, das war fast eine reine Männergesellschaft. Als Erzieher habe ich es hauptsächlich
mit Frauen zu tun – das ist auch eine neue Erfahrung. Bei meiner ersten Ausbildung herrschte
ein viel rauerer Umgangston, jetzt ist mehr Sensibilität gefordert und der Ton ist doch
insgesamt freundlicher, nicht so hart. So wird zum Beispiel viel mehr über Privates
gesprochen. Da musste ich auch mein persönliches Verhalten zum Teil neu überdenken. In
60manchem habe ich umgelernt, ohne mich gleich in allem anzupassen.”
Kinder gehen auf Erzieher übrigens besonders offen zu und haben mit ihnen gerne zu tun, da
sie meistens ausschließlich von Frauen betreut werden. Sie brauchen eben auch männliche
Bezugspersonen – und die sind in Kindergärten und Kindertagesstätten selten und deshalb
besonders gesucht!
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(Quelle: IZ, 3/1993, Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg)

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