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DIE JÜDISCHE INTEGRATION IN DIE OBERSCHICHT


ALEXANDRIENS UND DIE ANGEBLICHE
APOSTASIE DES TIBERIUS JULIUS ALEXANDER

Gottfried Schimanowski

I. Einleitung1

Es gehört zu den unbestrittenen Merkmalen des antiken Judentums


in hellenistisch-römischer Zeit, die eigene Identität wie kein anderes
Volk zu bewahren und mit allen Mitteln bewahren zu wollen. Vor
einer ethnischen Vermischung und kulturellen Anpassung scheinen sich
darum solche Werke wie das Weisheitsbuch, das Dritte Makkabäerbuch
oder auch der Roman von Joseph und Aseneth mit Macht wehren zu
wollen; trotzdem sind sie dabei aber in kultureller Hinsicht für alle, die
sich für die jüdischen Tradition interessierten, höchst aktiv gewesen.
Das antike Alexandrien mit seiner jüdischen Gemeinde, der größten
der damaligen Zeit überhaupt,2 ist ein geeignetes Untersuchungsfeld
für die Frage nach den Dimensionen jüdischer Identität in griechisch-
römischer Umgebung. Die öffentliche Darstellung der eigenen Größe
könnte sich symbolisch in einem kulturellen Zentrum ausgedrückt
haben.3 Wenn wir den literarischen Zeugnissen glauben, bestand die
Hauptsynagoge Alexandriens aus einer riesigen fünfschiffigen Basilika,
wohl eines der imposantesten religiösen Gebäude der Antike.4 Die rab-

1 Der Vortragsstil ist weitgehend beibehalten worden.


2 Über Antiochien besitzen wir z. B. sehr wenig Informationen; vgl. J. Hahn, Die
jüdische Gemeinde im spätantiken Antiochia: Leben im Spannungsfeld von sozialer
Einbindung, religiösem Wettbewerb und gewaltsamen Konflikt, in: R. Jütte u. a. (Hg.),
Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart,
Ashkenas Beiheft 2, Wien u. a. 1996, 57–89; A.M. Schwemer, Paulus in Antiochien,
BZ 42 (1998), 161–180; M. Hengel, A.M. Schwemer (Hg.), Paulus zwischen Damaskus
und Antiochien (WUNT 108) Tübingen 1998.
3 In Rom dagegen wird es sich um sozial schwächere Schichten gehandelt haben; in

seiner Satire über die Frauen Roms erwähnt Juvenal auch eine Jüdin: magna sacerdos
arboris (Sat. 6,544 f.). Möglicherweise bezieht sich dies auf Versammlungsplätze unter
dem freien Himmel.
4 Zu den rabbinischen Nachrichten vgl. pSuk 4,6 und tSuk 4,6 (V,1); Philo legat.

132 gibt einen Hinweis auf die πολλα (προσευχα) δ εEσι κα’ 1καστον τµAµα τAς π-
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binische Haggada erzählt von Fähnchen, die geschwenkt werden muss-


ten, um sich auf die Entfernungen in rechter Weise bei der Liturgie zu
verständigen; die rabbinische Legende erwähnt den Einsatz von anti-
ken Megaphonen und manch andere Kuriositäten.5
Die griechische Sprache war in Alexandrien schon seit frühester Zeit
völlig adaptiert worden. Hebräische oder aramäische Dokumente gab
es kaum; auch zweisprachige Texte sind ausgesprochen spärlich. Die
griechische Sprache war also für die Juden der Stadt zur Selbstver-
ständlichkeit geworden.6 Die jüdischen Namen wurden mehr und mehr
gräzisiert.7 Bekanntlich war in Alexandrien das ‚regionale und natio-
nale Gesetz‘, der Pentateuch, zum ersten Mal in die lingua franca der
Antike übersetzt worden und wurde auf diese verschriftlichte Weise für
die Juden zu ihrer ältesten ‚Verfassung‘ überhaupt.8

Doch die bewundernswerte Architektur eines Gebäudes oder die aus-


schließliche Verwendung der griechischen Sprache genügten nicht, um
in einer hellenistisch-römischen Gesellschaft kulturell anerkannt oder
gar integriert zu sein; ganz abgesehen davon, ob es überhaupt mög-
lich ist, eine eigene Kultur in der Architektur von Gebäuden zum
Ausdruck zu bringen. Soziale Beziehungen, die Einbettung in wirt-
schaftliche, intellektuelle und kulturelle Bezüge, gehörten substantiell
zur ‚Akkulturation‘ dazu; vor allem, wenn durch Speisegesetzgebung,
Reinheitsgesetze, Kalenderbestimmungen wie dem Einhalten des Sab-

λεως und legat. 134 auf die Hauptsynagoge µεγστη κα περισηµοτ&τη. Vgl. M. Hen-
gel, Proseuche und Synagoge. Jüdische Gemeinde, Gotteshaus und Gottesdienst in
der Diaspora und Palästina (1971), in: ders., Judaica et Hellenistica: Kleine Schriften I
(WUNT 90), Tübingen 1996, 171–195, bes. 179 f.; G. Hüttenmeister, Συναγωγ9, προσ-
ευχ9 und τπος bei Josephus und der rabbinische Hintergrund, in: J.U. Kalms (Hg.),
Internationales Josephus-Kolloquium Aarhus 1999, Münster 2000, 79–96, hier: 93. Die
alexandrinische Doppelstoa diente als Vorbild der Synagoge von Tiberias; Josephus
erwähnt sie in Vita 277 und die Haggadah MTeh 93 (Ende) bezeichnet sie mit demsel-
ben Ausdruck.
5 Vgl. u. a. C. Haas, Alexandria in Late Antiquity. Topography and Social Conflict,

London 1997, 96 f.
6 M. Hengel, Das Problem der ‚Hellenisierung‘ Judäas im 1. Jahrhundert nach

Christus (unter Mitarbeit von Christoph Makschies), in: ders., Judaica et Hellenistica.
Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, 12–34; F. Siegert, Zwischen Hebräi-
scher Bibel und Altem Testament: Eine Einführung in die Septuaginta (Münsteraner
Judaistische Studien 9), Münster 2001, 25 f.
7 Zu dieser Tendenz vgl. J.M. Modrzejewski, Les Juifs d’Égypte de Ramsès II à

Hadrien, Paris 1997, 115 f.


8 Zur Entstehungslegende vgl. F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel (s. Anm. 6),

26–30.
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bats, die restriktive Behandlung der Mischehenfrage usw. Verweige-


rungsmomente eine so große Rolle spielten wie bei den Juden, ist es
von großer Bedeutung, wie diejenigen Kreise außerhalb der eigenen
Gruppe geschildert und beurteilt werden. Erziehungsfragen bzw. ein
gewisses Wertesystem mussten ja auf jeden Fall dazu gezählt werden.9
Politische Dimensionen vom Bürgerrecht im Gegenüber zu einer ethni-
schen Eigenständigkeit gehörten ebenso dazu und sind zu Recht in der
Forschung Gegenstand intensiver Untersuchungen geworden.

Wie kaum an einer anderen Stelle bricht am Problembereich der Apo-


stasie die Frage nach der Wertigkeit und Funktion von Religion auf:
Wer gehört (noch) zur eigenen Gruppe? Wie kommt man in sie hinein?
Kann man auch aus ihr herausfallen? Wie kann man das beschrei-
ben, was zur eigenen Identität gehört? Wie steht es also um Kern-
und Randbereiche der religiösen Gemeinschaft? Oder, wie es in einem
neueren jüdischen Aufsatz zur Erfassung von Juden in Papyri und
Inschriften heißt—wie sind zu unterscheiden und zu werten: „Good
Jews, Bad Jews, and Non-Jews“?10
Der Vorwurf der ‚Apostasie‘ hat in klassischer Zeit natürlich den
Glaubensabfall, d. h. eine wie auch immer geartete klare, normierende
Vorstellung von Orthodoxie, vor Augen.11 Diese Deutung kann in der
hier angesprochen Zeit nicht vorausgesetzt werden; wie aber müsste
in hellenistisch-römischer Zeit eine solche Beurteilung gefüllt werden
und wie könnte gar ein positiver Begriff als Gegenüber zur ‚Apostasie‘

9 Vgl. den wichtigen Begriff der παιδεα, die in allen literarischen Texten Alexandri-

ens eine herausragende Rolle spielt. Vgl. den Überblick bei M. Hengel, Judentum und
Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas
bis zur Mitte des 2. Jhd. v. Chr. (WUNT 10); Tübingen 31988, 120–142 (vor allem für
Palästina). Besser vielleicht als von ‚Apostasie‘ zu reden wäre der Begriff der Akkomo-
dation, im Sinne einer Überfremdung der eigenen religiösen und kulturellen Wurzel
(aber auch hierbei gibt es beide Tendenzen der Integration und der abgrenzenden
Opposition).
10 G. Bohak, Good Jews, Bad Jews, and Non-Jews in Greek Papyri and Inscriptions,

in: Bärbel Kramer u. a. (Hg.), Akten des 21. Internationalen Papyrologenkongresses,


Berlin, 13.-19.8.1995, Stuttgart / Leipzig 1997, Bd. 1, 105–112; vgl. G.G. Porton, Who
was a Jew?, in: J. Neusner u. a. (Hg.), Judaism in Late Antiquity, Bd. 3: Where we stand:
Issues and Debates in Ancient Judaism, Bd. 2, Leiden 1999, 197–218.
11 Zum Begriff ποστασα als Neologismus der Septuaginta im religiösen Sinn s.

F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel (s. Anm. 6), 279 mit Verweis auf Num 14,9
und Jos 22,16.19; vgl. J.M.G. Barclay, Deviance and Apostasy: Some Applications
of Deviance Theory to First-Century Judaism and Christianity, in: Ph.F. Esler (Hg.),
Modelling Early Christianity: Social-scientific Studies of the New Testament in Its
Context, London u. a. 1995, 114–127.
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aussehen? Wo liegen hierbei innerhalb einer ethnischen Gruppierung


wie den Juden die eigenen Maßstäbe, ganz zu schweigen von dem
schier unlösbaren Problem, solch eine ausgesprochene Abgrenzung von
der Außensicht anzugehen?
Innerhalb einer modernen methodischen Fragestellung einer ,socio-
logy of deviance‘ ist hierbei darum zu Recht immer wieder die Per-
spektive der Interaktion zwischen allen beteiligten Seiten und Grup-
pen betont und auf das Problem einer Stigmatisierung aufmerksam
gemacht worden.12 Dieser Problembereich soll hier im Mittelpunkt ste-
hen und an einem exemplarischen Fall der Gestalt des jüdischen Alex-
andriners13 Tiberius Julius Alexander dargestellt werden.

II. Die Juden Alexandriens in einer


multikulturellen Gesellschaft des 1. Jh. n.Chr.

Weithin wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die jüdische Gemeinde


Alexandriens seit ptolemäischer Zeit aus einer relativ einheitlichen Be-
völkerungsgruppe bestand, auch wenn das keineswegs sicher ist.14 Beim
Aufstand gegen Ptolemaeos Physkon hielten sich die Juden zur alex-
andrinischen Oberschicht.15 Auf jeden Fall waren sie zu dieser Zeit
eine ethnische Gruppe mit großem Einfluss und einer Reihe eigener
Rechtsverhältnisse, weniger in sozialer, eher aber in kultureller Hin-
sicht. Muss man im Rom schon von den ersten—noch recht im Dun-
keln liegenden—Zeiten im Plural von ‚den Gemeinden‘ reden, kann
man für Alexandrien durchaus erwägen, sich für diese Zeit mit dem
Singular begnügen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die literarische
Erwähnung einer großen Anzahl von Synagogengebäuden dadurch

12 Zur Thematik s. weiter J.M.G. Barclay, Jews in the Mediterranean Diaspora

from Alexander to Trajan (323 BCE – 117n CE), Edinburgh 1996, 92–102; S. Pearce,
Belonging and Not Belonging: Local Perspectives in Philo of Alexandria, in: S. Jones,
S. Pearce (Hg.), Jewish Local Patriotism and Self-Identification in the Graeco-Roman
Period, Sheffield 1998, 79–105.
13 Zur—wohl despektierlichen—Bezeichnung bei Tacitus, Hist. 1,11:1 f. als „Ägyp-

ter“ s. u. In dem von ihm überlieferten Edikt OGIS 669, Z. 3 f. als Präfekt von Ägyp-
ten ist schon zu Anfang die persönliche Verbundenheit mit seiner Heimatstadt—sicher
nicht nur als captatio benevolentiae—mit Händen zu greifen.
14 Erst für die römische Zeit hat z. B. V. Tcherikover unterschiedliche politische Prä-

ferenzen unter den Juden z.Zt. des Claudius postuliert, ohne das näher zu spezifizieren
in CPJ 1, 72–74.
15 Jos.Apion. 2,13 ff.
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keine historische Plausibilität mehr hätte; die (wenigen) epigraphischen


Zeugnisse sind über die ganze Stadt verstreut; das alles unterstreicht die
ungehinderte Verbreitung der jüdischen Bevölkerung,16 die es schwierig
macht, in dieser Zeit von einer wie immer gearteten Gettoisierung aus-
zugehen, was auch später nach den ersten Pogromen immer noch nicht
ganz zutreffend sein wird. So begegnen uns in Alexandrien keinerlei
Nachrichten über selbständige Synagogengemeinden.17
Josephus behauptet schon für die frühe ptolemäische Zeit eine jü-
dische Einwohnerschaft. Seinen pauschalen Angaben muss aber mit
Skepsis begegnet werden.18 Aber es könnte durchaus sein, dass in Alex-
andrien zu Beginn der römischen Zeit 20–30 % dieser größten Stadt
des östlichen Mittelmeerraumes der jüdischen Bevölkerung zugerech-
net werden könnten.19 Das macht die Gemeinde so außerordentlich
interessant für die Erforschung der Fragen zur gesellschaftlichen Inte-
gration und religiösen Abgrenzung. Auf jeden Fall ist noch für die

16 Auch Philon spricht von allen Bezirken, in denen Juden sich niedergelassen haben

(Philo Flacc. 55; Philo legat. 132). Es ist nur natürlich, wenn ethnische Gruppen sich
dann auf einige Teile der Stadt besonders konzentrierten; so gab es auch in Edfu
(Apollinopolis Magna) einen (vierten) Bezirk mit der Bezeichnung „Delta“, in dem viele
Juden konzentriert lebten; CPJ. II, 108 f. Über 20 der rund 240 Ostraka aus der Zeit
nach 70 n.Chr. beginnen dort mit der (Orts-)Angabe δ’ µφδου CPJ 213.216.221.346.
349.351.356.372 usw.
17 Die Vielfalt jüdischer Einstellungen wird für Alexandrien damit grundsätzlich

nicht bestritten. Das gilt vor allem nicht für die anderen Stimmen aus Ägypten, wo
der Kult am Tempel von Leontopolis nach der Meinung mancher Historiker heute
eine besondere Rolle mit einer größeren Tendenz zur Abgrenzung gespielt haben muss.
Dabei ist aber auch das Stadt-Land-Gefälle mit zu berücksichtigen. Über Sympathisan-
ten oder Gottesfürchtige aus Alexandrien besitzen wir keinerlei Nachrichten; allerdings
spielt der Begriff εοσεβ9ς bei Philon durchaus eine wichtige Rolle. Bei ihm wird dabei
aber eine Anspielung auf den ethnischen Begriff „Israel“ vorauszusetzen sein, der in
den Auslegungen selbst weiter allegorisiert wird.
18 Jos.Apion. 2,35.42; vgl. Jos.Bell. 2,287. Für die Zeit unter den beiden ersten

Ptolemäern spricht der Aristeasbrief allgemein von 100 000 Kriegsgefangenen (Arist.
37: Iπρ δκα µυρι&δες αEχµαλ<των). Philo Flacc. 43 spricht von einer Million Juden in
Niederägypten bis nach Äthiopien, einschließlich Alexandrien.
19 Vgl. die Zahlenangabe von mehr als 300 000 freien Bürgern der Stadt (λευτ-

ροι) bei seinem eigenen Besuch Diod.Sic. 17.52,6. Strab.Geogr. 16.2,5 spricht von einer
halben Million Einwohnern. Sichtlich entsetzt kritisiert Theokrit (15,45) das Bad in der
Menge beim Dionysosfest mit den Worten µHριακες ν&ριµοι κα Jµετροι. Josephus
erwähnt Jos.Bell. 2,385 für ganz Ägypten eine Bevölkerungszahl von siebeneinhalb Mil-
lionen, was Diod. Sic. (1.31.8) in etwa bestätigt. Vgl. neuerdings B. McGing, Population
and Proselytism: How many Jews were there in the Ancient World?, in: J.R. Bartlett
(Hg.), Jews in the Hellenistic and Roman Cities, London 2002, 88–106. Er geht für die
frühe römische Zeit von einer Zahl zwischen 330 000 und 410 000 Juden in der Stadt
aus.
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ganze frühe römische Zeit ein gewichtiger jüdischer Einfluss in der


Stadt vorauszusetzen. Von Delegationen nach Rom z. B., die ja eine
wichtige Rolle für den Kontakt jeder (Provinz-)Stadt mit Rom spiel-
ten,20 ist neben den offiziellen der Alexandriner21—soweit ich sehe ohne
Ausnahme—als eine eigenständige Gruppe nur noch etwas von denen
der Juden, mit der berühmten unter der Beteiligung Philons zu Cali-
gula bekannt.22
Während kaum Nachrichten über die ärmeren Bevölkerungsschich-
ten existieren, haben sich literarisch wie auch papyrologisch und epi-
graphisch eine Reihe solcher über die wohlhabenden Gemeindeglieder
erhalten. Selbst der eine bekannte Fall der Bitte um die alexandrini-
sche Bürgerschaft durch Helenos, dem Sohn des Tryphon, der sein
ganzes Leben in Alexandrien zugebracht hat (διατρεψας ντα α τ ν
π&ντα χρνον), muss dieser wohlhabenderen Schicht zugeordnet wer-
den.23 Sein Vater war alexandrinischer Bürger (ΑλεχανδρεHς) und Hele-
nos hatte eine dort eine Ausbildung erhalten (παιδεα). Leider ist der
Brief in seinem Hauptteil nicht mehr zu entziffern, so dass keine prä-
zisen Angaben zum Anlass und zu den Hintergründen seiner Veran-
lagung zur Steuerzahlung entnommen werden können. Auf jeden Fall
wird sein Absender—anders als seine Familie?—zum jüdischen ethnos
gezählt.24

20 Obwohl Alexandrien als senatorisches Gebiet einen besonderen Status innehatte;

zur Bezeichnung vgl. Philo prob. 125: Αλεξ&νδρεια 7 πρ ς ΑEγHπτω legat. 250; genauso
mehrmals Strabon (Strab.Geogr. 1.1,12; 1.3,17; 16.2,5 u. ö.); die Römer nannten die
Stadt Alexandria ad Aegyptum.
21 Zur Vorbereitung einer Gesandtschaft zu Nero s. Jos.Bell. 2,490; Zur Konfron-

tation zwischen einer alexandrinischen mit einer jüdischen Gesandtschaft vor Trajan
vgl. das fiktive Dokument CPJ. 157 (Acta Hermaisci) und einer solchen vor Hadrian
(?) vgl. die Fragmente CPJ 158 (Acta Pauli et Antonini). Bei der ersten scheint man
gezielt religiöse Symbole mitgebracht zu haben; eine—weinende—Serapis-Büste wird
erwähnt.
22 Zur Legatio ad Gaium vgl. M. Smallwood, Philonis Alexandri: Legatio ad Gaium,

Leiden 1961, 3–14; C. Kraus Reggiani, I rapporti fra l’impero romano e il mondo
ebraico al tempo di Caligola seconda la ‚Legatio ad Gaium‘ di Filone Alessandro, in:
ANRW II. 21.1, Berlin 1983, 554–586.
23 Vgl. CPJ. 151 (5–4 v.Chr.) mit der Verbesserung über der Zeile als „Jude aus

Alexandrien“ (aΙουδαου τν Αλεξανδρεας statt Αλεξανδρως), wo aber leider vom


Papyrus nur 8 Zeilen lesbar sind.
accents ok?

24 Im Gegensatz der gängigen Auslegung kann man aus den Angaben keine Aber-

kennung oder eine Nichtanerkennung des alexandrinischen Bürgerrechtes herauslesen.


Zur Frage nach dem Bürgerrecht vgl. D. Delia, Alexandrian Citizenship During the
Roman Principate, Atlanta 1991. Zu Tiberius Julius Alexander s. u.
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Die jüdische Gemeinde befand sich also—das gilt vor allem für ihre
Oberschicht—innerhalb eines komplexen Geflechts von unterschied-
lichen Bevölkerungsgruppen und Rechtsverhältnissen, Interessen und
Zielen. Das vertraute Modell einer Dreischichtengesellschaft ist sicher
zu einfach, um diese Situation angemessen zu umschreiben. Neben
Griechen, Römern, Juden und Ägyptern sind hierbei andere Minder-
heiten wie Perser und Samaritaner zu berücksichtigen.25 So erwähnt
z. B. Philon in seinen beiden Traktaten Legatio ad Gaium und In Flaccum
nicht nur Römer, Ägypter und Griechen, sondern auch Syrer / Phöni-
zier,26 Lybier, Äthiopier und andere afrikanische Völker.27 Hier hat
sicher auch das klischeehafte Reden von Juden, Ägyptern und Phö-
niziern28 seinen ethnischen Hintergrund.

III. Der Claudius-Brief29 und seine Bedeutung für die Frage


nach der Integration der jüdischen Einwohnerschaft

Dieses kaum zu überschätzende Dokument soll zunächst kurz in den


Mittelpunkt gestellt werden. Als kaiserliche Reaktion auf die alexandri-
nischen Gesandtschaften, die pogromartigen Vorfälle in der Stadt noch
zur Zeit seines Vorgängers und die drohenden weiteren Verschärfungen
der Auseinandersetzungen gibt dieser Text kompetent die kaiserliche
Sicht der städtischen Verhältnisse wieder. Die Konfliktparteien werden
direkt angesprochen und jeweils in ihre Grenzen gewiesen. Schon von
Anfang an, in den ersten Zeilen des Claudius nach dem üblichen Prae-
skript mit Absenderangabe, Gruß und Adresse, werden die religiösen
Interessen aller Seiten sichtbar. Das zeigt sich zum einen an den beson-
deren Ehrenbekundungen der Alexandriner für den neuen Kaiser, vor
allem dann ausführlich in den Passagen, die sich auf die Konflikte zwi-
schen Juden und Griechen beziehen. Mit einem gezielten Schlussappell

25 Vgl. Jos.Ant. 12,10; 13,74–79.


26 Flacc. 39; legat. 252.
27 Flacc. 43.45.152 u. ö.; zu Italien vgl. Flacc. 109 u. ö.; legat. 10 u. ö.; P.M. Fraser,

Ptolemaic Alexandria, Bd. 1, Oxford 1972, 54 ff. erwähnt noch Perser, Idumäer, Araber,
Kreter und Thraker.
28 Vgl. Flacc. 39.
29 πιστολ9 wie er im Anschreiben des ägyptischen Präfekten Lucius Aemilius Rectus

bezeichnet wird. CPJ. 153 lässt sich damit als Reskript erweisen. Vgl. dazu demnächst
G. Schimanowski, Juden und Nichtjuden in Alexandrien. Koexistenz und Konflikte bis
zum Pogrom unter Trajan (117 n.Chr.) (Münsteraner Judaistische Studien 17), Münster
2005, Kap. 3.3.
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gemeinsam an Juden und Griechen will Claudius mit seinem Schrei-


ben ein Zeichen setzen, das den Konflikt grundsätzlich zu entschärfen
versucht.

Durch das Stichwort der εσβεια / εσεβ9ς wird schon in der einleiten-
den captatio benevolentiae30 in der direkten Reaktion auf die alexandrini-
sche Gesandtschaft zur Kaiserhuldigung in Rom auf die Form des Kai-
serkultes (Z. 23.33) eingegangen. Dies ist umso nötiger, als die kritischen
Beziehungen Alexandriens zur Kaiserherrschaft in Rom gut bekannt
waren.31 Religiöse Verehrung war anerkennende Beziehungsaufnahme
zwischen Rom und der seit Augustus als kaiserlicher Besitz geltenden
ägyptischen Stadt.
Der Bezug zum sofort folgenden Thema ,Geburtstagsfeier des Kai-
sers‘ unterstreicht noch einmal, dass es sich hierbei nicht nur um all-
gemeine Floskeln handeln kann, die keinen binden. Die neu errichte-
ten Statuen des Kaisers und seiner Familie, zu deren Aufstellung die
Erlaubnis des Kaisers eingeholt werden musste, symbolisierten somit
das neue politische Zeitalter bei Herrschaftsbeginn des Claudius. Dies
wird auch nicht durch die in dem Reskript ausgesprochene Ablehnung
von Tempeln und einer Ernennung eines Oberpriesters beim Abschluss
des ersten Themas zu den Kaiserehrungen korrigiert (Z. 48 f.); hier
scheint sich vielmehr eine vorsichtige Kursänderung gegenüber der
Praxis unter Caligula auszudrücken.32
Ganz deutlich wird die religiöse Seite der Auseinandersetzung, wenn
beim letzten Thema des Edikts der militante Konflikt aus dem Jahr 38
in das Blickfeld rückt, was sicher neben den Feierlichkeiten zum Regie-
rungsantritt den aktuellen Anlass des Dokumentes ausmacht. Die Alex-
andriner (Αλεξανδρες)—primäre Adressaten des Schreibens—werden
ausdrücklich aufgefordert, die religiösen Gebräuche (1η) der jüdischen
Mitbewohner zu achten und keinesfalls ihre Art der Gottesverehrung
(τν πρ ς ρησκεαν […] νενοµισµνων το εο ) schlecht zu machen
(λυµανωνται, Z. 85–87). Interessant ist dabei, dass die Juden (Ιουδαοι)33
immer als ein geschlossenes Gegenüber erscheinen, einmal sogar die
griechische und jüdische Seite gemeinsam innerhalb einer kaiserlichen

30 Durch die Anhäufung der aufgezählten ,Guttaten‘, vor allem durch die wieder-
holte Vorsilbe ε-, wird die Stereotypik zu Beginn des Reskriptes greifbar.
31 Das ist nicht viel anders als in Jamnia ( vgl. Jos.Ant. 18,31; Bell. 2,167. Die

Konflikte in Jamnia werden auch bei Philo legat. 120. 137 angesprochen.
non-matching parenthesis

32 Vgl. Z. burtstag als dies Augusti zu feiern.


33 Z. 83.88.97.
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die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 119

Anhörung angesprochen wird,34 dagegen die ägyptische Bevölkerung


keine Erwähnung findet.
Nichts deutet an dieser Stelle auf die strittige Frage nach einem jüdi-
schen Interesse nach mehr Rechten oder gar auf das Ziel, das alexan-
drinische Bürgerrecht zu bekommen, wie oft in der Forschung bis heute
der Brief interpretiert worden ist. Die Bestimmungen einer eigenen
innergemeindlichen Regelung, religiöser und / oder rechtlicher Angele-
genheiten sind davon ganz und gar unbenommen und gehören zu den
verbürgten, angestammten Rechten, die schon Augustus zu Beginn sei-
ner Herrschaft über Ägypten den Juden zugesichert hatte. Es ist zwar
nicht möglich, dass diese Verhältnisse schon auf Caesar selbst zurückge-
hen, also auf die ersten Stunden der römischen Herrschaft über Alex-
andrien, wie Josephus behauptet. Aber der Tendenz nach könnten sie
der Religionspolitik Caesars durchaus entsprochen haben.35
Insgesamt wird das aktuelle Zusammenleben an mehreren Stellen
als ein extrem spannungsvolles konstatiert. Die drei sich steigernden
Begriffe ταραχ9, στ&σις und πλεµος (Z. 73 f.) beziehen sich zunächst auf
die erst kurz zurückliegenden Auseinandersetzungen, beschreiben letzt-
lich aber grundsätzlich die gegenwärtige, konfliktgezeichnete Situation.
Weiterhin charakterisiert der Kaiser sie grundsätzlich (Z. 79 f.) als „diese
verderbliche, eigensinnige Feindschaft36 gegeneinander“ (Lλριον Lρ-
γ:ν ταHτην κατ’ λλ9λων α&διον).

Hiermit wird Claudius sicher nicht die lange Geschichte der Ausein-
andersetzungen im Blick haben, wie es bei Josephus der Fall ist,37
geschweige denn auf althergebrachte antijüische Tendenzen. Die bei-

34 Im Sinne einer offiziellen kaiserlichen Untersuchung: διακοHσας µφοτρων, Z.


88.
35 Vgl. Jos.Ant. 14,188; c. Ap. 2,37—aber Alexandrien gehörte noch gar nicht zum

römischen Herrschaftsbereich! Zu den rechtlichen Fragen s. M. Pucci Ben Zeev, Jewish


Rights in the Roman World. The Greek and Roman Documents Quoted by Josephus
Flavius (TSAJ 74), Tübingen 1998 und G. Schimanowski, Juden und Nichtjuden (s.
Anm. 29), Kap. 3.1.
36 Die Lργ9 könnte auch ein Element tragischer Verstrickungen beinhalten; vgl.

W. Stählin, Art. Lργ9 ThWNT V (1954), 383 f. zur Bedeutung innerhalb der griechi-
schen Tragödie. Ob Claudius mit seiner Wortwahl bewusst auf diesen Hintergrund
abhebt?
37 Vgl. die Festlegung einer Leitlinie als Dauerkonflikt in Jos.Bell. 2,487, wobei aller-

dings nicht die Griechen direkt als Gegenüber benannt werden, sondern allgemein die
einheimischen Mitbewohner (πιχωροι = Ägypter? oder ganz allgemein die Einwoh-
ner?). Ähnlich verhält es sich kurz darauf in Jos.Bell. 2,489 mit dem Stichwort der
συµβολα (…) δι&λειπτοι.
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den Adjektive betonen eher die Überflüssigkeit und zeitliche Beschrän-


kung des Konfliktes.38 Als Gegenbegriffe sind dabei sicher zu denken:
Ruhe und Ordnung.
Gegenüber den Alexandrinern werden die Juden nun vehement auf-
gefordert, von allen Erweiterungen ihrer bisherigen Privilegien abzulas-
sen; das ist der grundlegende Orientierungsmaßstab des Claudius, der
sich durch alle angeführten vier Beispiele durchzieht.39 Dazu gehören
die Beziehung zum Kaiserhaus, die durch eine verwirrende Gesandt-
schaftspraxis getrübt wurde und den Ärger des Herrschers hervorrief,40
und vor allem der Zuzug weiterer Landsleute in die Metropole. Anlei-
hen aus einem latent antijüdischen Vokabular in der abschließenden
Drohung (Z. 99 f.), „Erreger einer allgemeinen Plage für die ganze
Welt“ zu sein (κοιν:ν τινα τAς οEκουµνης νσον), offenbart das latent
vorhandene kaiserliche Misstrauen gegenüber jüdischen Angelegenhei-
ten. Seine Sympathien galten sicher in erster Linie den griechischen
Interessen;41 trotzdem versucht Claudius mit allen ihm zur Verfügung
stehenden Mitteln, den status quo ante zu erhalten und alles zu ver-
meiden, was einer Verschärfung der (ethnischen) Spannungen gleich
kommen würde. Die politische Leitlinie ist durchgängig der Erhalt von
Ruhe und Ordnung.
Am Schluss des Briefes deutet der Kaiser kurz an, wie er sich grund-
sätzlich ein konfliktloseres Zusammenleben zwischen den zerstrittenen
Gruppen vorstellt. Da diese Formulierungen am Ende des Schreibens
und damit als Höhepunkt grundlegende Bedeutung besitzen, sei der
ganze Abschnitt zitiert (Z. 100–104):
Wenn ihr von diesen Dingen ablasst und in gegenseitiger Nachsicht und
Freundlichkeit miteinander leben wollt, will ich meinerseits die wohl-
wollendste Fürsorge für die Stadt walten lassen (6ν τοHτων ποστ&ντες

38 Als zu verachtende Leitlinie eines politischen Handelns für die Führungsschicht

erscheint der Begriff Lργ9 auch bei Jos.Ant. 19,334.


39 Dabei werden allerdings nur sehr bedingt die konkreten Hintergründe deutlich,

z. B. ob hier Präventivmaßnahmen anklingen oder auf akute Vorfälle abgespielt wird.


40 Der Imperator hat wohl zwei eigenständige jüdische Gesandtschaften vor Augen.

V. Tcherikover, CPJ. II, 50 spricht zu Recht vom crux interpretum. Die Gruppen könnten
sich voneinander durch strategische oder psychologische Vorgehensweise unterschieden
haben; das bleibt aber reine Spekulation; vgl. P. Schäfer, Judaeophobia in the Ancient
World, Cambridge u. a. 1997, 151.
41 Der Anfang des Ediktes macht seine positive Einstellung gegenüber Alexandrien

deutlich; erwähnt wird die Aufstellung eines Obelisken; vgl. die Errichtung eines
Leuchtturmes in Ostia unter Claudius, dem in Alexandrien ähnlich: Sueton, Claudius
20.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 121.

die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 121

µφτεροι µετ6 πρατητος κα φιλανροπεας τAς πρ ς λλ9λους ζAν ε-


λ9σητε), ganz wie sie mir durch das Haus meiner Vorfahren (wie ein
Erbe) zu Eigen ist (κα γ<ι πρνοιαν τAς πλεως πο9σοµαι42 τ:ν νατ&-
τωι43 κα&περ κ προγνων οEκας Iµν44 IπαρχοHσης).

Der entscheidende Akzent des Dokumentes liegt offensichtlich auf der


Angabe „miteinander in gegenseitiger Nachsicht und (Menschen-)
Freundlichkeit zu leben“. Als positive politische Leitlinien erscheinen
die Begriffe πρατης und φιλανρωπα. Beide haben exemplarische
Bedeutung. Letzterer spielte schon vorher in der Mahnung an die Alex-
andriner eine entscheidende Rolle.45 Vor allem kennzeichnet φιλανρω-
πα sein eigenes Vorgehen und das Verhalten eines Kaisers überhaupt.46
Ganz ähnlich stellt sich auch Josephus das Verhalten der römischen
Kaiser vor,47 selbst wenn unglückliche Umstände anderes eintreten las-
sen. Vergleichbares lässt sich auch zum ersten Begriff herausstellen:48
Mit πρατης werden beispielhaft die Leitlinien herausgestellt, die in der
Antike für ein vorbildliches Verhalten der politischen Führer überhaupt
stehen.
Die Frage nach der Religionsausübung steht gegenüber allen ande-
ren, ebenfalls mit zu berücksichtigenden Ebenen auch bei den Vorstel-
lungen des Kaisers im Vordergrund. Damit bestätigt sich von diesem
Schreiben her das Recht der jüdischen Darstellung der Dinge mit dem
Akzent auf religiöse Voreingenommenheiten. Dieser Vorwurf muss bei
der römischen Seite auf offene Ohren gestoßen sein.49 Das Recht auf

42 Über die Linie geschrieben und soll sicher ποι9σοµαι heißen.


43 Lies: νωτ&τωι, am ehesten (Artikel!) mit Bezug auf πρνοιαν.
44 Viele lesen: οEκεας 7µν. Natürlicher ist: 7µν κ προγνων οEκας.
45 Z. 83: πραως κα φιλανρπως προσφροτε Ιουδαοις.
46 S.Z. 81: 7γεµν φιλ&νροπος.
47 Im Zusammenhang der Eroberung Jerusalems nach Jos.Bell. 6,340.387; vgl.

Jos.Bell. 5,335; 7,34. Die clementia von Vespasian und Titus stellt auch Jos.Bell. 7,451
dar. Zum Ganzen vgl. neuerdings S. Mason, What a Difference an Audience Makes:
Josephus’ Bellum Iudaicum in Flavian-Roman Context, in: J. Sievers, Gia Lembi (Hg.),
Josephus and Jewish History in Flavian Roman and Beyond (JSJ Suppl. 104), Leiden
2005, und die Anmerkung zu Jos.Bell. 6,333 (Anm. 164).
48 Zu πρατης bei Josephus vgl. die wenigen, aber aussagekräftigen Texte Jos.Bell.

6,340 (parallel zu φιλανρωπα); 6,383; 7,451; Jos.Ant. 19,334 (als Gegenbegriff zu Lργ9)
und Jos.Bell. 2,340.
49 Grundsätzlich zu dieser Frage vgl. K.A.D. Smelik, E.A. Hemelrijk, ‚Who knows

not what monsters demented Egypt worships¿ Opinions on Egyptian Animal Worship
in Antiquity as Part of the Ancient Conception of Egypt, in: ANRW II.17.4, Berlin
1984, 1852–2000, bes. 1920–1981.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 122.

122 gottfried schimanowski

Ausübung der eigenen religiösen Traditionen wurde weitgehend geach-


tet; das war in einem Konflikt jeder Seite bekannt, wurde intensiv zur
eigenen Argumentation genutzt und ist in Absetzung von der Gegen-
seite immer wieder herausgestellt worden.50
Dies gilt nun ganz abgesehen von der weitergehenden Frage, ob
die Unruhen in Alexandrien ihren entscheidenden Anstoß ebenfalls
aus religiösen Anlass bekommen haben; was m. E. zu verneinen ist.51
Aber die politischen und sozialen Gründe, die dafür zu veranschla-
gen sind, konnten auf latent vorhandene Vorgänge und Hintergründe,
antijudaistische Tendenzen, die in Ägypten wie in Alexandrien eine
längere Vorgeschichte besaßen, treffen, die durch aktuelle Konflikte
eine Eigendynamik bekamen und dann nicht mehr zurückzunehmen
waren.52 Die hohe symbolische Bedeutung der Entheiligung der Syn-
agogen in den Auseinandersetzungen, die Philon in den beiden Trakta-
ten In Flaccum und Legatio ad Gaium schildert, macht das augenfällig. Das
wird in den Augen der Römer ein entscheidendes Argument gewesen
sein, denn sie galten als unantastbar und waren durch ihre Weihin-
schriften in besonderer Weise mit dem Kaiserhaus verbunden.53 Über-
haupt scheint bei der Interpretation der Quellen, wie sie bei Philon
(und nur bei ihm in Ausführlichkeit) vorliegen, eine stärkere Berück-
sichtung der römischen politischen und religiösen Vorstellungen zu ver-
dienen.54

50 Vgl. die Interpretation von J.M. Modrzejewski, Juifs (s. Anm. 7), 252.
51 Josephus scheint in seiner Fassung bzw. seinen Fassungen an Alexandrien und
darüber hinaus an alle Städte des Mittelmeerraumes, in denen Juden wohnen, dieses
Edikt bewusst in seinem Sinne verändert zu haben. In der Literatur sind die treibenden
Motive höchst umstritten. Zum Ganzen vgl. demnächst meine Monographie Juden und
Nichtjuden (s. Anm. 29) Kap. 3.4.
52 Siehe hierzu überzeugend P. Schäfer, Judaeophobia (s. Anm. 40).
53 Das ist auch ein entscheidendes Argument bei der Darstellung der jüdischen Pri-

vilegien des Josephus in Jos.Ant. 14 (und 16). Vgl. M. Pucci Ben-Zeev, Jewish Rights
(s. Anm. 35) und die mehrfache, gekonnt platzierte, Erwähnung der προσευχα bei der
Schilderung der jüdischen Leiden in Legatio ad Gaium, siehe Einleitung XXVI als
einer der beiden Schwerpunkte (neben der Frage nach der πολιτεα). Die in diesen Tex-
ten angesprochenen Probleme konnten durchaus—weil sie in den Augen der Gegner
durchaus an Privilegien heranreichten—politischen Sprengstoff in sich tragen, der sich
dann zu geeigneter Zeit sein Ventil suchte.
54 Dies hat die neueste Arbeit über Philons Selbstverständnis zu Recht herausarbei-

tet: M. Niehoff, Philo on Jewish Identity and Culture (TSAJ 86), Tübingen 2001.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 123.

die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 123

IV. Zur Familie des Tiberius Alexander

Alexander, der Bruder Philons und Vater des Tiberius Julius Alexander,
war eine reiche, bekannte Persönlichkeit Alexandriens.55 Auch wenn
wir nicht exakt wissen, was hinter dem Amt des Alabarchen / Arabar-
chen steckt, das er bekleidete,56 so ist doch sicher, dass diese Aufgabe
mit dem Steuer- und Zollwesen, also mit erheblichen Summen von
Geld, verknüpft war.57 Alexander ist mit großen Geldsummen dem
Kaiserhaus entgegengekommen. Z. B. war er Vermögensverwalter58 der
Antonia, der jüngeren der beiden Töchter des Augustus und der Octa-

55 Vgl. K.G. Evans, Alexander the Alabarch. Roman and Jew, SBL Seminar Paper

(131) 34 (1995), 576–594; J. Schwartz, Note sur la famille de Philon d’Alexandrie, AIPh
(1953), 591–602.
56 Belegt ist dieses römische Amt (Alabarchus) in Ägypten erst aus dem 2. Jh.

n.Chr. (OGIS 202 mit der Angabe eines Tarifs für den Hafenumschlag), es hatte aber
sicher ptolemäische Vorbilder. Ein Kollegium von Alabarchen war zu dieser Zeit für
die Erhebung der Einfuhrsteuer in Koptos zuständig (F. Preisigke [Hg.], Sammelbuch
griechischer Urkunden in Ägypten Bd. 18, Nr. 13167, vers. 2,1 ff.). Der Alabarch war
auch für den Einzug der Straßengebühren auf der Straße von Koptos zum Roten
Meer zuständig (OGIS 674), was aber sicher weitere Ausdehnungen implizierte über
das Rote Meer hinaus; zu Jos.Ant. 20,147 Demetrios s. die nächste Anm.; sonst sind
auch unbekannte Namen bei der Bekleidung dieses Amtes genannt. Hängt damit die
Notiz bei c. Ap. 2,64 zusammen, dass Juden von Ptolemaios (?) die Verantwortung
„für den Fluss“ übernommen hätte (was textkritisch aber schwierig ist: id est fluminis
custodiam totiusque custodiae [Boysen, cj: prouinciae]; eine vergleichbare Angabe findet sich
Jos.Bell. 1,175, die jüdische Verantwortung unter Antipater für die Nilmündung in
Pelusium: φρουρο ντας τ6ς κατ6 τ ΠηλοHσιον µβολ&ς; der Ausdruck hat militärische
Konnotationen: Polybios 3.78,6: τ6ς […] µβολ&ς τ6ς εEς τ:ν πολεµαν χ<ραν; weiter
Jos.Ant. 14,99: φHλακας ντας τν εEς τ:ν ΑSγυπτον µβολν).
57 Eine andere bekannte Persönlichkeit in diesem Amt war Demetrios, der zweite

Ehemann von Mariamne (IV.), der Tochter Agrippas I. (Jos.Ant. 20,147). Eine andere
Begriffsbestimmung (V. Burr) leitet die Wurzel von áøò ab (Ez 27,9): Verantwortlichkeit
für die Handelszölle. Ganz unwahrscheinlich ist die Erklärung von Rostovzeff, hier
wäre die „Judensteuer“ im Blick; diese wird aber erst unter Vespasian 69/70 n.Chr.
eingeführt (s. u.). In der rabbinischen Literatur erscheint eine Erklärung für Avrakh
(Gen 41,43) für den Begriff éëøáì ñéëøáì in einer HS der Begriff ñåëøôà (1παρχος
Abarchus = Alabarchus?), siehe Sifre Dtn 1,1 Ende (nach D. Hoffmann, Midrash
Tannaim zu Deuteronomium, Berlin 1908; und S. Fisch [Hg.], Midrash Hagadol, Sefer
Bamidbar [2 Bde.], London 1963, 122 f.); Yalqut Shim"oni 1,792.
58 Vgl. auch die zweimalige Erwähnung eines Landbesitzers mit diesem Namen

„Gaius Julius Alexander“, eines Landbesitzers in Euhemeria, im Fayyumtal (CPJ 420


aus dem Jahr 26 bzw. 28/29 n.Chr.; Alexander, der Sohn von Herodes d. Gr. und
Mariamne [I.], wurde schon 7 n.Chr. umgebracht [s. u.], fällt also als Person weg—so
noch Rostovzeff). Derselbe Name Gaius Julius Alexander erscheint auch P.Mil.9 (13/14
v.Chr.) mit den ersten beiden Buchstaben des Vaternamens éå(… ), Sohn des Psoneos
4 dots replaced by 3, ok?
oder Psobtis. Natürlich kann es sich dabei auch um eine völlig andere Person handeln.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 124.

124 gottfried schimanowski

via. Sie, die „Augusta“,59 war ja die Mutter des Claudius, des späteren
Kaisers. Josephus, von dem die einzigen Zeugnisse über den Alabar-
chen erhalten sind,60 erwähnt seine prächtigen Geschenke an den Tem-
pel in Jerusalem.61
Josephus hat dabei mit seiner Kennzeichnung Alexanders als je-
mand, der „alle Mitbürger an Herkunft und Reichtum übertraf“ (γνει
τε κα πλοHτω πρωτεHσαντος), ein besonderes Lob bereit. Konkret ver-
merkt er im 5. Buch des Bellum Judaicum wie gerade erwähnt, dass
Alexander die neun Tore des inneren Tempels auf eigene Rechnung
kostbar mit Gold und Silber ausschmücken ließ.62 Eine aktive Unter-
stützung des Jerusalemer Tempels genügte somit Josephus, um dessen
jüdische Identität hinreichend zu kennzeichnen.63
Alexander64 scheint insbesondere Herodes Antipas I. finanziell mit
großzügigen Darlehen und reichlichen Geldgeschenken unterstützt zu
haben, dessen Tochter Berenike er 41. n.Chr. mit seinem ältesten Sohn
Marcus verheiratete. Ob er persönlich in die Affären der Auseinander-
setzung der jüdischen Gemeinde Alexandriens mit Caligula verfloch-
ten war, ist eher unwahrscheinlich; allerdings wird er wahrscheinlich zu
jener Zeit in Rom gewesen sein, von Caligula festgesetzt und erst durch
Kaiser Claudius seine Freiheit wiedererhalten haben. Da sein Name in
der Schilderung der Ereignisse durch Philon oder bei der Nennung der
sechs jüdischen Abgesandten an den Kaiser Caligula nicht erscheint,
wird er kaum in die Auseinandersetzungen der Gesandtschaften aus

59 Diesen Beinamen erhielt sie von Caligula und Claudius (Suet.Cal. 15,2; Suet.Cl.
11,2).
60 Jos.Ant. 18,159 f.259.276; 19,277 f.; 20,100; Jos.Bell. 5,205. Die fünfte Stelle ist die

einzige (!) bei Philon, in der sein Bruder erwähnt zu sein scheint; sie stammt aus dem
nur armenisch überlieferten Traktat De Animalibus. So bezieht sich Lysimachus in der
philosophischen Diskussion zwischen ihm und Philon auf einen Schwager (oder Onkel)
und er erwähnt einen jungen Mann („adolescens“; wohl ν9πιος; s. u.). Agrippa I. scheint
dagegen ein wichtiger, möglicherweise der entscheidende, Anstoß für die Unruhen in
Alexandrien gebildet zu haben, die schließlich im Pogrom 38 n.Chr. endeten.
61 Jos.Bell. 5,205.
62 Jos.Bell. 5,204 f.
63 Vgl. die großen Schenkungen des zum Judentum übergetretenen Königs von

Adiabene. Innerhalb des näheren Kontextes von Tiberius Julius Alexander wird auch
die ebenfalls zum Judentum übergetretene Mutter des Königs, Helena, erwähnt mit
Schenkungen an die von akuter Hungersnot betroffenen Judäer.
64 Möglicherweise sind zwei Papyri, die die wirtschaftlichen Probleme eines Land-

gutes, das früher einmal einem Gaius Julius Alexander gehörte, ansprechen (CPJ 420a
und 420b, von 26 bzw. 28/29 n.Chr. aus Euhemereia), auf den Bruder Philons zu bezie-
hen; so die Einleitung CPJ II, 200 und J.M. Modrezejewski, Juifs (s. Anm. 7), 256.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 125.

die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 125

Alexandrien eingegriffen haben. Er hat sich wohl als kluger und erfolg-
reicher Geschäftsmann aus dem Konflikt herausgehalten.

Für den politischen Weg des Sohnes Julius Tiberius Alexander mögen
zunächst einige wenige Striche genügen. Schon aus der Namengebung
in der Familie kann man folgern, dass Alexander das römische Bür-
gerrecht besaß.65 Damit galt er auch in der Stadt Alexandrien selbst
als Vollbürger der Stadt. Das wird eindeutig aus den Namen, Tiberius
Julius und seines Bruders Markus Alexander, den tria nomina,66 und aus
dem Ritterstand des Tiberius Julius erkennbar.67 Die Namen mit dem
deutlichen Bezug zu den Kaiserhäusern lassen ein hohes Maß an Inte-
grationsbereitschaft erkennen.
Seine Person muss daher eingezeichnet werden in die drei sozialen
Identitäten eines Römers, Alexandriners und Juden. Möglicherweise
hatte er durch Vermittlung und Einfluss Agrippas, als Vater seiner
Schwägerin Berenike, den Zugang zu seiner steilen Karriere in der
römischen Armee eröffnet bekommen; oder sein Vater hatte einen sol-
chen Einfluss. Jedenfalls war Tiberius 42 n.Chr. Epistratege in Theben
mit guten Beziehungen zu Kaiser Claudius. Im Jahr 46 n.Chr. wurde er
von ihm für zwei Jahre zum Prokurator Syriens (und Judäas) als Nach-
folger von Cuspius Fadus ernannt;68 erst wieder 15 Jahre später gibt es
einen neuen Hinweis auf Tätigkeiten: er wurde als wichtiger Offizier
im römischen Partherfeldzug in Armenien genannt (minister bello datus)69
und kam schließlich um 66 n.Chr. nach Ägypten zurück: Nero ver-
traute ihm die kaiserliche Stadt als Präfekt von Ägypten an.70 Schnell
wurde er in die dortigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und
Griechen hineingezogen.

65 Hierfür war nach der Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan die vorherige

Verleihung des alexandrinischen Bürgerrechtes die Voraussetzung (Plin.Ep. 10,5–7).


Vgl. R. Böhm, Die Doppelbürgerschaft des Ägypters Harpocra bei Plin.Ep. 5.6.7.10,
Aeg. 38 (1958), 11–27; D. Diana, Alexandrian Citizenship During the Roman Principate,
Atlanta 1991, 41–43.
66 Vgl. J.M. Modrzejewski, Juifs (s. Anm 7), 256. Vgl. die tria nomina des Gaius Julius

Alexander, aber auch den Empfänger der erwähnten Briefe (CPJ 420): Gaius Julius
Amarantus.
67 Um einen besonders loyalen Soldaten vor Ort zu haben, hatte schon Caesar

durch die Freilassung des Rufio (Suet.Div.Jul. 76,3) die spätere Praxis der ritterlichen
Präfekten für Ägypten vorweggenommen.
68 48 n.Chr. wurde er abgelöst durch Ventidius Cumanus.
69 Tac. ann. 15:28.
70 Die offizielle Bezeichnung war praefectus Alexandriae et Aegypti; vgl. das sich an beide

Bereiche zusammen richtende Edikt aus dem Jahre 68 n.Chr. (OGIS 669).
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126 gottfried schimanowski

V. Die Schilderung und Beurteilung des


Tiberius Julius Alexander durch Josephus

Bei der Schilderung der dramatischen Vorgänge im 2. Buch des Bel-


lum Judaicum, bei denen Alexander mit den römischen Soldaten hart
gegen seine jüdischen Landsleute vorgehen musste, wird er bei Jose-
phus keinesfalls kritisiert oder hinterfragt, sondern durchweg positiv
gewürdigt. Das hängt sicher damit zusammen, dass Tiberius bei diesem
Konflikt nicht sofort zum letzten Mittel der Waffen griff, sondern noch
angesehene Bürger (τοUς γνωρµους), wohl Mitglieder der jüdischen
Gemeinde, zu ihnen sendete, um sie zu beschwichtigen. Dieses Unter-
nehmen schlug fehl, so dass es zu einem blutigen Kampf kam, bei dem
Zehntausende ihr Leben verloren haben sollen.71 Zwischen den Zei-
len werden von Josephus keinesfalls die Römer, sondern in erster Linie
pauschal der alexandrinische Pöbel als Gegner gebrandmarkt (τ δηµο-
τικ ν δ τν Αλεξανδρων).72 Insgesamt versucht Josephus diese Ereig-
nisse apologetisch mit breit gestreuten Hinweisen einzuzeichnen in die
These einer—von Alexandrien ausgehende, aber auch darüber hinaus
wirksamen—weltweit kritischen Einstellung gegenüber den Juden.73 Sie
werden so zum Vorschein auf die nationalen Erhebungen, die zum
Bruch und Krieg mit den Römern geführt haben, ausgelöst von Scharf-
machern innerhalb des eigenen Volkes, wie Josephus nicht müde wird
herauszustellen.

Schärfer und eindeutiger wirkt der scheinbare Vorwurf der Aposta-


sie des Tiberius Julius im 20. Buch der Antiquitates auf einen Leser.

71 Siehe Jos.Bell. 2,497.


72 Es ist auch für Josephus typisch, dass er bei der—eher als Ägypter stilisierten—
Gruppe im Hinblick auf eine römische Leserschaft mit bekannten Typisierungen arbei-
tet: die Masse der Einwohner Alexandriens werden als unkultivierte Masse und sozial
niedrig einzustufende Ureinwohnerschaft stilisiert. Vgl. die materialreiche Arbeit von
K.A.D. Smelik, Opinions (s. Anm. 49) über die Einschätzung der ägyptischen Reli-
gion von römischer Seite aus, 1930–1938 und 1945–1950; weiter K. Bethelot, The use
of Greek and Roman Stereotypes of the Egyptians by Hellenistic Jewish Apologists,
with special reference to Josephus’ Against Apion, in: J.U. Kalms (Hg.), Internationa-
les Josephus-Kolloquium Aarhus 1999 (Münsteraner Judaistische Studien 6), Münster
2000, 185–221 und neuerdings J.M.G. Barclay, The Politics of Contempt: Judaeans and
Egyptians in Josephus’s Against Apion, in: ders. (Hg.), Negotiating Diaspora. Jewish
Strategies in the Roman Empire, New York u. a. 2004, 109–127.
73 Jos.Bell. 2,499 mit den Verweis darauf, dass nun „überall“ die Juden als Feinde

behandelt wurden: πανταχο τν Ιουδαων κπεπολεµωµνων.


2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 127.

die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 127

Die Bemerkung bezieht sich auf seine Zeit als Prokurator Judaeas,
wo er Cuspius Fadus im Amt folgte. Dass zu dieser Zeit zwei Söhne
des Judas Galilaeus gekreuzigt worden sind (Jos.Ant. 20,102), wird der
Versuch sein, den sich schon ankündigenden Krieg mit Rom unter
allen Umständen zu vermeiden und die vermeintlichen Rädelsführer
auszuschalten. Der Vorwurf, die „Traditionen seiner Väter verlassen zu
haben“ (τος γ6ρ πατροις οκ νµεινεν οcτος 1εσιν) wird von Josephus
ganz ohne Vorbereitung oder einen anderen direkt ersichtlichen Grund
und nur hier—in der Sprache der Septuaginta74—eingeführt. Tiberius
Alexander hat nach seinem Urteil—so in der Regel die Auslegungen—
die Solidarität mit seinem Volk aufgegeben.
Doch der schon in der Tradition der LXX beheimatete, aber erst in
moderner Zeit auf unseren Fall angewendete Ausdruck der Apostasie75
wird bei Josephus in erster Linie für politische Rädelsführer reserviert,
wie πστασις überhaupt zu dieser Zeit und insbesondere für Josephus
den politischen Aufstand (auch gegen Rom) bezeichnet. „Nicht bei den
väterlichen Gebräuchen bleiben“ (οκ […] µµνειν) ist deshalb für
die Position des Julius Tiberius überhaupt nichts Erstaunliches. Wenn
er akzeptierte, in den öffentlichen und militärischen Funktionen tätig
zu sein, die ihm das Römische Reich anbot, war eine Teilnahme am
Staatskult—zumindest passiv—selbstverständlich; jüdische Lebenspra-
xis, wenn er überhaupt darauf Wert legte, musste er zu Hause lassen!
Das hätte auch keiner von seinen Landsleuten, außer den Kämpfern
aus Galiläa oder besonderen „Scharfmachern“, anders erwartet. Mit-
glieder der Oberschicht Alexandriens haben sich nicht geweigert, mit
Heiden an einem Tisch zu sitzen. Von keinem jüdischen Funktionär
in einem fremden Gemeinwesen, angefangen von den Tobiaden im
2. Jh. v.Chr., wird solches berichtet.76 Ob die beruflichen und öffent-
lichen Ämter des Tiberius Alexander sein Judentum kompromittiert

74 Vgl. Dtn 27,26; in der Tendenz, das Vokabular zu modernisieren, F. Siegert,

Hebräische Bibel (s. Anm. 6), 246.


75 Vgl. Jos 22,22; Num 14,9 und vor allem in den Makkabäerbüchern (s. Anm. 11).
76 Siehe Jos.Ant. 12,160–236 (der sog. Tobiadenroman); CPJ 1,4 und 5; vgl. D.R.

Schwartz, Josephus’ Tobiads: Back to the Second Century?, in: M. Goodman (Hg.),
Jews in a Graeco-Roman World, Oxford 1998, 47–61. Etwas anders äußert sich Arist.
139.182, allerdings handelt es sich dort um Maßnahmen, die in erster Linie vom
Königshof für alle Beteiligte ausgehen; vgl. G. Schimanowski, Der Aristeasbrief zwi-
schen Abgrenzung und Selbstdarstellung, in: P.W. van der Horst u. a. (Hg.), Persuasion
and Dissuasion in Early Christianity, Ancient Judaism, and Hellenism, Leuven u. a.
2003, 45–64.
2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 128.

128 gottfried schimanowski

haben, sei darum dahingestellt. Er selbst wird es vermutlich nicht so


gesehen haben.77
Der Vorwurf des Josephus ist auf solch einem mehrdimensionalen
Hintergrund zu verstehen und darum auf unterschiedliche Art zu deu-
ten. Der Abfall vom väterlichen Glauben im Sinne einer grundlegen-
den Distanz zum eigenen Volk ist nur eine von mehreren Möglichkei-
ten, wofür aber alle weiteren Konkretisierungen und Kriterien fehlen
würden.78 Für Alexandrien wäre seine Person das einzige bekannte Bei-
spiel in den Werken des Josephus; überhaupt würde ein solcher Fall nur
auf zwei weitere uns bekannte Personen dort zutreffen: im 3. Makka-
bäerbuch, das grundsätzlich zu einer radikalen Abgrenzung tendiert,
erscheint dieser Vorwurf gegenüber einem Alexandriner und vielen
anderen Ungenannten (s. u.).79 In all diesen Fällen geht es aber um
andere Gesamtfragen, nie um das Verhältnis zu einer wie auch immer
gearteten persönlichen Religionsausübung.
Solche Grundfragen scheinen auch hier die entscheidende Rolle
zu spielen; so könnte sich hinter der Bemerkung des Josephus auch
eine grundlegende und wohlmöglich auch von persönlichem Interesse
geprägte Kritik an den Landsleuten der Diaspora, vor allem gegenüber
der Familie Philons, verbergen.80 Schon in Jerusalem, dann in Alexan-
drien zusammen mit Vespasian, aber spätestens in Rom hatte Josephus
Gelegenheit, die weit verzweigten römischen Beziehungen von Philons
Verwandtschaft kennen zu lernen.81 Möglicherweise hat Philon selbst
der religiösen und philosophischen Diskussion innerhalb seiner Familie
in seinem Traktat De Animalibus ein Denkmal gesetzt.82

77 Zu einer vergleichbaren Frage nach dem Judentum Herodes d. Gr. vgl. M. Vogel,

Herodes. König der Juden, Freund der Römer (Biblische Gestalten), Leipzig 2002, 210–
232.
78 Das betont ganz zu Recht der neueste Aufsatz zur Person des Tiberius Julius von

S. Etienne, Réflexion sur l’apostasie de Tibérius Julius Alexander, StPhA 12 (2000),


122–142.
79 Zu Antiochos aus Antiochien (Jos.Bell. 7) s. u.
80 Vgl. seine Polemik gegenüber einer Schöpfungstheologie in Jos.Apion. 2,192—

allerdings ohne weitere Präzisierung oder Namensnennung, wie sie z. B. bei Philo opif.
72 in der Auslegung von Gen 1,26 vorkommt. Hinter der Angabe παρ6 τος 4Ελλησιν
verbirgt sich wohl Platons Timaios (22b und c) in c. Ap. 1,7 und ähnlich 10; vgl. LCL
(Thackeray) z.St.
81 Vgl. G. Schimanowski, Alexandrien als Drehscheibe zwischen Jerusalem und

Rom. Die Bedeutung der Stadt im Werk des Josephus, Leiden 2005, 317–330, hier:
323.
82 Dieses Werk ist nur noch in der armenischen Sprache zugänglich; vgl. A. Terian,

Philonis Alexandrini De animalibus: The Armenian Text with an Introduction, Chico


2007041. Frey. 06_Schimanowski. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 129.

die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 129

Josephus konnte durchaus ausdrücklich—wenn auch in einem pole-


mischen Kontext—erläutern, was er damit meint, wenn sich jemand
von seinen religiösen Wurzeln löste und sich anders orientierte. Das ist
z. B. der Fall, wo er über die Familiengeschichte des Herodes schreibt.
Von zwei Enkeln des Herodes d. Gr. berichtet er, dass sie sich—wohl
bedingt durch die andersartige Erziehung—von der jüdischen Tradi-
tion entfernten und hellenistische Traditionen übernahmen; so behaup-
tet er in einer pauschalen Schlussbemerkung, dass die ganze Nachkom-
menschaft des Alexander (I.), der auf Befehl seines Vaters hingerichtet
worden war (Jos.Ant. 18,141)
von Geburt an (Qµα τ φυAναι) die (religiöse) Observanz verließen (τ:ν
εραπεαν ξλιπεν), die bei den Juden heimisch ist (τν Ιουδαοις πι-
χωρων) und sich nach der bei den Griechen überlieferten (Tradition)
umorientierten (µεταταξ&µενοι πρ ς τ6 4Ελλησι π&τρια).

Wie die spätere Heirat des einen, Tigran, mit der Tochter des Antio-
chos von Kommagene dann endgültig zeigte, bestanden kein Grund
und Interesse mehr, sich an die Tora zu binden.83 Durch die Verwen-
dung des negativen Verbs84 µετατ&σσω und die Angabe der religiösen
Herkunft85 und Neuorientierung besteht kein Zweifel an der Absicht
des Josephus, den Niedergang der Nachkommenschaft des Alexander
zu demonstrieren.
Sind in diesem Fall in erster Linie politische Perspektiven für die
Bewertung der Herrscherfamilie leitend, so wäre dagegen im Fall des
Tiberius Julius Alexander keinesfalls klar, in welche Richtung die Be-
merkung führen sollte. Gesetzt den Fall, Josephus meint wirklich den
Abfall von der jüdischen Tradition, so bliebe völlig undeutlich, auf
Grund welcher Kriterien das zu entscheiden wäre. Das, was jüdisch
möglich war, ist auch bei ihm selbst recht kontrovers. Denn zum offen-
kundigen Ermessensspieltraum, was ein jüdischer Herrscher durfte und
was nicht, kommt die Vielgestaltigkeit des Judentums zu seiner Zeit

1981. Dreimal wird von Philon und seinem Gesprächspartner, Lysimachus, von „unse-
rem Neffen Alexander“ (wohl: @ δελφιδο ς 7µν § 2, 72, 75; vgl. auch § 8) gesprochen,
was sich wohl auf Tiberius Julius Alexander beziehen wird. Zur Identifizierung der Per-
sonen und Familie vgl. Terian, 26–28; Ebd. 28 f. auch zur Frage nach dem Gesprächs-
partner von Philo prov. 1–2.
83 Josephus erwähnt noch seine Ernennung zum König über die Kilikischen Inseln

durch Vespasian.
84 In Sinne von „überlaufen“ Jos.Ant. 5,58; 18,100.
85 Θεραπεα beinhaltet wie öfter—vor allem in der Septuaginta (vgl. Est 5,1; Joel

1,14)—eine kultisch-religiöse Konnotation (vgl. c. Ap. 1,30; 2,141.186).


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130 gottfried schimanowski

dazu. Damit wäre eine klare Grenzziehung zwischen dem, was , legi-
tim‘ und , illegitim‘ ist, unmöglich. So zitiert Josephus aus einem Be-
richt des Aristotelesschülers Klearchos von Soli über die Begegnung
des Aristoteles mit einem Juden während einer Kleinasienreise ganz
und gar positiv, dass der Jude ungemein gebildet gewesen sei und
(Jos.Apion. 1,180 f.)86 „ein Grieche nicht nur der Sprache nach, sondern
auch in seiner Seele“ (\Ελληνικ ς eν ο τA διαλκτω µνον, λλ6 κα τA
ψυχA).
Warum würde Josephus eine solche Haltung nicht auch Tiberius
Julius Alexander zugestehen? Oder soll diese Bemerkung allein aus
dem engeren Zusammenhang verstanden werden, dass der Sohn sich
anders verhält als sein Vater Alexander, der Alabarch?87 Diese Deutung
ist sogar wahrscheinlicher als jene, dass Josephus—ganz positiv—eine
Schutzbehauptung gegenüber römischen Lesern aufstellt, um die jüdi-
sche Herkunft des Tiberius Julius zu verschleiern.88
Es scheint darum grundsätzlich ratsam, sich eine gewisse Distanz zu
den Werturteilen des Josephus zu wahren. Es gibt offensichtlich einen
weiten Ermessensspielraum darüber, einen Menschen in öffentlichen
Ämtern und seine Stellung zur jüdischen Tradition und den ,Gesetzen
der Väter‘ und damit seine jüdische Identität zu charakterisieren. Als
eine historische oder gar eindeutige Absage an sein Judentum lässt
sich jedenfalls die Äußerung nicht verwerten.89 Sie ist eher als eine

86 M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, Bd. 1, Jerusalem

(1974), 1976, Nr. 15; vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus (s. Anm. 9), 111.467 f.;
J.M.G. Barclay, Jews (s. Anm. 12), 91. Mit dieser Episode eröffnet L.I. Levine seine
Monographie Judaism and Hellenism in Antiquity: Conflict or Confluence, Seattle
1998, XI; ähnlich beginnt mit ihr J.M.G. Barclay seinen Aufsatz Using and Refusing.
Jewish Identity Strategies under Hegemony of Hellenism, in: M. Konradt, U. Steinert
(Hg.), Ethos und Identität. Einheit und Vielfalt des Judentums in hellenistisch-römischer
Zeit, Paderborn 2002, 13–25, hier: 13 f.
87 Den reichen Alabarchen erwähnt Josephus kurz vorher (Jos.Ant. 20,100); von

seinem Sohn lässt sich eine der Stiftung der wunderbaren Tempeltore lobenswerte,
auf den Tempel bezogene, Tat eben nicht erzählen.
88 Bei Tacitus wird er nicht als Jude, sondern, wegen seiner Herkunft aus Alexan-

drien, als Ägypter eingeführt. S. o. zu Tacitus, Hist. 1,11,1 zur Herrschaft römischer Rit-
ter (equites Romani) in Ägypten, die zu Präfekten von Alexandrien und Ägypten bestellt
werden: regebat tum Tiberius Alexander, eiusdem nationis, nachdem kurz vorher die Provinz
als besonders schwierig und aufsässig beschrieben wird: aditu difficilem, annonae fecundam,
superstitione ac lascivia discordem et mobilem, insciam legum, ignaram magistratuum, domi retinere.
89 Ein anderes erstaunliches Beispiel ist der Dank (εο ελογα) eines Juden mit

Namen Theodotos, Sohn des Dorion, in einer Votivinschrift aus dem 2. oder 1. Jh.
v.Chr. im Tempel des Pan (!) in El-Kanais (CIJ II Nr. 1537), der für die Rettung aus
Seenot bzw. für eine bewahrte Seereise, die Inschrift stiftete. Allem Anschein nach
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die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 131

Aussage über sich selbst zu werten und seine eigene Verflochtenheit


in die Ereignisse des Jüdischen Krieges und die Eroberung Jerusalems;
eine (persönliche?) Spannung gegenüber T.J. Alexander könnte auch
ihre Wurzeln in jenen Ereignissen gehabt haben.90
Der Begriff ,Apostat‘ als Bezeichnung für den Glaubensabfall sollte
deswegen in erster Linie Personen vorbehalten bleiben, die sich aktiv
gegen ihre religiöse und kulturelle Herkunft stellen. Die Gestalt des
Dositheos in 3 Makk ist hierfür ein deutliches Beispiel.91 In der königli-
chen Umgebung ließ er—so der Vorwurf des 3 Makk—nicht nur seine
jüdische Tradition hinter sich, sondern passt sich aktiv seinem Milieu
an. Alles in allem wird damit schon zu Beginn des Werkes exempla-
risch deutlich, was dann am Ende in 3 Makk 7,10–14 grundsätzlich als
Vorwurf, bzw. sich in der Tötung von 300 Abtrünnigen zum Ausdruck
kommt: die jüdische Tradition hat der heidnischen Verführung stand-
gehalten.
Für Josephus bietet sich noch ein gewisser Antiochus an, der Sohn
eines jüdischen Gemeindevorstehers (Jρχων τν […] Ιουδαων) in An-
tiochien, der eigentlich wegen seines Vaters bei allen in besonderem
Ansehen stand (τ6 µ&λιστα δι6 τ ν πατρα τιµ<µενος).92 Zu Beginn
des Jüdischen Krieges wiegelte er—im Theater—die heidnische Bevöl-
kerung vehement gegen seine eigenen Landsleute auf. Josephus lässt
die ganze Episode mit einem Untersuchungsausschuss abschließen, mit

fand es Theodotos keinesfalls unangebracht, einen solchen Dank in einem heidnischen


Tempel anbringen zu lassen. Siehe W. Horbury, D. Noy, Jewish Inscriptions of Graeco-
Roman Egypt, Cambridge 1992, 207–209 (Nr. 121); J.M.G. Barclay, Jews (s. Anm. 12),
99 f.; M. Vogel, Herodes (s. Anm. 77), 224 f.
90 Daran denkt J.M.G. Barclay, Deviance (s. Anm. 11), 120; dort auch weitere Er-

wägungen.
91 3 Makk 1,3 bringt das recht ausführlich und prägnant mit parallelismus membrorum

zum Ausdruck: τ γνος Ιουδαος, Yστερον δ µεταβαλν τ6 νµιµα κα τν πατρων
δογµ6των πηλλοτριωµνος. Aber auch hier ist das entscheidende Thema: Dositheos
rettet Ptolemaios IV. das Leben! Durch den Kontext wird die religiöse Alternative
deutlich: Dositheos als Gefolgsmann des Ptolemaeos IV. Philopator befindet sich im
Umfeld eines Gotteslästerers. Obwohl Dositheos ein verbreiteter theophorischer Name
ist, lässt sich durch den seltenen Namen des Vaters, Drimylos, wahrscheinlich machen,
dass sich innerhalb der Zenon-Papyri fünf Briefe auf seine Person beziehen, auch wenn
sein Judesein keine Erwähnung findet (vgl. CPJ 127a–e). Die Gestalt des Dositheos
scheint dem Autor von 3 Makk bekannt gewesen zu sein (vgl. CPJ 1, 230 f.). Siehe
M. Hengel, Juden, Griechen und Barbaren. Aspekte der Hellenisierung des Judentums
in vorchristlicher Zeit (SBS 76), Stuttgart 1975, 121.125.
92 Jos.Bell. 7,46–53. Vgl. hierzu neuerdings J. Sievers, What’s in a Name? Antiochus

in Josephus’ Bellum Judaicum, JJS 46 (2005), 34–47, bes. 40–45.


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132 gottfried schimanowski

dem Ergebnis, dass keinem Juden irgendeine Schuld an den Vorfällen


gegen die Römer nachgewiesen werden konnte. Antiochus gehört also
seinem Verhalten nach, in der Auffassung des Josephus, eindeutig nicht
mehr zur jüdischen Gemeinschaft.93
Für Tiberius Julius Alexander hingegen ist auf der Ebene des zu
beobachtenden Verhaltens kein echter Konflikt gegeben, sondern ledig-
lich davon auszugehen, dass er sich den Gegebenheiten entsprechend
assimiliert hat. Wie er selbst dachte und , glaubte‘, ist den Texten nicht
zu entnehmen. Aus seinem Edikt zu seiner Zeit als Präfekt Ägyptens ist
eine tiefe Verbundenheit mit Alexandrien als seiner Heimat mit Hän-
den zu greifen.94 Er versteht sich der Stadt im Ganzen aufs Engste
zugehörig. Mehr als eine faire Politik und einen Ausgleich der Inter-
essen der sich feindlich gegenüber stehenden Parteien wird in dieser
Position niemand erwartet haben. Das gilt auch für seine jüdischen
Landsleute.
Als Werkzeug der göttlichen Pronoia, die in den Werken des Jose-
phus durchweg eine entscheidende Rolle spielt,95 wurde Tiberius Julius
Alexander schließlich in einem weltgeschichtlichen Moment in dieser
Funktion wirksam: er war mit seinen Truppen der Erste, der im Juli 69
n.Chr. Vespasian zum Kaiser ausrief. Ein weltgeschichtliches Zusam-
mentreffen, was der eine der beiden prominenten Juden—Josephus—
nur prophezeit hatte (nur und immerhin!), das hat der andere aus-
geführt. Da mochte er sich nicht weniger als jener als ein Werkzeug
der göttlichen Vorhersehung vorkommen. Dieser Weitblick hatte wei-
tere Konsequenzen für seine Karriere. Als einer der engsten Berater
des Titus nahm er am Kampf um Jerusalem teil, nicht anders als sein
zur Untätigkeit reduzierter Kritiker Josephus.

93 In einem anderen Fall (in Skythopolis Jos.Bell. 2,466–468) wird keine Einzelperson

genannt. Als einzige ,religiöse Tat‘ wird die Übersiedlung in einen Hain (µεταβανειν
[…] εEς τ Jλσος) genannt. Die Parallele in Vita 26 benennt nur den Kampf gegen die
eigenen Stammesgenossen, was als µιτος bewertet wird.
94 Einleitung von OGIS 669, Z.3 f.: „Ich habe meine ganze Sorge darauf verwendet,

dass die Stadt (Alexandria) in dem ihr zukommenden Zustand verbleibt (το διαµνειν
τ πρνοιαν ποιοHµενος) und die Wohltaten genießt ( πολαHουσαν τν εεργεσιν), die
sie vom Kaiser erhalten hat“ (s. o.).
95 Zu Josephus z. B. Jos.Bell. 82; Jos.Vit. 15.48.208 f.301.425 u. ö. Siehe S.J.D. Cohen,

Josephus in Galilee and Rome. His Vita and Development as a Historian (CSCT 8),
Leiden 1979, 109 (Anm. 37); P. Bilde, Flavius Josephus between Jerusalem and Rome.
His Life, his Works, and Their Importance (JStPs. Suppl. 2), Sheffield 1988, 184 f. Zu
Philon vgl. neuerdings die Monographie von P. Frick, Divine Providence in Philo of
Alexandria (TSAJ 77), Tübingen 1999.
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die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 133

Insgesamt scheint Tiberius in einer Funktion als Jude in den höchs-


ten Ämtern in Ägypten für seine Landsleute—in einer ambivalenten
Weise—als neuer Joseph aufzutreten,96 ähnlich wie einst der Tobiade
Josef.97 In religiöser Hinsicht konnte auch dieser in der heidnischen
Umgebung nicht einfach mehr jüdisch leben, ohne das Umfeld gegen
die Juden aufzubringen. Dass dadurch die ethnische und religiöse Zu-
gehörigkeit keine Bedeutung mehr hatte, darf man nicht folgern, aber
sie spielte nach außen, im öffentlichen Verhalten, keine Rolle mehr. Die
Sabbatobservanz wurde sicher vernachlässigt, das gemeinsame Essen
mit Nichtjuden war selbstverständlich. Darüber, warum er, anders als
sein Vater, keine nennenswerte Spende für den Tempel in Jerusalem
gemacht hat, kann man jedoch nur spekulieren: Möglicherweise waren
für ihn, in weiser Voraussicht, die Tage dieses Gebäudes und dieser
Institution schon gezählt.98

96 Vgl. Philons Traktat, De Josepho (mit § 254 als Schlüsseltext zur Gefahr des Über-

tritts zum Fremden [πρ ς τ:ν τν Lνεων µεταβολ9ν], allerdings erheblich moderater
eingeschätzt als in seinem Traktat De Somniis); zum Ganzen M. Niehoff, The Figure
of Joseph in Post-Biblical Jewish Literature (AGJU 16), Leiden 1992) , und dies., Philo
(s. Anm. 53), 64–69. Die grundsätzlich kritische Sicht in Philo somn. hat auch Ein-
non-matching parenthesis

fluss auf die Beurteilung eines Textes wie Philo somn. 123–132 (zu Jakobs Traum Gen
37,9–11), in dem manche einen Vorwurf gegenüber T.J. Alexander (hinter dem Stich-
wort eines ν9ρ—τ:ν προστασαν κα πιµλειαν εSχεν ΑEγHπτου—, der seine Mitbürger
unterdrückte und die alten Gebräuche umstieß und vor allem die Einhaltung des Sab-
batgesetzes bei Strafe verbot und als das alles nichts fruchtete, eine längere Rede hielt)
herauslesen; vgl. D.R. Schwartz, Philonic Anonyms of the Roman and Nazi Periods:
Two Suggestions, SPhA 1 (1989), 63–73, hier: 63–69 und der kurz darauf gehaltene
Vortrag von R.A. Kraft, Philo and the Sabbath Crisis: Alexandrian Jewish Politics and
the Dating of Philo’s Works, in: B. Pearson u. a. (Hg.) The Future of Early Christia-
nity: Essays in Honor of Helmut Koester, Minneapolis 1991, 131–141, noch einmal in
ders., Tiberius Julius Alexander and the Crisis in Alexandria According to Josephus,
in: H.W. Attridge, J.J. Collins, T.H. Tobin (Hg.), Of Scribes and Scolls: Studies in
the Hebrew Bible, Intertestamental Judaism, and the Christian Origins, FS J. Strug-
nell (CTSSR 5), Lanham 1990, 175–184. Dagegen aber E.S. Gruen, Diaspora: Jews
amidst Greeks and Romans, London 2002, 59 f.278 f. (Anm. 42 mit Verweis insbeson-
dere auf Philo spec. 3,159–162). Andere denken bei dem anonymen Machthaber an
Avillius Flaccus: E.R. Goodenough, The Politics of Philo Judaeus. Practice and Theory,
New Haven 1938, 29 f. und R. Barraclough, Philo’s Politics. Roman Rule and Helleni-
stic Judaism, in: ANRW II. 21.1, Berlin 1983, 417–533, hier: 532; ähnlich J.M.G. Barclay,
Jews (s. Anm. 12), 51.178; Zu somn. 123 vgl. Flacc. 105 (legat. 153 spricht von der πι-
µλεια des Augustus). Möglich wäre aber auch—vgl. den Vergleich mit „Sonne und
Mond“ wie im biblischen Text—auch Gaius Caligula. Letztlich bleibt das aber alles
Spekulation.
97 Siehe Jos.Ant. 12,167 ff.; P. Spilsbury, The Image of the Jew (TSAJ 69), Tübingen

1998, bes. 86–92 (zur Darstellung der Jos.Ant.).


98 Das alles würde auch ein fragmentarischer Papyrus aus der Zeit des Vespasians

bestätigen, wenn er denn von Tiberius Julius Alexander herrührt (CPJ 418a). Einleitend
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134 gottfried schimanowski

VI. Schlussgedanken

Die sich in der Literatur in vielen Variationen wiederholende Bezeich-


nung ,Apostat‘ greift im Fall des erfolgreichen Neffen Philons nicht.
,Sich mit den Herrschenden einlassen‘ kann nicht grundsätzlich und
auch nicht konkret bei ihm als eine solche Grenzüberschreitung be-
zeichnet werden; vor allem nicht aus dem Munde des Josephus; denn
er selbst hatte sich auch nicht an das ,Gesetz der Väter‘ gehalten, als er
eine Gefangene geheiratet hatte, was ihm als Priester nicht erlaubt war,
und einen Eunuchen als Sklaven gehalten, was zumindest der jüdischen
Gepflogenheit seiner Zeit zuwiderlief.99 Das Erfüllen von Aufgaben in
der römischen Armee allein kann darum das Urteil eines Bruches mit
der eigenen Tradition, Kultur und Herkunft sicher nicht abdecken.
Steht also doch hinter der leidigen Bemerkung schlicht der Neid?
Wo er—Josephus—nur reden konnte, konnte Alexander handeln. Sein Leben mit
den Römern hat er weitgehend als Gefangener verbracht und dann
als Pensionär, also außerhalb der vita activa! Die Funktion der Reli-
gion ist darum nicht allein mit einem von außen definierten Bezug
zur Geschichte und Herkunft eines Menschen und einer Familie zu
beschreiben, sondern sagt auch etwas über die aktuellen Bezüge und
individuellen Verhältnisse aus. Ist darum der Begriff der Funktion ge-
eignet, das Wesentliche oder wenigstens ,Wesentliches‘ zur Beschrei-
bung der antiken Verhältnisse in Alexandrien und den führenden jüdi-
schen Familien zum Ausdruck zu bringen?
Was sich an Alexander studieren lässt ist nicht die Funktion seiner
jüdischen Religion, sondern die selbstverständliche, auch das Religi-
öse einschließende, Seite seiner Funktion als Römer und militärischer
Funktionsträger: als Vertrauensmann gegenüber dem Kaiserhaus, und
damit letztlich auch als Vertrauensmann gegenüber den römischen, ja
letztlich universalen Götterwelt gegenüber. Was ihn mit Josephus ver-
band, ist der Glaube an die Vorsehung (πρνοια). Dies hat sein Onkel
Philon auf vielfältige Weise bezeugt, wie also ein Mensch in der Funk-

wird dort der Dank gegenüber ägyptischen Gottheiten (Serapis, Sohn des Ammon,
wird erwähnt), zum Ausdruck gebracht. Auch hier würde sich Tiberius in seinem
öffentlichen Amt nur der Formelsprache bedienen, die von ihm als öffentlicher Amts-
träger erwartet wurde, und gegen die er nicht verstoßen konnte und wollte (vgl. o. zur
Votivinschrift des Theodotos).
99 Jos.Vit. 414; vgl. Jos.Ant. 3,276; Jos.Apion. 1,35 und zur rechtlichen Frage die

Anmerkung der Vitaausgabe F. Siegert u. a. (Hg.), Aus meinem Leben, Tübingen 2001,
182.
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die jüdische integration in die oberschicht alexandriens 135

tion eines Alexanders zu denken hatte. Quer durch alle Religionen ver-
bindet alle Hochgestellten der Antike der Glaube an jene Vorsehung,
der sie für ihr Teil ja dienen. Pronoia als political correctness jener Tage, die
Religion, die in allen möglichen Schichten einer Weltstadt wie Alexan-
drien und darüber hinaus funktionierte.
Spätestens im Zusammenhang mit der Frage nach Entstehung, Aus-
bruch und Entfaltung des antiken Antijudaismus wird man an die
Grenzen einer begrifflichen Bestimmung kommen für das, was allein
mit inhaltlichen Festlegungen einer religiösen Gruppe geleistet werden
sollte und konnte. Denn in den für Alexandrien besonders heftigen
Pogromen wurde allein von außen bestimmt, wer Jude zu sein hatte
und wer nicht. Im Falle der Situation in Alexandrien wird man darum
erst sehr viel später, nach dem Beginn des 2. Jh. n.Chr., eindeutiger
sagen können, nachdem rechtliche Bestimmungen für die Grundlagen
der sog. ,Judensteuer‘ festgelegt wurden,100 wie die Grenzen zwischen
einzelnen ethnischen Gruppen definiert werden konnten. Bis dahin
wird man wohl mit offeneren Definitionen und vor allem einer erheb-
lich weiteren Bandbreite rechnen müssen in der Frage, wie sich Juden
zu ihrer Umwelt verhalten haben.

100Endgültig eingeführt unter Hadrian; vgl. Tcherikover, CPJ I s. v. laographia. Siehe


demnächst G. Schimanowski, Juden und Nichtjuden (s. Anm. 29), Kap. 3.2.
2007041. Frey. 07_Pearce. Proef 1. 12-4-2007:15.51, page 136.

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