Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
Pleger
Platon
Reihe „Geschichte der Philosophie“
Herausgegeben von
Marcel van Ackeren, Martin Lenz,
Guido Löhrer und Jörn Müller
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. Michael Erler (Würzburg)
Prof. Christopher Gill (Exeter)
Prof. Dr. Andreas Graeser (Bern)
Prof. Dr. Ruedi Imbach (Paris)
Prof. Dr. Theo Kobusch (Bonn)
Dr. John Marenbon (Cambridge)
Prof. Dr. Burkhard Mojsisch (Bochum)
Prof. Dr. Dominik Perler (Berlin)
Prof. Dr. Christof Rapp (Berlin)
Prof. Dr. Hans Rott (Regensburg)
Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin)
Prof. Dr. Gerhard Schönrich (Dresden)
Wolfgang H. Pleger
Platon
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-534-22152-3
für Barbara
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
III. Dialoge über die Idee und die Seele – Anthropologie und Ethik . . . . . . 70
1. Die These vom ‚Recht des Stärkeren‘ – Gorgias . . . . . . . . . . . . . . 70
2. Über die Lehrbarkeit der ,Tugend‘ – Menon . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3. Reden über die Liebe – Symposion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4. Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele – Phaidon . . . . . . . . . . 100
5. Über die Gerechtigkeit und die Idee des Guten – Politeia II – X . . . . . . 110
5.1 Über die Teile der Seele und des Staates – (Politeia II – IV) . . . . . 110
5.2 Das Modell des guten Staates und die verfehlten Staatsformen –
(Politeia V, VIII – IX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
5.3 Der Weg zur Erkenntnis der Idee des Guten – (Politeia VI – VII) . . 123
5.4 Der Mythos von der Wahl des Lebensloses – (Politeia X) . . . . . . . 129
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Einleitung
vollen Prozess der Auseinandersetzung zu ihr gelangt und sie sich zu eigen macht. Der
Dialog ist der notwendige, nicht durch die bloße Mitteilung von Lehrsätzen abzukürzen-
de Umweg zur Einsicht. Platons Philosophie ist daher durchgängig, wenn auch mit deut-
licher Transformation des Charakters des Dialogs, Dialektik, d. h. Kunst der Gesprächs-
führung.
Schließlich ist auf einen dritten Aspekt hinzuweisen, der in bisherigen Darstellungen
vernachlässigt wurde. Die Dialoge Platons sind Kunstwerke. Sie gehören der Gattung des
Dramas an und enthalten alle ästhetischen Momente, die diese Kunstform auszeichnen:
Einheit von Ort und Zeit, handelnde Personen und die dramatische Situation, die dem
Geschehen Anschaulichkeit und Spannung verleihen. Die vorliegende Darstellung ver-
sucht, allen drei Aspekten Rechnung zu tragen: dem theoretischen Gehalt, der argumen-
tativen Struktur und der ästhetischen Gestalt der Dialoge.
Diesem Ansatz folgend soll zunächst der geschichtliche Kontext erläutert werden
(Kap. I), der den Hintergrund bildet für die spezifische Gestalt des Platonischen Philo-
sophierens. Dabei ist auf die Geschichte des Niedergangs der attischen Demokratie und
des Verlustes der Vormachtstellung Athens hinzuweisen, in deren Endphase Platons Le-
benszeit fällt. Auf diesem Hintergrund wird Platons Biographie skizziert. Schließlich ist
ein Blick auf die Quellenlage zu werfen.
In dem folgenden Kapitel (Kap. II) sollen die frühen Dialoge Platons vorgestellt wer-
den, die so genannten ‚Sokratischen Dialoge‘. Bei diesem Ausdruck handelt es sich um
die Übersetzung des aristotelischen Ausdrucks ‚sokratikoi logoi‘. Mit ihm charakterisiert
Aristoteles die spezifische Weise der Sokratischen Philosophie, die sich in der Form von
Dialogen vollzog. Aristoteles darf als ein verlässlicher Zeuge für die These herangezogen
werden, dass Sokrates den Dialog als eine spezifische philosophische Methode eingeführt
hat. Seit Platon sind ‚Sokratische Dialoge‘ auch in schriftlicher Form überliefert. Andere
Schüler von Sokrates haben ebenfalls ‚Sokratische Dialoge‘ verfasst. Die meisten sind bis
auf Bruchstücke verlorengegangen. Der Ausdruck ‚Sokratische Dialoge‘ für Platons Früh-
dialoge hat aber auch insofern eine besondere Berechtigung, als in ihnen mit großer
Wahrscheinlichkeit Gehalte des Sokratischen Denkens wiedergegeben werden. Ihr Thema
ist erstens die Frage nach der ‚Sache selbst‘, die so genannte Wesens- oder Was-ist-Frage
und zweitens der Mensch mit seinem spezifischen Können und seinen Grenzen.
Die frühen Dialoge Platons werden auch Tugenddialoge genannt, weil in ihnen nach
der ⁄rejffi (areté) des Menschen gefragt wird. Die Übersetzung dieses Wortes mit Tu-
gend ist missverständlich und erläuterungsbedürftig. Gemeint ist die spezifische Qualität
eines Dings, eines Tieres, eines Menschen. Die ⁄rejffi eines Messers besteht z. B. in seiner
Schärfe. Gefragt ist in eben diesem Sinne nach dem spezifischen Können des Menschen,
seiner Kompetenz. Sie dient dem Ziel eines guten Lebens. Gemeint ist damit die ‚eudai-
monia‘, d. h. das Glück.
Das anschließende Kapitel (Kap. III) widmet sich genuin platonischen Themen, der
Ideenhypothese und der im Anschluss an seine Italienreise neu konzipierten Psychologie.
Beide Themen stehen für ihn in einem engen Zusammenhang. Für Platons Philosophie
bilden die Sorge um die Seele und die Hinwendung der Seele zu den Ideen eine unlösbare
Einheit. Gleichwohl ist zu betonen, dass Platon weder eine in sich konsistente Ideenlehre
konzipierte, noch eine abgeschlossene Psychologie. Die Problematisierung der Ideen-
hypothese erfolgt erst in seinen späteren Schriften, dagegen ist für seine Psychologie
Einleitung 11
bereits in den Dialogen der mittleren Periode eine bedeutsame Veränderung festzuhalten.
Während Platon noch im Dialog Phaidon an dem bereits bei Sokrates thematisierten
Leib-Seele-Verhältnis festhält und dieses als Dualismus interpretiert, ist in der Politeia
und allen darauffolgenden Dialogen das Modell einer dreigeteilten Seele anzutreffen.
In dem folgenden Kapitel IV werden die Themen der Spätphilosophie Platons behan-
delt. Einem späteren Sprachgebrauch entsprechend lassen sie sich als ontologische cha-
rakterisieren. Es ist in der Geschichte der Philosophie immer wieder darauf hinzuweisen,
dass bestimmte Fragerichtungen sich entwickeln, ohne dass ihnen schon der Titel einer
Disziplin zugeordnet wurde. Das gilt für die Logik ebenso wie für die Ontologie. Die
Platonische Ontologie entwickelt sich in Auseinandersetzung mit dem Denken von He-
raklit und Parmenides. Mit dem Denken Heraklits ist Platon durch den Herakliteer Kra-
tylos bekanntgemacht worden. Das Buch von Parmenides hat er dagegen wohl selbst
gelesen. Platons ontologisches Denken nimmt seinen Ausgang von der parmenideischen
Seinsthese. Seine Ideenhypothese ist als Versuch der Lösung von Schwierigkeiten zu ver-
stehen, die sich aus der von Parmenides vertretenen Lehre der Einheit des Seins ergeben.
Im weiteren Verlauf seines Denkens greift Platon immer stärker auf Denkfiguren Hera-
klits zurück und entwickelt nicht nur eine neue Auffassung vom Sein, sondern ein neues
Konzept von Wahrheit. Diese Denkbewegung lässt sich über die Dialoge Kratylos, Theai-
tetos, Parmenides und Sophistes verfolgen.
Das folgende Kapitel (Kap. V) behandelt Platons Kosmologie. Während noch im
Phaidon der platonische Sokrates seine Abwendung von naturphilosophischen Fragen
erläutert, hat Platon in seinen letzten Schriften kosmologischem Denken eine neue Be-
deutung beigemessen. Leitend ist der Gedanke, dass die Welt ein Kosmos, eine Ordnung
ist, in die der Mensch einbezogen ist. Seit Solon und Anaximander ist für griechisches
Denken die Überzeugung leitend, dass diese Ordnung als eine Rechtsordnung zu verste-
hen ist. In den Dialogen Timaios und Kritias wird deutlich, dass die natürliche Ordnung
der Welt und die politischen Ordnungen der Menschen sich entsprechen.
Der Epilog (Kap. VI) soll deutlich machen, dass Platons Philosophie sich durchgängig
als Dialektik interpretieren lässt. Sie ist zunächst Kunst der Gesprächsführung, und sie ist
zum andern der Versuch der Unterscheidung des Sagbaren und des Unsagbaren. Ein-
drucksvollstes Beispiel hierfür ist die Philosophie-Passage in Platons Siebtem Brief.
Dargestellt und interpretiert werden nicht alle Dialoge Platons, sondern nur die, die
für das Verstehen seiner Philosophie unumgänglich sind. Um dem dialogischen Denken
Platons in den drei genannten Aspekten Rechnung zu tragen, werden die behandelten
Dialoge in einem ersten Schritt in ihrem dramatischen Ablauf, zum Teil auch in der Form
der direkten Rede nachgezeichnet. Dabei werden lediglich Zitate mit Anführungszeichen
versehen. In einem zweiten Schritt werden Hinweise zur Interpretation gegeben.
Platons Werke werden nach der Stephanus-Ausgabe zitiert in der von der Wissen-
schaftlichen Buchgesellschaft herausgegebenen revidierten Übersetzung Schleiermachers.
I. Die geschichtliche Situation
Platons Lebenszeit (427–347) fällt in die Epoche des Niedergangs Athens. Die Zeit der
Blüte Athens, die Einführung der Demokratie unter Kleisthenes und Ephialtes, aber auch
das Perikleische Zeitalter mit seiner Entwicklung der Wissenschaften und Künste ge-
hören bereits der Vergangenheit an, nachdem Perikles 429 an der Pest gestorben ist. Das
letzte Drittel des 5. Jahrhundert ist charakterisiert durch den Peloponnesischen Krieg
zwischen Sparta und Athen (431–404). Es ist eine Zeit militärischer Konflikte, politischer
Wirren, epidemischer Krankheit und der Auflösung der tradierten Polissittlichkeit. Thu-
kydides, Zeitzeuge und Historiker des Peloponnesischen Kriegs, gibt eine anschauliche
Darstellung der Verhältnisse in Athen. Er schildert, wie radikal die Pest das Leben in der
Stadt erschütterte.
„Daher starben die Leute in wirrem Durcheinander; die Leichname lagen in Haufen da,
die Sterbenden wälzten sich auf den Straßen und an den Quellen herum, halbtot vor
Durst; auch die Heiligtümer, die als Wohnräume eingerichtet waren, lagen voller Toter,
die in ihnen gestorben waren. Das Unglück war so übermächtig geworden, daß die Men-
schen, die nicht wußten, was aus ihnen werden würde, auch die göttlichen und mensch-
lichen Ordnungen nicht mehr achteten.“ (Thukydides, II, 52)
Zwei Jahre wütete die Pest, 430 und 429, schwächte sich dann ab, um im Winter 427/26
noch einmal aufzuflammen. Die Zahl der Opfer ist auf 25.000 anzusetzen. Die Pest hatte
in mehrfacher Hinsicht eine katastrophale Wirkung für Athen, das sich im Krieg befand.
Christian Meier sagt über sie: „Nichts anderes hat Athen im Peloponnesischen Krieg so
schwer zugesetzt und seine Macht geschwächt“ (Meier 1994, 546).
Erstaunlich genug ist es, dass der Tragödiendichter Sophokles die poetische Kraft
besaß, die Pest zum Ausgangspunkt und zur Folie seines Werkes König Ödipus (auf-
geführt ca. 425) zu machen. Und kaum weniger erstaunlich ist die Tatsache, dass nicht
nur die Tragödie ihre Antwort auf die katastrophale Situation fand, sondern dass auch
die Komödie ihre Version des Menschen in Szene setzte. Noch in der Zeit des ersten
Abschnittes des Peloponnesischen Krieges (431–421) führte Aristophanes seine Komödie
Die Wolken auf, in der er Sokrates als einen sophistischen Rechtsverdreher kritisiert und
karikiert. Aristophanes macht nicht die Pest, sondern das Auftreten der Sophisten für
den Verfall der tradierten Sitte verantwortlich. 421 vereinbaren Athen und Sparta einen
auf 50 Jahre veranschlagten so genannten Nikias-Frieden, der beiden Seiten für kurze
Zeit Ruhe brachte.
Eine entscheidende, katastrophale Wende in der Geschichte Athens ereignete sich
14 I. Die geschichtliche Situation
durch die sogenannte sizilische Expedition (415–413), die den Sinn hatte, Athens wirt-
schaftliche Basis zu vergrößern. Doch der von Alkibiades und Nikias geleitete Feldzug
endete in einem militärischen Desaster. Die Situation verschärfte sich für Athen durch
den 414 erneut ausgebrochenen Krieg mit Sparta.
Als Folge der zugespitzten Situation in Athen sind die Ereignisse des Jahres 411 zu
beurteilen, die man als Zusammenbruch der Demokratie bezeichnen kann. Auf Antrag
von Peisandros, einst ein radikaler Demokrat, wurde die regierende Bürgerschaft auf
5000 beschränkt und die politische Macht einem Rat der 400 übertragen. „Das Ziel des
Umsturzes war also nicht eine Herrschaft der 5000, sondern eine Diktatur der 400“
(Bengtson 1994, 219).
Die oligarchische Diktatur konnte sich allerdings nicht halten, und im „Juli 410 über-
nahm der alte Rat der 500 wieder die Amtsgeschäfte“ (Bengtson, 221). Wie labil jedoch
die wiederhergestellte Demokratie war, belegt der Arginusenprozess, in dem Offiziere,
denen es wegen stürmischer See in der Schlacht bei den Arginusen im Jahre 406 nicht
gelungen war, ihre toten Kameraden zu bergen, in einem juristisch fragwürdigen Prozess
zum Tode verurteilt wurden. Sokrates, der als Prytane an diesem Prozess teilnahm, ver-
suchte vergeblich, das Fehlurteil zu verhindern.
Der Überlegenheit der spartanischen Flotte, angeführt von Lysander, hielt Athen nicht
stand. Im Jahre 404 zog Lysander in das besiegte Athen ein. Die im Friedensvertrag
geforderte Wiederherstellung der „von den Vätern ererbten Verfassung“ interpretierten
die Oligarchen in ihrem Sinne. Unter Duldung Lysanders wurde eine Regierungskom-
mission von 30 Bürgern eingesetzt, Wortführer waren Theramenes und der gewalttätige
Kritias, ein Onkel Platons. Anstatt eine neue Verfassung auszuarbeiten, errichteten die
Dreißig ein Schreckensregiment. Mehr als 1500 athenische Bürger wurden zum Tode
verurteilt.
Der Sturz dieser Diktatur gelang einer Schar athenischer Verbannter und Emigranten
unter Leitung Thrasybuls. Von Piräus aus eroberten sie Athen zurück. Kritias und Char-
mides, beide Verwandte Platons, fielen im Straßenkampf. Die Rückkehr zur Demokratie
im Jahre 403 war verbunden mit einer allgemeinen Amnestie, von der lediglich die An-
gehörigen der Ausschüsse der Dreißig ausgenommen waren. Aber auch die nun wieder-
hergestellte Demokratie war vom Prinzip der Rechtsstaatlichkeit weit entfernt, wie die
Hinrichtung Sokrates’ im Jahre 399 v. Chr. deutlich macht.
Die folgenden vier Jahrzehnte der Geschichte Athens sind durch einen hektischen und
für die Stadt katastrophalen Wechsel von Bündnissen, Kriegen, Friedensschlüssen und
neuen Zerwürfnissen bestimmt. Nachdem Sparta in den Jahren 400–396 v. Chr. im
Kampf um die Sicherung der ionischen Städte einen Krieg gegen die Perser führt, ver-
bündet sich Athen mit den Persern. Im Jahre 386 v. Chr. kommt es zu einem von den
Persern diktierten ‚Königsfrieden‘, bei dem die Zugehörigkeit der ionischen Städte zu
Persien festgelegt wird und im Übrigen die Autonomie der nicht im Peloponnesischen
Bund zusammengeschlossenen Städte wiederhergestellt wird.
Um die Vorherrschaft Spartas zu brechen, gründet Athen 378 den zweiten Attischen
Seebund. 374 kommt es zwischen Athen und seinem neuen Bundesgenossen Theben
einerseits und Sparta andererseits zu einem Friedensschluss. 371 besiegt Theben in der
Schlacht bei Leuktra Sparta vernichtend, worauf im Jahre 369 Athen mit Sparta ein
Bündnis eingeht. Auch mit Syrakus, das inzwischen von Dionysios I. beherrscht wird,
2. Zu Platons Biographie 15
stellt Athen im Jahre 367 ein Bündnis her. Im Jahre 362 besiegt das mit Athen verbündete
Sparta in der Schlacht bei Mantineia Theben und beendet dessen Hegemonie.
Das Fazit ist: In den unaufhörlichen Auseinandersetzungen und Kriegen seit dem Pe-
loponnesischen Krieg ging Athen zugrunde. Seine Macht war angesichts ständig wechseln-
der Fronten nicht zu erhalten und an seinem Beharren auf Autonomie scheiterte die Ent-
stehung größerer staatlicher Gebilde. Diese Situation änderte sich erst, als mit Philipp II.
von Makedonien im Jahre 359 ein Mann zur Macht kam, der der erneuten und zeitweise
sogar erfolgreichen Bündnispolitik Athens in der Schlacht von Chaironeia 338 ein Ende
setzte und die Stadt zwang, dem panhellenischen Bund unter makedonischer Führung
beizutreten.
Athen hatte seine führende Rolle verspielt, die Demokratie wurde durch die Monar-
chie abgelöst, die Polis als selbständige politische Einheit durch das sich schnell aus-
breitende makedonische Reich ersetzt.
2. Zu Platons Biographie
Platon (Martin 1995, Bormann 1987, Erler 2007) erwähnt sich selbst in seinen Dialogen
nur dreimal; zweimal in der Apologie, in der mitgeteilt wird, dass sein Vater Ariston heiße
und sein Bruder Adeimantos und dass er bereit sei, mit anderen für Sokrates eine Geld-
buße zu zahlen. Die dritte Erwähnung befindet sich im Dialog Phaidon. Dort wird gesagt,
dass Platon am Tag der Hinrichtung von Sokrates nicht zugegen war, weil er krank ge-
wesen sei. Ausführlicher berichtet Platon über seine Sizilienreise im Siebten Brief. Die
antiken Platon-Biographien sind zum großen Teil verloren gegangen. Teile davon hat
Diogenes Laertios zusammengefasst. Aus den dürftigen Selbstzeugnissen und der bio-
graphischen Überlieferung ergibt sich folgendes Bild:
Platon wurde zwischen März und Mitte Juli 427 in Athen oder Aigina geboren. Sein
Geburtsname lautete, wie Diogenes Laertios berichtet, Aristokles, und der Name Platon
sei ihm wegen seines breiten Redestroms oder seiner breiten Stirn von einem seiner
Lehrer beigelegt worden. Platon stammte väterlicher- und mütterlicherseits aus wohl-
habenden Familien der athenischen Aristokratie. Seine Mutter, Periktione, führte ihren
Stammbaum auf Dropides, einen Freund und Gefolgsmann – nach Diogenes Laertios
gar Bruder – Solons zurück. Platon hatte außer Adeimantos noch Glaukon als Bruder
sowie eine Schwester, Potone. Nach dem frühen Tod des Vaters heiratete die Mutter
Pyrilampes, und dieser Ehe entstammte Antiphon. Weitere Verwandte sind Charmides,
ein Bruder seiner Mutter, und Kritias, ihr Vetter. Beide waren Mitglieder der 30 Tyran-
nen des Jahres 404.
Einen bedeutsamen Einschnitt im Leben Platons bildet seine Begegnung mit Sokrates,
den er möglicherweise schon als Knabe kennenlernte, dessen Schüler er aber erst im Jahre
407 wurde und bis zu dessen Tod blieb.
In seinem als echt angesehenen Siebten Brief schildert Platon die politischen Verhält-
nisse in Athen zur Zeit der Herrschaft der Dreißig und der Zeit danach, sein politisches
Interesse und die Hinrichtung von Sokrates. Der Brief, der von dem über siebzig-jährigen
Platon verfasst wurde, hat einen stark autobiographischen Charakter und ist ein un-
schätzbares Dokument für die Einschätzung der Person des Verfassers. Er macht deutlich,
16 I. Die geschichtliche Situation
in welcher Weise sich bei Platon politisches und philosophisches Engagement miteinan-
der verflechten. Sein politisches Interesse, gebrochen durch all die negativen Erfahrungen
mit der Tyrannis der Dreißig und den Missständen der Demokratie, verlagert sich. Die
Karriere eines Berufspolitikers in Athen verwirft er; umso deutlicher entwickelt sich bei
ihm die Einsicht, dass eine dem Wohl der Stadt dienende Politik nicht möglich ist ohne
ein philosophisches Bemühen um das Prinzip der Gerechtigkeit. Seine Überlegungen
gipfeln in der Aussage:
„Daher werden die Generationen der Menschen nicht vom Elend erlöst, bevor entweder
die Klasse der auf rechte und wahrhafte Art Philosophierenden an die städtischen Ämter
gelangt oder die der Machthaber in den Städten durch göttliche Fügung wahrhaft zu
philosophieren beginnt.“ (326 a/b)
Platon hat diesen Gedanken auch in das Zentrum der Politeia, seines umfangreichsten
Dialogs, gestellt (473 c/d). Man darf in dieser Aussage eine wesentliche Überzeugung
seines politisch-philosophischen Denkens sehen.
Das Schicksal von Sokrates, den Platon als „meinen lieben älteren Freund“ (324 e)
bezeichnet, „den ich nicht zögere, den gerechtesten seiner Zeit zu nennen“, wird für ihn
zum Kriterium für die Beurteilung der politischen Verhältnisse. Bei der Anwendung
dieses Kriteriums nun zeigt es sich, dass weder die Herrschaft der Dreißig noch die De-
mokratie dem Anspruch der Gerechtigkeit genügen. Während die Dreißig vergeblich
versuchen, Sokrates in ihre gesetzlosen Machenschaften zu verwickeln, lässt ihn das
Volksgericht der Demokratie hinrichten. Platons Misstrauen gegenüber der direkten De-
mokratie, in der Demagogen ein leichtes Spiel haben, Stimmungen zu erzeugen, mag sich
zu einem nicht geringen Teil von dem von ihm miterlebten Prozess gegen Sokrates ab-
leiten lassen.
Nach der Hinrichtung soll er sich mit anderen Schülern zu Eukleides nach Megara
begeben haben, der ebenfalls ein Schüler Sokrates’ war und in seiner Heimatstadt die
eleatisch beeinflusste megarische Schule gründete, eine Schule, die dem Denken von Par-
menides nahestand. Diogenes Laertios berichtet auch, dass Platon nach Sokrates’ Tod von
Kratylos die Lehre Heraklits kennenlernte und von Hermogenes die des Parmenides. Beide
tauchen als Gesprächspartner des Sokrates im Dialog Kratylos auf. Später soll Platon in
Kyrene den Mathematiker Theodoros besucht und in Italien die Pythagoreer Philolaos
und Eurytos kennengelernt haben. Auch sei er nach Ägypten gereist. Diese Reisen lassen
sich nicht sicher nachweisen, sie sind aber keineswegs auszuschließen.
Sicher sind jedoch seine drei Reisen nach Sizilien. Die erste ist auf das Jahr 389/88
anzusetzen. Ihr Motiv ist nicht ganz deutlich; er hat dabei Archytas von Tarent kennen-
gelernt, den bedeutenden pythagoreischen Philosophen und Mathematiker. Mit ihm hat
Platon Freundschaft geschlossen und auf ihn gehen auch die pythyagoreischen Einflüsse
in seinem Werk zurück. Von Tarent aus begibt sich Platon nach Syrakus und lernt den
dortigen Herrscher Dionysios I. sowie dessen Schwager Dion kennen, mit dem es zu
einer engen Freundschaft kommt. Mit Dionysios I. jedoch zerstreitet sich Platon. Der
Legende nach wird Platon auf dessen Geheiß mit einem Schiff nach Aigina gebracht
und dort als Sklave zum Verkauf angeboten, jedoch von einem Freund aus Kyrene frei-
gekauft.
3. Zur Quellenlage 17
Nach seiner Rückkehr nach Athen erwirbt Platon im Nordwesten Athens ein Grund-
stück in der Nähe einer Kultstätte, die dem Heros Akademos gewidmet war, und gründet
dort in der Rechtsform eines Thiasos, d. h. einer Kultgemeinde, eine Schule. Das Leben in
der Akademie, wie diese Schule später genannt wurde, vollzog sich als eine vom pythago-
reischen Vorbild beeinflusste Gemeinschaft, in der gemeinsam geforscht, gelehrt und dis-
kutiert wurde. Nach dem Tode Platons wurde sie von seinem Neffen Speusippos weiter-
geführt und nach ihrer 900-jährigen Geschichte im Jahre 529 n. Chr. vom Kaiser Justinian
geschlossen. Als Leitspruch soll über ihrem Eingang gestanden haben: „Kein der Geo-
metrie Unkundiger soll hier eintreten!“ Das ist ein deutlicher Hinweis auf die pythago-
reische mathematische Tradition, der Platon folgte.
Nach dem Tode Dionysios I. im Jahre 367 übernahm sein Sohn Dionysios II. die
Herrschaft. Auf Veranlassung Dions schickte dieser eine Einladung an Platon mit der
Aussicht, dort als politischer Berater tätig werden zu können. Platon reiste daraufhin
366 ein zweites Mal nach Syrakus, doch Dion wurde bald nach seiner Ankunft verbannt,
und Platon sah für seine politische Mission unter dem neuen Herrscher keine Möglich-
keit. So kehrte er schon 365 wieder nach Athen zurück. Dass er noch ein drittes Mal
(361–360) hinüberreiste, ist nur dem eindringlichen Bitten seiner Freunde in Sizilien zu
verdanken. Doch Dionysios II. ist weniger denn je geneigt, Platons philosophischen
Grundsätzen der Politik zu folgen, und diesmal konnte dieser nur durch eine List den
Ort lebend verlassen.
Die letzten Lebensjahre, die Platon im Kreise seiner Schüler, zu denen seit 367 auch
Aristoteles gehört, lehrend und forschend verbrachte, waren dem Problem des Guten ge-
widmet, über das er einen, in Fragmenten erhaltenen, Lehrvortrag hält. Unvollständig
bleibt sein zweites Werk über den Staat mit dem Titel Nomoi (Gesetze). Platon stirbt
81-jährig im Jahre 347. Sein Testament ist von Diogenes Laertios überliefert worden.
3. Zur Quellenlage
Eine erste Gesamtausgabe der Schriften Platons veranstaltete kurz vor Beginn unserer
Zeitrechnung Thrasyllos von Mendes (Ägypten). Er ordnete die Schriften in neun Vierer-
gruppen, Tetralogien, wobei thematische Gesichtspunkte leitend waren. So gruppieren
sich die Dialoge der ersten Tetralogie um Prozess und Tod von Sokrates. Thrasyllos glie-
derte seine Ausgabe wie folgt (Bormann 1987, 179):
1. Euthyphron, Apologie, Kriton, Phaidon
2. Kratylos, Theaitetos, Sophistes, Politikos
3. Parmenides, Philebos, Symposion, Phaidros
4. Alkibiades I und II, Hipparchos, Erestai
5. Theages, Charmides, Laches, Lysis
6. Euthydemos, Protagoras, Gorgias, Menon
7. Hippias I und II, Ion, Menexonos
8. Kleitophon, Politeia, Timaios, Kritias
9. Minos, Nomoi, Epinomis, Briefe
18 I. Die geschichtliche Situation
Die neuere Forschung hat für einige der hier genannten Dialoge die Echtheit angezwei-
felt, so für Alkibiades I und Menexenos, andere als unecht verworfen. Dasselbe gilt für die
dreizehn überlieferten Briefe. Von ihnen werden nur noch die Briefe 6, 7 und 8 für
höchstwahrscheinlich echt gehalten.
Eine erheblich größere Schwierigkeit hat es bereitet, eine werkgeschichtliche Chrono-
logie zu erarbeiten. Erst auf Grund stylometrischer und linguistischer, d. h. vor allem
sprachstatistischer Verfahren ist es gelungen, eine weitgehend anerkannte Einteilung in
vier Gruppen zu erarbeiten. Ueberweg-Praechter und Gigon legen eine relative Chrono-
logie vor, während Leisegang eine Zuordnung dieser Gruppen zu Daten aus der Bio-
graphie Platons versucht.
I.
Ueberweg-Praechter: Apologie, Kriton, Ion, Protagoras, Laches, Politeia I, Lysis, Charmi-
des, Euthyphron
Gigon: Laches, Charmides, Protagoras, Euthyphron, Lysis,
Politeia I, Ion
Leisegang: (vor der ersten Sizilienreise): Ion, Hippias II, Protagoras, Apologie, Kriton,
Laches, Lysis, Charmides, Euthyphron, Politeia I, Gorgias
II.
Ueberweg-Praechter: Gorgias, Menon, Euthydemos, Hippias II, Kratylos, Hippias I, Me-
nexenos
Gigon: Apologie, Kriton, Gorgias, Menon, Euthydemos, Kratylos, Hippias I u. II, Mene-
xenos
Leisegang: (die nächsten Jahre der Akademie nach der 1. und vor der 2. Sizilienreise):
Menexenos, Euthydemos, Menon, Kratylos, Symposion, Phaidon, Politeia, Phaidros,
Parmenides, Theaitetos
III.
Ueberweg-Praechter: Symposion, Phaidon, Politeia II – X
Gigon: Symposion, Phaidon, Politeia II – X, Phaidros
Leisegang: (zwischen der 2. und 3. Reise): Sophistes, Politikos
IV.
Ueberweg-Praechter: Theaitetos, Parmenides, Sophistes, Politikos, Philebos, Timaios,
Kritias, Nomoi, Epinomis
Gigon: Theaitetos, Parmenides, Sophistes, Politikos, Timaios, Kritias, Philebos, Nomoi
Leisegang: (nach der 3. Reise): Timaios, Kritias, Philebos, Nomoi
Die in diesen Gruppierungen nicht genannten Dialoge werden von den zitierten For-
schern für unecht gehalten. Festzuhalten ist, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle
dieselben Dialoge derselben Periode zugeordnet wurden.
3. Zur Quellenlage 19
In der von Michael Erler bearbeiteten Ausgabe Ueberweg: Grundriss der Geschichte der
Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 2/2. Platon, Basel 2007 findet sich folgende
Einteilung:
Frühe Dialoge: Apologia Socratis, Charmides, Cratylus, Crito, Euthydemus, Euthyphro,
Gorgias, Hippias minor, Io, Laches, Lysis, Menexeno, Meno, Phaedo, Protagoras,
Symposium
Mittlere Dialoge: Respublica, Phaedrus, Parmenides, Theaetetus,
Späte Dialoge: Sophista, Politicus, (Philosophus), Philebus, Timaeus, Critias, Leges
Für eine absolute Chronologie gibt es kaum Anhaltspunkte. Einer ist die Tatsache, dass
Theaitetos im Jahre 369 im Kampf gegen Theben fiel und seine schwere Verletzung im
gleichnamigen Dialog mitgeteilt wird. Ebenso schwierig ist die Frage zu beantworten, ob
Platon vor dem Tode Sokrates’ bereits Dialoge verfasst hat. Der einzige Hinweis darauf
findet sich bei Diogenes Laertios, der mitteilt, Sokrates habe nach dem Anhören des
Dialogs Lysis gesagt: „Beim Herakles, was der junge Mensch doch alles über mich zusam-
menlügt“ (D. L. III, 35). Zwar meint auch Friedländer, dass z. B. Laches und Charmides
vor dem Ende des 5. Jh. geschrieben sein könnten, doch halten die meisten Forscher es
für unwahrscheinlich, dass der junge Platon, der sich in einer aktuellen Auseinanderset-
zung mit seinem Lehrer befand und im Übrigen eine mögliche politische Karriere noch
nicht gänzlich verworfen hatte, bereits sokratische Dialoge verfasst haben könnte. Ande-
rerseits wird die Praxis, Gedächtnisprotokolle von philosophisch bedeutsamen Gesprä-
chen anzufertigen, in den platonischen Dialogen mehrfach erwähnt, und Platons frühe
dramatische Versuche sprechen für seine literarischen Bemühungen. Ein endgültiges
Urteil zu dieser Frage ist nicht möglich.
II. Die Frage nach dem guten Leben –
Sokratische Dialoge
1.1 Euthyphron
a) Zum Text
Euthyphron trifft Sokrates vor dem Gerichtsgebäude. Es geht um zwei Prozesse: den, der
gegen Sokrates von Meletos u. a. angestrengt wurde und den, den Euthyphron gegen
seinen Vater führen will.
Das Gespräch gliedert sich in drei Teile. (1) Das Zusammentreffen von Sokrates und
Euthyphron, (2) Die Frage nach der Idee des Frommen, zu der vier Definitionen als
Antwort erörtert werden: (2.1) Definition durch Hinweis auf eine als fromm bezeichnete
Handlung, (2.2) darauf, dass fromm das sei, was den Göttern lieb ist, (2.3) darauf, dass
Frömmigkeit Teil der Gerechtigkeit sei, (2.4) sowie Kunst des Betens und Opferns. Der
Dialog klingt mit dem Schluss aus (3), in dem auf das nach wie vor Ungeklärte verwiesen
wird.
(1) Zunächst erkundigt sich Euthyphron über den Prozess gegen Sokrates und dieser
gibt über die Person des Meletos und dessen Klage eine scheinbar bewundernde, in Wirk-
lichkeit aber an Ironie kaum zu überbietende Darstellung. Trotz seiner Jugend nämlich
habe dieser erkannt, dass er, Sokrates, die Jugend verderbe und deshalb sei es nur kon-
sequent,
„zuerst für die Jugend zu sorgen, daß sie aufs beste gedeihe; wie auch ein guter Landmann
immer zuerst für die jungen Pflanzen sorgt und hernach für die übrigen. So wahrschein-
lich will auch Meletos zuerst uns vertilgen, die wir den frischen Trieb der Jugend verder-
ben, wie er sagt; hernach aber wird er, natürlich auch für die Älteren sorgend, dem Staat
ein Urheber sehr vieler und großer Vorteile werden, wie man ja erwarten muß von dem,
der mit einem solchen Anfang anfängt“. (2 d/3 a)
Euthyphron ist entsetzt und vermutet, dass es Meletos in Wahrheit darum gehe, den Staat
„mißhandeln zu wollen, da er sich bemüht, dich zu verletzen“. Damit ergreift er eindeutig
Partei für Sokrates und sieht in ihm, dem immer wieder das ‚Dämonische‘ widerfahren
sei, einen natürlichen Bundesgenossen zu ihm, dem Priester und Wahrsager. Denn auch
er stoße mit seiner Kunst der Vorhersage auf Unglauben und Spott. Spott zu ertragen sei
nicht weiter schlimm, meint Sokrates. Sobald aber jemand beginne, seine von den Athe-
nern nicht geteilten Ansichten lehrend zu verbreiten, sei er der Verfolgung ausgesetzt.
1.1 Euthyphron 21
Und genau das sei der Grund, weswegen er sich nun der öffentlichen Anklage zu stellen
habe. Doch Euthyphron beruhigt Sokrates und sagt ihm einen guten Ausgang des Pro-
zesses voraus.
Aber dann befragt Sokrates Euthyphron nach dessen Prozess, und dieser erklärt, dass
ihn jedermann für rasend halten werde, wenn er höre, dass er seinen eigenen Vater des
Totschlags bezichtige. Ein Tagelöhner seines Vaters habe einen seiner Knechte im Streit
erschlagen. Daraufhin habe er ihn fesseln lassen, in eine Grube geworfen und einen Boten
zum Gericht geschickt, um über den Fall Rechtsauskunft einzuholen. In der Zwischenzeit
aber sei der Totschläger an den Folgen von Kälte und Hunger gestorben. Zwar seien seine
Verwandten der Meinung, er habe kein Recht, deswegen seinen Vater anzuklagen: „Aber
schlecht, o Sokrates, wissen sie, wie das Göttliche sich verhält, was Frommes und Ruch-
loses betrifft.“ (4 e) Euthyphron müsse sehr viel von dem Göttlichen verstehen, wenn er
eine solche Klage einreiche, meint Sokrates und da er selber bezichtigt werde, „Neuerun-
gen in göttlichen Dingen“ einzuführen, möchte er sein Schüler werden. Vielleicht könne
er dann Meletos von seiner Klage abbringen oder ihn an Euthyphron verweisen.
Euthyphron greift den vermeintlichen Hilferuf von Sokrates auf und versichert, mit
Meletos leicht fertig werden und ihn gar in die Position des Angeklagten bringen zu
können. Damit ist die Gesprächseröffnung abgeschlossen.
(2) Sokrates hat Euthyphron die Rolle des Fachmannes in Fragen der Frömmigkeit
zugestanden und sich selbst die des Schülers. Die sichert ihm die Möglichkeit des Fra-
gens:
„So sage mir nun um Zeus’ willen, was du jetzt eben so genau zu wissen behauptest, worin
doch deiner Behauptung nach das Gottesfürchtige und das Gottlose bestehe, sowohl in
Beziehung auf Totschlag als auf alles Übrige. Oder ist nicht das Fromme in jeder Hand-
lung sich selbst gleich und das Ruchlose wiederum allem Frommen entgegengesetzt und
sich selbst ähnlich, so daß alles, was ruchlos sein soll, soviel nämlich seine Ruchlosigkeit
betrifft, eine gewisse Gestalt (§dffa – idea) hat?“ (5 c/d).
(2.1) Euthyphron beantwortet die Frage durch Hinweis auf die von ihm beabsichtigte
Handlung: Fromm ist es, dass ich meinen Vater verklage. Den Beweis aber für die Fröm-
migkeit seiner Handlung bezieht er aus dem Mythos. Hat nicht auch Zeus, der doch von
allen Menschen als der „trefflichste“ und „gerechteste“ aller Götter bezeichnet wird,
ebenfalls seinen Vater gefesselt?
Für Sokrates jedoch hat der Mythos bereits jede Beweiskraft verloren. Daher seine
skeptische Frage an Euthyphron:
„Auch Krieg glaubst du also wirklich, daß die Götter haben gegeneinander und gewaltige
Feindschaften und Schlachten und viel dergleichen, wie es von den Dichtern erzählt
wird (…)“ (6 b)?
Zunächst aber unterbricht Sokrates seinen Gesprächspartner, der nun sein ganzes my-
thologisches Wissen ausbreiten möchte und lenkt auf die Ausgangsfrage zurück: Was ist
das Fromme? Er will nicht Beispiele hören, sondern den Begriff des Frommen, seine
‚Gestalt‘. Was ist die ‚idea‘ des Frommen?
22 II. Sokratische Dialoge
„Diese Gestalt selbst also lehre mich, welche sie ist, damit ich, auf sie sehend und mich ihrer
als Urbildes (paradigma) bedienend, was nun sein solches ist in deinen oder sonst jeman-
des Handlungen, für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe“ (6 e).
(2.2) Nun hat Euthyphron verstanden und seine Antwort: „Was also den Göttern lieb ist
ist fromm; was nicht lieb, ruchlos“ wird von Sokrates als Antwort auf seine Frage akzep-
tiert.
Zu untersuchen bleibt es jedoch, ob die Antwort auch richtig ist. Ausgangspunkt
hierfür ist die von Euthyphron zugestandene Behauptung, dass die Götter uneins seien,
und uneins seien sie – so Sokrates –, sicherlich nicht über leicht und eindeutig zu beant-
wortende Fragen wie die, dass z. B. eine Zahl größer sei als eine andere. Uneinig seien sie
sich vielmehr über die wichtigsten Dinge, über die auch die Menschen sich streiten,
nämlich über das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte, das Gute und Böse.
Wenn das aber so ist – und Euthyphron gesteht dies ohne zu zögern zu – dann bedeutet
das, dass das, was der eine Gott für gerecht hält, von dem anderen für ungerecht gehalten
wird und umgekehrt. Wenn aber das Gerechte von den Göttern geliebt wird, dann kann
dasselbe von dem einen Gott geliebt und von dem anderen gehasst werden, je nachdem
ob er es für gerecht oder ungerecht hält. Und dementsprechend „wäre ein und dasselbe
auch fromm und ruchlos“ (8 a).
Es ist der Streit der Götter, der eine Orientierung des menschlichen Handelns am
Mythos unmöglich macht. Zwar gibt sich Euthyphron noch nicht geschlagen und weist
daraufhin, dass die Götter darin übereinstimmen, dass der „Strafe leiden müsse, der
einen anderen ungerechterweise getötet hat“, was Sokrates ihm auch zugesteht, aber der
Streit betrifft ja gerade die Bestimmung dessen, was gerecht ist.
Sokrates möchte nun wissen, warum die Götter einmütig zu dem Urteil kämen, dass
Euthyphron zu Recht seinen Vater des Totschlags bezichtigte. Euthyphron weicht aus,
beteuert, er könne den Beweis zwar führen, aber er sei sehr schwierig. Darauf erwidert
Sokrates ironisch, sicherlich halte ihn Euthyphron für zu ungelehrig, den schwierigen
Beweis zu begreifen, aber da er ja auch die Richter überzeugen müsse, solle er es doch
immerhin versuchen. Noch bevor allerdings Euthyphron diesen Versuch unternimmt,
verzichtet Sokrates überraschend auf den Beweis und sagt: Wir wollen uns damit be-
gnügen, das als fromm zu bezeichnen, was alle Götter lieben, und das als ruchlos, was
alle Götter hassen. Euthyphron stimmt erleichtert zu.
Aber auch diese These muss auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden, meint Sokra-
tes. Euthyphron willigt nur zögernd ein. Die Frage, die Sokrates nun aufstellt, um die
These zu prüfen, erscheint auf den ersten Blick eher harmlos: „ob wohl das Fromme, weil
es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist?“
(10 a) Doch Euthyphron versteht nicht, und Sokrates erläutert an Beispielen den Unter-
schied von Aktiv und Passiv. So ist das Gesehene nicht die Ursache für das Sehen, sondern
das Sehen die Ursache für das Gesehene.
Nach dieser Klärung nun akzeptiert Euthypron den Satz „Das Fromme wird von den
Göttern geliebt, weil es fromm ist“. Aus diesem Grunde aber können auch das Fromme
und das Gottgefällige nicht identisch sein, denn das Gottgefällige ist nur ein anderes
Wort für das, was die Götter lieben.
An dieser Diskussion aber nun scheitert Euthyphron ein weiteres Mal. Für ihn ist alles
1.1 Euthyphron 23
in Bewegung geraten: „Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum
und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben.“ (11 b) Sokrates geht auf diese Ver-
wirrung scherzhaft ein, doch in der Sache macht er keinerlei Zugeständnisse. Er jedenfalls
sei immer bei derselben Sache geblieben, und wenn es Euthyphron anders vorkomme, so
liege das daran, dass dieser eben weichlich sei und der Strenge des Denkens ausweiche.
(2.3) Und schon bei der nächsten Frage, nämlich ob „alles Fromme zwar gerecht, das
Gerechte aber nicht alles fromm, sondern einiges davon zwar fromm, anderes aber auch
anders“ (12 a) sei, muss Euthyphron erneut passen, und Sokrates ermahnt ihn nun ernst-
haft: „nimm dich ein wenig zusammen: denn es ist ja gar nicht schwer zu verstehen, was
ich meine“ (12 a). Schließlich versteht er, dass es um das umfangslogische Verhältnis der
beiden Begriffe geht und bestimmt das Fromme als Teil der Gerechtigkeit so:
„Mich dünkt also, o Sokrates, derjenige Teil des Gerechten das Gottesfürchtige und From-
me zu sein, der sich auf die Behandlung der Götter bezieht; der aber auf die der Menschen
ist der übrige Teil des Gerechten.“ (12 e)
Sokrates lobt ihn für diese Bestimmung, aber doch fehlt ein Weniges. Das Wenige ist
Ausdruck einer ironischen Verkleinerung, denn in ihm steckt das Entscheidende. Hier
ist es die nähere Bestimmung dessen, was mit dem Wort Behandlung (therapia) gemeint
ist.
Sicherlich könne es nicht dasselbe meinen wie bei einem Reiter, der weiß, wie man ein
Pferd zu behandeln hat; denn dieses Behandeln geschieht zum Nutzen des Behandelten.
Aber welchen Nutzen sollten denn wohl die Götter von unseren Behandlungen haben?
(2.4) Euthyphron präzisiert und sagt, dass es sich bei den Handlungen gegenüber den
Göttern eher um Dienstleistungen handele, wie sie z. B. ein Knecht gegenüber seinem
Herrn auszuführen hat. Aber zu welchem Werk nun gebrauchen die Götter unsere
Dienstleistungen, fragt Sokrates. Und Euthyphron antwortet hilflos: „Sehr viele und
schöne gibt es dergleichen, o Sokrates“ (13 e). Aber worum geht es in der Hauptsache?
Widerwillig und ausweichend sagt Euthyphron schließlich:
„wenn jemand versteht, betend und opfernd den Göttern Angenehmes zu reden und zu
tun, das ist fromm“ (14 b).
Beide einigen sich darauf, dass das Beten als ein Bitten zu verstehen sei und das Opfern
als ein Schenken. Also ist die Frömmigkeit als eine Art Handelsgeschäft zu verstehen, bei
dem man die Götter um etwas bittet und als Gegenleistung dafür ihnen etwas schenkt.
Aber was haben die Götter von unseren Geschenken? Diese Geschenke, so meint Eu-
thyphron, sind ihnen angenehm. Und wohl auch lieb, ergänzt Sokrates mit großer Zu-
stimmung seines Gegenübers. Darauf erklärt Sokrates lapidar: „So ist also wiederum, wie
es scheint, das Fromme das den Göttern Liebe.“ – „Ganz vorzüglich“ bestätigt Euthyph-
ron, der nicht gemerkt hat, dass sie damit nun wirklich sich im Kreise gedreht haben.
Denn das Fromme sollte ja gerade als ein vom Gottgefälligen Unterschiedenes bestimmt
werden.
(3) „Von Anfang an also müssen wir noch einmal erwägen, was denn das Fromme
ist“, bemerkt Sokrates unerschrocken und er wolle ihn, Euthyphron, nicht eher gehen
24 II. Sokratische Dialoge
lassen, bis sie eine gemeinsame Antwort gefunden hätten. Da aber ergreift dieser die
Flucht: „Ein anderes Mal dann, o Sokrates; denn jetzt eile ich wohin, und es ist Zeit, daß
ich gehe.“ (15 e)
b) Zur Interpretation
(1) Seiner Entstehungszeit nach gehört der Dialog in die Gruppe der ersten Periode.
Allerdings ist er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nach 399 v. Chr. geschrieben worden.
Zur Widerlegung Euthyphrons im Dialog gehört die geschichtliche Pointe, dass der Leser
des Dialogs die unzutreffende Vorhersage des Wahrsagers hinsichtlich des positiven Aus-
gangs des Prozesses gegen Sokrates bereits kennt. Eine genaue Einordnung des Dialogs
innerhalb der ersten Periode ist schwierig und eher von philologischem als philosophi-
schem Interesse. Auf sie wird hier daher verzichtet.
(2) Platon wählt als Ort, an dem er den Dialog stattfinden lässt, die Halle des Basi-
leus, ein Gerichtsgebäude, das dem Archon Basileus unterstand. Bei ihm wurden beide
Arten von Klagen eingereicht, die private und die öffentliche (die Staatsklage). Während
Euthyphron im Begriff ist, eine Klage gegen seinen Vater einzureichen, berichtet Sokrates
davon, dass gegen ihn eine Staatsklage vorgebracht wurde. Der Ort stellt daher einen
gemeinsamen, wenn auch in recht unterschiedlicher Perspektive wahrgenommenen Be-
zugspunkt der beiden Gesprächspartner dar. Mit dem Ort verbindet sich aber auch der
thematische Schwerpunkt des Gesprächs; denn die im Vordergrund stehende Frage nach
der Idee der Frömmigkeit entwickelt sich auf dem Hintergrund des Problems der Ge-
rechtigkeit.
Teilnehmer des Gesprächs sind Euthyphron und Sokrates. Euthyphron, über den au-
ßerhalb des platonischen Werks nichts bekannt ist, stellt sich als Wahrsager vor, der mit
seiner Kunst der Vorhersage nicht selten auf Unverständnis und Spott trifft. Die Mantik,
die als eine Kunst der Interpretation göttlicher Zeichen zu verstehen ist, genoss im All-
tagsleben der Bürger einen selbstverständlichen und zentralen Platz, war aber vor allem
durch die Zunahme sophistischer Aufklärung der Kritik ausgesetzt. Die Fülle und Diffe-
renziertheit bedeutsamer Zeichen war nahezu unbegrenzt: Erdbeben, Überschwemmun-
gen, Blitz, Donner, Finsternis, Regenbogen, das Rauschen eines Baumes, das Verhalten
von Tieren, der Flug der Vögel, ja selbst das Niesen eines Menschen.
Als historischer Hintergrund für die Charakterisierung von Sokrates wird die gegen
ihn erhobene Anklage wegen eines Kapitalverbrechens gewählt. Meletos, einer der An-
kläger, wird namentlich erwähnt. Damit verbindet sich der fiktive Zeitpunkt des Dialogs.
Er liegt kurz vor Beginn des Prozesses (399 v. Chr.), d. h. Sokrates ist ca. 70 Jahre alt.
(3) Im ersten Teil werden – wie in einem guten Drama – Ort, Zeit und handelnde
Personen vorgestellt. Ihre Konstellation bildet ein Ensemble, das bereits das Thema des
Gesprächs vorbereitet. Das Gesprächsthema ist geschichtlich situiert. Sokrates spricht
mit einem Wahrsager und Priester über das Thema Frömmigkeit und das Verhältnis
von Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Für beide Gesprächsteilnehmer gibt es einen ak-
tuellen konkreten biographischen Bezug. Das Thema hat für beide einen bestimmten,
genau angebbaren ‚Sitz im Leben‘.
(4) Darüber hinaus erfolgt in der Phase der Gesprächseröffnung die Zuweisung und
Übernahme der Rollen, die beide im Gespräch einnehmen werden: Euthyphron ist der
1.1 Euthyphron 25
Fachmann in Fragen der Frömmigkeit, Sokrates, der Ältere, sein Schüler. Im Laufe des
Gesprächs findet hier jedoch eine Vertauschung der Rollen statt.
Euthyphrons vermeintliche Überlegenheit gerät ins Wanken, während Sokrates sich in
zunehmendem Maße als Fachmann in der Kunst der Erörterung problematischer Sach-
verhalte erweist. Indem Sokrates die Rolle des Nichtwissenden, Rat- und Hilflosen wählt,
praktiziert er die für ihn typische Ironie, die als eine Methode der Selbstverkleinerung
verstanden werden kann. Durch sie wird der Gesprächspartner nicht nur ermuntert,
seine Meinung zu äußern, sie gibt Sokrates die Möglichkeit, Fragen zu stellen und das
eröffnete Gespräch fortzusetzen.
(5) Es ist Sokrates, der mit seiner Frage nach der Idee der Frömmigkeit das Ge-
sprächsthema einführt und an ihm trotz der von Euthyphron unternommenen Ablen-
kungsmanöver festhält. Erstaunlich genug, dass Euthyphron sich nicht an dem keines-
wegs selbstverständlichen Begriff der Idee stößt. Es ist im platonischen Werk die erste
thematische Verwendung dieses Begriffs. Der Begriff hat eine alltagssprachliche Bedeu-
tung und ist erst von Platon zu einem philosophischen Terminus avanciert. Alltags-
sprachlich meint das Wort ‚Aussehen, Gestalt, Ansicht‘.
Es beinhaltet zunächst die äußerlich wahrnehmbare Gestalt, doch sind auch das An-
sehen und die Ansicht im übertragenen Sinne – ähnlich wie im Deutschen – in dem Wort
enthalten. Euthyphron problematisiert das Wort ‚Idee‘ nicht, weil er es in seiner alltags-
sprachlichen Bedeutung nimmt.
Es ist auch nicht die Verwendung des Wortes ‚Idee‘, die bei Euthyphron hätte Anstoß
erregen müssen, sondern die weitergehende von Sokrates vorgenommene Unterstellung,
dass alles Fromme und ebenso alles Ruchlose, wie unterschiedlich Frommes und Ruch-
loses es auch geben möge, doch jeweils eine gewisse Gestalt hat. Diese These also hätte
Euthyphron in Zweifel ziehen können. Er tut es nicht; denn zum einen ist er Sokrates
wohlgesonnen und will ihm helfen und ihn nicht widerlegen, zum anderen aber versteht
er die Tragweite der sokratischen These nicht. Daher antwortet er auf die Frage nicht mit
dem Versuch der Bestimmung dieser einen Idee des Frommen, sondern antwortet mit
einem Beispiel: Das, was ich tue, ist fromm. Indem sich Sokrates mit diesem Beispiel
nicht zufrieden gibt, sondern nach dem sich gleichbleibenden Allgemeinen in allem Ein-
zelnen fragt, ist im philosophischen Gang des Gespräches der lebensweltliche Ausgangs-
punkt überschritten und die Ebene theoretischer Allgemeinheit betreten worden.
Die Ideenhypothese wird für Platon zum durchgängigen, vielfach variierten und
schließlich von ihm selbst kritisierten Topos seines Denkens. Es ist sein Versuch, eine
Antwort auf das Problem der Vielheit, des Wechsels und der Relativität zu finden. Die
ihn motivierende Frage lautet: Gibt es nur die wechselnde Fülle sinnlicher Erscheinungen
oder gibt es eine für das Denken und Handeln sich gleichbleibende Instanz der Orientie-
rung. Diese Frage hatte für ihn eine ebenso theoretische wie praktische Bedeutung. Im
Euthyphron wird ein erster Versuch unternommen, nicht nur in der Idee der Frömmig-
keit solch eine Instanz zu finden, sondern diese der Idee der Gerechtigkeit unterzuord-
nen. Die Idee wird dabei als ein Vorbild interpretiert, zu dem die einzelnen Fälle von
Frömmigkeit die Abbilder darstellen. In späteren Dialogen begegnen andere Interpreta-
tionen des Begriffs Idee. Bemerkenswert ist jedoch, dass bereits hier Idee auch für etwas
als negativ Eingeschätztes eingeführt wird, die Idee des Ruchlosen. Damit wird ein Pro-
blem thematisiert, das in einem späteren Dialog (Parmenides) eine wichtige Rolle spielt.
26 II. Sokratische Dialoge
Die im Euthyphron eingeführte Idee des Ruchlosen ist insofern bedeutsam, als sie ein
mögliches – in der Philosophiegeschichte häufig verbreitetes – Missverständnis aus-
schließt: die Idee ist nicht etwas, das in jedem Fall verwirklicht werden soll.
(6) Im Euthyphron wird ein entscheidender Schritt von der Mythologie zur Philoso-
phie vollzogen. Dies geschieht dadurch, dass Sokrates Frömmigkeit und Gerechtigkeit
aus ihrem mythologischen Kontext herauslöst und sie als Ideen bestimmt. Das bedeutet
zum einen, dass die Bestimmung von Frömmigkeit und Gerechtigkeit eine Aufgabe des
Denkens wird. Der immer weniger überzeugende Versuch, die widersprüchlichen und
wechselnden Vorlieben der Götter zu erkunden, wird ersetzt durch den Versuch eines in
sich konsistenten Denkens.
Allerdings: Weder Sokrates noch Platon sind Atheisten wie etwa Kritias, der die Erfin-
dung der Götter als das Werk schlauer Männer interpretierte. Die theologische Orientie-
rung bleibt bei beiden erhalten. Aber es findet im platonischen Werk eine Neuinterpre-
tation der Theologie statt. Im Euthyphron wird deutlich die These ausgesprochen: Die
Götter sind gerecht, d. h. nichts Ungerechtes ist göttlich. Das bedeutet zweierlei: Die
These ist Platons, von Solon, seinem Ahnherrn, übernommene Form der Theodizee;
zum anderen aber beinhaltet die These, dass auch die Götter der Idee der Gerechtigkeit
unterworfen werden. Damit gewinnt die philosophische Bestimmung Priorität gegen-
über einer Unterwerfung unter ein rational nicht zu Begründendes.
Der Gedanke von der Gerechtigkeit der Götter ist keineswegs selbstverständlich. Pla-
ton verlässt damit die ältere Gottesvorstellung der Tragödie, in der nicht nur vom Zorn
der Götter die Rede ist, sondern ebenso von deren Eifersucht, Neid, Willkür, Hass und
Zerstörungswillen. Die Götter vernichten Menschen, wo immer sie wollen, ohne einseh-
baren Grund. Diese Überzeugung verliert im 5. und 4. Jh. v. Chr. in Griechenland an
Bedeutung. An die Stelle dieser Deutung tritt, durch Platon ganz wesentlich vorbereitet,
der ‚Gott der Philosophen‘.
1.2 Laches
a) Zum Text
Das Gespräch gliedert sich in vier Teile: (1) Gespräch über die richtige Erziehung der
Jugend, (2) Gespräch über den Nutzen der Fechtkunst, (3) Gespräch über das Wesen
der Tapferkeit und (4) Abschließende Bemerkungen.
(1) Lysimachos und Melesias haben Laches und Nikias gebeten, sich mit ihnen zu-
sammen den Übungskampf eines Schwerbewaffneten anzuschauen. Ihr Motiv ist die
Frage, ob ihre Söhne in dieser Disziplin unterrichtet werden sollen. Ihre weitergehende
Absicht ist es, dass ihre Söhne berühmt werden sollen wie ihre eigenen Väter, die Groß-
väter der Knaben. Mit ihrer eigenen Ausbildung sind sie eher unzufrieden und sie wollen,
dass ihre Söhne es weiter bringen, als es ihnen selbst gelungen ist.
Nikias erklärt sich sofort zum Gespräch bereit und auch Laches stimmt zu und be-
stätigt, dass es berühmte Männer oftmals an Sorgfalt bei der Erziehung ihrer eigenen
Söhne fehlen ließen. Zusätzlich aber führt er Sokrates in das Gespräch ein, denn dieser
stamme nicht nur aus demselben Demos wie Lysimachos, sondern beschäftige sich selbst
nachdrücklich mit der Frage der richtigen Bildung der Jugend.
1.2 Laches 27
Lysimachos ist überrascht und erfreut, dass es sich bei dem erwähnten Sokrates um
den Sohn seines alten Freundes Sophroniskos handelt und möchte, dass auch Sokrates
seinen Rat erteilt. Laches steigert das Lob, indem er bemerkt, dass die Schlacht bei Delion
einen besseren Ausgang genommen hätte, wenn sich alle so verhalten hätten wie Sokra-
tes. Darauf erklärt Lysimachos diesen zu seinem Freund und bietet ihm ständige Gast-
freundschaft an.
(2) Nun aber erscheint es nötig, zur Ausgangsfrage zurückzukehren: „Ist die Kunst
den Jünglingen ersprießlich, in der ganzen Rüstung fechten zu lernen, oder nicht?“
(181 c)
Sokrates erklärt sich bereit, so gut er könne, die Frage zu beantworten. Er möchte
aber, dass zunächst Nikias und Laches als die älteren und erfahrenen Männer ihren Rat
erteilen. Nikias ergreift das Wort und spricht sich für diese Disziplin aus. Sie ist nicht nur
überhaupt eine gute Leibesübung, sondern eine wichtige Vorbereitung auf den militäri-
schen Ernstfall. Im Krieg selbst ist sie von Vorteil, sowohl für den Kampf in einer festen
Schlachtordnung als auch im Einzelkampf. Und wer diese Kunst beherrscht, kann es
leicht bis zum Heerführer bringen. Schließlich aber wird der in dieser Kunst Geübte
‚dreister‘ und ‚tapferer‘ und damit dem Feind umso furchteinflößender.
Laches ist ganz anderer Meinung. Zwar sei es schwierig, sich überhaupt gegen das
Erlernen einer Kunst auszusprechen, aber vielleicht handele es sich bei der vorgeführten
Fechtübung gar nicht um eine Kunst oder wenn doch, um eine ganz unbrauchbare. Denn
wenn sie wirklich eine Kunst wäre, hätten die Lakedämonier, die doch sonst sich alles
aneigneten, was sie zur Kriegsführung brauchten, sie mit Sicherheit übernommen. Den
Steselios aber, der soeben seine Übung vorgeführt habe, habe er in einer ganz anderen
Situation kennengelernt, wo er sich mit seinem Sichelspeer in dem Takelzeug des gegne-
rischen Schiffes verfangen habe und dabei zum allgemeinen Gespött geworden sei. Wenn
daher ein Feigling glaube, mit Hilfe dieser Übung dreister zu werden, könne er sich
blamieren, und selbst ein Tapferer müsse sich sehr hüten, sich nicht lächerlich zu ma-
chen.
Bei diesem Pro und Contra soll nun die Stimme des Sokrates den Ausschlag geben.
Aber kann denn die bloße Stimmenmehrheit das Kriterium sein, fragt Sokrates erstaunt.
Melesias jedenfalls stimmt mit ihm darin überein, dass allein die Sachkenntnis entschei-
dend sein darf. Es muss also zunächst die Frage des Sachverstandes geklärt werden und
das umso mehr, da die Frage, um die es geht, von so großer Bedeutung ist.
Ob nicht zunächst die Frage beantwortet werden muss, wer die fragliche Kunst am
besten gelernt und wer darin tüchtige Lehrer gehabt hat, fragt Sokrates. Das wird zuge-
standen. Aber um welche Kunst handelt es sich? Nun, die in ganzer Rüstung zu fechten,
meint Nikias. Doch Sokrates ist nicht einverstanden. Die genannte Disziplin ist doch nur
ein Mittel zu etwas anderem, nicht aber Ziel. Das Ziel ist die richtige Behandlung der
Seele der Jünglinge. Die Frage ist also, ob „jemand von uns sachverständig ist in Behand-
lung der Seele“, und als kunstverständig sei nur jemand anzusehen, der entweder einen
bedeutenden Lehrer vorweisen kann oder aber eine Probe, ein Werk seiner Fähigkeit. Er
selbst, Sokrates, müsse allerdings sogleich gestehen, dass er weder genügend Geld gehabt
habe, um einen berühmten Lehrer bezahlen zu können, noch dass er auf ein Werk seiner
selbst erworbenen Kunst hinweisen könne. Da aber Laches und Nikias nicht nur sehr viel
reicher seien als er und im übrigen bereits durch ihren Ratschlag deutlich gemacht hät-
28 II. Sokratische Dialoge
ten, dass sie offenkundig viel von der Sache verstünden, sei es am besten, wenn Lysima-
chos und Melesias sich an sie hielten.
Lysimachos leuchtet das ein, doch möchte er, dass Sokrates an seiner Stelle die Befra-
gung übernimmt. Nikias jedoch, der bereits Sokrates’ Fragekunst kennt, weiß, dass diese
Befragung keineswegs so harmlos ist, wie sie sich hier darstellt, und deshalb warnt er
Lysimachos:
„Du scheinst gar nicht zu wissen, daß, wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt und
sich mit ihm einläßt ins Gespräch, unvermeidlich, wenn er auch von etwas ganz anderem
zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange ohne Ruhe im Gespräch herum-
geführt wird, bis er ihn da hat, daß er Rede stehen muß über sich selbst, auf welche Weise
er jetzt lebt und wie er vorher sein Leben gelebt hat; wenn ihn aber Sokrates da hat, daß er
ihn dann gewiß nicht eher herausläßt, bis er dies alles gut und gründlich untersucht hat.“
(187 e/188 c)
Gleichwohl lasse er sich von Sokrates gerne befragen, auch wenn er wisse, dass dabei auch
seine schlechten Handlungen zur Sprache kämen und er selbst geprüft würde, von den
Knaben aber bald überhaupt nicht mehr die Rede sei.
Auch Laches ist dazu bereit. Für ihn ist das entscheidende Kriterium für die Beur-
teilung eines Mannes, ob bei ihm Worte und Taten übereinstimmen. Wenn jemand in
seinen Taten versage, so seien ihm seine Worte umso verdrießlicher, je schöner sie klän-
gen. Sokrates nun habe er durch seine Taten als einen tüchtigen Menschen kennengelernt
und umso mehr sei er gespannt, nun auch seine Worte zu hören. Die Tatsache, dass
Sokrates jünger als er selbst sei, spiele dabei keine Rolle.
Nun also ist klar, wie die Rollen im Gespräch verteilt sind. Lysimachos und Melesias
sind die interessierten Zuhörer, in deren Auftrag die Befragung durchgeführt wird, Niki-
as und Laches erklärtermaßen die Fachleute in Sachen Pädagogik und Sokrates der Ge-
sprächsführer.
Sokrates beginnt das Gespräch mit einer bemerkenswerten Wendung, indem er näm-
lich die Autorität der Lehrer, die doch zunächst von so großer Wichtigkeit für die Frage
der kompetenten Beurteilung der anstehenden Sache zu sein schien, beiseite schiebt und
die These vertritt, dass jeder, bei dem eine Tüchtigkeit anzutreffen sei, doch wissen müs-
se, was sie sei. Nun ist die Tüchtigkeit das, was den Söhnen beigebracht werden soll und
über sie verfügen Nikias und Laches doch selbst. Es sei daher lediglich vonnöten, dass
das, was in ihnen selbst vorhanden sei, zur Sprache gebracht werde. Dem stimmen beide
zu. Außerdem – so Sokrates – müsse nicht einmal die Tüchtigkeit als Ganze bestimmt
werden; es genüge, wenn der von ihr hier in Frage kommende Teil erörtert werde, näm-
lich die Tapferkeit. Auch das leuchtet ein.
(3) Sokrates präzisiert die Aufgabe:
„Dieses also wollen wir zuerst versuchen zu erklären, was die Tapferkeit ist; dann aber nach
diesem auch überlegen, auf welche Art sie den Jünglingen beizubringen wäre, soweit es
nämlich möglich ist, sie durch Übung und Unterricht beizubringen.“ (190 d/e)
1.2 Laches 29
Zu sagen, was die Tapferkeit ist, sei nicht schwer, meint Laches: „Denn wenn jemand
pflegt in Reihe und Glied standhaltend die Feinde abzuwehren und nicht zu fliehen, so
wisse, daß ein solcher tapfer ist.“ (190 e) Aber gegen diese Formulierung macht Sokrates
sofort einen Einwand. Wird nicht von Geschichtsschreibern und auch von Homer ver-
schiedentlich jemand gelobt, der je nach der Situation in der Lage ist, den Feind zu
verfolgen, aber auch zurückzuweichen?
Das muss Laches einräumen. Sokrates wiederholt seine Frage und präzisiert sie: Gibt
es etwas, was in ganz unterschiedlichen Handlungen, im Kriege, aber auch im Frieden, in
der Politik wie im privaten Leben, zu Wasser und zu Land und wo immer man will, als
Tapferkeit bezeichnet werden kann? Laches weiß nicht, was Sokrates meint, und so gibt
dieser ihm ein Beispiel aus einem anderen Bereich. Wenn jemand sagen solle, was Ge-
schwindigkeit sei, und zwar sowohl im Laufe, in der Musik, im Lernen und im Reden, so
wäre die richtige Antwort: „die in kurzer Zeit vieles vollbringende Kraft“ (192 b).
Nun weiß Laches, wie er es machen soll und sagt: „So dünkt sie mich denn eine
gewisse Beharrlichkeit der Seele zu sein, wenn ich doch das in allem sich findende von
der Tapferkeit sagen soll.“ (192 b/c) Diese Formulierung akzeptiert Sokrates. Ist sie aber
auch richtig? Wenn man nämlich – wovon beide überzeugt sind –, die Tapferkeit für gut
hält, dann kann eine Beharrlichkeit, die ohne Verstand erfolgt, nicht gut sein; und daher
ist auch nicht jede Beharrlichkeit Tapferkeit, sondern allenfalls die verständige. Dem
stimmt Laches zu.
Aber Sokrates macht auch gegen diese Definition einen Einwand geltend. Ist derjenige
als tapfer zu bezeichnen, der in einer Schlacht verständig ausharrt, in der sicheren Ge-
wissheit, dass seine Seite dem Gegner ohnehin durch die Größe der Truppe, die Ausrüs-
tung und den Standort überlegen ist? – Sicher nicht, meint Laches, sondern vielmehr der,
der auf der Gegenseite ausharrt. – Aber dessen Ausharren ist doch ganz aussichtslos und
daher unverständig, bemerkt Sokrates und fasst ihr Gespräch so zusammen: Laches und
ihm sei es nicht gelungen, zu sagen was Tapferkeit sei, und wenn sie vielleicht auch
zurecht von sich behaupten dürften, dass sie in ihren Taten Tapferkeit bewiesen hätten,
in ihren Reden hätten sie versagt, und daher stimmten Worte und Taten bei ihnen nicht
überein.
Aber was sollen sie tun? Sollen Sie aufgeben? Das wäre mit Sicherheit nicht tapfer,
wendet Sokrates ein, und Laches ist derselben Auffassung:
„Ich wenigstens bin bereit, o Sokrates, nicht eher abzulassen, obschon ich ungewohnt bin
solcher Reden. Aber es hat mich ordentlich ein Eifer ergriffen über das Gesagte, und ich
bin ganz unwillig, wie ich, was ich in Gedanken habe, so gar nicht imstande bin zu sagen.
Denn in Gedanken glaube ich es doch zu haben, was die Tapferkeit ist; ich weiß aber nicht,
wie sie mir jetzt entgangen ist, daß ich sie nicht ergreifen konnte in der Rede und heraus-
sagen, was sie ist.“ (194 a/b)
Also muss man die Jagd auf sie fortsetzen und vielleicht noch jemanden zu Hilfe holen,
nämlich Nikias. Dieser schaltet sich nun ein. Er bringt ein Argument zur Geltung, das er
bei Sokrates selbst kennengelernt hat: Jeder ist gut, worin er klug ist. Und während
Laches noch nicht versteht, was das mit Blick auf die Tapferkeit bedeuten soll, erläutert
Sokrates, dass Nikias offensichtlich die Tapferkeit für irgendeine Klugheit halte. Aber er
30 II. Sokratische Dialoge
solle doch Nikias selber befragen. Darauf antwortet dieser: „Diese, o Laches, die Erkennt-
nis des Gefährlichen und des Unbedenklichen im Kriege sowohl als in allen andern Din-
gen“. (194 e/195 a) Diese Antwort hält Laches für ganz ungereimt; denn dann müsste der
Arzt schon aufgrund seiner Erkenntnis von Krankheiten tapfer genannt werden und
ebenso der Bauer und jeder Gewerbetreibende hinsichtlich seines jeweiligen Gebietes.
Aber Nikias gibt sich nicht geschlagen. Die Ärzte wissen zwar über Krankheiten Be-
scheid, nicht aber über das Gefährliche und Ungefährliche. Denn es gibt, wie auch Laches
zugesteht, Situationen, in denen es für einen Kranken besser sei, nicht weiterzuleben; für
diesen ist aber die Krankheit nichts Gefährliches. Das gibt Laches zu; aber er wendet
sogleich ein, dass Nikias dann offenbar die Wahrsager als tapfer bezeichne, die vorgeben,
die Zukunft vorhersagen zu können. Aber auch das meint Nikias nicht; denn zu sagen,
was geschehen wird, bedeutet noch nicht, es als gefährlich beurteilen zu können. Laches
ist verärgert und meint, Nikias wolle nur nicht zugeben, dass er ebenso wenig weiter
wisse wie er, und nur um seine Verlegenheit zu vertuschen, behaupte er aufs Geratewohl
irgendetwas. Wahrscheinlich laufe das Ganze darauf hinaus, dass allein irgendein Gott
für tapfer erklärt würde. Sokrates interveniert. Das bloße Streiten führe im Gespräch
nicht weiter: Man muss den anderen ausforschen, um herauszubekommen, was er meint,
oder ihn aber, im Falle der Unwissenheit, belehren. Laches aber mag nicht mehr und
möchte, dass Sokrates für ihn das weitere Nachfragen übernimmt.
Sokrates veranlasst nun Nikias zu dem Zugeständnis, dass, nach seiner Verbindung
der Tapferkeit mit Erkenntnis, ein Tier nicht tapfer sein könne, und Laches sieht in dieser
Konsequenz bereits Nikias für widerlegt an, denn für ihn gibt es selbstverständlich auch
Tiere, die tapfer sind. Nikias aber bleibt dabei: Wer unwissend ist, kann nicht tapfer sein,
und daher seien weder Tiere noch Kinder tapfer. Wenn aber das Kriterium von Nikias
stimme, dann müsste möglicherweise sehr vielen, die anerkannterweise als tapfer gelten,
dieser Ehrentitel abgesprochen werden, und dazu ist Laches nicht bereit. Sokrates gibt
nun zu bedenken, dass Nikias vielleicht an Unterscheidungen denke, die er bei seinem
Lehrer Damon kennengelernt hätte, der selbst mit dem für seine Wortunterscheidungen
berühmt gewordenen Sophisten Prodikos bekannt sei. Nun ist die Sache für Laches klar:
Die ganze Rede des Nikias laufe auf Sophistik hinaus und damit gebe sich ein rechtschaf-
fener Mann nicht ab.
Doch Sokrates lässt nicht locker. Vielleicht steckt in dem, was Nikias sagt, doch eine
Weisheit, und so befragt er ihn allein weiter, ohne jedoch Laches aus der ‚Gemeinschaft
der Rede‘ zu entlassen. Die Tapferkeit wurde doch zu Beginn als ein Teil der Tugend
beschrieben. Sind nicht Besonnenheit und Gerechtigkeit weitere Teile? Dem stimmt Ni-
kias zu. Andererseits aber ergibt sich aus der Definition der Tapferkeit als der Erkenntnis
des Gefährlichen folgende Schwierigkeit: Das Gefährliche bezieht sich immer auf etwas
Zukünftiges. Die Tapferkeit wäre daher das Wissen eines Zukünftigen. Diese Einschrän-
kung widerspricht aber dem Wesen des Wissens. Es gibt nicht ein eigenes Wissen für das,
was geschah, ein eigenes für das, was geschieht und ein eigenes für das, was geschehen
wird oder geschehen könnte; sondern „z. B. was die Gesundheit anbetrifft, übersieht für
alle Zeiten keine andere als die Arzneikunst, die eine ist, das Geschehende sowohl als das
Geschehene und das, was geschehen wird, wie es geschehen wird.“ (198 d/e)
Jedes Wissen bezieht sich auf die Sache selbst, ohne jede zeitliche Beschränkung. Ein
nur auf die Zukunft eingeschränktes Wissen kann es daher nicht geben. Wenn also Tap-
1.2 Laches 31
ferkeit Wissen ist, dann kann sich dieses Wissen nicht nur auf Zukünftiges beziehen, und
deshalb hält Sokrates Nikias vor: „Also etwa ein Dritteil der Tapferkeit, o Nikias, hast du
uns angegeben in deiner Antwort, da wir doch nach der ganzen Tapferkeit fragten, was sie
sei.“ (199 c)
(4) Gäbe es aber jemanden, der von allem das Gute und das Üble wüsste, so müsste
dieser als im Besitz vollendeter Tugend gedacht werden. Das aber zu bestimmen ist ihnen
– so Sokrates – nicht gelungen. Nikias räumt dies ein, meint aber, dass das Gespräch
gleichwohl nicht ergebnislos war, während Laches sich in der Meinung bestätigt sieht,
dass es richtig war, Sokrates um Rat zu fragen. Dieser jedoch betont, dass er ja ebenfalls
in Verlegenheit hinsichtlich der Frage sei und es ihnen daher nichts anderes übrigbleibe,
als gemeinschaftlich weiter nach einem Lehrer für sie alle zu suchen.
b) Zur Interpretation
(1) Die Teilnehmer des Gesprächs bilden zwei Gruppen. Da sind zunächst Lysima-
chos, Sohn des berühmten athenischen Politikers und Strategen Aristeides, aus der Zeit
der Perserkriege, und Melesias, Sohn des oligarchischen Politikers Thukydides. Wenn
auch die Frage der Erziehung ihrer Söhne Thema des Gesprächs ist, so bleiben sie selbst
doch im Hintergrund. Dieses wird vielmehr bestritten von Nikias, dem athenischen Feld-
herrn, der 421 den nach ihm benannten Nikiasfrieden schloss, mit dem der erste Ab-
schnitt des Peloponnesischen Krieges endete, der später aber, nach dem Scheitern der
sizilischen Expedition 413, dem Todesurteil der Syrakusaner durch Selbstmord sich ent-
zog, außerdem Laches, ebenfalls athenischer Feldherr, der 425 abberufen wurde, in der
Schlacht bei Delion kämpfte und 418 in der Schlacht bei Mantineia fiel und schließlich
Sokrates, von dem berichtet wird, dass er ebenfalls an der Schlacht von Delion teilnahm
und sich besonders tapfer verhielt.
Diese Angaben zu den Personen geben zugleich einen Hinweis auf das fiktive Datum
des Gesprächs, nämlich nach der Schlacht von Delion 424 und vor der Schlacht von
Mantineia 418. Sokrates war also zwischen 45 und 50 Jahre alt.
Über den Ort des Gesprächs wird nichts mitgeteilt, wohl aber, dass die Teilnehmer
soeben dem Schaukampf eines Hopliten, d. h. eines Schwerbewaffneten, zugeschaut ha-
ben und daher ist ein Gymnasium wahrscheinlich. Der Kampf in voller Rüstung bildet
auch den Ausgangspunkt des Gesprächs.
(2) Aristoteles bemerkt in seinen Ausführungen zu Sokrates, dieser habe sich mit der
Frage nach dem Allgemeinen im Bereich der ethischen Tugenden befasst und habe dabei
die Methode der Epagoge angewandt. Die Richtigkeit dieser Charakterisierung lässt sich
im Dialog Laches gut nachvollziehen. Ausgangspunkt ist die lebensweltlich situierte Fra-
ge, ob es für einen heranwachsenden jungen Mann ratsam ist, die Kunst, in voller Rüs-
tung zu fechten, zu erlernen. Aber mit dieser Frage ist die Ebene philosophischer All-
gemeinheit noch nicht erreicht. Diese ist erst gegeben, wenn sie als Teil der Erziehung zur
Tapferkeit erkannt wird und so die Frage nach dem Wesen der Tapferkeit als Vorausset-
zung für die Beantwortung der ersten Frage beantwortet wurde. Die Wesensfrage hat
einen zeitlichen und sachlichen Vorrang vor der lebensweltlichen Ausgangsfrage. Sie
muss ‚zuvor‘ beantwortet werden, bevor Aussagen über den einzelnen Fall getroffen wer-
den können. Die Wesensfrage hat – einem späteren Sprachgebrauch entsprechend – die
Struktur eines Apriori. Die philosophische Fragerichtung macht eine Umwendung der
32 II. Sokratische Dialoge
lebensweltlichen Fragerichtung notwendig. Das ist für die Teilnehmer der Sokratischen
Dialoge ungewohnt und schwierig.
(3) Ein weiteres Merkmal der Wesensfrage lässt sich im Laches gut beobachten. Das
Wesen stellt die durchgängige Struktur der Sache dar. Das wird am Beispiel der Gesund-
heit erläutert. Nur derjenige kann medizinische Fragen richtig beantworten, wenn er weiß,
wie es sich mit dem immer wieder in derselben Weise auftretenden typischen Verlauf einer
Krankheit verhält, er also die „Gestalt“ einer Krankheit kennt. Nur so kann er die verschie-
denen Krankheiten unterscheiden und gegeneinander abgrenzen. Die Kenntnis der sich
gleichbleibenden Gestalt einer Sache wird als Ideenwissen charakterisiert. Der von Sokra-
tes erhobene Einwand, sie hätten bei der Bestimmung der Tapferkeit nur ein Drittel er-
fasst, wenn sie diese als ein Wissen von dem in der Zukunft zu Fürchtenden festgesetzt
hätten, trifft allerdings nicht den Kern. Der Vergleich mit dem Beispiel der Gesundheit ist
irreführend, denn natürlich ist es nicht auszuschließen, dass es ein Wissen geben kann,
das sich ausschließlich auf die Zukunft richtet, wie es ja auch ein Wissen gibt, das nur von
der Vergangenheit handelt, die Geschichtswissenschaft. Die Forderung, die sich gleich-
bleibende Struktur der Sache zu erfassen, wäre erst dann verletzt, wenn die Tapferkeit das
eine Mal als ein Wissen von zukünftiger Gefahr, dann aber als ein Wissen von überstan-
dener Gefahr definiert würde. Es ist schwer zu sagen, ob Platon bei der Abfassung des
Dialogs dieser Sachverhalt bewusst war, oder ob er absichtlich diese Aporie entwickelte.
(4) Der Dialog endet in zweifacher Weise aporetisch: Weder ist es den Gesprächsteil-
nehmern gelungen, das Wesen der Tapferkeit zu bestimmen, noch gar die Frage zu beant-
worten, ob es für junge heranwachsende Männer ratsam ist, in ganzer Rüstung fechten zu
lernen. Gleichwohl endet der Dialog nicht ergebnislos. Zum einen sind nicht tragfähige
Definitionen der Tapferkeit ausgegrenzt worden, zum anderen aber haben sich die Teil-
nehmer im philosophischen Gespräch geübt. Es ist Nikias, der auf den Charakter der
Sokratischen Gesprächsführung aufmerksam macht. Er weiß, dass in ihm die Sachprü-
fung unlösbar mit der Selbstprüfung verbunden ist und diese dazu führt, dass der an
solch einem Gespräch Beteiligte Rechenschaft ablegen muss über seine Lebensweise. Un-
vermeidlich ist es, dass dabei auch ihre Schattenseiten zur Sprache kommen. Bemerkens-
wert ist ebenso, dass das sokratische Gespräch den Versuch darstellt, ein im Menschen
selbst liegendes Sein sprachlich zu artikulieren. Dass Laches tapfer ist, wird von nieman-
dem in Zweifel gezogen, und doch ist er nicht in der Lage, das, was er ist, sein Sein,
auszusprechen. Das philosophische Gespräch verfolgt auch die Aufgabe der Explikation
eines zweifelsfrei gegebenen, unausgesprochenen Seins. Auf diese Weise bleiben Sachprü-
fung und Selbstprüfung verschränkt. Ihre Differenzierung und Artikulation ist nicht nur
schwierig, sondern oftmals schmerzhaft.
1.3 Charmides
a) Zum Text
Das Gespräch gliedert sich in drei Teile: (1) Einleitungsgespräch mit Kritias, (2) Gespräch
mit Charmides und (3) Gespräch mit Kritias.
(1) Sokrates berichtet, dass er am Vorabend von dem Heere von Potideia zurück-
gekehrt sei und nun „nach so langer Abwesenheit mit großem Wohlbehagen“ (153 a)
1.3 Charmides 33
sich auf den altvertrauten Plätzen wieder einfinde. Vor Potideia hatte eine erbitterte
Schlacht stattgefunden, bei der viele Männer ums Leben gekommen waren, und so wird
er in der Palaistra von Chairephon, der sich dort gerade aufhält, stürmisch begrüßt. Er
bedrängt ihn, sich zu ihm und zu Kritias zu setzen und von der Schlacht zu berichten.
Danach aber fragt Sokrates, wie es denn „jetzt hier stände mit der Weisheitsliebe (Phi-
losophie) und mit den Jünglingen“ (153 d), ob sich einige von ihnen durch Verstand
oder Schönheit oder gar beides hervorgetan hätten. Und Kritias, auf eine Gruppe von
Jugendlichen deutend, die eben hereinstürmen, meint: Das wirst du gleich sehen, denn
diese bilden die Vorhut und sind die Liebhaber von jenem, den alle für den Schönsten
halten. Du kennst ihn übrigens; es ist Charmides, mein Vetter. Den kennt Sokrates aller-
dings und fand ihn „gar nicht übel“ (154 b), als er noch ein Knabe war. Aber die Schön-
heit von Jugendlichen zu beurteilen, fühle er sich außerstande; denn die erschienen ihm
in einem bestimmten Alter alle als schön.
(2) Da tritt auch schon Charmides herein, und es ist gar nicht zu übersehen, wie alle
entzückt und verwirrt und verliebt in ihn sind und ihn wie ein ‚Götterbild‘ anbeten. Ist er
nicht schön, fragt Chairephon Sokrates, und dieser stimmt ohne zu zögern zu. Aber du
solltest erst einmal seinen Körper betrachten, wenn er seine Kleidung abgelegt hat, er-
gänzt Chairephon. Ihr seid ja offensichtlich ganz begeistert von ihm, entgegnet Sokrates.
Aber doch würde mich noch eine ‚Kleinigkeit‘ interessieren. Ob wohl seine Seele ähnlich
‚wohlgebildet‘ ist wie sein Körper? Das ist sie ohne Frage, meint Kritias. Aber sollten wir,
um uns davon zu überzeugen, nicht seine Seele eher noch als seinen Körper entkleiden,
entgegnet Sokrates.
Die geeignete Weise, dies zu tun, ist das Gespräch, und dazu ist er in seinem Alter
sicher schon bereit. Also bittet Sokrates Kritias, Charmides herbeizurufen, und dieser
beauftragt einen Diener mit dieser Aufgabe. Als Vorwand, ihn herbeizulocken, wird ver-
einbart, Sokrates wisse ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen, die ihn seit einiger Zeit
morgens befallen. Charmides kommt tatsächlich und verursacht sofort ein großes Ge-
lächter; denn jeder rutscht zur Seite und möchte, dass er sich neben ihn setze – und der
am Ende der Bank fällt sogar herunter. Charmides setzt sich zwischen Kritias und Sokra-
tes, und als bei dieser Gelegenheit dessen Blick unter sein Gewand fällt und er seinen
Körper sieht, ist er wie von Sinnen.
Nur mühsam fängt er sich wieder und behauptet, er kenne tatsächlich ein Mittel gegen
seinen Kopfschmerz. Das Mittel bestände aus einem Blatt und einem Spruch; aber nur
beide zusammen führten die Gesundheit herbei. Ohne den Spruch sei das Blatt ganz
nutzlos. Die Wirkung des Mittels beziehe sich auch nicht nur auf einen einzelnen Kör-
perteil, auch nicht auf den Körper insgesamt, sondern auf Leib und Seele. Sokrates hat
die Kenntnis von dem Mittel von einem der Ärzte unter den zalmoxischen Thrakiern,
von denen man sagt, daß sie auch unsterblich machen. Die Tatsache, dass bei den Helle-
nen die Ärzte den meisten Krankheiten noch nicht gewachsen seien, läge daran, dass sie
das Ganze verkennten und sich stattdessen bei ihren Bemühungen immer nur auf einen
Körperteil beschränkten. In Wirklichkeit aber entspränge das Wohlbefinden und über-
haupt das Böse und Gute für den ganzen Menschen aus der Seele. Auf die Seele müsse
man also seine besondere Sorgfalt verwenden, war die These des thrakischen Arztes.
34 II. Sokratische Dialoge
„Die Seele aber, mein Guter, sagte er, werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und
diese Besprechungen wären die schönen Reden. Denn durch solche Reden entstehe in der
Seele Besonnenheit, und wenn diese entstanden und da wäre, würde es leicht, Gesundheit
auch dem Kopf und dem übrigen Körper zu verschaffen.“ (157 a)
Sokrates verspricht dem thrakischen Arzt, bei der Anwendung des Mittels auf die Seele zu
achten und mit ihr zu beginnen. Und daher könne er auch für Charmides nur etwas tun,
wenn dieser bereit sei, seine Seele behandeln zu lassen. Kritias erblickt in diesem Verfah-
ren sogar einen Vorteil, denn auf diese Weise wäre mit der Beseitigung des Kopfschmerzes
auch etwas für seine Seele getan. Sofern es jedoch bei der Seele um die Besonnenheit
gehe, so verbürge er sich, dass Charmides unter den Jugendlichen seines Alters sich be-
sonders auszeichne. Das glaube ich gerne, meint Sokrates, denn schließlich entstammst
du ja väterlicherseits aus edler Familie, und wenn deine Seele sich in einer ähnlich guten
Verfassung befindet wie dein Körper, was ja jeder sehen kann, so brauchst du die Bespre-
chung nicht, und es kann dir gleich das Mittel gegen den Kopfschmerz verabreicht wer-
den. „Sage mir also selbst, ob du diesem beistimmst und behauptest, der Besonnenheit
schon genug zu haben oder noch Mangel daran.“ (158 c)
Damit ist Charmides natürlich in Verlegenheit gebracht. Aber er zieht sich ganz ge-
schickt aus der Affäre. Er sagt: Wenn ich behaupte, ich wäre nicht besonnen, dann wider-
spreche ich meinem Onkel, der das ja gerade von mir behauptet hat, wenn ich aber sage,
ich wäre besonnen, dann wird man mich für überheblich halten; und daher weiß ich
nicht, wie ich dir antworten soll. Wenn es so ist, meint Sokrates, wird es wohl das Beste
sein, dass wir die Frage gemeinsam untersuchen. Und wenn in dir die Besonnenheit ist,
dann wirst du auch sagen können, was sie ist. Denn notwendig muss ihr Vorhandensein
in einem Menschen eine Empfindung hervorbringen, auf welche sich dann irgendeine
Vorstellung von der Besonnenheit gründet. Dem stimmt Charmides zu. „Auf daß wir
nun beurteilen können, ob sie dir einwohnt oder nicht, so sage mir, sprach ich, was
behauptest du, daß die Besonnenheit ist nach deiner Vorstellung?“ (159 a)
Zunächst zögert Charmides mit der Antwort. Schließlich aber meint er, Besonnenheit
bedeute, dass man alle Dinge sittsam und bedächtig verrichte, auf der Straße und beim
Sprechen; und überhaupt bestehe sie in einer gewissen Bedächtigkeit. Aber ist die Ant-
wort richtig? Das muss geprüft werden. Zweifellos ist die Besonnenheit doch etwas Schö-
nes, meint Sokrates, und Charmides pflichtet dem bei. Aber wie ist es nun beim Lesen,
beim Leierspielen, im Faustkampf, beim Laufen und Springen und schließlich beim Ler-
nen? Ist es da schöner, diese Tätigkeiten sehr langsam und bedächtig auszuführen oder
behände und zügig? – Keine Frage: Es ist schöner, wenn man sie schnell verrichten kann.
Wenn also die Besonnenheit etwas Schönes sein soll, dann kann sie nicht in der Bedäch-
tigkeit bestehen. Das räumt Charmides ein, und so ist der erste Versuch gescheitert, die
Besonnenheit zu bestimmen.
Überlege also noch einmal „und schaue in dich selbst“ (160 d), wozu die Besonnen-
heit in dir dich macht, insistiert Sokrates. Und nach einigem Nachdenken sagt Charmi-
des: die Besonnenheit macht den Menschen verschämt, und daher ist sie zu verstehen als
Scham. Und wieder lässt sich Sokrates von Charmides bestätigen, dass die Besonnenheit
nicht nur etwas Schönes, sondern auch etwas Gutes ist. Aber wenn das stimmt, dann
hätte Homer nicht recht gehabt, als er sagte: „Nicht gut ist Scham dem darbenden Man-
1.3 Charmides 35
ne“ (161 a). Da aber Homer recht hat, wie Charmides betont, kann Besonnenheit nicht
Scham sein; denn nach ihm kann die Scham auch nicht gut sein; die Besonnenheit aber
sollte doch uneingeschränkt gut sein.
Da fällt Charmides ein, dass er von jemandem die These gehört hat, die Besonnen-
heit bestünde darin, das Seinige zu tun. Das hast du bestimmt von Kritias gehört oder
von einem anderen Weisen, entgegnet Sokrates. Doch Kritias wendet sogleich ein, von
ihm habe er es mit Sicherheit nicht. Aber was für eine Rolle spielt das, von wem ich es
gehört habe, fragt Charmides. Und Sokrates antwortet: Du hast ganz recht; denn ent-
scheidend ist, ob die Aussage richtig ist. Und das muss nun geprüft werden. Allerdings
hört sich die These wie ein Rätsel an. Auch hier erscheint es sinnvoll, einige Beispiele
zu betrachten. Nehmen wir also etwa den Sprachlehrer. Bedeutet das Seinige tun, dass
er z. B. immer nur seinen eigenen Namen schreibt, und ist er mit fremden Dingen
beschäftigt, wenn er etwas anderes aufschreibt? Und wie ist es mit anderen Tätigkeiten;
wie z. B. Bauen, Weben, Schuhe anfertigen usw.? Heißt das Seinige tun, dass jeder nur
sein eigenes Haus baut, sein eigenes Kleid webt, seine eigenen Schuhe anfertigt? Kann
denn ein weiser Mann so etwas Albernes gemeint haben? Charmides ist ratlos und
meint, mit einem Blick auf Kritias, vielleicht wusste es derjenige selbst nicht, was er
meinte.
(3) Kritias, der die ganze Zeit schon das Gespräch unruhig verfolgt hatte, kann nun
nicht mehr an sich halten und sagt: Glaubst du, dass bloß weil Charmides nicht weiß, was
die These bedeutet, es auch derjenige nicht wusste, der sie aufstellte? Charmides ist doch
noch jung, entgegnet ihm Sokrates, und so ist es nicht verwunderlich, wenn er es nicht
weiß, aber du in deinem Alter und deiner Beschäftigung mit diesen Dingen, kannst es uns
vielleicht sagen, und wenn du dir die These zu Eigen machst, bin ich gerne bereit mit dir
die Frage weiter zu erörtern. Das will Kritias nur zu gerne. Und er übernimmt sowohl die
These, dass die Handwerker nicht nur für sich selbst etwas machen, sondern auch für
andere, als auch die andere, nach der Besonnenheit bedeutet, das Seinige tun. Aber zwi-
schen diesen Thesen entsteht für ihn keine Ungereimtheit; denn schließlich seien Tun
und Machen nicht dasselbe, ebenso wenig wie Verrichten und Machen. Und Hesiod habe
ganz Recht, wenn er sage: Keine Verrichtung ist Schande. Nur das, was schön und nütz-
lich gemacht sei, sei eine Verrichtung oder ein Werk.
Ich verstehe, meint Sokrates, du bestimmst das Tun als das Machen des Guten. Diese
Unterscheidung habe ich schon von Prodikos gehört, dem Meister der Wortunterschei-
dungskunst. Ich habe auch nichts dagegen, wenn du solche Unterscheidungen anbringst,
nur solltest du jedes Mal vorher sagen, worauf sie sich beziehen. Damit ist Kritias ein-
verstanden und behauptet nun noch einmal und ganz entschieden: Besonnenheit ist Tun
des Guten.
Aber gehört zur Besonnenheit auch, dass der so Handelnde weiß, dass er etwas Gutes
tut? – Natürlich. Der Arzt nun, der einen Kranken heilt, tut doch sicher etwas Gutes; und
deshalb ist er besonnen. Gelegentlich aber heilt ein Arzt einen Kranken, ohne den Heil-
erfolg später festzustellen. Ist diese Handlung auch noch besonnen zu nennen?
Kritias bemerkt, dass er durch dieses Beispiel in einen Widerspruch geraten ist, und er
versucht das auch gar nicht zu vertuschen. So möchte er lieber von seiner bisherigen
Aussage etwas zurücknehmen als zu leugnen, dass zur Besonnenheit ein Wissen gehöre.
Daher verbessert er seine vorgeschlagene Definition und sagt nun: Besonnenheit ist
36 II. Sokratische Dialoge
nichts anderes als das Sichselbstkennen, ganz so wie der Spruch von Delphi jeden Ein-
tretenden begrüße: Kenne dich selbst! Aber dieser Spruch bedeute in Wahrheit nichts
anderes als „Sei besonnen“! Und nun ist sich Kritias ganz sicher: Besonnenheit ist das
Sichselbstkennen. Alles andere, was sie zuvor besprochen hätten, sei geschenkt; aber diese
These sei nicht mehr zu bestreiten.
Sokrates sieht sich durch diese Behauptung genötigt, darauf hinzuweisen, dass er
keineswegs selbst wisse, was Besonnenheit sei, und dass es daher nicht ausreiche, der
These von Kritias einfach zuzustimmen. Daher sei auch diese Aussage zu untersuchen.
Wenn also Besonnenheit eine Erkenntnis sei, so sei sie doch Erkenntnis von etwas. – Ja,
nämlich seiner selbst, betont Kritias. Doch diese Antwort greift Sokrates nicht auf. Ihm
kommt es darauf an, festzuhalten, dass Erkenntnis überhaupt Erkenntnis von etwas ist.
Und so lässt er sich von Kritias eine Reihe von Beispielen bestätigen. Die Heilkunst ist die
Erkenntnis des Gesunden, die Baukunst die Erkenntnis des Bauens, und jede Erkenntnis
bringt ihr eigenes Werk hervor: die Heilkunst die Gesundheit, die Baukunst die Bauten.
Welches Werk nun bringt die Besonnenheit hervor?
So einfach aber lässt sich Kritias nicht widerlegen, und so sagt er: Du untersuchst
nicht richtig, denn bei der Besonnenheit ist es nicht so wie mit den von dir genannten
Beispielen. Auch bei der Rechenkunst gibt es ja nicht ein vorzeigbares Werk. Da hast du
Recht, meint Sokrates, aber doch ist auch die Rechenkunst Erkenntnis von etwas, näm-
lich von dem Geraden und Ungeraden. Das Gerade und Ungerade ist aber nicht die
Rechenkunst. Und nun möchte ich ebenso von der Besonnenheit wissen, wovon sie Er-
kenntnis ist. Nun kommst du der Sache auf die Spur, meint Kritias, und wirst einsehen,
dass es sich mit der Besonnenheit anders verhält als mit den andern Erkenntnissen. Denn
die übrigen Erkenntnisse beziehen sich auf ein anderes, „sie allein aber ist sowohl der
andern Erkenntnisse Erkenntnis als auch selbst ihrer selbst.“ (166 c)
Wenn also Besonnenheit die Erkenntnis ihrer selbst und aller übrigen Erkenntnisse
ist, muss sie dann nicht auch Erkenntnis der Unkenntnis sein? – Allerdings. Das aber
heißt, Besonnenheit bedeutet zu wissen, was einer weiß und was nicht, ferner, dass er es
weiß und nicht weiß, und schließlich, welchen Nutzen dieses Wissen hat. Dieser An-
spruch macht Sokrates ratlos; denn unter dieser Voraussetzung nähme die Besonnenheit
eine ganz einzigartige Stellung ein. Und um die Schwierigkeit deutlich zu machen, fragt
er, ob es denn auch ein Sehen des Sehens gäbe oder ein Hören des Hörens, und nicht nur
das, sondern sogar ein Sehen des Sehens und des Nichtsehens und ein Hören des Hörens
und des Nichthörens. Gibt es überhaupt eine Empfindung, die nicht Empfindung von
etwas ist, ein Verlangen, eine Lust, eine Liebe, die nicht auf etwas aus ist? Eine Erkenntnis
aber soll es geben, die keinen von ihr unterschiedenen Gegenstand hat, sondern lediglich
Erkenntnis ihrer selbst ist?
Das ist doch zumindest höchst seltsam. Führt nicht der Gedanke der Erkenntnis der
Erkenntnis in eine ähnliche Aporie wie die Annahme, es gäbe ein Größeres des Größe-
ren? Und wenn es ein Größeres des Größeren gäbe, dann wäre das, von dem es das
Größere ist, doch kleiner, und daher wäre es zugleich auch das Kleinere des Kleineren.
Eine seltsame Paradoxie, denn auf diese Weise ist das Doppelte zugleich die Hälfte, das
Schwerere das Leichtere, das Ältere das Jüngere usw. Wie dieses möglich sein soll – so
Sokrates – ist mir nicht nachvollziehbar. Und wenn es so etwas gäbe, wüsste ich nicht, ob
das die Besonnenheit ausmachen sollte und wozu es gut sei. Die sokratische Ratlosigkeit
1.3 Charmides 37
steckt Kritias an, und obwohl er gegenüber den anderen nur ungern seine Unwissenheit
eingesteht, wird offenkundig, dass er nun selbst nicht weiter weiß.
Da hilft ihm Sokrates aus der Klemme. Nehmen wir also an, es gäbe eine Erkenntnis
der Erkenntnis, wie du sagst, so weiß ich noch nicht, ob diese Erkenntnis mich lediglich
dazu befähigt, eine Erkenntnis von einer Unkenntnis zu unterscheiden, oder ob ich damit
zugleich das jeweils Erkannte mit erfasst habe. Habe ich die Erkenntnis des Gesunden
durch die Heilkunde oder durch die Erkenntnis der Erkenntnis, die Kenntnis des Gerech-
ten durch die Staatskunde oder durch die Erkenntnis der Erkenntnis? Aber soweit möch-
te auch Kritias nicht gehen, und so verständigen sie sich darauf, dass der Besonnene
lediglich weiß, dass er weiß, nicht aber, was er weiß.
Wenn nämlich der Besonnene, der über diese Erkenntnis der Erkenntnis verfügt, ent-
scheiden soll, ob jemand, der sich als Arzt vorstellt, auch wirklich ein Heilkundiger ist,
dann kann er das nur, wenn er in der Lage ist, dessen Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt
hin zu überprüfen und dessen Handlungen nach ihrer Richtigkeit zu beurteilen. Das aber
kann er nicht, ohne selbst über die Erkenntnisse der Heilkunde zu verfügen. Das Urteil
darüber, dass etwas eine Erkenntnis ist, lässt sich von dem, was diese Erkenntnis beinhal-
tet, nicht trennen. Besonnenheit, in dem genannten Sinne, scheint gar nicht möglich zu
sein. Wenn es sie gäbe, so wäre sie allerdings vielleicht das Höchste, was ein Mensch
erreichen kann. Denn in allen Dingen wären wir in der Lage, richtig zu urteilen und
„fehlerfrei würden wir selbst unser Leben durchführen“ (171 d), das Haus richtig ver-
walten, die Stadt gut regieren, „ein schönes und gutes Leben führen“ (172 a).
– Und doch – meint Sokrates – haben wir nicht vielleicht etwas ganz Unnützes ge-
sucht? Denn selbst wenn die Besonnenheit uns zu all dem Genannten befähigen würde,
wäre sie vielleicht trotzdem kein Gut. Was willst du damit sagen, fragt Kritias, und So-
krates gesteht: „Ich glaube wohl (…), daß ich fasele; aber doch muß man, was einem
vorschwebt, in Betrachtung ziehen und nicht leichtsinnig vorübergehen, wenn einem
auch nur im mindesten an sich selbst etwas gelegen ist.“ (173 a) Sokrates führt seinen
Gedanken so vor: Selbst wenn wir ein Leben im Besitz vollständiger Erkenntnis und des
sicheren Urteils führten, ja vielleicht sogar die Zukunft sicher voraussagen, uns aus jeder
Gefahr retten könnten, uns durch keinen Scharlatan betrügen ließen, bliebe die Frage, ob
wir „auch gut leben und glücklich sein würden“ (173 d).
Aber was für ein anderes Ziel des Gutlebens kann es denn geben, wenn es nicht das
erkenntnismäßige ist, wendet Kritias ein. Welche Erkenntnis meinst du, fragt Sokrates,
die wie man Schuhe herstellt oder Metall verarbeitet? – Natürlich nicht. – Welche denn,
und was erkennt der, der über sie verfügt? – Das Gute und das Böse, kontert Kritias.
Wenn es aber nur auf diese Erkenntnis ankommt, ist dann die Heilkunde z. B. als Er-
kenntnis des Gesunden überflüssig oder auch nur weniger nützlich? Und wenn alle ein-
zelnen Erkenntnisse nicht berücksichtigt werden, welchen Nutzen soll dann noch die
Erkenntnis des Guten und Bösen haben?
Das Ergebnis ist: Trotz aller Bemühungen und aller Zugeständnisse ist es nicht gelun-
gen zu bestimmen, was Besonnenheit ist. Das aber liegt – so sagt Sokrates – gewiss daran,
dass ich solch ein schlechter Forscher bin, und es tut mir deinetwegen leid Charmides,
dass wir uns solange mit einer Sache beschäftigt haben, von der wir nicht einmal wissen,
ob sie irgendeinen Nutzen hat.
Zwar glaube ich nach wie vor, dass die Besonnenheit ein großes Gut ist, und vielleicht
38 II. Sokratische Dialoge
besitzt du sie ja sogar und brauchst deshalb das Mittel nicht, von dem ich zu Anfang
sprach. Glaube also eher, dass ich ein Schwätzer bin und halte dich für umso glückseliger,
je besonnener du bist. Charmides jedoch erwidert, er sei ziemlich sicher, dass er der
Besprechung bedürfe, und Kritias stimmt dem zu und befiehlt ihm sogar, sich weiter an
Sokrates zu halten und sich von ihm „besprechen“ zu lassen. Das verspricht Charmides,
und Sokrates, dem angesichts dieses Drängens gar keine Wahl gelassen wird, willigt ein.
b) Zur Interpretation
(1) Die Teilnehmer des Gesprächs sind, außer Sokrates, Chairephon, Charmides und
Kritias. Kritias ist ein Onkel Platons und einer der 30 Tyrannen, dessen Neigung zur
Gewalt in den Schlussworten des Dialogs ironisch zur Sprache gebracht wird. Charmides,
ebenfalls einer der Dreißig, ist Bruder der Mutter Platons und zusammen mit Kritias im
Kampf gegen die Demokraten in Munichia in Piräus gefallen. Fraglich ist, warum Platon
gerade sie ein Gespräch über Besonnenheit führen lässt. Es ist nicht auszuschließen, dass
dabei Ironie im Spiel war. Vielleicht spielt aber auch der Gedanke eine Rolle, dass Sokra-
tes den Versuch unternahm, sie zur Besonnenheit zu bringen. Chairephon, Anhänger der
Demokraten, wird in der Apologie als einer der engsten Freunde von Sokrates vorgestellt.
Als Ort wird die Palaistra angegeben, eine Stätte des Sports und der Begegnung. Der
fiktive Zeitpunkt wird durch den Hinweis der Schlacht von Potideia angedeutet, an der
Sokrates als Hoplit teilnahm.
(2) Der griechische Begriff für Besonnenheit lautet (swyrosÐnh). Das dazu gehö-
rende Adjektiv lautet ‚sðyrwn‘. Seine Bestandteile sind ‚s@‘ und ‚yrffin‘. Das Wort
‚s@‘ bedeutet ‚heil, gesund, unversehrt‘, das Wort ‚yrffin‘ bedeutet ‚Zwerchfell‘ als ‚In-
begriff der Seelenkräfte‘, aber auch ‚Sinn, Seele, Geist, Verstand, Urteilskraft, Einsicht,
Gemüt, Herz, Wille‘, um nur die wichtigsten zu nennen. Das Kompositum ‚swyrosÐnh‘
bedeutet, ‚gesunder Verstand, Klugheit, richtige Erkenntnis, Seelenruhe, Besonnenheit,
Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit, Sittlichkeit, Bescheidenheit‘. Bei der Fülle der Be-
deutungen fällt auf, dass sich Charmides mit seinen Versuchen der Begriffsbestimmung
durchaus innerhalb der umrissenen Bedeutungsbreite des Wortes befand.
Die Widerlegung der von Charmides vorgeschlagenen Definition von Besonnenheit
als Bedächtigkeit erfolgt ebenso wie die, sie sei Scham, über einen Umweg. Sie erfolgt
über die Prämisse, dass Besonnenheit uneingeschränkt, d. h. in jedem Fall etwas Gutes
sei, während es für die beiden genannten Begriffe Fälle gibt, in denen sie nicht gut sind.
Das Problem dieser Widerlegung besteht darin, dass die Prämisse, Besonnenheit sei un-
eingeschränkt gut, gemacht wird, bevor die Frage beantwortet wird, was sie sei. Aber
weder Charmides noch Kritias sind in der Lage, auf diese Argumentationslücke hin-
zuweisen.
Das Beispiel zeigt, was ein Dialog leistet und was nicht. Er ist keine sichere Methode
der Wahrheitsfindung. Der Grad der Annäherung an die Wahrheit hängt vielmehr von
der Qualität der in ihm zur Geltung gebrachten Argumente ab. Dieser Einschränkung
war sich Platon bewusst, und so sind Schwächen der Argumentation im Dialog von ihm,
auch dort, wo sie ihm deutlich waren, nicht beseitigt worden.
(3) Deutlich wird, dass der von Platon den Gesprächsteilnehmern zugewiesene Ge-
dankengang nicht sein eigener ist. Das Scheitern der Definitionen der Besonnenheit ist
nicht eine Darstellung seines eigenen Scheiterns. Wohl aber werden im Dialog philo-
1.4 Politeia I 39
sophische Probleme angesprochen, die im Denken Platons eine wichtige Rolle spielen,
wie die späteren Dialoge zeigen. Auf einige möge hingewiesen sein: es ist zum einen die
Frage eines impliziten Wissens, die schon im Laches angeschnitten wurde. Es ist zum
anderen die Frage der Selbsterkenntnis im Anschluss an den Spruch von Delphi, die im
Charmides nur gestreift wird. Der dritte Problembereich ist bestimmt durch die Frage
nach der Erkenntnis der Erkenntnis. Während die Frage im Dialog Charmides in einem
inhaltlosen Formalismus endet, taucht sie in späteren Überlegungen Platons in der zu-
gespitzten Formulierung auf: Was ist Erkenntnis? So im Theaitetos. Schließlich wird die
Frage eines ethisch neutralisierten Wissenserwerbs von Platon weiter verfolgt und durch
die These vom ethischen Primat allen Wissens in der Politeia beantwortet. Von alldem ist
im Charmides noch nicht die Rede. Und daher endet auch dieser Dialog aporetisch.
Ergebnis ist allein die von Kritias und Charmides gewonnene Einsicht in die Notwendig-
keit des philosophischen Gesprächs als einer entscheidenden Bedingung für die Erkennt-
nis und den Erwerb der Besonnenheit.
1.4 Politeia I
a) Zum Text
Das Gespräch umfasst vier Teile: (1) ein kurzes Vorgespräch zwischen Sokrates und Po-
lemarchos, (2) ein einleitendes Gespräch zwischen Sokrates und Kephalos, (3) die Unter-
redung zwischen Sokrates und Polemarchos und (4) das Streitgespräch zwischen Sokra-
tes und Thrasymachos.
(1) Sokrates erzählt einem Unbekannten, dass er am Tag zuvor mit Glaukon an dem
Fest der Göttin Bendis in Peiraieus teilgenommen habe, und zwar sowohl, um „die Göt-
tin anzubeten“, als auch um zu sehen, wie das Fest gefeiert werden solle. Auf dem Rück-
weg nach Athen nun wird er von Polemarchos angesprochen, der ihn bittet, doch noch zu
bleiben; denn es gebe noch einen Fackelzug zu Pferde, eine Nachtfeier würde veranstaltet
und es seien auch viele junge Leute dort, mit denen man Gespräche führen könne.
Nachdem nun auch Glaukon sich für ein Bleiben ausspricht, gehen sie gemeinsam zu
Polemarchos, wo bereits dessen Brüder Lysias, Euthydemos, aber auch Thrasymachos,
Charmantides und Kleitophon zugegen sind. Außerdem ist Kephalos da, der Vater von
Polemarchos, „der mir sehr alt vorkam“ (327 c), wie Sokrates berichtet.
(2) Kephalos begrüßt Sokrates sehr freundlich und bittet ihn, ihn öfter zu besuchen,
da er selbst wegen seines Alters nicht mehr so leicht nach Athen komme. Je älter er aber
werde und je mehr die ‚Vergnügungen‘ des Leibes für ihn an Bedeutung verlören, umso
mehr wachse seine „Freude und Lust an Reden“. Sokrates antwortet, auch er führe gerne
Gespräche mit Alten, denn diese seien ja bereits ein gutes Stück des Weges gegangen, den
die Jüngeren noch vor sich hätten.
Kephalos berichtet nun, dass er sonst oft mit anderen Alten zusammensitze und dass
die meisten von ihnen nur ‚jammern‘ und „der Vergnügungen der Jugend sehnsüchtig
gedenken, der Liebeslust und des Trunks und der Gastmähler und was damit noch sonst
zusammenhängt“ (329 a). Er aber sei in Bezug auf diese Dinge derselben Ansicht wie
Sophokles, der daraufhin angesprochen, gesagt habe: „Stille doch, lieber Mensch! Wie
gern bin ich davon losgekommen, als käme ich von einem tollen und wilden Herrn los.“
40 II. Sokratische Dialoge
(329 c) Das Nachlassen dieser Begierden, bestätigt Kephalos, gebe dem Alter eine große
Ruhe und Freiheit. Die Mühseligkeiten des Alters gelassen zu ertragen, sei eine Sache der
richtigen Sinnesart des Menschen.
Sokrates gefallen diese Worte, und er provoziert Kephalos zu einer weiteren Äußerung
durch die Bemerkung, dass die meisten der Meinung seien, die Erleichterungen des Al-
ters seien nicht so sehr auf die Sinnesart zurückzuführen, sondern es sei der Reichtum,
der das Alter leichter erträglich mache. Kephalos antwortet, natürlich sei auch für einen
Wohlgesinnten das Alter in Armut schwer zu ertragen, aber wenn die richtige Gesinnung
fehle, nutze auch der Reichtum nichts.
Kephalos gehört nun zweifellos zu den Reichen, aber auf die Frage von Sokrates,
worin er den größten Vorteil seines Reichtums sehe, sagt er: Viele werden es nicht glau-
ben, aber das Entscheidende des Reichtums liegt für mich in der Möglichkeit, nieman-
dem etwas schuldig zu bleiben. Und dieses Wissen beruhige ihn angesichts der Ungewiss-
heit dessen, was ihn nach seinem Tode erwarten möge. Der Reichtum nütze jedoch nur
dem Wohlgesinnten, der niemanden übervorteilt und Göttern und Menschen das gibt,
was er ihnen schuldig ist.
Sokrates versteht diese Formulierung als eine Aussage über die Gerechtigkeit und
fragt, ob das bedeute, Gerechtigkeit sei „Wahrhaftigkeit und Wiedergeben, was einer
von einem empfangen hat?“ (331 c) – Aber wie ist es, wenn jemand von einem Freunde
Waffen zur Aufbewahrung bekam und dieser, in der Zwischenzeit wahnsinnig geworden,
diese zurückverlangt? – Muss er sie dann auch zurückgeben? – Wohl kaum, meint Ke-
phalos, während Polemarchos sich dafür ausspricht, der sich damit in das Gespräch ein-
schaltet. Kephalos zieht sich nun zurück und überlässt Polemarchos und Sokrates das
weitere Gespräch.
(3) Polemarchos beruft sich bei seiner Definition der Gerechtigkeit auf Simonides,
den bekannten und viel zitierten Dichter aus Keos. Der aber habe behauptet, dass „einem
jeden das Schuldige zu leisten gerecht ist“ (331 e). Aber meint Simonides damit, dass
man – wie im vorigen Beispiel erörtert – jemandem etwas zurückgeben muss, wenn er
es auf unvernünftige Weise wiederfordert? Das meint Simonides sicher nicht, bestätigt
Polemarchos. Vielmehr soll damit gesagt sein, dass man dem Freunde Gutes tun muss,
dem Feinde aber Übles. Damit scheint klar zu sein, was Simonides unter Gerechtigkeit
versteht, nämlich jedem das ihm Gebührende zukommen zu lassen. Aber um so handeln
zu können, müsste man wissen, was jeweils das Gute und das Üble ist.
Im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit ist es klar, wer hier über die notwendige
Sachkenntnis verfügt: der Arzt. Bei der Schifffahrt ist es der Steuermann. Über welches
Fachwissen nun verfügt der Gerechte? – Der versteht sich auf Kriegsführung, meint Po-
lemarchos. Das aber würde bedeuten, dass die Gerechtigkeit nur im Kriege gebraucht
würde und im Frieden ganz unnütz wäre. Wozu also ist die Gerechtigkeit in Friedens-
zeiten nützlich? Zu Verhandlungen, sagt Polemarchos. Aber Verhandlungen werden in
sehr verschiedenen Bereichen geführt, und wenn es z. B. um die Errichtung eines Bau-
werkes geht, wird man doch wohl mit einem Bausachverständigen verhandeln.
Also noch einmal: In welchem Bereich ist der Gerechte der Sachverständige? – In
Geldsachen, meint Polemarchos. Aber wenn man sein Geld für den Kauf eines Pferdes
investiert, wird man sich doch an den Pferdekenner halten und so in jedem anderen Fall
an den jeweiligen Sachverständigen. Diesem Argument kann sich Polemarchos nicht ver-
1.4 Politeia I 41
schließen, und so sagt er: Aber wenn man das Geld nicht ausgeben will, sondern sicher
verwahren, dann ist der Gerechte gefragt. Sokrates zieht daraus die Konsequenz, dass die
Gerechtigkeit dann nützlich ist, wenn das Geld unnütz ist, d. h. nicht gebraucht wird.
Sehr wichtig scheint die Gerechtigkeit unter dieser Voraussetzung nicht zu sein.
Und Sokrates steigert die Absonderlichkeit dieser Bestimmung der Gerechtigkeit
noch. Wer sich auf eine Sache versteht, der verstehe sich auf ihr Gegenteil. Wer also etwas
von Gesundheit versteht, kennt sich auch mit Krankheiten aus. Wenn man diesen Ge-
danken auf den Gerechten anwendete, so müsste man sagen, dass der Gerechte nicht nur
die Kunst des Geldhütens und Bewahrens beherrscht, sondern ebenso die des Unter-
schlagens. „Als ein Listiger also, wie sich zeigt, ist uns der Gerechte zum Vorschein ge-
kommen“ (334 a), bemerkt Sokrates. Und vielleicht hat Simonides, der Dichter, diese
Weisheit bei Homer gelernt, der ja auch Autolykos, den Großvater von Odysseus, als
einen Meister der Verstellung und des Meineids herausgestellt hat.
Polemarchos ist nun völlig verwirrt: „Nein, beim Zeus, sprach er. Aber ich weiß selbst
nicht mehr, was ich sagte. Nur das dünkt mich noch immer, daß die Gerechtigkeit den
Freunden nutzt, den Feinden aber schadet.“ (334 b)
Als Freunde lässt du aber doch nur die gelten, die gutartig sind, als Feinde dagegen
die, die bösartig sind. Dem stimmt Polemarchos zu. Nun kommt es jedoch vor, dass wir
uns bei der Beurteilung von Menschen täuschen und jemanden für bösartig halten, der es
gar nicht ist. Wenn also Gerechtigkeit heißt, seinem Freunde zu nützen, könnte Gerech-
tigkeit ebenfalls bedeuten, „denen, die kein Unrecht tun, Übles zu tun“ (334 d). Diese
Konsequenz lässt sich nur vermeiden, wenn erwiesen ist, dass der, der ein Freund zu sein,
d. h. gutartig zu sein scheint, es auch wirklich ist. Polemarchos ist erleichtert, dass er so an
seiner ursprünglichen Definition festhalten kann.
Noch aber ist nicht geklärt, ob es „des Gerechten Sache“ sei, „auch nur irgendeinem
Menschen zu schaden“ (335 b). Auch hier greift Sokrates wieder zu einer Analogie. Zwei-
fellos ist es doch so, dass, wenn man einem Pferd in seiner spezifischen Leistungsfähigkeit
einen Schaden zufügt, es eben darin schlechter wird; und das gilt bei anderen Tieren
ebenso. Wenn aber die Gerechtigkeit etwas ist, das man als die spezifische menschliche
Tüchtigkeit ansehen darf, dann wird doch auch ein Mensch, dem Schaden zugefügt wird,
in dieser Hinsicht schlechter. Menschen, denen man Schaden zufügt, werden ungerech-
ter. Dazu kommt, dass überhaupt keine Kunst darauf abzielt, das, was sie behandelt,
schlechter zu machen. Wenn also die Gerechtigkeit als die spezifische Tüchtigkeit und
Kunstfertigkeit des Menschen anzusehen ist, dann ist es einem Menschen, der über diese
Kunst verfügt, nicht möglich, einen anderen schlechter machen zu wollen.
Sokrates fasst das Ergebnis ihres Gesprächs so zusammen: Mag auch Simonides oder
sonst jemand, der für weise oder mächtig oder reich gehalten wird, etwas anderes be-
haupten, sie sagen nicht Wahres. „Denn es hat sich uns gezeigt, daß es auf keine Weise
gerecht sein könne, irgend jemand Schaden zuzufügen.“ (335 e) Damit ist deutlich ge-
worden, was Gerechtigkeit auf keinen Fall ist. Aber was ist sie dann?
(4) Nun kann Thrasymachos nicht mehr länger an sich halten, „sondern raffte sich
auf und kam auf uns los, recht wie ein wildes Tier, um uns zu zerreißen, so daß ich und
Polemarchos ganz außer uns waren vor Schreck.“ (336 b) Das sei doch alles leeres Ge-
schwätz, das sie bislang vorgetragen hätten. Außerdem solle Sokrates endlich aufhören,
immer nur zu fragen, sondern wenn er wisse, was das Gerechte sei, solle er es direkt
42 II. Sokratische Dialoge
sagen. Aber er wisse eben, dass fragen leichter sei als antworten. Er solle nun endlich
selbst sagen, was er meine.
Sokrates antwortet: Sei uns nicht böse Thrasymachos, aber wir sind unfreiwillig in die
Irre gegangen bei unserer Untersuchung, und daher ist es eher angebracht, uns zu bemit-
leiden als uns zu zürnen. Doch Thrasymachos kann auch darin nur die ihm von Sokrates
schon bekannte Verstellung erblicken. So kontert er: Aber was ist, wenn ich nun eine
„Antwort aufstelle über die Gerechtigkeit“? – Nun, dann werde ich etwas gelernt haben,
entgegnet Sokrates. – „Du bist klug, sagte er. Aber außer dem Lernen zahle auch Geld.“
(337 d). – Geld besorgen wir, meint Glaukon, und Thrasymachos solle endlich reden.
Und nach einer weiteren Schmähung an Sokrates sagt er: „Ich nämlich behaupte, das
Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche.“ (338 c). – Dann ist viel-
leicht das Gerechte Rindfleisch, denn dieses ist dem Polydemus, dem bekannten Ring-
kämpfer, der ja stärker ist als sie alle, besonders zuträglich. Aber das hat Thrasymachos
natürlich nicht gemeint. Er verstehe das Gerechte als etwas Politisches, und in der Politik
sind doch die Regierenden die Stärkeren. Das Gerechte ist also das, was diesem Stärkeren
zuträglich ist. Dass das Gerechte etwas Zuträgliches ist, akzeptiert Sokrates: aber was soll
der Zusatz ‚dem Stärkeren‘ ?
Um das zu klären, fragt Sokrates, ob es auch gerecht sei, den Regierenden zu gehor-
chen? – Sicherlich. – Kommt es nun auch vor, dass die Regierenden in ihrem Urteil fehl-
gehen und etwas Falsches anordnen? – Das gibt es. – Wenn es aber gerecht ist, den
Regierenden zu gehorchen, dann kann es vorkommen, dass falsche und den Regierenden
keineswegs zuträgliche Anordnungen ausgeführt werden. – Das aber würde bedeuten,
dass das Gerechte nicht das den Regierenden Zuträgliche ist.
Das ist ein offenkundiger Widerspruch, bemerkt Polemarchos, doch Kleitophon
kommt Thrasymachos zu Hilfe und sagt, dass dieser selbstverständlich mit dem Zuträg-
lichen das meine, was die Stärkeren dafür hielten. Aber diese Hilfe will Thrasymachos
nicht akzeptieren. Stattdessen verschärft er seine These und behauptet nun: Derjenige,
der sich irrt, ist nicht der Stärkere, und die Regierenden sind im strengen Sinne nur dann
als Regierende zu bezeichnen, insofern sie sich nicht irren; denn auch ein Arzt verdiene
diesen Titel nur, sofern er sich bei der Behandlung von Krankheiten nicht irre. Unter
dieser Voraussetzung nun gebe es keinen Widerspruch, und das Gerechte sei das, was
dem Stärkeren, in dem genauen Sinne des Wortes genommen, zuträglich ist.
Worauf aber zielt eigentlich die Kunst des Arztes ab, und zwar „im genauen Sinne des
Wortes“, auf die Versorgung von Kranken oder auf Gelderwerb? Selbstverständlich auf
die Versorgung der Kranken, räumt Thrasymachos ein. Die Heilkunst, im strengen Wort-
sinn, hat als ausschließliches Ziel das dem Kranken Zuträgliche im Blick. Und das gilt
entsprechend für jede Kunst. Wenn also das Regieren eine Kunst ist, dann kann sie nichts
anderes zum Ziel haben als das den Regierten Zuträgliche. Damit aber zeichnet sich ein
neuer Widerspruch ab, denn nun scheint das Gerechte nicht das den Regierenden, son-
dern das den Regierten Zuträgliche zu sein. Aber diese Konsequenz ist für Thrasymachos
natürlich nicht akzeptabel. Er dachte bei dem Verhältnis zwischen Regierenden und Re-
gierten eher an das von Hirten zu ihren Schafen und Rindern, die diese ja auch nur
mästen, um sie anschließend zu schlachten. Und so handelten auch die Regierenden zu
ihrem Nutzen, aber zum Schaden der Regierten.
Und nun entfaltet Thrasymachos in einer großen Rede seine politische Ansicht,
1.4 Politeia I 43
indem er seine Ausgangsthese aufgibt und stattdessen ein Plädoyer der Ungerechtigkeit
hält: Gerechtigkeit ist die Tugend des Gehorsams, und zwar der Schwächeren, der Regier-
ten. Für die Stärkeren dagegen ist Gerechtigkeit etwas sehr Unvorteilhaftes; denn überall
kommt der besser weg, der ungerecht ist. Damit man aber nicht gezwungen ist, sich der
Gerechtigkeit, dem Los der Schwachen, beugen zu müssen, komme es darauf an, zu den
Starken zu gehören. Am deutlichsten aber zeige sich das in der Tyrannis, der Regierungs-
form der „vollendetsten Ungerechtigkeit“. Während nämlich der einzelne Bürger für
Raub, List und Gewalt mit härtester Bestrafung rechnen muss, betreibt der Tyrann diese
Dinge im großen Stil und wird, statt bestraft, von seinen Mitbürgern gepriesen und für
glückselig gehalten. „Auf diese Art, o Sokrates, ist die Ungerechtigkeit kräftiger und edler
und vornehmer als die Gerechtigkeit, wenn man sie im Großen treibt“ (344 c).
Nach dieser Preisrede auf die Ungerechtigkeit, die er wie eine kalte Dusche über sei-
nen Zuhörern ausschüttete, will Thrasymachos gehen. Sokrates aber hält ihn zurück und
sagt, er glaube nicht, dass die Ungerechtigkeit mehr Gewinn bringe als die Gerechtigkeit,
und Thrasymachos möge dies noch näher erläutern.
Zunächst also ist die Frage, ob der Hirte als Hirte, und nicht als Händler oder als
Gastgeber, nicht doch dadurch definiert ist, dass er für das Wohl seiner Herde sorgt.
Und weil das so ist, der Hirte also für das Wohl seiner Herde sorgt und nicht für das
eigene, fordert er eine Entschädigung, einen Lohn für seine Mühe. Und das gilt in allen
anderen Fällen auch so. Der Gelderwerb ist also eine die jeweilige Kunst begleitende, aber
nicht sie bestimmende Tätigkeit. Das gelte entsprechend auch für die Kunst des Regie-
rens. Und da das Regieren selbst nicht mit einem Nutzen für den Regierenden verbunden
sei, müssen die Regierenden entweder mit Aussicht auf Lohn oder durch Androhung von
Strafen zu dieser Tätigkeit veranlasst werden.
Aber was meinst du denn mit Strafen, wirft Glaukon ein? Sokrates entgegnet:
„Die größte Strafe aber ist, von Schlechteren regiert zu werden, wenn einer nicht selbst
regieren will; und aus Furcht vor dieser scheinen mir die Rechtschaffenen zu regieren,
wenn sie regieren.“ (347 c)
Glaukon und Sokrates glauben Thrasymachos nicht, dass das Leben des Ungerechten
besser sei als das des Gerechten. So wird eine neue Gesprächsrunde nötig.
Sokrates fragt daher, ob die Gerechtigkeit Tugend sei und die Ungerechtigkeit Laster?
„Läßt sich das wohl denken, sagte er, du Süßester, nachdem ich ja erklärt habe, daß die
Ungerechtigkeit wohl förderlich sei, die Gerechtigkeit aber nicht?“ (348 c) – Dann ist also
die Gerechtigkeit ein Laster? – Das auch nicht, aber sie ist eine „höchstgutartige Einfalt“,
und die Ungerechtigkeit ist Klugheit. Die Ungerechtigkeit ist gut. Sie ist eine Sache der
Weisheit und der Tugend. Die Bedeutung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben
sich nun völlig verkehrt. Daher ist es keine leichte Aufgabe herauszubekommen, ob Thra-
symachos wirklich das denkt, was er sagt. – Dieser aber kontert, das sei auch gar nicht
nötig, Sokrates solle sich nur an seine Worte halten.
Wie verhält es sich mit dem Gerechten? Möchte der mehr haben wollen als ein anderer
Gerechter? – Nein, darin besteht ja gerade seine Einfalt. Aber gegenüber dem Ungerech-
ten möchte er etwas voraushaben? Ja, aber das schafft er eben nicht.
Und wie ist es mit dem Ungerechten? Der will in jedem Fall gegenüber dem Gerechten
44 II. Sokratische Dialoge
und dem anderen Ungerechten etwas voraushaben; denn er denkt ja überall an seinen
Vorteil. Wenn aber der Ungerechte der Verständige ist, dann muss man ihn mit anderen
Verständigen vergleichen können. Wird nun ein Tonkünstler in seinem Urteil über das
eines anderen Tonkünstlers hinausgehen wollen? – Nein. Ebenso wenig der Arzt oder
sonst ein Wissenschaftler. Überall gibt es einen für alle Sachverständigen verbindlichen
gleichen Maßstab. Nur der Schlechte und Törichte erkennt den gemeinsam verbindlichen
Maßstab nicht an. Wenn also der Gerechte jemand ist, der gegenüber anderen Gerechten
nichts voraushaben will; dann gleicht der Gerechte doch dem Sachverständigen in ande-
ren Bereichen. Dann aber ist es falsch, den Ungerechten als den Sachverständigen zu
bezeichnen.
Diese Beweisführung bringt Thrasymachos in schweißtreibende Verlegenheit, und er
‚errötet‘ sogar. Fest steht nun die Einsicht, dass „die Gerechtigkeit Tugend und Weisheit
sei, die Ungerechtigkeit aber Schlechtigkeit und Torheit“ (350 d). Thrasymachos hat nun
eingesehen, dass er der sokratischen Gesprächsführung nicht gewachsen ist, und daher
sagt er: Entweder lässt du mich nun meinen Gedanken in freier Rede vortragen oder aber,
wenn du auf der Fortsetzung des Gesprächs bestehst – musst du dich damit zufrieden
geben, dass ich wie die Kinder, denen die Mütterchen Märchen erzählen, nur ‚gut‘ ant-
worte oder den Kopf nicke. Ich werde dir also den Gefallen tun, da du mich ja doch nicht
reden lässt. – Einverstanden, sagt Sokrates, aber tue es nur dann, wenn du es auch willst.
Und nun beginnt Sokrates mit seinem letzten Argumentationsgang: Wenn die Ge-
rechtigkeit – wie sich ja gezeigt hat – weiser ist als die Ungerechtigkeit, dann ist sie auch
stärker, wie sich beweisen lässt. Angenommen nun, eine ungerechte Stadt unterwerfe eine
andere mit Gewalt, so ist zu fragen, wie verwaltet sie sie? – Deiner Meinung nach offenbar
im Sinne der Gerechtigkeit, antwortet Thrasymachos, meiner Meinung nach mit Unge-
rechtigkeit. – Nun ist Sokrates an dem entscheidenden Punkt angelangt und fragt:
„Glaubst du, daß, wenn eine Stadt oder ein Heer oder auch Räuber und Diebe oder irgend
anderes Volk gemeinschaftlich etwas ungerechterweise angreift, solche irgend etwas wer-
den ausrichten können, wenn sie sich auch untereinander unrecht tun?“ (351 c)
Offenbar nicht, gesteht Thrasymachos. Und die Begründung, die Sokrates gibt, ist ein-
sichtig. „Denn die Ungerechtigkeit, o Thrasymachos, verursacht ihnen Zwietracht und
Haß und Streit untereinander; die Gerechtigkeit aber Eintracht und Freundschaft.“
(351 d)
Zwietracht und Hass allerdings haben eine zerstörerische Wirkung, und daher wird
überall dort, wo diese herrschen, die Kraft weichen. Das gilt für eine Stadt, ein Ge-
schlecht, ein Heer. Das Ungerechte ist nicht nur mit dem Gerechten verfeindet, sondern
auch in sich selber zerstritten. Aber auch im ungerechten Menschen selbst entwickelt die
Ungerechtigkeit ihre zerstörerische und schwächende Wirkung: „Zuerst wird sie ihn un-
fähig machen, etwas auszurichten, weil er im Zwiespalt ist und nicht einig mit sich selbst,
dann auch feind sich selbst und den Gerechten.“ (352 a) – Dem kann Thrasymachos
nicht widersprechen.
Aufgrund dieser Überlegungen ist es auch falsch, der Ungerechtigkeit Stärke zu-
zuschreiben, sondern diese kommt nur der Gerechtigkeit zu. Es bleibt die Frage, ob die
Gerechten auch besser leben als die Ungerechten und glückseliger sind.
1.4 Politeia I 45
Zu diesem Zwecke ist es notwendig, deutlich zu machen, dass jedem Ding seine ihm
eigene Tüchtigkeit zukommt. Jedes erfüllt eine bestimmte Aufgabe: das Pferd eine andere
als eine Sense, das Auge eine andere als das Ohr usw. Dasselbe gilt auch für die Seele. Die
ihr zukommende spezifische Tüchtigkeit ist – wie gemeinsam festgestellt – die Gerechtig-
keit. Nur also, wenn die Seele die ihr zukommende Aufgabe ungestört erfüllen kann, wird
es dem Menschen, dem sie gehört, gut gehen. „Der Gerechte also ist glückselig und der
Ungerechte elend.“ (354 a) Auch dagegen kann Thrasymachos nichts einwenden. Gleich-
wohl ist Sokrates mit dem Gesprächsergebnis nicht zufrieden; denn er habe sich zu sehr
von dem eigentlichen Thema des Gesprächs abbringen lassen. Das aber bleibe als unbe-
antwortete Frage stehen, nämlich: Was ist das Gerechte?
b) Zur Interpretation
(1) Das erste Buch der Politeia ist, wie inzwischen einhellige Meinung der Platon-
forscher, ein Dialog der ersten Periode, der erst später als eine Art Einleitung dem Werk
vorangestellt wurde. Aus diesem Grund erscheint es gerechtfertigt, es zu den Sokrati-
schen Dialogen zu rechnen.
(2) Die Teilnehmer des Gesprächs sind, außer Sokrates, Glaukon und Adeimantos,
beide Brüder Platons, Kephalos, ein reicher Mann aus Syrakus, der auf Einladung von
Perikles nach Athen gekommen war, sein Sohn Polemarchos, der im Jahre 404 von den
‚Dreißig Tyrannen‘ hingerichtet wurde, und schließlich Thrasymachos aus Chalkedon,
der im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts in Athen als Sophist tätig war und ein Lehrbuch
der Rhetorik verfasste.
Das Gespräch findet im Hause von Kephalos in Piräus statt. Dort hatte zum ersten
Mal ein Fest zu Ehren der Göttin Bendis stattgefunden, das seitdem jedes Jahr im Juni
gefeiert wurde; aber leider ist nicht bekannt, wann das geschah; und so lässt sich als
fiktives Datum des Gesprächs lediglich das Jahr 404 v. Chr. als ‚terminus ante quem‘
angeben, das Jahr, an dem Polemarchos hingerichtet wurde.
(3) Die im Dialog vorgetragenen Definitionen der Gerechtigkeit sind interpretati-
onsbedürftig. In der von Kephalos angedeuteten Formulierung klingt der erstmals von
Anaximander konzipierte Gedanke an, die Welt selbst als eine Rechtsordnung zu verste-
hen, in der jedes ‚nach der Anordnung der Zeit‘ einen Ausgleich zu leisten ‚schuldig‘ ist:
„Kaltes erwärmt sich, Warmes erkaltet; Feuchtes trocknet, Trocknes wird feucht“, eine
Formulierung, die den Übergang von mythischem in sachliches Denken markiert. Und
ebenso hat auch der Mensch das, was ihm zuteil geworden ist, zurückzuerstatten. Ge-
rechtigkeit ist Wiederherstellung einer aus dem Gleichgewicht geratenen Ordnung. Das
mag die älteste Vorstellung von Gerechtigkeit sein, die an die Stelle unberechenbarer
göttlicher Willkür tritt. Mit dem Rückzug von Kephalos aus dem Gespräch gerät diese
naturphilosophisch inspirierte Definition der Gerechtigkeit aus dem Blickfeld der Ge-
sprächsteilnehmer.
Die Definition, die Polemarchos gibt, ist demgegenüber Ausdruck der traditionellen
Polissittlichkeit: Gerecht ist es, dem Freunde zu helfen und dem Feinde zu schaden. Das
sokratische Argument, dass es nicht nur dem Gedanken der Gerechtigkeit widerspricht,
überhaupt jemandem zu schaden, sondern dass es auch nicht im eigenen Interesse liegen
kann, dies zu tun, da der Geschädigte schlechter wird, beruht auf Überlegungen, die sehr
langfristige Folgen berücksichtigen und daher wenig Chancen auf Anerkennung haben.
46 II. Sokratische Dialoge
Bemerkenswert ist es gleichwohl, dass Sokrates zur Stützung seiner These das langfristige
eigene Interesse des Handelnden zur Geltung bringt.
Die von Thrasymachos zunächst vorgetragene Definition der Gerechtigkeit als Recht
des Stärkeren ist Ausdruck der in der Sophistik entwickelten ‚Physis-nomos-These‘. Da-
nach beruht das in einer ‚Polis‘ geltende Recht auf bloßer Konvention, wohingegen das
Recht der Natur unumstößlich ist. Das Recht der Natur macht deutlich, dass stets der
Stärkere über den Schwachen siegt. Wenn Thrasymachos daher in seiner zweiten Defini-
tion ein Plädoyer für die Ungerechtigkeit hält, dann bedeutet das im Kontext der ‚Physis-
nomos-These‘, dass er die auf dem Prinzip der Gleichheit basierende Rechtsordnung der
‚Polis‘ ablehnt und sich zu dem bekennt, was die Polisordnung als Unrecht bezeichnet. Er
weiß, dass die Polis nicht das Naturrecht akzeptiert und dass er, wenn er sich dafür
ausspricht, sich zu dem Prinzip der Ungerechtigkeit bekennen muss. Das angebliche
Recht des Stärkeren ist in sich in höchstem Grade unpolitisch. Es respektiert nicht den
Willen der Bürger. Genau an diesem Punkt setzt Sokrates mit seiner Widerlegung ein.
Eine Gemeinschaft braucht für ihr Überleben eine Ordnung, die das Prinzip der Gleich-
heit akzeptiert. Ein ungezügeltes Mehrhaben wollen, durch das der Starke sich erst als der
Stärkere erweist, zerstört jede Gemeinschaft. Dem kann auch Thrasymachos nicht wider-
sprechen. Weiterführend ist der sokratische Gedanke, dass der in dieser Weise Ungerechte
sich auch mit sich selbst in Zwietracht befindet, ein Gedanke, der nicht mehr näher
ausgeführt wird. Zu vermuten ist, dass damit die für den Ungerechten notwendige Ver-
stellung gemeint ist, die er aufwenden muss, um ein Ziel z. B. mit List zu erreichen. Der
sich Verstellende gibt sich gegenüber anderen nicht so, wie er ist, und ist in dieser Hin-
sicht mit sich uneins. Er denkt anderes als er sagt, und er macht anderes, als er sagt.
Auch wenn der Dialog keine abschließende Definition der Gerechtigkeit gibt, endet er
nicht ergebnislos. Abgesehen davon, dass die ersten Versuche sich als unhaltbar erwiesen
haben, lassen sich als Momente einer Definition doch folgende Einsichten festhalten:
Gerechtigkeit ist ein durch Vernunft bestimmtes Handeln. Es schließt aus, jemandem
schaden zu wollen, und es beruht auf dem Prinzip der Gleichheit. Gerechtigkeit bedeutet
Eintracht mit sich und Freundschaft mit anderen. Beides sind notwendige Bedingungen
des Glücks. Das Glück, die ‚eudaimonia‘, erscheint als das Ziel des Handelns. Ihm dient
auch die Gerechtigkeit. Späterem Sprachgebrauch folgend lässt sich sagen, dass Sokrates
in dem Dialog eine ‚eudaimonistische‘ Ethik vertritt. Die Forderung der Gerechtigkeit
bildet keinen Gegensatz zum Glück, wie eine Pflichtenethik nahe legen könnte, sondern
ist seine notwendige Bedingung.
a) Zum Text
Der Dialog hat einen mehrgliedrigen Aufbau. Er wird eingeleitet durch ein Rahmen-
gespräch (1) zwischen Sokrates und einem Freund, es folgt ein Vorgespräch (2) zwischen
Sokrates und Hippokrates. Daran schließt sich der erste Gesprächsabschnitt (3) zwischen
Sokrates und Protagoras an über die Lehrbarkeit der Tugend, der in einem Streit über die
Form der Gesprächsführung endet. Im folgenden Abschnitt (4) werden unter Beteiligung
weiterer Gesprächsteilnehmer Verfahrensvorschläge zur Gesprächsführung erörtert. Der
2. Das Problem der politischen Bildung – Protagoras 47
nächste Abschnitt (5) ist durch Gedichtinterpretationen von Protagoras und Sokrates
ausgefüllt, um daran anschließend die Ausgangsfrage (6) wieder aufzunehmen, ohne
jedoch eine Antwort zu finden. Schließlich (7) wird Sokrates respektvoll von Protagoras
verabschiedet.
(1) Sokrates trifft einen Freund, der ihn fragt, woher er komme, um so gleich die
Vermutung zu äußern: Sicherlich „von der Jagd auf Alkibiades’ Schönheit“ (309 a). Dies
leugnet Sokrates auch gar nicht, doch habe er auf dessen Schönheit wenig geachtet, da er
auf jemanden gestoßen sei, der bei weitem schöner sei. Und auf die erstaunte Nachfrage
des Freundes antwortet Sokrates: „Wie sollte denn nicht, du kluger Freund, das Weisere
immer als das Schönere erscheinen?“ (309 c) Dieser Schönere, weil Weisere, ist aber kein
geringerer als Protagoras, der berühmte Sophist aus Abdera, der eben in Athen weilt und
Gast ist im Haus von Kallias. Von dieser Begegnung möchte der Freund mehr wissen,
und Sokrates ist bereit zu erzählen:
(2) In der vergangenen Nacht, beim ersten Morgengrauen, wird Sokrates von Hip-
pokrates stürmisch geweckt mit der Nachricht, dass Protagoras in der Stadt sei. Aber
weshalb die Aufregung? „Tat dir Protagoras etwas zuleide?“ – „Ja, bei den Göttern, So-
krates, daß er allein weise ist und mich nicht dazu macht.“ (310 d) – Nun, wenn du ihm
Geld gibst, wird er sich schon überreden lassen, antwortet dieser. Hippokrates möchte
auf jeden Fall Schüler des berühmten Mannes werden, aber er weiß nicht, wie er sich ihm
nähern soll, und deshalb bittet er Sokrates, ihn zu begleiten, und zwar, wenn möglich,
sofort. Aber dieser bremst dessen Eifer: Zum einen ist es noch etwas früh, aber wichtiger
noch ist es, die Frage zu klären, was Hippokrates sich von Protagoras verspricht. Wenn er
z. B. zu einem Arzt in die Lehre ginge, dann doch, um ebenfalls Arzt zu werden, oder
wenn zu einem Bildhauer, um Bildhauer zu werden. Nun ist klar, dass Protagoras ein
Sophist ist, und gemäß dem vorigen müsste es das Ziel des Hippokrates sein, ebenfalls
ein Sophist zu werden. Bei diesem Gedanken aber ‚errötet‘ er. Denn er schämt sich zu
sagen, er wolle ein Sophist werden. Aber Sokrates beruhigt ihn. Man muss ja nicht in
jedem Falle denselben Beruf ergreifen wollen wie derjenige, bei dem man in die Lehre
geht, sondern in einigen Fällen geschieht dies ja einfach wegen der ‚Bildung‘.
Schwerwiegender ist eine andere Frage: Weißt du eigentlich, worauf du dich einlässt,
wenn du dich einem Sophisten anvertraust? Weißt du denn, was ein Sophist ist? – Nun,
„wie auch schon der Name besagt, der, welcher sich auf Kluges versteht.“ – Worin klug? –
Im Reden! – Und im Reden worüber? Da muss Hippokrates passen.
Aber es ist fahrlässig, meint Sokrates, ja gefährlich, seine Seele jemandem anzuver-
trauen, von dem man nicht weiß, was er damit macht; denn die Seele sei doch weit höher
zu achten als der Körper, und den würde er ja auch nicht jedem bedenkenlos anvertrau-
en. Wäre es bei einer solch wichtigen Sache nicht angebracht, zuvor mit Vater, Bruder
und engen Freunden sich zu beraten, gibt Sokrates zu bedenken. Und dann beschreibt er
den Sophisten als einen Kaufmann, der mit Nahrungsmitteln für die Seele handelt. Wäh-
rend man aber bei dem Kauf von Nahrungsmitteln für den Körper die gekaufte Ware vor
dem Verzehr zuhause in Ruhe begutachten könne, um zu entscheiden, was davon und
wie viel und in welcher Zubereitung man zu sich nehmen will, sei es bei der Aufnahme
der seelischen Nahrung anders; denn
48 II. Sokratische Dialoge
„Kenntnisse aber kannst du nicht in einem anderen Gefäß davontragen, sondern hast du
den Preis bezahlt, so mußt du sie, in deine Seele selbst aufnehmend, lernen und hast
deinen Schaden oder Vorteil schon weg, wenn du gehst.“ (314 b)
Und wenn sie nun gleichwohl gemeinsam Protagoras aufsuchen wollen, so ist Vorsicht
und weitere Beratung mit Älteren und Klügeren, als sie es selbst sind, geboten, und
während sie über diese Dinge sprechen, erreichen sie das Haus.
Der Einlass in das Haus des Kallias ist schwieriger als erwartet. Der Türhüter, der sie
vor der Tür reden hört, will sie nicht hereinlassen, denn er vermutet, es kämen weitere
Sophisten zu der bereits ansehnlichen Anzahl der dort versammelten. Erst auf Sokrates’
energische Beteuerung hin, sie seien keine (!) Sophisten und ihre Erklärung, sie wollten
nicht den Hausherrn, sondern Protagoras sprechen, wird ihnen die Tür geöffnet. Nun
sehen sie Protagoras „im bedeckten Gange herumwandeln“, gefolgt von einer Schar Zu-
hörer, die jedes Mal, wenn dieser am Ende des Ganges angekommen, sich umwendet, sich
teilen, „um fein artig immer hinten zu sein“ (315 b).
Und wie Odysseus in seiner Unterweltschau die heroischen Gestalten der mythischen
Vorzeit an sich vorüberziehen sieht, nimmt Sokrates weitere Sophisten wahr, Hippias von
Elis, der über die Natur und Himmelserscheinungen sich verbreitet, sowie Prodikos, in
Felle gehüllt auf einem Lager in einer zu einem Gästezimmer eingerichteten, ehemaligen
Vorratskammer, dessen tiefe Stimme „alles Gesprochene unvernehmlich“ macht und in
ein „dumpfes Getöse“ (316 a) verwandelt.
(3) Nun aber tritt Sokrates an Protagoras heran und sagt:
„Dieser Hippokrates (…) ist hier einheimisch, der Sohn des Apollodoros, von einem
großen und glänzenden Geschlecht, und auch er selbst dünkt mich, was seine natürlichen
Anlagen betrifft, es mit seinen Altersgenossen wohl aufnehmen zu können und Lust zu
haben, ein ausgezeichneter Mann in unserer Stadt zu werden; und eben dieses glaubt er
am besten zu erreichen, wenn er mit dir sein könnte.“ (316 b)
Er überlasse Protagoras die Entscheidung, ob er mit ihnen allein darüber sprechen wolle
oder vor allen anderen. Protagoras bestätigt, dass es keineswegs selbstverständlich sei,
dass er mit ihnen öffentlich über sein Metier rede, denn, wenn die Sophistik auch sehr
alt sei und bis auf Homer und Hesiod zurückgehe, so hätten es doch die meisten Sophis-
ten vermieden, sich zu ihrem Beruf offen zu bekennen und stattdessen andere Künste
zum ‚Deckmantel‘ genommen. Er aber verzichte auf dieses Versteckspiel, mit dem man
vielleicht die Menge, aber nicht die Mächtigen in einer Stadt täuschen könne, und be-
kenne offen, dass er ein Sophist sei, und deshalb sei er auch bereit, in Anwesenheit aller
anderen die Frage zu beantworten. Also trägt man Bänke und Polster zusammen, ruft
auch Prodikos und Hippias herbei und veranstaltet eine ‚Sitzung‘.
Sokrates wiederholt also seine Frage und fügt hinzu, Hippokrates möchte gerne wis-
sen, „was er davon hat, wenn er zu dir kommt.“ Darauf antwortet Protagoras:
„Junger Mann, es wird dir also geschehen, wenn du dich zu mir hältst, daß du schon an
dem ersten Tage, den du bei mir zubringst, besser geworden nach Hause gehen wirst, und
an dem folgenden ebenfalls und so alle Tage zum Besseren fortschreitest.“ (318 a)
2. Das Problem der politischen Bildung – Protagoras 49
Das aber beeindruckt Sokrates wenig; denn es sei doch klar, dass man, wenn man irgend-
wo eine Lehre macht, täglich etwas dazulernt. Die Frage sei aber doch: Worin man besser
werde und um welche Kenntnisse es sich handele. Darauf Protagoras:
„Diese Kenntnis aber ist die Klugheit (euboulia = Wohlberatenheit) in seinen eignen An-
gelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Ange-
legenheiten des Staats, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch
darüber zu reden.“ (318 e/319 a)
Also du meinst die Staatskunst, die Fähigkeit zu politischem Handeln, meint Sokrates,
indem er nur den zweiten Teil der Antwort aufgreift. Protagoras bestätigt das. Nun aber
äußert Sokrates seine Zweifel, ob das überhaupt möglich sei. In Athen jedenfalls glaube
man nicht daran. Wenn z. B. in Athen Fragen im Bereich des Bauwesens zu entscheiden
seien, würden die Baumeister um ihren Rat gefragt, beim Schiffswesen die Schiffbauer
und so in jedem Fall die jeweiligen Sachverständigen. Wer aber nicht sachverständig ist
und zu reden versuche, würde sofort niedergeschrien und herausgeworfen. Lediglich bei
allgemeinen Fragen der Verwaltung der Stadt habe jeder das Recht, gehört zu werden,
ohne dass er hierfür irgendeine besondere Befähigung nachweisen müsse. Hier dürfe
jeder seinen Rat geben; denn „offenbar also glauben sie, dies sei nicht lehrbar“ (319 d).
Und dies meint nicht nur das Volk, sondern selbst die vortrefflichsten Männer der
Stadt, wie etwa Perikles, der sich selber ja politisch besonders hervorgetan hat. Seine
beiden hier anwesenden Söhne hat er in allen Dingen, für die es Lehrer gibt, unterrichten
lassen, nur nicht im Bereich der Politik.
„Ich meinesteils also, Protagoras, halte, hierauf Rücksicht nehmend, nicht dafür, die Tu-
gend sei lehrbar. Nun aber ich dich dieses behaupten höre, lenke ich um und denke, du
werdest wohl recht haben, weil ich von dir glaube, du habest vieles in der Welt erfahren,
vieles gelernt und manches auch selbst erfunden. Kannst du uns also deutlicher zeigen,
daß die Tugend (Tüchtigkeit) lehrbar ist, so wolle es nicht vorenthalten, sondern zeige es.“
(320 b/c)
Dazu ist Protagoras gerne bereit. Und nicht nur das; er bietet sogar zwei ganz unter-
schiedliche Darstellungsformen für seinen Lehrvertrag an, nämlich entweder in der
Form eines Mythos oder in der Form einer Abhandlung (logos). Da die Anwesenden es
ihm überlassen, entscheidet er sich für den Mythos, denn der sei ‚anmutiger‘. Und so
beginnt er:
Als die Götter daran gingen, Lebewesen zu schaffen, bildeten sie diese aus einem
Gemisch aus Erde und Feuer und übertrugen Prometheus und Epimetheus die Aufgabe,
sie auszustatten. Epimetheus sollte die Zuteilung vornehmen und Prometheus anschlie-
ßend das Werk beurteilen. So verteilte jener also die verschiedenen Fähigkeiten an die
verschiedenen Tiere: Schnelligkeit, Stärke usw. Dabei ging er geschickt und gerecht vor
und schaffte für jeden Nachteil auf der einen Seite kompensatorisch einen Ausgleich auf
der anderen. – Aber er vergaß den Menschen.
50 II. Sokratische Dialoge
„In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus, die Verteilung zu beschauen, und
sieht die übrigen Tiere zwar in allen Stücken weislich bedacht, den Menschen aber nackt,
unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet“ (321 c).
Also „stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene, nebst
dem Feuer (…) und so schenkt er sie dem Menschen. Die zum Leben nötige Wissenschaft
also erhielt der Mensch auf diese Weise, die politische aber hatte er nicht.“ (321 d) Über
die politische Tüchtigkeit verfügt Zeus, und diese wird streng bewacht. Die von Hephais-
tos und Athene gestohlenen Künste ermöglichen es dem Menschen nicht nur, ein behag-
liches Leben zu führen, sondern aufgrund dieser Göttergaben, errichten sie auch als ein-
zige unter allen Lebewesen den Göttern Altäre und Bildnisse.
Wegen des Mangels aber an politischer Tüchtigkeit lebten die Menschen zerstreut und
standen in der Gefahr, „von den wilden Tieren ausgerottet“ zu werden. Das aber möchte
Zeus nicht zulassen, und so schickt er Hermes herab, „um den Menschen Scham und
Recht zu bringen, damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung
Vermittler.“ (322 c) Und Zeus bestimmt: Recht und Scham sollen alle erhalten, „denn es
könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten wie an
anderen Künsten“ (322 d). Wer aber unfähig sei, sich Recht und Scham anzueignen,
den möge man töten. Und deshalb – so Protagoras – glauben nicht nur die Athener,
sondern überhaupt alle Menschen, dass die Forderung der Gerechtigkeit sich an jeden
richte. Gleichwohl sei die Gerechtigkeit nicht eine Gabe der Natur, sondern eine Ange-
legenheit des Fleißes und der Übung. Und deshalb sei sie auch ein Gegenstand der Be-
lehrung. Eine fehlende natürliche Begabung werde weder getadelt noch bestraft, wohl
aber ein Mangel an Fleiß und Übung. Überhaupt ziele die Strafe nicht auf das begangene
Unrecht ab, denn das lasse sich ja nicht mehr ungeschehen machen, sondern habe den
Zweck, eine Wiederholung zu vermeiden. All dies beweise, dass die politische Tugend als
etwas angesehen werde, was lehrbar sei.
Warum aber unterrichten die berühmten Politiker nicht ihre Söhne selbst? Das – so
sagt Protagoras – will ich dir nicht mehr mit Hilfe eines Mythos, sondern durch Gründe
(logoi) darlegen. „Denn wenn es (…) die Gerechtigkeit und die Besonnenheit und das
Frommsein, und was ich alles in eins zusammengefaßt die Tugend eines Mannes nennen
möchte“ (324 e/325 a), gibt und von dieser Tugend das ganze Wohl und Wehe einer Stadt
abhängt, dann wäre es doch sonderbar, wenn die Bürger einer Stadt auf die Vermittlung
dieser Tugend nicht den allergrößten Wert legten. Und tatsächlich geschieht es auch so:
„Schon von der zartesten Kindheit anfangend, solange sie leben, belehren und ermahnen
sie ein Kind, sobald es nur versteht, was zu ihm geredet wird, sowohl die Wärterin als die
Mutter, der Paidagoge und der Vater selbst kämpfen dafür, daß der Knabe aufs beste
gedeihe, indem sie ihn bei jeder Handlung und Rede belehren und ihm zeigen, dies ist
recht, jenes ist unrecht, dies gut, jenes schlecht, dies fromm, jenes gottlos, dies tue, jenes
tue nicht; und wenn er gutwillig gehorcht, gut; wo nicht, so suchen sie ihn wie ein Holz,
das sich geworfen und verbogen hat, wieder gerade zu machen durch Drohungen und
Schläge.“ (325 c/d)
2. Das Problem der politischen Bildung – Protagoras 51
Und Protagoras setzt seine Erläuterungen wie folgt fort: Diese Erziehung setzt sich in der
Schule fort. Auch die Lehrer haben mit all ihren Unterrichtsstoffen kein anderes Ziel, als
die Sittsamkeit der Schüler zu fördern. Aber wie kommt es dann, dass trotz all dieser
Bemühungen die Söhne auch tüchtiger Männer missraten, fragt Protagoras und beant-
wortet seine eigene Frage so: Dieses Urteil beruht auf einer Täuschung; denn in Wirk-
lichkeit bewirkt auch die schlechteste Erziehung immer noch erheblich mehr als gar
keine. Da aber überall Erziehung stattfindet, bemerkt man gar nicht ihre tatsächliche,
ungeheure Wirkung. Sie vollzieht sich so selbstverständlich und unscheinbar wie das
Erlernen der Muttersprache. Wer jedoch über das überall anzutreffende hohe Niveau
noch hinauskommen will, der muss sich nach einem besonders fähigen Lehrer umsehen,
so wie ich selbst einer bin.
Sokrates ist von dieser Rede wie bezaubert und kann gar nicht glauben, dass sie nun
wirklich beendet ist. Schließlich aber gesteht er, Protagoras habe ihn in beeindruckender
Weise überzeugt: „Ausgenommen eine Kleinigkeit ist mir im Wege, was offenbar Pro-
tagoras leicht noch dazu lehren wird, da er ja dieses viele gelehrt hat.“ (328 e) Protagoras
habe doch von ‚Tugend‘ gesprochen, außerdem aber von der Gerechtigkeit und der Be-
sonnenheit und der Frömmigkeit. Sind diese drei nun verschiedene Namen für ‚Tugend‘
oder Teile von ihr? Protagoras antwortet: Es sind Teile. Und welcher Art sind diese Teile:
so wie die Teile eines größeren Goldklumpens oder so wie die Teile eines Gesichts? – So
wie die Teile des Gesichts. – Muss aber jemand, der über den einen Teil der Tugend
verfügt, alle anderen auch besitzen? – „Keineswegs, (…) denn viele sind ja tapfer, aber
ungerecht, und gerecht, weise aber nicht.“ (329 e). – Also sind Tapferkeit und Weisheit
auch Teile der Tugend? – Allerdings, und die Weisheit ist sogar der größte. – Wenn es sich
aber mit der Tugend so verhalte wie mit dem Gesicht, dann müssen auch ihre Teile eine
jeweils spezifische Aufgabe erfüllen und jeder Teil ist vom anderen unterschieden.
Von dieser Überlegung ausgehend kommt Sokrates zu folgenden Formulierungen:
„Die Gerechtigkeit also ist eben das wie gerecht sein“, und ebenso ist Frömmigkeit das-
selbe wie „fromm sein“. Wenn aber kein Teil wie der andere ist, dann bedeutet das auch,
dass „die Frömmigkeit nicht wie gerecht sein und die Gerechtigkeit nicht wie fromm“
sein ist. Und von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Behauptung: „Fröm-
migkeit ist wie nicht gerecht, also ungerecht“ und Gerechtigkeit ist wie nicht fromm, also
„gottlos“. Aber diese Folgerung ist für Sokrates selbst unannehmbar, denn für ihn gilt,
„daß die Gerechtigkeit allerdings fromm sei und die Frömmigkeit gerecht“, und auch
Protagoras ist die andere Schlussfolgerung schwer erträglich. Deshalb sagt er: Gerechtig-
keit und Frömmigkeit sind nicht ganz dasselbe, aber auch nicht völlig verschieden. „Doch
was liegt daran?“ – „(…) Wenn du willst, soll uns auch die Gerechtigkeit fromm und
auch die Frömmigkeit gerecht sein.“ Aber mit dieser Lösung ist Sokrates gar nicht ein-
verstanden. Zugeständnisse, die nicht auf Überzeugung beruhen, bringen das Gespräch
nicht weiter, sondern zerstören es. Deshalb sagt er:
„Ich begehre gar nicht, daß ein solches ‚Wenn du willst‘ und ‚Wie du meinst‘ untersucht
werde, sondern ‚Ich‘ und ‚Du‘. Das ‚Ich‘ und ‚Du‘ sage ich aber in der Meinung, der Satz
selbst werde am besten geprüft werden, wenn man dieses ‚Wenn‘ ganz herausläßt.“ (331 c)
52 II. Sokratische Dialoge
Protagoras macht nun geltend, dass das Verhältnis von Gerechtigkeit und Frömmigkeit
weder als Gegensatz zu denken sei noch als Identität, sondern als das der Ähnlichkeit.
Haben denn Gerechtigkeit und Frömmigkeit ein „wenig Ähnliches miteinander“, insis-
tiert Sokrates, und Protagoras, der ahnen mag, auf welch neues Abenteuer er sich bei
einer Zustimmung begeben wird, antwortet ausweichend: „Nicht ganz so, aber doch auch
nicht, wie du zu glauben scheinst.“
Und nun wechselt Sokrates scheinbar das Thema; denn in Rede steht das Verhältnis
der Unsinnigkeit zur Besonnenheit. In Wirklichkeit aber werden nur die Worte ver-
tauscht, denn nach wie vor geht es um die Frage der Bestimmung von Gegensätzen.
Und so lässt er sich von Protagoras bestätigen, dass die Weisheit das Gegenteil von der
Unsinnigkeit sei. Andererseits aber handeln die, die nicht besonnen sind, unsinnig. Die
Besonnenheit und die Unsinnigkeit bilden einen Gegensatz. Wenn aber richtig sein soll,
dass es zu jedem Wort immer nur ein einziges geben kann, das als Gegensatz zu bezeich-
nen ist, wird ein Widerspruch unvermeidlich. Entweder also ist die Behauptung falsch,
„daß Einem nur Eins entgegengesetzt ist, oder jene, als wir sagten, die Besonnenheit wäre
etwas anderes als die Weisheit“ (333 a). Widerstrebend stimmt Protagoras der sokrati-
schen These zu, dass Einem nur Eins entgegengesetzt ist und daher Weisheit und Beson-
nenheit Eins seien. Protagoras ist durch die sokratische Interpretation der Gegensatzlehre
sehr verunsichert, und Sokrates, der das bemerkt, berichtet: „und da ich ihn in dieser
Verfassung sah, nahm ich mich in acht und fragte nur ganz bedächtig weiter.“ (333 e)
So gibt die nächste sokratische Frage: „Ist etwa (…) dasjenige gut, was den Menschen
nützlich ist?“ (333 e) Protagoras die Möglichkeit, in einer breit angelegten Rede seine
These von der Relativität des Guten im Sinne des Nützlichen darzulegen. Das eine ist
für die Pferde gut, das andere für die Ochsen, ein Drittes für die Hunde, einiges nur für
Menschen, anderes für Tiere, einiges für die Bäume, aber nur für die Wurzeln, nicht für
die jungen Triebe usw.
(4) An dieser Stelle entwickelt sich ein Streit über die Methode der Gesprächsfüh-
rung. Der Bitte von Sokrates, kurz zu antworten, hält Protagoras entgegen: Soll ich etwa
kürzer antworten, als nötig ist? – Nein, natürlich nicht! Aber wer entscheidet dann, wie
viel nötig ist? Darauf erklärt Sokrates, er habe gehört, dass er, Protagoras, sowohl lange
Reden halten könne als auch kurz antworten. Darauf erklärt Protagoras:
„O Sokrates, (…) schon mit vielen Menschen habe ich den Kampf des Redens bestanden,
hätte ich aber das getan, was du von mir verlangst, nämlich immer auf die Art das Ge-
spräch geführt, wie mein Gegner es mich führen hieß, so würde ich gewiß keinen einzigen
überwunden haben, und Protagoras würde keinen Namen haben unter den Hellenen.“
(335 a)
wollen die Anwesenden auf gar keinen Fall. Kallias, der Hausherr, ergreift als erster das
Wort und bittet Sokrates inständig zu bleiben und das Gespräch fortzusetzen. Doch
dieser entgegnet: Ich würde ja gern; aber was du verlangst, ist ganz unmöglich. Es wäre
geradeso, als verlangtest du, ich soll „mit dem Krison aus Himera, unserm stärksten
Wettläufer“ (335 e) gleiches Tempo halten. Auch mit diesem kann ich mich nur auf
derselben Höhe halten, wenn er, der sowohl schnell als auch langsam laufen kann, sich
meinem Tempo anpasst.
Aber offensichtlich leuchtet Kallias der Vergleich nicht ein, denn er sagt: Hat Protago-
ras nicht recht, „wenn er verlangt, ihm solle erlaubt sein zu sprechen, wie er will, und dir,
wie du willst.“ (336 b) Nun mischt sich Alkibiades ein, indem er sagt: Aber Sokrates hat
doch zugestanden, dass er über die Langrednerei nicht Bescheid wisse, sondern nur über
das Gespräch. Allerdings in der Methode des Gesprächs jemanden zu finden, der ihm
überlegen ist, wird er nicht bereit sein zuzugeben. Wenn also Protagoras einräumt, dass
er nur lange Reden halten kann, aber nicht die Methode der Gesprächsführung be-
herrscht, ist die Sache entschieden. Nun ergreift Kritias das Wort und sagt: Nachdem
nun Kallias Partei für Protagoras ergriffen hat und Alkibiades für Sokrates, bleibt uns
nur noch übrig, beide herzlich zu bitten, das Gespräch fortzusetzen und es nicht in der
Mitte abzubrechen.
Jetzt meldet sich auch noch Prodikos zu Wort. Er stimmt Kritias zu und liefert zu-
gleich eine Probe seiner Wortunterscheidungskunst. Sokrates und Protagoras sollen zwar
über ihre Sätze streiten, aber nicht zanken, „denn streiten können auch Freunde mit
Freunden in allem Wohlmeinen, aber zanken nur die, welche uneinig und auch feindselig
gegeneinander sind.“ (337 b) Würden sie aber in der richtigen Weise streiten, so würden
sie von allen „geachtet werden, nicht gelobt“; denn das erste geschehe ohne Betrug, das
andere aber oftmals aus Heuchelei; und nur von dem guten Gespräch hätten die Hören-
den ein ‚Vergnügen‘, nicht ‚Genuß‘ ; denn das Organ des Vergnügens sei die Seele, das des
Genusses aber der Körper. – Und auch mit diesen Unterscheidungen findet Prodikos „bei
den meisten Anwesenden großen Beifall“ (337 c).
Schließlich aber schlägt Hippias einen Kompromiss vor. Da der eine gerne lange Re-
den hält, der andere aber nur kurz reden möchte, solle man sich doch in der Mitte
einigen. Am besten sei es daher, wenn man einen Schiedsrichter bestimme, der darüber
wache, dass das mittlere Maß eingehalten würde. Dieser Vorschlag findet allgemeines
Lob, und man möchte auch gleich zur Tat schreiten und einen Aufseher wählen. Aber
wieder ist es Sokrates, der Einwände macht. Wer solle denn die Aufsicht führen? Die
Aufsicht erfordere Sachverstand. Besäße aber der Aufseher weniger Sachverstand als die
Gesprächspartner, so wäre die Aufsicht nur störend, besäße er gleich viel, wäre sie über-
flüssig. Dass aber jemand unter ihnen wäre, der mehr Sachverstand hätte als Protagoras,
wäre ganz ausgeschlossen. Aber er habe einen eigenen Vorschlag: Wenn Protagoras im
Gespräch nicht die Rede des Antwortenden übernehmen wolle, so solle er doch fragen,
und er dürfe so viel fragen, wie er wolle, und er, Sokrates, werde antworten, so wie er
meine, dass man antworten solle. Anschließend könnten die Rollen wieder getauscht
werden. Nun ist man der Meinung, dass es so gemacht werden soll.
(5) Schließlich beginnt Protagoras sein Fragen, indem er den Vers eines Gedichtes
von Simonides zitiert: „Ein trefflicher Mann zu werden schon wahrhaftig/ ist schwer
(…)“. Ob das gut und richtig gedichtet sei, fragt Protagoras. Das bestätigt Sokrates. Aber
54 II. Sokratische Dialoge
wenig später, sagt Protagoras, tadelt Simonides den Pittakos, der doch ganz genau das-
selbe behauptet, nämlich: „schwer ist es, sagt er, tugendlich sein“. Wie aber kann von
jemandem behauptet werden, dass er gut und richtig dichtet, wenn er sich selbst wider-
spricht.
„Als er das gesagt, erregte er wieder Geräusch und Beifall von vielen der Zuhörer. Mir aber
wurde zuerst, wie von einem guten Faustkämpfer tüchtig getroffen, ganz dunkel vor den
Augen und schwindlig, als er das sagte und die andern das Geräusch des Beifalls erhoben.“
(339 d/e)
Dann aber, „um Zeit zu gewinnen zum Nachdenken“, ruft Sokrates den Prodikos zu
Hilfe, den er verpflichtet, Simonides, seinem Landsmann aus Keos, beizustehen. Jedoch
reicht es, dass Prodikos bestätigt, dass Werden und Sein nicht dasselbe sind, und daher
Simonides nichts anderes habe sagen wollen, als dass es zwar schwer sei, tugendhaft zu
werden, nicht aber, nachdem man dieses erreicht habe, es auch weiterhin zu sein.
Protagoras aber gibt sich nicht geschlagen und behauptet, dass Simonides unmöglich
das gemeint haben könne und führt nun zum Beweis weitere Belegstellen an. Sokrates
holt Prodikos erneut zu Hilfe. Vielleicht meint Simonides mit ‚schwer‘ etwas ganz ande-
res als wir, nämlich ‚böse‘. Und Prodikos, der Freund, tut Sokrates den Gefallen und
bestätigt, dass ‚schwer‘ hier ‚böse‘ meint. Dagegen aber protestiert Protagoras. So sehr
kann er das Gedicht nicht missverstanden haben, und auch zu allem Übrigen passe das
nicht. Nun gesteht auch Sokrates, dass er das nicht ernsthaft glaube. Aber er bietet nun
seine eigene Gedichtinterpretation an und die übertrifft an Gewaltsamkeiten das bisher
Gesagte noch bei weitem. Ihr Ergebnis ist, dass Simonides bereits dieselbe These vertreten
habe wie Sokrates, nämlich, dass niemand freiwillig Unrecht tue.
Niemand aber der Anwesenden bemerkt die Gewaltsamkeiten. Im Gegenteil: Sokrates
wird von Hippias gelobt, und nun möchte dieser gar noch seine Interpretation vortragen.
Das aber wehrt Alkibiades ab mit der Bemerkung, erst müssten Protagoras und Sokrates
ihr Gespräch fortsetzen. Und Sokrates ist damit sehr einverstanden; denn Gedichtinter-
pretationen hält er ohnehin für eine Angelegenheit ungebildeter Leute, die nicht in der
Lage seien, sich selbst miteinander zu unterhalten. Auch sei das Missliche dabei, dass man
den Dichter ja selbst niemals befragen könne hinsichtlich unklarer Stellen.
(6) Gleichwohl ist Protagoras nur widerstrebend zur Fortsetzung des Gesprächs zu
bewegen. Erneut versichert Sokrates, dass es ihm dabei nur um die fragliche Sache gehe
und dass er glaube, dass Protagoras nicht nur selbst ein trefflicher Mann sei, sondern
auch glaube, andere dazu machen zu können. Die Frage sei aber nach wie vor, „ob Weis-
heit und Besonnenheit und Tapferkeit und Gerechtigkeit und Frömmigkeit“ (349 b) fünf
Namen für dieselbe Sache seien oder ob jedem dieser Begriffe ein eigener Bereich und
eine eigene Aufgabe zukomme. Protagoras hält daran fest, dass es sich dabei um Teile der
Tugend handele; allerdings spiele die Tapferkeit eine besondere Rolle; denn es gebe doch
viele Menschen, die außerordentlich ungerecht seien, gleichwohl aber sehr tapfer.
Hier unterbricht Sokrates ihn. Sind die Tapferen auch dreist? – Ja. – Sind nun die
Wissenden dreister als die Unwissenden? – Ja. – Gibt es auch Unwissende, die dreist sind?
– Auch das bestätigt Protagoras. – Und sind die unwissenden Dreisten auch tapfer? – Auf
gar keinen Fall.
2. Das Problem der politischen Bildung – Protagoras 55
Hier glaubt Sokrates auf einen Widerspruch gestoßen zu sein. Wenn die Weisesten die
Dreistesten sind und die Dreistesten die Tapfersten, dann ist „die Weisheit die Tapferkeit“
(350 c). Das aber lässt Protagoras nicht gelten; denn aus dem Zugeständnis, dass die
Tapferen dreist seien, dürfe nicht gefolgert werden, dass auch die Dreisten tapfer seien.
Zwar sind alle Tapferen dreist, aber nicht alle Dreisten tapfer. Der Unterschied von Dreis-
tigkeit und Tapferkeit bestehe darin, dass jene „aus der Kunst oder aus Tollheit oder aus
Gemütsbewegung“ entstehen, die Tapferkeit aber aus „Gutartigkeit und Wohlgenährtheit
der Seele“ (351 b).
Sokrates geht auf diese Richtigstellung nicht ein, sondern wechselt das Thema. Zu-
nächst lässt er sich von Protagoras bestätigen, dass der Mensch gut lebt, der angenehm
lebt, übel aber, der gepeinigt und gequält wird. Ist also das Angenehme das Gute und das
Peinliche das Üble? – Aber diese These ist Protagoras zu pauschal. Vielmehr sagt ihm
seine Lebenserfahrung, „daß es einiges gibt unter dem Angenehmen, was nicht gut, und
wiederum unter den Unangenehmen einiges, was nicht übel ist“ (351 d). Ist angenehm
das, was Lust macht? – Allerdings. Und ist die Lust dann nicht das Gute?
„Darauf sagte er: Laß uns zusehn, Sokrates, wie du ja immer sagst, und wenn die Unter-
suchung zur Sache zu gehören scheint und sich zeigt, daß das Gute und Angenehme
dasselbe ist, so wollen wir es einräumen, wo aber nicht, so wollen wir es dann schon
bestreiten.“ (351 e)
Lust überwunden tut er das Üble‘ die Form: ‚Von dem Guten überwunden tut er das
Üble‘ (355 c).
Aber wie steht es mit dem Einwand, es sei doch ein großer Unterschied zwischen dem
augenblicklich Angenehmen und dem zukünftigen Angenehmen oder Unangenehmen? –
Worin aber besteht der Unterschied? – Doch nur in einem unterschiedlichen Quantum
von Angenehmem oder Unangenehmem. Wer also das augenblicklich Angenehme mit
dem zukünftig Unangenehmen vergleichen wolle, müsse ihr jeweiliges Quantum messen.
Notwendig sei es daher, eine Messkunst (metrhtik¼ tffcnh) zu entwickeln, mit deren
Hilfe das gegenwärtig Angenehme und das zukünftige Unangenehme gegeneinander auf-
gewogen werden. Und dabei ist eine perspektivische Verkürzung zu berücksichtigen;
denn wie auch in der räumlichen Wahrnehmung das Nahe als größer erscheint als das
Ferne, erscheint das im gegenwärtigen Augenblick Erfahrene größer als das zukünftige.
Nur die Messkunst ist in der Lage, die Sache in ihrer wirklichen Größe richtig einzuschät-
zen und den trügerischen Schein zu korrigieren. Bei der Messkunst handelt es sich aber
um ein Wissen, und so wird deutlich, dass die Aussage „Zu-schwach-sein-gegen-die-
Lust“ auf einem Mangel an Wissen beruht. Das Wissen aber führt zu der Einsicht, „daß
das Heil unseres Lebens auf der richtigen Auswahl von Lust und Unlust beruht“ (357 a).
Nun aber lenkt Sokrates zurück zu der von Protagoras behaupteten These, dass es
Menschen gebe, die „sehr ungerecht und sehr unbändig und unverständig, tapfer aber
ganz ausgezeichnet“ seien. Nach dem gemeinsam Zugestandenen ist es nur die Unkennt-
nis, die den Dreisten ihre Dreistigkeit verleiht; und umgekehrt „ist demnach die Weisheit
in dem, was furchtbar ist und was nicht, die Tapferkeit, weil sie der Unkenntnis davon
entgegengesetzt ist.“ (360 d)
(7) Nach dieser Widerlegung gibt Protagoras auf und bittet Sokrates, die Unter-
suchung alleine zu Ende zu führen. Dieser macht auf eine paradoxe Vertauschung ihrer
Positionen im Gespräch aufmerksam: Denn während er selbst zunächst geleugnet habe,
dass die Tugend lehrbar sei, behaupte er nun, dass diese ein Wissen sei und daher mög-
licherweise doch lehrbar, während Protagoras, der von ihrer Lehrbarkeit überzeugt war,
diese nun bestreitet. Und Sokrates fährt fort:
„Ich nun, Protagoras, indem ich zusehe, wie schrecklich uns dieses alles durcheinander-
geschüttelt wird, das Unterste zuoberst, bin voll Eifers, die Sache zur Klarheit zu bringen,
und ich wünschte, nachdem wir dies durchgegangen, könnten wir auch weiter zurück-
gehen auf die Tugend selbst, was sie wohl ist, und dann wieder diese Untersuchung aufs
neue anfangen, ob sie lehrbar ist oder nicht (…)“.(361 c)
Dazu aber ist Protagoras nicht mehr bereit oder fähig. Gleichwohl aber lobt er Sokrates
wegen dessen Eifer und seiner Art, das Gespräch zu führen, und es solle ihn nicht wun-
dern, wenn er „einst unter die Berühmten wegen ihrer Weisheit gehören“ (361 e) werde.
b) Zur Interpretation
(1) Aktive Teilnehmer des Gesprächs, d. h. solche, die sich mit Wortbeiträgen be-
teiligen, sind ein nicht näher genannter Freund des Sokrates, Hippokrates, ein lernbegie-
riger junger Mann, der Schüler von Protagoras werden möchte, Protagoras selbst, der
hochberühmte Sophist Kallias, in dessen Haus Protagoras weilt, Alkibiades, der spätere
2. Das Problem der politischen Bildung – Protagoras 57
Politiker und Freund Sokrates’, Kritias, ebenfalls Politiker, Großonkel Platons, später
Haupt der ‚Dreißig‘ ; Prodikos, der Sophist, den Sokrates in anderen Dialogen als seinen
Lehrer bezeichnet und schließlich Hippias, ebenfalls Sophist, dem zwei weitere Dialoge
gewidmet sind.
Der Ort des Gesprächs mit Protagoras ist das Haus von Kallias, einem reichen Athe-
ner, der als Mäzen der Sophisten bekannt wurde. Als das fiktive Datum des Gesprächs
kann die Zeit um 433 angesetzt werden, d. h. vor dem Peloponnesischen Krieg und vor
der Pest, also zu einer Zeit als Akibiades noch Jüngling ist.
(2) Der Dialog Protagoras ist bestimmt durch eine Anzahl philosophischer Theoreme
und Probleme, die sich wie folgt charakterisieren lassen: Leitend ist der Gedanke der
Sorge um die Seele, von der behauptet wird, dass sie gegenüber dem Körper das weitaus
Wichtigere sei. Der daraus folgende Leib-Seele-Dualismus durchzieht das ganze Werk
von Platon, ohne dass er näher begründet würde. Das gilt auch dann noch, wenn man
berücksichtigt, dass die Bestimmung der Seele im Werk Platons gravierende Veränderun-
gen erfährt.
Eine ebenso starke philosophische These wird durch den Gedanken repräsentiert, dass
die Erkenntnis eine handlungsleitende Funktion hat. Das bedeutet, dass es für Sokrates,
so wie ihn Platon in seinen frühen Schriften darstellt, nicht denkbar ist, dass jemand
gegen seine Einsicht handelt. Jeder tut das, was er für gut hält. Zwar kann er sich irren,
und das, was er für gut hält, ist in Wahrheit nicht gut, niemals aber wird er bewusst sich
für das entscheiden, was seiner Meinung nach schlecht ist. Umso wichtiger wird die Frage
der richtigen Bestimmung des Guten, eine schwierige, und möglicherweise lebenslange
Aufgabe. Zu ihr gehört z. B. auch die Frage, ob das Gute relativ ist, d. h. ob es für jeden
anders ist, oder ob es eine allgemeinverbindliche Definition des Guten gibt.
Die Frage der Einheit der Tugenden hat Platon in den folgenden Dialogen weiter
beschäftigt und in der Politeia hat er dazu eine vorläufige Antwort gefunden, bei der die
im Protagoras noch erwähnte Frömmigkeit fehlt. Frömmigkeit ist, wie bereits im Eu-
thyphron angedeutet, eine Form der Gerechtigkeit gegenüber den Göttern.
(3) Von Bedeutung ist auch, in welcher Weise der Mythos von Protagoras eingeführt
wird und in welcher Weise er zum ‚Logos‘ in ein Verhältnis gesetzt wird. Der Mythos ist
für ihn zu einem Darstellungsmittel geworden. Seine ursprüngliche, verbindliche Kraft
hat er verloren. Er dient dazu, um Sachverhalte, die man auch durch rationale Rede
darstellen könnte, ‚anmutiger‘ zur Kenntnis zu bringen. Deshalb wechselt er auch –
scheinbar bruchlos – von der einen Form der Darstellung in die andere über. Versucht
man den von ihm vorgetragenen Mythos in den ‚Logos‘ zu übersetzen, so bliebe die
Aussage: Menschen unterscheiden sich von Tieren durch die Beherrschung des Feuers
und durch andere Handwerke und Künste. Während aber die Menschen für die Künste
eine unterschiedliche Begabung entfalten, sind Scham und Recht als Existenzbedingun-
gen der Polis Tugenden, die bei allen in gleicher Weise vorhanden sein müssen.
Die Frage, wie weit die Tugend selbst als Fähigkeit vorausgesetzt wird oder aber ob es
sich um eine durch Erziehung zu entwickelnde Anlage handelt, bleibt ausgespart. Die von
Protagoras vorgenommene Gegenüberstellung von Mythos und ‚Logos‘ ist Ausdruck der
von den Sophisten eingeleiteten Mythenkritik, der sich der platonische Sokrates und
Platon selbst in Maßen anschließen. Weitere Bedeutungsgehalte des Mythos kommen in
späteren Dialogen zur Geltung.
58 II. Sokratische Dialoge
Ähnliches ließe sich über die Rolle der Dichtung sagen. Hier ist Platon jedoch noch
erheblich kritischer. Im Protagoras wird die abschätzige Meinung geäußert: Interpretati-
on von Dichtung ist Angelegenheit ungebildeter Leute, die nicht in der Lage sind, eigene
Argumente vorzutragen. Ein Zitat ersetzt kein Argument. Gleichwohl ist der Hinweis auf
Dichtung ein selten fehlender Teil eines Dialogs. Vor allem Homer galt als nahezu unan-
greifbare Autorität nicht nur für Fragen der Kriegsführung, sondern auch in theologi-
schen Fragen sowie in Fragen der Bildung und Erziehung. Indem Platon die Dichter
kritisiert, wendet er sich gegen den traditionellen Bildungskanon seiner Zeit.
(4) Von besonderer Bedeutung ist der Streit der Methode des Gesprächs, der streng
genommen ein Streit ist zwischen Rhetorik und Dialektik. Es geht also letztlich nicht um
die Frage, wie das Gespräch geführt, sondern ob überhaupt ein Gespräch geführt werden
soll. Die sokratische These, dass sich die beiden Methoden grundsätzlich unterscheiden,
wird im Dialog nicht thematisiert, weil Sokrates als Argument gegen die „langen Reden“
seine Vergesslichkeit anführt (334 d), eine Behauptung, die im Übrigen nicht stimmt, wie
der Dialog selbst belegt. Die unausgesprochene Kritik der Rhetorik besteht vielmehr
darin, dass im Gespräch durch den Wechsel der Argumente die Wahrheit herausgestellt
werden soll, während es die Rede darauf absieht, unter den Hörern eine Stimmung zu
erzeugen, die zu einer ungeprüften ‚Zu-Stimmung‘ führt. Platons Kritik an den Sophis-
ten verbindet sich daher an zentraler Stelle mit seiner Kritik der Rhetorik. Allerdings
macht er hinsichtlich seiner Kritik der Sophisten Unterschiede.
So ist seine Darstellung des Sophisten Prodikos, der gelegentlich auch als Lehrer von
Sokrates in den Dialogen tituliert wird, von anderer Art. Die von Prodikos eingeführte
Semantik als einer ‚Wortunterscheidungskunst‘ hat möglicherweise nicht unerheblich zu
der von Sokrates praktizierten Methode der Begriffsunterscheidung beigetragen. Gleich-
wohl werden die Proben seiner Kunst, die Platon Prodikos vorführen lässt, stets von einem
ironischen Unterton begleitet. Schon die Vorstellung der Person ist im Protagoras nur
ironisch zu verstehen. Der in seine Felle gehüllte Prodikos erzeugt mit seiner dumpfen
Stimme ein solches Geräusch, dass sich einzelne Worte nicht mehr ‚unterscheiden‘ lassen.
Protagoras selbst wird dagegen mit einem Ton des Respekts vorgestellt. Das kommt
nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass sich Protagoras und Sokrates in einem
entscheidenden Punkt einig sind, in der Einschätzung der Bedeutung der Erkenntnis.
Unakzeptabel, wenn auch in diesem Dialog nicht thematisiert, ist für Platon die Protago-
ras zugeschriebene These der Relativität des Guten. Den damit verbundenen Relativis-
mus hat er für die Zerstörung des Rechts in der Politik wesentlich mitverantwortlich
gemacht.
3.1 Apologie
a) Zum Text
Die Apologie gliedert sich in drei Teile: (1) die Rede, die Sokrates als Antwort auf die
gegen ihn erhobene Anklage der drei Kläger Meletos, Anytos und Lykon hält, (2) seine
Rede nach dem Schuldspruch und (3) die Rede nach seiner Verurteilung zum Tode.
3.1 Apologie 59
(1) Sokrates beginnt seine Verteidigung mit dem ironischen Hinweis, dass er ange-
sichts der Fülle der überredenden Worte seiner Ankläger beinahe sich selbst vergessen
habe. Wahr sei nicht ein einziges Wort gewesen, das sie gegen ihn vorgebracht hätten. Er
dagegen sei in ihrer Kunst des gedrechselten Redens ganz ungeübt. Stattdessen werde er
ganz kunstlos lediglich die Wahrheit sagen. Die Kläger aber, die die Richter vor seiner
Redekunst gewarnt hätten, würden sogleich durch die Tat widerlegt. Hinsichtlich des
Inhalts der Vorwürfe sei zu beachten, dass diese nicht erst jetzt von den Klägern erhoben
würden, sondern dass sie schon seit langer Zeit im Umlauf seien. Doch blieben ihre
Urheber anonym, mit Ausnahme eines Komödienschreibers, und daher müsse er gegen
sie wie gegen Schatten kämpfen. Die Gerüchte, die gegen ihn verbreitet würden, behaup-
ten, er untersuche Dinge am Himmel und unter der Erde und versuche, aus der schwä-
cheren Rede die stärkere zu machen. Die in ihnen erhobene Klage lautet:
„Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge unter-
sucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt.“ (19 b)
Ein ähnlicher Vorwurf sei ja auch von Aristophanes in einer Komödie erhoben worden,
in der ihm die Kunst unterstellt wird, in der Luft zu gehen und andere Albernheiten. Aber
weder könne er dies, noch habe er es je unternommen, andere zu belehren, so wie es
Männer wie Gorgias, Prodikos, Kallias oder Euenos gegen ein hohes Honorar täten.
Zu Recht aber werde die Frage gestellt, wie die Verleumdungen gegen ihn entstanden
seien. Ihr Ursprung sei darin zu sehen, dass er in dem Ruf stehe, über eine bestimmte
Weisheit zu verfügen. Diese Weisheit sei vielleicht die dem Menschen allein angemessene
„menschliche Weisheit“. Entstanden sei der Ruf, nachdem Chairephon, sein Freund und
der des Volkes, sich erkühnte, das Orakel in Delphi zu befragen, oder es jemand gebe, der
weiser sei als Sokrates. Dies habe die Pythia verneint. Dieses Orakel habe ihn in große
Verwirrung gestürzt, denn er wisse doch allzu gut, dass er weder viel noch wenig weise
sei. Schließlich habe er keinen anderen Ausweg gesehen, als diejenigen, die für weise
gehalten würden, auf ihre Weisheit hin zu prüfen, um so vielleicht das Orakel widerlegen
zu können. Doch schon der erste, mit dem er ein Gespräch führte, es war ein Politiker,
dünkte sich selbst zwar sehr weise, doch war er es nicht im Mindesten. Als er ihm dies
nachwies, machte er sich bei ihm verhasst. Das Ergebnis der Prüfung war, dass er, da er
sich seiner Unwissenheit bewusst war, weiser war als jener Politiker, der sich nur einbil-
dete, etwas zu wissen. Nicht anders erging es ihm bei der Prüfung der Dichter, die das,
was sie zu sagen haben, entweder aufgrund einer Naturgabe oder einer höheren Inspira-
tion vortragen. Die Prüfung der Handwerker schließlich zeigte, dass sie tatsächlich über
ein bestimmtes technisches Wissen verfügen, doch verleitete sie ihr Spezialwissen dazu,
sich auch in allen anderen Dingen als wissend auszugeben. Indem er auf diese Weise
diesen Männern ihre Unwissenheit nachwies, schuf er sich viele Feinde. Deutlich sei
ihm dabei jedoch geworden, das Orakel habe sagen wollen:
„Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der
Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.“ (23 b)
60 II. Sokratische Dialoge
Und so fasse er die Prüfung der Menschen als eine ihm von Gott aufgetragene Aufgabe
auf, die er zu erfüllen habe, und dabei vernachlässige er alle politischen Tätigkeiten und
alle Bemühungen, reich zu werden. Inzwischen aber hätten sich ihm einige junge Männer
angeschlossen, vor allem aus begüterten Elternhäusern, die über viel Zeit verfügten, und
stellten ebenso wie er andere Menschen in Frage. Und so sei das Gerücht entstanden, er
verderbe die Jugend.
Soweit zu den Gerüchten. Nun aber sei es an der Zeit, sich gegen die jetzige, von
Meletos eingereichte Klage zu verteidigen. Sie lautet etwa so:
„Sokrates, sagt er, frevle, indem er die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat
annimmt, nicht annehme, sondern anderes neues Daimonisches.“ (24 b)
Zunächst also zu der Behauptung, er verderbe die Jugend. An dieser Stelle unterbricht
Sokrates seine Rede, indem er sich direkt an Meletos wendet und ihn in ein Gespräch
verwickelt: „Her zu mir, Meletos und sprich! Nicht wahr, dir ist das sehr wichtig, daß die
Jugend aufs beste gedeihe?“ Und tatsächlich antwortet ihm dieser: „Mir freilich.“ (24 c)
Auf diese Weise gelingt es Sokrates, die von ihm geübte Methode des Gesprächs in den
Prozess einzubringen und im Verlauf seinen Ankläger zu widerlegen.
Das geschieht in zweifacher Weise. Zunächst veranlasst er Meletos zu der Behauptung,
nur Sokrates verderbe die Jugend, während alle anderen Athener sie besserten. Das ist
eine höchst groteske Behauptung, da sie im Widerspruch steht zu aller Lebenserfahrung.
Denn überall sind es stets wenige, die etwas von der Kunst der Erziehung verstehen, bei
Pferden und anderen Tieren nicht weniger als bei Menschen. Doch das ist erst ein Argu-
ment. Meletos zeigt nun wenig Neigung, das Gespräch fortzusetzen. Sokrates nötigt ihn
jedoch mit dem Hinweis auf das Gesetz, das eine Befragung des Klägers durch den An-
geklagten vorsieht. Und so fragt er ihn, ob er der Meinung sei, dass er die Jugend vor-
sätzlich verderbe oder unvorsätzlich. Meletos antwortet erwartungsgemäß: vorsätzlich.
Dies aber ist ganz unlogisch; denn derjenige, der seine Mitmenschen vorsätzlich schlecht
macht, muss damit rechnen, Opfer ihrer Schlechtigkeit zu werden, und das kann nie-
mand wollen. Sollte er dagegen unvorsätzlich die Jugend verderben, so sei er zu belehren,
nicht aber zu bestrafen.
Der zweite Anklagepunkt betrifft die These, er glaube nicht an die in der ‚Polis‘ ver-
ehrten Götter, sondern suche neues Dämonisches einzuführen. Hier wäre zunächst zu
klären, ob Meletos Sokrates für gänzlich atheistisch hält oder ob er ihm nur die Einfüh-
rung neuer Götter vorwirft. Und wieder radikalisiert Meletos seine Anklage, indem er
Sokrates völligen Atheismus vorwirft. Und zwar behaupte Sokrates, die Sonne sei ein
Stein und der Mond Erde. Das, sagt Sokrates, ist die These von Anaxagoras, mit der ich
nichts zu tun habe. Im Übrigen aber ist der Vorwurf völliger Gottlosigkeit unvereinbar
mit dem, neues Dämonisches einzuführen; denn Dämonen sind ja bekanntlich entweder
selbst Götter oder doch Söhne von Göttern. Damit ist die Haltlosigkeit der Anklage von
Meletos hinreichend erwiesen, und es ist nicht nötig, sich weiter mit ihr zu befassen.
Und so beschließt Sokrates diesen Teil seiner Apologie und unternimmt es im Folgen-
den, sich selbst, d. h. seine Lebensweise in einem umfassenden Sinne zu verteidigen; denn
offenbar ist sie es eigentlich, die seinen Mitbürgern nicht gefällt. Warum aber wählt er
eine Lebensweise, die ihn in eine solche Gefahr bringt? Die Angst vor Gefahr, sagt Sokra-
3.1 Apologie 61
tes, darf nicht das Handeln eines Mannes bestimmen, der nur ein Weniges taugt, sondern
allein die Frage, ob das, was er tut, Recht oder Unrecht ist. Für jeden rechtschaffenen
Mann kommt es darauf an, den Platz, der ihm zukommt und den er zu Recht einnimmt,
zu behaupten, ohne dabei auf Gefahr zu achten. So habe er in den Kriegen vor Potideia,
Amphipolis und Delion den ihm zugewiesenen Platz behauptet und dabei, wie irgendein
anderer auch, der Todesgefahr widerstanden. Nun aber, wo
„der Gott mich hinstellte, wie ich es doch glaubte und annahm, damit ich in Aufsuchung
der Weisheit mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner selbst und anderer, wenn ich
da, den Tod oder irgend etwas anderes fürchtend, aus der Ordnung gewichen wäre. Arg
wäre das, und dann in Wahrheit könnte mich einer mit Recht hierher führen vor Gericht,
weil ich nicht an die Götter glaubte, wenn ich dem Orakel unfolgsam wäre und den Tod
fürchtete und mich weise dünkte, ohne es zu sein.“ (28 e/29 a)
Denn wer den Tod fürchtet, glaubt zu wissen, dass er etwas Schreckliches ist, während
tatsächlich doch niemand weiß, was er ist. Wenn er daher unter der Bedingung frei-
gesprochen würde, dass er sich von seiner ihm aufgetragenen Lebensweise lossage, wo
müsste er antworten:
„Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gott
mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach
Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zu beweisen, wen von euch ich antreffe,
mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für
Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen,
wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht (phronesis) aber
und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht, und
hierauf willst du nicht denken?“ (29 d)
In dieser Weise zu leben, entspricht nicht nur der ihm im Orakel zugewiesenen Aufgabe,
sondern es ist sein Beitrag für das Glück der Polis. Daher werde er auch von dieser
Lebensweise nicht ablassen „und müßte ich noch so oft sterben“ (30 c). Da aber seine
Tätigkeit gerade dem Wohl der Stadt dient, ist es in ihrem Interesse, ihn nicht hinzurich-
ten. Denn Athen ist wie ein großes Ross, das träge geworden ist und ab und zu den Sporn
benötigt, um nicht einzuschlafen. Nicht ihm werde daher eigentlich ein Schaden zugefügt
durch die Hinrichtung, sondern der Stadt, die einen braucht, der sie ermahnt.
In dieser Weise leiste er seinen Beitrag für das Wohl der Stadt, nicht aber dadurch,
dass er nach politischen Ämtern strebe. Denn diese auszuüben hindere ihn eine innere
Stimme, das auch von seinem Ankläger Meletos genannte und belächelte Daimonion. Er
sei jedoch sicher, dass er, wie überhaupt jeder rechtschaffene Mann, sich in der Politik
nicht hätte erhalten können. Denn bereits bei den Ämtern, die ihm zugefallen seien, sei er
in größte Schwierigkeiten geraten. So habe er, noch zur Zeit der Demokratie, der un-
rechtmäßigen Verurteilung der zehn Heerführer widerstanden, denen es in der See-
schlacht bei den Arginusen nicht gelungen war, ihre toten Kameraden zu begraben. Und
zur Zeit der Herrschaft der Dreißig habe er als einziger sich geweigert, die unrechtmäßige
Verhaftung des Leon von Salamis durchzuführen, eine Weigerung, die wahrscheinlich
62 II. Sokratische Dialoge
sein eigenes Leben gekostet hätte, wäre die Herrschaft dieser Männer nicht kurz darauf
beendet worden.
Niemandem habe er jemals etwas gegen das Recht eingeräumt, auch nicht seinen so
genannten Schülern. Denn er sei niemandes Lehrer gewesen und habe auch niemals für
Geld jemanden unterrichtet. Vielmehr führe er mit jedem, der es wolle, Gespräche. Auf
diese Weise gebe es inzwischen jedoch eine Gruppe von Jungen und Alten, die mit ihm
Umgang pflegten, und die nur von anderen als seine Schüler bezeichnet würden. Unter
den zehn bis zwölf von ihm aufgezählten Namen erwähnt er auch Platon.
Schließlich weist Sokrates darauf hin, dass er nicht den Versuch unternehmen werde,
die Richter unter Hinweis auf seine Familie um Gnade zu bitten, obgleich dies viele täten,
und seine Weigerung daher leicht als Überheblichkeit ausgelegt werden könnte. Aber der
Grund, weswegen er darauf verzichte, bestehe darin, dass er der Meinung sei, die Richter
hätten das Recht zu beurteilen und nicht zu verschenken. Die gegen ihn fälschlich er-
hobene Anklage der Gottlosigkeit bestünde ja zu Recht, wenn er den Versuch unternäh-
me, die Richter von ihrem heiligen Eid abzubringen, das Recht zu sprechen. Tatsächlich
aber glaube er an die Götter wie keiner von seinen Anklägern.
(2) Die zweite Rede hält Sokrates nach dem Schuldspruch. Über den Schuldspruch
selbst wundert er sich nicht, sondern eher, dass er so knapp ausfiel. Wenn nur dreißig
Richter anders entschieden hätten, wäre er freigesprochen worden. Welche Strafe aber
würde er sich selbst zusprechen? Seine Antwort ist: gar keine Strafe, denn die hätte nur
Sinn, wenn er sich selbst schuldigsprechen würde. Tatsächlich aber ist er der Überzeu-
gung, seinen Mitbürgern einen großen Dienst erwiesen zu haben. Und seinem Verdienst
entsprechend hält er die lebenslange Speisung im Prytaneion für angemessen (eine Ehre,
die sonst nur den Siegern bei den olympischen Spielen zuteil wird). Diese Auszeichnung
sei ihm, der nie im Leben jemandem vorsätzlich Unrecht zufügte, sondern umgekehrt
jeden anhielt, dafür zu sorgen, „wie er immer besser und vernünftiger“ werden könne,
angemessen. Welche andere Strafe käme in Betracht? Sicher keine Gefängnisstrafe unter
der jeweiligen Herrschaft der Politiker. Und für eine Geldstrafe reichten seine Mittel
nicht. Bliebe das freiwillige Exil. Aber auch das sei keine Alternative; denn wenn schon
seine Mitbürger seine Lebensweise nicht akzeptierten, würden es die Bürger anderer
Städte erst recht nicht tun. Denn sich dort still zu verhalten, bedeutete nicht nur „dem
Gotte ungehorsam sein“. Vielmehr sei er davon überzeugt,
„daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu
unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich
selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient
gelebt zu werden“ (38 a).
Seine Mitbürger hiervon zu überzeugen, fehle die Zeit. Das wäre nur möglich, wenn für
einen Prozess dieser Art mehrere Tage zur Verfügung stünden. Schließlich also: Wenn
sich die Richter mit einer Geldzahlung einverstanden erklärten, sei er dazu bereit; denn
das sei für ihn keine Strafe. Er selbst habe aber nur eine Mine, doch seien seine Freunde,
Platon und andere, bereit, für dreißig Minen zu bürgen. Die wolle er also anbieten.
(3) Nach der Verkündigung des Todesurteils wendet sich Sokrates ein letztes Mal an
seine Richter. Diejenigen, die ihn verurteilten, möchten bedenken, ob sie sich nicht dem
3.1 Apologie 63
allerdings unzutreffenden Vorwurf der Kritiker Athens aussetzten, einen weisen Mann
hingerichtet zu haben. Und dabei hätten sie nur kurze Zeit zu warten brauchen, um ihn
loszuwerden, denn er sei ja, wie jeder sehen könne, bereits in fortgerücktem Alter und
habe ohnehin nicht mehr lange zu leben. Verurteilt worden sei er, weil er darauf verzich-
tet habe, zu jammern und wehzuklagen, wie es sonst wohl üblich sei und wie es auch von
ihm erwartet wurde. Aber sich auf diese Art zu retten sei seiner unwürdig, ebenso wie es
unwürdig ist, wenn jemand im Krieg seine Waffen wegwirft und seine Verfolger um
Gnade bittet. Zu bedenken sei, dass „dies gar nicht schwer ist, ihr Athener, dem Tode zu
entgehen, aber weit schwerer, der Schlechtigkeit; denn sie läuft schneller als der Tod.“
(39 a) Im Übrigen täuschten sich diejenigen, die ihn verurteilten, wenn sie meinten,
nun keine Rechenschaft mehr über ihr Leben ablegen zu müssen; denn andere, die sich
bisher zurückhielten, jüngere Leute, würden das an seiner Stelle fortsetzen.
Schließlich aber wendet er sich an die, die für ihn gestimmt haben. Zum einen teilt er
ihnen mit, dass eigenartiger Weise ihn seine innere Stimme vor dem Gang zur Gerichts-
stätte nicht gewarnt habe, obgleich sie sonst sich sehr oft und sogar bei unbedeutenden
Ereignissen gemeldet habe. Er werte dies als ein Zeichen, dass ihm durch das Gericht
nichts Schlechtes, sondern Gutes zuteil werde. Vielleicht also sei der Tod, der ihm nun
bevorstehe, etwas Gutes.
Was also bedeutet der Tod? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ist er wie ein traum-
loser Schlaf und der ist, verglichen mit einem Schlaf, in dem wir durch Träume beunru-
higt werden, ein großer Gewinn. Oder der Verstorbene gelangt durch den Tod an einen
anderen Ort und vor das Totengericht der Unterwelt. In diesem Fall aber hätte er Gele-
genheit mit all den verstorbenen Helden vergangener Zeiten sich zu unterreden, mit
Orpheus und Musaios, mit Hesiod und Homer. Diese Aussicht sei noch beglückender.
„Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist.“ (41 a)
Welche der beiden Möglichkeiten auch zutreffe, es zeige sich, „daß es für den guten
Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode“ (41 d). Und nachdem er die Richter
bittet, seine Söhne, wenn sie erwachsen sind, mit Fragen nach der richtigen Lebensweise
ebenso zu quälen, wie er es mit ihnen getan habe, sagt er: „Jedoch, es ist Zeit, daß wir
gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem
besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.“ (42 a).
b) Zur Interpretation
(1) Hinsichtlich der in der Apologie vorliegenden Textgestalt ergeben sich zwei Fra-
gen: wann ist der Text abgefasst und inwieweit entspricht er der von Sokrates gehaltenen
Rede?
Die Einschätzungen hinsichtlich der Abfassungszeit schwanken zwischen 399 v. Chr.,
dem frühest möglichen Zeitpunkt und ca. 390 v. Chr., durch den seine Zuordnung zur
ersten Periode der platonischen Schriften gewährleistet wird. Die frühest mögliche Zu-
ordnung wird von denjenigen favorisiert, die davon ausgehen, dass das entscheidende
Ereignis im Leben von Sokrates, aber auch Platons, seinen unmittelbaren Niederschlag
gefunden hat in der schriftlichen Dokumentation der Rede, die das philosophische Ver-
mächtnis des von Platon verehrten Lehrers darstellt. Eine frühe Datierung geht daher in
der Regel mit der Überlegung einher, dass es sich bei der Apologie um den authentischen
Wortlaut der Sokratischen Rede handelt.
64 II. Sokratische Dialoge
Dagegen sind Bedenken von denjenigen erhoben worden, die den kunstvollen Aufbau
der Rede für das Ergebnis einer stilistischen und literarischen Bearbeitung halten, d. h.
für ein Werk Platons, in dem zwar die Hauptargumente von Sokrates stammen, ihre
Ausformulierung aber über das hinausgeht, was in Ausdruck und Haltung dem sokrati-
schen Selbstverständnis entspricht. Darüber hinaus wird zur Stützung der These einer
späteren Datierung oftmals darauf hingewiesen, dass der von Platon verfasste Text als
Reaktion auf eine fingierte Anklagerede (Kategoria Sokratous) zu verstehen ist, die der
Politiker und Sophist Polykrates um 394/92 v. Chr. verfasst hatte. Polykrates war mit dem
Sokrates-Ankläger Meletos befreundet und vertrat die demokratische Richtung. Der In-
halt seiner Rede lässt sich möglicherweise aus Xenophons Erinnerungen an Sokrates er-
schließen, der in den ersten beiden Kapiteln auf Vorwürfe eingeht, die von Anklägern
gegen Sokrates erhoben worden sind.
(2) Die in der Apologie auftretenden Personen sind Sokrates und Meletos, einer der
Ankläger. Die beiden anderen Ankläger Anytos und Lykon werden lediglich erwähnt.
Nicht zufällig ist, dass Sokrates gerade Meletos in ein Gespräch verwickelt, war er es doch,
der die Klage gegen Sokrates offiziell anhängig machte. Ob er selber identisch ist mit
einem Dichter gleichen Namens bleibt strittig.
(3) Für das Verständnis der Apologie ist es hilfreich, sich über den juristischen Kon-
text zu verständigen. Das Gerichtswesen in Athen unterschied zwischen einer öffent-
lichen Klage, der Staatsklage, deren Gegenstand Kapitalverbrechen waren, und der Pri-
vatklage. Nach Verlesung der Anklageschrift hatte der Angeklagte die Möglichkeit zu
einer Verteidigungsrede, wozu auch die Befragung des Anklägers gehörte. Im unmittel-
baren Anschluss daran erfolgte die Abstimmung über die Frage der Schuld durch die 501
Schöffenrichter. Um die Objektivität des Verfahrens zu sichern, wurden die Schöffen in
einem komplizierten Verfahren gelost. (Flacelière 1979, 309). Nach dem Schuldspruch
hatte der Angeklagte die Möglichkeit, sich zum Strafmaß zu äußern, das danach in einer
zweiten Abstimmung festgesetzt wurde. Ein Schlusswort des Angeklagten war zwar mög-
lich, ihm wurde aber in der Regel wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
Eine für Kapitalverbrechen häufig verhängte Strafe war die Verbannung, die für zehn
Jahre bis zu lebenslang ausgesprochen wurde. Als Todesstrafe war neben dem Gifttrank
auch der Sturz von einem hohen Felsen vorgesehen.
(4) Eine zentrale Rolle spielt in der Apologie von Sokrates das Orakel von Delphi.
Ort des Orakels war der Apollo gewidmete Tempel zu Delphi. Über seinem Eingang
befand sich der Spruch ‚Erkenne dich selbst!‘ Der Spruch wird auch einem der sogenann-
ten Sieben Weisen zugesprochen, nämlich Thales. Seine Intention war, dem Eintretenden
ins Gedächtnis zu rufen: Erkenne, dass du nur ein Mensch bist, d. h. nicht unsterblich wie
die Götter. Es war die Warnung vor Hybris, die darin zum Ausdruck kam. Indem der Satz
auf die Sterblichkeit des Menschen anspielt, formuliert er die älteste Definition des Men-
schen. Der Mensch ist im Gegensatz zu den Göttern durch Sterblichkeit charakterisiert.
Die Erkenntnis der menschlichen Sterblichkeit ist Ausdruck einer niemals völlig einge-
standenen Kränkung. Alle späteren Unsterblichkeitsbeweise der Seele von Platon bis Des-
cartes und darüber hinaus können als Versuch interpretiert werden, dieser Kränkung zu
begegnen.
Zur Sterblichkeit gehört die Endlichkeit und zu ihr die Unvollkommenheit mensch-
lichen Wissens. Die Unterscheidung göttlichen und menschlichen Wissens gehört zu den
3.1 Apologie 65
alten mythologisch variierten Topoi. Der Mensch erkennt immer nur ausschnitthaft: Die
Vergangenheit kennt er oftmals nur vom Hörensagen, die Gegenwart nur punktuell und
die Zukunft ist ihm völlig verschlossen. Das göttliche Wissen ist dagegen vollkommen. Es
überblickt simultan Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Mantik stellt den zwei-
felhaften Versuch dar, etwas von der Zukunft zu erkennen. Indem Sokrates das über ihn
eingeholte Orakel aufgreift, unternimmt er es, zum einen die Grenzziehung zwischen
menschlichem und göttlichem Wissen zu bestätigen – keinesfalls sie in Frage zu stellen
– zum anderen aber, das Spezifische des menschlichen Wissens zu bestimmen.
(5) Das spezifische menschliche Wissen, die ‚menschliche Weisheit‘ besteht in zwei-
erlei: in der Selbsterforschung und in der Sorge um den guten Zustand der Seele. Das
Motiv der Selbstforschung hat eine weit zurückliegende Tradition. Es findet sich zum
ersten Mal formuliert unter den Sprüchen Heraklits, der von sich behauptete: (¥dizhsa-
men emeauton), ‚Ich durchforschte mich selbst‘. Bereits bei Heraklit wird diese Devise in
den Kontext einer Lehre von der Seele gebracht, indem er darauf hinweist, dass die Gren-
ze der Seele nicht ausgeschritten werden könne, einen so tiefen Sinn (Logos) habe sie. Es
ist unklar, ob Sokrates diese Worte Heraklits kannte. Im platonischen Werk jedenfalls
tauchen sie nicht auf.
Nicht zu bezweifeln ist jedoch, dass Sokrates die Seele für das Wichtigste im Menschen
hielt und die Sorge um die richtige Verfassung der Seele als spezifische menschliche
Tüchtigkeit (areté). Die richtige Verfassung ist charakterisiert durch Gerechtigkeit. Da-
von zu unterscheiden sind Streben nach Reichtum und Ruhm. Indem das Streben nach
der in dieser Weise charakterisierten ‚menschlichen Weisheit‘ als die allein wichtige Tä-
tigkeit des Menschen behauptet wird, verteidigt Sokrates damit etwas, was als die phi-
losophische Lebensweise beschrieben werden kann.
(6) Die Selbstprüfung erfolgt im Gespräch. Das Gespräch umfasst drei Aspekte: die
Selbsterprobung, die Prüfung des Anderen und die Methode der Wahrheitsprüfung. In
der Prüfung des Wissens des Anderen, erweist sich das sokratische Wissen, das im Un-
terschied zu dem eingebildeten Wissen seiner Gesprächspartner in seinen einzelnen
Aspekten beschrieben werden kann. Die Überführung eines eingebildeten Wissens in
gewusstes Nichtwissen geschieht auf dem Weg einer logischen Widerlegung (elenchos).
Das wird am Beispiel der Widerlegung von Meletos exemplarisch deutlich. Der Vorwurf
der beiden Anklagepunkte wird folgendermaßen widerlegt: Zunächst veranlasst Sokrates
Meletos zu der Aussage, er, Sokrates verderbe die Jugend absichtlich. Da aber der Lehrer
der Schlechtigkeit das erste Opfer der von ihm verdorbenen Schüler wäre, kann der
Lehrer dieses nicht absichtlich wollen, ohne sich selbst zu schaden. Dass aber Sokrates
sich selbst hat schaden wollen, unterstellt auch Meletos nicht. Damit erweist sich der
Vorwurf, Sokrates könne absichtlich die Jugend verdorben haben, als logisch wider-
sprüchlich und damit widerlegt.
Ähnlich verläuft die Widerlegung hinsichtlich des zweiten Vorwurfs. Den Vorwurf,
Sokrates habe neue göttliche Wesen, Dämonen, einführen wollen, wird von Meletos im
Prozess in der Weise radikalisiert, dass er Sokrates völligen Atheismus vorwirft, ein Vor-
wurf der von dem Prozess gegen Sokrates bereits gegen Protagoras und Anaxagoras ge-
richtlich erhoben worden war. Protagoras hatte behauptet, er wisse nicht, ob es Götter
gebe, und Anaxagoras hatte erklärt, die Sonne, d. h. der Gott Helios, sei nichts als ein
glühender Stein. Die sokratische Widerlegung des Atheismusvorwurfs ist noch leichter
66 II. Sokratische Dialoge
als der der Jugendverderbnis. Wenn Sokrates nämlich die Einführung neuer göttlicher
Wesen vorgeworfen würde, diese göttlichen Wesen aber selber entweder Götter oder zu-
mindest doch von Göttern abstammend definiert werden, dann ist der Vorwurf des
Atheismus nicht haltbar.
(7) Bemerkenswert ist schließlich Sokrates’ Haltung gegenüber dem Tod. Sokrates
vertritt gegenüber der Frage des Schicksals der Seele nach dem Tod eine agnostische
Haltung, und zumindest in dieser Frage eine ähnliche Position wie Protagoras. Er erwägt
zwei Alternativen: Entweder ist der Tod ein traumloser Schlaf oder aber es gibt ein To-
tengericht, in dem die Seelen nach dem Maßstab der Gerechtigkeit gerichtet werden. In
beiden Fällen hat ein gerechter Mensch nichts zu fürchten. Bemerkenswert ist diese Hal-
tung deshalb, weil Sokrates keineswegs die These von der Unsterblichkeit der Seele ver-
tritt, noch diese für beweisbar erklärt. Die in den späteren Werken Platons mit großem
argumentativem Aufwand vorgetragenen Beweise der Unsterblichkeit der Seele finden
sich hier nicht einmal im Ansatz. Das mag als ein deutlicher Hinweis für einen Aspekt
im Frühwerk Platons verstanden werden, was den historischen vom platonischen Sokra-
tes unterscheidet. Es ist schwer vorstellbar, dass Platon Sokrates eine agnostische Position
hätte vertreten lassen, wenn diese weder seine eigene noch die des Sokrates gewesen wäre.
Gleichwohl bleibt die Unterscheidung des historischen vom platonischen Sokrates auch
dann schwierig, wenn man nicht das platonische Werk, sondern auch die anderen Quel-
len berücksichtigt.
3.2 Kriton
a) Zum Text
Der Dialog gliedert sich in drei Teile: (1) Einleitendes Gespräch zwischen Sokrates und
Kriton, (2) Argumente Kritons für die Flucht und (3) Widerlegung der Argumente und
Schluss.
(1) Kriton besucht Sokrates frühmorgens im Gefängnis und wundert sich über des-
sen ruhigen Schlaf. Er berichtet ihm nach dessen Erwachen von der bevorstehenden
Ankunft des Schiffes aus Delos und des damit verbundenen herannahenden Tages, an
dem Sokrates hingerichtet werden soll. Doch Sokrates meint, das Schiff ließe noch einen
Tag auf sich warten – das schlösse er aus einem Traum, den er in der letzten Nacht hatte.
In ihm sei ihm eine schöne, weißgekleidete Frau erschienen, die ihm gesagt habe:
„O Sokrates, möchtest du am dritten Tag in die schattige Phthia gelangen“ (44 b).
(2) Kriton möchte sich jedoch nicht länger mit dem Traum aufhalten, sondern ihn
zur möglichst unverzüglichen Flucht überreden. Er weist auf die Meinung der Leute hin,
die glauben werden, dass er, Kriton, nicht alles getan hätte, um den Freund zu retten. Und
trotz des Einwandes von Sokrates, die Meinung der Leute sei nicht so wichtig, besteht
Kriton darauf, dass aufgrund der Meinung der Leute immerhin jemandem ein großer
Schaden zugefügt werden könne. Doch auch das bezweifelt Sokrates. Denn Macht hätten
sie nur, wenn sie in der Lage wären, jemanden unvernünftig oder vernünftig zu machen,
aber gerade das könnten sie nicht. Doch Kriton gibt nicht auf. Auf keinen Fall solle
Sokrates auf die Flucht verzichten, weil er glaube, die Freunde müssten für die Flucht
ein Vermögen ausgeben; denn erstens sei gar nicht so viel Geld notwendig und zum
3.2 Kriton 67
anderen hätten sich mehrere Freunde bereiterklärt, sich daran zu beteiligen, so z. B. auch
Kebes und Simmias aus Theben. Außerdem sei bereits für einen sicheren Fluchtort in
Thessalien gesorgt. Schließlich aber betont er, Sokrates sei mit Blick auf seine Kinder, die
er bei seinem Tod als Waisen zurückließe, geradezu verpflichtet, die jetzt noch gegebene
Fluchtmöglichkeit zu ergreifen, auf sie zu verzichten dagegen ein Zeichen von Unmänn-
lichkeit. Und dann käme zu dem Unglück auch noch die Schande. Nun sei bereits ein
Punkt erreicht, an dem es keine Zeit mehr gebe, sich zu beraten, sondern zu handeln. Es
bliebe nur noch die bevorstehende Nacht, sonst sei es zu spät. Er schließt seine Rede mit
den Worten: „Also auf alle Weise, Sokrates, gehorche mir und tue ja nicht anders.“ (46 a)
(3) Sokrates entgegnet: Deine Sorge ist viel wert, wenn sie begründet ist, ansonsten
aber nur peinlich. Wir müssen sie also auf ihre Richtigkeit hin prüfen.
„Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts ande-
rem von mir gehorche als dem Satze (logos), der sich mir bei der Untersuchung als der
beste zeigt.“ (46 b)
Und er fährt fort: Im Übrigen kann ich meine bisherigen Reden nicht bloß deshalb ver-
werfen, weil ich nun selbst dieses Schicksal erleide. Zu prüfen ist also, ob es neue, bessere
Argumente gibt, die die alten Überzeugungen übertreffen und: „Ich meinesteils habe
Lust, Kriton, dies mit dir gemeinschaftlich zu untersuchen“ (46 d). Lass uns also mit
der Frage beginnen, wie die Meinung der Leute einzuschätzen ist. Ist es nicht so, dass
nur die guten Meinungen zu beachten sind und sind das nicht die der vernünftigen
Leute? Dem stimmt Kriton zu. Vernünftig aber ist der, der Sachverstand hat. In Fragen
der Gesundheit ist es der Arzt oder der Turnmeister. Und ebenso wie es nicht lohnt, mit
einem schlecht behandelten, zerrütteten Leib zu leben, so noch viel weniger, wenn das
beschädigt ist, das durch Unrecht zerrüttet ist. Die einzige zu beantwortende Frage ist
also, ob die Flucht gerecht ist. Zu prüfen ist also, ob ihre bisher gemeinsam geteilte
Überzeugung falsch ist, dass Unrechthandeln unter keinen Umständen gerechtfertigt ist.
Dazu gehört, dass auch der, dem Unrecht geschehen ist, kein Unrecht tun darf. Auch der,
der geschädigt worden ist, darf nicht wieder schädigen. All dem stimmt Kriton zu.
Die Frage ist also, ob durch Flucht die Stadt unrechtmäßig geschädigt wird. Was also
sollen wir antworten, wenn die Gesetze selbst ihm bei seiner Flucht in den Weg träten
und sagten: Durch dein Handeln zerstörst du zu deinem Teil die Gesetze und untergräbst
den ganzen Staat, wenn du als Einzelperson verabschiedete Rechtsurteile umstößt? Sollen
wir sagen: Die Stadt hat Unrecht getan und ein Fehlurteil gefällt? – Genau dies, bemerkt
Kriton.
Doch die Gesetze, so Sokrates, werden darauf hinweisen, dass sie selbst es gewesen
sind, die sein Leben und das seiner Eltern erst ermöglicht hatten, die seine Erziehung und
Versorgung ermöglicht haben, und noch weniger als es gerechtfertigt ist, sich gegen sei-
nen Vater zur Wehr zu setzen, ist es das gegenüber dem Vaterland, selbst wenn es befiehlt,
jemanden zu schlagen oder zu fesseln oder in den Krieg zu schicken. Gewalt gegen das
Vaterland ist noch weniger gerechtfertigt als gegenüber Vater und Mutter. Dem stimmt
Kriton zu.
Darüber hinaus, werden die Gesetze sagen, bemerkt Sokrates, hat es dir ja jeder Zeit
freigestanden, die Stadt zu verlassen, mit all deiner Habe und dich anderswo niederzulas-
68 II. Sokratische Dialoge
sen. Das aber hast du nicht getan, sondern im Gegenteil die Stadt, nicht einmal zu Reisen,
so gut wie nie verlassen. Du wusstest aber, wie hier Recht gesprochen wird und hast es
durch dein Bleiben gebilligt. Auch auf die Möglichkeit, auf die Gesetzgebung oder Recht-
sprechung verändernd einzuwirken, hast du verzichtet. Dein Bleiben stellt also nicht nur
eine Billigung der Gesetze dar, sondern ein Versprechen, sich an sie zu halten. Auch dem
kann Kriton nicht widersprechen.
Schließlich aber werden die Gesetze darauf hinweisen, wie es mir nach der Flucht in
einer anderen Stadt wohl ergehen mag, bemerkt Sokrates. Komme er in eine Stadt, in der
ebenfalls die Gesetze geachtet werden, wie in Theben oder Megara, werde er unglaub-
würdig sein, wenn er als jemand, der die Gesetze in seiner Heimatstadt missachtet hat,
dort über Tugend, Gerechtigkeit, Ordnung und Gesetz reden werde. Komme er aber z. B.
nach Thessalien, eine Gegend, in der die Unordnung am größten ist, werde er sich, als
alter Mann, ganz still verhalten müssen, um dort nicht selbst geschmäht zu werden:
„Kriechend also vor allen Menschen wirst du leben; und was denn tun als schmausen in
Thessalien“ (53 e). Und das alles nur aus bloßer Lebensgier. Halte er sich aber bis zu
seinem Lebensende an das Recht, dann werde er auch in der Unterwelt sich als ein
gerechter Mann verteidigen können. Im anderen Fall aber werden ihn auch die Gesetze
der Unterwelt nicht freundlich aufnehmen. Und nachdem Kriton verneint, etwas ein-
wenden zu können, bemerkt Sokrates: „Wohl denn, Kriton, so laß uns auf diese Art
handeln, da uns hierhin der Gott leitet.“ (54 d)
b) Zur Interpretation
(1) Teilnehmer des Gesprächs sind Sokrates und Kriton. Dieser ist ein wohlhabender
Mann und stammt wie Sokrates aus Alopeke. Er hat Sokrates finanziell unterstützt, ne-
ben anderen mit seinem Sohn Kritoboulos am Prozess teilgenommen und seine Bereit-
schaft für eine Beteiligung an einer Geldbuße von dreißig Minen erklärt. Auch wird seine
Gegenwart am Tag der Hinrichtung im Phaidon erwähnt. Das Gespräch findet im Staats-
gefängnis Athens statt, unweit des Gerichts. Der fiktive Zeitpunkt ist auf einen Tag im
Juni des Jahres 399 anzusetzen, 28 oder 29 Tage nach der Verurteilung (Erler 2007, 116).
(2) Einen zentralen Platz in dem Dialog nimmt die Aussage von Sokrates ein, er folge
nur dem Satz (logos), der sich ihm in der Untersuchung als der beste zeige (46 b). Damit
wird ein deutlicher Hinweis auf die Instanz gegeben, an der sich Sokrates in seinem
Denken und Handeln orientiert. Zugleich wird daran aber auch erkennbar, welche ande-
ren Orientierungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Es ist nicht die Mantik, nicht
der Mythos, nicht die tradierte Polissittlichkeit und auch nicht die Meinung der Leute.
Es ist aber auch nicht das eigene, ungeprüfte Gewissen. Der Satz (logos), an dem sich
Sokrates orientiert, ist derjenige, der sich in der Untersuchung als der beste zeigt. Die
Untersuchung aber geschieht in der Art des Dialogs, und der ist prinzipiell unabschließ-
bar. Jedes Argument gilt, solange es nicht durch ein besseres ersetzt wurde.
(3) Mit diesem Gedanken verbindet sich ein Problem. Zum einen benötigt jeder
Dialog seine eigene Zeit. Die Argumente müssen vorgetragen, verstanden und erwogen
werden. Dasselbe gilt für die Gegenargumente. Die Zeit des Gesprächs lässt sich nicht
beliebig verkürzen. Und so entsteht das Problem, dass die Zeit des Gesprächs und die des
Handelns zu einer konflikthaften Entscheidungssituation führen können. Das macht
Kriton gleich zu Beginn deutlich. Sokrates entscheidet sich trotz der Gefahr, eine der
3.2 Kriton 69
beiden Handlungsmöglichkeiten zu vernichten, für die Zeit des Gesprächs. Das erscheint
in einer Situation, in der er ohnehin die andere Alternative favorisiert, vertretbar. Im
anderen Fall bliebe es ein schwer zu lösendes Problem.
(4) Ein weiterer philosophisch bedenkenswerter Aspekt betrifft das Urteil hinsicht-
lich der Rechtmäßigkeit der Flucht. Sokrates ist auch nach dem Prozess und der in ihm
vorgetragenen Verteidigung davon überzeugt, dass die gegen ihn erhobenen Anklage-
punkte haltlos sind. Gleichwohl ist er davon überzeugt, dass eine Flucht nicht gerecht-
fertigt ist. Sein Argument, dass sein langer Aufenthalt in der Stadt das Versprechen be-
inhalte, alle Gesetze und Urteilssprüche zu akzeptieren, ist zumindest problematisch.
Denn man könnte erwidern: Ich bleibe in der Stadt im Vertrauen darauf, dass es sich
um eine Rechtsgemeinschaft handelt. Sollte aber das Recht massiv verletzt werden, be-
halte ich mir vor, die Stadt zu verlassen. Im Gegenteil, durch meine Flucht bewahre ich
die Stadt davor, ein Fehlurteil zu vollstrecken und damit ein großes Unrecht zu begehen.
So z. B. hat Jahre später Aristoteles argumentiert, als ihm aufgrund einer nach dem Tode
Alexanders in Athen einsetzenden antimakedonischen Strömung ein ähnlicher Prozess
bevorstand.
Sokrates argumentiert nicht so. Stattdessen lässt der Dialog eine andere Überlegung
wenigstens in Umrissen erkennen, die eine andere Differenzierung vornimmt. Einem
späteren Rechtsverständnis entsprechend könnte man auf den Unterschied materiellen
Rechts und einer Verfahrensgerechtigkeit hinweisen. Es ist das rechtsgeschichtlich be-
deutsame Legalitätsprinzip, das Sokrates, selbst zu seinen Ungunsten, verteidigt. Dass
das Urteil der Sache nach falsch ist, bleibt für Sokrates gewiss, aber das Urteil ist in einem
ordnungsmäßigen Verfahren zustande gekommen. Die Wahl der Schöffenrichter ist nach
den strengen Regeln des athenischen Rechts erfolgt; unsachgemäße Beeinflussungen ha-
ben nicht stattgefunden, sind jedenfalls nicht geltend gemacht worden. Daher ist ihr
Urteil zu akzeptieren. Ein Urteil, so die Argumentation von Sokrates, darf nicht von der
parteiischen Einschätzung des Angeklagten abhängig gemacht werden.
III. Dialoge über die Idee und die Seele –
Anthropologie und Ethik
a) Zum Text
Das Gespräch umfasst fünf Teile: (1) Gesprächseröffnung, (2) Gespräch mit Gorgias,
(3) Gespräch mit Polos, (4) Gespräch mit Kallikles und (5) Schluss.
(1) Sokrates trifft zusammen mit Chairephon im Hause von Kallikles ein, in dem
Gorgias soeben einen großen Vortrag gehalten hat, und so empfängt ihn Kallikles mit
den martialischen Worten: „Zum Kriege und zur Schlacht, heißt es, o Sokrates, muß man
so zurechtkommen.“ (447 a) Sokrates scheint also das Beste verpasst zu haben. Doch
Chairephon, der durch sein Verweilen auf dem Markt die Verspätung verschuldet hat,
verspricht, die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen, denn er sei mit Gorgias
befreundet, und so ist er sicher, ihn zu weiterer Rede zu veranlassen. Aber, wird er auch
bereit sein, mit uns ein Gespräch zu führen, wendet Sokrates ein. Am besten wir fragen
ihn selbst, meint Kallikles; doch ist es anzunehmen, zumal er sich bereiterklärt hat, auf
jede Frage eine Antwort zu geben. Sokrates will ihn jedoch nicht selbst befragen, sondern
Chairephon soll ihn fragen, was er sei.
Gorgias erklärt sich bereit zu antworten. Doch bevor Chairephon seine Frage vorbrin-
gen kann, mischt sich Polos ein und meint, Gorgias sei nach der langen Rede sicher
müde, und so solle Chairephon doch ihn fragen. Aber meint er wirklich, er könne so
gut antworten wie Gorgias? Das ist auch gar nicht nötig, sagt Polos, Hauptsache gut
genug für dich. Was also ist Gorgias, fragt Chairephon, wie müssen wir ihn nennen?
Anstatt aber den von Gorgias ausgeübten Beruf zu nennen, hält Polos ein Loblied auf
die Vorzüge der menschlichen Geschicklichkeit, die den Menschen dazu befähige, sein
Leben nach der Kunst – und nicht nach der Gunst – zu führen. Gorgias aber, einer der
Besten, habe sich unter allen Künsten die beste ausgewählt.
(2) Sokrates bemerkt: Dass Polos Reden halten kann, merkt man, aber die Frage hat
er nicht beantwortet. Denn gefragt war nicht, was seine Kunst wert ist, sondern was sie
überhaupt ist. Dann möge doch Sokrates Polos befragen, sagt Gorgias. Doch damit ist
Sokrates nicht einverstanden, vielmehr möchte er mit Gorgias selbst sprechen und von
ihm eine kurze und präzise Antwort haben. Dazu ist Gorgias bereit und sagt, die von ihm
beherrschte und gelehrte Kunst sei die Redekunst. Worauf bezieht sie sich? – Auf Reden,
antwortet Gorgias. – Auch über das in Rede stehende richtig zu urteilen? – Ja. – Aber
auch die Heilkunst versetzt in die Lage, über Gesundheit und Krankheit zu reden und zu
urteilen, ebenso die Tonkunst. Warum sind nicht auch diese Künste Redekünste, wendet
Sokrates ein. – Weil bei ihnen außer dem Reden auch noch Handgriffe eine Rolle spielen,
entgegnet Gorgias. – Wie aber steht es mit der Mathematik oder der Geometrie, die ihre
1. Gorgias 71
Kunst nur im Reden vollbringen? Sind diese als Redekunst zu bezeichnen? – Natürlich
nicht. – Dass es die Redekunst ausschließlich mit Reden zu tun hat, kann nicht das
Entscheidende sein. Und so fragt Sokrates, ob es einen bestimmten Inhalt gebe, auf den
sie sich beziehe. Gorgias antwortet: Ja, es sind die wichtigsten und herrlichsten Dinge
unter allen menschlichen Angelegenheiten.
Aber auch das ist Sokrates zu unbestimmt; denn jeder hält etwas anderes für das
Wichtigste: der eine die Gesundheit, der andere die Schönheit, der dritte den Reichtum.
– Doch Gorgias hält dagegen: Die Redekunst hat es tatsächlich mit dem größten Gut zu
tun, „kraft dessen die Menschen sowohl selbst frei sind als auch über andere herrschen,
jeder in seiner Stadt“ (452 d). Und nun beschreibt er die allen anderen Künsten über-
legene Rhetorik so:
„Wenn man durch Worte zu überreden imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die
Richter als in der Ratsversammlung die Ratsmänner und in der Gemeinde die Gemeinde-
männer, und so in jeder anderen Versammlung, die eine Staatsversammlung ist. Denn
hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein
Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, daß er andern erwirbt und
nicht sich selbst, sondern dir, der du verstehst, zu sprechen und die Menge zu überreden.“
(452 d/e).
Dass für Gorgias die Rhetorik die Kunst der Überredung bedeutet, ist nun hinlänglich
klar. Aber ist nur die Rhetorik dazu in der Lage? (Um diesen Einwand von Sokrates zu
verstehen, ist es nötig, darauf hinzuweisen, dass das griechische Wort für Überredung
„peijð“ lautet und die Bedeutung von ‚überzeugen‘ mit umfasst.) Unter dieser Voraus-
setzung kann man sagen, dass auch die Mathematik eine Kunst der Überredung ist, da sie
den Unterrichteten dazu bringt, die von ihr vertretenen Sätze für wahr zu halten. Und
erneut ist Gorgias gezwungen, eine Einschränkung vorzunehmen. Die Redekunst bezieht
sich auf die Überredung, die an Gerichtsstätten und Volksversammlungen vorkommt
und deren Gegenstand Recht und Unrecht ist. – Das hatte Sokrates schon selbst an-
genommen, aber um der Ordnung der Rede willen und um zu vermeiden, dass sie sich
daran „gewöhnen, halbverstehend einander das Gesagte vorwegzunehmen“, darauf be-
standen, dass Gorgias es klar aussprach.
Aber Rhetorik als Kunst der Überredung wirft weitere Fragen auf: Was bewirkt sie?
Glauben oder Erkenntnis? Und es ist doch klar, dass zwischen beiden ein Unterschied
besteht; denn zwar gibt es einen falschen, trügerischen Glauben, nicht aber eine falsche
Erkenntnis. Das räumt Gorgias ein, aber auch, dass die Redekunst nur einen Glauben
bewirkt, nicht aber Erkenntnis. Und beide sind sich einig, dass es nicht möglich ist, eine
große Volksversammlung in der kurzen Zeit, die dem Redner zur Verfügung steht, über
so wichtige Dinge wie Recht und Unrecht, zu belehren. Nun stehen in der Volksver-
sammlung aber verschiedene Fragen an: die Bestellung eines Heerführers oder eines Arz-
tes, der Bau von Mauern, Häfen und Schiffen und vieles mehr. Ist die Rhetorik auch für
diese Dinge zuständig oder nur für die Frage von Recht und Unrecht?
Nun sieht Gorgias erneut eine Gelegenheit, Sokrates von der Macht der Redekunst zu
überzeugen; denn gerade an den genannten Beispielen lasse sich zeigen, dass es nicht die
jeweiligen Fachleute seien, die eine bestimmte Entscheidung herbeiführten, sondern die
72 III. Anthropologie und Ethik
Redner. Und ihm selbst sei es oftmals gelungen, z. B. einen Kranken von der Notwendig-
keit einer Therapie zu überzeugen, nicht aber den Arzt, den er begleitete. Allerdings sei es
klar, dass gelegentlich die Schüler der Rhetorik ihre Kunst zu unrechten Zwecken ge-
brauchten, aber dann dürfe man nicht den Rhetoriklehrer schelten, der seine Kunst nur
zum rechten Gebrauch weitergebe.
Dieses Eingeständnis veranlasst Sokrates dazu, einen schwerwiegenden Einwand ge-
gen das bisherige Gespräch vorzubringen; denn er meint, Gorgias habe sich zu früher
Gesagtem in einen Widerspruch verwickelt. Aber da er Erfahrung mit Gesprächen habe,
wisse er, dass viele Gesprächspartner sehr böse auf den Nachweis eines Widerspruchs
reagierten, und deshalb möchte er wissen, wie sich Gorgias dazu verhalte. Er selbst sei
jedenfalls dankbar, wenn er auf einen Widerspruch aufmerksam gemacht werde, denn
das bedeute Befreiung von Unwissenheit. Auch Gorgias räumt ein, dass er sich gerne
belehren lasse, doch vielleicht seien die anderen Anwesenden an einem sich so in die
Länge ziehenden Gespräch nicht mehr interessiert, und man müsse auch darauf Rück-
sicht nehmen. Doch sowohl Chairephon als auch Kallikles bestürmen die beiden, ihr
Gespräch fortzusetzen, das sie mit großer Spannung verfolgt haben; und so gibt es für
Gorgias keine Möglichkeit, sich glimpflich aus der Affäre zu ziehen.
Nun aber der Widerspruch: Gorgias hatte ziemlich früh als den Gegenstand der Rhe-
torik die Gerechtigkeit genannt. Der Lehrer der Rhetorik muss also seinen Schüler über
diesen Gegenstand unterrichten. Das räumt Gorgias ein, und erstaunlicherweise auch die
weitere Folgerung, die Sokrates daraus zieht. Ebenso wie derjenige, der die Heilkunst
gelernt hat, ein Heilkundiger ist, ist derjenige, der das Gerechte gelernt hat, gerecht.
Wer das Gerechte weiß, kann von seinem Wissen ebenso wenig absehen wie der Arzt
von seinem medizinischen Wissen. Das Wissen stellt eine Seinsweise des Wissenden dar.
Und auch die nächste Konsequenz gesteht Gorgias Sokrates zu: Wer gerecht ist, der han-
delt auch gerecht. Wenn aber das Wissen von dem Gerechten den entscheidenden Gegen-
stand der Rhetorik bildet und derjenige, der das Gerechte weiß, gerecht ist und gerecht
handelt, dann kann niemand, der die Rhetorik gelernt hat, Unrecht tun. Gorgias ist
widerlegt, und damit ist das Gespräch mit ihm, abgesehen von einigen kurzen späteren
Interventionen, beendet.
(3) Nun aber mischt sich Polos ein. Gorgias habe sich nur geschämt, einzugestehen,
dass der Redner das Gerechte wissen müsse, und daher sei ‚vielleicht‘ etwas Widerspre-
chendes in seine Rede gekommen. Es sei aber ungesittet, wenn Sokrates es darauf anlege,
Gorgias in einen Widerspruch zu verwickeln und sich dann darüber zu freuen. – Sollten
wir uns geirrt haben, Gorgias und ich, entgegnet Sokrates, dann ist es ja ein Glück, wenn
ihr Jüngeren da seid, um uns zu berichtigen; doch bitte ich dich, nicht wieder mit den
langen Reden anzufangen. – Soll mir etwa nicht erlaubt sein, so viel zu reden, wie ich will,
empört sich Polos. Nun, das wäre freilich hart für dich, meint Sokrates, wo doch in Athen
die größte Redefreiheit „in ganz Hellas“ herrscht; aber dann musst du mir auch erlauben,
dir nicht mehr zuzuhören, sondern wegzugehen. Das möchte Polos allerdings nicht ris-
kieren, und so willigt er in die von Sokrates geforderte Gesprächsform ein. Aber nun
möchte er die Fragen stellen.
Was also ist deiner Meinung nach die Rhetorik, fragt er. – Meinst du, was für eine
Kunst, entgegnet Sokrates. – Ja. – Nun, sie ist gar keine Kunst, sondern eine Übung. –
Eine Übung worin? – In der Erzeugung von Lust und Wohlgefallen, erwidert Sokrates. –
1. Gorgias 73
Aber ist die Redekunst nicht etwas sehr Schönes, wenn sie imstande ist, den Menschen
gefällig zu sein, fragt Polos. Sokrates aber weist darauf hin, dass Polos nicht die Kunst des
Fragens beherrsche, die er offensichtlich für leichter hält als die des Antwortens. Denn in
der Ordnung des Fragens hat er einen Schritt übersprungen. Ungeklärt nämlich blieb die
Frage, wie sich die Übung, die die Rhetorik darstellt, von anderen Formen der Übung
unterscheide. Denn auch die Kochkunst ist eine Übung in der Erzeugung von Lust und
Wohlgefallen, und so könnte jemand behaupten, die Kochkunst und die Redekunst seien
dasselbe.
Sokrates muss also genauer ausführen, um welche Form der Übung es sich bei der
Rhetorik handelt. Und so entwickelt er folgendes Schema: Bei der Rhetorik handelt es
sich um eine Übung, die den Charakter einer Schmeichelei hat. Diese hat vier Teile: die
Kochkunst, die Putzkunst (Kosmetik), die Rhetorik und die Sophistik. Zwei von ihnen,
die Kochkunst und die Putzkunst (Kosmetik) beziehen sich auf den Leib, die beiden
anderen auf die Seele. Der Seele und dem Leib sind zwei Künste zuzuordnen; die der
Seele ist die Politik, die des Leibes hat keinen eigenen Namen. Doch lassen sich beide in
zwei Teilkünste aufteilen, die den vier genannten Formen der Schmeichelei entsprechen.
Bei der Seele ist es die Gesetzgebung und die Gerechtigkeit (Rechtssprechung), bei dem
Körper die Turnkunst und die Heilkunst. Die einen stellen im Falle einer Störung die
richtige Verfassung wieder her, nämlich Heilkunst und Rechtssprechung, die anderen
zielen auf die Erhaltung der richtigen Verfassung ab, nämlich Turnkunst und Gesetz-
gebung. So ergibt sich folgendes viergliedriges Schema:
Leib Seele
Künste Turnkunst/ Gesetzgebung/
Heilkunst Rechtssprechung
Schmeichelei Kosmetik/ Sophistik/
Kochkunst Rhetorik
Unter dieser Voraussetzung wird deutlich, dass Sokrates die Rhetorik als eine Schmeiche-
lei betrachtet und sie als ein Schattenbild der Rechtssprechung der Politik zuordnet. Der
Vergleich zu dem Verhältnis der Schmeicheleien zu den Künsten im Bereich des Leibes
macht das deutlich. Während die Turnkunst auf die tatsächliche Erhaltung der guten
Verfassung des Leibes ausgerichtet ist, täuscht die Kosmetik diese gute Verfassung nur
vor. Während die Heilkunst für den Leib die Mittel vorschreibt, die ihm tatsächlich
helfen, schmeichelt die Kochkunst nur dem Gaumen. Während die Gesetzgebung der
Seele die Gesetze auferlegt, die für das Leben in der Polis notwendig sind, schmeichelt
die Sophistik den Bürgern mit falschen politischen Ratschlägen. Und während schließlich
die Rechtssprechung durch gerechte Urteile die gestörte Rechtsordnung wiederherstellt,
versucht die Rhetorik, Unrecht als Recht erscheinen zu lassen. –
Aber werden die Redner nicht trotzdem geachtet, fragt Polos. – Nein, sagt Sokrates,
und sie haben auch keine Macht, sofern man unter Macht-Haben versteht, dass es etwas
Gutes ist für den, der darüber verfügt. Das will Polos überhaupt nicht einleuchten; denn
schließlich sind es doch die Redner, die ebenso wie die Tyrannen in der Lage sind, jeden
zu verfolgen, aus der Stadt zu verbannen oder gar zu töten; wen sie nur wollen. Aber auch
74 III. Anthropologie und Ethik
diesen Einwand lässt Sokrates nicht gelten; denn – so seine These – diese Männer tun gar
nicht, was sie wollen, sondern nur das, was ihnen gut dünkt.
Polos wird ärgerlich, so ungereimt erscheint ihm das, was Sokrates sagt. Aber dieser
macht klar, dass das, was man tut, stets um eines anderen willen geschieht, das man will.
Also gibt es einen Unterschied zwischen dem Tun und dem Wollen. Das Tun ist das
Mittel, um ein Gut zu erreichen, das der Wille anstrebt; und alles Tun geschieht um eines
gewollten Guten willen. Wenn also Redner und Tyrannen Menschen des Landes verwei-
sen oder sie gar hinrichten, dann tun sie es, weil sie es für gut halten.
Polos genügt das; aber Sokrates meint, es sei ein Unterschied, ob die Verfolgung zu
Recht geschehe. Zu beneiden sei weder der Verfolger noch der Verfolgte; aber von allen
Möglichkeiten sei für ihn das Unrechttun das Elendigste, elendiger noch als das Unrecht-
leiden. Polos aber hält nach wie vor an dem Tyrannen als seinem Vorbild fest, der ihm die
höchste Macht zu haben scheint; denn der Tyrann kann nach seinem Gutdünken und
Wohlgefallen jeden töten. Aber wenn dieses ein Zeichen von Macht wäre, wendet Sokra-
tes ein, dann müsste jeder, der aus seinem Gewand ein Messer hervorholt und auf offener
Straße einen beliebigen Menschen tötet, als mächtig gelten. Das aber meint auch Polos
nicht; denn ein solcher muss mit sehr negativen Konsequenzen für sich rechnen. Diese
Konsequenzen will er nicht; und so sind Tun nach Gutdünken und Wollen zweierlei.
Polos ist immer noch nicht überzeugt, und so weist er auf Archelaos, den Tyrannen
von Makedonien hin. Dieser hat mit List und zahlreichen Morden die Regierung an sich
gerissen. Polos ist fasziniert von dessen Erfolg und ist bereit, ihn, trotz seines höchst
ungerechten Vorgehens, nicht zu den Elendesten, wie Sokrates meint, sondern eher zu
den Glückseligsten zu rechnen. Doch Sokrates lässt sich durch die von Polos rhetorisch
groß aufgemachte Rede nicht beeindrucken. Also entgegnet er trocken: Wir müssen prü-
fen, ob ein Mensch glückselig sein kann, der ungerecht handelt. Polos also behauptet: Der
ungerecht Handelnde ist glückselig, solange er einer Bestrafung entgeht. Sokrates be-
hauptet dagegen: der Unrechttuende ist in jedem Fall elend, am elendesten aber, „wenn
ihm nicht sein Recht widerfährt und er keine Strafe erleidet“ (472 e). – Polos verlacht ihn
und meint, das würde ihm mit Sicherheit keiner abnehmen.
Das mag schon sein, gibt Sokrates zu; denn im Stimmensammeln bin ich ganz unge-
schickt, und daher versuche ich es auch gar nicht. Mir reicht es, wenn ich im Gespräch
meinen jeweiligen Gesprächspartner überzeuge. Und so lässt er sich von Polos einräu-
men, dass, obwohl er meint, das Unrechtleiden sei schlimmer als das Unrechttun, doch
das Unrechttun hässlicher sei als das Unrechtleiden. Auch Polos ist offensichtlich nicht
bereit, die von ihm zuvor beschriebenen Gewaltexzesse als etwas Schönes zu bezeichnen.
Und darüber hinaus ist er mit Sokrates ganz derselben Meinung, dass etwas schön ist im
Hinblick auf ein Gut, einen Nutzen oder eine Lust. Das bedeutet aber, dass das Häss-
liche zu bestimmen ist durch das Gegenteil, nämlich die Unlust und das Übel. Damit
aber ist seine Behauptung widerlegt: Wenn das Unrechttun hässlicher ist als das Un-
rechtleiden, dann ist es zugleich auch übler; das Gerechte erweist sich so zugleich auch
als das Schönere.
Nun geht Sokrates einen Schritt weiter: Zu jedem Tun gibt es ein Leiden; zu jedem
Schlagen ein Geschlagenwerden, zu jedem Schneiden ein Geschnittenwerden, zum Stra-
fen ein Gestraftwerden. Wenn auf diese Weise Tun und Leiden sich gegenseitig entspre-
chen, dann widerfährt demjenigen, der gestraft wird, dann ein Recht, wenn der Strafende
1. Gorgias 75
zu Recht straft. Und weiter: Wenn das Gerechte, wie von Polos zugestanden, das Schöne
ist, dann ist auch das Zurecht-gestraft-Werden etwas Schönes. Wer zu Recht gestraft
wird, erleidet also durch die Strafe etwas Schönes und damit zugleich etwas Gutes und
Nützliches; sofern nämlich, wie ja gerade Polos betonte, das Schöne das Gute und Nütz-
liche ist. Aber welchen Nutzen, welchen Vorteil hat derjenige, der bestraft wird, von der
Strafe? Er wird von einem Übel, einer Schlechtigkeit der Seele befreit, nämlich der Un-
gerechtigkeit. Einig sind sich Sokrates und Polos auch darin, dass der schlechte Zustand
der Seele noch schlimmer ist als der des Leibes. Und wenn wir schon die oft schmerzhafte
Behandlung des Arztes um der Gesundheit des Leibes willen als eine Wohltat bezeichnen,
werden wir noch eher die Befreiung der Seele von Ungerechtigkeit durch Strafe be-
fürworten.
Worin kann nun die Aufgabe der Redekunst bestehen? Wenn sie darauf aus ist, einem
Menschen etwas Gutes zu tun, wird sie ebenso, wie sie einen Kranken überredet, sich der
schmerzhaften Behandlung eines Arztes auszusetzen, ihn dazu bringen, sich im Fall eines
Unrechts der Bestrafung durch den Richter zu unterwerfen. Wenn sie dagegen darauf aus
ist, einem Menschen zu schaden, wird sie alles tun, um den Verbrecher vor gerechter
Strafe zu schützen.
(4) Dieses, dem gesunden Menschenverstand höchst paradox erscheinende Ergebnis
zu akzeptieren, ist Kallikles nicht bereit. Er mischt sich ein. Damit ist das Gespräch mit
Polos beendet, und es beginnt die letzte, erbitterte Auseinandersetzung, die zwischen
Sokrates und Kallikles. Kallikles kann nicht glauben, dass Sokrates die letzte These im
Ernst vorgebracht hat.
„Denn wenn du es ernstlich meinst und das wahr ist, was du sagst, so wäre ja wohl das
menschliche Leben unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade
Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten“ (481 c).
Aber Sokrates hat es ernst gemeint, denn es ist das Ergebnis seiner philosophischen Ein-
sicht, und ihr muss er so folgen, wie Kallikles glaubt, der Meinung des athenischen Volkes
folgen zu müssen. Während dieses aber bald dieses meine, bald jenes, sage die Philoso-
phie immer dasselbe. Soll Sokrates seine Meinung ändern, ist es notwendig, die Philoso-
phie zu widerlegen.
Das hat Kallikles auch vor, und so breitet er in einer groß angelegten Rede seine
Überzeugung über das Verhältnis von Macht und Recht aus: Zunächst einmal sei fest-
zuhalten, dass Polos dasselbe unterlaufen sei, wie zuvor schon Gorgias. Aus Scham habe
er Sokrates ein Zugeständnis gemacht, durch das er sich später in einen Widerspruch
verwickelte. Bei ihm war es das Zugeständnis, das Unrechttun sei hässlicher als das Un-
rechtleiden. Durch diese verfängliche These, die Sokrates geschickt ausgenutzt habe, weil
sie beim Volk gut ankomme, sei Polos in Schwierigkeiten gekommen. Dabei aber werde
übersehen, dass man einen Unterschied machen müsse zwischen dem, was von Natur her
schön sei und dem, was vom Volk als Gesetz festgesetzt worden sei. Und da dieser Unter-
schied nicht beachtet worden sei, habe Sokrates leicht jedes Mal, wenn vom Natürlichen
die Rede war, das Gesetzliche unterschieben können und umgekehrt.
Von Natur her aber sei das Unrechtleiden das Unschönere, was es auch tatsächlich sei,
für das Gesetz aber sei es das Unrechttun. Aber es seien eben die Schwachen und der
76 III. Anthropologie und Ethik
große Haufen, die die Gesetze machten und die zufrieden seien, wenn jeder nur das
Gleiche erhalte. Und damit würden sie verhindern, dass die kräftigeren Menschen, die
mehr für sich haben könnten, dieses auch erreichen. Die Natur aber beweise, dass es
gerecht sei, dass der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtige mehr als
der Untüchtige. Das zeige sich nicht nur im Tierreich, sondern auch in der großen Poli-
tik. Nur die Gesetze seien es, die die Kräfte der Besten unterdrückten und zähmten. Wenn
aber „einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne“ werde, dann schüttele er all
diese Fesseln ab, zertrete alle Vorschriften und widernatürlichen Gesetze und zeige uns,
wer der Herr sei. Und eben darin erkenne man das „Recht der Natur“.
So verhalte es sich in Wahrheit, und das werde Sokrates auch einsehen, sobald er
ablasse von der Philosophie; denn Philosophie sei eine gute Sache, wenn man sie in der
Jugend mit Maßen betreibe. Wenn aber jemand als Erwachsener noch daran festhalte,
dann mache sie ihn ganz untüchtig in den wichtigen Angelegenheiten eines Geschäftes
oder der Politik und führe ihn ins Verderben. Und dann gibt er Sokrates einen guten Rat:
Anstatt „versteckt in einem Winkel mit drei bis vier Knaben flüsternd“ sein Leben zuzu-
bringen, solle er als Mann öffentlich auftreten und sich um die Angelegenheiten der Stadt
kümmern. Denn sonst könne es ihm leicht passieren, dass ihn irgendjemand fälschlicher-
weise eines Verbrechens anklage und veranlasse, dass er ins Gefängnis geworfen werde.
Und wenn es diesem gar einfiele, die Todesstrafe zu fordern, so sei er auch dem hilflos
ausgeliefert.
Sokrates zeigt sich erfreut über diese Rede; denn bei einer solchen Einstellung könne
er sicher sein, dass alles, was Kallikles im Gespräch zugeben werde, wahr sei. Für die
Prüfung einer Meinung auf ihren Wahrheitsgehalt hin seien nämlich drei Tugenden not-
wendig: Einsicht, Wohlwollen und Freimütigkeit. Und im Gegensatz zu Gorgias und
Polos zeige seine Rede, dass er diese drei Fähigkeiten besitze. So müsse er nicht fürchten,
dass Kallikles aus falsch verstandener Scham seine Meinung zurückhalte, sondern werde
sich freimütig äußern. Darüber hinaus verfüge er über die wahre Einsicht und sei ihm
wohl gesonnen, wie sein guter Rat zeige. Deshalb wolle er nun noch einmal wissen, ob es
sich so verhalte, wie er zu Beginn sagte: nämlich, dass das Gerechte das der Natur gemäße
sei, dass der Würdigere sich gewaltsam das aneigne, was dem Geringeren gehöre, dass der
Bessere über den Schlechteren herrsche und schließlich, dass der Edlere mehr habe als der
Gemeine? Das bestätigt Kallikles, und ebenso, dass für ihn ‚würdiger‘ und ‚besser‘ und
‚stärker‘ dasselbe seien. Aber sind nicht die vielen von Natur stärker als jeder Einzelne,
und sind es nicht die vielen, die festsetzen, dass es gerecht sei, dass jeder das Gleiche habe
und dass Unrechttun hässlicher sei als Unrechtleiden? Und wenn das so sei, stellen dann
die von den vielen vereinbarten Gesetze nicht zugleich das Recht der Natur dar?
Aber diese Widerlegung ist für Kallikles nur eine Jagd auf Worte und „leeres Ge-
schwätz“; denn selbstverständlich habe er mit dem ‚Besser-Sein‘ das ‚Würdiger-Sein‘ ge-
meint, und auf keinen Fall sei einem Haufen von Sklaven die Gesetzgebung zuzubilligen,
bloß weil sie über größere körperliche Kräfte verfügten. Aber wer sind denn die Besseren,
fragt Sokrates, sind es vielleicht die Einsichtsvolleren? Ja, genau das habe er gemeint, sagt
Kallikles: dass nämlich der Bessere und Einsichtsvollere herrsche und mehr habe als die
Schlechteren.
Aber auch da hakt Sokrates sofort ein. Die Frage ist, was mit dem Mehrhaben gemeint
ist. Bedeutet das, dass der, der sich am besten auf die richtige Nahrung versteht, der Arzt
1. Gorgias 77
nämlich, nun auch am meisten Speisen zu sich nehmen muss, oder derjenige, der am
besten über die Herstellung von Kleidung Bescheid weiß, auch die meisten Kleider haben
muss, und ebenso der Schuster die meisten Schuhe?
Kallikles wird ärgerlich, dass Sokrates immer wieder von Schustern und Ärzten und
Köchen und anderen banalen Sachen redet, statt von den wirklich wichtigen Dingen, den
Angelegenheiten des Staates. Die in diesem Bereich einsichtsvoll und tapfer sind, meint
Kallikles, sollen die Herrscher sein und mehr haben als die Beherrschten.
Aber gehört zur Herrschaft auch, dass sich die Herrschenden selbst beherrschen, fragt
Sokrates, nämlich dass der Herrschende besonnen ist, „seiner selbst mächtig“ und die
Lüste und Begierden, die jeder in sich hat, beherrscht. Nein, diese ‚Einfältigen‘ meinte
Kallikles nicht. Im Gegenteil, das sei ja gerade ein Zeichen für das von Natur Schöne und
Rechte, dass jemand seine Begierden in sich groß werden lässt und nicht unterdrückt und
dann fähig ist, sie auch zu befriedigen. Aber weil dazu die meisten Menschen nicht in der
Lage seien, werde von ihnen die Besonnenheit und die Gerechtigkeit als Tugend dar-
gestellt. Das sei alles unmännliches, widernatürliches, leeres Geschwätz.
Sokrates lobt ihn, dass er ohne Rücksicht auf die ‚Vielen‘ so freimütig seine Überzeu-
gung äußere. Doch möchte er es noch genauer wissen. Glücklich sind also diejenigen, die
ihre Bedürfnisse groß werden lassen, um sie dann zu befriedigen; und diejenigen, die
nichts bedürfen, seien demnach auch nicht glücklich. Natürlich nicht, meint Kallikles,
denn sonst wären ja die Steine und die Toten die glückseligsten.
Dagegen entwickelt Sokrates nun eine Lehre, die er von einem ‚bedeutsamen‘ Mann
aus Italien gehört habe. Nach ihm ist unser Leib ein Grab und der Teil der Seele, in dem
die Neigungen sich befinden, sei mit einem lecken Fass zu vergleichen, in das ständig,
aber vergeblich mit einem Sieb gefüllt würde (493 a/b). Dieses Bild aber überzeugt Kalli-
kles nicht, wie Sokrates bereits vermutet, und ebenso wenig das folgende: Dieselbe ‚Schu-
le‘ verglich die besonnene Lebensweise mit einem Menschen, der über mehrere Fässer
verfügt, angefüllt mit Wein, Honig und Milch. Der Zulauf sei dürftig, aber da die Fässer
in Ordnung seien, gehe auch nichts verloren. Bei der Lebensweise eines zügellosen Men-
schen dagegen seien die Fässer morsch und leck, so dass der Mann sich Tag und Nacht
anstrengen müsse, sie zu füllen.
Nein, auch das Bild überzeugt Kallikles nicht: Ohne Abfluss gibt es keinen Zufluss,
ohne Bedürfniserregung keine Bedürfnisbefriedigung, und darauf komme es doch an.
Wenn das so ist, meint Sokrates, dann führt doch auch derjenige ein glückliches
Leben, der das Bedürfnis hat, sich zu kratzen und der sich dann auch kratzt. Kallikles
findet das Beispiel abgeschmackt, doch Sokrates meint, er solle sich ja nicht wie Gorgias
und Polos abschrecken lassen, sofern er nur an seiner These festhalte, dass das Glück in
der Erregung und Befriedigung von Bedürfnissen bestünde. Also bestätigt Kallikles auch
dieses Beispiel.
Nun treibt Sokrates die Sache auf die Spitze: Also ist auch das Leben eines Knaben-
schänders glücklich zu nennen, sofern er nur seine Bedürfnisse befriedigt. Kallikles ist
empört über dieses Beispiel, aber da er nicht bereit ist, gute und schlechte Lüste zu
unterscheiden, hält er an seiner These fest: Die Lust und das Gute sind dasselbe.
Diese These wird von Sokrates im Folgenden zu Fall gebracht. Zunächst wird darauf
hingewiesen, dass das Gute und das Böse niemals zu gleicher Zeit auftauchen. Wenn z. B.
die Krankheit, die etwas Böses ist, anwesend ist, ist die Gesundheit, die etwas Gutes ist,
78 III. Anthropologie und Ethik
nicht da – und ebenso gilt das Umgekehrte. Stets impliziert die Anwesenheit des einen die
Abwesenheit des anderen. Wie aber verhält es sich mit der Lust und der Unlust? Hat
jemand z. B. großen Durst, so ist seine Unlust groß; umso größer aber ist auch die Lust,
die ihm in dieser Situation das Trinken bereitet. In dem Maße aber, wie sein Durst ge-
löscht wird, schwindet nicht nur das Unlustgefühl, das der Durst verursacht hat, sondern
auch das Lustgefühl, das das Trinken bereitet. Im Gegensatz zum Guten und Bösen be-
deutet Anwesenheit der Lust nicht Abwesenheit der Unlust und umgekehrt, sondern
beide sind zugleich anwesend und verschwinden gemeinsam. Wenn es sich mit Lust
und Unlust aber völlig anders verhält als mit dem Guten und dem Bösen, dann können
die Lust und das Gute nicht dasselbe sein.
Nur widerwillig beugt sich Kallikles dieser Beweisführung, nicht ohne sich bei Gorgias
über die Art der Gesprächsführung von Sokrates zu beschweren, der immer nur „Kleinig-
keiten und Jämmerlichkeiten“ wissen wolle. Doch Gorgias redet ihm zu, zu antworten,
denn das Ergebnis solch einer Befragung ginge ja nicht auf seine Rechnung.
Wenn aber die Lust und das Gute sich unterscheiden, dann sei es auch einsichtig, dass
es verschiedene Bemühungen gibt, das eine oder das andere zu erreichen. So ist die Musik
und die Dichtung, auch die Tragödie, darauf ausgerichtet, Lust zu erzeugen und ein
Wohlgefallen zu erregen; und eben das versucht auch die Redekunst. Diese Versuche
lassen sich als Formen der Schmeichelei charakterisieren. Sie sind nicht auf das Gute
ausgerichtet und versuchen nicht, die Menschen besser zu machen. Kallikles gibt zu, dass
es solche Redner gibt, aber es sei doch auch denkbar, dass ein Redner wirklich auf das
Wohl der Bürger bedacht ist. Zwar weiß er unter den gegenwärtigen auch keinen zu
nennen, doch waren nicht Themistokles, Kimon, Miltiades und der erst kürzlich verstor-
bene Perikles ganz ausgezeichnete Redner? – Ja, entgegnet Sokrates, wenn du damit
meinst, dass sie in der Lage waren, die Begierden zu befriedigen, die eigenen und die
der anderen, denn besser haben sie keinen Menschen gemacht. Dem kann Kallikles nicht
widersprechen.
Aber was ist eigentlich von einer Redekunst zu erwarten, die auf das Gute ausgerichtet
wäre? Um diese Frage zu beantworten, greift Sokrates wieder auf seinen Leib-Seele-Ver-
gleich zurück. Für die Sorge um den Leib ist die Sache klar. Hier kommt es darauf an,
dass durch Turnkunst und Heilkunst die richtige Ordnung des Leibes erhalten bzw. wie-
derhergestellt wird. Entsprechendes gilt für die Seele. Die Bildungsvorschriften, die die
Ordnung der Seele erhalten bzw. wiederherstellen, sind die Gesetze, und das Ergebnis
sind Gerechtigkeit und Besonnenheit. Und ebenso wie der Arzt dem Kranken strenge
Diätregeln auferlegt, muss der Redner, der auf die Ordnung der Seele ausgerichtet ist,
sie in Zucht nehmen und strenge Gesetze anstreben. Diese Ausführungen stehen in
einem eklatanten Gegensatz zu dem Plädoyer von Kallikles, und so ist es nicht verwun-
derlich, dass er nun endgültig nicht mehr bereit ist, das Gespräch mit Sokrates fortzuset-
zen. Sokrates möge sich doch einen anderen Gesprächspartner suchen oder die Rede
alleine zu Ende führen. Dazu erklärt sich dieser bereit, jedoch ermahnt er Kallikles, sich
einzumischen, wenn etwas Unrichtiges gesagt würde.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der bisherigen Gesprächsergebnisse entwickelt
Sokrates nun seinen Gedanken der Gerechtigkeit als Ordnung der Seele. Die Gerechtig-
keit bedeutet Glückseligkeit für den Einzelnen; sie ist aber auch die Existenzbedingung
einer politischen Gemeinschaft. Um aber Gerechtigkeit im Staate durchzusetzen, ist es
1. Gorgias 79
notwendig, in ihm zu herrschen oder mit der bestehenden Gewalt Freund zu sein. Dem
stimmt Kallikles ausdrücklich zu. Um aber mit der bestehenden Gewalt sich anzufreun-
den, muss man sich ihr angleichen, und wenn diese ungerecht ist, selbst auch ungerecht
werden. Jeder aber, der sich nicht anpasst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen
rechnen.
Zwar findet es auch Kallikles empörend, dass ein rechtschaffener Bürger, der nicht
bereit ist, sich dem Unrecht des Gewaltherrschers zu fügen, verfolgt wird, doch gerade
deswegen ist die Redekunst ja das geeignete Mittel, um sich aus Gefahren zu retten und
möglichst lange zu leben. Aber das bloße Überleben ist kein erstrebenswertes Ziel, wendet
Sokrates ein; denn es reicht nicht, sich der bestehenden Gewalt nur in einem äußerlichen
Sinne anzupassen, vielmehr ist man gezwungen, in seiner ganzen Natur sich ihr anzu-
gleichen. Versteht man jedoch Politik als den Versuch, das Leben in der Polis zu verbes-
sern, dann ist es notwendig, sich selbst zu prüfen, ob man dazu in der Lage ist.
Kann Kallikles einen einzigen Menschen nennen, der durch sein politisches Wirken
besser geworden ist? Er kann es nicht; erneut weist er auf Perikles als Vorbild hin. Aber
wenn Perikles tatsächlich ein guter Politiker war, ist es nicht zu verstehen, dass am Ende
seiner Amtszeit die Athener Klage gegen ihn erhoben. Und ähnlich ist es den anderen von
Kallikles genannten Politikern ergangen: Kimon wurde aus der Stadt verwiesen, Themis-
tokles ebenso und Miltiades, der Sieger von Marathon, ist nur knapp dem Todesurteil
entkommen. Das war das Ergebnis dieser angeblich guten Politiker. Einen Aufseher über
Esel, Pferde und Rinder würde man jedenfalls nicht gut nennen, wenn diese durch dessen
Tätigkeit immer bissiger und wilder würden. Ungereimt ist es auch, wenn sich solche
Politiker über die undankbaren Bürger beklagen; denn damit verhalte es sich ebenso
wie mit Sophisten, die sich über ihre undankbaren Schüler beschweren, die ihnen den
Lohn vorenthalten. Beide bekommen nämlich nur das Ergebnis ihrer eigenen, schlechten
Tätigkeit zurück.
Nur der Politiker, der die Gerechtigkeit hervorbringt, kann erwarten, dass er selbst
seinen Verdiensten entsprechend behandelt wird. Und wenn man Politik versteht als
Bemühen um die Gerechtigkeit, dann möchte Sokrates für sich in Anspruch nehmen,
dass er sich „mit einigen wenigen anderen Athenern, damit ich nicht sage ganz allein,
mich der wahren Staatskunst befleißige“ (521 d).
(5) Wie wichtig das Bemühen um Gerechtigkeit für das Leben und über den Tod
hinaus des Menschen sei, wird von Sokrates in einem groß angelegten Mythos dargelegt.
Nach ihm trennt sich beim Tode die Seele vom Leib; der Leib behält die Verfassung, die er
zum Zeitpunkt des Todes hatte, die Seele ebenfalls. Im Totengericht wird die verdorbene
Seele verurteilt, sich in den Tartaros zu begeben, die wohlbeschaffene Seele dagegen ge-
langt auf „die Inseln der Seligen“. Dies sei nur ein Mythos – und Sokrates könne es gut
verstehen, wenn Kallikles ihn für ein Märchen halte, dagegen stehe es fest, dass es weder
Gorgias, noch Polos, noch ihm selbst, Kallikles, gelungen sei, ihn davon zu überzeugen,
dass nicht das Unrechttun das schlimmste Übel sei und dass nicht das Bemühen um
Gerechtigkeit die allein richtige Lebensweise darstelle.
b) Zur Interpretation
(1) Hinsichtlich der Entstehungszeit des Gorgias sind sich die Platon-Forscher nicht
ganz einig. Überweg-Praechter und Gigon rechnen ihn der mittleren Perioden zu; Leise-
80 III. Anthropologie und Ethik
gang den frühen, die vor Platons erster Sizilienreise entstanden sind. Aber gerade, wenn
man dieses Kriterium zugrunde legt, spricht einiges dafür, ihn der zweiten Periode zu-
zurechnen, denn der Dialog enthält einen deutlichen Hinweis auf die Lehren der Pytha-
goreer, die Platon auf seiner ersten Sizilienreise kennenlernte. Daher wird er hier der
zweiten Periode eingegliedert.
(2) Teilnehmer des Gesprächs sind Kallikles, Sokrates, Chairephon, Gorgias und Po-
los. Das Gespräch findet in dem Hause von Kallikles statt, bei dem Gorgias sich als Gast
aufhält. Kallikles und Polos sind Schüler von Gorgias, Chairephon ist Freund und Schü-
ler von Sokrates. Antike Philologen gaben dem Dialog den Untertitel Über die Beredsam-
keit. Umstürzend, und diese Kennzeichnung ist auch zutreffend, wenn man ihn auf den
ersten, Gorgias gewidmeten Teil bezieht, in dem dessen Beruf, die Rhetorik, den Aus-
gangspunkt des Gesprächs bildet. Aber obgleich Gorgias die Titelfigur darstellt, bildet das
Gespräch mit ihm den kleinsten Teil des Dialogs. Die anschließende Auseinandersetzung
mit seinen Schülern Polos und Kallikles ist nicht nur erheblich umfangreicher, sondern
geht auch einher mit einer Verlagerung der Thematik. So ist der Schwerpunkt des Dialogs
nicht mehr die Redekunst, sondern die Frage der besten Verfassung der Seele. Diese wird
als Gerechtigkeit bestimmt.
(3) Die im Gespräch mit Gorgias entwickelte These: „Derjenige, der das Gerechte
weiß, ist gerecht“ bedarf einer Erläuterung. Zunächst ist ganz unstrittig, und in anderen
Dialogen hinreichend erläutert, dass derjenige, der das Gerechte weiß, auch das Unge-
rechte weiß. So wird im Hippias II deutlich gemacht, dass derjenige, der das Wahre kennt,
auch das Falsche (die Lüge) kennt. Das Umgekehrte gilt übrigens nicht. Dagegen ließe
sich aus der These: „Wer das Gerechte weiß, ist gerecht“ der Satz ableiten: ‚Wer das
Ungerechte weiß, ist ungerecht‘ und wer beides kennt, ist weder das eine noch das andere.
Diesem Schluss entgeht man nur dadurch, dass man die im Dialog genannte Analogie
mit berücksichtigt: Derjenige, der Medizin studiert hat, ist ein Arzt. Als Arzt ist er je-
mand, der zwar weiß, was der Gesundheit förderlich als auch abträglich ist, aber er hat
sein Wissen zum Wohl der Patienten erworben. Nun könnte aber auch ein Arzt sein
Wissen missbrauchen und dem Patienten schaden, ja er kann dies sogar besonders gut.
Die Analogie zur Medizin hilft also nur dann weiter, wenn ein zusätzlicher Gedanke
eingeführt wird, der im Gespräch mit Gorgias noch nicht zur Sprache kommt. Derjenige,
der weiß, dass die Gerechtigkeit gut ist und die Ungerechtigkeit schlecht, wird stets das
Gerechte tun, denn niemand tut freiwillig etwas Schlechtes.
Die Frage ist allerdings, ob dadurch ein Determinismus (Guthrie 1971, 139) sich ein-
stelle, d. h. die Frage entsteht, ob jeder gezwungen ist, das jeweils von ihm eingesehene
Gute zu tun? Zumindest im Hippias II wird diese Konsequenz bestritten. Dort erscheint
im Gegenteil Odysseus, der Wahrheit und Lüge, das Richtige und die Täuschung kennt,
dem gradlinigen Achill überlegen. So ist auch derjenige, der vorsätzlich Unrecht tut, dem
unvorsätzlich Unrechttuenden überlegen und daher besser. Die Möglichkeit, vorsätzlich
Falsches zu sagen und Unrecht zu tun, wird also eingeräumt. Gleichwohl macht der plato-
nische Sokrates im Hippias II eine bedeutsame Einschränkung: „Wenn es einen solchen
gibt“ (Hippias II 376 b). Hinsichtlich der Frage, ob die Einsicht in das Gute das Handeln
determiniert, lässt sich im Anschluss an Hippias II sagen, das richtige Handeln folgt nicht
zwangsläufig aus dem Wissen von ihm, aber es gibt für Platon keinen Grund dafür, dass es
jemand geben könne, der sich wider besseres Wissen für das Schlechte entscheidet.
1. Gorgias 81
(4) Bemerkenswert ist im Gespräch mit Polos, dass dieser zugesteht, dass Unrechttun
hässlich sei. Da aber das Hässliche niemals erstrebenswert ist, kann das Hässliche auch
nicht gut sein. Erst Kallikles stellt diesen Zusammenhang in Frage, in dem er auf die
Hässlichkeit des Leidens aufmerksam macht. Nun sind weder Unrechttun noch Unrecht-
leiden schön; es geht also um die Frage, was von beiden hässlicher ist. Bemerkenswert ist,
dass auch Kallikles nicht die Schlussfolgerung zieht, das Unrechttun sei schön; vielmehr
bestimmt er das Recht neu, eben im Sinne des Rechts des Stärkeren. Die These, dass das
Gute auch das Schöne sei, bleibt für Sokrates, Polos und Kallikles unstrittig. Lediglich
hinsichtlich der Bestimmung des Guten unterscheiden sie sich.
(5) Sokrates vertritt die These, dass Strafe eine Wohltat sei und begründet sie damit,
dass durch die Strafe die Seele von der ihr anhaftenden Ungerechtigkeit befreit werde.
Diese These wird weder erläutert noch begründet. Sie stützt sich auf die Analogie, dass
die Ungerechtigkeit der Seele in ähnlicher Weise ein Übel zufüge wie die Krankheit dem
Körper. Und so wie der Kranke durch eine unter Umständen schmerzhafte Therapie von
einem Übel befreit wird, geschieht es bei dem Verbrecher durch Strafe. Unrechttun ist
daher als eine Art Krankheit der Seele zu interpretieren und die Strafe als eine Art The-
rapie. Nicht derjenige also erleidet ein Übel, der durch Strafe von der Krankheit seiner
Seele geheilt wird, sondern derjenige, dem diese Heilung versagt bleibt. Die Tatsache,
dass gelegentlich jemand das Bedürfnis hat, ein Geständnis abzulegen und die Vorstel-
lung, dass durch ‚Abbüßung‘ der Strafe, der Zustand der Anerkennung durch die Gesell-
schaft und für sich selbst wieder hergestellt wird, gehört in den Kontext dieses Gedan-
kens.
(6) Die von Kallikles geäußerte These vom ‚Recht des Stärkeren‘ gehört zu der von
Thrasymachos geäußerten Position. Während jedoch Thrasymachos dem Sprach-
gebrauch des Gesetzes der Polis (nomos) nicht zu widersprechen wagt, und er deshalb
seine Verherrlichung der Tyrannis als ein Plädoyer für die Ungerechtigkeit vorträgt, ist
Kallikles konsequent genug, auch mit dem gängigen Sprachgebrauch zu brechen, und
gegen das nur vereinbarte Gesetz der ‚Polis‘ das Naturrecht zu stellen. Die Beobachtung
des Überlebenskampfes in der Natur soll die Rechtsgrundlage liefern für politische Ver-
hältnisse. Dabei wird auf das Recht als eine kontrafaktische Institution verzichtet. Die
unausgesprochene These ist: So wie es immer und überall in der Natur geschieht, ist es
gut. Doch auch diese These wird von Kallikles nicht konsequent eingehalten. Vielmehr
beschwert er sich, dass „wir die Besten und Kräftigsten unter uns (…) knechtisch ein-
zwängen“ (483 e/484 a).
Daher ist es konsequent, wenn Sokrates darauf hinweist, dass die Gemeinschaft, die in
der Lage ist, ihre Vorstellung von Recht gegenüber dem Einzelnen durchzusetzen, deshalb
auch von Natur aus stärker ist. Die Inkonsequenz in der These vom Recht des Stärkeren,
beruht darauf, dass der Starke seine Stärke als Recht anerkannt haben möchte. Im Üb-
rigen aber ist jedes Naturrecht von einer Interpretation nicht nur des Rechts, sondern
auch der Natur abhängig.
Antiphon, ebenfalls ein Sophist, hat gegenüber der in der These vom Recht des
Stärkeren zum Ausdruck kommenden Position einer ungleichen Natur die natürliche
Gleichheit aller Menschen betont; „denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen
gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen“ (DK 87 B 44). Auch hier ließe sich das Na-
turrecht durch Naturbeobachtungen stützen. Da aber das, was Natur ist, interpreta-
82 III. Anthropologie und Ethik
tionsbedürftig ist, ist ein von ihr abgeleitetes Naturrecht problematisch. Die Unableit-
barkeit des Rechts aus der Natur wird in Hesiods Buch Werke und Tage damit begrün-
det, dass es zwar in der Tierwelt kein Recht gibt, da in ihr nur das Prinzip der Stärke gilt,
dem Menschen dagegen das Recht als höchstes Gut von Zeus geschenkt wird. Nach
Hesiod stellt sich der platonische Kallikles mit seiner These vom ‚Recht des Stärkeren‘
auf die Stufe der Tiere.
(7) Während noch im Dialog Protagoras das Gute als eine Lust akzeptiert wird und
lediglich das Prinzip unmittelbarer Befriedigung des Lustbedürfnisses durch eine kluge
Messtechnik der Folgenabschätzung überwunden wird, wird im Gorgias das Lustprinzip
selbst in Frage gestellt. Es ist zum einen das Bild des süchtigen, von dem Objekt seiner
Begierde abhängigen Menschen, das die Lust als Höchstes Gut zweifelhaft werden lässt.
Das von Sokrates genannte Beispiel des Knabenschänders zeigt das. Die platonische Ar-
gumentation ist subtiler, logischer. Die Struktur des Verhältnisses von Lust und Unlust
einerseits und Gut und Schlecht andererseits sind unterschiedlich, und daher können
beide nicht dasselbe sein. Der Beweis ist sehr formal gehalten und bezieht seine Strenge
gerade aus dem Formalen. Der sehr viel schwierigere Beweis, ob nämlich aus einer an-
genommenen Strukturidentität deren inhaltliche Identität geschlossen werden könnte
bzw. welche Argumente für ihren inhaltlichen Unterschied damit beigebracht werden
müssten, erübrigt sich auf diese Weise.
(8) Als Ergebnis seiner Sizilienreise darf Platons pythagoreisch inspirierte Seelenlehre
angesehen werden. Damit beginnt ein neues anthropologisches Denken, das über das in
den Sokratischen Dialogen artikulierte hinausgeht. Die in den Frühdialogen zum Aus-
druck kommende Anthropologie beinhaltete den Gedanken, dass es angebracht sei, sich
um die Seele mehr zu sorgen als um den Leib. Damit wird das Wohlergehen des Leibes
nicht grundsätzlich in Frage gestellt, er nimmt nur den zweiten Platz ein. Nun aber,
beeinflusst durch das pythagoreische Denken, wird der Leib in zunehmendem Maße
negativ beurteilt. Das Leben ist mühselig und im Anschluss an Euripides, der fragt: „Wer
weiß, ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, gestorben sein dagegen Leben?“ (492 e) und
der platonische Sokrates ergänzt, „ob wir vielleicht in der Tat tot sind. Was ich auch sonst
schon von einem der Weisen gehört habe, daß wir jetzt tot wären, und unsere Leiber
wären nur unsere Gräber“ (492 e/493 a).
Das Bild von dem Leib als dem Grab der Seele, das im Griechischen durch das Wort-
spiel „soma = sema“ seine einprägsame Formel bekommt, bildet den Hintergrund für
alle weiteren anthropologischen Aussagen Platons. Gleichzeitig aber beginnt eine Weiter-
entwicklung der Psychologie, die dazu führt, die Seele nun in unterschiedliche Teile auf-
zugliedern. Im Gorgias ist bereits von dem „Teil der Seele“ die Rede, „worin die Neigun-
gen“ sind (493 a). Es ist jedenfalls kein Zweifel, dass mit dem Dialog Gorgias ein neuer
Abschnitt im Denken Platons beginnt. Die sokratische Anthropologie und Ethik wird
nicht widerrufen, aber in bedeutsamer Weise in eine neue Richtung gelenkt und mit
neuen Akzenten versehen.
2. Menon 83
a) Zum Text
Das Gespräch gliedert sich in vier Abschnitte: (1) Das Problem der Definition der Tu-
gend, (2) die Anamnesislehre, (3) die Frage der Lehrbarkeit der Tugend und (4) abschlie-
ßende Überlegung zur Herkunft der Tugend.
(1) Menon eröffnet das Gespräch mit einer Frage, die ihn offensichtlich schon seit
langem beschäftigt:
„Kannst du mir wohl sagen, Sokrates, ob die Tugend gelehrt werden kann? Oder ob nicht
gelehrt, sondern geübt? Oder ob weder angeübt noch angelernt, sondern von Natur sie
den Menschen einwohnt, oder auf irgendeine andere Art?“ (70 a)
In seiner Antwort rühmt Sokrates dessen Land, Thessalien, das offensichtlich, seit Gor-
gias, der berühmte Redner, als Lehrer der Rhetorik aufgetreten ist, zu einem Zentrum der
Weisheit geworden sei. In Athen sei dagegen geradezu eine „Dürre an Weisheit“ einge-
treten, sodass weder er noch seine Landsleute wüssten, was überhaupt Tugend sei, und
daher auch nicht, ob sie lehrbar sei.
Menon ist über diese Unwissenheit erstaunt und fragt: Ja ist denn Gorgias nicht auch
hier gewesen, und hat er nicht auch darüber gesprochen? Aber auch da muss Sokrates
Menon enttäuschen. Er sagt: Ja, sicher war er hier, aber ich habe kein gutes Gedächtnis
und so weiß ich nicht mehr, ob Gorgias es wusste. Aber vielleicht weißt du ja, wie Gorgias
sich darüber geäußert hat, oder besser noch, da du ja sicher seiner Meinung bist, so sage
du doch selbst, was die Tugend ist. Nun, meint Menon, das ist nicht schwer zu sagen: Da
gibt es zuerst die Tugend des Mannes. Die besteht darin, dass er in der Lage ist, die
Angelegenheiten der ‚Polis‘ gut zu verwalten und dabei den Freunden zu nützen und
dem Feind zu schaden. Die Tugend der Frau besteht darin, dass sie das Haus gut ver-
waltet und dem Mann gehorcht. Die Tugend der Kinder ist davon wiederum verschieden,
und ebenso unterschiedlich sind die Tugenden der übrigen Leute, seien sie Freie oder
Knechte. Für jede Handlungsweise und jedes Alter gibt es eben eine besondere Fähigkeit
und, wenn du so willst, auch eine besondere Unfähigkeit.
Sokrates scheint begeistert. Aber es ist seine Form der Ironie, wenn er entgegnet: Da
habe ich mit dir aber besonders Glück; denn eigentlich suche ich nur eine Tugend, und
nun bietest du mir gleich einen ‚Bienenschwarm‘, einen ganzen Haufen an. Aber, um im
Bild zu bleiben, wenn ich dich etwa nach der Natur einer Biene fragte, wäre es dann
richtig, wenn du mir sagtest, es gäbe ihrer viele und sie seien unterschieden in Größe
und Schönheit oder sonst etwas? Oder müsstest du mir dann nicht sagen, worin sie
einander gleich sind? – Das gibt Menon zu. Und da es sich mit der Tugend ebenso verhält
und die verschiedenen Tugenden „doch sämtlich eine und dieselbe gewisse Gestalt (ei-
dos) haben, um derentwillen sie eben Tugenden sind“ und man eben zu ihrer Bestim-
mung auf diese Gestalt sehen muss, so sage mir doch, was die Tugend ist. Aber da ist
Menon ratlos: „Ich glaube zwar, es zu verstehen, aber doch habe ich das, wonach gefragt
ist, noch nicht so inne, wie ich wollte.“ (72 d)
Sokrates hilft ihm. Glaubst du z. B. Menon, dass die Gesundheit bei einer Frau eine
andere ist als die bei einem Mann oder dass Größe und Stärke bei ihnen etwas Unter-
84 III. Anthropologie und Ethik
schiedliches bedeuten? – Natürlich nicht, sagt Menon, aber bei der Tugend ist es vielleicht
doch etwas anderes. – Aber Sokrates lässt nicht locker: Wenn zur Tugend des Mannes die
Fähigkeit gehört, den Staat gut zu verwalten, ist dazu nicht Besonnenheit und Gerechtig-
keit notwendig? – Sicher. Und ist Besonnenheit und Gerechtigkeit nicht ebenso für die
gute Verwaltung des Hauses notwendig, die der Frau zukommt? Wenn es sich aber so
verhält, dann muss es etwas geben, das in jeder Tugend anzutreffen ist.
Und so sagt Menon: Tugend besteht darin, „daß man vermöge, über die Menschen zu
herrschen“ (73 c). Aber kann es die Tugend eines Kindes oder eines Sklaven sein zu herr-
schen? Nein, natürlich nicht. Und müsste man bei dem Herrschen nicht dazusetzen,
gerecht herrschen? – Sicher, denn Gerechtigkeit ist Tugend, meint Menon. – Die Tugend
oder eine Tugend?, erwidert Sokrates. – Eine, denn es gibt noch andere, so z. B. Tapfer-
keit, Besonnenheit, Weisheit, Großmut und andere mehr. –
Aber damit ist auf neue Weise eine Vielheit von Tugenden aufgetaucht und es ist nicht
gefunden, was die Tugend selbst ist. Und erneut muss Menon einräumen, dass er nicht
weiter weiß. Vielleicht versuchen wir es zunächst mit einem anderen Beispiel, sagt Sokra-
tes. Wenn uns jemand fragte: Was ist die Gestalt, was würdest du dann sagen? – Sag du es,
antwortet Menon. – Aber nur, wenn du mir anschließend sagst, was die Tugend ist. Das
verspricht Menon. Gestalt ist das, was überall die Farbe begleitet, sagt daraufhin Sokrates.
– Aber damit ist Menon nicht zufrieden; denn was ist, wenn der Fragende nicht weiß, was
Farbe ist.
Doch Sokrates entgegnet: Ich meine, ich habe bereits das Richtige geantwortet und
befänden wir uns in einem Streitgespräch, würde ich sagen: „Widerlege mich!“. Da wir
uns aber freundschaftlich unterhalten, antworte ich dir so: Gestalt ist die Grenze des
Körpers.
(2) Aber nun will Menon auch noch wissen, was Farbe ist. Und Sokrates spottet über
Menon, der immer nur befiehlt im Gespräch, doch dann gibt er in Anlehnung an die,
Menon von Gorgias her vertraute, empedokleische Porenlehre folgende Antwort: „Farbe
ist der dem Gesicht angemessene und wahrnehmbare Ausfluß aus den Gestalten.“ (76 d)
Und entsprechend könnte man nun auch Schall und Geruch definieren.
Menon ist begeistert; Sokrates weniger. Ihm erscheint seine Definition der Gestalt
besser als die der Farbe. Aber nun muss Menon sein Versprechen einlösen und bestim-
men, was die Tugend ist. Und so nennt er Tugend, dass man dem Schönen nachstrebt
und es herbeizuschaffen vermag.
Und denjenigen, der nach dem Schönen strebt, kann man auch als einen Streber nach
Gutem bezeichnen, ergänzt er auf die Nachfrage von Sokrates. Aber gibt es denn auch
Menschen, die das Böse begehren, fragt Sokrates. – Ja, sicher. – Sind nun diejenigen, die
das Böse begehren, der Meinung, das Böse nutze demjenigen, dem es anhaftet, oder sind
sie der Meinung, es schade. – Die einen so, die anderen so, antwortet Menon etwas unbe-
stimmt. Und du, was meinst du, insistiert Sokrates. Ich meine, das Böse schadet, ant-
wortet Menon. Kann denn jemand, der weiß, dass das Böse schadet, es dennoch begeh-
ren? – Wohl kaum, und so gesteht Menon ein: „Du scheinst recht zu haben, Sokrates, und
niemand will das Böse.“ (78 b)
Wenn aber niemand das Böse will, dann ist es nicht nötig zu sagen, Tugend sei es, das
Gute zu wollen, sondern es reicht, sie als das Vermögen zu bezeichnen, das Gute herbei-
zuschaffen. Aber was ist das Gute? Gesundheit, Reichtum, Gold und Silber, Ansehen und
2. Menon 85
Ämter im Staat? – Ja, dieses, meint Menon. Ist es nun egal, wie diese Güter herbei-
geschafft werden, oder gehört zur Tugend, dass dieser Erwerb mit Gerechtigkeit, Beson-
nenheit und Frömmigkeit geschieht und ist umgekehrt der Verzicht auf ungerechten
Erwerb nicht auch als Tugend zu bezeichnen? – Du hast recht, sagt Menon.
Nun aber zeigt es sich, dass Sokrates und Menon bei ihrem Versuch der Bestimmung
der Tugend um kein Stück weitergekommen sind. Wieder werden Teile der Tugend in
Anspruch genommen, um die Tugend selbst zu bestimmen. Nun sind es Gerechtigkeit,
Besonnenheit, Frömmigkeit. Und so scheint nichts anderes übrigzubleiben, als noch ein-
mal von vorne anzufangen. Darauf aber lässt sich Menon nicht ein, sondern sagt, er habe
es schon von anderen gehört, dass Sokrates jeden, mit dem er spricht, in Verwirrung
bringe und dass man ihn mit einem Zitterrochen vergleichen könne, der auch jedem,
der ihm zu nahe kommt, einen Schlag versetzt, der ihn erstarren lässt, und so sei es ihm
jetzt in der Begegnung mit Sokrates ergangen. Denn er habe schon ‚tausendmal‘ Reden
über die Tugend gehalten und, wie er glaube, auch gar nicht schlecht, aber nun sei er
nicht einmal in der Lage zu sagen, „was sie überhaupt ist“.
Ich weiß, sagt Sokrates, warum du dieses Bild von mir entwirfst; du möchtest, dass ich
nun auch von dir ein Bild entwerfe. Aber diesen Gefallen tue ich dir nicht, und im
Übrigen stimmt das Bild von dem Zitterrochen auch nur dann, wenn zugestanden wird,
dass derjenige, der einen anderen in Verwirrung bringt und erstarren lässt, selbst auch
verwirrt und erstarrt ist. Denn ich weiß ja auch nicht, was die Tugend ist, sondern
möchte mit dir gemeinsam danach suchen.
Aber nun glaubt Menon zu wissen, wie er Sokrates in Verlegenheit bringen kann. Wie
willst du denn dasjenige suchen, von dem du gar nicht weißt, was es ist? Und wie willst
du überhaupt wissen, dass dasjenige, was du findest, das Gesuchte ist? Das ist ein ‚streit-
süchtiger‘ Satz, antwortet Sokrates. Du meinst also, ein Mensch kann überhaupt nichts
suchen; denn hinsichtlich dessen, was er weiß, braucht er nicht zu suchen und hinsicht-
lich dessen, was er nicht weiß, kann er nicht suchen, denn er weiß nicht, was er suchen
soll. – Ist das nicht ein „schöner Satz“, fragt Menon triumphierend?
Nein, entgegnet Sokrates, aber um dir den Grund zu nennen, muss ich auf die Lehre
weiser Priester und Priesterinnen zurückgreifen; aber auch Pindar und andere Dichter
sagen Ähnliches:
„Sie sagen nämlich, die Seele des Menschen sei unsterblich, so daß sie jetzt zwar ende, was
man sterben nennt, und jetzt wieder werde, untergehe aber niemals. Und deshalb müsse
man aufs heiligste sein Leben verbringen.“ (81 b)
Da aber die Seele alles, was es gibt, bereits in der Unterwelt erblickt hat, so kommt es
darauf an, sich dessen wieder zu erinnern. Und dieses Wiedererinnern nennen wir ler-
nen. Darum muss man sich bemühen und nicht ermüden im Suchen; und deshalb ist die
von dir aufgestellte These auch falsch, dass man nicht suchen könne, was man nicht weiß.
Sie würde uns nur träge machen und ist etwas für weichliche Menschen, während die
Lehre von der Wiedererinnerung uns zur Forschung und zum Lernen ermuntert.
Kannst du mir auf irgendeine Weise zeigen, dass es sich so verhält, wie du sagst,
entgegnet Menon. – Ja, rufe mir irgendeinen Knaben aus deinem Gefolge, der hellenisch
spricht. Und nun zeichnet Sokrates ein Quadrat und lässt sich von dem Knaben bestäti-
86 III. Anthropologie und Ethik
gen, dass in ihm alle vier Seiten gleich sind und auch die beiden, die durch die Mitte
gehen. Wenn jede Seite des Quadrats zwei Fuß lang ist, so ist der Inhalt vier Fuß, wie der
Knabe ausrechnet. Gibt es ein Quadrat, das den doppelten Flächeninhalt hat, fragt So-
krates, und wie groß ist es? Acht Fuß meint der Knabe. – Siehst du, Menon, dass ich den
Knaben nichts lehre und er selbst auf dem Weg ist, die Lösung zu suchen? Das räumt
Menon ein. Wie lang ist nun die Seite dieses verdoppelten Quadrats, fragt Sokrates den
Knaben. – Zweimal so groß, antwortet dieser. Die vom Knaben vorgeschlagene Lösung ist
allerdings falsch, denn das von ihm genannte Quadrat ist viermal so groß wie das erste.
Es sollte aber nur doppelt so groß sein. Die gesuchte neue Seite muss also kleiner als vier
Fuß sein und größer als zwei, und so meint der Knabe, die neue Seite sei drei Fuß lang.
Aber auch diese Antwort ist falsch; denn der Inhalt dieses Quadrats ist neun Fuß; nicht
aber acht. Nun weiß der Knabe nicht mehr weiter und gerade diese Aporie, meint Sokra-
tes gegenüber Menon, ist ein Gewinn an Wissen; Denn nun weiß er, dass seine ursprüng-
liche Meinung falsch war. – Aber betrachte dieses Quadrat, sagt Sokrates zu dem Knaben,
das als Seitenlinie die Linie hat, die schräg durch das erste läuft, und er fügt hinzu: Die
Gelehrten nennen diese Linie Diagonale. Und nun leuchtet dem Knaben sofort ein, dass
das auf ihr errichtete Quadrat doppelt so groß ist wie das erste.
Menon ist durch dieses Lehrstück, das in der durch Fragen hervorgerufenen Erinne-
rung zu bestehen scheint, überzeugt. Und Sokrates meint, dass auf diese Weise der Knabe
auch mit den übrigen Kenntnissen der Geometrie „und mit allen anderen Wissenschaf-
ten“ (85 e) verfahren könne. Wichtiger ist für Sokrates die Überlegung, dass der Knabe
zu einer Einsicht gekommen ist, die niemand ihn gelehrt hat und die daher als eine
Erinnerung der Seele an ein Wissen zu verstehen ist, das sie schon vor ihrer Geburt hatte.
Aber wenn man das annimmt, dann ist nicht nur erklärt, dass das Lernen als ein Wieder-
erinnern zu interpretieren ist, sondern dass die Seele unsterblich ist. Menon ist von
diesem Gedanken fasziniert. Aber Sokrates macht sogleich wieder Abstriche und sagt:
Ob dieser Gedanke daraus folgt, möchte ich nicht gerade behaupten; sicher aber ist, dass
wir besser werden und weniger träge, wenn wir versuchen, das zu finden, was wir nicht
wissen. Davon ist nun auch Menon überzeugt, und so ist er bereit, mit Sokrates weiter
danach zu suchen, was wohl die Tugend ist.
(3) Noch mehr jedoch interessiert ihn die Fr