Remigius Bunia
Realismus ist – so Kendall L. Walton – nach wie vor ein Ungeheuer, das
verzweifelt darauf wartet, dass seine vielen Köpfe entwirrt werden:1 das
Phänomen des Realismus zu beschreiben, bleibt eine Herausforderung. Es
werden drei Phänomene mit dem Begriff Realismus bezeichnet: Realismus
als ›Epoche‹, Realismus als ›Detailliertheit der Darstellung‹ (darunter fällt
Barthes’ effet de réel) sowie schließlich Realismus als ›Ähnlichkeit zwischen
fiktiver und realer Welt‹. Zu Klärung letzteren Begriffs sollen die folgenden
Überlegungen beitragen, und im Folgenden soll nur noch diese ›Ähnlichkeit‹
als Realismus bezeichnet werden.2
Weil im naiven Verständnis völlig evident ist, wann eine Darstellung am
ehesten der Realität entspricht, und weil auf Anhieb nicht klar zu sein scheint,
welche Relevanz eine Theorie des Realismus für die Literaturinterpretation
haben könnte, ist das Thema sehr vernachlässigt worden. Der hier vorgestellte
Versuch einer weiteren Klärung will nicht allein etwas zur Diskussion beitra-
gen, indem er eine Umgewichtung bisheriger Argumentation vornimmt –
denn diese ist nur geringfügig –, sondern er interessiert sich schließlich für die
Frage, welcher Gewinn aus Literaturtheorie überhaupt zu ziehen ist. Selbst
wenn die durchgeführte Umgewichtung klein ist, betrifft sie jedoch das Fun-
dament des allgemeinen Verständnisses von Literatur und Fiktion. Insofern
mag gestattet sein, die hier skizzierte theoretische Option vorzustellen.
Der Begriff der Fiktion mit all seinen Implikationen kommt unweigerlich
ins Spiel, wenn Realismus Gegenstand der Forschung wird. Eine Erklärung
der Möglichkeit von größerer oder geringerer Ähnlichkeit zwischen fiktiver
und realer Welt ist bereits schwierig, weil sie sich mit zweierlei auseinander-
setzen muss: fiktive und reale Welten einerseits sind völlig voneinander
abgeschottet, andererseits konstruieren sich fiktive Welten stets mehr oder
minder am Vorbild der realen Welt,3 und die reale Welt kann überdies
Anregungen aus der fiktiven Welt nehmen. Kurz gesagt: Undurchlässigkeit
und Durchlässigkeit der Grenze zwischen einer fiktiven und der realen Welt
sind beide gleichermaßen stets gegeben.
Die Romane Jahrestage von Uwe Johnson4 und Abfall für alle von
Rainald Goetz5 unternehmen den Versuch, als realistische Romane6 zudem
ihren Realismus zu reflektieren, indem sie das Verhältnis zwischen ihrer
jeweiligen fiktiven Welt und der realen Welt zu charakterisieren bemüht
sind. Viele Gemeinsamkeiten dieser Romane ließen sich nennen, die ihre
Juxtaposition über ihren Anspruch an Realismus hinaus rechtfertigen wür-
den. Realismus wird von beiden Texten angestrebt in gleichem Maße (doch
auf unterschiedliche Weise) und nachgerade rekonzeptualisiert, indem Ge-
fährdungen der Wirklichkeitskonstitution und der Weltkonstitution durch
Erzählen einkalkuliert werden. Die Frage lautet demnach: Wie kann Erzäh-
len, das fiktional ist, realistisch sein? Wie kann fiktionales Erzählen überhaupt
Beschreibung der Wirklichkeit sein, obwohl es die Beschreibung (und Er-
zeugung) einer fiktiven Welt ist?7 Abfall für alle ist ein extrem selbstreflexi-
3 Ich komme auf die Frage zurück, in welchem Sinne und weshalb von der realen
Welt gesprochen werden darf.
4 Es wird mit der Sigle »Jt Seitenzahl« aus der folgenden Ausgabe zitiert: Johnson,
Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Frankfurt a.M. 2000
(1970, 1971, 1973, 1983).
5 Es wird mit der Sigle »Afa Seitenzahl« aus der folgenden Ausgabe zitiert: Goetz,
Rainald: Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M. 21999. (Die erste
Auflage ist auch von 1999.) Da der Paratext »Roman eines Jahres« lautet, ist die
Einordnung ›Roman‹ möglicherweise eine illegitime Setzung; gewissermaßen mar-
kiert sie aber den Ausgangspunkt: im Folgenden wird der Text als Roman gelesen.
6 Für Abfall für alle liegt diese Vermutung sehr nahe. Auch für die Jahrestage
scheint fast unumstritten, dass es sich um einen realistischen Roman handele, wenn
auch die Auffassungen divergieren, was darunter zu verstehen sei. Vgl. zu dieser
Einschätzung Schulz, Beatrice: Lektüren von Jahrestagen. Studien zu einer Poetik
der »Jahrestage« von Uwe Johnson, Tübingen 1995, S. 198. Gegen die Einschät-
zung wendet sich Christoph Brecht mit Verweis auf die durch das Datum gegebene
Ordnung. Brecht, Christoph: »›You could say it was done with mirrors‹. Erzählen
und Erzähltes in Uwe Johnsons Jahrestagen«, in: Johnson-Jahrbuch 1 (1994),
S. 95–126, hier S. 109.
7 Die Frage hat Käte Hamburger, gleichfalls Effekte der Narrativität und Fiktionali-
tät beschreibend, in zutreffender Zurückweisung jeder Als-ob-Theorie so gestellt:
»Worauf beruht es, daß wir eine noch so realistisch-portraitähnlich gemalte Person
nicht als fiktive Person, doch jede noch so surrealistisch gestaltete Dramen- oder
Romanfigur als solche bezeichnen?« Hamburger, Käte: »Noch einmal: Vom Er-
zählen«, in: Euphorion 59 (1965) S. 46–71, hier S. 63; die Frage findet sich auch in
136 Remigius Bunia
ver Text und formuliert explizit Thesen über Fiktion und Erzählen. Diese
Thesen zeichnet ein außerordentliches Problembewusstsein aus, ohne dass
sie selbst begriffliche Anregungen lieferten. Dennoch lassen sich einige
Passagen insbesondere des Romans Abfall für alle als Ausgangspunkt wäh-
len.
Das Fiktive meiner Perspektive: ich behandle alle Figuren, die egal wo im weiten
Rund des medialen Theatrums auftreten, wie echte Menschen, völlig unvermittelt.
Das ist natürlich Irrsinn, Unsinn, oder zumindest eine groteske Übertreibung. Es ist
andererseits eben eine Hypothese, die ich teste, es ist ein Ultrarealismus des Media-
len. (Afa S. 655)
Das Fiktive liegt nicht allein darin, Figuren »wie echte Menschen« zu behan-
deln. Denn die meisten homodiegetischen Erzähler fiktionaler Texte verhal-
ten sich so, als träfen sie auf »echte Menschen«. Darstellung lädt zudem dazu
ein, mit einem Roman so umzugehen, als seien innerhalb seiner Welt die
handelnden Personen »echte Menschen«. Wenn man so will, ist das ein
Charakteristikum jedes Erzählens oder jeder Fiktion.8 Entscheidend ist viel-
mehr, dass Personen »völlig unvermittelt«, das heißt ohne weitere Erläute-
rung oder Ankündigung, genauer ohne Motivation,9 erscheinen und ver-
schwinden, wie dies in der realen Welt meist auch der Fall ist. Zum Eindruck
der Unmittelbarkeit trägt bei, dass die Tagebucheinträge jeden Tag gleichsam
augenblicklich im Netz veröffentlicht werden. Diese Augenblicklichkeit kann
allerdings – darauf wird zurückzukommen sein – nur auf den Zeitpunkt der
Niederschrift und seine durch Erzählen suggerierte Nähe zu den beschriebe-
nen Ereignissen bezogen werden. Unmittelbarkeit wird somit technisch ver-
mittelt: erzähltechnisch und ›internettechnisch‹.10 Hinweise auf die Willkür
dieses Verfahrens, auf die nicht notwendige Übereinstimmung mit der Reali-
tät werden nur vorsichtig gegeben. So heißt es in der Druckfassung für den
»4.2.98«: »hatte gerade geschrieben diesen Faxbrief an Regina« (Afa S. 13).
späteren Auflagen ihrer Logik der Dichtung. In Waltons Begrifflichkeit (die damit
einen völlig anderen Fokus hat) ist ein Portrait freilich fiktional.
8 So erklärt Kenneth Walton Fiktion als Spiel, bei dem die Teilnehmer aufgrund von
Anregungen – hier also ein Text – fiktional Zugriff auf die Menschen des Romans
haben, vgl. Walton (wie Anm. 1), S. 12 und S. 52.
9 Vgl. für die Präzisierung des Begriffs Martínez, Matías: Doppelte Welten. Struktur
und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen/Zürich 1996, insbes. S. 15–27.
10 »Im Netz, so scheint es, braucht die ›Aktualität des Momentanen‹ nicht erst
(gewaltsam) herbeigeschrieben werden, denn vermeintlich stellt das Netz sie immer
und überall bereit. […] Es ist vor allen Dingen stets (in der) Echtzeit.« Binczek,
Natalie: »›Wo also ist der Ort des Textes?‹ – Rainald Goetz’ Abfall für alle«, in: P.
Gendolla/N. M. Schmitz/I. Schneider/P. M. Spangenberg (Hgg.): Formen interak-
tiver Medienkunst. Geschichte Tendenzen, Utopien, Frankfurt a.M. 2001, S. 291–
318, hier S. 297.
Überlegungen zum Begriff des Realismus 137
14 Zum Verhältnis von Narrativität und Fiktionalität mit Blick auf Grenzfälle vgl.
Martínez, Matías/Scheffel, Michael: »Narratology and the Theory of Fiction. Re-
marks on a Complex Relationship«, in: Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Hgg.):
What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory,
Berlin/New York 2003, S. 221–237.
15 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 218.
– Realität verhandelt Luhmann sehr viel grundsätzlicher in ders.: Die Kunst der
Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, vgl. insbes. S. 222–242, 455–458, 503f.
16 Der Grundgedanke ist freilich seit Kant bekannt.
Überlegungen zum Begriff des Realismus 139
17 Fiktionstheorie, die diese Grundprämisse und eine schlicht gegebene Realität für
evidente Tatsachen hält, kann auf fremde Theorieangebote dann auch nur mit
wüsten Beschimpfungen reagieren: Lamarque, Peter/Haugom Olsen, Stein: Truth,
Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford 1994, passim. – Über
den Begriff der Referenzialisierbarkeit Fiktion zu definieren, ist ebenfalls proble-
matisch, doch ist dies bereits hinlänglich in der Forschung diskutiert. Der Vor-
schlag findet sich bei Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische
Theorie der Literatur, Stuttgart (Bad Cannstatt) 1975, S. 28.
18 Gewissermaßen ist das der Einsatzpunkt der Theorie von George Spencer Brown,
die Luhmann wertvolle Anregungen gegeben haben. Da die Mathematik aber strikt
logisch operiert, ist fraglich, wie sein Kalkül ihr nützen kann.
19 Auch lässt sich ihr Verhältnis nicht durch Syllogismen bestimmen, wie Wolff, ohne
im Übrigen zu behaupten, alle Sätze seien assertorisch, in Wiederbelebung des
Systems der Syllogismen versucht (Wolff, Michael: Abhandlungen über die Prinzi-
pien der Logik, Frankfurt a.M. 2004, S. 30). Wolffs Rehabilitierung der Aristoteli-
schen Syllogistik stellt aber sogar für assertorische Sätze in Frage, ob alles über die
Logik nach Frege beschrieben werden kann. Er fragt in seinem Schlusswort (ebd.,
S. 287): »Wie konnte es trotzdem dazu kommen, dass die Neuerungen Freges von
der Fachwelt geradezu einhellig so aufgenommen worden sind, als handele es sich
um eine Umwälzung innerhalb der deduktiven Logik und nicht um ihre Erweiterung
durch ein spezielles, gleichwohl großes und für die Mathematik außerordentlich
wichtiges Gebiet der Theorie des inhaltlichen deduktiven Schließens?«
20 An dieser Stelle hat genau die Fiktionstheorie Waltons ihre entscheidenden Schwä-
chen. In der einschlägigen Diskussion (nicht nur bei Walton) findet sich kontrovers
diskutiert, wie es sein kann, dass man ein Schiff auf oder in einem Bild sieht,
obschon dort kein Schiff (sondern nur ein Bild) ist. Waltons und anderer analyti-
sche Herangehensweise stoßen dann regelmäßig an die Grenzen ihrer Theoriebil-
dung; dass ein Schiff auf einem Bild irgendwie einem Schiff in der Realität ähnlich
ist, können sie nicht erklären oder auch nur handhaben. Walton muss zu der
Annahme greifen, man tue nur so, als seien sie gleich. »This frees us from the
supposition that his demonstrative [pronoun] actually picks anything out, or even
that there is anything to which he pretends to refer. He only pretends that there is
something which he refers to and calls a ship.« Walton (wie Anm. 1), S. 219
(Hervorhebung von Walton). Diese Formulierung mag man hinnehmen, doch die
Frage bleibt, wieso einige Farbtupfer ein solches Verhalten erlauben?
140 Remigius Bunia
bringen sein können, ist es diese Unterscheidung zwischen realer und semioti-
scher Realität, die »der Welt erst ihre Härte, ihre Schicksalhaftigkeit, auch ihre
Unzulänglichkeit verleiht«.21 So ist zu verstehen, dass Luhmann formuliert,
dass Realität »nicht mehr als Widerstand der Außenwelt gegen Zugriffe des
Erkennens und Handelns, sondern als Widerstand von Systemoperationen ge-
gen Systemoperationen im selben System«22 verstanden werden sollte. Für die
Zwecke der vorliegenden Analyse ist eine andere Formulierung handlicher,
weil so auf den Systembegriff ganz verzichtet werden kann, der hier nicht
gebraucht wird. Die Notwendigkeit zur Abstimmung der Beobachtungen kann
zu der Formulierung führen, dass Realität das Ergebnis von »Konsistenzprüfun-
gen«23 ist.24 Konsistenz bezeichnet die Vereinbarkeit von Beobachtungen; doch
wie Konsistenzprüfungen erzielt werden, ist der Beobachtung nicht zugäng-
lich.25 Damit bildet der Begriff der Konsistenz einen weiteren Fluchtpunkt
neben dem Begriff der Unterscheidung bzw. der Form, um die grundlegenden
Operationen der Wirklichkeitskonstitution beschreiben zu können, ohne ihre
Voraussetzungen zu kennen.
Realität wird stets so operationalisiert, dass sie als die Realität, als die
Wirklichkeit, als die reale Welt auftritt. Nur wenige der gegenwärtigen Se-
mantiken erlauben, die Unterscheidung real/nicht-real nicht bei Anschlüssen
mitzuführen. Dies gilt, obwohl spätestens seit Kant der Gedanke vertraut ist,
dass zwar mit dieser Unterscheidung Ordnung erzeugt wird, etwas Reales
aber keineswegs mit dem Ding ›an sich‹ gleichzusetzen ist. Es hat sich
inzwischen eine Schere aufgetan zwischen der einen Beschreibung von Reali-
tät, die fokussiert, dass jeder Beobachter von nur einer unitären Realität
Damit ist die Vielfalt des Realismus so unbegrenzt, wie die Möglichkeiten zur
Beobachtung der Welt mannigfaltig sind:
Die vielen Gesichter der Realität: so viele Formen realistischen Erzählens, realitäts-
orientierten Schreibens. Die Undogmatisierbarkeit speziell dieses poetologischen Pro-
gramms, die antiformale Methode seiner Formfindung. Jedesmal, bei jedem Thema,
für jeden Gegenstand schaut Realismus anders aus. (Afa S. 787)
Die im vorangehenden Abschnitt eingenommene Position unterscheidet sich
im Ergebnis zunächst wenig von anderen Modellen des Realismus, gerät aber
nicht in ihre Kohärenzschwächen, die sich aus der ungeeigneten epistemolo-
gischen Basis ergeben. Stephan Kohls Monographie,28 die vielleicht nach wie
vor wichtigste Arbeit zum Realismus, laviert, am Ende sich in kleinere
Widersprüche verwickelnd, zwischen »der historischen Relativität des
Wirklichkeitsverständnisses«29 auf der einen Seite und der Qualität größerer
»Wirklichkeitsnähe«30 des Realismus auf der anderen Seite. Texte mit satiri-
schen Zügen sind oft in ihrer Handlung wenig realistisch (so Karl Philipp
Moritz’ Andreas Hartknopf), obwohl Ereignisträger und Setting völlig realis-
tisch beschrieben sind. Umgekehrt haben Texte wie George Orwells 1984
einen sehr spezifischen Realismus – der zu ihrer Unheimlichkeit beisteuert –,
weil die Unterscheidungen, die den Text durchziehen, als diejenigen der
Angst vor einem totalitären Regime bekannt sind. Was aber »Wirklichkeits-
nähe« nun ist, wird bei Kohl letztlich nicht ganz klar, weil er das Verhältnis
von Kunst und Wirklichkeit, wie er beide Seiten nennt, nur mittels eines
Begriffs von Wahrheit fassen kann. In der Kunst können dann wahre oder
falsche Aussagen über die Wirklichkeit vorliegen. Doch liegen in 1984 Aus-
sagen vor, auch noch wahre oder falsche? Die geopolitische Lage in der Welt
von 1984 hat nie der realen Realität entsprochen, doch drei Blöcke – den
Westen, den Osten und China – geopolitisch zu unterscheiden, ist auch für die
Zeit des Kalten Krieges möglich, womit die Staaten in Orwells Roman ein
realistisches Bild der Lage zeichnen. Die Konsequenz ist, dass Realismus –
graduell unterschieden – letztlich in geringem Grad jedem erzählenden Text
zu unterstellen ist.
Trotzdem sind fiktive und reale Welt leicht und ohne Anschlussschwie-
rigkeiten zu unterscheiden. So ließe sich die »kategoriale Verschiedenheit
von Kunst und Wirklichkeit«31 bei Kohl differenztheoretisch reformulieren.
Die Idee des hier vorgeschlagenen Ansatzes besteht darin, Wirklichkeitsver-
32 Auf diese Weise ist richtig zu sagen: »there are no spatiotemporal relations at all
between things that belong to different worlds.« (Lewis, David On the Plurality of
Worlds, Oxford/New York 1986, S. 2.) Zu einer Definition von Welt vgl. ebd.
S. 230. Lewis’ Konzept scheitert an der eigenen Rigidität, vgl. dazu Tadié, Alexis:
»La fiction et ses usages. Analyse pragmatique du concept de fiction«, in: Poétique
113 (1998) S. 111–125, hier S. 116.
33 Zum Verhältnis der Konzepte fiktiver und möglicher Welten (mit Verteidigung des
letzteren Begriffs) vgl. Ronen, Ruth: Possible worlds in literary theory, Cam-
bridge 1994, insbes. S. 21–24.
34 Für eine Übersicht vgl. Zipfel (wie Anm. 2), S. 82–90.
35 Wenn Theorieanlagen sich auf analytische Philosophie stützen, wählen sie folgen-
de Voraussetzung, wie Pierre Ouellet scharfsinnig unter Kenntnisnahme vieler
Unzulänglichkeiten erkennt, ohne selbst einen Ausweg zu weisen: »as world said
to be real or possible is a logical world, one possessing a propositional structure of
the type defined for the discursive universe of science, for example, according to a
logical-empirical epistemology.« Ouellet, Pierre: »The Perception of Fictional
Worlds«, in: C.-A. Mihailescu/W. Hamarneh (Hgg.): Fiction Updated. Theories of
Fictionality, Narratology, and Poetics, Toronto/Buffalo 1996, S. 76–90, hier S. 80.
36 Dabei sind diese ›Bereiche‹ wiederum Unterscheidungen. Dass Fiktion eine Unter-
scheidung ist, die Unterscheidungen unterscheidbar macht, wird dabei beiläufig
klar.
37 Vgl. Cohn, Dorrit: »Signposts of Fictionality«,in: Poetics Today 11 (1990) S. 775–
804. Zipfel (wie Anm. 2) greift Cohns Gedanken auf.
38 Vgl. Genette, Gérard: Fiction et diction, Paris 1990, S. 78–88.
144 Remigius Bunia
Falle von Fiktion die Beobachtungen auf etwas angewandt werden, das nicht
den Konsistenzerfordernissen der realen Welt entsprechen muss: nämlich die
fiktive Welt.39
In beiden hier diskutierten Romanen wird die Unterscheidung zwi-
schen fiktiver und realer Welt programmatisch durch den Eintritt des Autors
in das Erzählte seines Erzählers gefährdet. Abfall für alle ist ein Beispiel für
Autofiktion:40 der Verfasser des Textes, der Autor Rainald Goetz ist derje-
nige, der – als ›Held‹ – im Roman ich sagt und dessen Leben allem An-
schein nach völlig übereinstimmt mit dem Leben des wirklichen Rainald
Goetz (beide schreiben die gleichen Bücher, veröffentlichen im selben
Verlag etc.). Eine andere, ebenfalls prekäre Situation liegt bei den Jahresta-
gen vor. Der Schriftsteller Uwe Johnson erscheint in diesem Roman des
Schriftstellers Uwe Johnson (Jt S. 288–232).41 Zwischen dem Goetz bezie-
hungsweise Johnson im Roman und außerhalb des Romans zu differenzie-
ren, ist notwendig, wenn man voraussetzt, dass sie Romane sind. Dann
müssen Autor und Erzähler unterschieden werden, da die Äußerungen in
einem Roman nicht blindlings dem Autor zugerechnet werden dürfen. Ein
Problem liegt aber darin, dass die Texte dennoch behaupten, Figur, Autor
und eventuell auch Erzähler seien identisch. »Wer erzählt hier eigentlich,
Gesine?« (Jt S. 231) Eine Lösung dieses Problems kann nicht sein, zwi-
schen Johnson+ und Johnson* zu unterscheiden, indem beispielsweise der
Asterisk die wirkliche Person und das Pluszeichen die Romanfigur kenn-
zeichnen würde. Denn eine solche Unterscheidung unterschlüge ja genau,
dass – trotz der Fiktion – ein Roman realistische Aussagen über seinen
Autor treffen kann – selbst wenn diese Aussagen vielleicht in der Realität
schlicht falsch sind.42 Ähnlich kann ein Roman Aussagen über Napoléon
treffen, die falsch sind, aber sich trotzdem auf den wirklichen Napoléon der
39 Schreibt jemand dagegen seine Autobiografie nieder, so erzählt er oder sie vielleicht,
aber die niedergelegten Beobachtungen müssen mit der Realität verträglich sein;
sind sie es nicht, fällt dies auf die Verfasser der Autobiografie zurück: sie haben
gelogen, unterliegen einer Selbsttäuschung, haben Erinnerungslücken etc. Autobi-
ografien würden eine intensivere Auseinandersetzung einfordern.
40 Autofiktion liegt vor, wenn Autor und Hauptfigur sowie Erzähler und Hauptfigur
identisch sind, damit auch Erzähler und Autor als eine Person zu identifizieren
wären, letztere Gleichsetzung allerdings nicht gestattet ist, vgl. Genette: Fiction
(wie Anm. 38), S. 86f. Vgl. ferner Darrieussecq, Marie: »L’autofiction, un genre
pas sérieux«, in: Poétique 27 (1996) S. 369–380. Genette befragt in seiner jüngsten
Arbeit die Nützlichkeit des Begriffs angesichts der Grundsätzlichkeit des Phäno-
mens wieder, vgl. Genette, Gérard: Métalepse, Paris 2004, S. 104.
41 Beide Romane führen die Technik keineswegs ein. Genannt sei nur Jean Paul.
42 Der Formengebrauch kann realistisch sein (»sie hat rote Haare«), obwohl die
Beobachtung mit der realen Realität inkonsistent wäre (»sie hat in Wirklichkeit
schwarze Haare«).
Überlegungen zum Begriff des Realismus 145
Geschichte der realen Welt beziehen lassen, obwohl sie dem fiktiven Napo-
léon des Romans gelten.43
Nun kann es sein, dass die Beobachtungen einer fiktiven Welt durchaus
auch geeignete Beobachtungen der realen Welt sein können, ohne dass sie es
müssen: dann ist die fiktive Welt realistisch. Wenn praktisch alle Beobach-
tungen der fiktiven Welt als Beobachtungen der realen Welt gesehen werden
mögen, liegt eine extreme Variante des Realismus vor. Als Bezeichnung
dafür ist Goetz’ Vorschlag geeignet: fast völlig realitätskonformer Realismus
ist Ultrarealismus.
43 Zur Fiktivität der Romanfigur Napoléon vgl. exemplarisch Walton (wie Anm. 1),
S. 74.
44 Bei Johnson und Goetz findet sich das Problembewusstsein dafür, dass »the
historical account endows this reality with form and thereby makes it desirable,
imposing upon its processes the formal coherency that only stories possess.«
White, Hayden: »The Value of Narrativity in the Representation of Reality«, in:
W. J. T. Mitchell (Hg.): On Narrative, Chicago/London 1981, S. 1–23, hier S. 19.
Soweit wird White hier zugestimmt; White sieht jedoch nicht, dass ›unmittelbar
erfahrene Realität‹ (nicht nur vergangene) ebenfalls geordnet werden muss: »Does
the world really present itself to perception in the form of well-made stories, with
central subjects, proper beginnings, middles, and ends, and a coherence that
permits us to see ›the end‹ in every beginning?« (ebd., S. 23.) Nein, sicher nicht,
doch können wir die Wahrnehmung, die der Beobachtung vorangeht, nicht beob-
achten; und im Falle von Chronologie muss immer Interpolation zur Ordnung
beitragen.
45 Vgl. Fludernik, Monika: »Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiati-
ons«, in: Jörg Helbig (Hgg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert.
Fs. Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, S. 85–103, hier S. 93, zu Hayden White auch
S. 89.
146 Remigius Bunia
46 »In der Wahrnehmung (über die wir jetzt, wenn es gelingt, kommunizieren) wird
Unterschiedenes, obwohl unterschieden, als Einheit erfaßt.« (Luhmann, Niklas:
Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 20.) Psychischen Sys-
temen steht Wahrnehmung zur Verfügung, doch kann man sie nur im Medium des
Sinns anschlussfähig machen. Unbenommen ist, dass man beispielsweise bei sexu-
ellen Handlungen trotz intensiver Wahrnehmung ganz auf das Medium Sinn ver-
zichten kann; muss man danach etwas über die eigenen Wahrnehmungen Auskunft
geben, kann man in der Regel wenig Sinnvolles sagen.
Überlegungen zum Begriff des Realismus 147
47 Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft (wie Anm. 15), S. 227f. Zu einer konträren
Behauptung vgl. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft (wie Anm. 46), S. 20.
48 So erklären sich die wenigen anti-anti-narrativen, motivierten Erzählzusammen-
hänge in Abfall für alle. Ein Beispiel: der Führerschein ist wegen Drogenkonsums
weg (Afa S. 95), ein zusätzliches nachträgliches Bußgeld wegen einer roten Ampel
wird erhoben (Afa S. 541), der Erzähler sucht eine Fahrschule (Afa S. 709), hofft
auf ein baldiges Ende (Afa S. 761), nimmt Fahrstunden und wird schließlich zum
rücksichtsvollen Autofahrer: er »müßte zukünftig als Autofahrer von meinem
früheren Fun-Ding […] zur Vernunftsfraktion überwechseln« (Afa S. 851).
49 Zur Aufforderung zu »prüfen« vgl. Steiner, Uwe: »Das ›Handwerk‹ des Erzählens
in Uwe Johnsons Jahrestagen«, in: Poetica 32 (2000) S. 167–202, hier S. 196.
148 Remigius Bunia
50 Schumacher, Eckard: »From the garbage, into The Book. Medien, Abfall, Litera-
tur«, in: Jochen Bonz (Hgg.): Sound Signatures. Pop-Splitter, Frankfurt a.M. 2001,
S. 119–213, hier S. 205f. Das Problem liegt auch in der Tagebuchform begründet,
vgl. Cohn, Dorrit: Transparent Minds, Princeton 1978, S. 209.
51 Vgl. hierzu ausführlicher Steiner (wie Anm. 49), S. 169. Vgl. zum Prüfen auch
erneut ebd. S. 196.
Überlegungen zum Begriff des Realismus 149
58 In diesem Sinne ist Dirk Sangmeister zuzustimmen, wenn er mit Bezug auf den
Wiedereintritt von einem »Flackern zwischen Fakten und Fiktionen« und von
»ontologischen Oszillationen« spricht. Sangmeister, Dirk: »Das Flackern zwi-
schen Fakten und Fiktionen. Uwe Johnsons ›Jahrestage‹ und Raymond Federmans
›Double or Nothing‹: eine Grenzziehung zwischen Moderne und Postmoderne«,
in: Carsten Gansel/Nicolai Riedel (Hgg.): Uwe Johnson zwischen Moderne und
Postmoderne, S. 201–215, hier S. 209.
59 »Nachzutragen sind an die zwei Stunden Flug« (Jt S. 1703): Indirekt drückt Gesine
damit aus, dass nur das, was nicht in dem Augenblick gesagt wird, nur das, was
nicht im vorliegenden Buch steht, noch nachzutragen ist. Und nachgetragen wird
es nicht: wir erfahren nichts von dem versprochenen Anruf aus Prag.
60 Vgl. Genette, Gérard: »Discours du récit«, in: ders.: Figures III, Paris 1972,
S. 244f. Zu beachten ist hierzu auch Genette: Métalepse (wie Anm. 40).
Überlegungen zum Begriff des Realismus 151
folgende Satz im Roman lautet: »So hatte Mrs. Cresspahl noch nie über Mrs.
Carpenter gelacht« (Jt S. 1270).61 Erzählen und Erzähltes fallen in eins.
Beide Romane sind zwei der wichtigsten Auseinandersetzungen mit
Realismus im späten zwanzigsten Jahrhundert, die insbesondere den Zeitas-
pekt von Fiktion berücksichtigen. Realismus zu thematisieren, heißt auch, das
Gewicht der gegenseitigen Einflussnahme von fiktiver und realer Welt in der
Kunst zu untersuchen. Die Frage, wie Kunst dies überhaupt leisten kann, wird
dadurch beantwortet, dass in gewissem Sinne die Übertragbarkeit von Unter-
scheidungen konstatiert wird. Nicht realistischer Unterscheidungsgebrauch
kommentiert – beispielsweise als Gegenentwurf – ebenfalls die reale Welt.
Bemerkenswert ist, dass eine Charakterisierung der Fiktion über Luhmanns
Beobachtungsbegriff, wenn man so sagen darf, weniger theoriegeleiteten
Lektüren entgegenkommt und sie theoretisch rechtfertigt. Denn sie arbeiten,
wenn sie gelungen sind, heraus, welche Beobachtungen von der realen auf die
fiktive Ebene und umgekehrt ›übersetzt‹62 werden können. Ansätze, die dies
nicht leisten, leiden eventuell unter einer ›Anwendungsferne‹, die gelegent-
lich allerdings – auf unfaire Weise – gerade jedem theoretischen Zugriff
unterstellt wird. Ein Verständnis von Fiktion ist jedoch vielleicht gerade für
›die Praxis‹, für das Verhältnis zwischen der Beschreibung in der Kunst und
derjenigen der Realität von zumindest einiger Wichtigkeit.
Summary
Among the different notions of realism, there are only few attempts to elucidate the
seemingly simple idea of a proximity or similitude between reality and fictionality. At
first glance, this idea is so utterly clear that there seems to be no need to discuss the
phenomenon. As the concepts of reality and fictionality, however, have thoroughly
changed in the past decades, realism turns out to have a complexity of its own. This
paper attempts to describe this proximity in terms of difference theory as offered
mainly by Niklas Luhmann’s works. The aim is to show that realism cannot be
described if one considers things, characters, or settings, i.e. entities, but if one looks
at the schemes structuring the perception of the world. The novels Abfall für alle by
Rainald Goetz and Jahrestage by Uwe Johnson, two of the most important late 20th
century texts that deal with the question of what can be said about reality, not only
help to elucidate the concept of realism, but also unfold intricate problems related to
it. Abfall für alle, on the one hand, points out that isochronous story-telling widens the
gap between fiction and reality although the novel could be considered realistic due to
its imitation of real-time experience; and Jahrestage, on the other hand, shows that
the past can only be described by means of schemes which are available solely in the
moment the operation is performed. Insights into the nature of realism might therefore
contribute to the explication of narrativity and fictionality themselves insofar as
narrativity always produces effects similar to those of fictionality. After all, the
analysis of realism might prove to be crucial to the understanding of fiction and
fictionality.