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Die Stadt ist für alle da - brand eins online https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/20...
• Ständig Ärger. Nico Schnur seufzt. Im autonom geführten Lokal an der Rigaer
Straße 78 lehnt er sich im Sperrmüllsessel zurück und dreht sich eine Zigarette.
Ein junger Mann im Strickpulli mit rotem Sowjetstern auf der Brust bereitet das
Abendessen für die Hausgemeinschaft vor. Seit Monaten patrouillieren
Mannschaftswagen durchs Viertel. Polizisten in Kampfmontur kontrollieren
Ausweise. Zweimal stürmten Hundertschaften das inzwischen berühmt
gewordene besetzte Haus Nr. 94 in der Rigaer Straße und räumten das
Erdgeschoss. Und gestern stand ein knappes Dutzend Polizisten sogar bei ihnen
auf der Matte.
Sie drohten, das Haus „von oben bis unten zu durchkämmen“ – weil sie einen
Verdächtigen suchten. Nico Schnur schnaubt. Als wären sie illegale Besetzer. Er
und seine rund 50 Mitbewohner sind seit Jahren Gesellschafter einer ordentlichen
GmbH. Ihnen gehört das Haus.
Nach der Wende haben Leute wie Nico Schnur im Ostteil der Stadt mehr als
hundert verlassene Häuser besetzt und instandgesetzt. Von kommunalen
Wohnungsgesellschaften bekamen sie günstige Verträge. Dann fiel Investoren die
Nähe der Gründerzeitbauten zur Stadtmitte auf, sie machten sie schick. Seitdem
ziehen Besserverdienende ein, Mieten steigen, teilweise enorm. Doch die
ehemaligen Besetzer aus der linksautonomen Szene wollen nicht weichen und
rufen zur Gegenwehr. Der Innensenator antwortet mit Razzien und Räumung.
Von den Dächern fliegen Steine und Feuerwerksraketen, nachts brennen Autos.
Eigentlich ist die Entwicklung und Bereitstellung von günstigem Wohnraum Teil
der Daseinsvorsorge, also eine Aufgabe des Staates. Doch der hat in den
vergangenen Jahren einen erheblichen Teil dieser Verantwortung versilbert. Um
Schulden abzutragen, haben Bund, Länder und Kommunen seit der
Jahrtausendwende brachliegende Grundstücke und leer stehende Gebäude in
guter bis bester Lage sowie ein Fünftel ihres Wohnungsbestands – bundesweit
rund 600 000 Wohnungen – privatisiert. Allein in Berlin kamen fast 140 000 auf
den freien Markt. Gering verdienende Mieter müssen früher oder später
ausziehen.
Denn die neuen Eigentümer wollen, dass sich das investierte Kapital rentiert. Sie
sparen an der Verwaltung, sanieren aufwendig, wandeln Miet- in
Eigentumswohnungen um oder verkaufen Grundstücke und Häuser
gewinnbringend weiter. In der Folge steigen die Preise. In Frankfurt, Hamburg,
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Stuttgart und München verteuerte sich Bauland zwischen 2010 und 2014 um 25
bis 59 Prozent. Die Mieten stiegen beispielsweise in Hamburg innerhalb der
vergangenen fünf Jahre um 26 Prozent, in Berlin gar um 45 Prozent.
Nico Schnur hat diese Entwicklung kommen sehen. Er ist 54, Physiker –
„experimentelle, nicht theoretische Physik: Ich weiß, wie man Elektrik verlegt“ –
und hat sein halbes Leben für selbstbestimmtes Wohnen gekämpft. Er ist heilfroh,
dass er sich um sein eigenes Dach über dem Kopf nicht mehr sorgen muss. Die
Rigaer Straße 78 ist gerettet. Nicht nur er und seine Mitbewohner, auch deren
Nachfolger werden hier günstig wohnen können, bis ins 22. Jahrhundert. Dank
der Stiftung Edith Maryon.
Das Haus in der Rigaer Straße 78 hat die Stiftung vor acht Jahren von einem
privaten Investor erworben und mit den Bewohnern einen Erbbaurechtsvertrag
für 99 Jahre geschlossen.
Der Clou beim Erbbaurecht: Es räumt den Hausbewohnern fast so viele Rechte
ein wie einem Eigentümer. Das funktioniert durch eine rechtliche Besonderheit:
die Trennung von Haus und Boden. Die Stiftung bleibt also Eigentümerin des
Bodens, verkauft aber das Haus an eine GmbH, zu der sich die Bewohner
formiert haben. Die GmbH darf das Haus auf eigene Kosten umbauen und
bewirtschaften und die Einnahmen daraus behalten. Für das Grundstück zahlt sie
einen jährlichen Erbbauzins an die Stiftung, rund fünf Prozent der Kaufsumme.
Umgerechnet auf einen Bewohner in der Rigaer Straße 78 bedeutet das: Für ein
25 Quadratmeter großes Zimmer zahlt er an die Haus-GmbH monatlich rund
240 Euro warm inklusive Nutzung aller Gemeinschaftsflächen wie Küche, Bad,
Werkstatt, Waschküche und Aufenthaltsräume. Dieser Preis bleibt über die
gesamten 99 Jahre des Vertrags stabil, er wird lediglich der Inflationsrate
angepasst. Eine Oase im hippen und immer teureren Friedrichshain.
Die Stiftung Edith Maryon will laut Satzung soziale Wohn- und Arbeitsformen
ermöglichen, die „der Gesellschaft dienen“. Dazu zählen selbstverwaltete
Initiativen wie die in der Rigaer Straße, WGs von Behinderten und
Nichtbehinderten, Biobauernhöfe und – das jüngste Projekt – die Bebauung eines
17 000 Quadratmeter großen innerstädtischen Areals. In Zusammenarbeit mit
Anwohnern soll im kommenden Jahr auf dem ehemaligen Gelände der Kindl-
Brauerei in Berlin-Neukölln ein Wohnheim für Künstler, Wissenschaftler und
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„Was wir machen, würden im Idealfall die Kommunen tun“, sagt Ulrich Kriese,
Projektentwickler bei der Stiftung Edith Maryon. Mit einer Bilanzsumme von 176
Millionen Schweizer Franken gilt sie als eine der vermögendsten Einrichtungen
dieser Art in Europa. Angefangen hat man mit ein paar Tausend.
Ende der Achtzigerjahre treffen sich in Basel junge Leute zu einem Lesekreis, um
„Kernpunkte der sozialen Frage“ zu diskutieren, eine Vortragsreihe des
Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner aus dem Jahr 1919. Boden, heißt es
da, sei natürliche Lebensgrundlage. Anders als eine Ware werde er nicht
produziert, darum dürfe er auch nicht wie eine Ware gehandelt werden. Einer der
Teilnehmer ist Christoph Langscheid, Immobilienkaufmann. „Irgendwann fragten
wir uns: Was können wir davon umsetzen?“ Er und zwei Mitstreiter werfen ihre
Ersparnisse zusammen und beschließen, eine Stiftung zu gründen. Sie soll Edith
Maryon heißen, wie die englische Bildhauerin und enge Mitarbeiterin von Rudolf
Steiner. Doch die zuständige Stiftungsaufsicht genehmigt den Antrag nicht: Mit
12 000 Franken könnten sie ihre hochgesteckten Stiftungsziele nicht
verwirklichen.
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„Bei der Aussicht auf Eigentum entwickeln sich Fantasien von Profit, Rendite und
Altersabsicherung“, sagt Les Schliesser, Künstler und Gesellschafter von
ExRotaprint, einem Vertragspartner der Schweizer in Berlin-Wedding. Jahrelang
haben er und seine Partnerin, die Künstlerin Daniela Brahm, um eine ehemalige
Druckmaschinenfabrik gerungen. Ein 10 000 Quadratmeter großes Areal mit
mehrgeschossigen Gewerbebauten aus der Gründerzeit, Bauhaus-artigen
Fünfzigerjahre-Türmen und flachen Montagehallen um einen weiträumigen Hof.
Sie hätten sich ihre Mühe vergolden lassen können – das Gelände ist inzwischen
das Zehnfache der Kaufsumme von vor neun Jahren wert. Doch es siegte ihre
Zuneigung zum alten Arbeiterbezirk Wedding.
Was die beiden auf die Beine gestellt haben, zeigt beispielhaft, wie sich eine
gemeinschaftliche Idee von Stadt gegen Profitinteressen durchsetzen lässt.
Was wurde hier produziert?, fragen sie sich. Wer hat die Türme gebaut? Warum
hat die Fabrik zugemacht? Was soll aus dem Gelände werden? Sie recherchieren
und stellen fest: Diese gottverlassene Ecke war einmal ein Zentrum der Moderne.
Die Firma Rotaprint stellte hier in den Zwanzigerjahren die ersten sogenannten
Kleinoffsetdruckmaschinen der Welt her. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit
Spielautomaten der Sorte einarmiger Bandit und wurden weithin exportiert. Die
Maschinen spuckten Broschüren, Arbeitsunterlagen und Flugblätter aus. Ihre
Umrisse inspirierten den Architekten, der die avantgardistischen Türme für das
Firmengelände entwarf. Sie sollten optimistisch in die Zukunft weisen. Doch der
Fortschritt setzte dem Geschäft ein Ende. In den Siebziger- und Achtzigerjahren
verdrängten Fotokopierer und PC-Drucker den Kleinoffsetdruck. 1989 kam die
Insolvenz. Über 700 Menschen verloren ihre Arbeit.
Brahm und Schliesser entwickeln ein Gefühl für die Stimmung, die an diesem Ort
herrschte. Sie verfassen Texte und ein Buch über die vergessenen Architekten der
Türme. Sie sehen auch, wie Investoren den Nachbarbezirk Mitte verändern, und
fürchten: „Bald wird Geld die Ecken und Kanten auch in diesem Kiez
glattbügeln.“ Dagegen stemmen sie sich.
2003 bietet der Senat das Rotaprint-Gelände zum Verkauf an, zusammen mit
Hunderten weiterer Immobilien in einem Liegenschaftsfonds. Die Maxime lautet,
wie zu jener Zeit in vielen hoch verschuldeten Kommunen: Geld her, so viel und
so schnell wie möglich. Im einstigen Weddinger Industriekomplex verschwindet
der Hausmeister, kaputte Scheiben werden nicht mehr repariert, Mülleimer
brennen, Mieter ziehen aus, neue Verträge sind kaum noch zu bekommen. „Mehr
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oder weniger aus Notwehr“ mischen sich Brahm und Schliesser in die Verwaltung
ein. Sie sprechen Interessierte an, „die über den Hof schleichen“. Zum Beispiel
kurdische Lehrer, die Deutschunterricht geben wollen. Toll, sagen die Künstler
und helfen bei der Anmietung.
2005 kommt ihnen die Idee, den Laden ganz zu übernehmen. Sie gründen einen
Verein und entwickeln ein ungewöhnliches Konzept: Der Hof soll den Wedding
widerspiegeln, eine Mischung aus alteingesessenen Berlinern, Migranten und
Kleingewerbetreibenden. In einem Drittel der Räume, so die Idee, sollen
Handwerksbetriebe einziehen, ein Drittel ist für soziale Fördereinrichtungen
reserviert und der Rest für Kreative. Doch der Liegenschaftsfonds lehnt ab: zu
kompliziert. 2006 wollen isländische Investoren 45 Immobilien im Paket kaufen.
Genau das, worauf der Senat wartet. Doch sie bieten insgesamt zu wenig, das
Geschäft platzt.
Jetzt laufen Schliesser und Brahm zur Höchstform auf. Sie nutzen ihre ureigenen
Fähigkeiten. „Künstler sind Unternehmer“, sagt Brahm. „Wir haben Kontakte
zum Feuilleton, zur Politik und zu bürgerlichen Kreisen. Wir werden eingeladen.“
Schon immer kreisten ihre Gemälde, Videos, Texte und Installationen um die
Frage: Wem gehört die Stadt? Was bedeutet Zusammenleben? Ihr neuestes
Kunstwerk formt die Wirklichkeit. Die Presse berichtet wohlwollend über ihr
Vorhaben.
Als gemeinnützige ExRotaprint GmbH bieten sie dem Senat 600 000 Euro.
Diesmal klappt es. Jubel – und die entscheidende Frage: Wie können wir das
Konzept für die Zukunft sichern? „Mit zehn Gesellschaftern hätten wir den
Kaufpreis auch privat, von Familie, Bekannten und Banken beschaffen können“,
sagt Schliesser. „Aber wir misstrauten uns. Vielleicht hätte der eine oder andere
irgendwann Profit aus der Immobilie ziehen wollen.“
Auf dem Hof arbeiten heute Elektriker und Schreiner, es gibt eine Sprachschule
von Migranten für Migranten, eine Werksschule für Schulschwänzer, einen
Siebdrucker, einen Comicverlag, Musiker, Designer und etliche Kulturschaffende.
Die Mieten liegen zwischen 3,00 und 4,80 Euro pro Quadratmeter. Mittags
besuchen Brahm und Schliesser die farbenfrohe Kantine, die von einem Designer
betrieben wird. Sie nehmen sich Zeit für Plaudereien mit Mietern, die sie dort
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oder auf dem Hof treffen. Sie wirken wie junge Herbergseltern, die ihren Laden
zusammenhalten wollen. Was nicht einfach ist, es gibt Spannungen. „Der
Künstler hat gern Ruhe, der Gewerbetreibende eine Kreissäge und die
Schulschwänzerschule Jugendliche, die sich rumschubsen“, sagt Les Schliesser.
Manche halten das nicht aus. Wie der Architekt, der nicht wollte, dass seine
Kunden „durch einen Pulk rauchender Roma“ laufen mussten. Er habe auch
schon mal Leute angebrüllt, sagt Schliesser. „Einige sehen nur ihren eigenen
Kosmos.“
Er war Banker. Zwölf Jahre hatte er für die GLS Gemeinschaftsbank in Bochum
gearbeitet, bevor er 2002 die Stiftung Trias mitgründete. Wie die Schweizer
Kollegen fördern sie gemeinschaftlich organisiertes Wohnen, möglichst mit
ökologischem Anspruch. Der Klassiker seien Mehrgenerationenhäuser, sagt
Novy-Huy. Er selbst wohnt in einem. Dort helfe man der Nachbarin, die einen
schweren Fahrradunfall hatte, oder „passe mal eben auf die kleine Ida auf“,
während die Mutter einkaufen geht.
Insgesamt hat Trias 30 Projekte unter Vertrag. Fast täglich rufen Interessierte an,
um eine Idee vorzustellen. Falls die Stiftung sie für passend und finanzierbar hält,
übernimmt sie in der Regel – ExRotaprint war eine Ausnahme – ein Drittel des
Kaufpreises. Ein weiteres Drittel vergibt sie als Kredit, den Rest muss die Gruppe
selbstständig auftreiben. „Bei der jetzigen Zinslage wäre es günstiger, bei einer
normalen Bank einen Kredit aufzunehmen“, sagt Novy-Huy. Zumal eine Bank
nicht über die Kreditsumme hinaus Zahlungen für ein ganzes Jahrhundert
verlangt.
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Die Bewohner können mit ihrem Haus machen, was sie wollen, nur eines nicht:
verkaufen. Das würde das Syndikat mit seinem Gesellschafteranteil verhindern.
Die Idee weckt international Interesse, es kommen Anfragen aus den
Niederlanden, Frankreich, Spanien oder Österreich.
Bei der Finanzierung solcher Projekte sind die Schweizer führend. Die
Bilanzsumme der Stiftung Edith Maryon übertrifft die von Trias um das
Zehnfache. Daneben haben die Schweizer noch fünf weitere kleine Stiftungen
gegründet. Einerseits verfügen viele Schweizer über beträchtliche Vermögen, von
denen sie gern etwas abgeben. Zudem spielt die Tradition der Allmende dort eine
große Rolle. Seit dem Mittelalter nutzen eidgenössische Bauern gemeinschaftlich
Weiden und Wälder. Nun ziehen die Städter nach. Im Kanton Basel-Stadt und in
der Gemeinde Emmen haben kürzlich Volksinitiativen durchgesetzt, dass
städtischer Grund und Boden nicht mehr veräußert werden darf. In Luzern
werden für dasselbe Ziel Unterschriften gesammelt.
„Eine Stadt muss offen sein für Arm und Reich, Gebildet und Ungebildet“, sagt
Les Schliesser von ExRotaprint. Abgrenzen sei keine Lösung. „Sonst fliegt uns
irgendwann alles um die Ohren.“ Die punktuellen Initiativen der Stiftungen und
des Syndikats allein können die Spekulationswelle nicht aufhalten. Im Gegenteil:
Die positive Ausstrahlung solcher Projekte wertet die Umgebung auf und befeuert
die Preisentwicklung.
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