IN: Herr Mai, heute leben wir ganz selbstverständlichmit so modernen Dingen wie
Handys, Computern und Kreditkarten. Können Sie sich noch erinnern, wie das in
Ihrer Kindheit war?
Volker Mai: Das gab es damals natürlich alles noch nicht. Meine Eltern hatten noch
nicht einmal ein Telefon. Das bekamen wir erst 1960.Da war ich schon elf Jahre
alt. Jedenfalls weiß ich noch, dass ein Telefon damals für mich ein technisches
Wunder war. Und wir hatten, wie die meisten Familien,auch keinen Fernsehappa-
rat. Aber wir brauchten nur zu unseren Nachbarn zu gehen, weil die schon einen
Fernseher hatten. Es wurde zur Gewohnheit, dass wir fast jeden Samstagabend
dort waren. Damals gab es nur ein Programm und das war schwarz-weiß. Aber
trotzdem war ein Fernsehabend etwas ganz Besonderes. Man saß auf dem Sofa
und die Erwachsenen tranken Wein. Und es gab Salzgebäck und Pralinen. Die
Sendungen waren während der ganzen Woche ein Gesprächsthema.
IN: Autos gab es in dieser Zeit auch noch nicht viele oder hatten Ihre Eltern damals
schon eins?
VM: Nein, ich wäre natürlich sehr stolz gewesen, wenn wir ein Auto gehabt hätten.
Aber ich war schon fast erwachsen, als sich meine Eltern das erste Auto leisten
konnten. Es war ein weißer VW-Käfer.Allerdingshatte ein Onkel, der in unserer
Nähe wohnte, schon sehr früh ein Auto. Es war winzig klein, und wenn wir sonn-
tags mit meinem Onkel und meiner Tante Ausflügemachten, musste ich immer auf
dem Schoß meiner Mutter sitzen. Aber ich habe sehr schöne Erinnerungen daran.
Wenn wir zum Baden an einen See oder zum Spazierengehenin ein Waldgebiet
außerhalb der Stadt fuhren, hatten wir immer einen Ball, verschiedene Spiele und
ganz viel zu Essen dabei. Meine Mutter hatte samstagsimmer schon für uns alle
Eier gekocht, Kartoffelsalat gemacht und Schnitzel gebraten. Essen war damals die
Hauptsache, weil die Erwachsenen oft noch an den Hunger im Kriegund in den
ersten Nachkriegsjahren dachten.
IN: Was ist denn das erste politische Ereignis,an das Sie sich erinnern können?
VM: Da brauche ich nicht zu überlegen: Das war der Mauerbau in Berlin im August
1961. Es war der 13. August. Daran kann ich mich deshalb ganz genau erinnern,
weil zwei Tage später mein Großvater gestorben ist. Meine Großeltern wohnten in
Dresden und wir wollten sie besuchen, weil es meinem Großvater sehr schlecht
ging. Im Radio kamen ständig Nachrichten über den Bau der Mauer in Berlin und
darüber, dass viele Menschen noch versuchten, aus der DDR zu fliehen. Alle Men-
schen hatten Angst vor einem Kriegund natürlich konnten wir nicht zu den Groß-
eltern nach Dresden reisen. Mein Vater war furchtbar aufgeregtund meine Mutter
weinte, weil sie ihren Vater vor seinem Tod so gern noch einmal gesehen hätte.
IN: Gibt es noch ein Ereignis, das Sie so klar vor Augen haben?
VM: Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die Ermordung John F. Kennedys.
Für mich war er ein Idol. Ich hatte ihn ein Jahr vor seinem Tod einmal gesehen, als
er einen Deutschlandbesuch machte. Da kam er auch nach Frankfurt, wo ich mit
meinen Eltern lebte. In der ganzen Stadt hatten die Kinder schulfreiund standen
an den Straßen, wo Kennedy in einem offenen Wagen vorbeifuhr.Wir Kinder
winkten mit kleinen amerikanischen Fahnen. Als dann am 22. November 1963 die
Nachricht von Kennedys Ermordung kam, war das wie ein Schock. Ich kann mich