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Jürgen Habermas

I_3

Auch eine Geschichte der Philosophie


Band 1
Die okzidentale Konstellation von Glauben und
Wissen

Band 2
Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über
Glauben und Wissen

Suhrkamp
I_8 Ich habe während meiner aktiven Zeit als Hochschullehrer
und Mitdirektor eines Max-Planck-Instituts das außerordentliche
Privileg genossen, aus den konzentrierten Diskussionen mit einer
vergleichsweise großen Zahl von scharfsinnigen, kritischen und
einfallsreich konstruktiv denkenden Mitarbeitern sowie
ehemaligen »Schülern« lernen zu können. Dieses Glück des
Lernens voneinander ist mir erst in seinem vollen Gewicht zu
Bewusstsein gekommen, seitdem ich es – wie bei der Abfassung
dieses Buches – vermisse. In der zeitlichen Reihenfolge der jeweils
engeren Zusammenarbeit danke ich dafür vor allem:

Oskar Negt
Ulrich Oevermann
Claus Offe
Gertrud Nunner-Winkler
Rainer Döbert
Klaus Eder
Günter Frankenberg
Axel Honneth
Lutz Wingert
Bernhard Peters (1949-2005)
Klaus Günther
Ingeborg Maus
Rainer Forst
Cristina Lafont
Peter Niesen
Thomas M. Schmidt

Von dem Ältesten aus dieser Reihe habe ich in philosophischer


Hinsicht am meisten gelernt. Seinem Andenken widme ich dieses
Buch:
Albrecht Wellmer (1933-2018)
I_5 Inhalt
Cover
Titel
Widmung
Inhalt

Vorwort

Siglen

I. Zur Frage einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens

1. Krisenszenarien und Verfallsgeschichten in philosophischen


Großtheorien des 20. Jahrhunderts
2. Religion als eine »gegenwärtige« Gestalt des objektiven Geistes?
3. Der okzidentale Entwicklungspfad und der Universalitätsanspruch
nachmetaphysischen Denkens
4. Gesellschaftstheoretische Grundannahmen und programmatische
Ausblicke

II. Die sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Überlieferungen

1. Kognitiver Durchbruch und Bewahrung des sakralen Kerns


2. Mythos und Ritus
3. Der Sinn des Sakralen
4. Der Weg zur achsenzeitlichen Transformation des religiösen
Bewusstseins

III. Ein provisorischer Vergleich der achsenzeitlichen Weltbilder

1. Die Moralisierung des Heiligen und der Bruch mit dem mythischen
Denken
2. Die Abkehr des jüdischen Monotheismus vom »Heidentum«
3. Buddhas Lehre und Praxis
4. Konfuzianismus und Taoismus
5. Von den griechischen »Naturphilosophen« zu Sokrates
6. Platos Ideenlehre – im Vergleich

Erste Zwischenbetrachtung: Die begrifflichen Weichenstellungen der


Achsenzeit

IV.
Die Symbiose von Glauben und Wissen im christlichen Platonismus
und die Entstehung der römisch-katholischen Kirche

1. Das Urchristentum: Der verkündigende und der verkündigte Jesus


2. Die Begegnung von Christentum und Hellenismus in der
gräkoromanischen Umgebung des Kaiserreichs
3. Plotin und Augustin: Die christliche Transformation des Platonismus
4. Die römisch-katholische Kirche – zwischen Heilsanstalt und
weltlicher Macht

V.Das christliche Europa: Fortschreitende Differenzierung zwischen


sacerdotium und regnum, Glauben und Wissen
1. Kirche, Gesellschaft und Staat im »christlichen Europa«
2. Die Herausforderungen des Aristoteles für die Theologie des
13. Jahrhunderts
3. Die Antworten des Thomas von Aquin
4. Die Ontologisierung der aristotelischen Ethik und der Umbau der
praktischen Philosophie

VI.
Die via moderna: Philosophische Weichenstellungen zur
wissenschaftlichen, religiösen und gesellschaftlich-politischen Moderne

1. Einleitung eines Paradigmenwechsels: Duns Scotus


2. Wilhelm von Ockham: Das doppelte Gesicht der »nominalistischen
Revolution«
3. Die funktionale Ausdifferenzierung von Recht und Politik und eine
neue Form der gesellschaftlichen Integration
4. Eine funktionalistische Theorie der staatlichen Macht (Niccolò
Machiavelli) und neue Legitimationsprobleme (Francisco de Vitoria)

VII.
Die Trennung von Glauben und Wissen: Protestantismus und
Subjektphilosophie

1. Der Bruch Luthers mit der Tradition und der Gestaltwandel der
Theologie
2. Theologische, gesellschaftliche und politische Weichenstellungen für
das moderne Vernunftrecht
3. Der Kontext des Vernunftrechts: Gesellschaftsgeschichtliche
Dynamik und Wissenschaftsentwicklung
4. Der Paradigmenwechsel zur Subjektphilosophie und das
Folgeproblem der Begründung bindender Normen
Zweite Zwischenbetrachtung: Die Zäsur der Trennung von Glauben
und Wissen

VIII. An der Wegscheide nachmetaphysischen Denkens: Hume und Kant

1. Humes Dekonstruktion des theologischen Erbes der praktischen


Philosophie
2. Die anthropologische Erklärung der Phänomene von Recht und
Moral
3. Kants Antwort auf Hume: Der praktische Sinn und der
religionsphilosophische Hintergrund der
transzendentalphilosophischen Wende
4. Die nachmetaphysische Rechtfertigung eines der Vernunft
innewohnenden Interesses

IX.
Sprachliche Verkörperung der Vernunft: Vom subjektiven zum
»objektiven« Geist

1. Politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Anstöße


zum Paradigmenwechsel
2. Motive zur linguistischen Wende bei Herder, Schleiermacher und
Humboldt
3. Hegels Assimilation von Glauben an Wissen: Die Erneuerung
metaphysischen Denkens nach Kant
4. Vernunft in der Geschichte: Autonomie versus Selbstbewegung des
Begriffs

Dritte Zwischenbetrachtung: Vom objektiven Geist zur


kommunikativen Vergesellschaftung erkennender und handelnder
Subjekte

X.Die Zeitgenossenschaft der Junghegelianer und die Probleme des


nachmetaphysischen Denkens

1. Ludwig Feuerbachs anthropologische Wende: Zur Lebensform


organisch verkörperter und kommunikativ vergesellschafteter Subjekte
2. Karl Marx zum Thema der geschichtlich situierten Freiheit produktiv
tätiger und politisch handelnder Subjekte
3. Der religiöse Schriftsteller Sören Kierkegaard zur ethisch-
existentiellen Freiheit des lebensgeschichtlich individuierten Einzelnen
4. Interpretationsprozesse zwischen Wahrheitsbezug und
Handlungsbezug: Peirce als Initiator des Pragmatismus
5. Zum Modus der Verkörperung der Vernunft in Praktiken der
Forschung und der Politik

Postskriptum

Dank

Namenregister
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
I_9 Vorwort
Ein Motiv, das mich auch zu der müßigen und ziemlich lange anhaltenden
Altersbeschäftigung mit der Geschichte der Philosophie geführt hat, möchte
ich nicht verschweigen. Es hat mir einfach Spaß gemacht, die Lektüre vieler
bedeutender Texte, die ich nie gelesen hatte, nachzuholen, und viele andere
Texte, die ich in aktuellen Zusammenhängen schon so oft konsumiert hatte,
wieder zu lesen – aber dieses Mal aus der Sicht eines alt gewordenen, auf
sein eigenes, vergleichsweise verschontes Leben zurückblickenden
Philosophieprofessors: Zum ersten Mal habe ich die Werke nicht nur
systematisch verarbeitet und »gebraucht«, in vielen Fällen habe ich sie nun
auch mit einem gewissen biographischen Interesse an den
herausfordernden Lebensumständen ihrer Autoren wahrgenommen.[1] Das
rechtfertigt natürlich nicht ein so waghalsiges, eigentlich unseriöses
Unternehmen, bei dem mir auf jeder Seite bewusst war, in meinem Alter
Bibliotheken von Sekundärliteratur nicht mehr berücksichtigen zu können.
Also kann es bei diesem erneuten Durchgang durch die Geschichte der
westlichen Philosophie bestenfalls um die Plausibilisierung einer Lesart
gehen, und zwar im Hinblick auf eine, wie man heute wohl sagt,
metatheoretische Frage: Was kann heute noch ein angemessenes
Verständnis der Aufgabe der Philosophie sein?
Das Buch sollte ursprünglich heißen: »Zur Genealogie
nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am
Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen«. Die Bedenken des
Verlages gegen eine solch barocke Ausschweifung hätten mich nicht
gestört, aber vor Abschluss des Manuskripts habe ich mich für die
melancholische Kurzfassung des geplanten Titels entschieden – in
Anspielung auf einen berühmten Essay von Johann Gottfried Herder.
Nachdem ich die »Dritte Zwischenbetrachtung« fertiggestellt hatte, wurde
mir nämlich klar, dass ich nur noch in der Traditionslinie von Kant und
Hegel das Frühstadium des nachmeta I_10 physischen Denkens um die Mitte
des 19. Jahrhunderts grob würde skizzieren können. Die Darstellung der
verzweigten Argumentationsketten, die sich seitdem in der Tradition von
Hume und Bentham einerseits, von Kant, Schelling und Hegel andererseits
ausdifferenziert haben, vor allem ein erneuter analytischer Durchgang
durch jene Diskussionen, die sich zwischen diesen »Lagern« an zentralen
Problemen entzündet haben, hätte mich bis tief in die Debatten der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, also meiner eigenen Lebenszeit verwickeln
müssen. An diesen Kontroversen war mir als einem teilnehmenden
Beobachter aufgefallen, dass sich in der Konkurrenz der Ansätze immer
wieder dieselbe Differenz von Hintergrundannahmen spiegelt – ob nun in
den Wahrheits-, Rationalitäts- oder Sprachtheorien, ob in der Logik und
Methodologie der Sozialwissenschaften, in den ethischen Ansätzen oder,
und vor allem, in den Moral-, Rechts- und Politiktheorien. Die eine Seite
setzt ihre Analysen bei den Vorstellungen und Intentionen,
Verhaltensweisen und Dispositionen der einzelnen Subjekte an, während
die andere Seite bei denselben Fragen von intersubjektiv geteilten Symbol-
und Regelsystemen, von Sprachen, Praktiken, Lebensformen und
Traditionen ausgeht, um dann erst, anhand der entsprechenden
Diskurstypen, die notwendigen subjektiven Bedingungen für die
Beherrschung dieser Strukturen und den Erwerb entsprechender
Kompetenzen zu untersuchen.[2] Diese Konkurrenzlage darzustellen, hätte
mindestens ein weiteres Buch erfordert, und dafür reichen meine Kräfte
nicht mehr aus. Ich habe andernorts die wichtigsten Argumente, die aus
meiner Sicht in diesen Kontroversen von paradigmatischer Relevanz den
Ausschlag geben, ohnehin schon behandelt.[3]
Dann drängt sich allerdings die Frage auf, warum die Vorgeschichte dieser
Paradigmenkonkurrenz, die sich auch noch innerhalb der
Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat,[4] von Inte I_11 resse
ist: Wozu soll eine ausschweifende Genealogie der entsprechenden
theoretischen Weichenstellungen dienen? Die Kontroversen selbst sollten
doch zur Klärung der systematischen Fragen genügen. Die kurze Antwort
lautet: Weil es mir um ein anderes Thema geht, nicht um eine Reihe
kontroverser Grundfragen, sondern um das implizite Verständnis von
Philosophie, das sich in den paradigmatischen Voraussetzungen für die
Behandlung dieser Fragen ausdrückt. Gründe im Streit um das
professionelle Selbstverständnis der Philosophie sind auch Gründe für und
gegen eine bestimmte »Lesart« der Geschichte der Philosophie. Freilich
erheben sich gegen die Fruchtbarkeit einer solchen Fragestellung sogleich
Einwände. Sprießen nicht Auffassungen von der eigentlichen Aufgabe
philosophischen Denkens wie Zweige am Stamm der durchgeführten
philosophischen Untersuchungen – und fallen sie nicht davon auch wieder
wie dürre Zweige ab? Verdrängt nicht ein professionelles Selbstverständnis
das nächste? Weiß man überhaupt, welche Art von Argumenten in einem
solchen Streit zählen kann? Jeder überzeugende philosophische Ansatz
spricht doch für sich selber; mit jedem neuen zeigt sich, was Philosophie
leisten kann und was sie sein soll. Zu diesem Einwand passt das Kuhn'sche
Bild vom kontingenten Auf und Ab der wissenschaftlichen Paradigmen; und
aus der Sicht des mittleren Foucault lassen sich, wenn man will, hinter der
Maske der Diskurse auch noch die herrschenden gesellschaftlichen Mächte
entdecken.
Dem steht entgegen, dass Paradigmenwechsel auch in der Philosophie
von Lernprozessen angestoßen werden und dass selbst das falsche
Feyerabend'sche Bild vom zufälligen Auf- und Abstieg der Paradigmen noch
eine gewisse Kontinuität voraussetzt: dass es überhaupt Theorien gibt, die
sich als eine Fortsetzung der bisherigen Philosophiegeschichte zu erkennen
geben. Bisher konnte man davon ausgehen, dass es auch weiterhin
ernstzunehmende Versuche geben wird, Kants Grundfragen zu
beantworten: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich
hoffen?« und: »Was ist der Mensch?«. Aber ich bin unsicher geworden, ob
die Philosophie, wie wir sie kennen, noch eine Zukunft hat – ob sich nicht
das Format jener Fragestellungen überlebt hat, sodass die Philosophie als
Fach nur noch mit ihren begriffsanalytischen Fertigkeiten und als die
Ver I_12 walterin ihrer eigenen Geschichte überlebt. Die Philosophie folgt
wie alle Disziplinen dem Zug zu einer immer weitergehenden
Spezialisierung. An einigen Orten geht sie schon in der Rolle einer
begriffsanalytischen Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften auf;
an anderen zerfasert der Kern der Disziplin in nützlichen Angeboten für
einen wachsenden wirtschafts-, bio- oder umweltethischen
Beratungsbedarf.
Solche aufgelesenen Beobachtungen müssen noch nicht viel heißen.
Beunruhigender ist die Unvermeidlichkeit, ja Wünschbarkeit der
fortschreitenden Spezialisierung, mit der auch die Philosophie der inneren
Dynamik jeder wissenschaftlichen Arbeitsteilung und dem normalen Gang
des wissenschaftlichen Fortschritts folgt; denn die Spezialisierung stellt für
unsere Disziplin eine Herausforderung der besonderen Art dar. Was für
andere Wissenschaften nur Fortschritte bringt, bedeutet für die Philosophie,
die ja das Ganze nicht aus dem Auge verlieren darf, auch eine
Herausforderung für jene Grundfragen, über die sie sich bisher definiert
hat. Wenn sich die Philosophie »am Ganzen« orientieren soll, kann eine
solche Formulierung heute natürlich nicht mehr auf ein metaphysisches,
auch nicht auf ein sogenanntes »wissenschaftliches« Weltbild abzielen. Das
Zeitalter der Weltbilder ist seit dem 17. Jahrhundert aus guten Gründen
vorbei. Mich bewegt die Frage, was von der Philosophie übrigbleiben
würde, wenn sie nicht nach wie vor versuchte, zur rationalen Klärung
unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen – dabei markiert der
Bindestrich genau jenes Thema, das im Fortgang der Spezialisierung unter
die Räder zu geraten droht.
Auch die Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist
keine Wissenschaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer »weniger«,
das heißt enger und genauer definierte Gegenstandsbereiche zu lernen; sie
unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie
erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von
der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne
Zeitgenossen und als individuelle Personen. Und dieser praktische
Selbstbezug auf unsere Lebensführung stiftet bei der Verarbeitung jedes
weiteren Lernfortschritts, jedes revisionistischen Zuwachses an Weltwissen
erst den festzuhaltenden Bezug zum Ganzen eines immer unüberschaubarer
werdenden I_13 Wissenskosmos. Die Philosophie würde gleichwohl, wie ich
meine, ihr Proprium verraten, wenn sie – und sei es auch im begründeten
Bewusstsein einer Überforderung – den holistischen Bezug auf unser
Orientierungsbedürfnis preisgäbe. Aber in diese Zone gerät eine Praxis und
eine Auffassung von Philosophie, die sich ihrer Aufklärungsrolle entledigt
und einem szientistischen Selbstmissverständnis erliegt, indem sie sich an
der Seite der objektivierenden Wissenschaften vom selbstreferenziellen
Bezug eines Beitrags zur rationalen Welt- und Selbstverständigung
verabschiedet.[5] Sie darf von Haus aus nicht vor dem
Komplexitätswachstum unserer Gesellschaft und unseres immer
weitergehend spezialisierten Wissens von der Welt resignieren, wenn sie –
wie Kant zu seiner Zeit – ihre Zeitgenossen nach wie vor mit Gründen dazu
ermutigen will, von ihrer Vernunft einen autonomen Gebrauch zu machen
und ihr gesellschaftliches Dasein praktisch zu gestalten.[6]
Allerdings ist dieser Impuls zur Aufklärung, der sich im praktischen
Bezug des philosophischen Denkens zum Orientierungsbedürfnis der
Menschen angesichts der jeweils aktuellen Herausforderungen äußert, alles
andere als selbstverständlich. Er zehrt nämlich von einer rätselhaften
Initiative zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit. Dieses große Thema
hat die Philosophie von Kant bis Marx beschäftigt, ja okkupiert, und es
bildet auch den roten Faden meiner Untersuchung. Demgegenüber begegnet
man heute in szientistischer Gestalt einem modernen Wiedergänger des
antiken Nezessitarismus, wobei der Widerspruch zum performativen
Handlungsbewusstsein mit dem Pflaster eines kompatibilistischen Begriffs
von Willensfreiheit zwar verdeckt, aber nicht aufgelöst wird. Darin
spie I_14 gelt sich ein Fatalismus, der sich in dem Maße ausbreitet, wie sich
die Menschheit in die Komplexität der unbeherrschten Nebenfolgen ihrer
selbsterzeugten ökonomischen und technologischen Wachstumsdynamik
verstrickt. Aber das Thema des Gebrauchs vernünftiger Freiheit kehrt in
seiner ganzen Wucht zurück, sobald sich die Philosophie ihres eigenen
Entstehungskontextes vergewissert. Sobald sie erkennt, dass sie nicht mit
einem absoluten Anfang beginnen kann und der Unterstellung eines view
from nowhere entsagen muss, kann sie die Unabhängigkeit ihres Urteils nur
durch einen historischen Selbstbezug sichern. Dieser Selbstbezug darf sich
freilich nicht kurzatmig in der Reflexion auf die Bindungen des jeweils
aktuellen Nachdenkens an den historischen Ort seiner gesellschaftlichen
Bezüge und politischen Herausforderungen erschöpfen. Die historische
Selbstvergewisserung muss weiter ausholen und sich auf eine
Rekonstruktion von beiden Strängen des philosophischen Erbes erstrecken:
Erst im Lichte des Erbes, von dem sich die Philosophie in ihrer
nachmetaphysischen Gestalt gelöst hat, erkennt man das Erbe, das sie
angetreten hat, in seinen richtigen Proportionen: die Emanzipation zum
Gebrauch der vernünftigen Freiheit bedeutet Befreiung und normative
Bindung in einem. Erst das Verständnis der Gründe, die seit der
Reformation die Subjektphilosophie zur anthropozentrischen
Blickwendung, vor allem zur nachmetaphysischen Verabschiedung des
Glaubens an eine restituierende oder »rettende« Gerechtigkeit genötigt
haben, öffnet die Augen für das Maß an Kooperationsbereitschaft, das
kommunikativ vergesellschaftete Subjekte dem Gebrauch ihrer
vernünftigen Freiheit zumuten müssen.
In ihren Anfängen gehörte die Philosophie zu den an einer Hand
abzählbaren metaphysischen und religiösen Weltbildern der Achsenzeit.
Das ist ihr zum Schicksal geworden. Denn seit der Entstehung des
christlichen Platonismus im römischen Kaiserreich gewinnt der Diskurs
über Glauben und Wissen für die weitere Entwicklung des philosophischen
Erbes der Griechen eine konstitutive Rolle. Daher dient mir dieser Diskurs
als Leitfaden für die Genealogie eines nachmetaphysischen Denkens, die
zeigen soll, wie sich die Philosophie – komplementär zur Ausbildung einer
christlichen Dogmatik in Begriffen der Philosophie – ihrerseits wesentliche
Gehalte aus religiö I_15 sen Überlieferungen angeeignet und in
begründungsfähiges Wissen transformiert hat.[7] Genau dieser
semantischen Osmose verdankt das an Kant und Hegel anschließende
säkulare Denken das Thema vernünftiger Freiheit und die bis heute
maßgebenden Grundbegriffe der praktischen Philosophie. Während die
griechische Kosmologie entwurzelt worden ist, sind semantische Gehalte
biblischen Ursprungs in die Grundbegriffe des nachmetaphysischen
Denkens überführt worden.[8]
Die Frage, was sich die Philosophie noch zutrauen kann und soll,
entscheidet sich heute, ungeachtet ihres unverhohlen säkularen Charakters,
an jenem transformierten Erbe religiöser Herkunft. Dieses ist allerdings nur
in eine der beiden heute konkurrierenden Gestalten nachmetaphysischen
Denkens eingegangen. Dieser Umstand wird so interpretiert, dass eine
konsequente Lösung vom religiösen Erbe nur auf der empiristischen
beziehungsweise naturalistischen Linie nachmetaphysischen Denkens
gelungen ist. Gegen diese Annahme spricht der tiefe Einschnitt jener
radikalen Religionskritik, mit dem sich das zugleich historische und
materialistische Denken I_16 der Junghegelianer bei aller Kontinuität von
Hegel abwendet – freilich ohne damit das Interesse an den Spuren der
Vernunft in der Geschichte und allgemein ein Verständnis ihrer
philosophischen Arbeit aufzugeben, das auf die Beförderung vernünftiger
Lebensverhältnisse ausgerichtet ist. Ein solches professionelles
Selbstverständnis lässt sich mit einer plausiblen Lesart der Geschichte der
Philosophie stützen, wenn sich diese Geschichte über Abgründe hinweg
auch als eine unregelmäßige Folge von kontingent ausgelösten
Lernprozessen begreifen lässt. Im Verlauf der in diesem Sinne
»genealogischen« Darstellung sollen nicht nur die kontingenten Umstände
deutlich werden, die jeweils zu Lernprozessen herausgefordert haben,
sondern auch die Gründe, die dafür sprechen, an einem komprehensiven
Begriff der Vernunft und einem entsprechend anspruchsvollen
Selbstverständnis des philosophischen Denkens festzuhalten.

Die Arbeit an einem Buch und die Konzentration, die das erfordert, zehren
auch an der Lebenszeit. So hätte die länger als ein Jahrzehnt währende
Beschäftigung mit demselben Thema in der Einsamkeit und Freiheit eines
Emeritiertendaseins leicht die Form eines bedrückenden Exerzitiums
annehmen können. Dass es dazu nicht gekommen ist, verdanke ich Ute –
und ich denke dabei nicht allein an die Anregungen aus den fortgesetzten
Gesprächen mit ihr über die Themen des soeben Gelesenen, sondern
überhaupt an die einfache, aber schwer in Worte zu fassende Tatsache ihrer
Präsenz. Was diese für mich bedeutet, ließe sich auch mit einer Widmung
nicht abgelten.

Starnberg, im Dezember 2018


J. H.
I_17 Siglen
Platos Schriften
Alc. I = Alkibiades I
Apol. = Apologie
Charm. = Charmides
Ep. = Epistulae
Eutyphr. = Euthyphron
Hp. mai. = Hippias maior
Hp. min. = Hippias minor
La. = Laches
Leg. = Nomoi
Ly. = Lysis
Men. = Menon
Phd. = Phaidon
Phdr. = Phaidros
Pol. = Politikos
Prm. = Parmenides
Resp. = Politeia

Augustins Schriften
beata v. = De beata vita
civ. = De civitate Dei
conf. = Confessiones
lib. arb. = De libero arbitrio
trin. = De trinitate
vera rel. = De vera religione

Aristoteles' Schriften
Anal. post. = Analytica posteriora
EN = Ethica Nicomachea
Met. = Metaphysica
Phys. = Physica
Pol. = Politica

I_18Thomas' Schriften
De ent. et ess. = De ente et essentia
De reg. princ. = De regimine principum ad regem Cypri
De ver. = De veritate
ScG = Summa contra Gentiles
Sent. Ethic. = Sententia libri Ethicorum
STH = Summa Theologica
Super Boeth. De trin. = Expositio super Boethii De trinitate

Spinozas Schriften
EgM = Ethik mit geometrischer Methode begründet
TpT = Theologisch-politischer Traktat

Lockes Schriften
VmV = Versuch über den menschlichen Verstand
ZAR = Zwei Abhandlungen über die Regierung

Humes Schriften
DR = Dialoge über natürliche Religion
NR = Die Naturgeschichte der Religion
TN = Ein Traktat über die menschliche Natur
UM = Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral
UV = Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand

Kants Schriften
FM = Preisschrift zur Frage nach den wirklichen Fortschritten der
Metaphysik
GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
IaG = Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
KpV = Kritik der praktischen Vernunft
KrV = Kritik der reinen Vernunft
KU = Kritik der Urteilskraft
Log = Logik
MAM = Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte
RGV = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
RL = Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
I_19 SF = Der Streit der Fakultäten
TP = Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis
ÜGTP = Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie
WDO = Was heißt: Sich im Denken orientieren?
ZeF = Zum ewigen Frieden

Herders Schriften
AUS = Abhandlung über den Ursprung der Sprache
IPG = Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
PGB = Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit

Schleiermachers Schriften
Dial. = Dialektik
Dogm. = Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen
Kirche im Zusammenhange dargestellt
Herm. = Hermeneutik und Kritik

Humboldts Schriften
DS = Über Denken und Sprechen
Dualis = Über den Dualis
NSP = Über den Nationalcharakter der Sprachen
SpE = Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die
verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung
VSP = Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues
VSPE = Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und
ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts

Hegels Schriften
DFS = Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der
Philosophie
E = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
I = Die Wissenschaft der Logik
I_20 III = Die Philosophie des Geistes
EGP = Einleitung in die Geschichte der Philosophie
NR = Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts
R = Grundlinien der Philosophie des Rechts
SF = Systemfragment von 1800
VGP = Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
VPG = Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
VPR = Vorlesungen über die Philosophie der Religion

Feuerbachs Schriften
BH = Brief an G. W. F. Hegel: 22. Nov. 1828
GPZ = Grundsätze der Philosophie der Zukunft
KHP = Zur Kritik der Hegelschen Philosophie
TRP = Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie
WC = Das Wesen des Christentums

Kierkegaards Schriften
AUN = Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den
Philosophischen Brocken
EO = Entweder / Oder
FZ = Furcht und Zittern
KT = Die Krankheit zum Tode
PB = Philosophische Brocken
I_21 I.
Zur Frage einer Genealogie
nachmetaphysischen Denkens
I_23The idea
of a self-limiting secularization, reinstated as a regulative
principle of modernity, would reopen and perpetuate
the mutual interrogation of philosophy, science and religion.
Johann P. Arnason über Jan Patočka

Seit der Spätantike hat sich die Selbstvergewisserung des christlichen


Europas in immer neuen Schüben wiederholt. Bis zur Moderne kehrt dabei
das Muster einer Spiegelung der jeweiligen Gegenwart an der
Vergangenheit der griechisch-römischen Antike wieder. Dieser
Selbstverständigungsprozess hat sich in Stellungnahmen zu den als
»klassisch« geltenden, den Zeitenabstand überdauernden Werken der
Literatur und der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft der Griechen
und der Römer vollzogen – auch in der Bewunderung und Nachahmung der
politischen Gestalten von Stadt und Republik. Bezugspunkte sind vor allem
die klassischen Epochen Athens und der römischen Republik. Seit der
karolingischen Renaissance waren es stets die moderni, die ihr
Selbstverständnis in der aneignenden Auseinandersetzung mit den
klassischen Vorbildern erneuert haben; seit dem hohen Mittelalter war es
die via moderna, auf der Theologen und Philosophen dieses Geschäft der
Erneuerung besorgten. In der bildenden Kunst des 17. Jahrhunderts, die sich
inzwischen aus dem sakralen Bereich ausdifferenziert hatte, fand es seine
Fortsetzungen in der berühmten »Querelle des Anciens et des Modernes«.
Und darauf reagierten wiederum Winckelmann und Lessing, Schlegel und
Schiller, Schelling und Hegel auf so überzeugende Weise, dass noch Marx
zögern wird, die Schönheit der antiken Statuen ganz und gar den
soziologischen Erklärungen des Historischen Materialismus auszuliefern.[9]
Weil sich bis dahin das jeweils Eigene I_24 nur über eine größere Distanz
hinweg in seinem Anderen spiegelte, entstand eine ganz neue Art von
»Moderne«, als sich mit der Wissenschaft und Philosophie des
17. Jahrhunderts eine ähnliche Distanz auch zum Christentum anbahnte,
aus dessen Blickwinkel die Antike immer wieder als das schlechthin
Maßgebende angeeignet worden war. Mit der Reflexion auf die neuen
mathematisierten Naturwissenschaften und mit der philosophischen
Verarbeitung der von der Reformation ausgehenden Anstöße bildete sich
nun auch ein distanzierender Blick auf das, freilich als kirchenpolitische
Gewalt noch gegenwärtige Christentum heraus. Aber nicht nur in seinen
historischen Wurzeln wurde dieses, zum Beispiel als Gegenstand der
Bibelkritik, der eigenen Gegenwart entrückt, sondern auch in der
Universalität seines kirchlichen Geltungsanspruchs – das »Katholische«
war in Frage gestellt.
Schon die reformatorischen Bewegungen, die der Luther'schen
Reformation vorausgegangen, aber innerkirchlich noch aufgefangen
worden waren, sind zugleich Protestbewegungen eines verinnerlichten
Glaubens und gleichzeitig Schübe zur Verweltlichung, das heißt zu einer
»Säkularisierung« gewesen. Aus der Perspektive der Kirche trugen die sich
abspaltenden Sekten den Glauben »in die Welt«, das heißt über die
Kirchengemeinden hinaus.[10] Für den Protestantismus ist dieselbe
Dialektik von Vertiefung und sozialer Ausbreitung der Glaubensströme
charakteristisch. Aber mit dieser Bewegung verselbständigt sich die
»Säkularisierung« und schlägt auf Kirche und Glauben selbst zurück. Mit
einer gewissen Zeitverzögerung antworten dann Hobbes und Spinoza auf
Luthers entschieden theologische Entkoppelung des Glaubens vom Wissen
mit einer philosophischen Distanzierung der Wissenschaft vom historisierten
Glauben. Bis dahin hatten sich die abendländischen »Renaissancen« noch
selbstverständlich aus dem Horizont des Alten und des Neuen Testaments
heraus auf die Vergangenheit der griechisch-römischen Antike als ihr
Anderes bezogen. Nun aber rückte mit jenen Philosophen, die von ihren
Zeitgenossen als Atheisten wahrgenommen und denunziert werden, auch
dieser Glaube, der so lange a tergo das Selbst der I_25 Selbstreferenz gebildet
hatte, auf Distanz. Die christliche Welt, die so lange der Terminus a quo
einer Spiegelung des Eigenen im Anderen gewesen war, wird seit dem
17. Jahrhundert für die Philosophen – als Gegenstand der
anthropologischen Neugier, der historischen Forschung und der politischen
Theorie – zum Terminus ad quem. Wenn auch zunächst nur für wenige
Intellektuelle, so werden die gegenwärtigen Gestalten und die historischen
Zeugnisse des Christentums (und nun allgemein »der« Religion) zu dem
Anderen einer säkularen Philosophie, die – ihrem eigenen Anspruch nach
frei von theologischen Prämissen – nach dem methodischen Vorbild der
mathematischen Naturwissenschaften verfahren will. Das Verhältnis zu
diesem auf Distanz gebrachten und verfremdeten Eigenen – das nun einen
anderen Bestandteil der antiken Welt bildet – ist freilich nicht bewundernd,
sondern zuerst behutsam, dann offensiv ablehnend, ja polemisch, da das
Christentum nicht wie die griechisch-römische Antike Teil einer bereits
abgeschlossenen Vergangenheit ist, sondern eine gegenwärtige, zudem als
repressiv erfahrene Macht, von der sich die Gegenwart erst emanzipieren
soll.
Eine operative Bedeutung erhält diese neue Spiegelfläche des vom –
ungläubig gewordenen – säkularen Wissen auf Abstand gebrachten
christlichen Glaubens für den europäischen Selbstverständigungsdiskurs
freilich erst im Zuge des Aufklärungszeitalters. Erst mit der staatlichen
Säkularisierung der Kirchengüter und der politischen Entmachtung der
katholischen Kirche im Gefolge der Französischen Revolution verkehrt sich
schließlich die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks »säkular« in den
polemisch besetzten Gegenbegriff zur christlichen Welt. Die Rolle von
Kirche und Religion, die aus der Sicht der Aufklärung als ein
gewissermaßen fremdes Element in die Gegenwart hineinreichen, werden
als gegenwärtige Gestalt des Geistes problematisch. Die Verdrängung aus
dem Präsens der neuen Zeit ist aber auch eine Voraussetzung für das
romantische Verhältnis einer Wiederaneignung aus der Distanz. Kirche und
Religion werden als vergangene, romantisch vergegenwärtigte Macht zum
Gegenstand von Renaissancen einer neuen Art – jetzt geben die Brüder
Boisserée den Anstoß zur Restaurierung und Vollendung des seit
Jahrhunderten brachliegenden, zur Ruine verfallenen Kölner Doms. Der
Ausdruck »Säkularisierung« verbindet sich seitdem mit I_26 den konträren
Bewertungen der streitenden Parteien. In der christlichen
Geschichtsphilosophie verdankt sich der Epochenbegriff des Säkulums der
Verzeitlichung der »Welt« als eines heilsgeschichtlichen
Durchgangsstadiums im Sinne des »Diesseits«. Die negative Konnotation
von »dieser« Welt trifft sich nun mit der Einschätzung des revolutionären
Aktes einer »widerrechtlichen« Enteignung der Kirchengüter, während der
positiv konnotierte Begriff der Verweltlichung von der Assoziation mit dem
inzwischen eingebürgerten Begriff der »Neuen Welt« und dem Aufbruch in
ein neues Säkulum, in die »Neue Zeit« zehrt. Die Begriffsgeschichte von
»Säkularisierung« ist gut erforscht.[11]
Mich interessiert dieser Einschnitt, weil das von der Philosophie
eingeleitete Aufklärungszeitalter für die säkular gewordene Philosophie
eine Wegscheide bedeutet, an der das nachmetaphysische Denken selbst
sich gabelt. Mit Hume und Kant verzweigen sich die Pfade. Das
nachmetaphysische Denken entfaltet sich auf der einen Seite,
gewissermaßen vorbei am sogenannten deutschen Idealismus, zu Spielarten
einer im engeren Sinne »wissenschaftlichen« Philosophie, während es sich
auf der anderen Seite – seit Feuerbach, Marx und Kierkegaard – weiterhin
an der Gedankenbewegung von Kant bis Hegel abarbeitet. Diese Tendenzen
lassen sich bis weit ins 20. Jahrhundert auf die mentalen Profile einzelner
Schulen oder auf die Interessenschwerpunkte einzelner einflussreicher
Philosophen beziehen.[12] Erst seit der Mitte dieses Jahrhunderts gewinnen
sie jedoch Trennschärfe für das professionelle Selbstverständnis der
Philosophie als solcher: Versteht sie sich als eine wissenschaftliche Disziplin
unter anderen, als Fach unter Fächern, gar als Dienstleistung für die
Kognitionswissenschaften, oder will und soll sie bei fortschreitender
Spezialisierung weiterhin einen komprehensiven Anspruch auf die
Beförderung des rationalen Welt- und Selbstverständnisses der
zeitgenössischen Generationen verfolgen? Beide Denkungsarten setzen ein
im 17. Jahrhundert wurzelndes säkulares Denken fort, das I_27 sich im Laufe
des 18. Jahrhunderts nicht nur von religiösen, sondern auch von
metaphysischen Weltbildkonstruktionen verabschiedet hat. Rückblickend
erkennen wir aber, dass sich in diesem neuen Horizont
nachmetaphysischen Denkens zwei Varianten des Verständnisses von dem,
was Philosophie ist und sein soll, herausgebildet haben. Der Trend zu einer
Verwissenschaftlichung der Philosophie, den ich selbst 1971 noch
vorbehaltlos begrüßt habe,[13] hat heute nicht mehr nur den klaren
methodischen Sinn der Einhaltung bewährter Argumentationsstandards,
sondern den inhaltlichen Sinn einer Einschränkung auf philosophische
»Forschung«. Weil sich das systematische Interesse wesentlich auf die
begriffsanalytische Klärung der subjektiven Bedingungen kognitiver
Prozesse einschließlich der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst richtet, ist
für diese szientistische Strömung die Geschichte der Philosophie von Plato
bis Wittgenstein nur noch historisch als Teil der Wissenschaftsgeschichte
interessant oder pädagogisch als Bestandteil eines verblassten
Bildungskanons – verblasst deshalb, weil mit dem Problem der
Selbstverständigung auch die Spiegelung des Eigenen im Anderen ihre
existentielle Bedeutung verloren hat. Was dabei aus dem Blick gerät, ist ein
systematisches Interesse an Stationen der Geschichte der Philosophie als
einem fortschreitenden Prozess der Lösung von Problemen eigener Art.
Aus meiner Sicht unterscheiden sich die philosophischen von
wissenschaftlichen Problemen nicht durch einen vagen Holismus, nicht
durch eine Abkehr von wissenschaftlicher Methode und Denkungsart, nicht
durch eine weniger technische Handhabung analytischer Mittel, auch nicht
notwendigerweise durch einen geringeren Grad an Spezialisierung, sondern
durch die synthetische Kraft, gleichwohl an zwei epistemisch relevanten
Bezügen festzuhalten. Der Rahmen, in dem sich das philosophische Denken
seit seinen Anfängen bewegt hat, zeichnet sich zum einen durch den Bezug
zur Welt im Ganzen aus, also zu dem, was wir von der Welt zum gegebenen
historischen Zeitpunkt wissen, sowie zum anderen durch die systematische
Selbstreferenz der Forscher zu sich als Menschen, sowohl als
I_28 Individuen wie als Personen überhaupt, sodann zu sich als
Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft und schließlich als Zeitgenossen
einer geschichtlichen Epoche. Die klassische Philosophie hat über viele
Jahrhunderte mit den religiösen Weltbildern die globale Frage nach der
»Stellung des Menschen in der Welt« geteilt und damit, wie wir sehen
werden, auch einen funktionalen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration
geleistet. Daher erklärt sich die Eigenart philosophischer Probleme im
Vergleich zu wissenschaftlichen Problemen aus dem Bezug des jeweils
verfügbaren Weltwissens auf die eigene Person, auf die eigene Gesellschaft
und Kultur oder allgemein auf einen unter dem Titel »Mensch« oder
»Menschheit« festgehaltenen Referenten. Die relevanten Fragen stellen sich
im Rahmen eines generalisierten und vernünftigen, kritisch geprüften und
rational ausgearbeiteten Vorverständnisses, das die Zeitgenossen, wenn auch
auf verschiedenen Niveaus der gedanklichen Artikulation, im Spiegel ihrer
Lebenswelt von der Welt haben. Neue Probleme ergeben sich aus der
Notwendigkeit, kognitive Dissonanzen zu bearbeiten, die ein intersubjektiv
geteiltes Selbst- und Weltverständnis erschüttern. Solche Dissonanzen
entstehen aus zwei verschiedenen Quellen: zum einen aus neuen
Erkenntnissen über die objektive Welt, zum anderen aus Krisen der
Gesellschaft.
Der Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll die
Frage beantworten, ob und gegebenenfalls wie die philosophische
Bearbeitung von überwältigend komplexen Problemen dieser Art auch
unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens fortgeführt worden ist.
Vorbeugend möchte ich davor warnen, die Unterscheidung zwischen den
beiden erwähnten Typen nachmetaphysischen Denkens mit der zwischen
»angelsächsischer« und »kontinentaler« Philosophie gleichzusetzen. Mit
dieser »Territorialisierung« von zwei Denkstilen haben die britischen und
amerikanischen Fachbereiche, zunächst aus guten Gründen, die
Aufweichung methodischer Standards durch einen »weltanschaulichen«
Argumentationsstil abwehren wollen. Aber nationale Bezüge taugen zur
Unterscheidung philosophischer Traditionen nur sehr begrenzt. Die
Begriffsanalyse ist überall der Königsweg der Philosophie, und überall muss
sich die Durchführung theoretischer Ansätze an Maßstäben analytischer
Klarheit und Strenge der Argumentation messen lassen. Die beiden
I_29 Traditionen, die sich jeweils im Anschluss an Hume beziehungsweise
Kant ausdifferenziert haben und heute nach ihrem professionellen
Selbstverständnis weiter auseinanderdriften, lassen sich schlüssiger anhand
einer Testfrage unterscheiden: Verstehen wir uns heute nach wie vor als
Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts oder doch eher als solche der
Junghegelianer? Wenn man die Frage in dieser Weise auf die Fortsetzung
alternativer Traditionen zuspitzt, belehrt uns das Beispiel der anhaltenden
Wirkungsgeschichte des amerikanischen Pragmatismus darüber, dass
geographische Herkunftsmerkmale wie »angelsächsisch« und
»kontinental« nicht greifen. Stattdessen drängen sich prima facie vier
Weichenstellungen auf, anhand deren sich die Unterscheidung zwischen
den beiden Varianten des nachmetaphysischen Denkens präzisieren lässt.
Die Unterschiede lassen sich an der Einstellung zu Religion und Theologie
(a), an der kognitivistischen beziehungsweise nichtkognitivistischen
Auffassung der praktischen Vernunft (b), an der Einstellung zur
philosophischen Relevanz der Geistes- und Sozialwissenschaften, hegelisch
gesprochen: zum »objektiven Geist« (c) und schließlich an der
Stellungnahme zur Reflexion auf den jeweils eigenen historischen Standort
des philosophischen Denkens (d) festmachen.
(a) Nachdem die großen Systementwürfe des 17. Jahrhunderts mehr oder
weniger unverhohlen unter, methodisch gesehen, säkularen Prämissen
entwickelt worden sind, bilden sich vonseiten der Philosophie zwei konträre
Einstellungen zu religiösen Überlieferungen und zur Theologie heraus. Für die
eine ist Hobbes, für die andere Spinoza repräsentativ. Hobbes berücksichtigt
zwar den Umstand, dass seine Leser in der Regel gläubige Christen sind,
und er bemüht sich aus taktischen Gründen um den Nachweis der
Konkordanz seiner eigenen Lehre mit der Lehre der Bibel. Aber er
entwickelt seine politische Theorie auf der Grundlage eines konsequenten
Materialismus und nimmt gegenüber religiösen Phänomenen nur noch eine
wissenschaftlich objektivierende Einstellung ein. Demgegenüber ist die
Einstellung des erklärten Atheisten Spinoza komplexer. In seinem
Theologisch-politischen Traktat betrachtet er das antike Judentum zwar aus
der nüchtern objektivierenden Sicht eines Historikers und erklärt religiöse
Phänomene aus der Sicht eines Sozialwissenschaftlers funktionalistisch;
aber gleichzeitig setzt er den systema I_30 tisch entfalteten Gedanken des
deus sive natura in einen sachlichen Zusammenhang zur mosaischen Lehre
der Hebräischen Bibel. Darin drückt sich die systematische Absicht aus, die
eigene Lehre als Rekonstruktion des nach seinen Maßstäben vernünftigen
Gehalts der biblischen Lehre zu qualifizieren. In dieser Hinsicht folgt Kant
Spinoza und nicht Hume, der die Religion wie Hobbes hauptsächlich
psychologisch erklärt.
Kant nimmt zur Religion im Allgemeinen und zur überlieferten
Luther'schen Zwei-Reiche-Lehre im Besonderen eine dialogische
Einstellung ein, und zwar in der systematischen Absicht, seine
unmissverständliche Religionskritik mit der Aneignung der in
philosophischer Übersetzung vernünftigen Gehalte der religiösen
Überlieferung zu verbinden. Die in narrativer Form mitgeteilten und
zeremoniell eingeübten biblischen Wahrheiten des Kirchenglaubens sollen
nur noch die pädagogische Aufgabe haben, ungeschulten Gemütern jenes
Moralgesetz einzuprägen, das die Philosophie innerhalb der Grenzen der
Vernunft begründet. Gleichzeitig deutet Kant das Luther'sche regnum
Christi zu einer Sphäre des Intelligiblen um. Er macht sich Luthers
Unterscheidung zwischen den beiden epistemischen Einstellungen des
Gläubigen gegenüber Gott – coram Deo – und gegenüber der Welt – coram
mundo – zunutze, indem er die eine Einstellung für die transzendentale
Untersuchung der theoretischen und praktischen Selbstgesetzgebung der
Vernunft reklamiert und die andere mit der objektivierenden Einstellung
des Verstandes gegenüber der Welt gleichsetzt. Er überführt die existentiell
wichtige Einstellung des Sünders, der in seinem Inneren, aber unter den
Augen Gottes um sein Heil ringt, in die selbstreflexive Einstellung einer
Vernunft, die sich ihrer eigenen Operationen und Gesetze vergewissert.
(b) Die konträren Einstellungen zur Religion erklären die gegensätzlichen
Konsequenzen, die Hume und Kant aus der im 17. Jahrhundert
vorgenommenen subjektphilosophischen Weichenstellung für die Konzeption
der Vernunft und die davon betroffene praktische Philosophie ziehen. Beide
teilen zunächst denselben grundbegrifflichen Ansatz. Dieser hatte sich in
der Reflexion auf jene neue objektivierende Einstellung herausgebildet, die
die mathematischen Naturwissenschaften bei ihrer experimentellen
Überprüfung der Aus I_31 sagen über astronomische und physikalische
Gesetzmäßigkeiten einnehmen. Natürlich hatte sich auch schon die
Metaphysik auf Gegenstände gerichtet, die sie kontemplativ
vergegenwärtigt und in wahren Aussagen repräsentiert. Aber die
Metaphysik hatte Seiendes, vor allem das Seiende als solches, nicht allein
unter Gesichtspunkten von Existenz und Wahrheit »vergegenständlicht«,
sondern immer auch im Lichte der damit verbundenen Aspekte des Schönen
und Guten erfasst und dargestellt. Diese Verschmelzung von deskriptiven,
evaluativen und normativen Geltungsaspekten hatte sich mit der
Einschränkung der Verstandeserkenntnis auf den gesetzesmäßigen
Zusammenhang physikalischer Erscheinungen aufgelöst. Die
objektivierende Einstellung des Physikers auf die Beobachtung messbarer
Gegenstände verengt gewissermaßen den Fokus der Vergegenständlichung
auf das Bestehen oder Nichtbestehen von Objekten oder Sachverhalten. Für
den Erkenntnistheoretiker, der auf diesen Akt der Vergegenständlichung
reflektiert, verschiebt sich damit der kategoriale Rahmen, in dem er selbst
sich bewegt. Sein Blick wechselt vom Seienden im Ganzen zu den
Beziehungen zwischen dem vorstellenden Subjekt und der Welt als der
Gesamtheit vorstellbarer Objekte; und er richtet sich nach innen: Vom
Standpunkt der »ersten Person«, beobachtet der Erkenntnistheoretiker die
eigenen Vorstellungen als Teil seiner Subjektivität. Diese introspektive
Selbstobjektivierung gewinnt begriffliche Präzision durch den scharfen
Kontrast der beiden gleichermaßen vergegenständlichenden
Blickrichtungen – der nach außen auf die vorstellbaren Objekte in der Welt
sowie der nach innen auf die anscheinend unmittelbar gegebenen
subjektiven Erlebnisse. Dabei gilt die evidente Selbstgegebenheit dieser
Erlebnisse als Kriterium für die nun als Gewissheit begriffene Wahrheit.
Die Subjektphilosophie verdankt sich also einem Perspektivenwechsel,
der den primär auf Seiendes gerichteten Blick der Metaphysik auf das
erkennende Subjekt selbst umwendet; sie reflektiert auf die
Entstehungsbedingungen der objektivierenden, von allen nichtdeskriptiven
Konnotationen entschlackten Naturerkenntnis im erkennenden Subjekt.
Allerdings begreift sie die Introspektion als Beobachtung innerer Episoden
und Zustände und gleicht damit die reflexive Einstellung der ersten Person,
die – nach innen gekehrt – subjektive I_32 Erlebnisse empfindet, an die
epistemische Einstellung einer dritten Person an, die Gegenstände in der
objektiven Welt beobachtet. Auf diese Weise übernimmt der reflektierende
Erkenntnistheoretiker nicht nur den vergegenständlichenden Blick des
Physikers, sondern zugleich dessen Unterstellung eines view from nowhere,
der mit dieser epistemischen Einstellung verbunden ist. Diese
Dethematisierung des Standortes der eigenen Erkenntnisleistung erklärt
erst den eigentümlichen Objektivismus, der sich mit dem
Paradigmenwechsel zur Subjektphilosophie herausbildet. Gegenüber dieser
objektivistischen Einstellung des Empirismus zeichnet sich freilich von
Duns Scotus über Descartes zu Kant schon eine andere Linie des
Paradigmenwechsels zur Subjektphilosophie ab. Hier tritt der aus der
Perspektive der ersten Person auf die eigene Subjektivität als Ursprung
spontaner Leistungen gerichtete Blick des Erkenntnistheoretikers an die
Stelle eines aus der Perspektive einer dritten Person auf die eigene
Subjektivität als Behälter von evidenten Gegebenheiten gerichteten Blicks.
Die erste, auf sich selbst zurückgebeugte Person wird nicht als Beobachter,
sondern als handelnder Geist vorgestellt, der seine Operationen
nachvollziehen und rekonstruieren muss, um sie beschreiben zu können. Der
Philosoph erfasst das ihm bekannte performative Wissen des erkennenden
Subjekts nur auf dem Wege einer rationalen Nachkonstruktion seiner
Leistungen.
Kant richtet den Blick auf den performativen Charakter einer tätigen
Subjektivität. Schon die Theologie von Augustin bis Luther hatte bei der
Rekonstruktion von Erfahrungen des Gläubigen neben der Einstellung des
Beobachters zwei weitere epistemische Einstellungen berücksichtigt: Als
praktizierendes Mitglied einer universalen Glaubensgemeinschaft betrachtet
sich der Gläubige aus der Wir-Perspektive der ersten Person Plural, während
er in den Interaktionen mit Gott und dem Nächsten die Einstellung
gegenüber einer zweiten Person einnimmt. Kant kann diese beiden
Perspektiven für die Begründung und die Befolgung bindender Normen
fruchtbar machen und dabei einen kognitivistischen Begriff der praktischen
Vernunft entwickeln, weil ihn die Aneignung der religiösen Überlieferung
dazu anregt, die Subjektivität als Ort einer operativ »handelnden« Vernunft
zu begreifen. Die Akte dieser Vernunft versteht er nicht mehr als
selbstevident gegebene Episoden oder Zustän I_33 de, sondern als
nachvollziehbare Operationen. Auf dieselbe Weise dehnt Kant, nachdem er
die metaphysische Vergegenständlichung des Guten und des Schönen als
unzulässig kritisiert hat, den Bereich des performativ beherrschten Wissens
von deskriptiven auf moralische und ästhetische Urteile aus. Demgegenüber
gelangt der Empirismus zu einer nichtkognitivistischen Auffassung der
praktischen Vernunft. Weil sich die Subjektivität nur aus der Perspektive
der ersten Person als ein psychologischer Gegenstandsbereich von
subjektiven Erlebnissen erschließt, geht Hume von Handlungsmotiven und
Einstellungen aus, die andere Personen zwar als mehr oder weniger
angenehm, prosozial oder vorteilhaft und nützlich schätzen, aber nicht mehr
unter dem moralischen Gesichtspunkt als mehr oder weniger vernünftig
beurteilen können.
(c) Kant stützt seine kognitivistische Auffassung der Moral auf den
Begriff einer sowohl transzendental welterzeugenden als auch praktisch
gesetzgebenden Vernunft. Die Konzeption des Transzendentalen ist freilich
mit der Hypothek einer Abschottung des apriorischen Vernunftwissens
gegen die Einsprüche des empirischen, über die Sinne einströmenden
Weltwissens belastet. Der kantische Apriorismus hat eine lange Diskussion
ausgelöst, in der sich weder die empiristische Annahme des menschlichen
Geistes als einer Tabula rasa durchgesetzt hat, noch ein Rationalismus, der
auf dem angeborenen apriorischen Wissen beharrt. In dieser Diskussion
spielen die seinerzeit entstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften eine
wichtige Rolle, indem sie den Anstoß zu einem Paradigmenwechsel von der
Subjektphilosophie zur Sprachphilosophie geben – und damit eine
detranszendentalisierende Einbettung des weltenthobenen Subjekts in
Geschichte, Kultur und Gesellschaft in Gang setzen. Zwar erfüllt das – als
sprachlich verkörpert aufgefasste – kategoriale Netz jeweils »für uns«, die
erkennenden und handelnden Subjekte, nach wie vor eine im schwachen
Sinne »transzendentale« Rolle der Welterschließung; aber als Bestandteil
eines bestimmten kulturellen Weltverständnisses hat dieses Kategoriennetz
selbst einen historischen Ort in der Welt und ist offen für Revisionen, die
sich im Lichte kooperativ erzielter Lernprozesse ergeben. Für Kant selbst
bilden Geschichte, Kultur und Gesellschaft noch keinen neuen
wissenschaftlichen Objektbereich neben dem der Natur; aus seiner Sicht
I_34 verhält sich die empirische Erkenntnis zu beiden Sphären in derselben
Weise vergegenständlichend. Die Urteilskraft kann den historischen
Entwicklungen in Politik, Recht und Kultur allenfalls unter dem Vorbehalt
eines bloß heuristischen Entwurfs in praktischer Absicht einen
geschichtsphilosophischen Sinn entlocken.
Erst nachdem die schottischen Moralphilosophen den Eigensinn von
Ökonomie und Gesellschaft entdeckt und Herder, Schleiermacher und
Humboldt den hermeneutischen Zugang zur Geschichte genauer untersucht
haben, beginnt die Philosophie, den Aufstieg der Sozial- und
Geisteswissenschaften in ähnlicher Weise wie seinerzeit den Aufstieg der
modernen Naturwissenschaften als eine intellektuelle Revolution
wahrzunehmen. Hegel reflektiert auf die eigentümliche symbolische und
sprachliche Verfassung von Kultur und Gesellschaft als »zweite Natur« und
führt dafür den Begriff des »objektiven Geistes« ein. Der subjektive Geist
steht zu diesem gewissermaßen verwandten objektiven Geist der
hermeneutisch verständlichen, weil symbolisch strukturierten Gegenstände
nicht in demselben äußerlichen Verhältnis wie zu den physikalischen
Gegenständen der naturwissenschaftlich objektivierten Natur. Hegel hat
diese gegenüber der Transzendentalphilosophie neue Unterscheidung
freilich wiederum in den kategorialen Rahmen der Subjektphilosophie
einbezogen und die Natur zusammen mit dem subjektiven und dem
objektiven Geist in die Selbstbewegung eines absoluten Geistes integriert.
Aber nach Kants schlagender Vernunftkritik mussten die Hegelschüler die
Rückgriffe ihres Lehrers auf die objektiv-idealistische Denkfigur eines
Plotin als eine wiederverzaubernde Rückkehr zur Metaphysik begreifen.
Angeregt durch den späteren Schelling, hat die im weitesten Sinne
junghegelianische Gegenbewegung die im absoluten Geist verklammerten
Grundbegriffe der Subjektphilosophie aufgesprengt und mit der
kommunikations- und sprachphilosophischen Entschlüsselung des
obdachlos gewordenen »objektiven Geistes« einen weiteren
Paradigmenwechsel vollzogen. Diese Detranszendentalisierung der
Vernunft nimmt der welterzeugenden Subjektivität Kants den Panzer des
apriorischen Wissens ab, ohne die endliche, sprachlich und organisch
verkörperte sowie historisch und gesellschaftlich situierte Vernunft ganz
ihrer weltentwerfenden Spontaneität zu entkleiden.
I_35 Aus dieser Sicht zieht sich die subjektive Vernunft in handelnde und
lernende Subjekte zurück, die in ihren jeweiligen lebensweltlichen
Kontexten miteinander vergesellschaftet sind. So verschränkt sich die
Vernunft der Subjekte mit einer kommunikativen Vernunft, die in der
historischen Vielfalt der einander überlappenden sozialen Lebenswelten nur
noch auf prozedurale Weise Einheit stiften kann. Die kommunikativ
vergesellschafteten Subjekte finden sich jeweils im Horizont einer
partikularen, in Geschichte, Kultur und Gesellschaft situierten Lebenswelt
vor und reproduzieren ihr Leben, indem sie sich – in Kooperation und
Konflikt – gleichzeitig interpersonal aufeinander und intentional auf etwas in
der objektiven Welt beziehen. Dabei sind kommunikatives Handeln und
lebensweltlicher Hintergrund durch die Dynamik eines Kreisprozesses
miteinander verschränkt: Die symbolisch strukturierte Lebenswelt
reproduziert sich über das kommunikative Handeln, das seinerseits von den
jeweils intuitiv gewussten »Vorschüssen« der Lebenswelt zehrt. Nach dem
Paradigmenwechsel von der Subjekt- zur Sprachphilosophie tritt an die
Stelle der erkenntnistheoretisch begriffenen Subjekt-Objekt-Beziehung nun
die formalpragmatisch begriffene Beziehung zwischen dem unthematischen
Vollzug der lebensweltlich eingebetteten Kommunikation und den jeweils
thematisch begegnenden Gegenständen und Herausforderungen in der
objektiven Welt, auf die sich die Kommunikationsteilnehmer intentional
beziehen, um als handelnde Subjekte mit ihnen zurechtzukommen.
(d) Damit stoßen wir auf die letzte und für das Vorhaben einer
Genealogie des nachmetaphysischen Denkens leitende Differenz zwischen
jenen beiden Denkrichtungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts
auseinandertreten. Anders als der Empirismus lernt das nachhegelsche
Denken im Zuge der Detranszendentalisierung des Geistes die Tätigkeit
einer inzwischen situierten Vernunft gleichzeitig aus der Perspektive des
Teilnehmers zu rekonstruieren und aus der Perspektive des Beobachters in
ihrem jeweiligen historischen Einbettungskontext zu beschreiben. Diese
Doppelperspektive rückt sowohl das professionelle Selbstverständnis als
auch die Geschichte der Philosophie in ein anderes Licht. Sie drängt
einerseits die Philosophie dazu, die Moderne als Thema ernst zu nehmen,
und sie lenkt andererseits den auf die Geschichte der Philosophie
gerichteten ge I_36 nealogischen Blick darauf, die problemgesteuerte interne
Gedankenbewegung zu der Funktion in Beziehung zu setzen, die die
philosophischen Deutungssysteme selber in ihrem geschichtlichen,
kulturellen und gesellschaftlichen Kontext jeweils auch erfüllen. An den
Stufen der Selbstbeziehung, die die Subjektphilosophie nach und nach
durchläuft, kann man sich klarmachen, was es bedeutet, dass das sich selbst
reflektierende Bewusstsein nicht nur die introspektiv
vergegenständlichende Perspektive eines Beobachters von Gegenständen,
sondern auch den Narzissmus jener zwar leistenden, aber in sich
verkapselten Subjektivität aufgibt, die sich als Subjekt und Objekt der
Vernunftkritik zugleich begreift. Was bedeutet es für das Selbstverständnis
der Philosophie, wenn sie ihre gegenwärtige Gestalt gleichzeitig
hermeneutisch als das Ergebnis einer intern rekonstruierten
Entwicklungsgeschichte und objektivierend als Bestandteil und Funktion
ihrer jeweiligen sozialen Kontexte betrachtet?
Diese doppelte Perspektive hat für unser Vorhaben die Konsequenz, dass
die Weltbildentwicklung nicht nur intern als Ergebnis von Lernprozessen
betrachtet werden kann, sondern auch ihrerseits sozialevolutionäre
Lernprozesse widerspiegelt, in die sie eingebettet ist – und über die sich die
Philosophie von den Geistes- und Sozialwissenschaften aufklären lassen
muss. Religiöse und metaphysische Weltbilder bewältigen nämlich nicht
nur kognitive Aufgaben, sondern erfüllen auch Funktionen innerhalb
gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge, die als solche erst mit
dem Aufkommen der Humanwissenschaften zum Thema werden. Erst
seitdem kann auch eine Philosophie, die diese Wissenschaften ernst nimmt,
erkennen, dass die Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung ihren
eigenen Aufgabenbereich und ihr Selbstverständnis affizieren. Daher
unterscheiden sich die beiden Varianten nachmetaphysischen Denkens
auch und vor allem an der Frage, ob jene Theorien der Moderne, die seit
Hegel aus der Kooperation mit den Geistes- und Sozialwissenschaften
hervorgegangen sind, es verdienen, in den Kanon der philosophischen
Fächer aufgenommen zu werden.
Wenn man sich die unter (a) bis (d) behandelten Aspekte der
Verzweigung von zwei konträren Denkrichtungen vor Augen führt, wird
deutlich, dass die Frage nach dem richtigen professionellen
Selbstverständnis nachmetaphysischen Denkens nicht am Beispiel
einzel I_37 ner Probleme auf dem Wege einer direkten Konfrontation
entschieden werden kann. Die beiden Entwicklungspfade scheiden sich an
der Frage, ob und gegebenenfalls wie die Philosophie auch in ihrer
nachmetaphysischen Gestalt an dem Anspruch festhalten kann und soll, das
im lebensweltlichen Hintergrund verankerte intuitive Welt- und
Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Generationen zu erklären und
so weit wie möglich im Lichte des wissenschaftlich akkumulierten und
jeweils verbesserten Weltwissens kritisch zu prüfen und zu korrigieren. Es
liegt nicht auf der Hand, mit welcher Art von Argumenten wir zwischen
dieser Alternative entscheiden können. Der inkonklusive Verlauf dieser
Auseinandersetzungen weist darauf hin, dass tiefersitzende
Hintergrundprämissen im Spiel sind, die sich nur zusammen mit dem
Kontext weiter ausgreifender Deutungsperspektiven bewegen lassen. Daher
möchte ich auf dem indirekten Weg einer Genealogie des
nachmetaphysischen Denkens die rational nachvollziehbaren Lernprozesse
untersuchen, die an der markanten, durch Hume und Kant signalisierten
Wegscheide des modernen Weltverständnisses nicht Halt machen. Für
dieses Projekt empfiehlt es sich, eine Reihe von Vorkehrungen zu treffen,
um Prima-facie-Einwänden entgegenzutreten. Das erklärt den auf den
ersten Blick heterogenen Charakter der im Folgenden kursorisch
behandelten vier Themenkomplexe.
Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen wir eine Reihe
bedeutender philosophischer Versuche, eine Theorie der Moderne zu
entwerfen, um auf diesem Wege das aus ihrer Sicht richtige professionelle
Selbstverständnis von Philosophie zu begründen. Diese Theorien verdienen
schon deshalb Interesse, weil sie für den Typus einer vernunftkritisch
durchgeführten Welt- und Selbstverständigung exemplarisch sind.
Ironischerweise widersprechen gerade diese philosophischen Ansätze
meiner eigenen Intention. Sie alle laufen nämlich auf eine wenig
überzeugende Kultur- und Gesellschaftskritik hinaus, die das
philosophische Denken der Gegenwart entweder zur Theologie des
Mittelalters oder zur griechischen Metaphysik oder gar zu den Quellen
vorsokratischen Denkens zurückrufen möchte. Im Lichte dieser
nostalgischen Ordnungsrufe kann sich die forcierte Verwissenschaftlichung
der Philosophie erst recht als die überzeugendere Alternative zu einem aus
analytischer Sicht »verwil I_38 derten« Denken präsentieren. Tatsächlich
scheitern diese Krisentheorien daran, dass sie sich der Frage, mit der ihnen
Hans Blumenberg kritisch entgegentritt, gar nicht erst gestellt haben:
Könnten sich die theoretischen Weichenstellungen zum
nachmetaphysischen Denken, auf die sie jeweils die Krise der Gegenwart
zurückführen, nicht vielleicht als Ergebnisse intrinsisch überzeugender
Lernprozesse durchgesetzt haben? Mir dient diese interessante Debatte als
Sprungbrett, um mein Vorhaben einer Genealogie nachmetaphysischen
Denkens methodisch zu erläutern und Missverständnissen vorzubeugen, die
dieses Vorgehen auf den ersten Blick erzeugen könnte (1).
Dass diese Genealogie am Leitfaden von Glauben und Wissen
durchgeführt werden soll, rechtfertigt sich aus der engen Symbiose der
griechischen Philosophie mit den monotheistischen Religionen. Im Westen
ist die Philosophie für mehr als ein Jahrtausend von Theologen betrieben
worden, die nicht nur ihre Dogmatik in Begriffen der Philosophie
ausgebildet haben, sondern auch umgekehrt als Philosophen aus der
kritischen Aneignung theologischer Motive neue Begriffe, epistemische
Einstellungen, Konzeptionen und Sprachen in die Philosophie selbst
eingeführt haben. Dieser Prozess einer »begrifflichen Osmose« hat sich
auch unter Prämissen säkularen Denkens und, im Junghegelianismus, sogar
unter polemisch atheistischen Vorzeichen fortgesetzt. Die Philosophie hätte
freilich nur dann Aussicht, auch weiterhin unabgegoltene semantische
Gehalte dieser Herkunft in ihre säkulare Begrifflichkeit einzuholen, wenn
die religiösen Gemeinschaften und Traditionen immer noch eine – nicht nur
im empirischen, sondern auch im intellektuellen Sinne – »gegenwärtige«
Gestalt des Geistes darstellten. Im Hinblick auf diese kontroverse Frage
möchte ich einerseits auf die einschlägige sozialwissenschaftliche
Diskussion kurz eingehen und andererseits an zwei prominenten Beispielen
– Karl Jaspers und John Rawls – zeigen, wie diese Autoren das Verhältnis
der Philosophie zur Religion bestimmt haben (2).
Da ich die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens nur auf dem
okzidentalen Entwicklungspfad verfolgen kann,[14] erscheint der
I_39 Universalitätsanspruch, der sich mit dem nachmetaphysischen Denken
verbindet, von vornherein als eine problematische Überverallgemeinerung.
Aus der Sicht anderer Zivilisationen betrachtet, besteht die Hypokrisie
dieses Anspruchs darin, dass sich das nachmetaphysische Denken seiner
genealogischen Herkunft aus der Konfrontation des griechischen Denkens
mit monotheistischen Überlieferungen rühmt und sich gleichzeitig als
Stimme der universalen Vernunft über den Partikularismus aller anderen
metaphysischen und religiösen Weltdeutungen erhebt. Um den Stellenwert
dieses Einwandes richtig einzuschätzen, skizziere ich zunächst den
zivilisationstheoretischen Ansatz, der die religiöse Prägung der in der
multikulturellen Weltgesellschaft konkurrierenden Mächte hervorhebt;
sodann versuche ich mithilfe eines Gedankenexperiments vorsorglich den
Vorbehalt zu präzisieren, unter dem das nachmetaphysische Denken
innerhalb eines auf philosophischer Ebene noch kaum begonnenen
interkulturellen Diskurses gleichwohl an seinem Universalitätsanspruch
sollte festhalten dürfen (3).
Abschließen will ich die Vorüberlegungen mit einer Skizze der
gesellschaftstheoretischen Hintergrundannahmen, die ich für die
Genealogie nachmetaphysischen Denkens stillschweigend in Anspruch
nehmen werde. Denn diese verstehe ich zwar als einen intern
nachvollziehbaren, aber nicht als einen ausschließlich intern gesteuerten
Lernprozess. Das philosophische Denken reagiert nicht nur auf die
Herausforderungen des akkumulierten Weltwissens, sondern, wie Hegel als
Erster erkennt, auch auf Krisenphänomene eines Zerfalls der Solidarität, die
insbesondere im Zuge des modernen Formwandels der gesellschaftlichen
Integration zu Bewusstsein kommen (4).
I_40 1. Krisenszenarien und
Verfallsgeschichten in
philosophischen Großtheorien
des 20. Jahrhunderts
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickeln einflussreiche
Philosophien ihren eigenen theoretischen Ansatz und ihr exemplarisches
Verständnis von Philosophie auf dem Wege einer Diagnose von
Verfallserscheinungen, die sich – auch wenn sie sich längerfristig
angebahnt haben – erst in der Moderne zu Krisentendenzen verschärft
haben. Für Carl Schmitt tritt das Drama der christlichen Heilsgeschichte mit
der Säkularisierung der Staatsgewalt, der Entmachtung der katholischen
Kirche und dem politischen Liberalismus (als der Erscheinungsform einer
»anarchischen« Entpolitisierung der bürgerlichen Gesellschaft) in das
Stadium der endzeitlichen Entscheidung. Für Leo Strauss manifestiert sich
die Krise von Staat und Gesellschaft zwar an ähnlichen Phänomenen,
erklärt sich aber aus anderen Gründen: Der klassisch naturrechtliche Begriff
von Politik löst sich in die zweckrationale Verwendung abstrakter Macht
auf und stabilisiert eine Herrschaftsordnung, die mit Mitteln positiven
Rechts vor allem die negativen Freiheiten der Bürger sichert. Für Karl
Löwith nimmt das von Augustin bis Joachim von Fiore und Bossuet
entwickelte heilsgeschichtliche Denken mit Vico und den französischen
Aufklärern die säkularisierte Form der Geschichtsphilosophie an und
mündet in einen Historismus, der die totalitäre Enthemmung der
politischen Gewalt erklären soll. Für Heidegger ist Descartes' Wendung zur
Subjektphilosophie der Schlüssel für die Ausbreitung einer Denkform, mit
der sich die Seinsvergessenheit zum metaphysischen Verhängnis der
Götterferne verdüstert. Allein für Linkshegelianer wie Georg Lukács, Ernst
Bloch, Walter Benjamin und die Exponenten der Frankfurter Schule liegt die
Rettung aus dem universalen Sog der kapitalistischen Verdinglichung nicht
in der Rückwendung zu den römischen Wurzeln des Katholizismus oder
den Klassikern beziehungsweise Ursprüngen der griechischen Philosophie,
sondern in der revolutionären Entbindung der in der Moderne aufgestauten,
aber einstweilen entstellten Potentiale. Allerdings wird die sozialistische
Zukunft ebenfalls als eine Wiederaneignung der vom Mahlstrom der
kapitalistischen Rationalisierung I_41 unterdrückten Dimensionen der
Vernunft gedacht. Bei Bloch öffnet sich das philosophische Denken für den
evolutionären Hoffnungsträger der physikalisch entstellten Natura
naturans, bei Benjamin für die Antizipation eines ereignishaften Bruchs mit
dem lähmenden Kontinuum des geschichtlichen Fortschritts und bei
Adorno für das mimetische Eingedenken einer instrumentell verstümmelten
subjektiven Natur sowie für die ästhetische sensibilisierte Wahrnehmung
des Nichtidentischen im vergegenständlichten Anderen.[15]
Nachdem die Moderne von allen Vergangenheiten Abstand genommen
hat, wird in diesen zeitdiagnostisch gehaltvollen Theorien des
20. Jahrhunderts die Erneuerung von versiegten Quellen – sei es der
religiösen, der römisch-griechischen oder der mythischen Vergangenheit –
nicht mehr in der Art einer »Renaissance« vorgestellt, sondern als ein aus
der Krise der Moderne selbst aufbrechendes Heil. Die Moderne ist die Krise
– von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Niklas Luhmann, der den
Krisenmodus zum Normalzustand der Reproduktion der gesellschaftlichen
Moderne erklärt (und keine therapeutische Notwendigkeit mehr erkennen
kann). Zuvor hatte Blumenberg die Legitimität der Neuzeit gegenüber allen
Konstruktionen einer Verfallsgeschichte als eine dank besserer Argumente
erstrittene Entkoppelung von ihren geschichtlichen Bindungen verteidigt
(um dann freilich selbst in die Rhetorik einer »Arbeit am Mythos«
auszuweichen, das heißt einer Vergewisserung von anthropologisch
lehrreichen Denkfiguren aus dem Bestand der Weisheitsliteratur der frühen
und der klassischen Hochkulturen). In unserem Zusammenhang kann ich
auf diese komplexen Theorien nicht im gebotenen Detail eingehen. Aber ich
möchte festhalten, was wir von den Architekten der Verfallsgeschichte der
Moderne und von Blumenbergs Versuch einer Selbstbehauptung der
Moderne lernen und welche Schlüsse wir aus den Defiziten dieser hitzigen
Selbst I_42 verständigungsdebatte für die Anlage einer Genealogie des
nachmetaphysischen Denkens ziehen können.[16]
(1) Carl Schmitt (1888-1985) hält die Säkularisierung der Staatsgewalt und
damit die politische Entwurzelung der katholischen Kirche und des
christlichen Glaubens für die primäre Ursache einer Krise, die die Moderne
ihrer Einheit stiftenden geistigen Orientierung beraubt habe. Schon in zwei
frühen, zu Beginn der 1920er Jahre geschriebenen Abhandlungen nimmt
diese Diagnose klare Umrisse an. Darin stellt sich Schmitt in die Tradition
der französischen und spanischen Gegenaufklärung, die im politischen
Liberalismus (und dessen angeblich anarchistischem Kern) ihren »Feind«,
nicht nur ihren Gegner erkennt. Carl Schmitt denkt, dass die Legitimisten in
dem seit 1789 ununterbrochen anhaltenden revolutionären Prozess eine
Entscheidung für die Wiederherstellung der klerikal-monarchistischen
Ordnung gesucht haben, und spitzt seine Analyse auf den Gegensatz von
zwei Komplexen zu. Auf der einen Seite bildet »das Politische« der in
herrschenden Personen verkörperten staatlichen Autorität nach wie vor das
Zentrum der Gesellschaft; auf der anderen Seite zieht die Dynamik der
gesellschaftlichen Rationalisierung diesen Kern des Politischen in den Sog
der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft hinein und nivelliert
den Staat zu einem Subsystem oder »Sachgebiet« neben anderen. In diesem
Prozess verliert der römische Katholizismus seine »politische Form«, sodass
die »Substanz« des Staates ausgehöhlt wird.[17] Die Staatsmacht ist
christlich im Kern und tritt gleichzeitig profan in Erscheinung. Denn die
von Hobbes für das 17. Jahrhundert entworfene Herrschaft des christlichen
Monarchen stützt sich zwar faktisch auf die vollziehende Gewalt des
bürokratischen Staatsapparates und auf die blanke Sanktionsgewalt von
Polizei und Militär, aber vor den Bürgern reproduziert sie sich dank ihrer
symbolisch repräsentierten Verkörperung in der Person des Herrschers.[18]
Durch Symbole, Zeichen und I_43 Zeremonien, durch Körpersprache,
Gestik, Kleidung und Rhetorik bezeugt der Herrscher seine mystische
Teilhabe an der Herrschaft Gottes. In dieser Dimension der Repräsentation,
die auf »den geschichtlichen Zusammenhang« mit der Menschwerdung
Gottes verweist, bezeugt sich der christliche Charakter der Herrschaft.[19]
Allerdings zeigt diese ihre profane Seite in der souveränen Gewalt, die sich
zwar auf einen bürokratischen Staatsapparat stützt und mit Mitteln des
positiven Rechts regiert, aber in einem nicht verrechtlichten Arkanbereich
autoritär entscheidet. In Staat und Politik, die Gottes Herrschaft auf Erden
»repräsentieren«, verbindet sich das hohe Ethos der Gerechtigkeit mit der
Strenge dezisionistisch ausgeübter Macht; es bedarf immer wieder einer
realistischen Erneuerung des »Kompromisses zwischen Gerechtigkeit und
ruhmvollem Glanz«.[20]
Schon in seiner Schrift Politische Theologie hat Carl Schmitt diesen
erodierenden Komplex der staatlichen Substanz mit der gesellschaftlichen
Dynamik einer Wirtschaftsgesellschaft konfrontiert, die gegenüber der
politischen Ordnung souveräner Macht ganz andere Prinzipien zur Geltung
bringt: »[D]as Politische [verschwindet] im Ökonomischen oder Technisch-
Organisatorischen […].«[21] Max Webers Untersuchungen hatten die
Aufmerksamkeit seiner jüngeren Zeitgenossen nicht nur auf die
bürokratische Versachlichung der Herrschaft, sondern auch auf die
industriegesellschaftliche Rationalisierung gelenkt. In ihr verbinden sich die
ökonomische Rationalität des am Gewinn orientierten wirtschaftlichen
Handelns und die Organisationsrationalität betriebsförmiger Unternehmen
mit der Rationalität einer wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung,
die sich in Produktivitätssteigerungen auszahlt. Während Lukács darin den
Motor für die Unterwerfung der Arbeitskraft und letzt I_44 lich aller sozial
integrierten Lebensverhältnisse unter die ausbeutende Abstraktionskraft der
Warenform erkennt, will Schmitt in der kapitalistischen Rationalisierung
der Gesellschaft die Ursache für eine verhängnisvolle Neutralisierung des
Politischen ausmachen.[22] In dem Maße, wie sich die Gesellschaft nach
funktional spezifizierten Teilsystemen ausdifferenziert, verlieren Politik und
Staat ihre Integrationskraft für die Gesellschaft im Ganzen. Beide werden in
die Interdependenzen einer fortschreitend heterarchisch strukturierten
Gesellschaft hineingezogen. In Schmitts eigenen Worten: Staat und
Gesellschaft durchdringen sich. Das äußert sich in einem Formwandel der
säkularisierten Politik: Die von Gott verliehene substantielle Macht des
Souveräns wird »entpolitisiert«. Darunter versteht Schmitt die gleichzeitige
Verrechtlichung und Demokratisierung der Staatsgewalt, die sich der
politische Liberalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Mit der Dominanz
der gesellschaftlichen Rationalisierung verliert auch das positivierte und auf
einen demokratischen Gesetzgeber umgepolte Recht seine traditionelle
Würde und Rationalität als die formgebende Kraft der »repräsentativen«
Herrschaft. Die rechtsstaatliche Bindung der Ausübung politischer
Herrschaft an allgemeine, demokratisch erzeugte Normen beraubt die
Entscheidungen des Herrschers im Namen von Rationalität, Recht und
Moral ihres weiten Ermessensspielraums. In hypokritischer Manier
verschleiern die Feinde des Politischen – mit Hans Kelsen und der
neukantianischen Rechtslehre als ihrer juristischen Vorhut – hinter der
Fassade eines normativen Universalismus nur die eigenen politischen
Machtansprüche. Die liberale politische Kultur ist buchstäblich vom Teufel,
denn aus der Perspektive des heilsgeschichtlichen Dramas spielen alle jene
Elemente, die die Natur des Politischen zersetzen, dem Satan in die Hände;
und der Teufel äußert sich im Stimmenwirrwarr der politischen
Öffentlichkeit und im abstrakten Recht, in Kritik und Neinsagerei, im Streit
der politischen Parteien und im gesellschaftlichen Pluralismus sowie in der
Macht der Parlamente und im Verfahren der Deliberation.[23]
I_45 Carl Schmitt wusste natürlich, dass sich das kapitalistische Rad der
gesellschaftlichen Rationalisierung nicht mehr würde zurückdrehen lassen.
Und er musste auch wissen, dass sich die Klagen der französischen
Gegenaufklärung über die bürokratische Versachlichung der politischen
Herrschaft, über Liberalismus und das Ende des Ancien Régime schon ein
halbes Jahrhundert später wie Phantomschmerzen anfühlten. Von Juan
Donoso Cortés hatte Schmitt zwar gelernt, »dass Diktatur das Gegenteil von
Diskussion ist«, aber als Weimarer Verfassungsrechtler sah er sich an die
Interpretation des geltenden Rechts gebunden. So stand er, bevor er dem
Nazi-Regime seine Vorstellungen andienen konnte, vor der eminenten
Herausforderung, der Weimarer Verfassung die autoritäre Lesart einer
plebiszitären Führerdiktatur abzugewinnen. Dieses Meisterstück einer
faschistischen Umdeutung des Verfassungstextes ist ihm auf der Grundlage
von hochproblematischen Grundentscheidungen gelungen, auf die ich in
unserem Zusammenhang nicht erneut einzugehen brauche.[24] Denn wenn
der Verzicht auf Säkularisierung und rechtsstaatliche Demokratie der Preis
wäre, den eine moderne Gesellschaft für die Überwindung ihrer
Krisentendenzen zu zahlen hätte, läge die Konsequenz auf der Hand. Zwar
können wir die historische Möglichkeit einer Umkehrung des
Säkularisierungsprozesses, wie unter anderem das Beispiel der Islamischen
Republik Iran zeigt, nicht ausschließen, aber Carl Schmitts Krisenanalyse
liefert für eine solche Regression keine haltbaren Gründe. Andererseits sind
Vorbehalte gegen eine Privatisierung der Religion nach dem Muster des
Laizismus auch nicht ganz falsch; die Säkularisierung des Staates bedeutet ja
nicht, dass sich die Zivilgesellschaft vollständig säkularisiert hätte.
Auch die Diagnose einer Auflösung des Politischen ist nicht in jeder
Hinsicht falsch. In dem speziellen Sinn, dass eine demokratische
Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst zunehmend blockiert I_46 wird,
trifft sie ein ernstzunehmendes Krisensymptom. Daher ist es eine relevante
Frage, ob die Dezentrierung der Gesellschaft nicht nur den Staat zu einem
funktional spezifizierten Teilsystem neben anderen ausdifferenziert,
sondern ob sie auch die Politik im Ganzen ergreift und die Einflussnahme
der Staatsbürger auf ihre sozialen Lebensbedingungen marginalisiert. Heute
verbindet sich die Rede von »postdemokratischen« Zuständen mit einer
erneuten Aktualität des Begriffs »des Politischen«.[25] Zum vernünftigen
Sinn dieses aktualisierten, ursprünglich einer anderen Periode angehörigen
Begriffs des Politischen möchte ich wenigstens eine Anmerkung machen. In
der diffusen Gestalt frei konkurrierender öffentlicher Meinungen kann »das
Politische« – im Sinne eines Interesses für das Ganze unserer einstweilen
noch über nationalstaatliche Öffentlichkeiten legitimierten Gemeinwesen –
auch in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften in Verbindung mit
demokratischen Wahlen ein einigendes Zentrum bilden. Das ist freilich nur
so lange möglich, wie die entscheidungsbedürftigen Themen überhaupt
noch in die Kommunikationskreisläufe Eingang finden und die staatlich
institutionalisierten Entscheidungen selbst in dem pluralistischen
Stimmengewirr einer vitalen Öffentlichkeit verwurzelt bleiben. Die
Belastungen, die durch die Funktionsstörungen in einzelnen Teilsystemen
der Gesellschaft, vor allem im ökonomischen System, hervorgerufen
werden, finden auf dem Resonanzboden der Zivilgesellschaft ein Echo in
einer zerstreuten, aber gesellschaftsweit verbreiteten Krisenempfindlichkeit.
Dieses noch vorpolitische Allgemeinbewusstsein richtet die
Aufmerksamkeit auf Themen, die einen Handlungsbedarf der Politik
einfordern. Es kann sich in der politischen Öffentlichkeit artikulieren und
unter günstigen Bedingungen mobilisierende Kraft entfalten. Die längst
verstaatlichten politischen Eliten empfangen von dieser Seite einen
intentionalen Gegendruck zu dem Erpressungspotential der Märkte und
allgemein zum systemischen Sog funktionaler Imperative, die im Scheine
von »Sachnotwendigkeiten« auftreten.
(2) Die Sorge um die Verkümmerung des Politischen teilt Leo Strauss
I_47 (1899-1973) mit Carl Schmitt. Die Rezension, die er unmittelbar nach
Erscheinen des berüchtigten Buches Der Begriff des Politischen
veröffentlicht, verrät auch den Grund seines Interesses: die
Übereinstimmung in der kritischen Einstellung gegenüber einem
politischen Liberalismus, in dem die Krisen des Zeitalters ihren
ideologischen Ausdruck finden sollen. Auch für Leo Strauss ist die
Französische Revolution kurzerhand »die Sintflut«. Das gemeinsame Thema
behandelt Strauss indessen aus einer anderen disziplinären und sachlichen
Perspektive.[26] Für ihn als Philosophen bilden weder der monarchische
Staat des 17. Jahrhunderts noch die zeitgenössische Staatstheorie von
Thomas Hobbes den Ausgangspunk für eine Rekonstruktion des
zerfallenden Politischen. Leo Strauss greift vielmehr auf den von Plato und
Aristoteles philosophisch entwickelten Begriff des Politischen zurück, der
einst in der Lebensform der Polis seinen Ausdruck gefunden hatte. Daher
stellt sich die klassische Frage nach der gerechten Herrschaft und der besten
politischen Ordnung im Zusammenhang der praktischen Frage nach dem
guten und richtigen Leben schlechthin. Strauss trifft sich zwar mit Schmitt
in der Krisendiagnose eines Zerfalls der integrierenden, Einheit stiftenden
Kraft »des Politischen« – moderne Gesellschaften finden in der Politik nicht
mehr ihr Zentrum und ihren Halt. Aber aus der Sicht von Strauss
bestimmen nicht christliche Heilsgeschichte und Theologie den Blickwinkel,
aus dem wir gegenüber den sozialwissenschaftlichen und
politiktheoretischen Verengungen des Politikbegriffs noch das Umfassende
dieses im Verschwinden begriffenen Phänomens wahrnehmen sollen. Im
schroffen Widerspruch zu Schmitt soll der Raum des Politischen nicht mehr
in der Rückkehr zum arkanen Entscheidungsspielraum und zur Aura eines
von Gott berufenen Monarchen oder Führers wiedergewonnen werden
können, sondern durch eine vernünftige Orientierung an naturrechtlich
begründeten Normen. Letztlich soll uns nur die griechische Philosophie über
eine Natur des Menschen belehren können, die ihrer Bestimmung nach
harmonisch in den Aufbau des Kosmos eingegliedert I_48 ist und ihr Telos
allein in den naturrechtlich begründeten Formen des politischen Lebens
erreichen kann. Die Menschheit kann dieses Ziel – wie das Unbehagen in
und an der Moderne zeigt – freilich auch verfehlen: Die falschen
Weichenstellungen der modernen Politik macht Strauss zum Thema seiner
großen Studien über Machiavelli, Hobbes und Spinoza, die alle – im
Gegensatz zur politischen Theologie[27] – um das Thema Naturrecht und
Moderne kreisen.
I_49 Der Titel des Buches Naturrecht und Geschichte, in dem der Autor
seine Gedanken noch am ehesten systematisch zusammenführt, bezieht sich
auf das historische Denken als eine der beiden wesentlichen Ursachen für
die Entfremdung des modernen Denkens von der Antike. Für diesen Bruch
ist jedoch im 17. Jahrhundert zunächst ein anderer Grund entscheidend. Mit
dem philosophischen Gezeitenwechsel, der mit den Entdeckungen der
modernen Naturwissenschaften eintritt, verliert die teleologische
Metaphysik der Natur, als Hintergrund des antiken Denkens und des
christlichen Naturrechts, an Überzeugungskraft. Die neue Physik hatte die
»Natur« des klassischen Naturrechts aller Qualitäten, aus denen Maßstäbe
für moralisch richtiges oder falsches Handeln gewonnen werden sollten,
beraubt. Mit der Säkularisierung der Staatsgewalt ist der moderne Staat
auch seiner Legitimation aus Gottes Gesetz beraubt worden, und das
moderne Vernunftrecht kann das christliche Naturrecht in dieser Funktion
nicht ersetzen, weil es nach der Ablösung von der Metaphysik nur noch auf
einen Begriff von Rationalität zurückgreifen kann, der für die Begründung
von Normen des richtigen Lebens und Zusammenlebens zu schwach ist.
Hobbes, der sich auf Machiavellis Begriffe des interessegeleiteten
politischen Handelns und der politischen Macht als einer abstrakten,
zweckrational verwendbaren Größe stützt, will die politische Philosophie
auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen. Die mechanistische Auffassung
der Natur suggeriert eine durchgängig deterministische Verfassung der
menschlichen Natur, die mit einer freien Entscheidung zwischen Gut und
Böse unvereinbar ist. Dieselbe Physik, die das Bewusstsein der
Willensfreiheit theoretisch unterminiert, wird allerdings aus der
performativen Sicht des Forschers nach dem methodischen Grundsatz
betrieben, dass wir nur das zuverlässig erkennen, was wir selber herstellen
oder reproduzieren können. Aus dieser Perspektive ermutigt die neue
Wissenschaft praktisch den wissenschaftlich aufgeklärten Willen zur
technischen Unterwerfung der Natur und – parallel zur Beherrschung der
äußeren Natur – den Willen zur sozialtechnischen Konstruktion eines
Frieden stiftenden Staatsapparates, der I_50 die Natur des Menschen
diszipliniert und den gesellschaftlichen Verkehr pazifiziert.[28]
So erkauft sich der moderne Mensch, aus der von Strauss geteilten Sicht
der Antike betrachtet, seine Willkürfreiheit und Souveränität um den Preis
eines versklavenden naturalistischen Selbstverständnisses, »weil seine
Menschlichkeit nicht im Kosmos seine Stütze hat«.[29] Der baconische
Geist, der sich vom antiken Bild der Natur losreißt, führt gleichzeitig zum
naturalistischen Verständnis des Menschen und zum konstruktivistischen
Begriff des Staates als einer Maschine, die mithilfe des modernen
Zwangsrechts hergestellt wird. Die Pointe dieser Interpretation besteht nun
darin, dass einem solchen Staat die Integrationskraft jener moralischen
Grundlagen fehlt, auf die auch noch die politische Vergesellschaftung durch
positives und zwingendes Recht angewiesen bleibt. Dieses normative Defizit
erklärt Strauss aus Hobbes' anthropologischen Grundannahmen. Die
pleonastische Natur der ins Unendliche strebenden Begierden ergibt sich
aus ihrer Verbindung mit einem antizipierenden Blick des menschlichen
Verstandes auf die Risiken der Umwelt. Aus Selbsterhaltungsbedürfnis und
rationaler Gefahrenkalkulation entsteht ein abstraktes Streben nach Macht,
und dieses kann nach den je eigenen Präferenzen eingesetzt werden. Das
Angenehme und Vorteilhafte ist gut, das Unangenehme und Schädliche
böse. Während die Skala des Guten nur Abstufungen zum Besseren oder
Schlechteren kennt, ist die Skala des Bösen durch das größte zu
vermeidende Übel des gewaltsamen Todes begrenzt. Diese Beschreibung der
menschlichen Natur liefert Hobbes im Hinblick auf die Konstruktion einer
staatlichen Ordnung die Begründung für die Basis eines natürlichen Rechts
auf Selbsterhaltung, das allen Individuen in gleicher Weise zusteht.
Leo Strauss kritisiert nun diesen Ansatz in zwei Schritten. Er erkennt den
Systemwechsel des Rechts, den Hobbes vornimmt, indem er die politische
Herrschaft von einer auf das Gemeinwohl ausge I_51 richteten objektiven
Rechtsordnung auf ein System umstellt, das aus subjektiven Rechten
aufgebaut ist. Diese bestimmen Spielräume individueller
Handlungsfreiheiten, also Ansprüche, die eine Rechtsperson gegen andere
Rechtspersonen geltend machen kann.[30] Natürliche Rechte im Sinne von
Berechtigungen gegen andere reichen aber nicht aus, um Verpflichtungen
zu begründen, also bindende Gesetze, wonach die Freiheiten des Einzelnen
mit den Freiheiten aller anderen, wie Kant sagen wird, »zusammen
bestehen können«. Daher fehlt Hobbes ein Äquivalent für das göttliche
Gesetz, auf das sich das christliche Naturrecht gestützt hatte. Im zweiten
Schritt seiner Kritik kann sich Strauss darauf berufen, dass sich diese
Aufgabe unter Hobbes' eigenen empiristischen Voraussetzungen nicht lösen
lässt: »[W]enn der Selbsterhaltungstrieb die einzige Wurzel aller
Gerechtigkeit und Sittlichkeit ist, dann ist die moralische Grundtatsache
keine Pflicht, sondern ein Recht.«[31]
Nachdem Strauss auf dem Wege der Kritik des Vernunftrechts das Fehlen
normativer Ressourcen aufgezeigt hat, möchte er das klassische Naturrecht
als die Lösung des Problems anbieten. Im Gegensatz zu der über weite
Strecken einleuchtenden pars destruens seines Werkes besteht die pars
construens freilich nicht in einer argumentativen Begründung, sondern in
einer hermeneutischen Verlebendigung der platonischen Idee »des Guten«
und der aristotelischen Idee »des guten Lebens«.[32] Weil für das
Naturrechtsdenken der Antike die Prämisse entscheidend gewesen ist, dass
»das gute Leben die Vollendung der Natur des Menschen« ist,[33] könne die
Vernunft im Hinblick auf dieses natürliche Ziel bestimmen, was »von Natur
aus« rechtens ist. Strauss kann dieser These zwar auf dem Wege einer
inständigen Lektüre und Vergegenwärtigung klassischer Texte eine gewisse
suggestive Kraft verleihen, bleibt aber eine systematische I_52 Begründung
schuldig. Anhand klassischer Texte erklärt der glänzende Interpret seinen
Schülern und Lesern einen inzwischen kontraintuitiv gewordenen Begriff
distributiver Gerechtigkeit. Demnach verkörpert sich das Gute in Gesetzen
der Polis, die jedem Bürger nach Maßgabe seines ontologisch begründeten
Status das ihm »von Natur aus Zustehende« zukommen lassen. So wird
jedem ein Leben ermöglicht, das mit der natürlichen Ordnung des
menschlichen Wesens in Einklang steht.[34] Strauss begnügt sich mit einem
close reading, das auf die begründungslose Evidenz der Aussagen von
Klassikern vertraut. Diese Enthaltsamkeit ist umso pikanter, als Strauss
selbst das historische Denken wegen der Gefahr einer historistischen
Entkräftung von Wahrheitsansprüchen als das zweite große Übel der
Moderne bekämpft.[35] Gewiss kann er auf dem Unterschied zwischen der
Historisierung überlieferter Texte und der strengen Explikation von
Aussageinhalten beharren, die nach fast zweieinhalb Jahrtausenden immer
noch Interesse beanspruchen dürfen; aber stellen müsste er sich sowohl
dem hermeneutischen Einwand, dass wir eine ebenso lange
Wirkungsgeschichte nicht kommentarlos überspringen können, wie auch
dem systematischen Einwand, dass wir die Wahrheit klassischer Aussagen
nicht ohne eine metakritische Zurückweisung der inzwischen aufgehäuften
Gegenargumente unterstellen dürfen.
(3) Die Schwierigkeit ist die gleiche bei dem anderen Thema, das Strauss
beschäftigt, nämlich dem des »historischen Denkens«. Das zeigt sich
interessanterweise im Briefwechsel mit Karl Löwith (1897-1973), der mit
ihm im Ziel einer Überwindung der Moderne durch eine Erneuerung des
antiken Naturdenkens einig ist. Löwith charakterisiert das Vorgehen von
Strauss ganz richtig als den Versuch, ein Problem »bis an den Punkt
voran[zu]treiben, wo sich das Problem als unlösbar herausstellt und als
lösbar nur durch Verwandlung der systematischen Frage in die
geschichtliche Analyse, wobei Sie voraussetzen, dass man die modernen –
aufklärerischen – Voraussetzungen durch historische Destruktion
unwirksam machen I_53 kann«.[36] Die Möglichkeit einer solchen abstrakt-
unvermittelten Rückkehr in die »alte Denkweise« einer klassischen Periode
bestreitet Löwith sodann mit dem Argument, »dass alle Selbstunterscheidung
der ›Modernen‹ von den alten Griechen oder auch alten Christen eben eine
moderne Unterscheidung ist, deren ›Wahrheit‹ zunächst in der […]
Tatsache besteht, dass ›modern‹ ist, was ›nicht aus noch ein weiß‹«.[37] Der
Heidegger-Schüler Löwith ist davon überzeugt, dass man das »historische
Bewusstsein« nicht einfach abräumen oder ignorieren könne, denn mit der
historischen Denkweise habe sich auch »unser geschichtliches Sein« selbst
verändert. Er argumentiert, »dass das Christentum die antike
›Natürlichkeit‹ grundsätzlich modifiziert hat. Bei einer Katze oder einem
Hund komme zwar die ›Natur‹ immer wieder heraus, aber die Geschichte
ist zu tief im Menschen verankert, als dass […] gelingen könnte, etwas
wiederherzustellen, was sich schon selbst in der Spätantike ausgelebt
hat(te).«[38] Strauss hingegen beharrt in seinem Antwortschreiben
dogmatisch auf dem »einfachen Sinn der Philosophie«,[39] den man ernst
nehmen müsse; er pocht darauf, dass die klassische Philosophie nur die
unmittelbare Evidenz der natürlichen Verhältnisse auf den Begriff bringe.
Letztlich begnügt er sich mit einem schlichten Bekenntnis: »Ich glaube
wirklich […], dass die vollkommene politische Ordnung, wie Plato und
Aristoteles sie skizziert haben, die vollkommene politische Ordnung ist.«[40]
In diesem Briefwechsel zwischen Strauss und Löwith kommt eine dritte
Krisenursache zur Sprache. Während sich die Krise der Moderne für Carl
Schmitt in der Emanzipation der Bürger von der Autorität christlicher
Herrscher manifestiert und für Leo Strauss in der Erschütterung der
normativen Bindungskraft eines kosmologisch begründeten Ethos, erkennt
Löwith die Ursache mit Strauss in der Historisierung unseres »natürlichen«
Selbst- und Weltverständnisses, das mit dem tragfesten Boden fester
metaphysischer Wahrheiten seine Orientierungs- und Integrationskraft
verloren hat. Aber diese I_54 Erschütterung greift zu tief, um noch eine
unvermittelte Rückkehr zu erlauben. Aus Löwiths Sicht zeichnet sich die
Moderne durch die Unausweichlichkeit eines »geschichtlichen Denkens«
aus, das auch das »geschichtliche Sein« der vergesellschafteten Individuen
längst verändert hat. Die Wechselwirkung zwischen dem historischen
Denken und dem geschichtlichen Prozess selbst greift in den
Existenzmodus, also in das »geschichtliche Sein« von Mensch und
Gesellschaft ein.[41] Denn mit der Mobilisierung der Lebensverhältnisse im
Zuge der Beschleunigung von technischem Fortschritt und kapitalistischem
Wachstum ist das historische Bewusstsein in der Moderne zunehmend von
der Bindung an exemplarische Vergangenheiten abgekoppelt und auf eine
engagierte Zukunftsorientierung umgepolt worden. Während Heidegger in
Sein und Zeit diese »Geschichtlichkeit« zunächst als Existenzial, das heißt
als allgemeinen Grundzug des menschlichen Daseins begriffen hat, verfolgt
Löwith die verschiedenen Ausprägungen, die das historische Bewusstsein
im Laufe der Geschichte selbst angenommen hat. Insbesondere interessiert
ihn die zunehmende Intensivierung des geschichtlichen Denkens in der
Moderne – zunächst in Gestalt der Geschichtsphilosophien des
18. Jahrhunderts und, in der Folge der Ausbreitung der historischen
Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert, in Gestalt einer Historisierung
von »Weltbildern«. Die zahlreichen von Dilthey bis Jaspers entworfenen
Weltanschauungstypologien verraten die Beunruhigung, die seinerzeit das
sogenannte Historismusproblem auslöste und die Ernst Troeltsch mit seiner
bekannten Untersuchung hatte eindämmen wollen.[42]
Löwith kritisiert das geschichtliche Denken als ein Krisensymptom, weil
es die Menschen in einer Illusion gefangen hält. In seinem
ein I_55 flussreichen Werk Weltgeschichte und Heilsgeschehen führt er eine
Genealogie des geschichtsphilosophischen Denkens durch, die der Moderne
den Spiegel ihrer uneingestandenen Abhängigkeit von der ungebrochenen
Herrschaft geschichtstheologischer Denkfiguren vorhalten sollte.[43] Löwith
will das scheinbar aufgeklärte historische Bewusstsein von unbewussten
Verstrickungen in ein theologisches Erbe befreien, indem er in den
Geschichtsphilosophien von Vico und Voltaire über Condorcet, Comte und
Proudhon bis hin zu Hegel und Marx die verborgenen Spuren eines
säkularisierten heilsgeschichtlichen Denkens aufdeckt. Demnach ist nicht
der Bruch der Moderne mit ihren Vergangenheiten die Ursache für die Krise
der Gegenwart, sondern im Gegenteil das falsche Bewusstsein der eigenen
Autonomie und des »neuen Anfangs«, mit dem sich die Moderne über die
tatsächlich fortbestehende Kontinuität mit den Anfängen der biblischen
Tradition hinwegtäuscht. Wie Carl Schmitt in »allen Begriffen der
modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe« wiedererkennt,
[44] so spürt Löwith insbesondere im modernen Fortschrittsdenken die

konvertierten heilsgeschichtlichen Motive auf. Seine Pointe ist nicht das


romantische Zurück zu den verratenen christlichen Ursprüngen, sondern
die von Nietzsche propagierte »wahre« Säkularisierung: jener Atheismus,
der entgegen dem emanzipierten Selbstverständnis der Moderne die
fortwirkenden Bindungen an einen christlichen Gott, der doch längst
gestorben ist, endgültig kappt. Allerdings muss diese überbietende
Säkularisierung die Richtung ändern, wenn sie nicht wieder dem
eschatologischen Sog der unbestimmten Erwartung einer rettenden Zukunft
verfallen will. Der wahre historische Fortschritt muss die dialektische
Umkehr sein, die allein im nietzscheanischen Geiste einer forcierten, »auf
die Spitze getriebenen« Moderne möglich ist.
Diesen Gedanken spielt Löwith in immer neuen Varianten seiner
Nietzsche-Interpretation durch. Demnach besteht der Grundgedanke in der
originellen Verbindung der Lehre vom Willen zur Macht mit der Lehre von
der Ewigen Wiederkunft des Gleichen: »Mit der letzten ›Verwandlung‹ der
Gebundenheit an ein ›Du sollst‹ und der I_56 Freiheit des ›Ich will‹ in die
frei gewollte Notwendigkeit eines immergleichen Wellenspiels wird für
Nietzsche sein einzelnes ›Ego‹ zu einem kosmischen ›Fatum‹. Mit diesem
›Ja‹ und ›Amen‹ zur Selbstbehauptung des Seins hat Nietzsche die
Versuchung zur Selbstvernichtung – dieses ›Vorrecht‹ des Menschen vor
Göttern und Tieren – besiegt und verneint. Das ›Ringen‹ des Willens […]
verwandelt sich zum Segnen jenes ganz anderen Ringes, der die ewige
Wiederkehr alles Seienden ist. Der von jedem ›Du sollst‹ losgebundene
Wille, der das Wesen der modernen Menschenwelt ist, ist damit
›übermenschlich‹ von sich selbst erlöst.«[45] Freilich überlässt Löwith
Nietzsche nicht das letzte Wort.[46] Dieses bleibt dem Baseler Kollegen und
Freund Nietzsches, dem Kultur- und Kunsthistoriker Jacob Burckhardt,
vorbehalten. Dessen Werk prägt ein ganz anderes, ein entspanntes
Verhältnis zur Antike. Auf den Schultern des existentiellen Dialektikers
Nietzsche und als dessen Interpret möchte Löwith von der notwendigen
Rückkehr zum antiken Naturverständnis alles Forcierte und feierlich
Exaltierte abstreifen, jenen Gestus elitärer Selbstinszenierung, den er vor
allem an Lehre und Verhalten, an Charakter und Gesinnung seines Lehrers
Martin Heidegger zu verabscheuen gelernt hatte.
Wenn man freilich nach dem philosophischen Gewinn der Abkehr von
den Prämissen des geschichtlichen Bewusstseins der Moderne fragt, findet
man nicht viel mehr als die Formeln vom absoluten Vorrang der organisch
in sich kreisenden Natur vor der Menschenwelt: »Die Welt der Natur ist
immer sie selbst« – »Die Welt der Natur lässt sich überhaupt nicht aus
unserem Verhältnis zu ihr bestimmen« – »Nur die immer gleiche Natur des
Menschen kann auch den geschichtlichen Wandel begründen«. Außer der
Einsicht, dass sich das natürliche Sein nicht aus dem Horizont der Zeit
bestimmen lässt, sind es nicht, wie bei Leo Strauss oder Carl Schmitt,
bestimmte Lehren, die erneuert werden sollen, sondern eher eine
exemplarische Haltung und Lebenseinstellung. Der von den Katastrophen
der I_57 Zeitgeschichte umgetriebene Emigrant sieht in der eigenen
Lebenserfahrung die Bestätigung für die philosophische Auszeichnung der
Lebensform des Weisen. Genaugenommen ist es die in der Spätantike
erneuerte Hochschätzung des stoischen Weisen, die Löwith teilt. Niemand
aus der Tradition von Dilthey, Husserl und Heidegger war mit den
Krisentheorien der Junghegelianer und den sozialwissenschaftlichen
Theorien von Marx bis Weber so vertraut wie Löwith; aber am Ende
hinterlassen die glänzenden Studien zum »Bruch«, den Hegels Schüler in
der Philosophie des 19. Jahrhunderts bis in seine eigene Generation
markieren, keine Spuren in Denken und Haltung des aus der Emigration
zurückgekehrten Professors. Der stoische Rückzug von der zeitgenössischen
Aktualität ist die Schlussfolgerung, die Löwith aus seiner Krisenanalyse in
den späten Heidelberger Jahren auch für sich persönlich gezogen hat.
Allerdings reicht eine immanent noch so überzeugende Nietzsche-
Interpretation für die Begründung einer radikalen Veränderung des
modernen Welt- und Selbstverständnisses nicht aus. Die christliche
Genealogie des geschichtsphilosophischen Denkens ist instruktiv, erfüllt
aber nicht den systematischen Anspruch der Argumentation. Der
historische Nachweis der Ähnlichkeit von Denkfiguren einer Tradition mit
denen einer anderen Tradition ist kein Beleg für die Abhängigkeit moderner
Fortschrittskonzeptionen von der Gültigkeit religiöser Überlieferungen, von
deren Denkfiguren sie zehrt. Plausibler ist Karl Poppers Vergleich der
Geschichtsphilosophien mit naturrechtlichen Theorien, die sich auf die
teleologische Verfassung des Kosmos stützten: Sie, die
Geschichtsphilosophien, übertragen die räumlich gedachte Ontologie des
Naturrechts in die zeitliche Dimension.[47] Dieser kritische Vergleich hätte
Löwith nicht nur den Weg zurück in die Metaphysik der Natur verlegt; sie
hätte ihn auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Fehler des
geschichtsphilosophischen Denkens im Festhalten an einem
metaphysischen Begriff von Wahrheit liegt – und nicht per se in der
Empfindlichkeit des historischen Bewusstseins für die geschichtliche
Kontextualisierung von Aussagen und Aussagensystemen. Denn einen
derart überschwänglichen Wahrheitsbegriff teilt Löwith selbst, wenn er
behaup I_58 tet: »Ewige Wahrheiten über die Welt und den Menschen kann
es nur geben, wenn es eine immergleiche Natur alles Seienden gibt.«[48]
(4) Auf einer anderen Spur ist Karl Löwith, wenn er sich mit dem
»Glauben an die absolute Relevanz des Relativen« vor allem in der Gestalt
auseinandersetzt, die das historische Denken bei seinem Lehrer Martin
Heidegger angenommen hatte. Denn mit dem Konzept der
»Seinsgeschichte« radikalisiert Heidegger diesen Zug des modernen
Denkens zu einem fragwürdigen Historismus zweiter Stufe: Er behauptet
eine Abhängigkeit von geschichtlichen Kontexten nicht mehr nur direkt für
die Wahrheit von Aussagen und Theorien, sondern auch für die
Rationalitätsstandards der geschichtlich wechselnden, sich »ereignenden«
Ontologien, nach denen sich die Wahrheit jeweils bemisst. Diese
problematische Denkfigur verdankt sich Heideggers eigenem infalliblem
Wahrheitsanspruch für die Behauptung eines metahistorischen
»Wahrheitsgeschehens«, das die ihrerseits schon überstarken
Wahrheitsansprüche der großen Systeme der abendländischen Metaphysik
noch einmal übertrumpft. Löwith beschreibt, wie Heidegger das in Sein und
Zeit entwickelte existentialanalytische Bild von der »Geschichtlichkeit« des
menschlichen Daseins revidiert und gewissermaßen auf den Kopf stellt. Das
»entschlossene Sich-Entwerfen« des in die Geschichte »geworfenen«
Daseins auf sein »gewähltes Seinkönnen« hin soll nach Auffassung des
späteren Heidegger vom schicksalhaft waltenden Sein selbst erst ermöglicht
werden: »Während in Sein und Zeit gesagt wird, daß die Seinsfrage nur
geschichtlich gestellt werden könne, weil das fragende Dasein des
Menschen von geschichtlicher Art ist, heißt es in der Humanismus-Schrift
umgekehrt, das Denken des Seins sei geschichtlich, weil es die Geschichte
des Seins gebe, in die das Denken als das Andenken dieser Geschichte, von
ihr selbst ereignet, gehört. In Sein und Zeit erfolgt die Begründung der
Geschichte aus der Zeitlichkeit unsres eigensten zeitlichen Daseins, nach
Sein und Zeit aus dem ganz anderen Sein selbst, das über und hinter allem
Seienden west und die wesentlichen Geschicke uns zuschickt.«[49] Noch in
dieser »Kehre« meint Löwith die Kontinuität eines »Glaubens an die
I_59 Geschichte als Schicksal« ausmachen zu können.[50] Das darf nicht
über die Dimension hinwegtäuschen, um die sich die »Geschichtlichkeit«
des menschlichen Daseins, das sich bis dahin nur zu den
Herausforderungen der ontischen Geschichte verhalten musste, vertieft. Der
zunächst existentialanalytisch aufgeklärte Horizont für das Verständnis
möglichen innerweltlichen Geschehens gerät nun, in Abhängigkeit von den
epochalen Einschnitten der Metaphysikgeschichte, selber in Bewegung.
Man hätte Sein und Zeit noch in den Kontext jener großen
Denkbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellen können, die
seit den Junghegelianern auf eine Detranszendentalisierung der
weltentwerfenden Spontaneität der kantischen Subjektivität hinausliefen.
Aus einer solchen Perspektive wäre Heideggers Analyse des In-der-Welt-
seins des menschlichen Daseins in die – vom Autor selbst entrüstet
abgelehnte – Nähe der ähnlichen Versuche von Pragmatismus (George
Herbert Mead, John Dewey), philosophischer Anthropologie (Max Scheler,
Helmuth Plessner), Phänomenologie (Edmund Husserl), Historik und
Hermeneutik (Wilhelm Dilthey, Georg Misch), Symbol- und Sprachtheorie
(Ernst Cassirer) oder Existenzphilosophie (Karl Jaspers) gerückt. Tatsächlich
schießt aber Heideggers Prätention über alle Versuche hinaus, die nur die
transzendental weltentwerfende Subjektivität des menschlichen Geistes zu
einem spontanen Lebensmodus in der Welt entsublimieren.[51] Der mit
Aristoteles und der hochmittelalterlichen Theologie aufgewachsene
Heidegger spitzt vielmehr seine Analyse der Lebenswelt von vornherein auf
die Grundfrage der Metaphysik zu. Die Frage nach dem Sein des Seienden
bedeutet eine Weichenstellung, die ihn I_60 von der »Geschichtlichkeit des
Daseins« zur »Geschichte des wahrheitsermöglichenden Seins« führt.
Martin Heidegger ist tatsächlich ein Meister in der Explikation jenes
eingewöhnten Vollzugswissens, das uns zu den alltäglichen Praktiken des
Umgangs mit allem, was uns in der Welt begegnet, befähigt. Diese
überzeugenden Analysen eines breiten Spektrums von lebensweltlichen
Bezügen des menschlichen »Daseins« zum innerweltlichen Geschehen
geraten jedoch in eine andere Bahn, als Heidegger die Untersuchung der
Existenzweise des Menschen mit der ontologischen Absicht kurzschließt,
das Sein des Seiendem selbst zu begreifen. »Dasein« wählt Heidegger als
Ausdruck für die Seinsweise des Menschen, weil dieser sich in seinem Sein
beim Anderen und bei Anderem zugleich intuitiv »in seinem Sein«, das
heißt in der Art und Weise, wie er selber existiert, versteht oder »kennt«.
Die Explikation dieser »Kenntnis« dient Heidegger als Leitfaden zur
kategorialen Auslegung des uns in der Welt begegnenden Seienden als
Seiendem. Da nun aber die Seinsfrage intern mit der Wahrheitsfrage
zusammenhängt,[52] hat die ontologische Umleitung der Daseinsanalytik auf
die Frage nach dem Sein des Seienden eine folgenreiche Präjudizierung des
Verständnisses von Wahrheit zur Folge, und zwar die Verwechslung von
Wahrheit und Welterschließung. Dazu muss man sich der ursprünglichen
Intention der Untersuchung von Strukturen des In-der-Welt-seins erinnern.
Indem Heidegger das »performativ gewusste Wie« des im Horizont unserer
Lebenswelt Stehens in ein explizites »Wissen-was« überführt, hebt er ein
Netz von Kategorien und Einstellungen (die sogenannten Existentiale) ins
Bewusstsein, die uns die Welt und was in ihr geschieht aus einer
bestimmten Perspektive sehen, in bestimmten Gefühlslagen erfahren, unter
bestimmten Aspekten ansprechen lassen. Erst die ontologische Zuspitzung
dieses Themas der sprachlichen Welterschließung (wie er im Anschluss an
Humboldt sagen wird) auf die metaphysische Frage von Sein und Wahrheit
verführt Heidegger zur Assimilation von »Wahrheit« an
»Welterschließung«. Heidegger entdifferenziert den I_61 klar umrissenen
Begriff der Aussagenwahrheit, indem er sie an die Konzeption der
»entbergenden« Welterschließung assimiliert.[53]
Der schon in Sein und Zeit angelegte Fehler einer Konfundierung der
Aussagenwahrheit mit einer ontologisierten und daher einwandimmunen
Welterschließung verleiht dem Konzept der Seinsgeschichte erst seine
Wucht. Denn nun können die welterschließenden Ontologien, die die Sicht
auf die Welt im Ganzen präformieren, selbst von einem schicksalhaften
historischen Wandel ergriffen werden. Mit den epochalen Seinsgeschicken
– wobei der Ratschluss des Seins so unerforschlich ist wie vormals Gottes
Wille – soll sich jeweils ein mehr oder weniger radikaler Wandel in den
Wahrheitsbedingungen möglicher Aussagen vollziehen, sodass die derart
präjudizierten Wahrheitsansprüche aus der Sicht und im Sprachgebrauch
der seinsgeschichtlich mediatisierten Bevölkerungen selbst den
alternativlosen Sinn allgemeiner Gültigkeit behalten. Das bedeutet, dass der
metaphysische Begriff infallibler Wahrheit relativ auf den jeweils
ontologisch erschlossenen Welthorizont nach wie vor zutrifft. Während
dieser welterschließende Horizont für mögliche Lernprozesse innerhalb der
Welt konstitutiv ist, kann er selber von Ergebnissen innerweltlicher
Lernprozesse nicht berührt werden – als ein unvordenkliches Geschick ist
er immun gegen die unter seinem Regiment möglichen Lernprozesse in der
Welt. Auf diese Weise saugt das Apriori der »Welterschließung« das
kritische Potential des »Wahrheitsanspruches« in sich auf, denn die Kraft
des Neinsagenkönnens kann sich nicht mehr auf die grundbegriffliche
Struktur, in der sich das Sein selbst auslegt, erstrecken. Der krisenhafte
Charakter der Seinsgeschichte erklärt sich aus der dialektischen Natur
dieser Selbstauslegung des Seins: In seinen epochalen Geschicken ent- und
verbirgt es sich zugleich. Indem sich das Sein dem Vernehmen entzieht,
macht es sich den Menschen als das Verhängnis der »Abwesenheit« Gottes
oder – im hölderlinisch maskierten neuheidnischen Jargon des Zeitgeistes –
der Götter spürbar. Mit dem Konzept der Seinsgeschichte gibt Heidegger
Nietzsches Begriff der Genealogie eine Lesart, die vom Ideologiebegriff das
Moment der geschichtlich verhäng I_62 ten Illusion behält, aber zugleich die
Möglichkeit der Aufklärung durch Reflexion ausschließt. Das Konzept der
Seinsgeschichte bewahrt von dem Begriff der Genealogie die ursprüngliche
Bedeutung der in Fesseln legenden Familienbande, weil uns vom
Verhängnis der Moderne angeblich »nur noch ein Gott retten« kann.[54]
Für die Krise, von der uns allein die Rückkehr zu den Anfängen der
griechischen Mythologie – noch hinter die achsenzeitliche Schwelle des
platonischen Logos und des alttestamentarischen Gottes – soll befreien
können, macht Heidegger die moderne Gestalt von Wissenschaft und
Technik verantwortlich. Die Fixierung auf die Seinsfrage richtet den Blick
auf die Verfehlungen der theoretischen und nicht etwa – wie bei Schmitt und
Strauss – der praktischen Vernunft. Letztlich ist in der Vernunft selbst die
schicksalhafte Entfremdung vom Ursprung angelegt. Denn bereits mit
einfachen prädikativen Aussagen, mit denen die diskursive Entfaltung
möglicher Erkenntnisse überhaupt beginnt, wird das nur performativ
zugängliche vorprädikative »Wissen-wie« objektivistisch »verstellt«. Dieses
in den Operationen der Vernunft angelegte Defizit soll auf einen Akt der
Vergegenständlichung zurückgehen, der alle nur im Vollzug bekannten
Bezüge und holistischen Verweisungen verdrängt – und auf
verhängnisvolle Weise »vergisst«. Daher soll die Philosophie jeder
Wissenschaft insofern etwas voraushaben, als sie hinter die
wissenschaftliche Objektivierung zurückfragen und jenes bloß Gewusste,
das unsere Existenz wesentlich betrifft, vom Modus des Bekannten in
explizites Wissen überführen kann. Vor diesem Hintergrund einer
generellen Abwertung des »gewöhnlichen« Vernunftbegriffs werden die
Philosophen zu Denkern promoviert und zusammen mit den Dichtern auf
ein nichtdiskursives Vorgehen, auf das »Vernehmen des Seins«
eingeschworen. Auf diese Weise zeichnet Heidegger von den modernen
Wissenschaften ein kritisches Bild. Er denunziert sie wegen ihres Zuges zur
physikalischen Vergegenständlichung und technischen Verfügbarmachung
der Natur. Beide betrachtet er als die ultimative Ursache für eine
schicksalhafte Krise der Götterferne. In einem 1938 gehaltenen Vortrag
arbeitet Heideg I_63 ger auf dem Wege der berühmt gewordenen Descartes-
Interpretation »das Wechselspiel zwischen Subjektivismus und
Objektivismus« als »das Wesen der Neuzeit« heraus. Im Zuge der Reflexion
auf die Erkenntnisart der experimentell verfahrenden mathematischen
Naturwissenschaften, die die Natur methodisch vergegenständlichen,
konstituiert sich in den Grundbegriffen der Subjektphilosophie die
vorstellende Subjektivität des erkennenden Ichs: »Diese
Vergegenständlichung des Seienden vollzieht sich in einem Vor-stellen, das
darauf abzielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende
Mensch des Seienden sicher und d. h. gewiß sein kann.«[55] Hinter dem
Objektivismus der Forschungsmethode soll sich der totalitäre Zug der
Technik verbergen, der sich nicht nur in der »rechnenden« Indienstnahme
der Naturkräfte manifestiert, sondern gleichermaßen in der kalkulierenden
Verfügbarmachung von Kultur und Gesellschaft, ja des innerweltlichen
Geschehens im Ganzen.
(5) Ein Vergleich der vier philosophischen Zeitdiagnosen lässt
Gemeinsamkeiten erkennen. Die Autoren greifen jeweils einen prägnanten
Zug aus dem Komplex der Moderne heraus:
– die Säkularisierung der Staatsgewalt und die Entwicklung des
demokratischen Rechtsstaates (Carl Schmitt);
– die Positivierung einer Rechtsordnung, die von der antiken Vorstellung
eines kollektiv verbindlichen Ethos verteilender Gerechtigkeit auf die
gleichen subjektiven Rechte für jeden und auf den Vorrang privater
Handlungsspielräume vor der Verbindlichkeit verpflichtender Normen
umgestellt wird (Leo Strauss);
– die Entstehung eines historischen Bewusstseins, das die Vergangenheit
aus dem Horizont der Zukunft auslegt und die Menschen von der Natur,
und von der Orientierung an ihr, entfremdet (Karl Löwith); sowie
– die Durchsetzung der experimentellen und mathematischen
Naturwissenschaften und die transformierende Kraft des wissenschaftlich-
technischen Fortschritts, die die Kultur und Gesellschaft im Ganzen erfassen
(Martin Heidegger).
I_64 Auf diese Züge der Moderne führen die Autoren entsprechende
Krisentendenzen zurück, und zwar:
– die Neutralisierung des Politischen, die sich darin ausdrückt, dass die
Gesellschaft ihr Zentrum und ihre Handlungsfähigkeit verliert;
– den Zerfall des normativen Hintergrundeinverständnisses und des
sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft;
– die totalitären Entgleisungen einer kollektiven Mobilisierung der
Gesellschaft im Zeichen von politischen Fortschrittsideologien, die von
uneingestandenen religiösen Motiven zehren;
und schließlich
– die sozialen Pathologien einer »Herrschaft der Technik« (im weiten
metaphysischen Sinne).
In allen Fällen ergeben sich die Therapievorschläge aus der
verfallsgeschichtlichen Perspektive, aus der die Krisentendenzen jeweils
beschrieben werden, von selbst. Dieses zirkuläre Verfahren suggeriert die
Vorbildlichkeit einer vergangenen Gestalt des Geistes und einer Lebensweise,
von der sich die Moderne losgerissen hat. Der Fehler soll wie bei allen
früheren Renaissancen in der Abkehr selbst liegen. Aber in der Moderne hat
sich das Bewusstsein des historischen Zeitenabstandes verschärft, sodass die
Überwindung der Krise nicht mehr zum Begriff einer Renaissance passt. Das
moderne (übrigens auch von Löwith selbst in Anspruch genommene)
Begriffspaar »Kritik und Krise« nimmt ein Motiv der Heilsgeschichte so auf,
dass die Notwendigkeit der Rückkehr zu einer verlorenen Vergangenheit
impliziert ist und keiner weiteren Begründung bedarf. Daher stolpert keiner
der Autoren über die naheliegende Frage, warum die angeblich
problematischen Entwicklungen der Moderne, die aus der Sicht ihrer
Kritiker jeweils als Ursachen der Krisen gelten, aus der Sicht der
Selbstbeschreibung der Moderne, wie wir sehen werden, als
Errungenschaften gelten.
Damit berühren wir die Frage nach dem Eigenrecht der westlichen
Moderne, die Hans Blumenberg im Hinblick auf deren Beziehung zur
unmittelbaren Vergangenheit des christlichen Mittelalters aufnimmt. Er
formuliert diese Frage in Auseinandersetzung mit Carl Schmitts politischer
Theologie und Karl Löwiths Kritik an den verschwiegenen theologischen
Motiven des geschichtsphilosophischen I_65 Fortschrittsbewusstseins als
Frage nach der »Legitimität der Neuzeit«:[56] Kann die Moderne ihre
eigenen Prinzipien der Erkenntnis, ihre rechtlichen und moralischen
Grundlagen, ihre Ideen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung,
ihr historisches Selbstverständnis als einer »neuen« Epoche der
selbstkritischen Befreiung von Vorurteil und Repression vernünftig, also
ganz aus eigenen, das heißt profanen und nachmetaphysischen Beständen
rechtfertigen, oder bleibt sie den religiösen Quellen, die sie verleugnet, in
Wahrheit verhaftet?[57] Blumenberg wendet sich gegen die Behauptung
beziehungsweise Befürchtung, dass die semantischen Kontinuitäten
zwischen christlichen und modernen Grundbegriffen, die Schmitt für das
Staatsrecht und Löwith für das historische Denken nachweisen möchten,
eine genealogische Abhängigkeit der Moderne von einer verdrängten und nicht
überwundenen Tradition belegen. Demgegenüber will er mithilfe einer
Unterscheidung zwischen der Kontinuität von angeblich gleichbleibenden
anthropologischen Grundfragen und der Diskontinuität der Antworten, die
diese Probleme in verschiedenen Epochen jeweils finden, den tatsächlich
eingetretenen Bruch der Moderne mit dem Denken des christlichen
Mittelalters rechtfertigen.[58] Zur »Umbuchung« der Eschatologie auf das
I_66 weltliche Konto des Fortschritts heißt es beispielsweise:
»[E]ntscheidend ist, ob dieser Zustand [das Eschaton] leistungstranszendent
oder leistungsimmanent ist, das heißt, ob der Mensch ihn durch die
Anstrengung seiner eigenen Kraft erreichen kann oder ob er dazu auf eine
unverlierbare Gnade angewiesen ist.«[59] Der Schein von Kontinuität soll
nur durch das unbefriedigte Interesse an der Lösung von
Menschheitsproblemen entstehen, an denen sich der moderne Geist unter
anderen Prämissen ein weiteres Mal abarbeitet. Auf semantischer Ebene
spiegele sich deshalb die Säkularisierung nicht in einer »Umsetzung«
theologischer in säkulare Gehalte; es sei vielmehr der Überhang weiter
schwelender Probleme, der neue Antworten in den Schatten der alten
Fragen rückt und gleichzeitig zur systematischen Entwertung und
metaphorischen Verwendung des systematisch entwerteten theologischen
Wortschatzes beiträgt. Weil Blumenberg eine Verdunkelung des Neuen
fürchtet, spricht er lieber von »Umbesetzung« als von »Umsetzung«.
Ganz abgesehen von der Frage, ob nicht die angenommene Kontinuität
des sogenannten »anthropologischen« Grundproblems ebenso fraglich ist
wie die zurückgewiesene Kontinuität der Antworten, legt Blumenberg
seiner Kritik eine merkwürdige Fragestellung zugrunde. Die Wortwahl
»Legitimation« (der Neuzeit) legt die Parallele der Rechtfertigung des
modernen Selbstverständnisses mit der Rechtfertigung einer politischen
Herrschaftsordnung nahe. Als Tertium Comparationis dient Blumenberg
offensichtlich der völkerrechtliche Gedanke der äußeren Souveränität
staatlicher Gewalt, wenn er die Legitimität der Herrschaft zum Vergleich
mit der Rechtfertigung des philosophischen Denkens der Neuzeit (oder des
im 17. Jahrhundert aufkommenden subjektphilosophischen Denkens)
heranzieht. Aber ist es sinnvoll, von der »Souveränität« des
Selbstverständnisses einer Epoche im Verhältnis zur vorangegangenen
Epoche in derselben Weise zu sprechen wie von der Souveränität eines
Staates gegenüber konkurrierenden Staaten? In dieser semantischen
Anleihe bei der politischen Theorie verrät sich eine merkwürdige
Beunruhigung über den tatsächlich bestehenden, aber unschäd I_67 lichen
genealogischen Zusammenhang der Moderne mit einer Vergangenheit, die
im Laufe eines Bildungsprozesses auch dann, wenn eine bewusste Ablösung
stattgefunden hat, noch als die überwundene eigene Vergangenheit für die
Gegenwart ein prägendes Faktum bleibt. Natürlich hat die Moderne im
Zuge der Verarbeitung von naturwissenschaftlichen, juristischen,
gesellschaftlichen und politischen Lernprozessen überlieferte
Überzeugungen revidieren müssen. Aber die erinnernde Aufarbeitung des
eigenen Bildungsprozesses, die einen genealogischen Selbstbezug
fortbestehen lässt, halte ich für unbedenklich; pathologisch sind doch eher
die Folgen der Verdrängung eines solchen Zusammenhanges.
Der rationale Kern von Blumenbergs Argument besteht darin, dass
Auffassungen, die aus der Revision von Irrtümern hervorgehen, keiner
anderen Begründung bedürfen als der Gründe, die zu dieser Revision selbst
geführt haben. Auf diese Eigenschaft von Lernprozessen, die sich
gewissermaßen immanent rechtfertigen, bezieht sich Blumenberg, wenn er
gegen Carl Schmitt darauf besteht, dass der Rationalismus der Aufklärung
als solcher nicht rechtfertigungsbedürftig ist.[60] Deshalb stellt sich bei der
säkularen Übersetzung semantischer Gehalte aus religiösen Überlieferungen
gar nicht erst die Frage, ob sich die säkulare Seite in ihren
Geltungsansprüchen von den theologischen Überlieferungen abhängig
macht. Es geht nicht um Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, überhaupt
nicht um Machtfragen, sondern es geht um Wahrheitsfragen. Auch dann,
wenn es sich um den ideologiekritischen Nachweis einer Selbsttäuschung
handelt, geht es letztlich nicht um die Indikatoren semantischer Analogien,
sondern um sachliche Gründe.[61] Daher zielt Hans Blumenberg mit seiner
Kritik insoweit in die richtige Richtung, als sich die Autoren der
Verfallsgeschichten der Moderne nicht wirklich der Frage gestellt haben, ob
die philosophischen Pioniere des 17. und 18. Jahrhunderts vielleicht gute
Gründe hatten, den griechischen oder den christlichen Begriff des Logos
beziehungsweise der göttlichen Vernunft aufzugeben und sich stattdessen
die mathemati I_68 schen Naturwissenschaften oder Jurisprudenz und
Völkerrecht zum Vorbild zu nehmen; ob sie nicht gute Gründe hatten, die
ontologischen Fragen durch eine erkenntnistheoretische abzulösen; sich
eher für die Konzeption der Selbsterhaltung als für die des Seins zu
interessieren; den Vernunftbegriff so zu differenzieren, dass verschiedene
Kategorien von Fragen – empirische und theoretische, moralische und
juristische, ethische, ästhetische und expressive Fragen – nicht mehr »aus
einem Guss«, das heißt aus der Perspektive eines Einheit stiftenden
kosmologischen oder theologischen Gedankens – des Guten oder Gottes –
beantwortet werden mussten; und ob sie nicht auch gute Gründe hatten, für
jede dieser Hinsichten jeweils andere Kategorien von Gründen und
Begründungsmustern zu fordern.  
(6) Aus dem dargestellten Diskurs, in dem die streitenden Parteien ihr
Selbstverständnis der Philosophie auf dem Wege einer kritischen
Selbstverständigung der Moderne klären wollten, ergeben sich
systematische Hinweise für das Vorhaben einer Genealogie
nachmetaphysischen Denkens. Hans Blumenbergs Entgegnung auf die
Verfallsgeschichten der Moderne erklärt die Weichenstellungen zur
säkularen Denkungsart der modernen Philosophie als das Ergebnis von
Lernprozessen; auf diese Weise kann sich das moderne Denken immanent
rechtfertigen. Bestimmte Sorten von Gründen »zählen« in der Moderne
nicht mehr, während wir andere, nach bestimmten Geltungsaspekten
ausdifferenzierte Klassen von Gründen akzeptieren müssen: Wir »kennen«
die Begründungsmuster, die bestimmte Sorten von Fragen »verlangen«.
Erst wenn dieses habitualisierte »Wissen-wie« selber problematisiert wird,
stellt sich die grundsätzliche Frage, auf die es mir ankommt: Warum wir die
kognitiven Praktiken, denen wir intuitiv zutrauen, vernünftige Ergebnisse
zu generieren, als allgemein verbindlich akzeptiert haben. Dann müssen wir
uns retrospektiv darüber klar werden, wie es dazu gekommen ist, dass
Philosophen, die auf ihr eingewöhntes Können reflektieren, in der Regel
andere als säkulare und nachmetaphysische Erklärungsmuster und
Weltdeutungen nicht mehr für plausibel halten. Diesen Modus der
Selbstvergewisserung verfehlen wir, wenn wir die Grenzen
nachmetaphysischer Erkenntnis unvermittelt, gewissermaßen ohne eine
historische Gegenprüfung zum Gegenstand einer systematischen
Untersuchung machen.
I_69 Natürlich ist es ein legitimes Geschäft der Argumentationstheorie,
gängige Muster wissenschaftlicher Erklärungen aufzulisten und zu
analysieren. Auch auf anderen Gebieten lassen sich Muster rational
akzeptabler Begründungen und Rechtfertigungen logisch untersuchen.
Dieses Vorgehen führt in der Moral- und Rechtstheorie zu den
einschlägigen Prinzipien, in der Ethik zur Auszeichnung einer transitiven
Ordnung jeweils relevanter Wertorientierungen, in der Ästhetik zu
bestimmten Formen der Kritik von hochdifferenzierten Ausschlägen
geübter Sinnesorgane, in allen möglichen Bereichen zu
Argumentationsmustern, die vernünftigerweise auf rational motivierte
Zustimmung rechnen dürfen. In dieser Art könnten wir mehr oder weniger
die heute allgemein akzeptierten Weisen und Wege nachmetaphysischen
Denkens skizzieren. Aber auch dann, wenn es keine grundsätzliche
Kontroverse über den Umfang, das heißt die enger oder weiter gezogenen
Grenzen des rational Akzeptablen gäbe, müssten wir uns dem Einwand
stellen, dass wir uns narzisstisch im jeweils eigenen
Argumentationshorizont bewegen und die eigentlich kontroverse Frage
präjudizieren. An jedem kontroversen Einzelfall würde sich nämlich zeigen,
dass solche eingrenzenden Rationalitätsbestimmungen entweder als
Definitionsvorschläge oder als Beschreibungen von empirisch verbreiteten
diskursiven Verhaltensweisen verstanden werden müssten. Der
Angemessenheit des reflexiven Selbstverständnisses einer philosophischen
Denkweise im Ganzen vergewissern wir uns aber weder durch Definitionen
noch durch Beschreibungen. Deshalb verschiebt sich die Frage von der
Geltung auf die Genesis von Überzeugungen, freilich auf eine ihrerseits als
rational verstandene Genesis: Nur die Argumentationsmuster, die sich im
Zuge von rational nachvollziehbaren Lernprozessen herausgebildet haben,
bedürfen keiner weiteren Rechtfertigung. Daher wird sich die Frage nicht
allein durch eine historische Beschreibung der Pfade beantworten lassen, auf
denen sich das nachmetaphysische Denken entwickelt hat – und wir uns in
ihm eingerichtet haben. Um uns einer intuitiven Überzeugung zu
vergewissern, muss sich die genetische Erklärung zu einer rekonstruktiven
Darstellung von historischen Lernschritten verdichten, und zwar solchen, die
nicht nur ex post plausibel sind, sondern den Beteiligten selbst als
Lernschritte eingeleuchtet haben: Wir wollen wissen, aus welchen
I_70 intern nachvollziehbaren Gründen das nachmetaphysische Denken
ältere Denkweisen – jedenfalls intra muros – weitgehend abgelöst hat. Erst
die rational nachvollziehbare Dynamik des Erwerbs unserer epistemischen
Hintergrundüberzeugungen befreit die Gültigkeit der selbstverständlich
gewordenen Voraussetzungen des modernen Selbst- und
Weltverständnisses von einer Kontingenz, die trotzig-dogmatisch behauptet
oder auch mit seinsgeschichtlichem Tiefsinn denunziert wird. So hoffe ich,
dass am Ende meiner Darstellung der Genealogie nachmetaphysischen
Denkens auch die Gründe einleuchten, warum die von Carl Schmitt, Leo
Strauss, Karl Löwith und Martin Heidegger als verhängnisvoll
diagnostizierten Lehren und philosophischen Entwicklungen als
Erkenntnisfortschritte gelten dürfen.
Wenn es um die Rekonstruktion von Lernschritten geht, ist freilich nicht
klar, warum von einer »Genealogie« die Rede sein soll. Dieser von
Nietzsche eingeführte, aber keineswegs analytisch geklärte Ausdruck sollte,
wenn ich recht verstehe, auf die kontingenten Spuren aufmerksam machen,
die ein undurchschauter Entstehungszusammenhang in verblendenden,
gewissermaßen gefangennehmenden Ideen hinterlässt. Nietzsche denkt
wohl bei der Wahl dieses Bildes an die mythische Schicksalshaftigkeit von
unreflektiert fortwirkenden Familienbanden – die »Genealogie« sollte den
verborgenen Makel bloßlegen, den die Entstehungsgeschichte des
Christentums in der Geltung der christlichen »Sklavenmoral« verursacht
hat. Allerdings wird die negierte Vergangenheit auch dort, wo das
schicksalhafte Moment durch den bewussten Akt einer ablösenden
Negation getilgt ist, in der Kontinuität eines Bildungsprozesses im
doppelten Sinne des Wortes »aufgehoben«. Amy Allen hat mich auf die
Unterscheidung zwischen einer »subversiven«, einer
»problematisierenden« und einer »vindikatorischen« Genealogie
aufmerksam gemacht.[62]
Die subversive Genealogie geht von der Hypothese aus, dass sich mit den
untersuchten Diskursen oder Aussagen latente Funktionen der
Machterhaltung verbinden, die für den Beobachter im Wider I_71 spruch
zum jeweils manifesten und von den Beteiligten nicht hinterfragten Gehalt
stehen. Eine problematisierende Genealogie hat hingegen den pragmatischen
Bezug zu Adressaten im Auge, die mit solchen aufklärenden Analysen des
Entstehungskontextes ihrer eigenen Überzeugungen kritisch verunsichert
werden; in dieser Hinsicht besteht eine Verwandtschaft mit der
Ideologiekritik, auch wenn der Ausdruck »Genealogie« (wie man bei
Foucault feststellt) nicht mehr die hegelmarxistische oder freudianische
Konnotation einer Befreiung durch Selbstreflexion mit sich führt. Die
vindikatorische Genealogie schließlich hat mit diesen beiden Typen
zunächst nur die Bezugnahme auf die Kontingenz des Entstehungskontextes
jeweils eigener Ideen gemeinsam, auch den Abstand von der Naivität eines
»geltenden« Welt- und Selbstverständnisses, die verschwindet, wenn
dessen Strukturen als das Ergebnis eines Lernvorgangs zu Bewusstsein
kommen. Wir sehen beispielsweise die säkularen Prämissen
nachmetaphysischen Denkens in einem anderen Licht, wenn wir lernen,
dass sich diese nicht der Rückkehr zu den während des »dunklen
Mittelalters« christlich überformten, entstellten und verschütteten
Prämissen griechischen Denkens verdanken, sondern einem langanhaltenden
theologischen Diskurs über Glauben und Wissen. Die genealogische
Betrachtung von Lernprozessen wäre freilich in sich ein Widerspruch, wenn
sie nicht so ansetzte, dass auf der logisch-semantischen Ebene die
Unabhängigkeit der Geltung von der Genesis der Aussagen gewahrt bleiben
kann. Die Rekonstruktion der Lernprozesse, aus denen das
nachmetaphysische Denken hervorgegangen ist, nimmt dessen
Voraussetzungen nichts an Überzeugungskraft, erweitert aber das
Verständnis seines Entstehungskontextes in der Weise, dass nicht nur die
Gewinne, sondern auch die Kosten dieses Lernprozesses sichtbar werden.
Die anthropozentrische Wendung des Selbst- und Weltverständnisses zählt
nach wie vor als ein unumkehrbarer Erkenntnisfortschritt, aber dessen
Relevanzen für uns, die Erben dieses Fortschrittes, ändern sich im Lichte des
genealogisch erweiterten, in seinen Kontingenzen sichtbar gemachten
Entdeckungshorizonts: Die Selbstermächtigung der kommunikativ
vergesellschafteten Subjekte, die sich dann auch ihrer einschränkenden
Situierung in Geschichte, Kultur und Gesellschaft bewusst werden, bedeutet
»Emanzipation« in einem höchst ambivalenten I_72 Sinne – zwar die
Befreiung zum autonomen Gebrauch der Vernunft, aber zugleich auch die
Nötigung, die beschleunigt wachsenden Kontingenzen selbsterzeugter
gesellschaftlicher Komplexität aus eigener Kraft beherrschen zu lernen. Die
Säkularisierung des christlichen Selbst- und Weltverständnisses verschiebt
zwar den locus of control von den rettenden Interventionen Gottes auf den
Gebrauch, den nun die kommunikativ vergesellschafteten Subjekte selber
von ihrer vernünftigen Freiheit machen müssen; aber in diesem »müssen«
verrät sich schon die ambivalente Bedeutung, die diese Emanzipation im
Zuge einer Ernüchterung mit sich bringt. Ernüchternd ist, wie Benjamin in
seinem berühmten Briefwechsel mit Horkheimer beklagt, die Zumutung für
die auf sich gestellten Individuen, mit dem moralischen Ungleichgewicht
der Unumkehrbarkeit des ungesühnten Leids schuldloser Opfer wie auch
mit den nicht revidierbaren Folgen der eigenen, nicht
wiedergutzumachenden Verfehlungen zu leben. Ernüchternd ist ebenso das
bis dahin unvorstellbare Maß an Verständigungs- und
Kooperationsbereitschaft, das für die Sammlung der zerstreuten Kräfte
erforderlich ist, wenn ein zunehmend inklusives, auf der Grundlage einer
diskursiven Willensbildung gerechtfertigtes kollektives Handeln von
letztlich globaler Reichweite institutionalisiert werden muss.
Dann stellt sich aber die Frage, warum überhaupt von einer »Genealogie«
die Rede sein soll. Es ist die Einbettung dieser problemgesteuerten, aber
nicht ausschließlich intern erklärbaren Lernprozesse in kontingente, freilich
gesellschaftstheoretisch verallgemeinerte Entstehungskontexte, die das
genealogische Verfahren von einer ideen- und problemgeschichtlichen
Darstellung unterscheidet. Dieses Vorgehen trägt dem Umstand Rechnung,
dass der selbstreferentielle Bezug der Verarbeitung des akkumulierten
Weltwissens die kognitive Leistung der philosophischen Selbst- und
Weltverständigung mit der Funktion verbindet, die ein kollektiv geteiltes
und identitätsstiftendes Welt- und Selbstverständnis für den sozialen
Zusammenhalt der Gesellschaft erfüllt. Mit dem Blick auf den
gesellschaftsgeschichtlichen Entstehungskontext berücksichtigt das
genealogische Verfahren den Umstand, dass die Philosophie auf ihrem Weg
der rationalen Klärung des Selbstverständnisses der Gesellschaft auch zu
deren Integration beiträgt – und damit ihrerseits in die Reproduktion der
Ge I_73 sellschaft verstrickt ist. Die Dynamik der Lernprozesse, die die
Weltbildentwicklung vorantreibt, geht von beiden Seiten aus, sowohl
vonseiten der Akkumulation des Weltwissens als auch vonseiten der
sozialen Evolution – und deren Krisen. Da die Metaphysik erst in den
staatlich organisierten Gesellschaften der Achsenzeit auftritt, nimmt die
reflexive Verarbeitung von Themen der gesellschaftlichen Integration vor
allem die Form einer politischen Theorie an, welche für die Legitimation von
Stadtherrschaften oder imperialen Königreichen in Anspruch genommen
wird. Im Westen hat die Religion diese Aufgabe übernommen, weil die
Philosophie hier mit dem Christentum eine Arbeitsteilung eingegangen ist.
Aber diese Verbindung erklärt auch, warum mit der Säkularisierung der
Staatsgewalt die Aufgabe der Legitimation von Herrschaft wiederum der
Philosophie zufällt: Sie übernimmt in liberalen Demokratien die
vernunftrechtliche Begründung der Verfassungsnormen – und damit für die
politische Integration eine lebenswichtige, wenn auch ideologieanfällige
Funktion.
Allerdings macht es einen Unterschied, eine solche Funktion bloß latent
zu erfüllen oder die gesellschaftlichen Konstellationen zu erkennen, in
denen Weltbilder eine solche Funktion erfüllen. Erst als sich gegen Ende des
18. Jahrhunderts Politische Ökonomie und Soziologie aus der schottischen
Moralphilosophie ausdifferenzieren, begegnet die Gesellschaft der
Philosophie gewissermaßen von beiden Seiten: Was Ethik, Politik und
Rechtsphilosophie bis dahin allein aus der Beteiligtenperspektive, also unter
normativen Gesichtspunkten betrachtet hatten, erschließt sich seitdem auch
empirisch aus dem Blickwinkel des sozialwissenschaftlichen Beobachters.
Wiederum musste die Philosophie auf einen Zuwachs an Weltwissen
reagieren und die aus der Beobachterperspektive gewonnenen
sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse in die normativen Überlegungen von
Philosophen einbeziehen, die als beteiligte Mitglieder gleichzeitig einen
intuitiven Kontakt zum spannungsgeladenen Prozess der gesellschaftlichen
Integration haben. Der philosophische Versuch, diese beiden Perspektiven
nicht nur zu trennen, sondern die entsprechenden Erkenntnisse aufeinander
zu beziehen, begründet im frühen 19. Jahrhundert einen neuen Typus von
Gesellschaftstheorie und erklärt letztlich auch unseren genealogischen Blick
auf die Lern I_74 prozesse, aus denen das nachmetaphysische Denken
hervorgegangen ist. Ich werde auf Ergebnisse gesellschaftstheoretischer
Untersuchungen nur kursorisch zurückgreifen können, um beiläufig die
sozialevolutionären Veränderungen und Krisen, also die gesellschaftliche
Dynamik im Auge zu behalten, auf die das philosophische Denken im Laufe
der Weltbildentwicklung in ähnlicher Weise lernend reagiert wie auf die
dissonanten Erkenntnisfortschritte im wissenschaftlichen Umgang mit der
Natur.
Auch wenn die Philosophie diese doppelte Perspektive erst seit der
Verwissenschaftlichung des Wissens von Kultur und Gesellschaft
einnehmen kann, stammen die problemerzeugenden Stimuli und
Herausforderungen, die die Weltbilder intern verarbeitet haben, von
Anbeginn aus beiden Quellen. Das akkumulierte Weltwissen wird entweder
in den jeweils bestehenden Interpretationsrahmen integriert oder führt zu
dessen Umstrukturierung. Aber auch der Formwandel der sozialen
Integration geht mit einer Erweiterung der Kooperationsformen und
Sozialperspektiven und das heißt mit der Entwicklung normativer
Vorstellungen Hand in Hand. Wie wir sehen werden, können Weltbilder
Problemlösungspotentiale speichern, die über lange Strecken latent
geblieben oder nur rhetorisch beschworen worden sind, bevor sie
ausgeschöpft werden konnten.
Bevor ich die gesellschaftstheoretischen Hintergrundannahmen skizziere,
die ich für die Genealogie nachmetaphysischen Denkens in Anspruch
nehmen werde, sind noch zwei Vorfragen zu klären: Warum empfiehlt es
sich, eine solche Genealogie am Leitfaden des Diskurses über Glauben und
Wissen durchzuführen? Und was bedeutet die Einschränkung auf den
okzidentalen Entwicklungspfad für den Universalitätsanspruch
nachmetaphysischen Denkens?
I_75 2. Religion als eine
»gegenwärtige« Gestalt des
objektiven Geistes?
Schon mit Rücksicht auf die Konstellation, die sich im Weströmischen Reich
zwischen Philosophie und Theologie ergibt und in den folgenden
Jahrhunderten zu deren folgenreicher Symbiose geführt hat, rückt das
Verhältnis von Glauben und Wissen ins Zentrum der Entwicklung der
westlichen Philosophie, in der sich allerdings seit dem 17. Jahrhundert
zunehmend ein säkulares Selbstverständnis durchgesetzt hat. Diese
Abkoppelung vom religiösen Komplex hat in erster Linie zwei, auch
voneinander abhängige Konsequenzen: Zum einen verliert die praktische
Philosophie die Rückendeckung durch die normative Autorität einer
rettenden Gerechtigkeit; zum anderen stellt sich mit der Loslösung der
theoretischen Arbeit und des philosophischen Welt- und
Selbstverständnisses vom Ritus, das heißt von der sozialintegrativen Quelle
der liturgischen Gemeindepraxis die Frage, was die Umstellung der
religiösen auf eine vernunftrechtliche Legitimation der Herrschaft für die
moderne Form der gesellschaftlichen Integration der Gesellschaft bedeutet.
Darauf hat die Philosophie im frühen 20. Jahrhundert mit ihren
Krisentheorien keine überzeugende Antwort gefunden. Allerdings hängt die
philosophische Relevanz dieser beiden Punkte davon ab, ob man ein
Selbstverständnis nachmetaphysischen Denkens verteidigt, das im
historischen Rückblick die systematische Aneignung religiöser Motive als ein
wesentliches Erbe anerkennt – oder ob die Philosophie dieses Erbe mit der
von David Hume geleisteten Dekonstruktion abstreift. Für das an Kant und
Hegel anschließende nachmetaphysische Denken stellt sich sodann die
weitere Frage, ob wir jenen lange währenden Übersetzungsprozess
inzwischen als abgeschlossen betrachten oder eine mögliche Fortsetzung
nicht ausschließen können. Wie sich das säkulare Denken zu einem
religiösen Denken in nachmetaphysischer Gestalt verhalten soll, ist keine
triviale Frage.[63]
I_76 Dabei müssen wir von vornherein die Säkularisierung des Welt- und
Selbstverständnisses von der Säkularisierung der Staatsgewalt und der
Gesellschaft selbst unterscheiden.[64] Jene bedeutet die funktionale
Differenzierung des Staates von einer Kirche, die nicht nur politisch
entmachtet und ökonomisch enteignet, sondern vor allem von der Aufgabe
der Herrschaftslegitimation entbunden worden ist. Demgegenüber hat die
Säkularisierung der Gesellschaft einen anderen, transitiven Sinn: Die
rechtsstaatliche Demokratie gewährleistet ihren Bürgern die Freiheit der
Religionsausübung, sodass es, wie wir sehen werden, von anderen Faktoren
abhängt, ob und in welchem Maße die Religionsgemeinschaften ihren
Einfluss innerhalb der Gesellschaft erhalten konnten oder eben eingebüßt
haben. Schließlich müssen wir die Säkularisierung der Denkungsart, die alle
Bürger moderner Gesellschaften teilen, von jener Säkularisierung des Selbst-
und Weltverständnisses unterscheiden, die sich im nachmetaphysischen
Denken artikuliert. Die Frage ist, ob religiöse Überlieferungen für dieses
Denken überhaupt noch eine Relevanz haben können. Einerseits beruft sich
das säkulare Denken durchgängig auf Argumente der »natürlichen«
Vernunft und verbietet jeden Rekurs auf Zeugnisse der Offenbarung.
Andererseits impliziert diese unmissverständliche Abgrenzung des
philosophischen Wissens vom Glauben nicht notwendig die polemische oder
gleichgültige Abkehr von der Auseinandersetzung mit religiösen
Überlieferungen.
Auch nach der Loslösung vom theologischen Kontext kann sich das
nachmetaphysische Denken, ohne irgendeinen Kompromiss einzugehen,
zur Religion wie zu einer anderen, in ihrem Sinne um Wahrheit
konkurrierenden Gestalt des objektiven Geistes verhalten. Und dies umso
eher, als die Theologie selbst seit Kierkegaard eine anthropologisch-
nachmetaphysische Gestalt angenommen hat; jedenfalls kann man
Kierkegaard als einen Theologen betrachten, der im Hinblick auf Hegel
nachmetaphysisch denkt.[65] Der Bezugspunkt, der es erlaubt, in
provozierender Weise von »Wahrheitskonkurrenz« zu sprechen, ist das Ziel
der Selbstverständigung angesichts dessen, I_77 was wir über die Welt –
und über uns und unsere Lebenswelt als Entitäten in der Welt – wissen.
Denn dieses Ziel teilt das nachmetaphysische Denken, so wie ich es
verstehe, nach wie vor mit der Religion.[66] Ohne ein Weltbild zu erzeugen,
navigiert das nachmetaphysische Denken zwischen Religion und
Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften, Kultur und Kunst,
um in der Reflexion auf diese empirischen Gestalten des objektiven Geistes
Irrtümer und Illusionen aus dem eingewöhnten Selbstverständnis zu tilgen
und dabei auch die eigenen Grenzen zu erkunden. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger. Gerade in dieser parasitären Rolle eines reflexiven
Bezugnehmens auf andere, vorgefundene kulturelle Überlieferungen und
Praktiken ist es die Philosophie, die das Ganze des Gewussten und
Halbgewussten einer Zivilisation in seinem Zusammenhang durchsichtig
machen und kritisch in den Blick nehmen kann. Dabei teilt sie das
Autonomiebewusstsein einer Moderne, die sich ganz aus eigenen
normativen Ressourcen begründet.[67] Ebenso begründet sich das
nachmetaphysische Denken, das sich vom rechtfertigenden Rekurs auf
Glaubenswahrheiten emanzipiert hat, selbst aus eigenen Prämissen. Zwar
weist es den holistischen Wahrheitsanspruch zurück, der sich mit dem
religiösen Versprechen einer rettenden Gerechtigkeit verbindet. Aber diese
Grenzziehung nötigt die Philosophie nicht dazu, die Möglichkeit
auszuschließen, dass sich in religiösen Überlieferungen auch weiterhin
Wahrheitsgehalte auffinden lassen, die gegebenenfalls auf dem Wege einer
hermeneutisch sensiblen I_78 Übersetzung als wahrheitsfähige Aussagen in
allgemein zugängliche Diskurse eingeholt werden können.[68] Im Prozess
der Übersetzung verlieren allerdings religiöse Zeugnisse und Äußerungen
die Qualität von Bekenntnisaussagen und büßen den dogmatischen
Wahrheitsmodus ein.[69]
Natürlich muss die Philosophie auf ihrem Verständnis von
Aussagenwahrheit und ihrer Kategorie von Wahrheitsbedingungen
bestehen. Aber die religiösen Glaubensmächte sind als Konkurrenten um
die Wahrheit erst entwertet, wenn sie sich in ihren potentiellen
Wahrheitsgehalten, die auch noch aus nachmetaphysischer Sicht als solche
zählen dürfen, erschöpft haben. Das mag sehr wohl der Fall sein. Aber ob
die Religion im Sinne eines Statthalters von Wahrheitspotentialen noch eine
gegenwärtige Gestalt des Geistes darstellt, ist aus philosophischer Sicht nur
von Fall zu Fall durch eine gelingende Entbindung dieses Potentials zu
entscheiden. Einstweilen müssen wir feststellen, dass Kierkegaard der letzte
Theologe gewesen zu sein scheint, von dessen Gedanken die Philosophie
neue Anstöße empfangen hat. Empirische Indikatoren für die Lebendigkeit
der Religionsgemeinschaften sind grundsätzlich umstritten. Offensichtlich
sind terroristische Aktivitäten, die die Täter im Sinne eines religiösen
Fundamentalismus rechtfertigen, kein hinreichender Beleg für die
Gegenwart einer intellektuell ernstzunehmenden geistigen Gestalt – nicht,
weil in jeder Religion auch Gewaltpotentiale schlummerten, sondern weil
fundamentalistische Deutungen religiöser Überlieferungen durch und durch
moderne Phänomene sind. Andererseits speisen sich viele demokratische
Widerstandsbewegungen bis in die jüngste Gegenwart aus religiösen
Motiven. Wie das Beispiel des »zivilen Ungehorsams« während des
Vietnamkrieges in den USA zeigt, sind religiöse Bewegungen nach wie vor
Quellen politischer und sogar rechtsschöpferischer Vitalität.
I_79 Die lange Zeit mehr oder weniger unbestrittene Erklärungskraft der
klassischen Säkularisierungsthese hat in den letzten Jahrzehnten eine
Kontroverse ausgelöst. Ich werde zunächst den Stand dieser Debatte kurz
zusammenfassen. Denn solange es nicht evident ist, dass sich die kreativen
Kräfte der Religion erschöpft haben, gibt es für die Philosophie keinen
Grund, eine lernbereit dialogische Einstellung zu religiösen Überlieferungen
aufzugeben (1). Für diese Einstellung sind zwei Philosophen des
20. Jahrhunderts exemplarisch: John Rawls und Karl Jaspers. Ich möchte auf
die Theorien dieser beiden Autoren eingehen, weil sich daran auch die
Kehrseite einer solchen Gesprächsbereitschaft studieren lässt. Die Offenheit
gegenüber religiösen Überlieferungen darf den Universalitätsanspruch der
Vernunft gegenüber dem dogmatischen Wahrheitsanspruch des religiösen
Glaubens nicht schmälern (2 und 3).
(1) In der Soziologie ist seit den Tagen von Karl Marx, Émile Durkheim
und Max Weber die These, dass zwischen der fortschreitenden
Modernisierung der Gesellschaft und einer immer weiter um sich
greifenden Säkularisierung nicht nur der alltäglichen Denkungsart der
Bevölkerung, sondern ihres religiösen Selbst- und Weltverständnisses ein
enger Zusammenhang besteht, lange Zeit unbestritten geblieben. Die
Proponenten heben auch heute noch im Wesentlichen fünf verschiedene
Aspekte der gesellschaftlichen Modernisierung als Ursachen für den
Relevanzverlust der Religion hervor:[70]
– Die Entwicklungen von agrarischen zu industriellen und
postindustriellen Gesellschaften haben einen durchschnittlich größeren
Wohlstand der Bevölkerung und zunehmende soziale Sicherheit zur Folge;
mit der Entlastung von Lebensrisiken, also wachsender existentieller Sicherheit
schwindet für den Einzelnen das tiefsitzende Bedürfnis nach einer Praxis,
die unbeherrschte Kontingenzen durch I_80 den Glauben an und die
Kommunikation mit einer »jenseitigen« beziehungsweise kosmischen
Macht zu bewältigen verspricht.
– Die Kirchen und Religionsgemeinschaften verlieren im Gefolge der
funktionalen Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme den
Zugriff auf Recht, Politik und öffentliche Wohlfahrt sowie auf Kultur,
Erziehung und Wissenschaft; sie beschränken sich auf ihre genuine
Funktion der Verkündigung der biblischen Lehre, der Verwaltung von
Heilsgütern und der Seelsorge; sie büßen generell an öffentlicher Bedeutung
ein, während die Religionsausübung zur Privatsache wird.
– Die gesellschaftlichen Bindungen des Einzelnen an religiöse Milieus
lockern sich im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und
der entsprechenden Rationalisierung der Lebenswelt, mit der sich die
Individuen aus »geschlossenen« sozialen Umgebungen lösen. Diese
fortschreitende Individualisierung fördert Bedürfnisse, die für den kollektiven
Charakter des Gemeindelebens eine Herausforderung darstellen, den
sozialen Zusammenhalt der Religionsgemeinschaften gefährden und zum
Schrumpfungsprozess der Kirchen beitragen.
– Der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die massenmedial
verbreitete naturwissenschaftliche und historische Aufklärung fördern ein
anthropozentrisches Verständnis der »entzauberten«, weil erklärbar
gewordenen natürlichen und historischen Zusammenhänge. Damit
verbreiten sich rationale Lebensauffassungen, die religiöse Lehren und
Erklärungen verdrängen und die Teilnahme an kultischen Praktiken
erschweren.
– Die Tatsache des wachsenden religiösen Pluralismus und die
Unvereinbarkeit der konkurrierenden Wahrheitsansprüche verunsichern
das religiöse Bewusstsein von Gläubigen, die in der Vielfalt religiöser
Lebensformen eine eigene Orientierung finden müssen. Andererseits
werden die undeutlichen Erscheinungen einer Herauslösung der religiösen
Praktiken aus tradierten kirchlichen Zusammenhängen auch für die Thesen
eines bloßen Formwandels[71] oder sogar eines neuen Aufschwungs der
Religiosität in Anspruch genommen.[72]
I_81 Tatsächlich haben sich in den europäischen
Wohlstandsgesellschaften ebenso wie in Kanada, Australien und
Neuseeland die religiösen Bindungen der Bürger kontinuierlich und seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschleunigt gelockert. In diesen
Regionen hat sich das Bewusstsein, in einer säkularisierten Gesellschaft zu
leben, mehr oder weniger allgemein verbreitet. Diese in allen einschlägigen
Dimensionen deutlichen Evidenzen sind unbestritten. Weil sich aber die
Aussagekraft dieser Trends mit dem Blick auf andere, ebenfalls moderne
Gesellschaften wie die USA oder Japan relativiert, ist die
Säkularisierungsthese in der Fachöffentlichkeit seit mehr als zwei
Jahrzehnten umstritten.[73] Die These wird in den Verdacht gerückt, nur die
kulturellen Selbstverständlichkeiten der westlichen Intelligenzija zwischen
1870 und 1910 zu einer großen Erzählung konsolidiert zu haben.[74] Im
Fahrwasser der nicht ganz unbegründeten Kritik an einem eurozentrisch
verengten Blickwinkel ist inzwischen sogar vom »Ende der
Säkularisierungstheorie« die Rede.[75] Die USA, die mit vitalen
Glaubensgemeinschaften und bis vor einigen Jahren fast gleich bleibenden
Anteilen von religiös gebundenen und aktiven Bürgern gleichwohl die
Speerspitze der Modernisierung bilden, galten für einige Zeit als die große
Ausnahme vom Säkularisierungstrend. Belehrt durch den global erweiterten
Blick auf andere Kulturen und Weltreligionen, will ein Teil der in dieser
Frage gespaltenen Soziologen darin eher den Normalfall erblicken.
I_82 Aus dieser revisionistischen Sicht stellt sich die europäische
Entwicklung, die mit ihrem okzidentalen Rationalismus einmal für den Rest
der Welt das Modell sein sollte, als der eigentliche Sonderweg dar.[76] Es
sind vor allem vier Phänomene, die sich zu Beginn des neuen Jahrtausends
zum Eindruck einer weltweiten resurgence of religion verdichtet hatten: die
missionarische Ausbreitung der großen Weltregionen, deren
fundamentalistische Zuspitzung, die postmodernen Formen der Religiosität
und die politische Instrumentalisierung der Gewaltpotentiale, die einigen
der großen Religionen innewohnen. Diese vier im Folgenden zunächst
unterschiedenen Phänomene überlappen sich natürlich auch auf vielfältige
Weise:
– Ein Zeichen von Vitalität ist zunächst der Umstand, dass im Rahmen
der bestehenden Religionsgemeinschaften und Kirchen orthodoxe oder
jedenfalls konservative Gruppen auf dem Vormarsch sind. Das gilt für
Hinduismus und Buddhismus ebenso wie für die drei monotheistischen
Religionen. Auffällig ist vor allem eine regionale Ausbreitung dieser
etablierten und staatlich anerkannten Religionen in Afrika und in den
Ländern Ost- und Südostasiens. Der Missionserfolg hängt offenbar auch von
der Beweglichkeit der Organisationsformen ab. Die multikulturelle
Weltkirche des römischen Katholizismus passt sich insgesamt den
Globalisierungstrends besser an als die nationalstaatlich verfassten
protestantischen Kirchen, die vorerst die großen Verlierer sind. Am
dynamischsten entfalten sich die dezentralisierten Netzwerke des Islam (vor
allem in Afrika unterhalb der Sahara) und der Evangelikalen (vor allem in
Lateinamerika). Beide zeichnen sich durch eine ekstatische, von einzelnen
charismatischen Figuren entfachte Religiosität aus.
– Schnell wachsende religiöse Bewegungen wie die Pfingstler und die
radikalen Muslime lassen sich am ehesten als »fundamentalistisch«
beschreiben.[77] Fundamentalistische Bewegungen entstehen aus der
regressiven Abwehr von Krisenerfahrungen in traditional verwurzelten
Religionskulturen, die von Entwurzelung bedroht sind. Der radikalisierte
Traditionalismus dieser Gemeinden kristallisiert I_83 sich um die starr
festgehaltene Autorität wörtlich ausgelegter heiliger Schriften;
Spiritualismus und Naherwartung verbinden sich in der Regel mit rigiden
Moralvorstellungen. Die Polarisierung zwischen der zwanghaft
abgeschirmten Eigenwelt und den modernen Lebensstilen der Umwelt
schließt den Gebrauch moderner Techniken nicht aus. Auch der biblische
Legalismus gewährleistet nicht immer nur Quietismus.[78] Unter
charismatischen Führern kann sich diese Spannung – wie wir in der
Anfangsphase der iranischen Revolution beobachtet haben – auch in einer
aktivistischen Wendung nach außen entladen. Die Grenze zwischen
fundamentalistischen und evangelikalen Gruppen ist fließend.[79]
– Demgegenüber sind die seit den 1970er Jahren sprunghaft entstehenden
»Neuen religiösen Bewegungen« eher durch einen »kalifornischen«
Synkretismus geprägt. Mit den Evangelikalen teilen sie allerdings den
Abschied von der überkommenen Liturgie, also die entkonventionalisierte
Form der religiösen Praxis. In Japan sind beispielsweise Sekten entstanden,
die Elemente aus Buddhismus und Volksreligion mit
pseudowissenschaftlichen und esoterischen Lehren vermischen. In der
Volksrepublik China haben seinerzeit die staatlichen Repressalien gegen die
Falun-Gong-Sekte die Aufmerksamkeit auf die große Zahl von »neuen
Religionen« gelenkt, deren Anhängerschaft dort vor einigen Jahren auf
insgesamt 80 Millionen geschätzt wurde.[80]
– Der weltweite islamische Terrorismus ist nur das spektakulärste
Beispiel für eine politische Entbindung religiöser Gewaltpotentiale. Aber oft
entfacht erst die religiöse Kodierung die Glut von Konflikten, die einen
anderen, profanen Ursprung haben. Das gilt für die »Entsäkularisierung«
des Nahostkonflikts ebenso wie für die Politik des Hindunationalismus und
den anhaltenden Konflikt zwischen Indien und Pakistan[81] oder für die
Mobilmachung der religiösen Rechten in den USA vor und während der
Invasion des Iraks.
I_84 In den letzten Jahren hat die These über den angeblichen Sonderweg
der säkularisierten Gesellschaften Europas inmitten einer religiös
mobilisierten Weltgesellschaft freilich an Evidenz verloren. Auf die
anhaltenden Kontroversen kann ich nicht eingehen. Nach meinem Eindruck
geben die global erhobenen Vergleichsdaten den Verteidigern der
Säkularisierungsthese immer noch eine starke Rückendeckung.[82] Pauschal
lässt sich feststellen, dass die wohlhabenden und entwickelten
Gesellschaften immer säkularer werden, während die Weltgesellschaft
aufgrund höherer Geburtenraten in den ärmeren und in Entwicklung
begriffenen Ländern insgesamt noch religiöser wird. Die dynamische
Ausbreitung der Religion erklärt sich freilich nicht nur aus
demographischen Trends. Ein genauerer Blick auf die aufbrechenden
Milieus und die Umbruchsituationen der verschiedenen, aber in gleicher
Weise verunsicherten Gruppen, die in Lateinamerika, Ostasien und Afrika
beispielsweise für die populistisch inszenierten Botschaften der
charismatisch geleiteten Megakirchen der Evangelikalen empfänglich sind,
bestätigt eher die Hypothese über den Zusammenhang von existentieller
Unsicherheit und religiösem Bedürfnis.[83] Auch für die
fundamentalistische Zuspitzung und politische Instrumentalisierung der
Weltreligionen in Umbruchsituationen bieten sich Erklärungen an, die mit
der Säkularisierungsthese in Einklang stehen.[84] Die jüngsten
Entwicklungen in Spanien, Irland und Polen haben sich dem allgemeinen
Säkularisierungstrend angepasst.[85] Unklar ist, ob die speziellen
Hypothesen für die Erklärung der religiösen Vitalität der US-amerikanischen
Glaubensgemeinschaften schon ausreichen, um die allgemeine Hypothese
zu retten.[86] Auf der anderen Seite dienen den Revisionisten die
auffäl I_85 ligen Unterschiede zwischen einzelnen europäischen Ländern
auch als Beleg für eine Hypothese, mit der sie wiederum die schwache
Stellung der Kirchen in Europa zum Ausnahmefall erklären.[87] Demnach
sollen die einst politisch einflussreichen und staatlich gestützten
Nationalkirchen nur deshalb stark in die Defensive geraten sein, weil sie
sich – anders als die staatsfernen Religionsgemeinschaften und
Denominationen in den USA – bis ins 20. Jahrhundert vergeblich gegen den
unvermeidlichen Verlust öffentlicher Funktionen zur Wehr gesetzt haben.
Die Verbindung von Staat und Kirche soll den intellektuellen Wortführern
der Aufklärung erst zu ihrer breiten kulturellen Wirkung verholfen haben.
Diese Hypothese ist insbesondere im Hinblick auf die französische
Gegenaufklärung plausibel. In Deutschland hat umgekehrt der Kulturkampf
der protestantischen Staatskirche gegen die »Ultramontanen« Gegenkräfte
auf katholischer Seite geweckt, aber die Erosion der eigenen
Glaubensfundamente eher beschleunigt.
Mir fehlt die Kompetenz, um in diesem Streit über die »Revitalisierung
der Religion« zu einem abschließenden Urteil zu gelangen.[88] Vieles spricht
erstens dafür, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften – ob nun in
ihren traditionellen, fundamentalistischen oder evangelikalen und
postmodernen Formen – ihre größten missionarischen Erfolge dort erzielen,
wo die Beteiligten die Verunsicherung in sozialen Entwurzelungs- und
Umbruchsituationen verarbeiten müssen, sei es mit einer regressiven
Abschließung von einer dynamischer Anpassung an oder einer aggressiven
Auseinandersetzung mit der hereinbrechenden Moderne. Wenn aber
Situationen der Unsicherheit und Ohnmacht eine religiöse Bewältigung der
Kontingenzen provozieren, ist mit einer Umkehrung dieses Trends zu
rechnen, sobald sich die Lebensumstände verbessern, mehr soziale
Sicherheit versprechen und das Selbstvertrauen stärken. Ebenso
einleuchtend ist zweitens, dass sich Kirchen und Religionsgemeinschaften
im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme
zu I_86 nehmend auf die Kernfunktion der seelsorgerischen Praxis
beschränkt haben und ihre umfassenden Kompetenzen in anderen
gesellschaftlichen Bereichen aufgeben mussten. Mit diesem
Funktionsverlust haben kirchliche Organisationen und religiöse
Überlieferungen zweifellos an gesamtgesellschaftlicher Relevanz eingebüßt.
Gleichzeitig schwächen die Rationalisierung der Lebenswelt und die
Individualisierung der Lebensführung die religiösen Motivationen, sodass
der Rückzug der Glaubenspraxis in abgeschirmte oder private Bereiche und
ein Schrumpfen der Mitgliedschaft die Folgen sind. Diese Aussagen über
Funktionsverlust, stärkere Privatisierung und Mitgliederschwund in den
wohlhabenden und sozialstaatlich einigermaßen pazifizierten Gesellschaften
bilden den harten Kern der Annahme über den Zusammenhang von
Säkularisierung und gesellschaftlicher Modernisierung. Dabei handelt es
sich um eine Trendaussage, die nicht identisch ist mit der Voraussage über
das Verschwinden der Religion als solcher. Auch wenn die empirisch
umsichtig vertretene Säkularisierungsthese zutrifft, kann die Religion selbst
in weitgehend säkularisierten Gesellschaften über den schrumpfenden Kreis
der religiös gebundenen Bevölkerung hinaus eine Bedeutung für die
politisch-kulturelle Selbstverständigung der Gesellschaft im Ganzen
behalten. In diesem Sinne muss die gesellschaftliche Modernisierung keinen
Bedeutungsverlust der Religion als einer gegenwärtigen Gestalt des Geistes
zur Folge haben – weder in der politischen Öffentlichkeit und der Kultur
einer Gesellschaft noch in der persönlichen Lebensführung des Einzelnen.
[89]
Die Religion hat bisher ihren Platz im differenzierten Gehäuse der
Moderne auch dort behauptet, wo sich die säkulare Mentalität in der
Bevölkerung ausbreitet und die Kirchen Mitglieder verlieren. Sie bleibt,
solange sie als zivilgesellschaftlicher Akteur ernst genommen werden muss,
ein Stachel im Bewusstsein einer säkularen Gesellschaft, die einstweilen
nicht viel anderes als »Medikamente« für den Umgang mit schweren
existentiellen Risiken bereithält. Bedingung für das Fortbestehen von
Religionsgemeinschaften in Gesellschaften, die sich fortwährend
säkularisieren, ist allerdings ein reflexives Selbst I_87 verständnis im
Verhältnis zu den modernen Lebensgrundlagen und zu den jeweils anderen
Religionen.
Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt die drei anderen
Dimensionen, für die ein Zusammenhang zwischen Modernisierung und
Säkularisierung behauptet wird:
– Die Folgen der kulturellen und wissenschaftlichen Rationalisierung
sind keineswegs eindeutig. Innerhalb der christlichen Theologie hat die
Begegnung mit moderner Wissenschaft und humanistischer Aufklärung
einen Reflexionsschub ausgelöst, der es möglich gemacht hat, einerseits die
Glaubenswahrheiten mit der Autorität der Wissenschaften und den
säkularen Grundlagen von Moral und Recht zu versöhnen, andererseits den
religiösen Traditionalismus der Lebensführung auf rationale Lebensformen
umzustellen. Auch wenn die religiöse Vorstellungswelt den
Perspektivenwechsel zum anthropozentrischen Denken ablehnen muss,
bestehen zwischen einem aufgeklärten religiösen Selbst- und
Weltverständnis und den rationalen Denk- und Verhaltensweisen der
Moderne keine unüberwindlichen kognitiven Dissonanzen.
– Die Individualisierung von Gesellschaft und Lebensstil erfasst auch die
religiöse Erfahrung und die Form der Religionsausübung. Schon längst
haben Reformation und Pietismus mit ihrem Schub zur Subjektivierung
einen entsprechenden Formwandel der Religiosität ausgelöst. Zwar mögen
protestantische Innerlichkeit und pietistische Frömmigkeit auch zur Erosion
des Gemeindelebens beigetragen haben. Und der heute zu beobachtende,
erneute Individualisierungsschub mag entinstitutionalisierte Formen der
Religiosität und eine Abkehr von Religion überhaupt fördern. Aber
fortschreitende Individualisierungsprozesse müssen im Lebenshaushalt des
Einzelnen nicht zwangsläufig zu einem Bedeutungsverlust der Religion
führen; in der Regel intensivieren sie sogar die religiösen Erfahrungen.
– Ähnliches gilt schließlich für die Pluralisierung der Weltbilder,
Religionen und Lebensformen. Die Vervielfachung der religiösen Angebote
mag religiöse Bindungen schwächen, aber sie können auch eine
stimulierende Wirkung auf religiöse Interessen ausüben. Zudem ist im
religiösen Pluralismus ein Spannungspotential angelegt, das religiösen
Phänomenen allemal gesellschaftliche Aufmerksam I_88 keit sichert. Die
auffällige Vitalität und Fremdheit der religiösen Praktiken von
Einwanderungskulturen verursachen beispielsweise im säkularisierten
Alltag der europäischen Gesellschaften Irritationen und schaffen damit
einen Resonanzraum auch für die einheimischen Konfessionen. Sie bilden
einen Stimulus für Aufmerksamkeit und Reflexion der Andersgläubigen und
der Nichtgläubigen.
Auch wenn diese unter den Stichworten Rationalisierung,
Individualisierung und Pluralisierung beschriebenen Entwicklungen
traditionale Formen des religiösen Bewusstseins erschüttern, besitzen die
großen Religionen anscheinend das Potential, auf diese Herausforderungen
sowohl kognitiv als auch in der Form religiöser Erfahrungen und Praktiken
Antworten zu finden, die ihnen eine öffentliche Existenz selbst unter
Bedingungen fortschreitender Säkularisierung sichern. José Casanova
verbindet mit dem Begriff der »öffentlichen Religion« die Vorstellung, dass
Religionsgemeinschaften auch unabhängig vom quantitativ gemessenen
Anteil religiöser Bürger an der Gesamtbevölkerung einen »Sitz« im Leben
moderner Gesellschaften behaupten können. Das erfordert nicht nur ein
reflexives Selbstverständnis der Religion im Verhältnis zur Autorität der
Wissenschaften, zum säkularen Verfassungsstaat und zum religiösen
Pluralismus, sondern eine aktive Rolle der Religionsgemeinschaften in der
Zivilgesellschaft und eine selbstbewusste und produktive Teilnahme an den
politischen Diskursen in der Öffentlichkeit: »Öffentlich wird Religion dann,
wenn eine religiöse Bewegung, Gruppe oder Gemeinschaft dem von ihr
vertretenen und gelebten Glauben eine gesellschaftliche Bedeutung beimisst
und dies in ihrer Glaubenspraxis bekundet, was sich zugleich in der
Bereitschaft manifestiert, sich an den gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen […] zu beteiligen.«[90] Unsere weltanschaulich
pluralistischen Gesellschaften bilden für solche Interventionen einen
empfindlichen Resonanzboden, weil sie in politisch regelungsbedürftigen
Wertkonflikten immer häufiger gespalten sind. Im Streit über die
Legalisierung von Abtreibung oder Sterbehilfe, über bioethische Fragen der
Repro I_89 duktionsmedizin, über Fragen des Tierschutzes und der Ökologie
– in diesen und ähnlichen Fragen ist die Argumentationslage so
unübersichtlich, dass keineswegs von vornherein ausgemacht ist, welche
Partei sich auf die richtigen moralischen Intuitionen berufen kann. Freilich
können sich Religionsgemeinschaften im politischen Leben säkularer
Gesellschaften als Interpretationsgemeinschaften nur behaupten,[91] wenn
sie sich auf die Regeln einlassen, die der demokratische Verfassungsstaat für
den öffentlichen Gebrauch der Vernunft etabliert.[92]
Öffentliche Relevanz erwerben Kirchen und Religionsgemeinschaften
freilich nicht allein dadurch, dass sie als zivilgesellschaftliche Akteure
auftreten. Insgesamt verbreitet sich in spirituell bewegten Kreisen am
Rande oder außerhalb der kirchlichen Institutionen jenes Bewusstsein, das
Charles Taylor als typisch für das »Zeitalter der Authentizität« beschrieben
hat: Der religiöse Glaube erscheint als eine Option unter mehreren für die
Befriedigung des expressivistischen, manchmal von Narzissmus nicht zu
unterscheidenden Bedürfnisses nach extremen Erfahrungen des
Außeralltäglichen.[93] Dieses Bedürfnis erklärt auch die kollektiven Formen
der religiösen Massenveranstaltungen.[94] Aber das religiöse Spektrum
reicht über die teils politisch, teils spirituell engagierten Gruppen hinaus auf
I_90 jene entinstitutionalisierten Netzwerke der postmodernen Religiosität,
die oft unter dem Sammelbegriff »New Age« beschrieben werden. Diese
Randbezirke einer vagabundierenden Religiosität bilden einen scharfen
Gegensatz zu der eher konventionellen Religiosität der Schicht passiver
Gemeindemitglieder. Zur Peripherie gehört auch die Gruppe der nur noch
nominellen Gemeindemitglieder, deren Motive etwas über die
Wahrnehmung der Religion aus der Sicht eines interessanten Teils der mehr
oder weniger säkularisierten Bürger Aufschluss geben. Obwohl sich diese
nominellen Mitglieder in ihren Überzeugungen von säkularen Bürgern
nicht wesentlich unterscheiden, entschließen sie sich – gewissermaßen
komplementär zu dem als believing, not belonging beschriebenen Phänomen
– nicht zum Kirchenaustritt. Die unklaren Gefühlslagen, die ihrem
ambivalenten Verhalten zugrunde liegen, können mit Davies Begriff der
stellvertretenden Religiosität (vicarious religiosity) erklärt werden: »Als
›stellvertretend‹ bezeichne ich eine Konzeption von Religion, die von einer
aktiven Minderheit praktiziert wird, allerdings im Namen einer weitaus
größeren Zahl von Menschen, die zumindest implizit nicht nur verstehen,
was die Minderheit tut, sondern deren Praxis ganz offensichtlich auch
gutheißen.«[95] In authentischen Zeugnissen eines inspirierten
Gemeindelebens begegnet säkularen Bürgern immerhin das Faktum einer
außeralltäglichen Lebensform. Deshalb kann das Wirken oder sogar die
bloße Wahrnehmung der Existenz von Kirchen und
Religionsgemeinschaften – als Stachel im Fleisch einer unreflektiert
vollzogenen Profanität – für die Bewusstseinslage einer säkularisierten
Gesellschaft Bedeutung gewinnen.
Heute kommt die medial vermittelte Gegenwart von religiösen
Bewegungen und Konflikten aus aller Welt hinzu. Es bedarf nicht einmal
der globalen Sichtbarkeit fundamentalistischer Bewegungen, der Furcht vor
dem islamistischen Terror und der erneut aufgebrochenen identitären und
islamophoben Abwehrreaktionen auf die durch Bürgerkriege und
postkoloniale Lebenslagen anschwellenden Migrationswellen, um der
Mehrheit der europäischen Bürger die Relativität der eigenen säkularen
Bewusstseinslage im Weltmaßstab I_91 vor Augen zu führen und ihrem
säkularen Weltverständnis jeden Triumphalismus auszutreiben. In Europa
bildet die Flüchtlingsimmigration, vor allem aus Ländern mit traditional
geprägten Kulturen, einen aktuellen Stimulus für diesen
Bewusstseinswandel. Die Erfahrung mit Immigrationsschüben aus anderen
Kulturen, die die ehemaligen Kolonialländer Westeuropas schon seit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges gemacht haben, holen inzwischen,
insbesondere seit dem Balkankrieg und dem syrischen Bürgerkrieg, auch
andere europäische Länder nach. In europäischen Gesellschaften, die sich
noch im Prozess der Umwandlung zu postkolonialen
Einwanderungsgesellschaften befinden, muss diese Integration auch noch
unter den demütigenden Bedingungen wachsender sozialer Ungleichheit
gelingen. Auf das öffentliche Bewusstsein in Europa trifft heute die
Beschreibung einer »postsäkularen Gesellschaft« zu, die sich einstweilen
»auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend
säkularisierenden Umgebung einstellt«.[96] Diese Selbstbeschreibung bringt
die Verunsicherung der säkularistischen Überzeugung vom absehbaren
Verschwinden der Religion zum Ausdruck. Das Bewusstsein, in einer
säkularen Gesellschaft zu leben, verbindet sich nicht länger mit der
Gewissheit, dass sich die fortschreitende kulturelle und gesellschaftliche
Modernisierung nur auf Kosten der öffentlichen und personalen Bedeutung
von Religion überhaupt vollziehen kann. Diese veränderte Lesart der
Säkularisierungsthese betrifft weniger deren Substanz als vielmehr die
Enthaltsamkeit gegenüber Voraussagen über das künftige Schicksal der
Religionen. Im postsäkularen Bewusstsein weithin säkularisierter
Gesellschaften spiegelt sich der Vorbehalt gegenüber der weiterreichenden
sozialevolutionären Entwicklungsperspektive, mit der die
Säkularisierungsthese ursprünglich verknüpft war.[97]
(2) John Rawls' Sicht stimmt mit dem Ergebnis dieser Kontroverse
insofern überein, als er den Pluralismus der Weltanschauungs- und
Religionsgemeinschaften als ein konstitutives und vorerst andauern I_92 des
Merkmal der Moderne hervorhebt; er meint, »dass die Vielfalt vernünftiger
umfassender religiöser, philosophischer und moralischer Lehren […] kein
vorübergehender Zustand ist, der bald verschwinden wird«.[98] Rawls hat
diese Tatsache als philosophische Herausforderung so ernst genommen,
dass er sich genötigt sah, im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten eine
tiefgreifende Revision an seiner ursprünglichen Theorie der Gerechtigkeit
vorzunehmen.[99] In der Einleitung zur revidierten Konzeption hebt er
dieses Motiv mit wünschenswerter Klarheit hervor: »Der ›politische
Liberalismus‹ ist keine Form des Liberalismus der Aufklärung, das heißt
keine umfassende liberale und häufig säkulare, auf die Vernunft gegründete
Lehre, die nach dem Ende der Vorherrschaft der religiösen Autorität im
christlichen Zeitalter für die moderne Zeit angemessen ist.«[100]
Zunächst hatte sich Rawls ohne Zögern auf einen »kantischen
Konstruktivismus« eingelassen, also auf einen nicht nur weltanschaulich
neutralen, sondern im Sinne der Aufklärung autonomen Begriff der
praktischen Vernunft. Deren Kern bildet die Konstruktion eines Verfahrens
unparteilicher Urteilsbildung. Im sogenannten Urzustand sind Beratungen
über Grundsätze der politischen Gerechtigkeit kognitiv relevanten
Beschränkungen unterworfen, welche die Beteiligten dazu nötigen,
Abwägungen zwischen konkurrierenden Werten und Gütern nur unter
universalistischen Gesichtspunkten vorzunehmen. Dieser moralische
Gesichtspunkt der Verallgemeinerung charakterisiert auch den
Gerechtigkeitssinn, mit dem Rawls seine »moralischen Personen«
ausstattet. Das Thema, der regelungsbedürftige Gegenstandsbereich »des
Politischen«, muss sodann mithilfe von angemessenen Grundbegriffen (wie
fairen Bedingungen der Kooperation zwischen freien und gleichen Bürgern,
Basisinstitutionen einer wohlgeordneten Gesellschaft und so weiter)
bestimmt werden. Die gesuchten Grundsätze politischer Gerechtigkeit
zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie die Zustimmung aller Bürger,
sofern diese I_93 sich auch als moralische Personen verstehen, finden
könnten. Anders als Hobbes und in Übereinstimmung mit Kant stattet
Rawls die Bürger nicht nur mit der Fähigkeit rationaler Wahl, sondern auch
mit einem Sinn für Gerechtigkeit aus, der das Gewicht der je eigenen
Präferenzen und der höchst individuellen Vorstellung von einem
nichtverfehlten Leben mit Rücksicht auf verallgemeinerbare Interessen
begrenzt. Im Gedankenexperiment des Urzustandes lassen sich deshalb die
Bürger durch Parteien vertreten, die von den besonderen Interessen,
Lebenslagen und Projekten ihrer jeweiligen Klientel keine Kenntnis haben
dürfen. Die spätere Fassung des »Politischen Liberalismus« nimmt gerade
in dieser Hinsicht eine entscheidende Revision vor.
Um dem Faktum des weltanschaulichen Pluralismus Rechnung zu tragen,
macht Rawls die Rechtfertigung der – in der Substanz unveränderten –
Grundsätze politischer Gerechtigkeit von einem umfassenderen Konsens
abhängig. Aus der Familie der bereits im Urzustand philosophisch als
»vernünftig« qualifizierten Grundsätze politischer Gerechtigkeit treffen
nun ganz andere Parteien, die nach dem Vorbild von
Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgruppen modelliert sind,
erst die definitive Entscheidung. Diese Parteien vertreten
Weltanschauungsgemeinschaften, die sich durch reasonable comprehensive
doctrines auszeichnen. Der Begriff der »umfassenden Doktrin« ist so weit
gefasst, dass nicht nur religiöse Lehren, metaphysische Weltbilder und
systematisch angelegte Philosophien darunter fallen, sondern alle
Morallehren und Ethiken. Da jedem Bürger irgendeine mehr oder weniger
explizite »Weltanschauung« zugeschrieben wird, bilden in der revidierten
Fassung nicht mehr die verallgemeinerten Interessen und Lebensentwürfe
von Individuen, sondern die Vielzahl konkurrierender
Weltanschauungsgruppen die Basis, auf der sich eine Übereinstimmung in
politischen Grundsatzfragen einspielen soll. Auch wenn man im Hinblick
auf eine gewisse Ambivalenz des Autors die Eindeutigkeit dieser Lesart
bestreiten mag, bezieht Rawls die Vernünftigkeit der politischen Konzeption
des Gerechten jedenfalls auf die bloße Tatsache einer solchen
Übereinstimmung. Politische Legitimität bemisst sich in letzter Instanz nicht
länger am Gerechtigkeitssinn von Bürgern, die von ihrer praktischen
Vernunft einen moralischen Gebrauch machen, sondern an einem
I_94 »übergreifenden Konsens« zwischen Anhängern umfassender
Doktrinen. Ein verfassungsgebender Konsens kommt nur zustande, wenn
sich eine philosophische Gerechtigkeitskonzeption (oder eine Familie
solcher vorzugsweise liberalen Konzeptionen) gleichzeitig – wie ein
Modul[101] – in die verschiedenen weltanschaulichen Kontexte aller
Beteiligten nahtlos einfügen lässt. Auf dieser Weise erfährt dieselbe
Gerechtigkeitskonzeption aus den Binnenperspektiven der verschiedenen,
von ihren Anhängern jeweils für wahr gehaltenen Lehren ebenso viele
verschiedene Begründungen. Verschiedene dogmatische Wege führen so zum
selben »vernünftigen« (reasonable) Ergebnis.
Allein, »dogmatisch« ist in diesem Zusammenhang nicht ganz das
richtige Wort. Das zeigt sich an einer merkwürdigen Implikation des
jeweiligen weltbildimmanenten »Begründens«. Nach Auffassung von John
Rawls bleibt es nämlich den in der Mehrzahl auftretenden Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften vorbehalten, für ihre Doktrinen
»Wahrheitsansprüche« (truth-claims) zu erheben, während die
konsensfähige Gerechtigkeitskonzeption – als das im Hinblick auf die
politische Ordnung kleinste gemeinsame Vielfache dieser Doktrinen – nur
den Anspruch auf »Vernünftigkeit« (reasonableness) erheben kann. In dieser
Verteilung der Geltungsprädikate verbirgt sich das Problem, auf das es mir
in unserem Kontext ankommt: das ungeklärte Verhältnis der autonomen
Vernunft zu Religion und Metaphysik. Rawls hatte ursprünglich zwischen
den Prädikaten »wahr« und »vernünftig« unterschieden, um die politische
Theorie von falsch verstandenen Wahrheitsansprüchen zu entlasten. In den
Dewey-Lectures hatte er zuvor den konstruktivistischen Sinn seiner
Auffassung betont, um sich vor Missverständnissen eines moralischen
Realismus zu schützen: »[D]ie Parteien im Urzustand erkennen nicht
irgendwelche Gerechtigkeitsgrundsätze als wahr und korrekt an und sehen
sie somit nicht als vorgegeben [!] an; ihr Ziel besteht schlicht darin, die […]
rationalste Konzeption auszuwählen. Diese Konzeption wird nicht als eine
brauchbare Annäherung an moralische Tatsachen betrachtet: es gibt keine
solchen Tatsachen, der sich die angenommenen Grundsätze annähern
könnten.«[102] Die I_95 scharfe Kontrastierung von »wahr« und
»vernünftig« ist verständlich, wenn man wie Rawls von einem engen
Korrespondenzbegriff der Wahrheit ausgeht und sich gleichzeitig von der
empiristischen Version des Vertragsmodells absetzen will.[103] Jedenfalls
hatte die Unterscheidung anfänglich nur den Sinn, die Geltung moralisch-
praktischer Aussagen von der Wahrheitsgeltung deskriptiver Aussagen
abzuheben, ohne den Autonomieanspruch der praktischen Vernunft
gegenüber Religion und Metaphysik einzuschränken.
Demgegenüber dient die Rolle, die Rawls später dem overlapping
consensus einräumt, einer solchen aufklärungskritischen Selbstbegrenzung
von Ansprüchen der praktischen Vernunft. Nun soll sich eine öffentliche
Gerechtigkeitskonzeption erst dann als »vernünftig« qualifizieren lassen
können, wenn sie in jeweils anderer Weise an die weltbildinternen
Begründungswege Anschluss findet. Jede Weltanschauungsgruppe oder
Religionsgemeinschaft muss dieselbe Konzeption aus den jeweils eigenen,
nichtöffentlichen Gründen akzeptieren können. Daher ist der übergreifende
Konsens auch nicht das Ergebnis eines öffentlichen Diskurses, sondern
einer gegenseitigen Beobachtung der Weltanschauungsgruppen mit dem Ziel,
festzustellen, ob sich im Hinblick auf die »politischen Werte«
Übereinstimmung zwischen den im Übrigen unvereinbaren Doktrinen
herausstellt: »Es ist in jedem Fall eine Sache der einzelnen umfassenden
Lehre, zu sagen, wie sie die Idee der Vernünftigen mit dem Begriff der
Wahrheit […] verbindet.«[104] Die Vernünftigkeit der
Gerechtigkeitskonzeption zehrt von der Wahrheit der Weltbilder. Rainer
Forst nennt das zu Recht »einen privaten Gebrauch der Vernunft in
politisch öffentlicher Absicht«.[105]
Es waren ursprünglich methodologische Gründe, die Rawls veranlasst
hatten, die Moral aus der Zuständigkeit der praktischen Vernunft zu
entlassen und in die dichten Kontexte der Weltbilder zu ver I_96 lagern.
Dadurch hatte er das politisch »freistehende« Konzept der Gerechtigkeit
von moraltheoretischen Streitigkeiten entlasten wollen. Aber nun bringt er
die praktische Vernunft selbst in Gefahr, ihre Unabhängigkeit an die
Autorität des »übergreifenden Konsenses« der Weltanschauungsgruppen zu
verlieren. Wenn das, was eine politisch vernünftige Geltung beanspruchen
darf, letztlich von der Bewahrheitung durch konvergierende Weltbilder
abhängt, wird die praktische Vernunft von der Wahrheit der Weltbilder
übertrumpft. Andererseits muss Rawls der praktischen Vernunft nach wie
vor zutrauen, präsumtiv unparteiliche Grundsätze der politischen
Gerechtigkeit zu entwickeln, denn sonst fehlten überhaupt die alternativen
Angebote für die Testfrage, ob sich unter konkurrierenden
Weltanschauungen eine Schnittmenge von gemeinsamen Grundsätzen
politischer Gerechtigkeit finden lässt. Nach wie vor stützt sich das Konzept
von »Gerechtigkeit als Fairness« auf den Gerechtigkeitssinn, mit denen die
Theorie die Bürger ausstattet (um daraus auch die Konstruktion des
Urzustandes abzuleiten). In unserem Kontext kann ich die Frage auf sich
beruhen lassen, ob Rawls mit diesem Zug nicht schon für seine »politische«,
also nachmetaphysische Gerechtigkeitskonzeption eine bestimmte –
nämlich kantische – Moraltheorie (die doch fortan nur noch im Plural der
Weltbilder ihren Platz haben soll) einschmuggelt. Aber nicht
vernachlässigen dürfen wir einen Vorbehalt, den die praktische Vernunft
bei der Feststellung des übergreifenden Konsenses ihrerseits gegenüber den
Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgruppen anmelden muss,
wenn liberale Auffassungen überhaupt eine Chance haben sollen, den Test
auf Vernünftigkeit zu bestehen; ich meine die Bedingung, dass nur
»reasonable« comprehensive doctrines zugelassen sind.
Die Kriterien, an denen sich die »Vernünftigkeit« der Weltbilder bemisst,
muss die philosophische Theorie selbst – eben allein aus praktischer
Vernunft – entwickeln. Wer sonst, wenn nicht sie, könnte genau die Menge
von Doktrinen bestimmen, von deren Urteil und Entscheidung es abhängen
soll, welche der konkurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen Geltungskraft
erlangt? Um als reasonable in die Testgruppe aufgenommen werden zu
können, sollen die Kandidaten mindestens drei Bedingungen genügen: Sie
müssen eine hinreichende dogmatische Ausgestaltung aufweisen (sodass sie
in ihrem I_97 Aufbau schon durch den Filter »vernünftiger« Operationen
hindurchgegangen sind); sie müssen zur Anerkennung der »Bürden der
Vernunft« anhalten (sodass sie für »vernünftigerweise zu erwartende
Meinungsverschiedenheiten« empfindlich sind); und sie müssen im
Konfliktfall »politischen« Gesichtspunkten Vorrang vor »dogmatischen«
einräumen (sodass Weltanschauungsgruppen auf eine forcierte
Durchsetzung eigener Überzeugungen verzichten).[106] Wenn sich aber die
Vernünftigkeit der Weltbilder an Kriterien bemisst, die diese nicht aus sich
selber begründen können, muss sich die Auszeichnung des »Vernünftigen«
auf das unparteiliche Urteil einer Instanz berufen können, deren Autorität
nicht wiederum vom Zustandekommen eines politischen Grundkonsenses
unter den als vernünftig ausgewählten Doktrinen abhängen kann. Diese
Unabhängigkeit passt jedoch nicht zu der These, dass sich die
Vernünftigkeit einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, anhand deren
sich das »Vernünftige« vom »Wahren« unterscheiden lässt, ihrerseits erst
noch anhand des Konsenses von (wie immer auch vernünftigen)
Weltbildern bestätigen, ja »bewähren« muss.
In der zentralen Frage bedeutet diese Ungereimtheit keine
Unentschiedenheit: Rawls möchte sich offenbar nicht nur von einem
säkularistischen Selbstverständnis der Aufklärung verabschieden, um die
Religion als eine zeitgenössische Gestalt des Geistes ernst zu nehmen. Dafür
hätte die agnostische Enthaltsamkeit einer »freistehenden« politischen
Theorie gegenüber den Wahrheitsansprüchen umfassender Doktrinen
genügt. Aber Rawls geht einen Schritt weiter, indem er der unterstellten
Wahrheit konkurrierender Weltanschauungen in Gestalt eines
überlappenden Konsenses die Kraft der Erkenntnis zutraut, die nötig ist, um
in der Menge der konkurrierenden Grundsätze politischer Gerechtigkeit die
»vernünftigen« von den »unvernünftigen« zu unterscheiden. Am Ende
besteht zwischen einer vermeintlich autonomen, aber sich selbst
begrenzenden Vernunft auf der einen und den bereits reflexiv gewordenen,
in diesem Sinne »vernünftigen« religiösen Lehren oder metaphysischen
Weltbildern auf der anderen Seite nicht einmal eine wechselseitige
Verweisung aufeinander, sondern ein einseitiger Geltungstransfer von den
I_98 Weltbildern zur politischen Philosophie. Das Verhältnis ist eher
statischer Natur, erlaubt weder Kommunikation noch Lernen. Die
Beweislastenverteilung, die sich in der merkwürdigen Dependenz der
»vernünftigen« liberalen Gerechtigkeitsvorstellungen von den
»wahrheitsverbürgenden« Doktrinen widerspiegelt, macht implizit der
Vernunft die Autonomie streitig, die erst dann gewahrt würde, wenn ein
säkulares nachmetaphysisches Denken, wie vorgeschlagen, zu
Glaubensmächten eine lernbereite dialogische Einstellung einnähme, aber
letztlich autonom urteilte.[107]
Die relativ schwache Stellung, die Rawls der säkularen Vernunft
gegenüber religiös-metaphysischen Überlieferungen einräumt, hat übrigens
auch Konsequenzen für seine Vorstellungen von den normativen
Grundlagen der internationalen Gemeinschaft. Rawls verzichtet darauf, das
Verfahren der unparteilichen Rechtfertigung normativer Grundsätze von
der nationalen auf die völkerrechtliche Ebene zu übertragen. Denn auf der
interkulturellen Bühne treten die Vertreter einer liberalen
Gerechtigkeitskonzeption nicht mehr in der Rolle von philosophischen
Anwälten der öffentlichen, also präsumtiv allgemeinen Vernunft auf,
sondern nur noch als eine strategisch handelnde Partei, die weitsichtig
genug ist, um einen klugen Modus Vivendi mit anderen Kulturen
anzustreben. Aus dieser Perspektive entwirft Rawls für die
Völkergemeinschaft eine »realistische Utopie«,[108] die die internationale
Ordnung keineswegs nach Maßstäben von »Gerechtigkeit als Fairness«
gestalten will. Für den Entwurf einer stabilen Ordnung des friedlichen
interkulturellen Zusammenlebens wählt er statt des moralischen
Gesichtspunktes unparteilicher Beurteilung die Perspektive der westlichen
Staatengemeinschaft, die den universalistischen Anspruch der eigenen
Gerechtigkeitsstandards bis auf Weiteres zugunsten einer minimalistischen
Menschenrechtskonzeption einklammert und pragmatisch auf die
Vermeidung von Krieg und politischer Massenkriminalität abzielt. Rawls
sortiert den Rest der Welt gewissermaßen aus der Sicht des Westens unter
dem außenpolitischen Gesichtspunkt, wie weit andere Kulturen aus dieser
Sicht als mehr oder weniger »anständig« eingestuft und
dement I_99 sprechend entweder als Koalitionspartner oder als
»Schurkenstaaten« bewertet werden können. Das entspricht der
weitsichtigen politisch-strategischen Überlegung eines liberal aufgeklärten
global players für die langfristige Gestaltung internationaler Beziehungen.
Abgesehen davon, dass eine philosophische Gerechtigkeitstheorie heute mit
dem Blick auf eine systemisch zusammenwachsende, zwar kulturell
unvollständig integrierte, aber vor allem politisch fragmentierte
Weltgesellschaft entworfen werden müsste,[109] interessiert mich in
unserem Zusammenhang an Rawls' Theorie des Völkerrechts die
vorauseilende Resignation vor der Hartnäckigkeit kultureller Differenzen.
Denn darin verrät sich der Zweifel an einer Vernunft, die sich als autonom
und das heißt als Bürge universeller Geltungsansprüche versteht.
Einen autonomen Vernunftgebrauch in interkulturellen Diskursen stelle
ich mir anders vor. Unter der Voraussetzung, dass alle Parteien die
Notwendigkeit des Aufbaus global handlungsfähiger Institutionen erkennen
und sich, wie wir kontrafaktisch annehmen wollen, diskursiv auf das in
normativen Fragen abweichende Selbstverständnis anderer Kulturen
einlassen, müsste ein (nehmen wir an: bis zur Unkenntlichkeit reformistisch
veränderter und selbstkritisch gewordener) Westen seine im weitesten
Sinne liberalen Vorschläge für eine kosmopolitische Ordnung in dem
fallibilistischen Bewusstsein vertreten, dass das im Okzident entwickelte
Verständnis der Menschenrechte prima facie gut begründet ist und – auch
wenn es im Lichte überzeugender Einwände korrigiert und gegebenenfalls
erweitert werden muss – universelle Zustimmung verdient. Für die
Befürworter eines Systems der Rechte, das in vielen demokratischen
Verfassungen und inzwischen auch in völkerrechtlich verbindlichen
Normen verkörpert ist, ist die Universalität der Geltungsansprüche nicht
weniger Ausdruck eines autonomen Vernunftgebrauchs wie der Geist von
Fallibilität und Lernbereitschaft, mit dem die Geltungsansprüche erhoben,
interpretiert und erforderlichenfalls korrigiert werden.
I_100 Was bedeutet dieses Ergebnis für unsere Ausgangsfrage? Rawls'
politische Theorie verdankt der systematischen Berücksichtigung des
religiösen und kulturellen Pluralismus eine einzigartige Stellung in der
Tradition des Vernunftrechts und hat sich aus diesem Grunde für die
Lösung des Problems angeboten, das Verhältnis zwischen einem aufgeklärt
säkularen Selbstverständnis des nachmetaphysischen Denkens auf der
einen, einem reflektierten Selbstverständnis des religiösen Glaubens auf der
anderen Seite zu klären. Aber es stellt sich heraus, dass diese Theorie dem
Eigensinn der Religion nicht nur weit, sondern zu weit, nämlich auf Kosten
der Autonomie der Vernunft entgegenkommt. Damit bleibt nach wie vor die
Frage nach dem richtigen säkularen Selbstverständnis einer gegenüber den
Religionen nicht verhärteten Vernunft offen. Wie muss sich ein
nachmetaphysisches Denken verstehen, das sich gegenüber dem semantisch
gehaltvollen Anregungspotential oder gar einem möglichen, der
philosophischen Übersetzung zugänglichen Wahrheitsgehalt von religiösen
Überlieferungen lernbereit verhält, aber nicht bereit ist, dafür Abstriche am
autonomen Gebrauch der Vernunft vorzunehmen? Dieser Einstellung
kommt ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts näher. Karl Jaspers hat
das direkte Gespräch mit Theologen aufgenommen und mit Rudolf
Bultmann über eine Konzeption vom »Kampf der Glaubensmächte« einen
öffentlichen Dialog geführt.[110]
(3) Wie John Rawls verabschiedet sich auch Karl Jaspers von einem
säkularistischen Selbstverständnis der Aufklärung und nimmt die Religion
als eine zeitgenössische Gestalt des Geistes ernst. Aber anstelle der
Rawls'schen Vermeidungsstrategie versucht er eine philosophische
Umarmung seiner theologischen Gesprächspartner. Er betrachtet das im
Rahmen einer kantianisierenden Existenzphilosophie entfaltete
»philosophische Grundwissen« als den geeigneten Boden, »auf dem
Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Welt hin sinnvoll
begegnen könnten«.[111] Rawls hat auf der Suche I_101 nach einer
tragfähigen Legitimation für Recht und Verfassung zunächst im nationalen
Rahmen die Bedingungen für eine Übereinstimmung in Grundsätzen der
politischen Gerechtigkeit analysiert. Demgegenüber steht Jaspers nach dem
Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck der Gründung des UN-Regimes, der
weltwirtschaftlichen Schrittmacherrolle der OECD-Gesellschaften und der
weltumspannenden Bedrohung der atomaren Rüstung; dabei hat er mit
großer Weitsicht bereits die Konkurrenz der Weltreligionen als
Herausforderung zu einer interkulturellen Verständigung im Blick und
meint, die Basis für eine »Weltordnung des Rechts« tiefer legen zu müssen:
Die Einigung in der »Welt des Geistes« muss der Konstitutionalisierung des
Völkerrechts vorausgehen.[112] Jaspers sucht daher nach hermeneutischen
Voraussetzungen eines Konsenses im »Kampf der Glaubensmächte«. Dieser
Ansatz erstreckt sich auf die gesamte Konstellation von Wissenschaft,
nachmetaphysischem Denken und religiöser Überlieferung. Freilich werden
wir am Ende fragen müssen, ob nicht auch Jaspers für die
nachaufklärerische Selbstbegrenzung der säkularen Vernunft einen zu
hohen Preis bezahlt. Für ihn besteht der Preis nicht darin, dass er religiöse
und metaphysische Lehren selbst in die Begründung der Wahl zwischen
vernünftig begründeten Gerechtigkeitskonzeptionen einbeziehen muss; der
Preis besteht vielmehr in einem Seitenwechsel der Philosophie selber – er
lenkt den »philosophischen Glauben« und damit die Philosophie überhaupt
von den Wissenschaften weg an die Seite der religiösen Lehren und
metaphysischen Weltbilder.
Andererseits führt Jaspers' Ansatz aus meiner Sicht insofern weiter, als er
mit der Konzeption des gemeinsamen Ursprungs aller »starken«
Traditionen aus der Weltbildrevolution der Achsenzeit für die Genealogie
des nachmetaphysischen Denkens eine aussichtsreiche Perspektive eröffnet.
Während Rawls mit Politischer Liberalismus (1993) seine ursprüngliche
Konzeption aus Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) revidiert, verschieben
sich bei Jaspers zwischen seinem dreibändigen Magnum Opus Philosophie
(1932) und der deutlich späteren Veröffentlichung Der philosophische Glaube
angesichts der Offenbarung (1962) nur die Akzente. Das frühe
Haupt I_102 werk[113] gewinnt aus der Reflexion auf die Bedingungen einer
heute möglichen ethisch-existentiellen Selbstverständigung das, was später
das »philosophische Grundwissen« heißen wird. Die Art und Weise, wie
wir in der Welt »existieren«, erfordert eine Orientierung sowohl in der
Welt wie auch über die Welt im Ganzen. Während der kognitive Zugriff auf
alles Objektivierbare in der Welt letztlich den Wissenschaften vorbehalten
bleibt, ist es Sache der Philosophie, uns – im Überstieg über alles
Innerweltliche – der sonst nur performativ gegenwärtigen Bezüge zur
Transzendenz zu vergewissern. Dieses »Umgreifende« ist der Name für den
Horizont und den Boden einer ungegenständlich präsenten, sprachlich
strukturierten Lebenswelt, in der sich Personen immer schon vorfinden,
und zwar
– als sich selbst behauptende Subjekte im Alltag,
– als unpersönliches Bewusstsein im objektivierenden Denken und
– als individuelle, um sich selbst besorgte Mitglieder einer von Ideen
zusammengehaltenen sozialen Gemeinschaft.
Wenn aber die Freiheit zum »Selbstsein«, zum bewussten Vollzug der
Existenz eines unvertretbar Einzelnen einzig aus der Reflexion auf das
nichtobjektivierbare Umgreifende gewonnen werden kann, wie soll dann
Metaphysik noch möglich sein? Nicht mehr als Spekulation über die
Stellung des Menschen im Kosmos, sondern nur noch als die Dechiffrierung,
als das »Lesen der Chiffreschrift« jener »starken«, inzwischen jedoch
reflexiv gebrochenen Traditionen, in denen sich die in allen Hochkulturen
entwickelten Spekulationen über das Ganze von Mensch, Natur und
Geschichte niedergeschlagen haben. Aus Kants Metaphysikkritik zieht
Jaspers die Konsequenz, dass die metaphysischen Aussagen als Bilder und
Symbole eines »Ursprungs« entziffert werden können, der sich als solcher
jedem ontologisch vergegenständlichenden Zugriff entzieht.
Die philosophische Aufklärung über die Grundverfassung der
menschlichen Existenz läuft also auf jene »Welt der Chiffren« zu,[114] von
der Jaspers' Spätphilosophie ihren Ausgang nimmt. Darin verliert die von
Griechenland ausgehende Metaphysikgeschichte ihre singuläre Stellung.
Die griechische Philosophie rückt in den Kreis all jener Tra I_103 ditionen
ein, die in den eurasischen Achsenzeitkulturen ihren Ursprung haben. Dass
die Metaphysik an die Seite jener religiösen Lehren und kosmologischen
Weltbilder rückt, die Max Weber als »Weltreligionen« untersucht hatte, ist
nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Jaspers an »Existenzerhellung«
und weniger an den theoretischen Leistungen des philosophischen Denkens
interessiert war. Dieser Fokus auf die Sorge um das persönliche Heil
begründet eine thematische Verwandtschaft des existenzphilosophischen
Denkens mit den religiösen Heilslehren, sodass der späte Jaspers mit großer
Selbstverständlichkeit für Philosophie und Religion einen »gemeinsamen
Denkraum« annimmt.[115] Auf diese Weise verwandelt sich die
Existenzphilosophie lautlos in Religionsphilosophie: »Philosophie, ob sie
nun die Religion bejaht oder bekämpft, entzieht sich in der Tat der Religion,
aber auf eine Weise, in der sie sich ständig mit ihr beschäftigt.«[116] Jaspers
qualifiziert nun das Für-wahr-Halten philosophischer Aussagen als
»philosophischen Glauben«. Die Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und
Religion soll in der Art eines Glaubensmodus bestehen, den schon Augustin
als die Einheit von fides qua und fides quae creditur bestimmt hatte: Der
Glaubensinhalt ist von den Akten des Glaubens als der Ressource, woraus
eine Person im Vollzug ihrer Existenz lebt, nicht zu trennen. Weil Jaspers
»echte« Philosophie als Denken aus einem unverfügbaren Ursprung
versteht, soll vom »denkenden« wie vom religiösen Glauben gleichermaßen
gelten, dass er »nicht durch einen Gedanken erzwungen, auch nicht als
bloßer Inhalt angegeben und mitgeteilt werden [kann]. Glaube ist die Kraft,
in der ich mir gewiß bin aus einem Grunde, den ich wohl bewahren, aber
nicht herstellen kann. […] Glaube ist der Grund vor aller Erkenntnis. Er
wird im Erkennen heller, aber nie bewiesen.«[117]
Diese modale Angleichung der philosophischen an die religiöse
Überzeugung zieht im Rahmen der Jaspers'schen Lehre ihre Plausibilität aus
der zugrundeliegenden Distanzierung des wissenschaftlichen vom
philosophischen Denken. Jaspers unterscheidet die methodisch erzielten und
kumulativen wissenschaftlichen Erkenntnisse I_104 über innerweltliche
Vorgänge von den philosophisch ins Bewusstsein gehobenen Strukturen
und Bezügen, die uns intuitiv als etwas Umgreifendes im Vollzug unserer
lebensweltlichen Praktiken bekannt sind, anhand jeweils verschiedener
Geltungsansprüche und entsprechender Modi des Für-wahr-Haltens. Für
wissenschaftliche Aussagen erheben wir mit dem Vorbehalt, dass sie
theorieabhängig und fallibel sind, den Anspruch auf universale
Wahrheitsgeltung. Hingegen bilden philosophische Überzeugungen
Gewissheiten, die »unbedingt« gelten müssen, wenn sie eine authentisch
geführte Existenz sollen ermöglichen können. »Unbedingtheit« bezieht sich
hier nicht auf die Universalität eines Wahrheitsanspruches, der sich als
falsch herausstellen kann, sondern auf die existentielle Wahrhaftigkeit einer
persönlichen Lebensführung, die sich entweder als »authentisch« oder als
»unecht« herausstellen kann. Weil sich existentielle Gewissheiten in einer
individuellen Lebensgeschichte verkörpern müssen und nur hier bewähren
können, ist »das Unbedingte […] nicht allgemein, sondern geschichtlich […]
in seiner Tiefe ungewußt, so viel aus ihm heraus auch gewußt und gesagt
werden kann«.[118]
Bei so schroffer Distanzierung von der Wissenschaft und so großer Nähe
zur Religion besteht freilich die Gefahr, dass die Philosophie – als ein
»Glaube« neben anderen – ihr Proprium verliert. Das philosophische
Denken teilt mit der Religion die Denkform; denn beide begegnen sich
zunächst wie eine religiöse Glaubensmacht der anderen, das heißt nicht in
erster Linie in der Dimension von Aussagen, die einander widersprechen
können, sondern in der Dimension des Aufeinanderstoßens von
partikularen Lebensformen, in denen sich existentiell wegweisende Ideen
verkörpern. Die Lebensformen verkörpern »Glaubensmächte« im Sinne von
Max Weber. Füreinander sind sie von Haus aus opak und fremd; sie können
aber entweder miteinander in Kommunikation treten und die
Machtdynamik abschwächen oder die Kommunikation abbrechen und den
Kampf aufnehmen. Die agonale Spannung zwischen verschiedenen
Lebenswelten, Existenzen und Glaubensmächten vermindert sich im Maße
der kommunikativen Öffnung füreinander; sie verschärft sich im Falle der
gegenseitigen Kommunikationsverweigerung. Jaspers, der
aus I_105 gebildete Psychiater, begreift die mögliche Kommunikation
zwischen Glaubensmächten nach dem therapeutischen Modell des
verstehenden Eindringens in das »für uns« jeweils mehr oder weniger
anziehende oder abstoßende ethisch-existentielle Selbstverständnis einer
anderen Person oder einer anderen Gemeinschaft. Dieses kann man
verstehen, ohne es billigen zu müssen: »Sich gegenseitig in Chiffren zu
verstehen, bedeutet eine Kommunikation in Berührung des Transzendenten.
Dort ist die innigste Verbindung und die merkwürdigste Feindschaft
möglich.«[119]
Andererseits steht im Verhältnis der Philosophie zur Religion doch nicht
nur Glaube gegen Glauben. Mit ihrer einbeziehenden Universalität und
umarmenden Liberalität, ihrem Willen zu »grenzenloser Kommunikation«
beansprucht die Philosophie gegenüber allen anderen Glaubensmächten
ihre Überlegenheit, wenn nicht in der Sache, so doch in der Methode.
Während sich religiöse Lehren dogmatisch verfestigen und im Raum der
Gründe gegeneinander abschließen müssen, lässt sich die Philosophie im
Bewusstsein ihrer Verpflichtung zur Argumentation durch Einwände
vorbehaltlos herausfordern. Sie bewegt sich im Medium des
wissenschaftlichen Geistes und ist von Haus aus tolerant, wobei Toleranz
»das Ernstnehmen des Fremden, das Hinhören und Sichangehenlassen«
erfordert.[120] Diese Perspektivenübernahme mag dem Philosophen umso
leichter fallen, als sich der philosophische Glaube nicht in der kollektiven
Lebensform einer Religionsgemeinschaft, sondern nur in der je
individuellen Lebensgeschichte eines – jeweils »großen« – Einzelnen
authentisch verkörpert: »Im Raum des geistigen Kampfes aber wird die
Toleranz nie die Hoffnung aufgeben, im Miteinanderreden den anderen […]
kommunikativ aufzuschließen und zu […] Einmütigkeit zu kommen«.[121]
Aber was heißt das für den Umgang der Philosophie mit
Offenbarungswahrheiten? Wie soll das philosophische Denken die Autorität
der Offenbarung, die es selbst verwirft, beim Gegenüber als
Beglaubigungsinstanz anerkennen können? Auch wenn damit nur die
Anerkennung des gleichen Rechts aller Parteien auf ein je eigenes Selbst-
und Weltverständnis gemeint wäre, müsste ein I_106 entsprechendes
moralisches Gebot aus einer praktischen Vernunft, die allen
weltanschaulichen Differenzen voraus liegt, begründet werden. Tatsächlich
stützt sich Jaspers' Erwartung, dass die Kommunikation zwischen den
Glaubensmächten zu einem »einmütigen« Ergebnis führen kann, auf eine
starke philosophische Annahme: Implizit besteht zwischen den
konkurrierenden Glaubensmächten ein wie immer auch formales
Hintergrundeinverständnis, das in der einheitlichen Verfassung der
menschlichen Existenzweise und der ihr zugehörigen Chiffrenwelt
begründet ist. Wenn aber die Philosophie dieses gemeinsame Vorverständnis,
das sich dem kognitiven Schub der Achsenzeit verdankt, als die Grundlage
eines möglichen interkulturellen Diskurses ausarbeitet, beansprucht sie für
sich selbst eine asymmetrische Stellung gegenüber allen anderen Parteien.
Dann muss sie nämlich für sich das epistemische Privileg in Anspruch
nehmen, als einzige Partei dem Kreis der konkurrierenden Glaubensmächte
sowohl anzugehören wie aus der Teilnehmerperspektive heraustreten und
als Unbeteiligte das Ganze überschauen zu können.
Die Stellung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Religion bleibt
zweideutig. Diese Unklarheit zeigt sich daran, dass Jaspers das »formale
Grundwissen« über die allgemeinen Strukturen des In-der-Welt-Seins, das
er in seiner »philosophischen Logik« zusammenfasst,[122] einerseits als eine
weltanschauungsneutrale, mit Wahrheitsanspruch auftretende Theorie
betrachtet. Denn nur so kann die Philosophie, wie es im Vorwort zum
Spätwerk von 1962 die erklärte Absicht ist, die Grundlage für einen
verbindenden Diskurs »zwischen Menschen aus allen Glaubensherkünften«
schaffen.[123] Gleichwohl soll dieses »Grundwissen« auch den integralen
Bestandteil eines philosophischen Glaubens bilden, der sich neben anderen
Glaubensüberlieferungen als Anleitung zu einer authentischen Lebensform
versteht – auch diese Philosophie soll »Widerhall finden«, einen
»existentiellen Aufschwung« befördern. Einerseits ist ihr die
I_107 klassische Rolle einer Ethik zugedacht, die noch im Singular über das
»richtige Leben« belehrt, andererseits kann sie aber wie alle anderen
ethischen Lebensentwürfe (unter den von Jaspers selbst betonten
Bedingungen nachmetaphysischen Denkens) nur im Plural auftreten – im
Konzert der Glaubensmächte als ein Glaube neben anderen. An einigen
Stellen entscheidet sich Jaspers für ein analytisches Verständnis von
Philosophie. Dann traut er der auf Kosten ihres existentiellen Anspruchs
ernüchterten Philosophie zu, für das »Grundwissen«, das sie explizit macht,
einen universalen Wahrheitsanspruch erheben zu können: »Grundwissen
hat einen zweifachen Sinn. Erstens ist gemeint das Grundwissen in der
Mannigfaltigkeit der Seinsentwürfe, der Ontologien und Weltbilder, die
heute zu den großen Chiffren gehören. Zweitens ist ein viel bescheideneres,
von uns gesuchtes Grundwissen gemeint, das auf dem Boden der gesamten
Überlieferung steht.«[124] Dieses analytische Wissen ist nicht »chiffriert«,
sondern verdankt sich der philosophischen Entzifferung der Chiffren. Daher
tritt es an die Seite der Wissenschaften, ohne selber Wissenschaft zu sein:
»Im Grundwissen des Umgreifenden bewegen wir uns an der Grenze, an
der im Philosophieren selber etwas dem Fortschritt der Wissenschaften
Analoges eintritt […].«[125]
Im Zuge der systematischen Entfaltung der Struktur des Grundwissens
entwickelt Jaspers auch einen Kommunikationsbegriff, der sich über den
Zusammenhang von Darstellung und Kommunikation (»Erkennen ist nur
als Mitteilung«) mit dem Begriff der kommunikativen Vernunft
verschränkt.[126] Diese Einsicht hätte Jaspers zu einer Rekonstruktion des
Vernunftpotentials anregen können, das in den unvermeidlichen
Präsuppositionen von verständigungsorientiertem Handeln und Diskursen
selbst enthalten ist.[127] Ein solcher Schritt hätte freilich ein anderes
Verständnis von Philosophie erfordert und ein Bewusstsein von Fallibilität,
das diese Art der analyti I_108 schen Klärung intuitiven Hintergrundwissens
mit dem Vorgehen der objektivierend verfahrenden Wissenschaften
verbindet. Aber Jaspers war noch zu sehr dem platonischen Geist der
deutschen Mandarine verhaftet, um letztlich bereit zu sein, den (sehr wohl
wahrgenommen)[128] Preis der Ernüchterung zu zahlen, den eine im
wissenschaftlichen Geist betriebene Philosophie entrichten muss. Nach
Jaspers soll auch der Philosoph noch so aus seinen Einsichten leben können
wie der Gläubige aus der Quelle einer religiösen Lehre – alles andere ist für
Jaspers keine Philosophie mehr. Auf die appellative Kraft des
Philosophierens will er nicht verzichten. So steht eben doch Glaube gegen
Glauben. Die philosophische Vernunft bleibt selber ein Partikulares: »Es ist
eine Selbsttäuschung, gleichsam vor allem Glauben und über allen Glauben
hinaus ein allgemeines Grundwissen gewinnen zu können.«[129]
Angesichts der massiven Verunsicherung ihres humanistischen
Selbstvertrauens soll sich die säkulare Vernunft des nachmetaphysischen
Denkens vielmehr ihres unklar gewordenen Verhältnisses zu den lebendig
gebliebenen religiösen Überlieferungen vergewissern. Anders als Rawls
nimmt Jaspers die gesamte Konstellation von Wissenschaft,
philosophischem Denken und Religion in den Blick; aber er überwindet den
selbstgewissen Agnostizismus der Aufklärung nur um den Preis einer
Angleichung philosophischer Einsichten an den religiösen Glaubensmodus.
Während John Rawls zwischen einer sparsam angelegten Philosophie, die
sich auf den eng umgrenzten Bereich des Politischen beschränkt, und den
umfassenden Doktrinen, die das letzte Wort behalten, eine Art Sichtblende
einzieht, öffnet Karl Jaspers die Schleusen für die zwischen Philosophie und
Religion hin und her flutenden Kommunikationsströme. Aber in diesem
Austausch bezahlt die Philosophie für ihre Lernbereitschaft mit dem
Verzicht auf eine Vernunftautonomie, die sie nur zugleich mit der
Unbedingtheit fehlbarer, aber universaler Geltungsansprüche behaupten
könnte. Die säkulare Vernunft, die bei Rawls nicht zwar ihren
wissenschaftlichen Charakter, aber das letzte Wort in Fragen der politischen
Gerechtigkeit verliert, gleicht sich bei Jaspers dem Mo I_109 dus einer
Glaubensmacht an. Das sollte uns eine Warnung sein. Das
nachmetaphysische Denken kann gewiss nicht von sich aus die Grenzen
gegenüber den Wissenschaften auf der einen, religiösen Lehren und
metaphysischen Weltbildern auf der anderen Seite durch Definition
festlegen. Aber es kann unbeschadet seiner Autonomie versuchen, die
richtigen Abgrenzungen als das Ergebnis von Lernprozessen zu begreifen.
Wenn wir die Wurzeln der gegenwärtigen Konstellation von Wissenschaft,
philosophischer Vernunft und Religion freilegen wollen, sehen wir uns auf
den Weg einer rationalen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der
eigenen Denkweise verwiesen. Diese Genealogie reicht bis zu den
gleichzeitigen Ursprüngen des Monotheismus, der griechischen Philosophie
und der anderen asiatischen Kosmologien zurück, auf die Karl Jaspers, wie
wir noch näher sehen werden, mit dem innovativen und folgenreichen
Konzept der »Achsenzeit« bereits aufmerksam gemacht hat.[130]
I_110 3. Der okzidentale
Entwicklungspfad und der
Universalitätsanspruch
nachmetaphysischen Denkens
Das Jaspers'sche Konzept der Achsenzeit erinnert an die
zivilisationsprägende Kraft und die andauernde Vitalität der großen
Weltreligionen.[131] Die Moderne verkörpert sich heute in einer
multikulturellen Weltgesellschaft von immer noch religiös geprägten
Zivilisationen, die um gemeinsame Normen des Zusammenlebens ringen.
Der Streit über den kausalen Zusammenhang von Säkularisierung und
gesellschaftlicher Modernisierung ist auch deshalb wieder entflammt, weil
sich diese Frage nicht mehr nur diachron und selbstbezüglich innerhalb der
westlichen Kultur stellt. Vielmehr stellt sie sich in der globalen Arena im
Hinblick auf das horizontale Verhältnis zwischen dem Okzident, der von
seiner imperialistischen Geschichte gezeichnet ist, auf der einen Seite und
den nichtwestlichen Zivilisationen auf der anderen Seite. Diese sind
ökonomisch in den Strudel der Modernisierung hineingerissen worden und
kämpfen unter den anhaltend asymmetrischen Bedingungen des
Postkolonialismus um die Fortsetzungsfähigkeit wieder vergewisserter
eigener Traditionen. Dieses veränderte Verständnis der Moderne rückt den
Okzident ins Licht einer jahrhundertelang praktizierten Politik der
doppelten Standards. Es bedurfte nicht der ausgedehnten postkolonialen
Forschungen, um jene universalistischen Ansprüche, die sich nun
wiederum, wenn auch in fallibilistischem Bewusstsein mit dem
nachmetaphysischen Denken verbinden sollen, prima facie zu entwerten.
Auch unabhängig von dieser historisch-polemischen Ausgangslage ist die
westliche Philosophie, soweit sie in ihrer nachmetaphysischen Gestalt die
klassische Funktion der Welt- und Selbstverständigung beibehalten will, aus
der Sicht anderer Zivilisationen, also von außen betrachtet, über das
»Selbst« dieser Selbstreferenz an die westliche Kultur als ihren
Entstehungskontext gebunden. Ob I_111 wohl sie tatsächlich das Selbst- und
Weltverständnis einer bestimmten, durch griechisch-jüdisch-christliche
Überlieferungen geprägten Kultur auf möglichst rationale Weise zum
Ausdruck bringt, muss sie, aus dieser Sicht hypokritisch, nach wie vor mit
dem Anspruch auf universale Geltung auftreten. Verständlicherweise setzt
sich das nachmetaphysische Denken, wenn es als Ergebnis eines
okzidentalen Lernprozesses dargestellt wird, schon beim ersten Schritt zur
Verallgemeinerung diesem Einwand aus. Daher müssen wir die westliche
Philosophie von vornherein als eine von mehreren Stimmen in das Konzert
der achsenzeitlichen Weltbilder einführen – und sie selbst muss sich als
nachmetaphysisches Denken auch so begreifen. Empirisch muss sie jeden
Verdacht gegen einen erneut verschleierten Partikularismus gegen sich
gelten lassen und als Herausforderung zur Prüfung der fahrlässig-selektiven
Anwendung einstweilen aufrechterhaltener universalistischer Ansprüche
nehmen.
Im postkolonialen Zeitalter eines globalen Multikulturalismus könnte der
Anspruch des nachmetaphysischen Denkens auf Allgemeingültigkeit
idealerweise nur in einem interkulturellen Diskurs unter gleichberechtigten
Teilnehmern im Bewusstsein lernbereiter Fallibilität verteidigt werden. Auf
Einigung wäre freilich umso eher zu hoffen, wenn sich in den
achsenzeitlichen Weltbildern ein gemeinsames Vernunftpotential
abzeichnete und wenn dann auf dem Wege einer Genealogie des
nachmetaphysischen Denkens gezeigt werden würde, dass die »interne«
Geltung der »von außen« in Frage gestellten Rationalitätsstandards als das
nachvollziehbare Ergebnis eines langfristigen Lernprozesses erklärt werden
kann. Eine solche Genealogie würde aber bestenfalls zeigen, dass die »von
uns« vorausgesetzten Rationalitätsmaßstäbe im unverwechselbaren Kontext
einer bestimmten Zivilisation in diesem Sinne auf rational nachvollziehbare
Weise generiert worden sind. Der partikulare Entstehungskontext muss
dem Anspruch auf die universale Geltung einer bestimmten, wesentlich
prozeduralen Denkungsart nicht widersprechen, aber auch dann ließe er
sich aus der okzidentalen Entwicklungsgeschichte allein nicht rechtfertigen.
Um das zu erklären, erläutere ich zunächst den zivilisationstheoretischen
Ansatz, der die prägende Kraft der Weltreligionen für die gegenwärtige
Konstellation der Weltgesellschaft herausarbeitet (1), und erkläre, nach
einem Blick auf die I_112 Probleme, die heute eine interkulturelle
Verständigung über Grundsätze der politischen Gerechtigkeit notwendig
machen, mit einem Gedankenexperiment die Rolle, die das
nachmetaphysische Denken berechtigterweise in der Vielstimmigkeit des
interkulturellen Diskurses einnehmen darf (2).
(1) Die klassischen Gesellschaftstheorien haben von Saint-Simon, Marx
und Auguste Comte bis zu Talcott Parsons ihren Begriff der Moderne am
Muster der westlichen Zivilisation entwickelt. Dabei war die Vorstellung
der »Arbeitsteilung«, das heißt der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher
Strukturen am Leitfaden der Spezifizierung von Grundfunktionen der
gesellschaftlichen Reproduktion maßgebend. Die einschlägigen Theorien
erklären die großen Epochenschwellen zwischen neolithischen,
archaischen, traditionalen und modernen Gesellschaften mit evolutionären
Innovationen, die das Überleben in überkomplexen, also hochriskanten
Umwelten durch eine qualitative Steigerung von Selbststeuerungs- und
Anpassungskapazitäten beziehungsweise von Lernfähigkeiten und
Rationalitätsgewinnen sichern.[132] Die Sozialwissenschaften haben die
soziale Evolution stets als die Entstehungsgeschichte der paradigmatisch
ausgezeichneten modernen, das heißt ihrer jeweils eigenen zeitgenössischen
Gesellschaften zu erklären versucht.[133] Dass diese Theorien vom
Vorverständnis der eigenen hermeneutischen Ausgangssituation zehren, ist
trivial, und dieser Umstand ist auch kein Grund zur Kritik. Aber inzwischen
hat sich das hermeneutische Vorverständnis selbst geändert. Denn das Bild
»der Moderne« lässt sich nicht mehr allein am okzidentalen Muster der
nationalstaatlich organisierten Gesellschaften und ihrer internationalen
Beziehungen ablesen.[134]
Im Zuge der digitalen und wirtschaftlichen Globalisierungsprozesse ist
eine »Weltgesellschaft« im Entstehen begriffen, die wir mit diesem Namen
auch dann belegen dürfen, wenn wir für die Konstituie I_113 rung einer
»Gesellschaft« (anders als Luhmann) eine systemische Integration (über die
wechselseitige Beobachtung und Verkoppelung von Funktionssystemen)
nicht für ausreichend halten.[135] Denn seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges und der Gründung der Vereinten Nationen vernetzt sich die
Weltgesellschaft nicht nur ökonomisch und digital, sondern auch rechtlich
und politisch in der Form einer locker verkoppelten internationalen
Gemeinschaft, die über eine Vielzahl von internationalen Organisationen
ihren Zusammenhang stabilisiert. Die nationalstaatlichen Mitglieder dieser
»internationalen Gemeinschaft« unterscheiden sich freilich nicht nur im
Hinblick auf ihren sozioökonomischen Entwicklungsstand – also auf jener
Skala einer gesellschaftlichen Modernisierung, für die »der Westen« nach
wie vor den Maßstab setzt. Sie unterscheiden sich auch nach ihrem
zivilisatorischen Profil und der Herkunft ihres kulturellen
Entwicklungspfades, das heißt nach den historisch, vor allem religiös
geprägten Kontexten, worin die mehr oder weniger »modernisierten«
Gesellschaften auch noch aktuell eingebettet sind. Diese traditionalen
Einbettungskontexte sind inzwischen ihrerseits von der modernisierten
gesellschaftlichen Infrastruktur durchdrungen, ausgehöhlt und in neuer
Gestalt regeneriert worden. Damit stellt sich die Frage, ob auch die globale
Gesellschaft noch in jenen, am westlichen Modell abgelesenen Kategorien
gesellschaftlicher Evolution aufgeht, oder ob wir das Standardmodell der
hochmobilen und fortschreitend individualisierten, staatlich organisierten
und wissenschaftlich rationalisierten Wirtschaftsgesellschaft revidieren
müssen, um der kulturellen Variation verschiedener Modernitäten im
Rahmen derselben multikulturellen Weltgesellschaft gerecht zu werden.
Heute konkurrieren im Wesentlichen drei Konzeptionen. Sie geben
verschiedene Antworten auf die Frage, ob die multiple modernities, die sich
abzeichnen, nur das Erscheinungsbild der Moderne verändern oder doch zu
einer kulturalistischen Umbesetzung in den modernisierungstheoretischen
Grundbegriffen nötigen. Ich will zunächst die systemfunktionalistische
Konzeption der Weltgesellschaft mit dem konträren Ansatz des radikalen
Kulturalismus kurz verglei I_114 chen, um dann, wenn auch nur schematisch,
auf die vergleichende Zivilisationsforschung einzugehen, die jene beiden
theoretischen Perspektiven auf vielversprechende Weise verbindet.
Wenn man mit Niklas Luhmann die Weltgesellschaft systemtheoretisch als
Ergebnis einer evolutionären Dynamik begreift, die die funktionale
Differenzierung über die Grenzen der nationalstaatlich organisierten
Gesellschaften hinaustreibt, drängt sich das Bild global entgrenzter
Funktionssysteme auf.[136] Auf den Spuren der digital enträumlichten
Kommunikation und nach dem Muster eines zugleich beschleunigten und
global entgrenzten Personen-, Güter- und Kapitalverkehrs greifen andere
Subsysteme wie Wissenschaft und Technik, Musik- und Massenkultur,
Sport und organisiertes Verbrechen, Recht, Medizin, Erziehung und so
weiter immer penetranter durch staatliche und kulturelle Grenzen
hindurch. Nach dem letzten Globalisierungsschub des Wirtschaftssystems
im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts besteht anscheinend keine Option
mehr, aus dem Bannkreis des Kapitalismus auszubrechen. Vielmehr
entwickeln sich in allen Regionen der Welt dieselbe wirtschaftliche und
staatliche Infrastruktur, die gleichen Expertenkulturen, ähnlich
rationalisierte Lebensformen – die gleichen urbanisierten Wohnformen und
Verkehrsnetze –, ähnlich organisierte Verwaltungs-, Gesundheits- und
Erziehungssysteme, dieselben Massenmedien und so weiter. Der Terminus
»Weltkultur«, den John W. Meyer für diese weltgesellschaftliche Dynamik
geprägt hat,[137] ist in einer Hinsicht unglücklich gewählt. Mit ihren
nationalsprachlichen Kulturen haben sich nämlich die nationalen
Gesellschaften im Gehäuse nationalstaatlicher Demokratien eher
eingemauert und gegeneinander abgeschlossen. Inzwischen hat die
Globalisierungsdynamik genau diese kulturellen und politisch-territorialen
Grenzen durchlöchert, aber dadurch auch starke Abwehrreaktionen
hervorgerufen. Ein funktionales Äquivalent für den Verfassungsstaat auf
supranationaler Ebene – in Gestalt einer gewaltmonopolisierenden
Weltregierung – I_115 ist schon wegen der erfolgreichen und daher
hartnäckigen Symbiose von Staatlichkeit und Nationalkultur höchst
unwahrscheinlich. Und die ebenso unwahrscheinliche Entfaltung einer
hybriden Weltkultur wäre nur um den Preis der Vermischung,
Marginalisierung oder Verdunstung der regional verwurzelten Kulturen
denkbar.[138] Nach systemfunktionalistischer Lesart behält jedoch die
Uniformität allgemeiner evolutionärer Muster und Mechanismen gegenüber
dem Partikularismus einzelner Kulturen das letzte Wort.
Kulturalistische Ansätze richten sich gegen dieses Erbe der klassischen
Gesellschaftstheorie. Sie machen geltend, dass das Interesse an
gesellschaftlicher Evolution den Blick auf »Zivilisation« in der Einzahl
fixiert und vom Eigensinn jener Zivilisationen ablenkt, die nur in der
Mehrzahl auftreten.[139] Im Unterschied zu dem soziologisch eingeführten
Begriff territorialstaatlich abgegrenzter und insofern auch kollektiv
handlungsfähiger »Gesellschaften«, sollen wir »Zivilisationen« als
großräumige historische Formationen verstehen, die sowohl gleichzeitig als
auch diachron mehrere Gesellschaften umfassen. Zivilisationen in diesem
Sinne werden durch starke Traditionen zusammengehalten und sind diffus
nach Zentrum und Peripherie strukturiert. Das Modell der ersten,
»achsenzeitlich« datierten Hochkulturen bestimmt die begriffliche
Festlegung auf wesentlich religiös geprägte Hochkulturen, die in der Regel
die staatliche Gestalt von Imperien angenommen haben. Weil diese
Handvoll »alter« Zivilisationen Entwicklungspfade festlegen, die bis zu
modernen Zivilisationskomplexen geführt haben, kommt ihnen nicht wie
den nationalstaatlich organisierten »Gesellschaften« der subalterne Status
von abhängigen Variablen im Geschehen einer systemisch gesteuerten
sozialen Evolution zu. Zivilisationen sollen die Kraft haben, die Identität
und das Selbstverständnis moderner Gesellschaften auf unverwechselbare
und inkommensurable Weise festzulegen.[140] In der I_116 radikalisierten
Lesart von Arnold Toynbee (oder gar Oswald Spengler) werden
Kulturkreise oder Zivilisationen freilich in fragwürdiger Anlehnung an
staatlich organisierte Gesellschaften zu holistisch verfassten Großsubjekten
vergegenständlicht, die sich als Totalitäten voneinander abgrenzen. Als
solche kollektiven Akteure sollen sie, sobald sie nicht mehr beziehungslos
nebeneinander existieren, nur noch aufeinanderprallen können. Im
Gegensatz zur generalisierenden Begriffsstrategie der Gesellschaftstheorie
nährt dieses essentialistische Verständnis der in sich geschlossenen
»Kulturen« – etwa bei Samuel Huntington[141] – die partikularistische
Vorstellung vom Kampf der Kulturen, die dem existentiellen Freund-Feind-
Verhältnis von Carl Schmitt nachempfunden ist.
Aus diesen beiden konkurrierenden Lesarten ergeben sich verschiedene
Prognosen für die Zukunft der Religion. Der systemfunktionalistischen
Lesart zufolge ist die Moderne das Ergebnis zufallsgesteuerter evolutionärer
Entwicklungen, die sich auf dem Wege über die westliche Moderne
weltweit durchsetzen. Aus dieser Sicht werden die religiösen Kerne der
stets im Plural auftretenden Kulturen heute bestenfalls auf der regionalen
Ebene Nischen finden. Das legt die säkularistische Prognose vom
unvermeidlichen Bedeutungsverlust der Religionen nahe.[142] Nach der
kulturalistischen Lesart folgen hingegen Zivilisationen ihrem je eigenen
Entwicklungspfad. Die »Moderne« stellt sich demnach als ein nur der
westlichen Kultur eingeschriebenes Programm dar. Das schließt auch den
Säkularisierungstrend ein, der als Bestandteil dieser westlichen Moderne
gilt. Weil aus kulturalistischer Sicht ein vernünftiger Maßstab für den
Vergleich der Zivilisationen fehlt, steht die säkulare Weltsicht mit den
religiösen oder kosmologischen Weltdeutungen anderer Kulturen auf
Augenhöhe. Das säkulare Denken ist dem westlichen Weltbild
kulturspezifisch eingeschrieben und darf so wenig wie irgendeine andere
Denkweise weltanschauliche Neutralität beanspruchen.[143]
I_117 Weder die eine noch die andere dieser konträren Lesarten kann
freilich einem auffälligen Phänomen der zeitgenössischen Moderne gerecht
werden: der Vielfalt der Gesichter, welche »die« Moderne im Zuge der
Globalisierung der vom Westen ausgehenden Anstöße in anderen
Weltregionen annimmt. Auf der einen Seite ist der radikale Kulturalismus
blind für die globale Ausbreitung von Funktionssystemen, die in beliebigen
Kontexten ihrer eigenen Logik folgen. Der Markt nötigt alle Unternehmer,
Investoren und Verbraucher zum gewinnorientierten Kalkül der
Nutzenmaximierung, der Sport nötigt alle Athleten zum Wettbewerb um
messbare körperliche Höchstleistungen und das Wissenschaftssystem alle
Forscher zum Reputationsgewinn über die Publikation neuer, nach
denselben Standards evaluierter Ergebnisse – ob nun in Europa, Afrika,
Asien oder Amerika. Nach diesen »Systemlogiken« vollzieht sich die
Globalisierung der Märkte, die Bürokratisierung der staatlichen
Verwaltungen, die Organisation der Massenerziehung, die Urbanisierung
des Wohnens, die technische Ausstattung der medizinischen Versorgung
insgesamt als die fortschreitende Inklusion der Bevölkerung in die
Infrastruktur einer hochmobilen, beschleunigt individualisierten
Gesellschaft. Im Rahmen anderer Kulturen werden diese von der westlichen
Kultur ausgehenden Prozesse freilich auf jeweils eigene Weise verarbeitet
und gestaltet. Die Gleichsetzung von Modernisierung mit Verwestlichung
greift zu kurz. Der Systemfunktionalismus sieht nur die nivellierenden
Effekte allgemeiner evolutionärer Trends. Tatsächlich reagieren jedoch
andere Zivilisationen auf die westlichen Anstöße zur Modernisierung ihrer
Gesellschaften als Herausforderungen, auf die sie unter Rückgriff auf eigene
kulturelle Ressourcen Antworten suchen. Denn dieselbe dialektische
Spannung zwischen Tradition und Moderne, aus der die okzidentale Gestalt
der Moderne einmal hervorgegangen ist, operiert nun auch in anderen
zivilisatorischen Komplexen. Das zeigt sich heute insbesondere in den
Kulturen Ostasiens, aber auch Afrikas. Die eigenen identitätsstiftenden
Überlieferungen prägen hier nicht nur den Stil der alltäglichen
Kommunikation und die unverkennbare Physiognomie I_118 der
Lebenswelt, sondern die Art der Institutionalisierung von Staatsbürokratie
und Marktverkehr, das Muster für Architektur und Planung der Megacities,
das Erziehungsethos und das Schulcurriculum, die Gewichtung von
Berufserfolg, Konsum und Freizeit, Sport und Gesundheit und so weiter.
Diese Beobachtungen der vergleichenden Zivilisationsforschung haben
Shmuel N. Eisenstadt zu einem interessanten Forschungsprogramm
angeregt.[144] Die vorläufigen Ergebnisse hat Johann P. Arnason zu einer
dritten Konzeption der Moderne verarbeitet. Er bringt das Bild der
multikulturellen Weltgesellschaft auf den Begriff einer eigenen
zivilisatorischen Formation, die sich durch ihre globale
Modernisierungsdynamik von allen traditionalen Hochkulturen
(einschließlich der Kultur des Westens) gleichermaßen entkoppelt hat.
Andererseits begreift er diese neue Formation nicht nur als einen weiteren
Typus, als eine weitere Zivilisation eigenen Rechts. Arnason führt vielmehr
die beiden analytischen Perspektiven, die verallgemeinernde der
Gesellschaftstheorie und die diversifizierende der vergleichenden
Zivilisationsforschung, zusammen: »Die beiden analytischen Perspektiven
verweisen zusammengenommen auf ein Bild der Moderne als eine
zivilisatorische Form sui generis, die sowohl mehr als auch weniger ist als
eine Zivilisation im traditionellen Sinn: Die moderne Konstellation zeichnet
sich einerseits durch zivilisatorische Merkmale aus, die sie von ihrem
historischen Hintergrund abheben und eine echte Herausforderung für alle
bereits vorhandenen zivilisatorischen Identitäten bilden, sie ist aber
andererseits auch imstande, sich bis zu einem gewissen Grad an
zivilisatorische Kontexte anzupassen, die sich mehr oder weniger radikal
von ihrer ursprünglichen Quelle unterscheiden.«[145] Aus diesen
Andeutungen lässt sich ein reflexiver Begriff von »Moderne« herauslesen.
[146] Auf der I_119 Grundlage derselben globalisierten gesellschaftlichen

Infrastruktur – die vor allem vom systemischen Eigensinn der


wissenschaftlich-technischen Natur- und Weltbemächtigung, der
bürokratischen Herrschaftsausübung und der kapitalistischen
Wohlstandsproduktion geprägt ist – bildet »die Moderne« heute so etwas
wie die Arena, in der sich verschiedene Zivilisationen im Zuge einer mehr
oder weniger kulturspezifischen Gestaltung dieser gemeinsamen
Infrastruktur begegnen. Sie setzen sich über strittige Versionen eines
entsprechend divergierenden Selbstverständnisses von Moderne
auseinander.
»Moderne« ist im Westen als ein kultureller Begriff für eine als radikal
neu empfundene gesellschaftliche Basis sich fortgesetzt umwälzender
Lebensverhältnisse entstanden, wobei dieser kulturelle Begriff kraft seiner
Definitionsmacht der gesellschaftlichen Basis wiederum ein bestimmtes
Profil aufprägt. Zudem war und ist »Moderne« schon innerhalb der
westlichen Kultur ein wesentlich umstrittenes Konzept. In ähnlicher Weise
stellt sich Arnason die zeitgenössische, aus multikulturellen Wurzeln
hervorgegangene globalisierte Moderne als einen Kampfplatz für den Streit
um Definitionen einer gemeinsamen gesellschaftlichen Basis vor. Dieser
Streit ist die Ursache einer gewissen kulturellen Fragmentierung der
Weltgesellschaft: »Die kulturellen Selbstdeutungen der Moderne greifen auf
divergierende Traditionen zurück, bringen konkurrierende Projekte hervor
und sind mit dem Erbe nichtwestlicher Traditionen auf höchst
unterschiedliche Weise verflochten. Die Ebenen des kulturellen Pluralismus
scheinen die Reichweite der zivilisatorischen Integration zu
begrenzen.«[147] Wenn wir nun die Säkularisierungsthese im Lichte dieser
einleuchtenden Konzeption prüfen, ergibt sich in praktischer Hinsicht
zunächst eine Warnung: Der Westen darf die postkoloniale Berufung auf
die jeweils eigenen religiösen Überlieferungen und Identitäten, die ihm in
Indien, im Nahen und Fernen Osten oder in Afrika und sogar in
Lateinamerika begegnen, nicht einfach als postkoloniales Manöver im
Machtkampf mit einem lange Zeit über I_120 mächtigen Westen abtun.[148]
In theoretischer Hinsicht ist die Konzeption einer offenen multikulturellen
Weltgesellschaft insofern interessant, als sich auf globaler Ebene die Frage
der Säkularisierung in anderer Weise stellt. Soweit sich die verschiedenen
Modernisierungsprojekte aus Quellen der jeweils eigenen Weltreligion
speisen, fehlt der kulturell fragmentierten Weltgesellschaft eine einheitliche
säkulare Ebene für den interkulturellen Diskurs. Das stellt in politischer
Hinsicht eine Herausforderung für die vom nachmetaphysischen Denken
geprägte politische Kultur des Westens dar.
Das Bild einer in kulturelle Großregionen aufgeteilten, aber systemisch
vernetzten Weltgesellschaft, die das regionale Gefälle zwischen historisch
ungleichzeitigen Lebenswelten im Zuge der globalisierten
Massenkommunikation durch wechselseitige Beobachtung überbrückt,
müssen wir in zwei Hinsichten differenzieren. Zunächst darf der
zivilisationstheoretische Ansatz nicht zu kontextualistischen
Überverallgemeinerungen verführen. Im Zuge von Migration und Mission
haben sich die Weltreligionen längst weit über ihre Ursprungsregionen
hinaus verbreitet. Als Folge der weltweiten Migration hat sich der ethnische
und kulturelle Pluralismus vor allem innerhalb der ökonomisch
entwickelten Regionen verstärkt, aber ohne deren Zivilisationsprofil, wie
sich gerade in den europäischen Einwanderungsgesellschaften trotz der
phobischen Massenreaktionen zeigt, zu sprengen. Unter
religionssoziologischen Gesichtspunkten beschreibt José Casanova das
Ergebnis dieser Diffusion als einen »globalen Denominationalismus«, wobei
alle religiösen Strömungen »in Opposition zu ›dem Säkularen‹ neu definiert
und transformiert werden«. Während die Denominationen jeweils ihren
eigenen exklusiven Geltungsanspruch aufrechterhalten, erkennen sie sich
gegenseitig als partikulare Ausdrucksformen desselben religiösen
Universums an. Aus der Sicht der religiösen Gemeinschaften und ihrer
Funktionäre besteht das Neue dieser Situation darin, »dass alle
Weltreligionen zum ersten Mal wahrhaft als deterritorialisierte, globale,
imaginäre Gemeinschaften rekonstruiert werden können, losgelöst vom
zivilisatorischen Umfeld, in das sie traditionellerweise eingebettet
I_121 waren«.[149] In der globalen Moderne verliert das Bewusstsein der
Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem seine provokative Schärfe; in der
gegenseitigen Wahrnehmung schleifen sich hierarchisierende
Zurechnungen zu verschiedenen religiösen Entwicklungsstadien ab –
zugunsten einer gemeinsamen Abgrenzung der religiösen Bevölkerungsteile
gegen das Säkulare. Andererseits können diese Tendenzen das Bild einer
kulturell gespaltenen und insofern unvollständig integrierten Welt nur
modifizieren, aber nicht auflösen.
Schon aus geopolitischen Gründen verändert sich die Landkarte der
zivilisatorischen Einflusssphären nur langsam; in den kulturell und religiös
kodierten Deutungskonflikten, die auf der Ebene von Identitätspolitiken
ausgetragen werden, verbergen sich oft politisch und wirtschaftlich
motivierte Auseinandersetzungen. Das berührt die andere Schwäche der
Zivilisationstheorie. Sie vernachlässigt die vom globalen Kapitalismus
erzeugten Interessengegensätze, also die sozialen Folgen des internationalen
Wohlstandsgefälles und der Marginalisierung ganzer Schichten, Regionen,
Staaten und Kontinente, und sie unterschätzt die dominanten Konflikte der
nach wie vor ungezähmten Machtdynamik einer rechtlich und politisch erst
schwach regulierten Staatenkonkurrenz. Die Zivilisationstheorie berührt
nicht die Frage, ob aus dem dissonanten Konzert der im Wettstreit
liegenden kulturellen Selbstdeutungen der Moderne je ein fruchtbarer
interkultureller Dialog über gemeinsame Regeln des weltweiten politischen
Zusammenlebens hervorgehen kann.
(2) Die Verdichtung eines Netzwerks internationaler Organisationen
lenkt die Aufmerksamkeit auf diese im zivilisationstheoretisch entwickelten
Konzept der Weltgesellschaft vernachlässigte Dimension. Mit dem
systemischen Zusammenwachsen der kulturell pluralistischen, zugleich
nach politischen und wirtschaftlichen Interessenlagen gespaltenen
Weltgesellschaft ist ein transnationaler Steuerungsbedarf entstanden, der
die internationalen Beziehungen und das klassische Völkerrecht erheblich
verändert hat. Gründung und Politik der Vereinten Nationen bilden einen
Einschnitt in der Geschichte der internationalen Gemeinschaft und der
Entwicklung des Völkerrechts. Innerhalb wie außerhalb der Vereinten
Nationen haben I_122 sich Formen des internationalen Regierens auf
Gebieten der Energie- und Umwelt-, der Finanz- und Handelspolitik, der
Arbeitsbeziehungen, des organisierten Verbrechens und des Waffenhandels,
der Bekämpfung von Epidemien und so weiter entwickelt. Im Kern Europas
hat sich in der Folge eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen
Währung ein Staatenverbund herausgebildet, der die Hoffnung auf die
Entwicklung zu einem überstaatlichen und demokratischen Gemeinwesen
hervorgerufen hat. Allgemein lässt sich das beschleunigte inkrementelle
Wachstum internationaler Organisationen und die Einrichtung von G8- und
G20-Runden als eine vorläufige, aber ganz unzureichende Antwort auf den
faktisch wachsenden Steuerungs- und Regelungsbedarf einer sich
ausdifferenzierenden Weltgesellschaft verstehen, die mit ihren funktionalen
Imperativen ungerührt durch nationale Grenzen hindurch greift.[150] Dem
entspricht ein Kompetenzverlust der Nationalstaaten, auch wenn diese auf
der internationalen Bühne immer noch die wichtigsten Akteure geblieben
sind.
Die Souveränität der Völkerrechtssubjekte ist nicht nur im Rahmen einer
mit Eingriffsrechten, internationalen Gerichtshöfen und Tribunalen
ausgestatteten internationalen Gemeinschaft formal, zum Beispiel im
Hinblick auf das elementare Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden,
eingeschränkt worden. Die Nationalstaaten haben in Funktionsbereichen,
worin sie bis zum großen Globalisierungsschub im letzten Viertel des
20. Jahrhunderts mehr oder weniger unabhängig entscheiden konnten,
einen erheblichen Teil ihrer Kontroll- und Steuerungsfähigkeiten an
deregulierte Märkte und an die neue konditionale Form der über
internationale Organisationen asymmetrisch ausgeübten Macht verloren.
[151] Das gilt weniger für klassische Staatsfunktionen wie die Sicherung von

Frieden und physischer Sicherheit, die Garantie von Freiheit,


Rechtssicherheit und demokratischer Legitimation als für die nominell in
national I_123 staatlicher Regie verbliebenen, aber tatsächlich durch
Imperative der globalen Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkten
fiskalwirtschafts- und sozialpolitischen Kompetenzen. Seit dem Ende des
embedded capitalism und der entsprechenden Verschiebung im Verhältnis
von Politik und Wirtschaft zugunsten globalisierter Märkte wird der Staat
vor allem in seiner Rolle als Steuer- und Interventionsstaat getroffen; er
kann seine produktivsten Unternehmen und Finanzdienstleister nicht mehr
in dem Umfang besteuern, wie es nötig wäre, um wohlfahrtsstaatlichen
Standards zu genügen, also die erforderlichen kollektiven Güter
bereitzustellen, für eine halbwegs gerechte Einkommensverteilung zu
sorgen und die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu
gewährleisten. Der schrumpfende Manövrierspielraum nationalstaatlicher
Regierungen zeigt sich auch in den EU-Staaten an der Unfähigkeit, eine
weiterschmorende Bankenkrise zu überwinden und den Trend zur
wachsenden sozialen Ungleichheit zu bremsen.[152]
Außerdem gefährdet die Verselbständigung der informellen
Regelungsgewalten jenseits des Nationalstaates die im Verfassungsstaat
etablierten Formen der Legitimation. Mit dem dichter werdenden Netz
internationaler Institutionen und Verhandlungsrunden auf der einen und
dem Kompetenzverlust der Nationalstaaten auf der anderen Seite öffnet sich
die Schere zwischen dem neuen Legitimationsbedarf, der mit einem
Regieren jenseits des Nationalstaates anfällt, und den bekannten
Institutionen und Verfahren der Legitimationsbeschaffung, die bislang nur
innerhalb der nationalstaatlichen Öffentlichkeit halbwegs funktionieren.
[153]Aus demokratietheoretischer Sicht trifft die empirisch gut begründete
Diagnose von der »Gleichzeitigkeit nationalstaatlicher Entlegitimierung
und der Notwendigkeit des Zugriffs überstaatlicher Politik auf
nationalstaatliche Legitimationsressourcen«, die Ingeborg Maus
verschiedentlich vorgetragen hat,[154] einen neuralgischen Punkt. Die an
internationa I_124 len Organisationen beteiligten Staaten bezahlen ein auf
Intergouvernementalität umgestelltes Regieren mit sinkenden
Legitimationsniveaus. Denn der Umstand, dass Regierungen, die ihre
Vertreter dorthin entsenden, demokratisch gewählt sind, kann diesen
Schaden nicht kompensieren.[155] Die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union leiden aus ähnlichen Gründen an demokratischen Defiziten, die nur
durch eine »Vertiefung« der Union selbst behoben werden könnten.[156]
Kurzum, mit den wachsenden systemischen Interdependenzen und den
unbeherrschten Externalitäten der sich weltweit ausbreitenden
Funktionssysteme verstärken sich auf der globalen Ebene Problemlagen, die
sich dem Zugriff der bestehenden political regimes entziehen. Die
internationale Gemeinschaft scheitert nicht nur zunehmend an Versuchen,
mit unglücklichen humanitären Interventionen das Gewaltverbot
durchzusetzen und die Menschenrechte zu wahren. Bisher ist sie vor allem
unfähig, die drängenden Probleme des fortschreitenden Klimawandels, die
Risiken der Großtechnologie sowie die erwähnten Folgen des
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu bewältigen, vor allem die
überfällige Regulierung des Bankensektors voranzutreiben. Diese Probleme
setzen das Thema der Schaffung und der Legitimation von weltweit
handlungsfähigen Institutionen auf die Tagesordnung der Weltpolitik. Nur
mit neuen supranationalen Steuerungskapazitäten könnten die
transnational entfesselten gesellschaftlichen Naturgewalten einer
systemisch zusammenwachsenden Weltgesellschaft politisch gezähmt
werden. Auch wenn einstweilen nicht zu sehen ist, wie die
nationalstaatlichen Barrieren auf dem Wege dahin überwunden werden
können, hat diese Situation den zunächst abstrakten Gedanken einer
Konstitutionalisierung des Völkerrechts und einer politisch verfassten
Weltgesellschaft ohne I_125 Weltregierung auf den Plan gerufen.[157] An
diesem Gedanken[158] interessiert mich, wenn wir nun zu unserem
eigentlichen Thema, dem Verdacht an der eurozentrisch beschränkten
Perspektive des nachmetaphysischen Denkens zurückkehren, nur der eine
Aspekt: Ob denn in einer multikulturell geprägten Weltgesellschaft eine
interkulturelle Verständigung über Grundsätze der politischen
Gerechtigkeit überhaupt als möglich gedacht werden kann, obwohl die
Parteien, die sich dabei begegnen, von den kulturellen Erbschaften
konkurrierender Weltreligionen geprägt sind.[159] Im Hinblick auf die
Notwendigkeit der politischen und rechtlichen Integration einer nicht nur
kulturell pluralisierten, sondern nach wie vor nationalstaatlich
fragmentierten Weltgesellschaft stellt sich die in unserem Zusammenhang
relevante Frage, wie sich eine internationale Gemeinschaft überhaupt auf
interkulturell anerkannte Grundsätze der politischen Gerechtigkeit einigen
könnte. Damit fällt auch ein anderes Licht auf das Verhältnis der säkularen
Vernunft zum religiösen Glauben, denn auf globaler Ebene stellt sich dieses
Verhältnis in anderer Weise dar als innerhalb des westlichen Kulturkreises.
Damit wechseln wir von der Ebene der deskriptiven Frage nach einem
angemessenen Bild der globalen Moderne, das der Rolle der Weltreligionen
gerecht wird, zur philosophischen Frage nach den kognitiven
Voraussetzungen, die für das Gelingen einer interkulturellen Verständigung
über Normen des Zusammenlebens in einer I_126 multikulturellen
Weltgesellschaft erfüllt sein müssten. Das folgende Gedankenexperiment
eines weltweiten interkulturellen Diskurses über Gerechtigkeitsfragen soll
die Reflexionsstufe identifizieren, auf der sich die anstehende Frage nach
dem umstrittenen Universalitätsanspruch nachmetaphysischen Denkens
klären ließe.[160]
Die »religiösen Parteien«, die wir zunächst als Teilnehmer unseres
Gedankenexperiments zulassen wollen, dürfen bei aller Idealisierung nicht
holzschnittartig auf ihren religiös geprägten kulturellen Hintergrund
festgelegt werden. Relevant wird dieser Hintergrund ohnehin nur bei
Themen, die neben der kontextsensiblen Auslegung religiöser Lehren
allgemeine, tief verankerte normative Einstellungen, Gefühle und
Wahrnehmungsmuster berühren – beispielsweise die Frage des
gentechnischen Eingriffs in die Keimbahn von menschlichen Embryos oder
die Frage der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, also Probleme,
die heute nicht mehr von einzelnen Nationalstaaten allein gelöst werden
können. Zudem gilt für die religiös geprägten Diskursparteien, die wir uns
als Repräsentanten vorstellen, das Gleiche wie für einzelne religiöse
Personen: Sie sind wie ihre säkularen Mitbürger Angehörige moderner
Gesellschaften und teilen mit diesen in Alltag und Beruf die üblichen
kognitiven Einstellungen. Daher dürfen wir für die Teilnehmer des
gedankenexperimentell vorgestellten Diskurses auch bei Unterschieden im
religiösen Selbst- und Weltverständnis eine gemeinsame säkulare
Denkungsart, also die Gemeinsamkeit einer im schwachen Sinne säkularen
Ebene der Auseinandersetzung voraussetzen.[161] Wir haben gesehen, dass
es trotz der Unterschiede im ökonomischen, ge I_127 sellschaftlichen und
politischen Entwicklungsstand nur noch moderne Gesellschaften gibt, deren
Bevölkerungen ausnahmslos mit bestimmten Grundtatsachen konfrontiert
sind,[162] und zwar
– mit dem individualisierenden und rationalisierenden Druck, den
kapitalistische Wirtschaft und bürokratische Herrschaft über
leistungsbezogene und funktional spezifizierte Rollenmuster auf
eingewöhnte »traditionale« Lebensverhältnisse ausüben;
– mit den institutionalisierten rechtlichen, ökonomischen und
wissenschaftlichen Diskursen, allgemein mit den Expertendiskursen, die ein
fehlbares mundanes Wissen erzeugen; schließlich
– mit dem Pluralismus von Weltanschauungen und Lebensformen, die in
der eigenen Gesellschaft als Alternativen zum Glauben und Ethos der
Bevölkerungsmehrheit schon präsent sind (wobei freilich zu bedenken ist,
dass noch keineswegs alle Diskursparteien ein Gemeinwesen
repräsentieren, das ihren Bürgern Religionsfreiheit und kulturelle
Grundrechte gewährleistet und diese an einen universalistisch-egalitären
Umgang mit kulturellen Dissonanzen gewöhnt).
Die säkulare Denkungsart, die sich heute im Zuge der globalen
gesellschaftlichen Modernisierung in allen Kulturen ausbreitet,[163] setzt
sich offensichtlich nicht ohne Weiteres in ein säkulares Selbstverständnis
oder gar in (im weitesten Sinne) »liberale« Wertorientierungen um. Die
moderne gesellschaftliche Infrastruktur fördert freilich die funktional
erforderlichen Einstellungsmuster, die sich um analytisches Denken,
rationale Wahl und strategisches Handeln kristallisieren; dadurch
untergräbt sie überlieferte Normen und Wertorientierungen, die damit nicht
kompatibel sind. Allgemein wird das Selbstverständnis von Kulturen, die
sich mit Grundtatsachen der gesellschaftlichen Moderne auseinandersetzen
müssen, zwar in den Sog einer reflexiven Selbstdistanzierung
hineingezogen. Aber eine andere Frage ist es, ob diese Art der Reflexion auf
eigene Traditionen Kräfte zu einer produktiven Verarbeitung der
Herausforderung gesellschaftlicher Modernisierung freisetzt. Günstigenfalls
können Zi I_128 vilisationen auf dem Wege in die globale Moderne ihre
ursprüngliche religiös-kulturelle Prägung so transformieren, dass neue
kognitive Potentiale entbunden und die »säkularen« Überzeugungen von
weltanschaulich imprägnierten Beschreibungen und Argumenten
entkoppelt werden. Nur wenn das überall gelänge, würden sich multiple
modernities herausbilden, die sich für säkular »freistehende«
Legitimationsgrundlagen von Politik und Recht öffnen. Und nur dann
könnte ein interkultureller Diskurs auf eine einvernehmliche
Konstitutionalisierung des Völkerrechts hinauslaufen. Unter der
kontrafaktischen Annahme, dass sich die Weltgemeinschaft in diese
Richtung bewegt, soll unser Gedankenexperiment klären, was eine zum
interkulturellen Diskurs stilisierte Auseinandersetzung zur Überwindung
von Dissensen in Gerechtigkeitsfragen beitragen kann.
Das wichtigste Reflexionshindernis ist ein unbewegliches kollektives
Selbstverständnis, das die Bereitschaft blockiert, von den eigenen
Hintergrundüberzeugungen hypothetisch Abstand zu nehmen. Erst wenn
diese Schwelle genommen wird, kann jene Differenz zu Bewusstsein
kommen, die für die Herausbildung eines Bereichs von säkularem Wissen
konstitutiv ist. Dann kann den streitenden Parteien zu Bewusstsein
kommen, dass die existentiell wichtigen religiösen Selbst- und
Weltdeutungen einen anderen Status haben als jene Art von
Überzeugungen, die über die Grenzen der eigenen Glaubensgemeinschaft
hinaus Anerkennung finden und die auch in interreligiösen
Auseinandersetzungen grundsätzlich gegenüber beliebigen Opponenten
verteidigt werden können – beispielsweise überprüfbare empirische und
wissenschaftliche Überzeugungen, verallgemeinerbare moralische und
rechtliche Einsichten, diskutable Klugheitserwägungen, rationale Strategien
und so weiter. Diese Art der Reflexivität wird durch eine Begegnung mit
den Grundtatsachen der Moderne nicht schon per se geweckt. Gefördert
wird sie jedoch vom interkulturellen Streit über die richtige Konzeption der
globalen Moderne; denn dabei stehen die wichtigsten normativen Gehalte
auf dem Spiel: »[S]ämtliche Teilnehmer [an diesem Streit] – die Post- und
Antimodernisten ebenso wie die Modernisten – nehmen ganz
selbstverständlich die Möglichkeit in Anspruch, vorgetragene
Überzeugungen und Werte argumentativ in Frage I_129 zu stellen, eine
kritische Distanz zu geerbten Traditionen und Rollen einzunehmen und die
zugeschriebenen individuellen oder gruppenbezogenen Identitäten
anzufechten. Sogar Argumente […], mit denen die Überlegenheit
vormoderner Traditionen verteidigt wird, sind ihrerseits keine
traditionellen, sondern traditionalistische Argumente hyperreflexiver
Moderner.«[164] Der heute unter Intellektuellen schon weltweit geführte
kulturkritische Diskurs bringt übrigens eine ähnliche Rollenverteilung
zwischen Konservativen, Liberalen und Radikalen hervor wie seinerzeit in
Europa, als man sich über die Herausforderungen der gesellschaftlichen
Modernisierung gewissermaßen noch im eigenen Haus gestritten hat.[165]
Dieses Szenario ist noch in einer wesentlichen Hinsicht unvollständig: Es
macht die Rechnung noch ohne das »säkulare« Denken im starken Sinne,
das erst mit dem Agnostiker und dem Atheisten auf den Plan tritt. Unter
verschiedenen Religionsparteien kann eine Einigung in Grundsatzfragen
jeweils auf der Basis einer Schnittmenge interreligiös gemeinsamer
Überzeugungen zustande kommen. Wir dürfen uns aber vom
zivilisationsvergleichenden Blick nicht die Vorstellung suggerieren lassen,
als sei der interkulturelle Gerechtigkeitsdiskurs ausschließlich eine Sache
der Religionsgemeinschaften. Die erste Etappe unseres
Gedankenexperiments stützt sich auf die Annahme, dass bereits alle großen
Religionsgemeinschaften die in moderne Lebensformen eingebaute
Reflexivität und insofern die Ge I_130 meinsamkeit einer im schwachen Sinne
säkularen Ebene der Auseinandersetzung nutzen, um eine Verständigung
über die normativen Bedingungen eines globalen Zusammenlebens
herbeizuführen. In diesem Szenario schält sich, bei anhaltendem Dissens
über Glaubenswahrheiten und Konzeptionen der Moderne, am Ende eine
besondere Sorte von Argumenten heraus, die – vor dem
Erfahrungshintergrund moderner Lebensbedingungen – über Gegensätze
der verschiedenen Religionsgemeinschaften hinweg allen religiösen Parteien
einleuchten können. Nach diesem Modell hat John Rawls seinen Begriff des
overlapping consensus entwickelt.
Eine andere Art von Dissens, der sich heute quer durch die
Zivilgesellschaften aller Staaten hindurch zieht und im interkulturellen
Diskurs auch überbrückt werden muss, kommt allerdings mit dem
Gegensatz zwischen säkularen und religiösen Teilnehmern ins Spiel. Heute
färbt dieser Dissens in gewissem Maße die Mentalität ganzer Kontinente,
wenn man die weitgehend säkularisierten Gesellschaften in Westeuropa,
Australien und Kanada mit dem Rest der Welt vergleicht. In der zweiten
Etappe unseres Gedankenexperiments geht es um das Verständnis des
universalen Geltungsanspruchs der säkularen und, wie ich vorschlage,
durch ein komprehensiv-nachmetaphysisches Denken interpretierten Vernunft
selbst. Bisher hatte der Ausschluss nichtreligiöser Teilnehmer die Menge
möglicher Argumente insofern begrenzt, als kein Argument ins Spiel
kommen konnte, das sich gegen den Geltungsanspruch von religiösen
Lehren und metaphysischen Weltbildern als solchen richtet. Denn für
Gläubige gewinnen die Gründe, die als eine interreligiöse Schnittmenge
herausgefiltert werden, ihre Überzeugungskraft allein aus dem Umstand,
dass sie sich an Prämissen des jeweils eigenen Weltbildes anschließen lassen.
[166] Demgegenüber hat die nun in den interkulturellen Diskurs eingeführte

Partei, deren Welt- und Selbstverständnis sich allein aus nichtreligiösen


Überzeugungen speisen soll, ein anderes Verständnis von säkularen oder
weltanschauungsneutralen Gründen.
Für die nichtreligiöse Seite hat »säkular« nicht den schwachen Sinn eines
ergebnisabhängigen Prädikats für Überzeugungen, die in einer
Weltanschauungskonkurrenz als kleinster gemeinsamer Nenner
üb I_131 rigbleiben; sie wendet das Prädikat vielmehr auf solche
Überzeugungen an, die ihre Gültigkeit unabhängig von religiösen
Hintergrundannahmen einer Autorität aus eigenem Recht verdanken,
nämlich einer Vernunft, die sich als autonom versteht. Während aus
religiöser Sicht der Haushalt der säkularen Argumente von vornherein so
begrenzt ist, dass für religiöse Gemüter keine kognitiven Dissonanzen
entstehen können, ist aus säkularer Sicht die Vernunft, ungeachtet
möglicher Kollisionen mit Aussagen religiöser Herkunft, autonom in der
Bestimmung dessen, was jeweils als gutes oder schlechtes Argument gelten
darf. Gewiss, auch in dem um Atheisten und Agnostiker erweiterten Kreis
der Diskursteilnehmer erwarten alle Parteien vernünftigerweise einen
fortbestehenden Dissens über offenbarte oder metaphysische Wahrheiten.
Aber die Bedingungen für die Erzielung eines möglichen Konsenses über
weltanschauliche Differenzen hinweg verändern sich, wenn mit der
Berufung auf eine autonome, von Glaubensautoritäten unabhängige
Autorität Maßstäbe ins Spiel kommen, die mit dem bis dahin allein gültigen
Maßstab der interkulturell verallgemeinerten Anschlussfähigkeit an religiöse
Überlieferungen in Konflikt geraten können. Unter den anspruchsvolleren
Bedingungen der zweiten Etappe kann es zwischen der religiösen und der
nichtreligiösen Seite nur zu einer Einigung kommen, wenn alle Parteien
denselben Grundsätzen politischer Gerechtigkeit nicht nur – wie schon im
engeren Kreis der Religionsparteien – aus denselben Gründen zustimmen,
sondern diese im starken Sinne säkularen Gründe auch als ausreichend für
eine selbsttragende »vernünftige« Rechtfertigung interpretieren.
Die Anerkennung säkularer Gründe als einer selbsttragenden
Rechtfertigung für Grundsätze der politischen Gerechtigkeit stellt für die
religiöse Seite eine Herausforderung dar. Sie impliziert nämlich die
Anerkennung der Autonomie einer Denkweise, die beansprucht, in Fragen
der Welt- und Selbstverständigung unabhängig von religiösen und
metaphysischen Weltbildern zu gültigen Einsichten zu gelangen. Gewiss,
auch während der ersten Etappe mussten die Religionsparteien lernen,
zwischen den interkulturell verallgemeinerbaren, im schwachen Sinne
säkularen Überzeugungen einerseits sowie dem jeweils eigenen
»dogmatischen« Glaubenshintergrund andererseits zu differenzieren. Aber
wenn nun die Anschlussfähig I_132 keit an diesen Kontext dichter
Überzeugungen als Kriterium für die mögliche Wahrheit einer Überzeugung
entfällt, wird das säkulare Wissen (auch im Bereich des praktischen
Wissens) vom Glauben nicht nur differenziert, sondern entkoppelt. Fortan
werden die Religionsparteien mit der Wahrheit von Aussagen und
Begründungen konfrontiert, die gegebenenfalls eine andere theologische
Rekonstruktion der jeweils eigenen Hintergrundüberzeugungen nötig
machen, um das Auftreten kognitiver Dissonanzen zu vermeiden. Damit
öffnet sich der Weg zu einer »Modernisierung des religiösen Bewusstseins«,
die alles andere als selbstverständlich ist. Das im Gedankenexperiment
entworfene Arrangement erfordert freilich auch von den nichtreligiösen
Bürgern, die auf Vernunftautonomie pochen, eine nicht ganz
selbstverständliche Einstellung gegenüber der religiösen Mentalität. Aus
ihrer Sicht stützen sich ja religiöse Lehren und metaphysische
Weltanschauungen nicht auf Prämissen, die wahrheitsfähige Aussagen
begründen können; aus säkularer Sicht besitzen sie vielmehr im Ganzen die
zweifelhafte Qualität, im üblichen Sinne propositionaler Wahrheit weder
wahr noch falsch sein zu können. Dieser unvermeidliche Konflikt zwischen
der Selbst- und der Fremdeinschätzung von religiösen Auffassungen kann
die säkulare Seite zu Schlussfolgerungen veranlassen, die die Aussicht auf
eine Verständigung zwischen religiösen und nichtreligiösen Auffassungen
von vornherein zunichtemacht. Denn die Teilnehmer eines ernsthaft
geführten Diskurses müssen sich gegenseitig als vernünftige Subjekte
anerkennen, die voneinander lernen können. Diese diskurspragmatische
Voraussetzung würde verletzt, sobald sich die säkulare Seite von einem
exklusiven Verständnis von Vernunft leiten ließe und dem religiösen
Einbettungskontext, der für die andere Seite nicht nur eine motivationale,
sondern eine kognitive Bedeutung hat, den Respekt verweigerte. Eine
nichttriviale Folge des im Diskurs gebotenen gegenseitigen Respekts ist die
Offenheit für Themen und Beiträge, die nicht schon aufgrund ihrer
religiösen Sprache und Herkunft als irrational von der weiteren Diskussion
ausgeschlossen werden dürfen. Auch diese müssen auf einen möglichen
heuristischen Wert und potentiellen Wahrheitsgehalt geprüft werden;
gegebenenfalls können sie dann in eine säkulare Sprache übersetzt und
begründet werden.
I_133 Die Verschärfung, den der Begriff des Säkularen mit dem
Autonomieanspruch der von Weltbildern unabhängigen Vernunft erfährt,
lässt einen enthaltsamen Agnostizismus zu. Hingegen muss der
szientistische Vorbehalt eines im engeren Sinne nachmetaphysischen
Denkens gegenüber dem irrationalen Charakter von
Glaubensüberlieferungen zu einem unversöhnlichen Konflikt zwischen
Gläubigen und Säkularisten führen, der tiefer reicht als der zwischen
verfeindeten religiösen Weltanschauungsparteien. Religionsgemeinschaften
können sich bei der Verfolgung des richtigen Heilsweges immerhin als
Konkurrenten im Wettstreit um dasselbe Ziel erkennen und sich gegenseitig
gewissermaßen als stakeholders desselben Menschheitsunternehmens
anerkennen. Eine ähnliche Basis für die gegenseitige Anerkennung fehlt,
wenn die säkulare Umgebung religiöse Auffassungen per se nur noch als
wissenschaftlich entzauberte Illusionen gelten lässt und religiöse Existenzen
als Überbleibsel aus einer überwundenen Gesellschaftsepoche betrachtet.
Wenn der Diskurs aufrechterhalten werden soll, müssen beide Seiten die
komplementären Bürden der diskursiven Verständigung tragen. Diese
Bürden sind den Beteiligten nur intuitiv gegenwärtig und bedürfen der
Explikation. Die Explikationsarbeit leisten auf der einen Seite die
theologischen Experten. Aber was immer diese zu einer Modernisierung des
religiösen Bewusstseins beitragen mögen, letztlich muss die Praxis der
Gemeinden selbst darüber entscheiden, ob die Gläubigen eine theologisch
vorgenommene Revision als Lernprozess verstehen und eine rekonstruierte
Lehre als die wahre akzeptieren können. Auf der nichtreligiösen Seite
besteht die entsprechende Bürde in der Abgrenzung des säkularen von
einem säkularistischen Verständnis autonomer Vernunft. Das berührt die
philosophische Frage, wie der säkulare Charakter der Vernunft im
Verhältnis zu religiösen Überlieferungen verstanden werden soll.
Bei der Gegenüberstellung der beiden Varianten nachmetaphysischen
Denkens habe ich die Alternative zwischen einer vergegenständlichenden
und einer dialogischen Einstellung zu religiösen Überlieferungen schon
erwähnt. Aber im interkulturellen Diskurs selbst stellt sich die radikalere
Frage, ob nicht die Partei des Westens, soweit sie als Statthalter des
säkularen Denkens auftritt, ihre Stimme gewissermaßen verdoppelt. Bleibt
das säkulare Denken nicht seiner I_134 Ursprungzivilisation und damit dem
okzidentalen Entwicklungspfad verhaftet, auch wenn es aus seinem
griechisch-jüdisch-christlichen Entstehungskontext gewissermaßen
heraustritt, um Neutralität gegenüber präsumtiv befangenen Parteien zu
beanspruchen? Und setzt es nicht die bekannte imperiale Machtpolitik des
Westens nur mit anderen Mitteln fort, wenn es sich auf diese Weise mit
einem Neutralitätsanspruch über die Diskursvoraussetzung symmetrischer
Beziehungen zwischen gleichberechtigten Teilnehmern hinwegsetzt? Dieser
prima facie berechtigte Verdacht wirft noch einmal Licht auf das, was eine
Genealogie nachmetaphysischen Denkens leisten soll – und was sie
bestenfalls erst in der Praxis eines durchgeführten interkulturellen
Diskurses erreichen könnte. Eine solche Genealogie kann, wenn wir im
Rahmen unseres Szenarios bleiben, die Teilnahme an dem kontrafaktisch im
Gedankenexperiment entworfenen interkulturellen Diskurs in bestimmter
Weise nur vorbereiten. Jedenfalls erfährt die Entkoppelung des säkularen
Denkens von allen auf Glauben oder »Weisheit« gestützten Heilswegen
eine immanente Begründung, wenn sie als das Ergebnis eines mehr als
anderthalb Jahrtausende währenden Lernprozesses begriffen werden kann.
Gewiss, diese Validierung bewegt sich noch im Rahmen des
Selbstverständigungsprozesses der westlichen Zivilisation, sodass dieses
Defizit nur im Rahmen eines interkulturellen Diskurses wettgemacht
werden könnte. Aber dieser Vorbehalt lässt sich wenigsten abschwächen
mit dem Argument, dass zwischen den großen Zivilisationen
Verwandtschaften bestehen, die auf ähnliche kognitive Entwicklungspfade
schließen lassen.
Zum einen werden wir nämlich Anhaltspunkte dafür finden, dass die
ähnlich strukturierten Weltbilder der Achsenzeit auch ein ähnliches
kognitives Potential aufweisen. Und zum anderen wäre mit einer gewissen
Parallelität der Lernprozesse zu rechnen, wenn es der Fall sein sollte, dass
das gleiche kognitive Potential durch ähnliche Herausforderungen
stimuliert und im Zuge der Lösung ähnlicher Probleme ausgeschöpft
worden ist. Um einen falliblen Anspruch auf Allgemeingültigkeit des
nachmetaphysischen Denkens zu plausibilisieren, können wir immerhin auf
zwei Umstände hinweisen, die die okzidentale Entwicklung mit der
Weltbildentwicklung anderer, aber in ähnlicher Weise lernender
Zivilisationen ver I_135 bindet. Wir verstehen die Dynamik der Lernprozesse
als eine Verarbeitung kognitiver Dissonanzen, die nicht nur in Europa,
sondern überall sowohl vonseiten der Natur wie vonseiten der sozialen
Evolution ausgehen – also von der Konfrontation der Weltbilder mit dem
falsifizierenden Widerstand derselben hartnäckig widersprechenden Natur
auf der einen, mit den herausfordernden Konflikten ähnlicher Krisen der
gesellschaftlichen Integration auf der anderen Seite.[167] Allerdings tilgen
auch solche parallel laufenden Lernprozesse nicht die Unterschiede der
Identitäten der verschiedenen Zivilisationen, die sich unter kontingenten
Umständen herausgebildet haben und jedes noch so rationale
Selbstverständnis auf individuelle Weise prägen. Es sind diese kulturellen
Differenzen, die in interkulturellen Diskursen abgearbeitet werden müssten.
I_136 4. Gesellschaftstheoretische
Grundannahmen und
programmatische Ausblicke
Die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens versucht, den
Strukturwandel der Weltbilder auf dem okzidentalen Entwicklungspfad als
einen Lernprozess zu begreifen. Dieser Rekonstruktionsversuch bliebe ein im
schlechten Sinne idealistisches Unternehmen, wenn er sich auf eine unter
systematischen Gesichtspunkten angelegte Geschichte der Philosophie
beschränken würde. Er muss stattdessen die internalistische Erklärung
kognitiver Fortschritte mit der Verarbeitung des jeweils akkumulierten
Weltwissens einerseits und mit dem soziologisch erklärbaren Formwandel
der Sozialintegration andererseits in Beziehung setzen; dieser korrespondiert
nämlich mit der Erweiterung sozialkognitiver Perspektiven und mit
Fortschritten des moralischen Wissens. Deshalb will ich die
gesellschaftstheoretischen Annahmen, von denen ich implizit Gebrauch
mache, vorweg deklarieren. Ich erinnere zunächst in Stichworten an den
grundbegrifflichen Rahmen einer Kommunikationstheorie der Gesellschaft,
erkläre sodann das (in Kapitel II näher erläuterte) Problem der sozialen
Integration, zu dessen Lösungen identitätsstiftende Weltbilder beitragen,
und entwerfe ein grobes Schema der Hintergrundannahmen für
Mechanismen und Stufen der sozialen Evolution (1). Anschließend skizziere
ich vorgreifend den in den Kapiteln III bis VIII entwickelten Gedanken, wie
Weltbildentwicklung und soziale Evolution ineinandergreifen (2).
Schließlich komme ich auf die einleitend charakterisierte Verzweigung des
nachmetaphysischen Denkens im Lichte der Herausforderungen der
Gegenwart zurück (3).
(1) Der gesellschaftstheoretische Hintergrund. »Gesellschaft« können wir
als systemisch stabilisierte Handlungs- und
Kommunikationszusammenhänge von sozial integrierten, zugleich
konfliktbewältigenden und kooperationsfähigen Gruppen konzipieren, die
ihrerseits in lebensweltliche Kontexte eingebettet sind. Soweit sich das
intuitive Wissen der intentional Handelnden noch auf alle Strukturen der
Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge erstrecken kann, lässt
sich die Gesellschaft im Ganzen als die »Lebens I_137 welt« sozialer Gruppen
konzeptualisieren. Die handelnden Subjekte selbst finden sich inmitten des
kontextbildenden Horizonts und auf dem Boden dieser intuitiv
gegenwärtigen, performativ gewussten Lebenswelt vor. Sie beziehen sich
gleichzeitig interpersonal aufeinander und intentional auf etwas in der
objektiven Welt, das heißt auf das – für sie – innerweltliche Geschehen.
Kommunikativ oder verständigungsorientiert handeln sie, in der Einstellung
auf zweite Personen, miteinander oder, aus der Wir-Perspektive, zusammen,
während sie, aus der Perspektive eines Beobachters beziehungsweise einer
dritten Person, einer vergegenständlichten sozialen Umgebung (von
Fremden oder Gegnern) strategisch begegnen oder mit einer
vergegenständlichten natürlichen Umgebung instrumentell umgehen. Dabei
unterscheiden sich die Handlungen je nach den normativen oder kognitiven
Einstellungen der Handelnden. Wenn wir die Perspektive eines Soziologen
einnehmen, der in deskriptiver Einstellung den Begriff der Gesellschaft aus
den soeben genannten Perspektiven der handelnden Subjekte einführt, muss
er auch das, was für diese Handelnden normalerweise als lebensweltlicher
Hintergrund zwar unthematisiert, aber »im Rücken« bleibt, zum Thema
machen und in die Definition von Gesellschaft aufnehmen. Die den
Handelnden selbst nur intuitiv »bekannten« gesellschaftlichen Strukturen
umfassen, kurz gesagt, normative Verhaltenserwartungen, soziale Rollen
und Institutionen. Die Koordinationsprobleme größerer und arbeitsteiliger
Handlungskomplexe überfordern jedoch das intuitive Wissen der
Handelnden selbst in relativ kleinen Gruppen; auf diese Funktionsprobleme
sind vor allem zwei Elemente zugeschnitten: »Organisationen«, etwa das
Verwandtschaftssystem, und »Märkte«, zum Beispiel bargeldlose
Tauschbeziehungen für Güter. Auch wenn solche systemischen Elemente in
der Lebenswelt institutionell verankert bleiben müssen, empfiehlt es sich,
unter funktionalen Gesichtspunkten die Perspektive der Handlungstheorie
zu ergänzen. Die gesellschaftlichen Strukturen tragen nicht nur über Werte,
normativ bindende Erwartungen und kommunikative Verständigung zur
sozialen Integration bei, sondern ebenso über funktionale Mechanismen wie
Macht- und Tauschbeziehungen zur systemischen Integration der
Gesellschaft.
Freilich verdankt sich der Systembegriff der Gesellschaft einer
Abs I_138 traktion. Für die Systemtheorie ist die Menge der systemisch
vernetzten Kommunikationen mit »Gesellschaft« koextensiv. Hingegen
bilden diese für den Kommunikationsbegriff der Gesellschaft nur eine von
drei Komponenten der Lebenswelt. In der Lebenswelt verschränkt sich die
»Gesellschaft«, als die Menge der bindenden sozialen Beziehungen zwischen
kommunikativ vergesellschafteten Subjekten, mit den zwei anderen
Bestandteilen »Kultur« und »Person«. Darunter verstehe ich das
intersubjektiv geteilte und kulturell gespeicherte Wissen einer Gesellschaft
sowie die vital verkörperten Kompetenzen ihrer einzelnen Mitglieder. Im
Zusammenspiel dieser drei Komponenten schießt die Lebenswelt die
»Ressourcen« vor, von denen das kommunikative Handeln zehrt. Aus
sozialwissenschaftlicher Sicht empfiehlt es sich, die Reproduktion der
Gesellschaft unter beiden Aspekten zu untersuchen, sowohl unter dem der
systemischen Reproduktion der Infrastrukturen, die den funktionalen
Zusammenhang des Netzwerks der Interaktionen gegenüber den sozialen
und natürlichen Umwelten stabilisieren, wie auch unter dem Gesichtspunkt
der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt (in der allerdings die Systeme
auch dann, wenn sie sich über deren Horizont hinaus ausdifferenzieren,
nach wie vor verankert bleiben). Die symbolische Reproduktion der
Lebenswelt lässt sich als ein Kreisprozess vorstellen. Die kommunikativ
Handelnden schöpfen, indem sie miteinander und mit der Welt
zurechtzukommen versuchen, aus den Ressourcen der Lebenswelt; diese
wiederum versorgt sie, im Modus des intuitiven »Wissens-wie«, mit
kulturellem Wissen, sozialen Bindungen und erworbenem »Können«. Die
derart von der Lebenswelt »ermächtigten« Subjekte erneuern ihrerseits die
nur performativ gegenwärtigen Komponenten der Lebenswelt durch ihre
eigenen Interpretationen und Lernprozesse, indem sie mit den
Herausforderungen in der – für sie – objektiven Welt zurechtzukommen
suchen. So viel zu den soziologischen Grundbegriffen.
Die Evolution der Gesellschaft erklärt sich durch ein Zusammenwirken
von Prozessen in den beiden Dimensionen der Lebenswelt und des Systems.
Die intelligente Anpassung der gesellschaftlichen Strukturen an
überkomplexe Umwelten sichert die systemische Integration und steigert
dabei die Komplexität der Gesellschaft. Solche Anpassungsprozesse sind aber
keine zureichende Bedingung für die I_139 Reproduktion der Gesellschaft im
Ganzen. Dazu sind auch die Lernprozesse nötig, die gewissermaßen durch
die Köpfe der kommunikativ handelnden Subjekte hindurchlaufen. Das gilt
nicht nur für die adaptiven Vorgänge selbst, die, wie beispielsweise die
Erfindung von Produktivkräften, von kognitiven Lernprozessen abhängen
(auch wenn diese unter der Beschreibung systemischer Anpassungsprozesse
nicht als Lernprozesse der Gesellschaftsmitglieder identifiziert werden).
Unter sozialevolutionären Gesichtspunkten spielen aber insbesondere jene
sozial- und moralkognitiven Lernprozesse eine entscheidende Rolle, die den
funktionalen Anpassungsprozessen mit Rücksicht auf die Sicherung der
sozialen Integration Beschränkungen auferlegen.[168] Vom sozialkognitiven
Lernen spreche ich, wenn sich im sozialen Raum die Grenzen über das je
eigene Kollektiv hinaus erweitern, sodass dann in Konfliktfällen auch unter
den gegenseitig einbezogenen »Fremden« die reziproke Übernahme der
Perspektive der jeweils Anderen normativ zumutbar ist; und von
moralischem Lernen, wenn sich auf der Grundlage von erweiterten
sozialkognitiven Fähigkeiten und Dispositionen die Bereitschaft zur
gewaltlosen Lösung von Konflikten über das jeweils eigene Kollektiv hinaus
erweitert. Die Beschreibung von Anpassungs- und von Lernprozessen
verlangt übrigens verschiedene methodische Einstellungen. Während
Anpassungsprozesse aus der Beobachterperspektive unmittelbar zugänglich
sind, muss der beobachtende Soziologe Lernprozesse aus der
Beteiligtenperspektive erst nachvollziehen, bevor er sie beschreiben kann.
Lernprozesse bemessen sich an der Lösung von Problemen, und diese kann
nur ein Beobachter, der sich die Perspektive des Beteiligten zu eigen macht,
verstehen.[169]
I_140 Bevor ich auf das Thema der Weltbildentwicklung zurückkommen
und zeigen kann, wie diese, unbeschadet des kognitiven Eigensinns ihres
internen Lernprozesses in die gesellschaftliche Evolution verwickelt ist,
muss ich den Stellenwert der sozialen Integration erläutern. Der Begriff der
Systemintegration bedarf keiner ausführlichen Erläuterung, da dieser sich –
mutatis mutandis – der Übertragung des Modells der Selbsterhaltung eines
Organismus in seiner Umwelt auf die über symbolischen Sinn gesteuerten
Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge sozial integrierter
Gruppen verdankt. Erklärungsbedürftig ist der Begriff der »sozialen
Integration«. Er spezifiziert die einschränkenden Bedingungen, unter denen
eine beobachtbare Systemstabilisierung auch aus der Sicht der Beteiligten als
eine hinreichende Reproduktion ihrer Lebenswelt zählen darf. Schon
Aristoteles wusste, dass es sich bei der gesellschaftlichen Reproduktion
nicht um die Erhaltung des »bloßen« oder »materiellen« Lebens handelt
(welches Marx als Äquivalent des »Stoffwechselprozesses« begreift),
sondern um die Reproduktion eines »guten Lebens«. Aber mit dieser Idee
des Guten lässt sich die Unbestimmtheit jenes Überschusses der sozialen
Integration über die bloße Systemerhaltung nicht begrifflich absorbieren,
jedenfalls nicht auf eine empirisch befriedigende Weise. Es sind nur
Krisensymptome verschiedener Art, die anzeigen, wann die Bedingungen
für die hinreichende soziale Integration einer bestimmten Gesellschaft nicht
mehr erfüllt sind – Krisen, die auch durch Funktionsstörungen
beispielsweise des Wirtschafts- oder der Gesundheitssystems (Hungersnöte,
Epidemien) ausgelöst werden können, aber selber in etwas anderem als in
Defiziten der Systemintegration bestehen. Um zu begreifen, worin Krisen der
sozialen Integration bestehen, muss ich das – in I_141 Kapitel II anhand des
sakralen Komplexes näher erklärte – Problem bestimmen, für das
Sozialintegration die Lösung ist.
Schon Aristoteles hat als Wesensmerkmal des Menschen den »Logos«,
das Vermögen sprachlicher Kommunikation und begrifflichen Denkens,
ausgezeichnet. Wenn wir dementsprechend aus evolutionärer Sicht den
Spracherwerb, also den Erwerb der Fähigkeit zur Kommunikation mithilfe
von »Symbolen«, das heißt bedeutungsidentisch verwendeten Zeichen, als
Schwelle zur Hominisation der Primaten begreifen, erkennen wir den
Strukturkonflikt, der diesem evolutionär neuen Vergesellschaftungsmodus
selbst innewohnt: Die Individuen müssen sich in dem Maße, wie die
Reproduktion ihres Lebens von der Kooperation mit anderen abhängig
wird, darauf einstellen, dass ihre jeweils eigene Selbsterhaltung intrinsisch
mit dem Wohl und Wehe des Kollektivs verwoben ist. In dem Maße, wie
sich im Zuge der sprachlichen Vergesellschaftung die Reproduktion des
Einzelnen objektiv mit der der gesellschaftlichen Kooperationsbeziehungen
verschränkt, entsteht eine latente Spannung zwischen der Egozentrik der
Selbstbehauptung und der normativ geforderten Unterwerfung des Einzelnen
unter Imperative der Gemeinschaft. Latent bleibt diese Spannung nur,
solange sie durch die Macht von Institutionen aufgefangen sowie durch die
Spiegelung der institutionellen Ordnung in einem identitätsstabilisierenden
Weltbild ausbalanciert wird. In diesem Sinne ist die soziale Integration ein
Dauerproblem, das fortlaufend gelöst werden muss und nur angesichts von
besonderen Herausforderungen als solches manifest hervortritt.
Beispielsweise dann, wenn Hungernöte oder Epidemien den Zusammenhalt
einer Stammesgesellschaft erschüttern oder wenn heute die
weltwirtschaftliche Konkurrenz von billiger produzierenden
Schwellenländern das Wohlstandsniveau und damit auch den sozialen
Zusammenhalt in den entwickelteren Gesellschaften bedroht. Ein
anthropologisch tiefsitzender Mechanismus, der im Falle solcher Krisen, die
zu Zerfall und Anomie, Gewalt und Rebellion führen können, eine Art
Ausfallbürgschaft übernehmen kann, ist in frühen Gesellschaften der Ritus,
allgemein: der sakrale Komplex. Dieser setzt sich aus Praktiken des
Umgangs mit Mächten des Heils und des Unheils einerseits, aus mythischen
Weltbildern andererseits zusammen (wobei die mythischen Erzählungen
vielleicht I_142 erst aus einer nachträglichen Deutung der zunächst intuitiv
vollzogenen und inzwischen unverständlich gewordenen Riten entstanden
sind).
Mythische Weltbilder interpretieren die Natur in Kategorien der
Gesellschaft: Alles, was man im pragmatischen Umgang mit der Welt
erfährt und über die Welt lernt, verschmilzt mit Interpretationen eines
seinem Schicksal ausgelieferten gesellschaftlichen Kollektivs, dem es um
sein Leben und um sein Heil geht. Mit dieser Synthese aus lebenswichtigem
Weltwissen und beschwörender Abwendung schicksalhaften Unheils leisten
diese Deutungssysteme einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Integration
der Gruppe. Die institutionelle Ordnung der mehr oder weniger egalitären
Stammesgesellschaften, die an die Stelle der auf physischer Überlegenheit
beruhenden Hierarchien der Großaffenhorden getreten sind, hängt nämlich
von der gewaltlosen Überzeugungskraft von Weltbildern ab, die die
normativ regulierten gesellschaftlichen Praktiken als Teil des Selbst- und
Weltverständnisses des Kollektivs einleuchtend erklären und dadurch in
ihrer Bindungskraft stabilisieren. Gerade in sozialintegrativer Hinsicht
haben diese Weltbilder allerdings einen zweischneidigen Effekt. Zwar
artikulieren und befestigen sie die intuitiv gewussten normativen
Strukturen der Gesellschaft durch zwanglos einleuchtende »Erklärungen«,
jedoch kann das im pragmatischen Umgang mit der Natur neu erworbene
Profanwissen, das sie verarbeiten müssen, jederzeit Dissonanzen
hervorrufen. Weltbilder sind, weil sie nur so lange »bestehen«, wie sie
geglaubt werden, also die Angehörigen überzeugen können, für
»Wahrheitsfragen« empfindlich. Sie können durch Zuwachs an Weltwissen
erschüttert werden. Insofern ist die Vernunft auch schon in der
Mythenbildung am Werk. Mythen sind Stabilisatoren der Gesellschaft und
gleichzeitig destabilisierende Einfallstore für dissonantes Erfahrungswissen.
Sie zeigen eine offene Flanke, nicht nur für die im engeren Sinne kognitiven
Enttäuschungen, sondern auch für die sozial- und moralkognitiven
Enttäuschungen im konfliktreichen Verkehr der Angehörigen – sei es
untereinander oder mit fremden Kollektiven. In unserem Zusammenhang
ist wichtig, dass auch die Philosophie, solange sie der Selbstverständigung
von Kollektiven dient, an dieser Ambivalenz Anteil hat.
Die von Anbeginn ambivalente Rolle, die Weltbilder für Prozesse
I_143 der Bewältigung des endogenen Konflikts zwischen den
Selbstbehauptungsimperativen des Einzelnen und der Gesellschaft, das heißt
für die soziale Integration der Angehörigen eines Kollektivs spielen,
interessiert mich unter dem Gesichtspunkt von Lernprozessen, die sich in
der Weltbildentwicklung niederschlagen. Damit berühren wir den Grund
für die genealogische Anlage unserer Untersuchung: Die philosophischen
Lernprozesse erfüllen, indem sie sich eigensinnig an Wahrheit orientieren,
zugleich eine gesellschaftliche Funktion. Davon legt die Zweiteilung der
Philosophie in einen theoretischen und einen praktischen Zweig bis heute
Zeugnis ab. Schon im archaischen Welt- und Selbstverständnis spiegeln sich
die beiden Problemkomplexe, die gleichzeitig bearbeitet werden. Einerseits
geraten die mythischen Weltbilder durch die Akkumulation von
Weltwissen in ihrer kognitiven Rolle unter Druck, und zwar in der Weise,
dass die grundbegriffliche Struktur der Weltdeutung für eine Integration
neuer Informationen nicht mehr ausreicht und schließlich an Dissonanzen
zerbricht. Andererseits werden Weltbilder auch in ihrer sozialintegrativen
Funktion durch gesellschaftliche Krisen erschüttert. Solche Krisen lösen
sozialkognitive Lernprozesse aus, die die bestehende Perspektivenstruktur
für die bis dahin übliche Wahrnehmung und moralische Bewältigung
ungelöster sozialer Konflikte erweitern. Moralische Lernprozesse führen zu
einer stufenweisen Überwindung egozentrischer beziehungsweise
ethnozentrischer Handlungsperspektiven und zu einer gegenseitigen
Einbeziehung der Perspektiven der jeweils Anderen in eine erweiterte
gemeinsame Perspektive. Sowohl in kognitiver wie in moralischer Hinsicht
lernen wir aus Enttäuschungen im Umgang mit einer riskanten Umwelt;
aber im einen Fall bildet das Dementi einer Natur, die sich anders verhält als
erwartet, im anderen Fall der Widerspruch ungelöster Konflikte in der
Gesellschaft selbst die beunruhigende Quelle kognitiver Dissonanzen. In
Analogie zu Problemen des »Scheiterns an der Natur«, die zu kognitiven
Lernprozessen herausfordern, verstehe ich Konflikte in der Folge sozialer
Desintegration als Herausforderungen zur Implementierung schon
erworbener, aber latent überschießender normativer Vorstellungen oder
eben als Anstöße zu eigensinnigen sozial- und moralkognitiven
Lernprozessen. Das bedeutet für die Genealogie nachmetaphysischen
Denkens, dass die I_144 Zäsuren der Weltbildentwicklung mit den
geschichtlichen Konstellationen des Formwandels der sozialen Integration
auf die eine oder andere Weise zusammenhängen.
Für unsere Zwecke genügt es, grob die folgenden
Gesellschaftsformationen zu unterscheiden:
– die bereits hochkomplexen verwandtschaftlich organisierten
Stammesgesellschaften des Neolithikums mit mündlicher und mythisch
geprägter Überlieferung, Agrarwirtschaft und primitiven Formen des
Austauschs materieller und symbolischer Güter;
– die staatlich organisierten Gesellschaften der frühen Schriftkulturen
mit der Arbeitsteilung zwischen politischer Beamtenherrschaft und
religiösem Kultus, Fernhandel und lokaler Marktwirtschaft, alsbald auch
literarisch überlieferten Mythologien und so weiter;
– die konsolidierten Alten Reiche mit der Differenzierung von Heil und
Herrschaft, das heißt der Umstellung der politischen Herrschaft auf die
Legitimationsgrundlage von metaphysischen oder religiösen »Lehren«, die
eine weitere funktionale Differenzierung im Inneren, vor allem die
Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität und den Ausbau des
Handelskapitalismus ermöglichen; sowie schließlich
– die funktional ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne, die von
der Dynamik der spannungsreichen Interaktion zwischen einem
steuerbasierten Verwaltungsstaat und einer endogen wachsenden
kapitalistischen Wirtschaft mobilisiert werden und die Trennung der Kirche
und der Religion sowohl vom säkularisierten Staat wie von der
institutionalisierten Wissenschaft, der autonomen Kunst und der profanen
Gesellschaftsmoral vollziehen.
Diese Unterscheidung sozialevolutionärer Stufen wird einerseits im
Hinblick auf die mit der Ausdifferenzierung von Staat und Markt
wachsende systemische Komplexität der Gesellschaft vorgenommen,
andererseits im Hinblick auf die Erweiterung moralkognitiver Perspektiven.
Allerdings sind die neolithischen Gesellschaften in der Geschichte von
Homo sapiens schon eine relativ junge Form der Vergesellschaftung. Mit
dem Blick auf die Gleichursprünglichkeit von Homo sapiens und
Entstehung der sprachlichen Kommunikation ergibt sich ein ganz anderer
Zeitrhythmus, wenn man die stufenweise Entwicklung der sprachlichen
Mittel in den Blick nimmt – I_145 von der holophrastischen Verwendung
von Symbolen in einfachen Interaktionen über deren Ausdifferenzierung zu
grammatischen Sprachen, der Erfindung der Schrift (zur Zeit der
Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften) bis zur Erfindung des
Buchdrucks (zur Zeit der Entstehung moderner Gesellschaften) und des
World Wide Web (zur Zeit der Entstehung einer über Märkte globalisierten
Gesellschaft). Die Digitalisierung der Kommunikation (mit der Umstellung
der hierarchisch angelegten Kommunikation von Autoren mit Lesern auf
die Kommunikation zwischen egalitär vernetzten Autoren) dürfte eine
ähnlich einschneidende Bedeutung haben wie die vorangehenden
Medienrevolutionen. Jedenfalls vermittelt diese weiter ausgreifende
Periodisierung (ähnlich wie der Maßstab der technischen Entwicklung)
einen Eindruck von der atemberaubenden Beschleunigung einer
soziokulturellen Evolution, die heute als unaufhaltsame Umwälzung der
alltäglichen Lebensverhältnisse erfahren wird und regressive Antworten
auslöst.
(2) Skizze des Gedankengangs. In den Kapiteln III bis VIII will ich die
Entstehung der achsenzeitlichen Weltbilder untersuchen und auf dem
westlichen Entwicklungspfad die inhaltlichen Problemstellungen verfolgen,
die zu den beiden Varianten des nachmetaphysischen Denkens führen.
Gewiss bilden schon die erwähnten evolutionären Übergänge von
verwandtschaftlich zu staatlich organisierten Gesellschaften und von
hierarchisch aufgebauten politischen Gesellschaften zu den heterarchischen
Gesellschaften der Moderne ein viel zu grobes Raster. Aber die Relevanz der
Frage, ob wir einen komprehensiven, das Welt- und Selbstverständnis
einbeziehenden Begriff der Vernunft im Zuge einer szientistisch verkürzten
Verwissenschaftlichung der Philosophie verabschieden müssen oder
beibehalten können – und sollen –, zeigt sich deutlicher im Lichte einer
Genealogie des nachmetaphysischen Denkens, die bis in die soziale
Evolution der achsenzeitlichen Kulturen zurückreicht. Auch wenn sich
diese Alternative erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts anbahnt, erkennt
man die Zuspitzung, die diese Frage heute erfährt, erst auf dem langen Weg
einer von der Symbiose der Metaphysik mit dem Christentum geprägten
Entstehungsgeschichte des nachmetaphysischen Denkens. Zur
sozialevolutionären Einbettung der im engeren Sinne kognitiven sowie
sozialkognitiven und morali I_146 schen Lernprozesse möchte ich einige
Stichworte vorausschicken. Denn anhand dieser im Voraus grob skizzierten
Lernprozesse lassen sich im Strukturwandel der Weltbilder Spuren der
»Vernunft in der Geschichte« entziffern.
(a) Zur achsenzeitlichen Transformation der Weltbilder und des Staates. Die
mythischen Narrative bilden im sakralen Komplex dasjenige Element, in
dem sich die Interpretation der Welt mit den Institutionen des
Verwandtschaftssystems verschränkt. Die zunehmende soziale Komplexität
stellen wir uns als Differenzierungsprozess vor, in dessen Verlauf sich
dieses Amalgam auflöst. Dass »Kultur« und »Gesellschaft«
auseinandertreten, wird mit dem Übergang zu staatlich organisierten
Gesellschaften deutlich: Die Priesterschaft, die den sakralen Komplex
verwaltet, trennt sich vom politischen Herrscher und übernimmt
legitimierende Funktionen für die Ausübung der politischen Herrschaft.
Grob zusammengefasst, lässt sich diese Innovation aus Überforderungen der
bestehenden Form der sozialen Integration erklären: Die über
Verwandtschaftslinien mögliche Kumulation und Verstetigung der
persönlichen Autorität der Ältesten reichte nicht mehr aus für die
Institutionalisierung der Befugnisse, die eine konfliktfreie Regelung des
komplexer gewordenen Verkehrs gewährleisten konnten. Anders als die
Autorität, die an Eigenschaften und Status bestimmter Personen haftet, ist
politische Macht übertragbar, weil sie sich auf eine Kompetenz stützt, und
zwar auf die der Rechtsprechung. Recht und politische Macht sind
gleichursprünglich, aber beide sind auf den funktionalen Beitrag des sehr
viel älteren sakralen Komplexes angewiesen. Aus der Rolle eines obersten
Gerichtsherrn kann sich nämlich die politische Macht nur dann entwickeln,
wenn zwei weitere Bedingungen erfüllt sind. Zum einen muss sich der
Herrscher auf ein von den Herrschaftsunterworfenen intersubjektiv bereits
anerkanntes Normengefüge berufen können, wobei dieses vorausgesetzte
Recht seine soziale Geltung wiederum der Einbettung in ein mythisches
Weltbild verdankt. Zum anderen bedarf der Herrscher selbst der
Legitimation. Es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass einer für alle
kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen darf. Daher müssen
mythische Erzählungen nun nicht mehr nur die aus dem
Verwandtschaftsstatus abgeleitete persönliche Autorität von Ältesten und
Kriegsführern legitimieren, I_147 sondern die politische Autorität eines
Recht sprechenden Herrschers, der – alle Familien übergreifend – aus dem
Kollektiv herausgehoben ist. Diese Legitimität gewinnt der Herrscher in der
Regel aus dem genealogischen Anschluss der »Linie« seiner Dynastie an die
der Götter. Das ist wiederum nur möglich, wenn bereits Lernprozesse
stattgefunden haben, die im Sinne der hierarchischen Aufstufung zu einer
gewissen »Rationalisierung« der Götterwelt geführt haben.
Nach dieser Hypothese stützt sich die evolutionäre Erfindung der
Jurisdiktion, das heißt die Vollmacht des obersten Gerichtsherrn, kollektiv
bindende Entscheidungen zu treffen, auf eine der institutionellen
Entwicklung vorauseilende kognitive Ausgestaltung des mythischen
Weltbildes. Aber woraus beziehen die legitimierenden Weltbilder ihrerseits
ihre legitimierende Kraft? Die in der Sprache des Rechts ausgeübte
politische Herrschaft stützt sich auf die Autorität des bindenden Rechts; das
Recht stützt seine Autorität wiederum auf die bindende Kraft sakraler
Mächte, die in mythischen Erzählungen und rituellen Handlungen
vergegenwärtigt werden. Diese Heilsgüter bilden eine vom Herrscher
unabhängige Quelle der Autorität, die von der Priesterschaft gehütet wird.
So verschränken sich Recht und Politik mit dem sakralen Bereich von
Anbeginn an zu einem Komplex, weil die normativ bindende Kraft des
intersubjektiv anerkannten Rechts auf die Bindungskraft sakral
verwurzelter mythischer Weltbilder verweist. Dabei müssen wir aber die
komplexe Zusammensetzung der Bindungskraft dieser
rationalisierungsfähigen Weltbilder selbst im Auge behalten. Sie speist sich
nämlich nicht nur aus der sakralen Bindungskraft, die der Mythos seiner
Verbindung mit dem Ritus verdankt, sondern ebenso aus der rationalen
Überzeugungskraft der kognitiven und moralischen Erklärungen, die der
Mythos anbietet. Diese Fusion sichert der Macht des Sakralen von Anfang
an einen Vernunftbezug. Die legitimierende und allgemein sozialintegrative
Kraft der Weltbilder zehrt davon, dass die Macht des Sakralen mit der Kraft
guter Gründe kommuniziert. In diesem Sinne ist der Mythos von Anfang an
auch Aufklärung (Horkheimer/Adorno).[170] Aus seiner Anfälligkeit für
Lernpro I_148 zesse erklärt sich auch der nächste sozialevolutionäre Schritt
zu den achsenzeitlichen Kulturen.
Die Ausübung politischer Herrschaft erschließt eine gegenüber
Stammesgesellschaften evolutionär neue Dimension der gezielten
Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst. Gleichzeitig wachsen auch die
militärische Macht und das staatliche Repressionspotential, die in der
Gewaltgeschichte der frühen Imperien deutliche Spuren hinterlassen
werden. Die staatliche Organisation ermöglicht eine Stratifikation der
Gesellschaft nach Maßgabe der Teilhabe an beziehungsweise des
Ausschlusses von politischer Herrschaft. Ein zunehmendes soziales Gefälle
charakterisiert die Alten Reiche von Anbeginn. Das damit entstehende
Legitimationsproblem wird zuerst mit der weiteren hierarchischen
Aufstufung und Ausdifferenzierung der überlieferten mythischen
Stammbäume beantwortet. Eine weitgehende »Übersetzbarkeit« der
Götterhierarchien zwischen verschiedenen Kulturen erleichtert es den
jeweiligen Siegern, ihre Herrschaft über eroberte Gebiete zu stabilisieren.
Die großräumige und vergleichsweise lockere politische Integration der
Untertanen eines solchen »Reiches« ist auf eine Form der sozialen
Integration angewiesen, die – noch bis ins römische Kaiserreich hinein –
nicht allein vom Firnis der übergreifenden Staatsreligion geleistet werden
kann, sondern überwiegend von lokalen Überlieferungen und Praktiken
gestützt werden muss. Aber der Diskursrahmen, der nur narrative
Erklärungen zulässt, wird zunehmend von kognitiven Dissonanzen
herausgefordert. Diese verlangen nach anderen als narrativen Erklärungen.
Einerseits sprengt das in den komplexen frühhochkulturellen Gesellschaften
inzwischen akkumulierte Weltwissen (welches sowohl das in
Landwirtschaft, Handwerk, Haus- und Schiffsbau, Militärwesen und so
weiter entwickelte technische Wissen als auch das theoretische Wissen in
Medizin und Naturphilosophie, Astronomie und Mathematik umfasst) das
vergleichsweise bescheidene Erklärungspotential der an die Grammatik von
Erzählungen gebundenen Mythologien. Andererseits schärft das unerhörte
Maß an bru I_149 taler Gewalt, Repression und Ausbeutung, das sich in den
frühen, extrem ungleichen und kriegerischen Imperien entwickelt hatte, das
Unrechtsbewusstsein und die moralischen Sensibilitäten einer Bevölkerung,
die sich mit der Erklärung der Ungerechtigkeit persönlicher und kollektiver
Lebensschicksale im Stile des anspruchslosen Verhaltens opportunistisch
handelnder Götter immer weniger zufriedengibt.
In vier oder fünf der frühen Hochkulturen werden diese kognitiven
Engpässe während des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung von
kämpferischen intellektuellen Eliten überwunden.[171] Diese entwickeln
Metaphysiken und Weltreligionen, die ein gemeinsames Muster verraten:
– Auf der Ebene der kulturellen Überlieferung erweitert sich mit der
Bezugnahme auf einen transzendenten Fluchtpunkt die Perspektive derart,
dass die nun entstehenden »Weltbilder« einerseits eine
vergegenständlichende Reflexion auf die Stellung des Menschen im Ganzen
des Seienden erlauben und andererseits ein neues Zeitbewusstsein von der
Kontingenz des innerweltlichen Geschehens widerspiegeln.
I_150 – Auf der Ebene der sozialen Beziehungen ermöglicht diese
Horizonterweiterung einen universalistischen Standpunkt, von dem aus
einerseits allgemeine, alle Gläubigen gleichermaßen bindende Normen und
andererseits historisch mögliche Alternativen zur jeweils bestehenden
politischen Ordnung in den Blick gelangen.
– Auf der Ebene der Person entsteht mit dem Bezug zur Transzendenz ein
vereinzelnder und zugleich reflektierter Blick auf sich als individuellen
Einzelnen; dementsprechend bilden sich einerseits ein Bewusstsein von
Freiheit und persönlicher Verantwortung, andererseits ein Interesse am
Gelingen des eigenen Lebens aus.
Die dogmatische Begrifflichkeit dieser Weltbilder erklärt sich aus dem
Umstand, dass Weltwissen und Heilswissen innerhalb derselben
Theoriesprache organisiert werden. Religiöse und metaphysische Aussagen
geben innerhalb desselben begrifflichen Rahmens Antwort auf theoretische
und auf politische sowie ethisch-existentielle Fragen. Indem praktisch
relevante Fragen mit theoretischen Erklärungen beantwortet werden,
mischen sich in den assertorischen Geltungsanspruch von deskriptiven
Aussagen sowohl ein evaluativer wie ein normativer Sinn ein. In der
dogmatischen Geltung religiöser und metaphysischer Aussagen verbindet
sich das Wahr- und Seiend-Sein mit dem erstrebenswerten Charakter des
Guten und der Attraktivität des Schönen. Nur auf diese Weise kann die
Erklärung des Weltgeschehens oder der Weltgeschichte gleichzeitig den
richtigen Weg zum Heil weisen. Mit der grundsätzlichen Überwindung des
magischen Denkens und der Abschaffung des Opfers sublimieren sich auch
die Formen der rituellen Praxis.
Die religiösen Experten, die diese artikulierten, alsbald verschriftlichten,
ebenso intellektuell wie ethisch anspruchsvollen Lehren unter den Laien
verbreiten, passen die kultische Einübung und pädagogische Einführung
gegebenenfalls an die Rezeptionsfähigkeit der Bevölkerung an. Aber die
neuen religiösen und metaphysischen Lehren erzeugen ein Bewusstsein der
Zugehörigkeit zu einer von askriptiven Merkmalen unabhängigen,
grundsätzlich inklusiven Gemeinschaft von Gläubigen und Wissenden.
Diese neuen Lehren ermöglichen eine Familien- und Nachbarschaftsgrenzen
überschreitende Form der sozialen Integration, die für die politische
Herrschaft und die Gesellschaft im Ganzen einen ambivalenten Effekt hat.
Ei I_151 nerseits kommt eine großflächige soziale Integration über staatlich
homogene Glaubensgemeinschaften hinweg dem Bedürfnis eines
zentralisierten Herrschaftsapparates entgegen. Zwischen einer politischen
Integration, die fast vollständig über die Köpfe der Untertanen hinweggeht,
einerseits und der sozial-integrativen Verwurzelung in lokalen
Gemeinschaften und regionalen Überlieferungen andererseits besteht eine
Kluft, die jedoch durch Appelle an die in überregionalen
Glaubensgemeinschaften oder Schulen geteilten religiösen und
metaphysischen Überzeugungen überbrückt werden kann. Natürlich
erschöpft sich die Penetrationskraft der philosophischen Ethiken und
Weltreligionen meistens in der Überformung von mythischen Bildern und
magischen Denkweisen; in Griechenland erfasst sie nicht einmal die
politische Führung. Andererseits verbindet sich die politische Integration
mit Vorstellungen eines kosmologisch oder göttlich begründeten
universalen »Gesetzes«, das die Legitimationsansprüche an die politische
Herrschaft erheblich steigert: Der Herrscher steht fortan unter dem Gesetz.
Das in den achsenzeitlichen Weltbildern angelegte universalistische, weit
über die soziale Realität hinausschießende normative Potential hat sich über
lange Latenzzeiten hinweg immer wieder am Widerstand gegen Armut,
Repression und Ausbeutung entzündet sowie in Protestbewegungen
entladen. Aber gegenüber einem solchen Potential an Herrschaftskritik
behält eine mit großer Sanktionsmacht ausgestattete und von »Gottes
Gnaden« oder »im Strahlenkranz des Himmels« ausgeübte politische
Herrschaft faktisch einen erweiterten Spielraum für die repressive
Aufrechterhaltung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung.
(b) Kirche und christliche Theologie in römischem Kaiserreich und frühem
Mittelalter. Der kursorische Vergleich der Weltbilder reicht gewiss nicht
zum empirischen Beleg, stützt aber Jaspers' Annahme, dass die
achsenzeitlichen Kulturen über ein ähnliches Vernunftpotential verfügten
wie das, welches sich auf dem okzidentalen Entwicklungspfad ausgeprägt
hat. Meine Darstellung wird sich auf das europäische Beispiel der
Entfaltung dieses Potentials beschränken. Ich konzentriere mich zunächst
auf die Situation des frühen Christentums im römischen Kaiserreich. Dessen
Entwicklung ist einerseits durch die Konkurrenz mit dem Erbe der
griechischen Philoso I_152 phie in der hellenistischen Bildungsreligion der
römischen Oberschicht gekennzeichnet, andererseits durch den Aufstieg
einer unterdrückten religiösen Sekte zur kirchlich organisierten
Staatsreligion. Der genealogische Blick richtet sich auf den Zusammenhang
dieser beiden Tendenzen. Denn die theologisch-philosophische Artikulation
des Welt- und Selbstverständnisses reagiert ebenso auf
Erkenntnisfortschritte wie auf die Probleme der gesellschaftlichen
Integration, in die sich das Christentum als Kirche und weltliche Macht
verwickelt. Ich gehe zunächst auf die arbeitseilige Verbindung der beiden
im römischen Kaiserreich aufeinandertreffenden achsenzeitlichen
Traditionen ein. Die von den Kirchenvätern herbeigeführte Synthese aus
Platonismus und Christentum hat einerseits den Diskurs über Glauben und
Wissen in Gang gesetzt und andererseits die Entstehung der römisch-
katholischen Kirche ermöglicht.
Der Vergleich zwischen Plotin und Augustin zeigt das Ergebnis der
christlichen Aneignung des platonischen Idealismus: Die Kirchenväter haben
das Christentum mit der in der Antike maßgebenden Tradition auf
Augenhöhe gebracht. Durch eine reflexive Verarbeitung einerseits der
monotheistischen Ursprungsreligion, andererseits der theoretisch reifsten
Gestalt einer kosmoethischen Lehre erfährt das paulinische Christentum
einen weiteren Schub. Diese Konstellation stellt die Weichen sowohl für die
theologische Ausarbeitung der christlichen Lehre wie für die philosophisch
folgenreiche Einbeziehung neuer Bereiche performativen Wissens in den
Horizont begrifflicher Explikation. Die Ausbildung einer theologischen
Dogmatik spiegelt sich in den spätrömischen Konzilen im Streit der
Bischöfe über die Formulierung des Glaubensbekenntnisses, insbesondere
im Hinblick auf die begriffliche Fassung der Trinität. Die Anstrengung, den
Kern der evangelischen Botschaft über den »Menschensohn« in Begriffen
der griechischen Metaphysik auszudrücken, mündet schließlich in die
paradoxe Aussage des Konzils von Chalcedon, dass sich in seiner Person
zwei verschiedene, »unvermischte« Naturen »ungetrennt« miteinander
verbinden. Der Versuch, die »Natur« der narrativ eingeführten, in ein
historisches Heilsgeschehen verwickelten Person Jesu in einer Sprache zu
bestimmen, deren platonisch-aristotelische Grundbegriffe für eine
ontologische Darstellung des Kosmos entwickelt worden waren, I_153 macht
auf eine Differenz von Sprachspielen aufmerksam, die auf verschiedene
epistemische Einstellungen zurückgehen. Der kontemplative oder meditative
Zugang zum Absoluten legt eine andere Einstellung nahe als der
kommunikative Zugang des Gläubigen zum göttlichen Logos. Was dem
Weisen in der objektivierenden drittpersonalen Einstellung zum Kosmos
oder dem meditierenden Mönch in der reflexiven erstpersonalen Einstellung
zum eigenen Inneren begegnet, ist ein in geistiger Anschauung
vergegenwärtigter Gegenstand: die Welt als das absolute Ein und Alles. Was
hingegen dem Gläubigen in der performativen Einstellung des Teilnehmers
an der Kommunikation mit dem ganz Anderen begegnet, ist nicht primär
die Welt, sondern das Gegenüber einer zweiten, wenn auch aus allen
anderen Personen herausgehobenen Person – des in die Geschichte
eingreifende Gottes. Anders als auf den Heilswegen der erhebenden Theorie
oder der innerlich sammelnden Meditation erschließt sich auf diesem
kommunikativen Heilsweg die soziale und die zeitliche Dimension der
Lebenswelt einer universalen Gemeinde von Gläubigen, worin jeder
Einzelne horizontal mit jedem anderen kommunikativ vergesellschaftet ist
und gleichzeitig eine kommunikative Beziehung vertikal zu ein und
derselben göttlichen Person unterhält.
Da jedoch fortan Theologen die Rolle von Philosophen übernehmen,
entzündet sich an diesem innerhalb des Christentums selbst aufbrechenden
Gegensatz der epistemischen Einstellungen die Diskussion über das
Verhältnis von Glauben und Wissen, wobei »Gnosis« und »Theorie«
zunächst ein ähnliches religiöses Erlösungsversprechen mit sich führen wie
»Pistis«, der Glaube an die Person des einzigen und transzendenten Gottes.
Indem sich Theologen in der Rolle von Philosophen an dem Thema
»Glauben und Wissen« abarbeiten, erstreckt sich die philosophische
Diskussion auf Erfahrungsbereiche, die den Griechen und Römern nicht als
theoriefähig galten. Augustin bringt mit den Themen der Erbsünde und der
Gnadenwahl die Problematik der Willensfreiheit zu Bewusstsein und stößt
damit eine Diskussion an, deren begriffsschöpferische Kraft über die
Grenzen der christlichen Philosophie selbst hinausführen wird. Die
Einstellung zu einer Welt, die Anfang und Ende hat, provoziert zudem das
Nachdenken über eine Abfolge von Weltaltern und gibt I_154 den Anstoß zu
einem geschichtsphilosophischen Denken, das seit dem 18. Jahrhundert
auch unter weltlichen Philosophen eine eigene Dynamik entfalten wird. Die
Beziehung des Gläubigen zu einem Gott, der sich in der Geschichte
offenbart, lenkt die philosophische Aufmerksamkeit auch auf das innere
Zeitbewusstsein. Heilserwartung und Sündenbewusstsein wecken den Sinn
für die Befristung der eigenen Lebenszeit. Mit dem Perspektivenwechsel
von der Anschauung des Kosmos zur gewissenhaften Erforschung der
Subjektivität eines von der Sorge ums eigene Heil umgetriebenen
Handelnden gibt Augustin der platonischen Anamnese eine andere
Richtung; er erschließt der rationalen Rekonstruktion einen Bereich von
immer schon vertrauten, subjektiv gewissen, aber nur im intuitiven Vollzug
anderer Akte mitvollzogenen Operationen und Erfahrungen. Schließlich
erschüttert Augustins Anstrengung, die dogmatischen Gehalte, die sich dem
griechischen Kanon am hartnäckigsten widersetzen, mit philosophischen
Mitteln verständlich zu machen, das Vertrauen in die Angemessenheit der
substanzmetaphysischen Grundbegriffe. Die Kirchenväter setzen die
Philosophie auf die Fährte, den menschheitsgeschichtlichen Prozess der
Versprachlichung des Sakralen in eigenen Begriffen fortzusetzen.
Die andere Weichenstellung betrifft die für die historische Entwicklung
und philosophische Selbstverständigung des Westens mindestens ebenso
folgenreiche Entstehung der römisch-katholischen Kirche. Diese hat durch die
Nachahmung der vergleichsweise hochentwickelten Verwaltungsstruktur
des Reiches, die bis in die noch heute gültige Kleiderordnung des Papstes
hineinreicht, eine institutionelle Gestalt angenommen, die gegenüber der
Organisation anderer Weltreligionen einzigartig ist. Die spätrömische
Kirche hat sich, ungeachtet ihres Charakters als Heilsanstalt, darauf
vorbereitet, eine politisch handlungsfähige Institution zu werden. Im
Kaiserreich entwickelt sich die Kirche zu einer Institution, in der sich, als sie
das Erbe des Imperiums antritt, die geistliche mit der weltlichen Gewalt
amalgamiert. Zwar stützt sich der kirchliche Einfluss auf das Monopol an
der Verwaltung der Heilsgüter; aber diese spirituelle Quelle der
Legitimation staatlicher Herrschaft gerinnt in der organisatorischen Gestalt
einer Kirche, die die Kontinuität des Römischen Reiches verkörpern wird,
selbst zu einer politischen Macht. I_155 Als Kirche kann das Christentum
seine Unabhängigkeit auch auf politische Weise behaupten und im Laufe
des späteren Mittelalters für das sacerdotium den – freilich niemals
eingelösten – Anspruch erheben, mit dem regnum des – seit den
Karolingern in neuer Gestalt wiedererstandenen – Römischen Reiches sogar
um die Vorherrschaft in der Welt zu konkurrieren. Sie hat nicht nur die
lateinische Kultur bewahren können, sondern die christliche Religion
inmitten der bunten Vielfalt der spätantiken Völkerschaften und Kulte als
Einheit stiftende, sozial und politisch vereinigende Kraft zur Geltung
gebracht. Diese Rolle erfüllt die Kirche dank ihrer Missionsarbeit und der
inklusiven Organisationsform eines sich nach und nach weit verzweigenden
Systems örtlicher Pfarreien. Sie formiert aus dem heterogenen Gemisch der
eingesessenen spätantiken und der eingewanderten germanischen
Bevölkerung in Italien und den weströmischen Provinzen sowie aus den
missionierten Stämmen jenseits des Limes und im europäischen Norden erst
den populus christianus – das »Volk« des »christlichen Europas«.
Die Kirche ist ein Katalysator der frühmittelalterlichen Herausbildung
einer feudalen Gesellschaftsformation; sie dient der Legitimation der
kaiserlichen Herrschaft, nachdem diese sich im Fränkischen Reich der
Karolinger erneuert hat; sie erfasst mit ihrem flächendeckenden
Pfarreisystem das tägliche Arbeits- und Familienleben des Volkes und prägt
vor allem Sozialisation und Erziehung. Unter dem Aspekt der sozialen
Integration spielt sie freilich nicht nur eine stabilisierende Rolle. Indem sie
im Volke das egalitäre Bewusstsein der Gottesebenbildlichkeit aller
Menschen, einschließlich der Sklaven, wachhält und die Geltung der
universalistischen Maßstäbe der christlichen Liebesethik lehrt, hütet sie
auch ein explosives Potential. Dieses kann sich unter Umständen wie ein
nichtentschärfter Sprengsatz in sozialen Revolten entladen und dabei nicht
nur gegen das politische Regiment, sondern auch gegen den verweltlichten
Klerus selbst wenden. Die Kirche differenziert sich in den Weltklerus und
die Mönchsorden; in den Klöstern führen die religiösen Virtuosen ein
Leben, das unter irdischen Bedingungen das anspruchsvolle Modell der
brüderlichen Christengemeinschaft verwirklichen soll. Vor allem aus dem
Cluniazenser-Orden stammen die Reformimpulse, die über die
Klostermauern hinauswirken. So sind es oft die Mönchs I_156 päpste, die der
Kirche einen reformatorischen Gestaltungsauftrag zumuten. Das zeigt sich
im Bündnis Gregors VII. mit der Bewegung der Patarener in der Toskana
und der Lombardei. Aber im mittelalterlichen Europa war die Trennung
zwischen den konkurrierenden Gewalten Staat und Kirche schon zu weit
ausgeprägt, als dass die theokratischen Ansprüche der Kirche noch eine
Chance gehabt hätten. Historisch folgenreicher ist die Reform der Kirche
selbst, die dieser Papst einleitet, indem er sich die größte zivilisatorische
Leistung des Römischen Reiches, das Recht, als Instrument für eine
Straffung und Rationalisierung der Kirchenorganisation zunutze macht.
Innerhalb der Kirche war die römische Rechtstradition ohnehin fortgeführt
worden. Aber die Wiederentdeckung des Corpus iuris civilis gab Anlass zu
einer systematischen Aufbereitung und dogmatischen Ausgestaltung des
römischen Rechts, die im Zuge der Reorganisation der Kirche eine
Fortentwicklung des römischen Zivilrechts zum öffentlichen Recht
ermöglichte. Jedenfalls hat das Kirchenrecht seitdem Vorbildfunktionen bei
der Herausbildung moderner Verwaltungsstrukturen gehabt, zunächst in
den städtischen Kommunen Oberitaliens, später in den Territorialstaaten.
Der eigentlich entscheidende Impuls, der von der »päpstlichen Revolution«
ausgeht, ist jedoch die Verbindung der evangelischen Ethik und ihres
gesellschaftskritischen Potentials mit dem neuen abstrakten Recht als
Medium für die verfassungsrechtliche Gestaltung der politischen
Herrschaft.
(c) Die Weichenstellungen zur Moderne im hohen Mittelalter. Mit der
Gründung der europäischen Universitäten verbindet sich nicht nur die
wissenschaftliche Rezeption des römischen Rechts. Die Jurisprudenz hat in
Bologna, die philosophischen und theologischen Studien haben in Paris
ihren Schwerpunkt. In der Akademisierung der Wissenschaften spiegeln
sich auch die vor allem von islamischen Gelehrten vorangetriebenen
Fortschritte in Medizin und Naturphilosophie und allgemein der Zuwachs
an empirischem Wissen und technischem Können. Auf diese kognitive
Herausforderung reagiert die Philosophie mit einer Konzentration auf das
Problem des Verhältnisses von Glauben und Wissen, das nun, im Lichte der
ersten lateinischen Übersetzung der Zweiten Analytik, den strengeren
Maßstäben der aristotelischen Wissenschaftstheorie genügen muss.
I_157 Als an den neu gegründeten Universitäten des 13. Jahrhunderts eine
Artistenfakultät eingerichtet wird, nimmt die Trennung der
philosophischen Wissenschaft von der christlichen Glaubenslehre
institutionelle Gestalt an und verfestigt den Gegensatz zwischen
Philosophie und Wissenschaften auf der einen, Theologie auf der anderen
Seite. Die Philosophie übernimmt insofern die Rolle einer Hüterin der
Rationalität, als sie auf einer strikten, jetzt wissenschaftstheoretisch
durchgeführten Unterscheidung zwischen den theologisch aufbereiteten
Glaubenswahrheiten und dem besteht, was aus natürlicher Vernunft allein
erkannt werden kann. Gleichzeitig dürfen die Glaubenswahrheiten
ihrerseits dem vernünftig Erkannten nicht widersprechen. Diese Bedingung
der Vernünftigkeit des Glaubens wird erst Luther fallen lassen – und damit
der philosophischen Verselbständigung säkularen Denkens einen neuen
Impuls geben.
Im damaligen Kontext einer nachholenden Rezeption des aristotelischen
Werkes im Ganzen ersetzt Thomas (auf den Schultern von Albertus und
mehrerer Generationen großer Theologen) die im christlichen Platonismus
vollzogene Synthese aus Glauben und Wissen durch ein System, das an der
Einfügung des ontologischen Paradigmas in den Rahmen der christlichen
Lehre festhält, nun allerdings in Gestalt der aristotelischen Metaphysik und
ohne die Angleichung der kommunikativen Glaubenseinstellung an die
kontemplative Haltung der griechischen Theorie. Diese Aufgabe bewältigt
Thomas zum einen durch den Anschluss der metaphysischen Spekulation
über das höchste Seiende (beziehungsweise das Seiende als Seiendes) an die
christliche Schöpfungslehre und zum anderen durch die Rückbindung der
bei Aristoteles in ihrem theoretischen Anspruch herabgestuften praktischen
Philosophie an die Metaphysik der Natur; denn aus christlicher Sicht muss
die philosophische Ethik wieder auf eine theoretische Grundlage gestellt
werden und ihren bloß pragmatischen Charakter abstreifen, damit die
Verbindung zur religiösen Basis, den Geboten Gottes, nicht verloren geht.
Wirkungsgeschichtlich noch wichtiger ist die christliche Aneignung der
aristotelischen Politik, die nun aber mit einer neuen Disziplin, der
Rechtsphilosophie, zusammengeführt werden musste. Dafür bot sich das
von den Juristen wieder aufgenommene Naturrecht als Brücke an zwischen
Gottes Gesetz und der positiven, auf die Gesetzgebung des politi I_158 schen
Herrschers zurückgehenden Rechtsordnung. Mit der Ausarbeitung der
Leges-Hierarchie und den entsprechenden Stufen der Gesetzgebung trägt
Thomas nicht nur der tatsächlichen Entwicklung von Recht und
Rechtswissenschaft Rechnung. Indem er das abstrakte Recht mit dem
Dekalog als der Grundlage aller moralischen Gebote zusammenführt, findet
die Denkfigur des allgemeinen Gesetzes als der legitimierenden Grundlage
aller Rechtsbefehle Eingang in die praktische Philosophie – eine
alttestamentarische Denkfigur, die der nach wie vor maßgebenden
Güterethik des Aristoteles fremd ist. Damit bereitet Thomas einer
Entwicklung den Weg, die über den Nominalismus, Luther und das
Vernunftrecht zur deontologischen Ethik Kants führen wird. Aus der
Retrospektive erkennt man, dass schon Thomas mit seinem Lex-Traktat
einen wichtigen Zug in Richtung der deontologisch begründeten
Verrechtlichung von Politik und Moral vorgenommen hat.
So wie man in der hochmittelalterlichen Konkurrenz von Kirche und
Staat um den geistlich-politischen Führungsanspruch einerseits die Macht
der Kirche, andererseits die Ironie der voranschreitenden funktionalen
Trennung von Staat und Kirche in Richtung einer Säkularisierung der
Staatsgewalt entdecken kann, so kann man an der großartigen Synthese der
thomistischen Lehre schon die Sollbruchstellen auffinden, an denen der
christliche Rahmen von Philosophie und Wissenschaft zerbrechen wird. Der
Diskurs über Glauben und Wissen wird die metaphysische Verklammerung
des Glaubens mit dem Wissen auflösen und damit einerseits die Theorie an
die Wissenschaften, andererseits Moral und Recht an die Autorität der
natürlichen Vernunft verweisen. Die via moderna des Hochmittelalters führt
an die Schwelle des Paradigmenwechsels von der Metaphysik zur
Subjektphilosophie. Betrachten wir zunächst die theoretische Philosophie.
Der ontologische Weg zur Erkenntnis Gottes sollte immer nur zu
Allgemeinbegriffen führen und niemals Gott selbst in den wesentlichen
Eigenschaften seiner persönlichen Natur erreichen können. Thomas hatte
immerhin Analogieschlüsse von markanten Zügen der Weltordnung auf
Wesensmerkmale ihres Schöpfers für möglich gehalten. Aber mit seiner
Kritik an dieser Lehre der analogia entis entkoppelt sodann Duns Scotus die
Erkenntnis Gottes von der me I_159 taphysischen Erkenntnis der Natur.
Möglich sind nur noch transzendentalsemantische Aussagen über Gott als
das »Ersterkannte«; diese dürfen mit ontologischen Aussagen über Gott als
Erstes Seiendes nicht länger verwechselt werden. Auch Wilhelm von
Ockham ist der Auffassung, dass der Begriff des Seienden gleichbedeutend
auf Gott und die geschaffene Welt angewendet werden kann. Er folgt
jedoch Duns Scotus nicht in der Konsequenz, dass sich aus diesem univok
verwendeten Begriff, der in sich die Differenz von Unendlichem und
Endlichem enthält, transkategoriale Eigenschaften für das ens infinitum
gewinnen lassen. Bei Ockham reißt auch noch der
transzendentalsemantische Faden zwischen Philosophie und Theologie ab.
Die wachsende Kluft erklärt sich auch aus der Konzeption eines
allmächtigen Gottes und einer im Ganzen kontingenten Natur. Weil die
Natur ihrer inhärenten Vernünftigkeit beraubt ist, begegnet der endliche
Geist nur noch kontingenten Gegenständen und Sachverhalten, sodass er
zur Erkenntnis der Naturordnung einen eigenen konstruktiven Beitrag
leisten muss. Dementsprechend entwickelt Duns Scotus eine Systematik der
Erkenntnisvermögen, die der neuen Relevanz des Besonderen und
Individuellen gerecht wird. Es sind vor allem theologische Motive, die das
Nachdenken über Kontingenz und Individualität des innerweltlichen
Geschehens auslösen und zu einem neuen Schub der philosophischen
Aneignung ursprünglich religiöser Erfahrungen führen.
In Anbetracht der praktischen Philosophie geht auch die Weichenstellung
zu einem neuen Begriff der menschlichen Freiheit auf Duns Scotus zurück.
Als Geist von Gottes Geist teilen die Menschen und Mitbewohner im Reich
der Freiheit den ursprungslosen Voluntarismus der göttlichen
Willensfreiheit; andererseits sollen sie der normativen Autorität des
göttlichen Willens unbedingt Folge leisten. Die Lösung dieses Problems
findet Duns Scotus im Begriff der Selbstbindung der Willkürfreiheit an
absolut gültige Gesetze, denen alles Handeln, ohne Rücksicht auf
Konsequenzen, untergeordnet werden soll. Weil Duns Scotus die
ontologisch entwurzelte Moral ohne Seitenblicke auf die aristotelische Ethik
allein aus dem Verhältnis der göttlichen zur menschlichen Freiheit
betrachtet, kann er als Erster den biblischen Sinn des absoluten
Gesetzesgehorsams unverkürzt in philosophische Begriffen einholen. Damit
stellt er die begriff I_160 lichen Weichen in Richtung einer deontologischen
Moral, die sich von den Einbettungskontexten der achsenzeitlichen
Weltbilder unabhängig machen wird. Wilhelm von Ockhams radikale
Stellungnahme zum Universalienstreit markiert einen weiteren Schritt im
Zuge des Paradigmenwechsels von der Metaphysik zum
nachmetaphysischen Denken. Andererseits machen die Differenzen zu
Scotus auch schon auf erste Anzeichen eines Objektivismus aufmerksam,
der das wissenschaftliche Denken der Moderne prägen wird. Die
nominalistische Entstrukturierung der Wesensordnung macht die äußere
Natur zum Objekt einer Wissenschaft, die in der Vielfalt der uns
begegnenden Erfahrungsgegenstände nach den Spuren einer von Gott
kontingent gestifteten Ordnung sucht. Und dieser objektivierende Blick auf
die äußere Natur erzeugt dadurch, dass er sich in ähnlicher Weise auch auf
die innere Natur, auf das Seelenleben und die Subjektivität des
menschlichen Geistes richtet, jenen Gegensatz von Subjekt und Objekt, der
die Erkenntnistheorie und das Vernunftrecht zu den beiden Königswegen der
modernen Philosophie machen wird. Als ein moderner Denker profiliert sich
Ockham erst recht in der praktischen Philosophie, die er im Zuge seines
publizistischen Engagements im sogenannten Armutsstreit entwickelt. Die
Diskussion der Eigentumsfrage führt ihn zu einer avancierten Position in
der Rechtsphilosophie, während er in der Auseinandersetzung mit den
Autoritätsansprüchen des Papstes Gedanken der aristotelischen Politik im
Geiste eines christlich geprägten egalitären Individualismus
weiterentwickelt.
Mit dem evangelischen Gesetz trägt Ockham einen religiösen Begriff
befreiender Gerechtigkeit in die politische Sphäre hinein; einerseits schießt
dieser über den Sinn politischer Gerechtigkeit hinaus, andererseits bleibt er
hinter dem spezifischen Eigensinn politischer Bürgerfreiheit zurück. Aber
mit der Vorstellung, dass legitime Herrschaft immer nur eine über Gleiche
und Freie sein kann, dringt ein revolutionärer Gedanke in die vom
göttlichen und natürlichen Gesetz freigelassene Sphäre der menschlichen
Anordnung, das heißt des positiven Rechts ein. Diesen Gedanken christlicher
Freiheit übersetzt Ockham in die korporationsrechtliche Freiheit des
Kirchenvolkes als Ganzem; und da er die Kirche als eine weltliche
Organisation begreift, kann er den Gedanken des souverän entscheidenden
I_161 Kirchenvolkes auch auf das politische Gemeinwesen übertragen. Die
Frage, wer letztlich die Kompetenz besitzt, darüber zu entscheiden, welche
Verfassung die Gemeinwohlorientierung der Herrschaft am besten
garantiert und wer als Kaiser eingesetzt werden soll, beantwortet Ockham
mit der Feststellung: das Kirchenvolk beziehungsweise die Gemeinschaft
der Bürger. Marsilius von Padua gelangt zur gleichen Zeit zu einer fast
schon modernen Verfassungskonstruktion, weil für ihn mit der relativen
Entkoppelung des positiven Rechts vom evangelischen Gesetz die Frage
nach dem »guten Herrscher« obsolet wird. Unter den beiden begrifflichen
Aspekten der Erzeugung nützlicher und gerechter Gesetze auf der einen, der
exekutiven und richterlichen Anwendung der Gesetze auf der anderen Seite
löst er die jurisdiktive Gewalt des politischen Herrschers bereits in ihre
modernen Bestandteile auf. Letztlich lokalisiert er die Verantwortung für
die Legitimation der Herrschaft beim Volk als dem kompetenten
Gesetzgeber, der sowohl die Regierung wie die Rechtsprechung ans Gesetz
bindet. Es fehlen jedoch noch wesentliche Denkvoraussetzungen für einen
modernen Begriff des Verfassungsstaates. Der in der frühen Neuzeit sich
herausbildende Staat mit einer Verwaltung von juristisch geschulten
Fachbeamten verlangt einen Begriff der souveränen Herrschaftsgewalt, über
den Marsilius ebenso wenig verfügen konnte wie über den zugehörigen
Begriff von abstrakter Macht. Erst Niccoló Machiavelli wird ernüchtert die
politische Macht als eine vergegenständlichte, also manipulierbare Größe
begreifen, mit deren Erwerb, Erhaltung und Verwendung ein ebenso
rationaler wie machtbewusster Fürst kalkulieren kann. Trotz strikter
Trennung des Kirchenregiments vom Staat fehlt Marsilius auch der Begriff
einer säkularen Staatsgewalt. Er kennt zwar ein »Recht auf Unglauben«,
aber der Kaiser wird ausnahmslos als »der gläubige Herrscher« bezeichnet.
Marsilius' Denken bleibt schließlich dem zentrierten Universalismus der
Alten Reiche ebenso verhaftet wie einem Korporatismus, für den der
Vorrang der Gemeinschaft vor den individuellen Mitgliedern
selbstverständlich ist.
Eine Skizze der Ursprünge des Handelskapitalismus und der
Verrechtlichung einer depersonalisierten Herrschaft in den
oberitalienischen Städten wird schließlich die grundsätzlichen
Überlegungen zur funktionalen Ausdifferenzierung von Staat und
Wirtschaft il I_162 lustrieren. In Reaktion auf diesen Zuwachs an
gesellschaftlicher Komplexität und auf neue Phänomene wie Bauernkrieg
und Kolonialismus hat vor allem die spanische Spätscholastik dazu
beigetragen, dass sich am Beginn des 16. Jahrhunderts die
Denkvoraussetzungen für die politische Begriffswelt der Moderne erfüllen.
(d) Luther, Subjektphilosophie und nachmetaphysisches Denken. Als
Theologe bedeutet Martin Luther einen tiefen Einschnitt im Diskurs über
Glauben und Wissen, als Kirchenreformator löst er zugleich eine
konfliktreiche Entwicklung aus. In deren Verlauf wird sich die
sozialintegrative Rolle der Religion auf die neuen Familienstrukturen und
Berufsorientierungen der bürgerlichen Gesellschaften ausdehnen.
Andererseits wird die Legitimationsfunktion von der Religion auf die
säkularen Vernunftrechtstheorien übergehen. Mit Luther erfährt die
universitäre Theologie selbst einen markanten Gestaltwandel. Die
Rechtfertigungslehre löst sich nun ganz von der Metaphysik und trennt den
Akt eines vollständig verinnerlichten Glaubens von dem bis dahin
aufrechterhaltenen Anspruch der Philosophie, die Vereinbarkeit der
Glaubensinhalte mit den Erkenntnissen aus natürlicher Vernunft
nachzuweisen. Gleichzeitig lenkt Luthers Sakramentenlehre noch einmal
den Blick auf den anhaltenden Prozess der Versprachlichung des Sakralen; sie
erinnert daran, dass sich im Schmelztiegel theologischer Diskurse, die
allerdings ihrerseits von der kultischen Praxis und der Glaubensenergie der
Gemeinden zehren, die Gestalt des Sakralen selbst verändert hat – und mit
Zwinglis Deutung der Eucharistie schon an die Schwelle einer reflexiven
Selbstaufhebung des sakralen Komplexes gelangt. Im Verhältnis von
Theologie und Philosophie bereitet Luther gewissermaßen einen
Stabwechsel vor. Indem er den Glauben vom Wissen entkoppelt, zerbricht
die Theologie selbst den Rahmen, innerhalb dessen sich der Diskurs über
Glauben und Wissen bewegt hatte. Sie beendet das Zeitalter des Weltbildes
und verweist die Philosophie in die Schranken nachmetaphysischen
Denkens. Die reformatorische Theologie steht am Ende des Weges einer
hartnäckigen philosophischen Selbstbefragung. Mit der Reflexion auf die
Vernünftigkeit ihres Glaubens hatte die Theologie unbeabsichtigt die
Säkularisierung des Wissens und der Staatsgewalt vorangetrieben und
damit die eigene Machtstellung in Universität und Staat untergraben. Nun
wen I_163 det sie sich auch noch vom philosophischen Denken als solchem
ab. Mit dieser ausschließenden Konzentration auf das Eigene enthüllt sich
die Ironie ihrer Selbstentmachtung darin, dass die Theologie fortan der
jeweils zeitgenössischen Philosophie die Sprache entlehnen muss, um über
ihr Proprium verständlich reden zu können.
Das ist nicht der einzige Aspekt, unter dem die reformatorische Theologie
Weichen für das nachmetaphysische Denken gestellt hat. Die
Einschränkung der thematischen Spannweite der Theologie auf das einzige
Thema der Rechtfertigung durch Glauben, das heißt auf den Akt des
verpflichtenden Sich-Einlassens auf die göttliche Heilszusage, bedeutet
zugleich eine Ausdifferenzierung jener Erfahrungsdimension, in der die
rettende Macht des Sakralen begegnet. Wie die Herauslösung des
Tafelbildes aus dem Kultus belegt, hatte sich der Kranz ästhetischer
Erfahrungen im Zuge der Autonomisierung der Kunst schon vom
liturgischen Kontext gelöst. Mit Luthers schroffer Entgegensetzung von
Evangelium und Gesetz löst sich der Kern der religiösen Erfahrung nun
auch von der Moral. Allerdings bedeutet die pejorative Absetzung der
Gesetzesmoral vom Glauben keine Abwertung der Moral als solcher.
Vielmehr verlangt die inständige Konzentration auf das je eigene Heil des
Individuums eine umso strengere Vorsorge gegen den Egozentrismus; mit
seiner alttestamentarischen Betonung der Unbedingtheit des
Gesetzesgehorsams weist auch Luther dem Lutheraner Kant den Weg zur
deontologischen Moral. Aber aus Luthers Sicht darf die Moral nicht als das
Wesentliche zählen. Denn zur Erlangung des je eigenen Heils trägt sie
nichts bei. Aus dieser theologischen Einschränkung des Blicks auf den
Fokus des Glaubensgeschehens im Inneren einer Subjektivität, die sich vom
Äußeren der Welt radikal geschieden weiß, ergeben sich zwei
Konsequenzen. Und diese finden im philosophischen Denken ein
folgenreiches Echo.
Zum einen führt die strikte Unterscheidung zwischen den Einstellungen,
die das gläubige Subjekt jeweils coram Dei und coram mundi einnimmt, zu
einer Zwei-Reiche-Lehre. Deren Grundriss spiegelt sich, nun allerdings
egozentrisch und ohne Gottesbezug, in den Grundbegriffen der
Subjektphilosophie wider als das Gegenüber der introspektiv zugänglichen
Bewusstseinssphäre auf der einen, I_164 der Welt der vorstellbaren Objekte
auf der anderen Seite. Zum anderen lenkt Luther, ganz in der
augustinischen Tradition stehend, die Aufmerksamkeit auf die Subjektivität
einer mit Gott um ihr Heil ringenden Seele. Er beschreibt dieses
Glaubensgeschehen aus der performativen Einstellung des Gläubigen
gegenüber Gott. Damit dramatisiert er wiederum den Erfahrungsbereich,
dessen Phänomene nicht aus der epistemischen Einstellung eines Beobachters
erfasst werden können, sondern allein aus der performativen Einstellung
einer kommunikativ handelnden Person. Diese bezieht sich, in der Rolle einer
ersten Person, auf das zuvorkommende Angebot einer zweiten Person, von
deren Entscheidung ihr eigenes Heilsschicksal abhängt. Mit der reflexiven
Vergegenwärtigung dieses performativen Wissens akzentuiert Luther jene
von der Perspektive des unbeteiligten Beobachters unterschiedene
epistemische Einstellung, in der auch bisher subversive
Glaubenserfahrungen in das philosophische Denken Eingang gefunden
hatten. Im grundbegrifflichen Rahmen der Subjektphilosophie wird sich erst
Kant diesen rekonstruierenden Nachvollzug performativen Wissens für die
Untersuchung der spontanen Leistungen des erkennenden, erlebenden und
handelnden Subjekts zu eigen machen. Der Witz der
Transzendentalphilosophie besteht darin, dass sich Kant der von Luther als
intelligibel gedachten, von der Welt abgetrennten Sphäre als die des
transzendentalen Bewusstseins bemächtigt. Für Luther spielt sich in der
Innerlichkeit des Gläubigen alles Wesentliche ab – die Interaktionen mit
dem Erlösergott, die über Wohl und Wehe jedes einzelnen Individuums
entscheiden. Bei Kant tritt an die Stelle der Kommunikation zwischen
Sünder und Erlöser die gesetzgebende Tätigkeit der Vernunft.
In dem auf die Reformation folgenden Jahrhundert musste die aus dem
christlichen Rahmen heraustretende Philosophie einerseits auf die
wissenschaftliche Revolutionierung der Naturphilosophie, andererseits auf
Umwälzungen in Recht, Staat und Gesellschaft reagieren. An den Diskursen
über Recht und Politik, die von den Konfessionskriegen, der globalen
Ausdehnung des Handelskapitalismus und der Ausbildung eines modernen,
über die Grenzen Europas hinausgreifenden Staatensystems, allgemein von
der Umstellung auf eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft
angetrieben werden, I_165 ist die Philosophie unmittelbar beteiligt. Die
Theorien des Vernunftrechts, die diese Denkanstöße zu einer
Transformation des spätscholastischen Naturrechts verarbeiten, entfalten
sich bereits im grundbegrifflichen Rahmen der Subjektphilosophie. Diese
selbst ist das Ergebnis eines Paradigmenwechsels, der sich schon länger
angebahnt hatte, aber erst im Zuge der Reflexion auf die damals
aufsteigenden mathematischen und experimentellen Naturwissenschaften
durchgeführt wird; damals sind die Philosophen, ob als Naturforscher oder
im engen Kontakt mit der Forschung, noch selbst an dieser
Wissenschaftsrevolution beteiligt. Damit vollzieht die Philosophie ihren
Seitenwechsel von der Theologie zu Naturwissenschaften, die sich jedoch
mit ihrem methodisch eigensinnigen Gang auch gegenüber der
nachträglichen Reflexion einer allerdings immer noch als
»Grundwissenschaft« angesehenen Philosophie verselbständigen. Mit der
Privilegierung des fortan für Erkenntnis überhaupt maßgebenden
physikalischen Wissens stellt sich für die praktische Philosophie dann das
neue Problem einer wissenschaftlich befriedigenden Begründung
normativer Aussagen. Wenn sich, was bis dahin als »theoretische«
Einstellung gegolten hatte, auf die objektivierende Einstellung der
Beobachtung physikalisch messbarer Gegenstände beziehungsweise auf die
Selbstbeobachtung subjektiver Erlebnisse eingeschränkt wird, und wenn
zuverlässiges Wissen nur noch auf diese theoretische Weise gewonnen
werden kann, entziehen sich das Gute und Gerechte einem
selbstverständlichen Zugriff der Vernunft. Die praktische Vernunft
schrumpft vielmehr zur Rationalität eines handelnden Subjekts, das im
Lichte seiner Präferenzen eine kluge Wahl angemessener Mittel vornimmt.
Descartes zieht aus dieser existentiellen Verunsicherung die Konsequenz
einer Selbstvergewisserung durch radikalisierten Zweifel. In der praktischen
Philosophie begnügt er sich mit pragmatischen Überlegungen einer
provisorischen Moral.
Im Hinblick auf die Frage, wie sich für die normative Bindungskraft des
göttlichen Wortes ein säkulares Äquivalent finden und begründen lässt,
findet keiner der großen Philosophen des 17. Jahrhunderts eine
überzeugende Antwort. Sie können – mit der Ausnahme von Hobbes, der
sich lieber in Widersprüche verwickelt, als metaphysische Auswege zu
suchen – die praktische mit der theoretischen Phi I_166 losophie, das
Vernunftrecht mit der Epistemologie nur im Rahmen von »Systemen«
zusammenhalten, die den subjektphilosophischen Ansatz metaphysisch
ergänzen und gewissermaßen überwölben. Erst Hume und Kant werden den
subjektphilosophischen Ansatz konsequent durchführen. Innerhalb dieser
grundbegrifflichen Architektur steht das vorstellende Subjekt
beziehungsweise die leistende Subjektivität mit der Welt der vorgestellten
oder erscheinenden Objekte allein über kausal verursachte Sinnesreize in
Kontakt. Hume und Kant sind auch die ersten Exponenten eines
unzweideutig nachmetaphysischen Denkens. Aber erst vor dem
Hintergrund der Genealogie nachmetaphysischen Denkens nimmt die
Konstellation von Hume und Kant klare Konturen an. Während Hume den
empiristischen Ansatz von metaphysischen Resten entrümpelt, indem er
jene Grundbegriffe der praktischen Philosophie, die im Laufe eines langen
Diskurses über Glauben und Wissen präzisiert worden sind, einen nach dem
anderen dekonstruiert, lässt sich Kants Transzendentalphilosophie als
Versuch begreifen, dieses aus theologischen Überlieferungen osmotisch
angeeignete Erbe unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens, also ohne
Widersprüche und ohne metaphysische Anleihen auf säkulare Weise zu
rekonstruieren. Mithilfe seines innovativen Begriffs der Autonomie rettet er
die deontologische Substanz von Vernunftmoral und Vernunftrecht. An
seinem Thema der »vernünftigen Freiheit« scheiden sich die Geister aller
künftigen Generationen. Die einen halten das Thema für unwissenschaftlich
und lassen es fallen, die anderen verfolgen das Thema hartnäckig,
gleichviel, ob sie es wie Kants unmittelbare Nachfolger idealistisch oder wie
Feuerbach und Marx materialistisch verstehen.
Aber nach Kant steht die Philosophie vor zwei Herausforderungen. Das
neues historische Denken der aufsteigenden Geistes- und
Sozialwissenschaften wird einerseits das Paradigma der
Bewusstseinsphilosophie und damit die transzendentale Begründung der
Willensfreiheit in Frage stellen; und es wird andererseits ein Problem
zuspitzen, auf das schon Kant selbst – vergeblich, wie wir sehen werden –
eine Antwort gesucht hatte. Um der Autonomie der endlichen Vernunft
willen hatte Kant vom starken religiösen Begriff der rettenden
Gerechtigkeit das deontologische Moment der Gerechtigkeit abspalten
müssen, um den verpflichtenden Kern des göttlichen Ge I_167 setzes auf die
Selbstgesetzgebung des verantwortlich handelnden Subjekts umpolen zu
können. Aber wenn die Vernunftreligion die damit aufgerissene Lücke
zwischen der moralischen Verpflichtung und der Attraktionskraft des
Guten am Ende doch nicht schließen kann, muss man sich mit dem
eigentümlich schwebenden »Interesse der Vernunft« an ihrer eigenen
Verwirklichung begnügen. Damit ist der systematische Ort bezeichnet, den
der schon historisch denkende Hegel mit dem Begriff der Sittlichkeit
besetzen wird – um darin der Moral freilich nur um den Preis einer
performativ erneuerten Metaphysik einen Halt zu verschaffen. Die Schüler
Hegels begegnen jenem Komplex von Geschichte, Kultur und Gesellschaft,
der für das Aufklärungszeitalter unter dem philosophischen Gesichtspunkt
der Naturgeschichte des Menschen Relevanz gewonnen hatte, schon unter
anderen Prämissen; sie setzen die Diskussion über das Verhältnis von Moral
und Sittlichkeit im Rahmen einen neuen Paradigmas fort.
(3) Von den Weltbildern zur Lebenswelt. Der entscheidende Schritt zu
einem erneuten Paradigmenwechsel – vom Mentalismus zur
Sprachpragmatik – wird darin bestehen, dass der Primat der
Erkenntnisbeziehung des Subjekts zur Welt abgelöst wird durch Praktiken
des Zurechtkommens kommunikativ vergesellschafteter Subjekte
miteinander und mit der Welt, sodass die triadische Beziehung der
Kommunikation miteinander über etwas in der Welt an die Stelle der
Subjekt-Objekt-Beziehung rückt. Für diese kommunikative Beziehung sind
das Medium der Sprache und allgemein die symbolisch verkörperten
Sinnzusammenhänge konstitutiv. Diese symbolische Realität begegnet uns
unter dem doppelten Aspekt eines wahrnehmbaren physischen Substrates
und der darin verkörperten, dem Verstehen zugänglichen Bedeutung. In der
Nachfolge der griechischen Sprachphilosophie hatte auch die
Subjektphilosophie noch daran festgehalten, dass das Zeichen der
Bedeutung so äußerlich bleibt wie die Materie dem Geist. Die symbolischen
Formen schienen irrelevant zu sein, denn der Geist sollte durch sie unbeirrt
wie durch ein Glas ohne Schlieren hindurchschauen können. Solange sich
Subjekt und Objekt unvermittelt gegenüberstehen, kann die symbolische
Realität nicht als solche, das heißt als eine dritte, von subjektivem Geist und
objektivierter Natur unterschiedene Sphäre wahrgenom I_168 men werden.
Noch bei Kant begegnen die symbolischen Gegenstände von Kultur und
Gesellschaft dem Geist in der gleichen Weise wie die physikalisch
vergegenständlichte Natur: als empirische Bestandteile der erscheinenden
Welt. Oder der Geist betrachtet sie gleichsam »von innen« als Konstrukte
vernunftbegabter Wesen. Die Legalität einer Handlung lässt sich aus der
Beobachterperspektive als die Übereinstimmung von Handlung und Norm
feststellen, während die Moralität derselben Handlung im Hinblick auf die
pflichtgemäße Befolgung der Norm aus der Teilnehmerperspektive beurteilt
wird. Ein Mittleres, nämlich das Verständnis einer normenregulierten
Handlung als sozialer Tatsache, lässt die Subjektphilosophie nicht zu.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird mit dem Aufstieg der Geistes-
und Sozialwissenschaften ein neuer Kontinent von Tatsachen erschlossen,
sodass nun auch die Philosophie auf deren symbolische Natur aufmerksam
wurde. Inzwischen hatte sich den Zeitgenossen nicht nur der bürokratische
Eigensinn der im Staatsapparat gespeicherten abstrakten Macht als eine im
buchstäblichen Sinne »anstößige« Realität aufgedrängt, sondern ebenso der
systemische Eigensinn eines über den Markt sich selbst regelnden
Industriekapitalismus. Diese handfesten Realitäten rufen in Schottland und
England neue Wissenschaften wie die Soziologie und die Politische
Ökonomie auf den Plan. Zur gleichen Zeit entstehen vor allem in
Deutschland die historischen Geisteswissenschaften, die die Eigenart der
politisch immer stärker betonten nationalen Kulturen als Ausdruck des
jeweiligen »Volksgeistes« begreifen. Auf dieser Spur entdecken Hamann,
Herder, Schleiermacher und Humboldt, dass sich die Leistungen des
subjektiven Geistes nicht nur in der soziokulturellen Welt des objektiven
Geistes niederschlagen und verfestigen, sondern dass sich der subjektive
Geist seinerseits in den Kontexten einer jeweils besonderen Kultur und
Gesellschaft erst heranbildet. Der organisch verkörperte subjektive Geist
findet sich jeweils in symbolisch strukturierten und daher mit anderen
intersubjektiv geteilten lebensweltlichen Kontexten vor. Diese symbolische
Realität von Geschichte, Kultur und Gesellschaft begegnet den Subjekten
nicht mehr als nackte, sondern als »zweite« Natur. Diese nimmt im Medium
von Sprache und symbolischen Formen eine gegenüber den Gedanken und
den sub I_169 jektiven Erlebnissen relativ unabhängige Gestalt an – sie lässt
sich nicht mehr auf »Entitäten im Kopf« reduzieren.
Für die linguistische Wende hat nicht schon die Entdeckung dieser
symbolischen Realität den Ausschlag gegeben, sondern erst deren
angemessene Interpretation. Hegel hat zunächst versucht, den objektiven
Geist um den Preis eines Rückgriffs auf Denkfiguren des Plotin'schen
Idealismus in die Begriffe der Subjektphilosophie wieder einzuholen: Er
ordnet ihn in den Bildungsprozess einer nochmals umfassenderen, einer
absoluten Subjektivität ein, die alles scheinbar Objektive als die eigenen
Objektivationen aus sich selbst heraus setzt. Erst Hegels Schüler werden die
Gestalten des objektiven Geistes wiederum als Entitäten betrachten, die uns
wie Naturgegenstände als etwas in der Welt begegnen; aber der
methodische Zugang zu dieser soziokulturellen Welt unterscheidet sich von
der methodischen Vergegenständlichung der Natur, weil symbolische
Sinnzusammenhänge zunächst hermeneutisch aus der
Teilnehmerperspektive erschlossen und »verstanden« werden müssen,
bevor sie aus der Beobachterperspektive zu Tatsachen »versachlicht« und
erforscht werden können. Gegenüber Kant hat sich der paradigmatische
Rahmen verändert: Nun muss die Versachlichung der symbolischen Realität
nicht länger an die Vergegenständlichung des Naturgeschehens assimiliert,
das heißt auf die Dimension des Umgangs mit manipulierbaren und
messbaren Gegenständen zugeschnitten werden. Der methodische Zugang
zu symbolischen Gegenständen verdankt sich interessanterweise einer
Übertragung der – zunächst aus inständiger Bibellektüre entwickelten –
theologischen Hermeneutik auf die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig. Denn mit der hermeneutischen
Erschließung der neuen wissenschaftlichen Objektbereiche wird jene
epistemische Einstellung eines Teilnehmers an gemeinsamen Praktiken, die
zuerst bei der Auslegung der Bibel im rekonstruktiven Nachvollzug der
Glaubenserfahrungen von Mitgliedern einer religiösen Gemeinde Relevanz
gewonnen hatte, methodisch für die Erforschung profaner Lebensbereiche
fruchtbar gemacht. Diese im Diskurs über Glauben und Wissen seit langem
eingeübte Erweiterung der Beobachterperspektive durch die
Beteiligtenperspektive ist entscheidend für die Frage, ob ein komprehensiver,
über die Begründung deskriptiver Aussagen I_170 hinausreichender Begriff
der Vernunft auch unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens
beibehalten werden kann.[172]
Diese Alternative wird deutlich, wenn man sich die Aufeinanderfolge der
Paradigmen vergegenwärtigt.[173] Weltbilder konzipieren »die Welt« als
eine Totalität, die alles Faktische und alles jemals und irgendwo mögliche
Geschehen umfasst. Dieser Einheit stiftende Begriff entlehnt seine Struktur
der Vergegenständlichung des performativ gegenwärtigen Hintergrundes der
Lebenswelt, in deren Mitte sich jedes beliebige Kollektiv und jedes einzelne
seiner Mitglieder faktisch vorfindet. In mythischen Weltbildern werden die
relevanten Fragen nach Glück und Unglück zunächst mit »Geschichten«,
das heißt erzählten Interaktionen beantwortet, an denen Sterbliche und
Unsterbliche, Tiere und Götter, Naturgewalten und Geister teilnehmen. In
diesem rückblickend als »magisch« beschriebenen Denken verschränken
sich kommunikative Beziehungen mit zielgerichteten Manipulationen. In
dem aus unserer Sicht zerfließenden Kategoriennetz dieser Welt wird das
kollektiv verfügbare Wissen von Natur und sozialer Umgebung auf
übersichtliche Weise organisiert, das heißt verknüpft und in einen logischen
Zusammenhang gebracht. Im Vergleich mit dieser »flächigen« mythischen
Welt, in der sich alles Geschehen auf ein und derselben Ebene abspielt,
eröffnen die Religionen und Metaphysiken der Achsenzeit eine völlig
andere, uns wohlbekannte, differenzierte Sicht auf die Welt. Die
kategorialen »Verwirrungen« verschwinden, das magische Denken wird
überwunden, theoretische Fragen werden von pragmatischen Fragen,
kausale Erklärungen von moralischen Begründungen, Wesen von
Erscheinungen unterschieden. Trotz dieses erheblichen
Rationalisierungsschubs, trotz der wichtigen Differenzierung zwischen der
Welt im Ganzen und dem innerweltlichen Geschehen und trotz der
Einführung von Begriffen zweiter Ordnung bleibt die soziale Struktur des
Weltbildes als solche erhalten. In den grundbegrifflichen Koordinaten der
achsenzeitlichen Weltbilder, in denen das nun vergegenständlichte
innerweltliche Geschehen begriffen wird, spiegeln sich nach wie vor die
performativ gegenwärtigen Strukturen der als Hin I_171 tergrund präsenten,
uns umgebenden Lebenswelt. Es sind die ins umfassend Kosmische und
Weltgeschichtliche erweiterten Dimensionen eines erfahrbaren sozialen
Raums und einer erlebbaren historischen Zeit, in denen die den
Erscheinungen zugrundeliegende Wesensordnung transparent wird. Auf
diese Weise vergewissern uns Weltbilder der Bewohnbarkeit der Welt, die
sie zugleich gegenständlich darstellen. Diese begriffliche Struktur zerfällt mit
dem Übergang zur Subjektphilosophie. Der Verzicht der Philosophie, ein
Bild einer um uns zentrierten Welt im Ganzen zu entwerfen, bedeutet den
Übergang zum nachmetaphysischen Denken.
Aber erst die Aufklärung durchschaut den projektiven Mechanismus, mit
dessen Hilfe der intuitiv bekannte Horizont der Lebenswelt in eine
theoretisch vergegenständlichte Totalität so verkehrt wird, dass sich die
vertrauten Strukturen der Lebenswelt im kategorialen Netz des Weltbildes
widerspiegeln. Damals wenden sich vor allem französische Intellektuelle
gegen eine Kirche und gegen eine Theologie, die sich sträuben, aus der
Säkularisierung der Staatsgewalt und dem Ende des Zeitalters der
Weltbilder die fälligen Konsequenzen zu ziehen. Die Entdeckung der
projektiven Vergegenständlichung des lebensweltlichen Hintergrundes fällt
nicht zufällig zusammen mit dem Aufstieg der Humanwissenschaften, die
die symbolischen Netzwerke von Kultur und Gesellschaft in methodisch
erforschbare Tatsachen verwandeln. Für die materialistische Aufklärung ist
diese »Versachlichung« eine Bestätigung dafür, dass diese Sphäre zugleich
mit dem Verlust ihrer hinterrücks Weltbilder generierenden Kraft ihre
Relevanz verloren hat. Als Bezugspunkt der Selbstverständigung behält die
Philosophie aus dieser bewusstseinsphilosophischen Sicht allein ein
erkennendes, bedürftiges und handlungsfähiges Subjekt zurück. Sie klärt
dieses auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt über seine Vermögen,
Dispositionen und Lernfähigkeiten auf, belehrt es über die Methoden des
Erwerbs und der rationalen Verwendung von Wissen und entlässt es in eine
entzauberte, das heißt objektivierte Welt mit dem Imperativ, sich der Welt
kognitiv zu bemächtigen, um sich praktisch in ihr behaupten zu können.
Für diese Zwecke eignet sich in erster Linie das technisch verwertbare
Wissen der nomologischen Wissenschaften. Auch die
Humanwissenschaften mögen trotz ihrer geringen Prognosefähigkeit etwas
zur klugen I_172 Selbsterhaltung beitragen. Aber was ist der Beitrag der
empirischen Wissenschaften und der erkenntnistheoretischen
Selbstreflexion zur Welt- und Selbstverständigung eines Subjekts, das der
Welt im Ganzen abstrakt gegenübersteht? Das war die Stunde der
Verzweigung des nachmetaphysischen Denkens in Empirismus und
Transzendentalphilosophie, wobei diese wiederum das Tor zur Spekulation
über die Selbstbewegung des absoluten Geistes aufstößt.
Eine andere Bedeutung gewinnen die Humanwissenschaften für ein
nachmetaphysisches Denken, das sich die Grundeinsicht der linguistischen
Wende, die wechselseitige Abhängigkeit von subjektivem und objektivem
Geist zu eigen macht. Dieser Paradigmenwechsel bringt zu Bewusstsein,
dass die abstrakte Bestimmung des »Selbst« der Selbstverständigung zu
kurz greift: Die von Haus aus vergesellschafteten Subjekte sind in einen
intersubjektiv geteilten lebensweltlichen Kontext eingebettet, von dem sie
ebenso geprägt werden, wie sie ihrerseits zu dessen Reproduktion beitragen.
Gewiss, das »Selbst« der philosophischen Selbstverständigung bleibt auch
aus dieser Sicht letztlich das, was den Menschen als solchen auszeichnet und
sein Schicksal bestimmt. Aber die »Natur« des Menschen besteht in der auf
organischer Grundlage symbolisch verkörperten Mannigfaltigkeit
soziokultureller Lebensformen, die für uns nur aus der Sicht eines virtuellen
Teilnehmers, gewissermaßen inwendig, zugänglich sind. Reflektierende
Philosophen verstehen sich als situierte Subjekte, die nicht wie die
Wissenschaften einen imaginierten view from nowhere einnehmen und den
jeweils eigenen Standort verleugnen. Sie verstehen sich vielmehr als
Subjekte, die sich in einer bestimmten politischen und
weltgesellschaftlichen Konstellation als lebensgeschichtlich individuierte
Mitglieder einer politischen Gemeinschaft und einer kulturell geprägten,
wenn auch zunehmend pluralistisch zusammengesetzten Zivilisation
vorfinden und die auch als erkennende Subjekte ihre Verallgemeinerungen
im Ausgang von diesem Standort im sozialen Raum und in der historischen
Zeit vornehmen müssen. Daher ist die Philosophie schon deshalb auf eine
Kooperation mit den Geistes- und Sozialwissenschaften angewiesen, weil
sie von diesem unübersichtlichen Einbettungskomplex auch einen
versachlichenden Abstand gewinnen muss, um dem eigentlichen Ziel einer
Selbst- und Weltverständigung näher kommen zu können. Sie I_173 muss
versuchen, der Komplexität dieses selbstbezüglichen Referenten gerecht zu
werden. Abschließend soll die Erläuterung der philosophischen
Denkbewegung von Feuerbach, Marx und Kierkegaard bis zu den Anfängen
des Pragmatismus ein Licht auf dieses nachmetaphysische Denken der
Gegenwart werfen.
Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu
ermutigen, den Menschen nach wie vor als das »Vernunft habende« Tier zu
begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft
festzuhalten.[174] Seine Vernunft besteht im Gebrauch der Vernunft, und
zwar im Operieren mit allen Gründen, von denen sich der menschliche
Geist im Umgang mit Anderen und mit der Welt affizieren lässt. Dazu
gehören nicht nur empirische oder theoretisch-empirische, letztlich auf
Beobachtungen von etwas in der Welt zurückgehende Gründe; auch nicht
nur die im engeren Sinne pragmatischen, auf Wünschen und Zielsetzungen
beruhende Gründe; sondern ebenso ethische, moralische und juristische, auf
Werte und Normen des Zusammenlebens bezogene, oder ästhetische und
existentielle, von extraordinären Erfahrungen abhängige Gründe. Da es nun
»alleinstehende« Gründe nicht gibt, sondern nur inferentiell miteinander
»zusammenhängende« Gründe, sprechen wir vom »Raum der Gründe«
(Sellars/Brandom). Und da Gründe für die Wahrheit von Aussagen nur
»zählen«, wenn sie nicht nur »für mich«, sondern »für alle« vernünftigen
Wesen in derselben Weise gelten, teilen wir diesen Raum von Haus aus mit
allen anderen sprachbegabten Wesen; und weil Gründe nur »gelten«, wenn
sie auch bestritten werden können, streiten wir im Austausch von Gründen
und Gegengründen miteinander darüber, was wahr ist. Das so entstehende
idealistische Bild vom Tier, das Vernunft hat, ist bestenfalls die halbe
Wahrheit. Denn dieses Tier ist aus der natürlichen Evolution der Säugetiere
und der großen Affen hervorgegangen. Von diesen hat es die affektive
Ausstattung, die Intelligenz und bestimmte Dispositionen für ein soziales
Zusammenleben geerbt: ein »Bewusst I_174 sein«, das – zusammen mit
Veränderungen des Organismus, vor allem dem Größenwachstum des
Gehirns – in allen Bestandteilen transformiert worden ist, seitdem sich der
Modus der Vergesellschaftung durch die Umstellung der Kommunikation auf
Sprache und eine entsprechende Bereitschaft zur Kooperation verändert hat.
Was wir »Vernunft« nennen, ist nur die subjektive Spiegelung einer
soziokulturellen Lebensform sprachlich vergesellschafteter Subjekte, die nicht
nur nicht nicht lernen können, sondern die auf eine vollkommen neue,
traditionsbildende, also kumulative und sich selbst beschleunigende Art
lernen und damit die historische Gestalt ihrer Lebensformen kontinuierlich
verändern, und die ihre Lebensform, soweit diese Veränderungen auf
Lernprozesse zurückgehen, auch auf rationale Weise verbessern können. In
diesen Hinsichten ist die Lebensform von Homo sapiens mit »Fortschritten«
verschwistert – die allerdings die Dimension von Regressionen erst
eröffnen. Und mit dem Element der selbst verantworteten Regression tut sich
das auf, was wir im 20. Jahrhundert als den eigentlichen Zivilisationsbruch
erfahren haben: alles andere als einen »Rückfall in die Barbarei«, sondern
die absolut neue und von nun an jederzeit gegenwärtige Möglichkeit des
moralischen Zerfalls einer ganzen Nation, die sich nach den Maßstäben der
Zeit als »zivilisiert« betrachtet hatte. Aber weil kooperative Lernprozesse
für die Lebensformen des vernunftbegabten Tiers konstitutiv sind, ist das im
Folgenden vernachlässigte Thema der »Unvernunft in der Geschichte« nur
die grausame Bestätigung des von der Philosophie seit ihren Anfängen
reklamierten, aber heute zu Unrecht beiseitegeschobenen Themas einer
»Vernunft«, die sich – wie die Kritische Theorie schon immer betont hat –
in der Operation des begründeten Neinsagens zur Geltung bringt.
I_175 II.
Die sakralen Wurzeln der
achsenzeitlichen Überlieferungen
I_177 Der Name »Achsenzeit« rührt daher, dass sich Karl Jaspers das
Jahr 500 v. Chr. als die »Achse« vorgestellt hat, um die sich die Rotation der
Weltgeschichte gleichsam beschleunigt, weil sich während der
vergleichsweise kurzen Periode zwischen ungefähr 800 und 200 v. Chr. in
den frühen eurasischen Hochkulturen unabhängig voneinander ähnliche
Revolutionen in der Mentalität von Eliten ereignet haben.[175] Daraus sind
die »starken« bis heute nachwirkenden religiösen Lehren und
metaphysischen Weltbilder hervorgegangen. Damals entsteht aus den
mythischen Erzählungen und rituellen Praktiken so etwas wie »Religion«
im Sinne einer »gestifteten«, also in ihren historischen Ursprüngen
identifizierbaren Lehre. Religionen nehmen die Gestalt von schriftlich
kanonisierten Lehren an, die ganze Zivilisationen prägen. Sie bilden
nämlich rationalisierungs- und institutionalisierungsfähige
Kristallisationskerne für eine dogmatische Ausgestaltung differenzierter
Überlieferungen und ebenso für eine politisch einflussreiche Organisation
umfassender Kultusgemeinden. Jaspers lenkt erneut die Aufmerksamkeit
auf das welthistorisch bemerkenswerte Faktum der ungefähr gleichzeitigen
Entstehung von kosmologischen Weltbildern und Weltreligionen, um der
eurozentrischen Sicht auf Jerusalem und Athen die pluralistische These von
der Gleichursprünglichkeit der großen eurasischen Zivilisationen
entgegenzusetzen.[176] Die Achsenzeit soll zugleich einen kognitiven Schub
in der mentalen Geschichte der Menschheit markieren.
I_178 Es sind wenige Zeilen, an die heute das Forschungsprogramm der
vergleichenden Zivilisationsforschung anknüpft: »In dieser Zeit drängt sich
Außerordentliches zusammen:
– in China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der
chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und
ungezählte andere,
– in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle
philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus,
bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt,
– in Iran lebte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen
Gut und Böse,
– in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaia und Jeremias
bis zu Deuterojesaias,
– Griechenland sah Homer, die Philosophen Parmenides, Heraklit, Plato
und die Tragiker, Thukydides und Archimedes […].
Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich
des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […] Er
stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und
Erlösung. […] Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und
in der Klarheit der Transzendenz.«[177]
Jaspers erweitert den europäischen Blick auf einen kognitiven
Durchbruch »vom Mythos zum Logos«, der sich damals, wenn man die
Welt der Hochkulturen vom Nahen bis zum Fernen Osten vor Augen hat,
»weltweit« vollzieht.[178] Von der Warte philosophischer
Verallgemeinerung aus beobachtet, verwandelt sich die Weltsicht von der
Mannigfaltigkeit der narrativ verknüpften Oberflächenphänomene zur
Einheit eines theoretisch und theologisch konzipierten Weltganzen. Dieser
kognitive Schub ermöglicht die Reflexion auf die Stellung des Individuums
in dem Ganzen von Natur und Geschichte. Mit dem neuen moralischen
Bewusstsein der Verantwortlichkeit des Einzelnen, sowie im Horizont eines
neuen, über die Folge von erinnerten Generationen hinausreichenden
Zeitbewusstseins, hebt sich das individuelle Lebensschicksal von den
Geschicken des Kollektivs I_179 stärker ab und gewinnt eine eigenständige
Bedeutung. Diesen Durchbruch feiert Jaspers emphatisch als
»Vergeistigung«: »Zum ersten Mal gab es Philosophen«. Und dies eben
nicht nur in Athen. Jaspers verwendet hier einen inklusiven Begriff von
»Philosophie«, der sich nicht nur auf die griechischen und chinesischen
Weisheitslehrer bezieht, sondern auch auf die persischen und indischen
Religionsgründer sowie auf die Propheten Israels erstreckt. Jaspers versteht
den Umstand der Gleichzeitigkeit dieser parallelen Entwicklungen in
verschiedenen Kulturen als Hinweis darauf, dass sich darin eine ähnliche
geistige Verfassung artikuliert. Vor dem Hintergrund des neuen
interkulturellen Verständigungsbedarfs, der sich seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges immer stärker aufdrängte, schien sich ein implizit von allen
Achsenzeitkulturen geteiltes Vorverständnis als gemeinsame Grundlage für
eine Kommunikation im Spannungsfeld antagonistischer Weltbilder
anzubieten. Insgeheim lässt sich Jaspers bei seinem Vorhaben der
philosophischen Klärung eines gemeinsamen interreligiösen
»Grundwissens« immer noch, wenn auch mit charakteristischen
Vorbehalten, von jener Aufklärungsidee einer Vernunftreligion leiten, die er
doch überwinden wollte.[179] Er hat denn auch dieses Projekt, wie gezeigt,
nie ganz unzweideutig verfolgt.
Ich will untersuchen, ob sich mit dem genealogischen Blick auf den
gemeinsamen Ursprung von Metaphysik und Monotheismus aus der
Weltbildrevolution der »Achsenzeit«[180] auch die Perspektive des
nachmetaphysischen Denkens auf religiöse Überlieferungen verändert hat.
Nach den im ersten Kapitel angestellten Überlegungen erwarte ich, dass die
Philosophie in ihrem Verhältnis zu religiösen Überlieferungen ein
säkularistisches Selbstverständnis überprüfen muss, wenn sich die
gegenwärtige Konstellation von nachmetaphysischem Denken,
Wissenschaft und Religion als Ergebnis eines Lern I_180 prozesses begreifen
lässt, worin »Glauben« und »Wissen« (auf ihrem okzidentalen
Entwicklungspfad) reziprok verstrickt waren. Zur Erinnerung: Diese
genealogische Spur nehmen wir gewiss als moderne »westliche«
Zeitgenossen auf. Aber ein nachmetaphysisches Denken, das sich über die
eigene Genealogie hat aufklären lassen, muss, wie gezeigt, zu der Einsicht
gelangen, dass es unter Bedingungen der multikulturellen Weltgesellschaft
nur dann die Autonomie der gemeinsamen Vernunft wirksam verteidigen
kann, wenn es sich ohne Verleugnung seiner okzidentalen Herkunft
lernbereit und als ein Teilnehmer unter anderen auf den interkulturellen
Diskurs einlässt. Die Aufmerksamkeit auf die Revolutionierung der
Denkungsart darf allerdings nicht zu einer intellektualistischen Einseitigkeit
in der Betrachtung der Entwicklung religiöser und metaphysischer
Weltbilder verführen.
Über dem kognitiven Durchbruch, den die Lehren der Achsenzeit
herbeiführen, dürfen wir nicht vergessen, dass sich in den religiösen
Überlieferungen die Einheit der Weltdeutung mit einer kultischen Praxis
erhält. Ohne dieses Proprium hätte sich die Religion nicht bis heute
eigensinnig gegenüber dem säkularen Denken behaupten können.
Aufgrund ihrer Verwurzelung im sakralen Komplex bewahrt die Religion
einstweilen die Verbindung zu einer archaischen Erfahrung, für die im
Laufe der Moderne alle übrigen kulturellen Sensorien unempfindlich
geworden sind (1). In der Absicht, diese Erfahrungsquelle aus
philosophischer Sicht in der Menschheitsentwicklung zu lokalisieren und in
ihrem Sinngehalt zu erschließen, gehe ich zunächst auf die Wurzeln der
achsenzeitlichen Weltbilder in Mythos und Ritus zurück (2). Mit dem
kursorischen Durchgang durch die einschlägigen anthropologischen
Theorien zum Verhältnis von Mythos und Ritus versuche ich sodann, im
Anschluss an die klassischen Deutungen von Durkheim und van Genepp,
den intrinsischen Sinn des Ritus zu entschlüsseln. Nach meiner Hypothese
spiegelt sich darin die Verarbeitung einer interessanten, die
Naturgeschichte des Menschen prägende Ambivalenz, die im sprachlichen
Modus der Vergesellschaftung strukturell begründet ist. Diese Vermutung
legt einen Exkurs zum Ursprung der Sprache nahe. Weil die kommunikative
Vergesellschaftung der Intelligenz mit einer Entdifferenzierung der
Antriebsstruktur Hand in Hand geht, ist der sprach I_181 liche Modus der
gesellschaftlichen Integration von Haus aus für Krisen anfällig. Im Lichte
dieser Konstellation erschließt sich ein bestimmter Sinn des sakralen
Komplexes (3). Schließlich werde ich am Beispiel der frühen Hochkulturen
und im Zusammenhang mit der Entstehung staatlich organisierter
Gesellschaften an die Symbiose von »Heil und Herrschaft« erinnern.
Anhand der Ausdifferenzierung verschiedener Wissensformen entwickele
ich sodann eine Hypothese über Fortschritte sowohl des kognitiven wie des
sozial- und moralkognitiven Wissens, die schließlich auch die
Erklärungskraft der inzwischen weiterentwickelten Mythologien
überfordern. Das erklärt, warum kognitiv überlegene achsenzeitliche
Weltbilder entstehen, in deren Licht sich die Symbiose von Heil und
Herrschaft auflöst (4).
I_182 1. Kognitiver Durchbruch
und Bewahrung des sakralen
Kerns
(1) Schon Jaspers hatte sich von den religionssoziologischen Studien Max
Webers anregen lassen; aber erst Shmuel N. Eisenstadt macht den
geschichtsphilosophischen Begriff der »Achsenzeit« zum Kern eines
interdisziplinären Forschungsprogramms.[181] Der Begriff hat auch im
sozialwissenschaftlichen Kontext seine Fruchtbarkeit entfalten können, weil
Religionen nicht nur in der kognitiven Dimension von Weltbildern
aufgehen, sondern für die Strukturierung der frühen soziokulturellen
Lebensformen im Ganzen konstitutiv gewesen sind und daher von
Anbeginn das Interesse der Gesellschaftstheorie gefunden haben.[182] Die
vergleichende Zivilisationsforschung konzentriert sich (wie schon Max
Weber) auf Judentum, Hinduismus und Buddhismus, Konfuzianismus und
Taoismus; aber anders als Weber schließt sie in dieses Ensemble als
weiteren Fall die griechische Metaphysik ein.[183] Ob der Zoroastrismus in
die »achsenzeitlichen« Lehren aufgenommen werden soll, ist angesichts der
unklaren Datierung des Stifters und einer vergleichsweise fragmentarischen
Überlieferung umstritten (obgleich es ein Iranist war, der als Erster
I_183 Ende des 18. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf die merkwürdige
Tatsache des ungefähr gleichzeitigen Auftretens Zarathustras und der
anderen großen Gründerfiguren gelenkt hat).[184] Vor allem sind sich die
Experten über den monotheistischen Charakter dieser Lehre uneins.[185]
Entscheidend ist überall die Frage der Emergenz einer Einheit stiftenden
Perspektive, die es den neuen intellektuellen Eliten erlaubte, das
innerweltliche Geschehen zu transzendieren, im Ganzen auf Distanz zu
bringen und zu objektivieren.[186] Dem Achsenzeitkonzept liegt die
Überzeugung zugrunde, das sich der menschliche Geist ohne die
Konstruktion eines Gottesstandpunktes jenseits der Welt beziehungsweise
ohne die Referenz auf den weltimmanenten Fluchtpunkt einer Einheit und
Zusammenhang stiftenden kosmischen Gesetzmäßigkeit nicht aus den
Fängen der mehr I_184 oder weniger narrativ geordneten Flut eines von
Gottheiten und magischen Gewalten beherrschten Geschehens befreien
könnte. Ein transzendenter Bezugspunkt ist nötig, um einerseits in
theoretischer Hinsicht ein Bild von der Welt oder der Weltgeschichte
beziehungsweise den Weltaltern im Ganzen zu entwerfen und andererseits
in praktischer Hinsicht eine im Ansatz universalistisch angelegte Ethik zu
begründen.[187]
Bereits 1964 hat Robert N. Bellah ein entsprechendes evolutionäres
Muster für die strukturelle Veränderung von religiösen Überzeugungen und
Praktiken vorgeschlagen. Ausgehend von Talcott Parsons Definition,
versteht er »›Religion‹ als ein Bündel symbolischer Formen und
Handlungen, die den Menschen zu den letztendlichen Bedingungen seiner
Existenz in Beziehung bringen«.[188] Er unterscheidet sodann von der
Mythenwelt, den magischen Praktiken und dem Ahnenkult der
Stammesgesellschaften zunächst die »archaische Religion« der frühen,
bereits staatlich organisierten Hochkulturen. Hier hat sich schon der
Abstand der Menschen zu den mythischen Gestalten und Gewalten
vergrößert. Die rituellen Interaktionen mit Göttern, denen in einer nun
hierarchisch ausdifferenzierten Götterwelt Opfer dargebracht werden,
nehmen Züge von kultischer Anbetung und Verehrung an. Aber auch in
diesen reicher ausgestalteten und stärker artikulierten Formen der
mythischen Erzählungen be I_185 gegnen sich Menschen und Götter, wenn
nicht auf Augenhöhe, so doch noch als Bewohner und Akteure derselben
Welt.
Die »historischen Religionen«, die Bellah später mit den
Errungenschaften der Achsenzeit identifizieren wird,[189] haben mit diesem
Monismus gebrochen. Sie entdeckten unter der Oberfläche der
handgreiflichen und narrativ dargestellten Phänomene den Einheitspunkt,
von dem aus die Tiefenstruktur oder ein Jenseits der Welt als die eigentliche
Realität zugänglich wird. Diese dualistisch angelegten religiösen und
metaphysischen Weltbilder bringen die entmythologisierte Alltagswelt auf
Distanz zu einem heilsgeschichtlich oder kosmologisch begriffenen Jenseits,
das die Gestalt eines unsichtbaren Schöpfer- und Erlösergottes oder eines
zugrundeliegenden, nur in seinen Manifestationen greifbaren Weltgesetzes
annimmt. Die Vorstellungen und magischen Praktiken der Volksreligionen
verschwinden nicht. Sie werden jedoch in die neuen, von Propheten und
Weisen gestifteten Lehren und in neue kultische Formen integriert und
verändern damit ihren Sinn. Der Kultus wird nun um die Auslegung
heiliger Schriften organisiert und verleiht den alten, oft immer noch
magisch besetzten Riten eine andere Bedeutung. In Gebet und meditativer
Versenkung kann der Gläubige im Rahmen seiner Glaubensgemeinschaft
eine persönliche, alle innerweltlichen sozialen Kontexte überschreitende
Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen herstellen. Denn die neue
Reflexionsstufe erlaubt nicht nur den theoretischen Durchgriff durch die
Welt der Erscheinungen, sondern verstärkt zugleich ein ethisches
Selbstverhältnis – das Bewusstsein persönlicher Verantwortung und das
Streben nach individuellem Heil.
Schließlich verfolgt Bellah die religiöse Entwicklung in seinem frühen
Text von 1964 auf dem schmalen westeuropäisch-nordamerikanischen
Entwicklungspfad über die Reformation, die die verbliebenen anschaulich-
symbolischen Brücken zwischen der profanen und der sakralen Welt
einreißt, aber den moralisch radikalisierten Bezug des individualisierten, auf
sich zurückgeworfenen Einzelnen zur Transzendenz auf die innerweltliche
Praxis als Bewährungsinstanz verweist, bis in die zeitgenössische Moderne.
Dieses letzte Stadium I_186 begreift Bellah damals aus der Sicht der liberalen
Theologie von Schleiermacher bis Paul Tillich als eine fortschreitende
Ethisierung, als die Auflösung aller orthodoxen Formen religiöser Praxis in
die entinstitutionalisierten Gestalten einer existentiell verstandenen
Religiosität. Hier braucht uns der selektive Blick auf eine inzwischen
vergangene Gegenwart nicht zu interessieren. Bellah geht in dieser
berühmten Studie von einem amerikanisch geprägten Verständnis des
zeitgenössischen Christentums aus und hat vor allem die Ursprünge, wenn
auch nicht ausschließlich des monotheistischen, so doch des
erlösungsreligiösen Glaubens im Blick. Aber auch später sieht er, im
Rückblick auf vier Jahrzehnte der komparativen Forschungen zur
Achsenzeit, keinen Grund, an den Grundzügen des evolutionären Musters
mehr als nur einige Akzente zu verändern.[190] In dieser jüngeren Arbeit
bezieht sich Robert Bellah auf die These von Jan Assmann zur gescheiterten
»monotheistischen Reform« im Ägypten Echnatons[191] und hebt am
Beispiel des alttestamentarischen Glaubens an den einen, unsichtbaren Gott
noch einmal den entscheidenden kognitiven Schritt hervor, der sich zur
selben Zeit auch in der chinesischen, indischen und griechischen Kultur auf
je andere Weise vollzogen hat. Echnatons Ikonoklasmus hatte zwar die
mythischen Götterfiguren vorübergehend von ihren Podesten gestürzt, aber
die gewaltsame Inthronisierung des einen, immer noch sichtbaren Gottes
bricht noch nicht mit der mythischen Denkweise als solcher. Solange die
Macht des einen Gottes in der Person des Königs verkörpert bleibt, fehlt
nämlich dem Volk, das an diesen Gott glaubt, fehlt auch dem einzelnen
Gläubigen der transzendente Bezugspunkt. Die »monotheistische« Episode
in der ägyptischen Geschichte erzeugt noch nicht den abstrakten
Standpunkt eines radikal jenseitigen Gottes, von dem aus auch noch das
Verhalten des Herrschers selbst, seine Proklamationen, sein Tun und Lassen
kritisch beurteilt werden können.
Erst die Revolution der Denkweise, die sich ungefähr ein
Jahrtau I_187 send später in den Achsenzeitkulturen auf je verschiedene
Weise vollzieht, erfüllt die für eine intellektuelle Herrschaftskritik
notwendigen Bedingungen. Gleichviel ob die dualistische Weltsicht wie in
den Erlösungsreligionen Israels oder Indiens stärker oder wie in der
griechischen Philosophie und den chinesischen Weisheitslehren schwächer
ausgeprägt ist, vollzieht sich in allen diesen Weltbildern ein kognitiver
Durchbruch zu einem transzendenten Standpunkt, der sowohl einen
kognitiven wie einen sozial- und moralkognitiven Blickwechsel einleitet. Der
Bezug auf das Eine verschafft dem Betrachter die Distanz von dem Vielen,
das in der Welt geschieht, erlaubt die Differenzierung des Innerweltlichen von
der Welt im Ganzen und macht in einer immer weitergehend
entmythologisierten Welt gesetzmäßige Zusammenhänge transparent. Der
Schritt von der Innenansicht des narrativ vergegenwärtigten mythischen
Geschehens zur Objektivierung des Ganzen erlaubt eine Differenzierung
zwischen Wesen und Erscheinungen, die die expressivistische Unterscheidung
zwischen der Geisterwelt und deren Manifestationen ablöst und magischen
Vorstellungen den Boden entzieht.
Mit dieser Reflexionsstufe entsteht ein neuer Typus von Erklärungen,
dessen explanative Kraft weit über die der kontextgebundenen Erzählungen
hinausreicht. Der totalisierende Blick, der auf diese Weise zu den
zugrundeliegenden Strukturen oder Wesenheiten vordringt, bewährt sich
nicht nur in der theoretischen Dimension der Weltbetrachtung und
Welterklärung, sondern auch und vor allem in den sozialmoralischen
Dimensionen des alltäglichen Umgangs der Gesellschaftsmitglieder
miteinander und der Begegnung von Herrschern und Bürokraten mit dem
Volk. In den intellektuellen Eliten entwickeln sich universalistische Formen
des Denkens und Handelns und vergleichsweise individualisierte Formen des
sozialen Verkehrs und der persönlichen Lebensorientierung. Diese
Veränderungen sind für die imperiale Rekonstruktion der frühen
Hochkulturen und das Entstehen eines neuen Typus von Stadtstaaten
funktional und haben daher vor allem die Aufmerksamkeit der Soziologie
auf sich gezogen. Im Anschluss an die stilisierende Darstellung von Robert
N. Bellah und vorgreifend auf eine detailliertere Darstellung, können wir
den kognitiven Schub der Achsenzeit abstrakt unter räumlichen, sachlichen
und zeitlichen Gesichtspunkten als Perspektiven I_188 erweiterung,
zunehmende Reflexivität und wachsendes Kontingenzbewusstsein beschreiben
und im Hinblick auf die drei Komponenten der Lebenswelt – Kultur,
Gesellschaft, Persönlichkeit – folgendermaßen bestimmen:
– Auf der Ebene der kulturellen Überlieferung erweitert sich mit der
Bezugnahme auf einen transzendenten Fluchtpunkt die Perspektive derart,
dass die nun entstehenden »Weltbilder« eine Reflexion auf die Stellung des
Menschen im Ganzen des Seienden und ein neues historisches Bewusstsein
von der Kontingenz alles innerweltlichen Geschehens widerspiegeln.
– Auf der Ebene der sozialen Beziehungen ermöglicht diese
Horizonterweiterung einen universalistischen Standpunkt, von dem aus
einerseits allgemeine, alle Gläubigen gleichermaßen bindende Normen und
andererseits historisch mögliche Alternativen zur jeweils bestehenden
politischen Ordnung in den Blick gelangen.
– Auf der Ebene der individuellen Person entsteht mit dem Bezug zur
Transzendenz ein vereinzelnder und zugleich reflektierter Blick auf sich
selbst, sodass einerseits Freiheit und persönliche Verantwortung,
andererseits das heilsgeschichtliche Interesse am Gelingen des eigenen
Lebens zu Bewusstsein kommen.
Mit dieser im Großen und Ganzen wohl zutreffenden Beschreibung der
drei wesentlichen kognitiven Errungenschaften der Achsenzeit wird freilich
die vorschnelle Schlussfolgerung suggeriert, als seien mit dieser Revolution
der Weltbilder bereits die Weichen für jene okzidentalen
Rationalisierungsprozesse gestellt, die zur kulturellen und gesellschaftlichen
Moderne und zum nachmetaphysischen Selbstverständnis dieser westlichen
Moderne geführt haben. Aber diese Perspektive, aus der ich selbst einmal
den normativen Gehalt der Moderne beschrieben habe,[192] erfasst
offensichtlich nicht vollständig das Potential von Kulturen, die zunächst
nicht in jene Rationalisierungsprozesse der westlichen Welt hineingezogen
worden sind. Einerseits haben sich aus der okzidentalen Doppelgestalt eines
hellenisierten Christentums jüdischen Ursprungs und einer theologisch
verwahrten Metaphysik griechischen Ursprungs moderne
Wissen I_189 schaft und Philosophie, positives Recht und Vernunftmoral,
autonome Kunst und Kunstkritik als jeweils eigene und eigensinnige
kulturelle Wertsphären herausgebildet; andererseits bewahren religiöse
Glaubensgemeinschaften und die theologischen Interpretationen des
gelebten Glaubens einen Kern, der von diesen rationalisierungsfähigen
säkularen Gehalten der westlichen Kultur bisher nicht aufgesogen worden
ist. Allerdings erfährt die Religion im Zuge der Herausbildung moderner
westlicher Gesellschaften nicht nur in soziologischer Hinsicht eine
funktionale Spezifizierung, auch in sachlicher Hinsicht nimmt sie eine
spezifizierte Gestalt an. In der Moderne haben die Kirchen nicht nur alle
weltlichen Funktionen, die über die Verwaltung der Heilsgüter und ihre
geistlichen Aufträge wie Bibelverkündigung und Seelsorge hinausgehen,
verloren. Auch in der religiösen Erfahrung selbst scheint sich der sakrale
Komplex aus Lehre und Kultus im Zuge der Verinnerlichung des Glaubens
spezifiziert zu haben. Der religiöse Erfahrungsbereich des Umgangs mit dem
Sakralen hat einerseits den Bereich des Ästhetischen aus sich entlassen –
die Kunst ist autonom geworden. Auf der anderen Seite hat die Theologie
das empirische Wissen der institutionalisierten Wissenschaft und das
praktische Wissen in Gestalt der säkularen Gesellschaftsmoral und des
Vernunftrechts der Philosophie überlassen. Die religiöse Ethik hatte im
Hinblick auf das Heilsversprechen und auf eine »rettende« Gerechtigkeit
immer schon mehr und anderes im Auge als die in der aristotelischen
Tradition fortgeführte Reflexion auf das »gute Leben« und das in der
kantischen Ethik vom Guten abgelöste »abstrakt Gerechte«. Diese sachliche
Spezifizierung der Glaubensdimension kommt einer reflektierten und mit
der Aufklärung kompatiblen Form des Glaubens entgegen, ohne dadurch ihr
Proprium verlieren zu müssen.
(2) Worin besteht dieses exklusiv Eigene der Religion? Offensichtlich
nicht in dem kognitiven Bezug zum Ganzen der Welt und des Menschen,
dem religiöse Weltbilder ihre lebensorientierende Kraft verdanken. Denn
auch in der Gestalt nachmetaphysischen Denkens erfüllt die Philosophie,
wie wir gesehen haben, nach wie vor eine ähnliche Funktion der
Selbstverständigung. Gewiss, das Philosophieren versteht sich als eine
wissenschaftliche Tätigkeit; aber die prädikative Bestimmung der
Wissenschaftlichkeit philosophischer Argu I_190 mentation hat nicht den
Sinn, dass die Philosophie in Wissenschaft aufgeht und eine unter anderen
»normalen« Wissenschaften darstellt. Während die Wissenschaften,
einschließlich der Humanwissenschaften, ihre Aufmerksamkeit exklusiv auf
einen begrenzten und wohldefinierten Gegenstandsbereich der Welt
richten, behält die Philosophie zugleich das aufklärende Ergebnis
entsprechender Lernprozesse im Auge. Aufklärung ist nicht selber
wissenschaftliche Erkenntnis; sie erklärt vielmehr, was eine jeweils neue
Erkenntnis »für uns«, das »Selbst« unserer Selbstverständigung bedeutet.
Auch das nachmetaphysische Denken bewegt sich noch in einer Dimension,
wo Veränderungen des Welt- und des Selbstverständnisses miteinander
kommunizieren können.
Denn die Philosophie steht nicht nur im Austausch mit den
Wissenschaften. Gerade die begriffsanalytische Arbeit der Logik und der
Sprachphilosophie, der Erkenntnis- und der Handlungstheorie verrät die
Nähe zum Commonsense, nämlich zum alltäglichen Können der kompetent
urteilenden, sprechenden und handelnden Subjekte. Sie unterhält zum
intuitiven Hintergrund der performativ gegenwärtigen Lebenswelt eine
intime, aber zugleich kritische Beziehung, denn sie macht das
Gebrauchswissen, das wir »immer schon kennen«, explizit und entreißt es
damit dem Vollzugsmodus des Alltagswissens.[193] Auf diese Weise sichert
das Verhältnis zur Lebenswelt auch dem nachmetaphysischen Denken noch
einen Bezug zum Ganzen – allerdings nicht mehr zum theoretisch
vergegenständlichten Ganzen des Kosmos oder der Welt- und
Heilsgeschichte, sondern zum vortheoretisch gegebenen Kontext des
Ganzen unserer historischen, sozialen und kulturellen Umwelt. Die gelebte
Lebenswelt ist eine andere als die Welt der Weltbilder. Allein, dieser
fehlende Weltbildcharakter begründet noch keine spezifische Differenz
zwischen nachmetaphysischem Denken und Religion. Denn im Westen hat
die Theologie nicht viel anders als die Philosophie auf die Veränderungen
der modernen Lebensbedingungen mit dem Rückzug vom Charakter eines
Weltbildes reagiert, das heißt mit einer Anpassung religiöser
Überlieferungen und praktizierter Glaubensinhalte an das
I_191 Wissensmonopol der Wissenschaften, an den religiösen Pluralismus
und an die rechtsstaatlich-demokratische Verfassung des säkularen Staates.
Die weltanschauliche Substanz des Glaubens ist inzwischen so weit
abgemagert, dass diese säkularen Errungenschaften nur noch in
fundamentalistischen Kreisen kognitive Dissonanzen hervorrufen. Im
Extremfall spitzt die theologische Aufklärung das »religiöse
Weltverhältnis« auf den Bezug zu einem anonymen »Unbedingten« zu, das
sich vom »Gott der Philosophen«, beispielsweise von Jaspers'
»Umgreifenden« kaum mehr unterscheidet. Allerdings wird Gott immer
noch als eine rettende Instanz gedacht, die die affirmative Bewältigung eines
radikalisierten Endlichkeits- und Kontingenzbewusstseins erlaubt. Gemeint
ist nicht die kognitive Unbedingtheit von kontexttranszendierenden
Geltungsansprüchen, die wir trivialerweise mit Aussage-, Soll- und
Erlebnissätzen verbinden, sondern eine via negationis bestimmte
Gegenmacht, die verspricht, die unausweichlichen Risiken der menschlichen
Existenz aufzufangen.[194]
Nach dieser Lesart bezieht sich die religiöse Sinngebung auf das
Bewusstsein der »Befristung« unserer Lebenszeit und der
»Erschöpfbarkeit« der physischen, materiellen und kulturellen
Lebensressourcen. Auch wenn die Erlösungsorientierung in den
achsenzeitlichen Weltbildern verschieden stark ausgebildet und im antiken
Judentum zunächst nicht mit einer Jenseitsorientierung verbunden war,
verspricht die Religion auf die ein oder andere Weise Versöhnung mit der
ultimativen Schwelle des Todes; sie tröstet über die existentiellen
Erfahrungen von Schmerz und Krankheit, Not, Einsamkeit und
Verzweiflung; sie stellt einen Ausgleich für die Fallibilität des menschlichen
Geistes und das Scheitern an der Realität, das heißt das Erleiden des
Unabwendbaren, in Aussicht.[195] Wer freilich die Religion vom
nachmetaphysischen Denken nur noch durch eine affirmative I_192 Antwort
auf die Frage nach der möglichen Akzeptanz der Endlichkeit einer vom
Kontingenzbewusstsein geprägten Existenz unterscheiden möchte,[196] lädt
zu einem funktionalistischen Verständnis der Religion geradezu ein. Besteht
der Sinn von Religion nur in der erfolgreichen Bewältigung
lebensgeschichtlicher Kontingenzen? Wenn das zuträfe, müsste diese
funktionalistische Einsicht den jeweiligen Glauben an der Wurzel angreifen
– und längst zerstört haben. Denn lebensdienliche Illusionen zerfallen,
sobald sie als solche durchschaut sind. Solange es die Religion verdient, als
zeitgenössische Gestalt des Geistes ernst genommen zu werden, kann eine
Sinngebung, die die Gläubigen überzeugt, nicht in einer ihrer Funktionen
aufgehen.
Das nachmetaphysische Denken neigt dazu, das der Religion
eigentümliche, für ein religiöses Weltverständnis konstitutive Moment zu
verfehlen, solange es nur die kognitiven Strukturen in den Blick nimmt, die
in der Weltbildrevolution der Achsenzeit hervorgetreten sind. Diesem Blick
entgleitet der sakrale Komplex, der sich keineswegs nur aus den literarisch
überlieferten, durch Interpretation angeeigneten und dogmatisierten
Lehrinhalten zusammensetzt, sondern eben auch aus dem
gemeinschaftlichen rituellen Vollzug der existentiell gelebten
Glaubensinhalte. Religion spiegelt sich nicht primär in einem Weltbild,
sondern verkörpert sich in jener Praxis, mit der die Gemeinde der Gläubigen
die Inhalte ihres Glaubens performativ bezeugt. Wenn dieser Ritus die
eigentliche Quelle der Überzeugungskraft ist, muss er für die Beteiligten
einen nachvollziehbaren intrinsischen Sinn haben, ganz unabhängig davon,
welche Funktion ihm aus der Beobachterperspektive zugeschrieben werden
kann.[197]
I_193 Die Selbstthematisierung der Gesellschaft, die der Ritus durch den
Vollzug von Handlungen leistet, nimmt der Mythos auf dem Wege einer
kognitiven Selbstverständigung des Kollektivs vor. Er strukturiert das
Wissen, das im Weltumgang akkumuliert wird, im Rahmen eines
identitätsstabilisierenden Weltbildes. Dessen Struktur war zunächst durch
die einzig verfügbare narrative Form der Erklärung geprägt, wandelt sich
aber im Laufe der Achsenzeit, als aus dem inzwischen verschriftlichten und
zum Pantheon erweiterten sowie hierarchisierten Götterhimmel der frühen
Hochkulturen jene anspruchsvollen Religionen entstehen, die bis heute
Bestand haben. Während der Kultus dieser Weltreligionen nach wie vor
rituelle Züge trägt, die starke Gemeinsamkeiten aufweisen, differenzieren
sich allerdings Inhalte und Heilswege der religiösen Traditionen und die
entsprechenden Glaubensmodi nach verschiedenen Richtungen. Das wirft
zunächst die Frage auf, ob sich unser Begriff von Religion überhaupt in der
bisher geübten Weise verallgemeinern lässt.
(3) Exkurs zum Begriff »Religion«. Wir haben uns bisher dem modernen
Gebrauch des Begriffs »Religion« angeschlossen, ohne die Frage zu klären,
ob die archaischen und frühhochkulturellen Mythologien mit den
achsenzeitlichen Religionen und diese wiederum untereinander so viele
Gemeinsamkeiten aufweisen, dass alle diese Überlieferungen unter unseren
zunächst christlich geprägten Begriff von »Religion« passen. Tatsächlich
hat sich erst im okzidentalen Aufklärungsdiskurs, zumal vor dem
Hintergrund der Reformation mit ihrer Zuspitzung der Opposition von
»Glauben« und »Wissen« ein spezifisch westlicher Allgemeinbegriff des
»religiösen« Glaubens herausgebildet.[198] Ein Begriff, der mit diesen
speziellen Konnotationen besetzt ist, dürfte sich kaum auf alle anderen
Kulturen übertragen lassen. Die Achsenzeit lenkt gewiss die
Aufmerksamkeit auf strukturelle Gemeinsamkeiten der metaphysischen
und religiösen Weltbilder, die damals entstehen. Aber lässt sich im Hinblick
auf I_194 die große Varianz der Glaubensinhalte und Praktiken überhaupt
ein allgemeiner Religionsbegriff definieren? Um diesem Zweifel an einer
okzidental voreingenommenen Begriffsverwendung zu begegnen, richtet
Martin Riesebrodt seinen anthropologisch geschulten Blick auf elementare
Vorstellungen und Praktiken der Gläubigen und begründet die Universalität
des Religionsphänomens mit der Durkheim'schen Beobachtung, dass alle
bekannten Kulturen unmissverständlich zwischen sakralen und profanen
Handlungsweisen und entsprechenden Lebensbereichen unterscheiden.[199]
Wie weit auch immer mythische Erzählungen und rituelle
Verhaltensweisen den Alltag der frühesten Gruppenbildungen und
Stammesgesellschaften durchdrungen haben, immer haben die Zwänge zur
Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens die Menschen in erster Linie zu
einem pragmatischen Weltumgang genötigt. Sie müssen
Herausforderungen einer überraschenden Umgebung kooperativ und auf
sich gestellt bewältigen; um diese Kerne effektiver Zusammenarbeit bilden
sich profane Lebensbereiche, während kultische Praktiken aus diesen
alltäglichen Aktivitäten und Arbeitszusammenhängen herausfallen. Sie sind
als solche leicht zu identifizieren, weil sie sich von der Alltagspraxis durch
die auffällige Selbstbezogenheit einer Kommunikation abheben, die ohne
erkennbare Adressaten in sich selber kreist (wobei die unsichtbaren
Adressaten der höheren Gewalten allerdings durch ikonische
Repräsentationen vergegenwärtigt werden). Nicht nur diese aus der
Beobachterperspektive festgestellte Selbstbezüglichkeit ritueller Praktiken
spricht für die Eigenständigkeit einer religiösen Sphäre. Es gibt auch
hinreichend viele Belege dafür, dass sich jene religiösen Gemeinschaften,
die einander zur Zeit der frühen Hochkulturen begegnet sind, gegenseitig
als solche und in ihren Differenzen wahrgenommen haben. Offensichtlich
erkannten die Beteiligten einander als Konkurrenten um die gleiche Sorte
von Heilsgütern. Jedenfalls haben sie sich innerhalb desselben
Diskursuniversums, das sich durch seinen charakteristischen Bezug auf
virtuelle Mächte und Akteure von anderen, alltäglichen Diskursen abhebt,
gegeneinander profiliert.
Martin Riesebrodt selbst verwendet »Religion« nur als
Handlungs I_195 begriff. Er bezieht diesen auf genau die Praktiken, in denen
die Beteiligten mit höheren Gewalten oder, wie er sagt, »übermenschlichen
Mächten« Kontakt aufnehmen, um »Unheil abzuwehren, Krisen zu
bewältigen und Heilzustände herbeizuführen. Es geht bei den Religionen
weniger um ›das Heilige‹ als um Heil und Unheil sowie um Heilsspender
und Heilsvermittler.«[200] Dieser nützliche Vorschlag mag für den
Soziologen hinreichen. Unter dem Gesichtspunkt unserer philosophischen
Fragestellung hat er zwei Schwächen: Zum einen operiert er mit dem
Glauben an erklärungsbedürftige Größen wie »übermenschliche Mächte«,
ohne den Sinn dieser Existenzunterstellung aufzuklären; zum anderen
verleitet ein Religionsbegriff, der sich auf Verhaltensaspekte beschränkt, zu
einer überinklusiven Verwendung, weil er markante Unterschiede in der
Entwicklung, das heißt der fortschreitenden Artikulation von
Glaubensinhalten und Sublimation von Heilswegen vernachlässigt – einer
Entwicklung, die sich in verschiedenen Religionen auf ganz ähnliche Weise
vollzieht.
Die Unterstellung der Existenz von schicksalhaft eingreifenden
kosmischen Gewalten, von Seelen oder Geistern, persönlichen Göttern oder
unpersönlichen Mächten hat in den Religionswissenschaften funktionale
Erklärungen nahegelegt. In den einschlägigen Beschreibungen drängen sich
zwei Aspekte immer wieder auf: erstens die penetrante, für die Beteiligten
unverkennbare Präsenz von unsichtbaren Mächten und Akteuren, die in die
Lebenswelt des Gläubigen effektiv eingreifen; zweitens die erwartete
lebensdienliche Funktion dieser Eingriffe. Die Erwartungen der Gläubigen,
die sich an die Interventionen der Götter knüpfen, sind stereotyp: Die
Interventionen der Götter sollen die Art von Fehlschlägen, die handelnde
Subjekte erfahren, wenn sie mit ihren Plänen am Widerstand der
unerbittlichen Kontingenzen einer unkontrollierbaren Umwelt scheitern,
verhüten oder wenigstens kompensieren. Daher scheint der Grund auf der
Hand zu liegen, warum die religiöse Vorstellungswelt von einer Teleologie
beherrscht wird, die – durch die fragilen Pläne der Sterblichen
hindurchgreifend – jene unberechenbare Lücke ausfüllt, die das kontingente
Weltgeschehen zwischen den Handlungs I_196 absichten und den faktisch
eintretenden Handlungskonsequenzen aufreißt. Die Eingriffe der günstig
gestimmten Götter sollen den Abgrund an Ungewissheit zwischen dem
Entschluss zum Kampf und dem errungenen Sieg, zwischen dem Antritt der
gefährlichen Reise und der glücklichen Ankunft, zwischen der Zuversicht,
mit der wir einen neuen Tag oder ein neues Lebensjahrzehnt beginnen, und
deren ungewissem Ende überbrücken.
Empirische Erklärungsansätze (und entsprechende Deutungen religiöser
Vorstellungen als Projektion, Ideologie, Illusion, Selektionsvorteil,
neurologischer Effekt und so weiter) können wir hier auf sich beruhen
lassen, weil uns die Religion zunächst als eine gegenwärtig gebliebene
Gestalt des Geistes aus der Perspektive der Beteiligten selbst interessiert.[201]
Aus dieser Perspektive lassen sich die funktionalen Beschreibungen als
Kontingenzbewältigungspraxis einleuchtend in die subjektiv sinnvolle Praxis
der Beschwörung von Heil oder der Abwehr von Unheil übersetzen.
Allerdings bleibt uns Martin Riesebrodt eine Erklärung dieses Sakralen
selbst, des Glaubens an und der Begegnung mit übermenschlichen Mächten
schuldig. Dazu werde ich später die Hypothese entwickeln, dass sich eine
zutiefst ambivalente Gattungserfahrung, nämlich die für den evolutionären
Ursprung von Homo sapiens entscheidende Umstellung auf einen
umwälzend neuen Modus der Vergesellschaftung in der schwächeren Form
von Resonanzen immer dann wiederholt, wenn das gesellschaftliche
Kollektiv durch unerwartet unbeherrschbare Umstände in Krisen stürzt
oder der Einzelne an Bruchstellen des Lebenszyklus aus dem Gleichgewicht
gerät. Die Regeneration einer Gesellschaft nach der Überwindung
anomischer Zustände oder I_197 die Wiedergeburt des sozialen Selbst nach
dem Untergang einer überwundenen Identitätsstufe werden zugleich als
katastrophische und rettende Prozesse erfahren, die sich schicksalhaft an den
vergesellschafteten Subjekten vollzieht. Beide Elemente, die ohnmächtige (!)
Erfahrung der rettenden (!) Befreiung aus einer vernichtenden (!) Gefahr
spiegeln sich im ambivalenten, gleichermaßen von Erschrecken und
Ehrfurcht geprägten Modus des Umgangs mit sakralen Gewalten.
Vielleicht sollte ich besser sagen, dass das performativ und imaginativ
bewältigte Sakrale aus dieser erschütternden Krisenerfahrung von
Untergang und Rettung entspringt. In jeder krisenhaften Erschütterung des
sozialen Zusammenhaltes wiederholt sich die ambivalente
Ursprungserfahrung eines zum Zerreißen angespannten sozialen Bandes
zwischen den vereinzelten, gleichzeitig auf Kooperation mit den anderen
und letztlich doch auf sich selbst angewiesenen Individuen.[202] Worin
könnte sich das glückliche Wiedereinspielen einer aus der Balance
geratenen, aber tragenden Intersubjektivität besser ausdrücken als im
Glauben an das Walten sakraler, die jeweils I_198 eigenen menschlichen
Kräfte transzendierender Mächte? Der Ritus lässt sich als Versuch begreifen,
zu der als überwältigend erfahrenen sakralen Gewalt, die Menschen Rettung
aus größter Not verheißt, Abstand und eine eigene Einstellung zu finden,
um in der Form einer praktischen Bewältigung des Widerfahrenen auch ein
Stück Handlungsfähigkeit und damit die verlorene Fassung
zurückzugewinnen.[203] In dieser Lesart ist im Kern des Religiösen auch ein
Freiheitsgewinn angelegt, wobei ich »Freiheit« nur im kommunikativen
Rahmen von Beziehungen reziproker Anerkennung verstehe, nicht als
nackte Willkür im Dienste schierer Selbstbehauptung, sondern als
Autonomie. Doch dazu später.
Die andere Schwäche der pragmatischen Religionstheorie ist die
Kehrseite ihrer Stärke. Weil sie die Aufmerksamkeit auf die praktische
Dimension der Abwehr und Beschwörung des Heils lenkt, tritt die
Dimension der geglaubten Inhalte in den Hintergrund. Aber der kognitive
Schub der Achsenzeit ist an der Evolution der Weltbilder sehr viel
deutlicher abzulesen als an den nachhinkenden Veränderungen der rituellen
Praktiken, die es auch gibt. Die Betonung ritueller Praktiken verleitet zu
Überverallgemeinerungen, beispielsweise wenn Martin Riesebrodt die
asketischen Praktiken und Geschichten eines Franz von Assisi in einem
Atem mit den zeremoniellen Handlungen und Trancezuständen von
Schamanen nennt.[204] Wir müssen sowohl die Perspektive der
Schriftgelehrten und der Intellektuellen auf die zu interpretierenden
heiligen Schriften einnehmen als auch den Blick der Priester und der
Funktionäre auf die Einhaltung der rituellen Vorschriften und den der Laien
auf die im Volk eingewöhnten Praktiken. Sonst entgeht uns eine interne
Dynamik der Weltbildentwicklung, die sich aus dem Zuwachs an profanem
Wissen und kognitiver Entwicklung speist. Mit dem kollektiven
Selbstverständigungsanspruch der Religion verbindet sich die Notwendigkeit,
das in der Gesellschaft verfügbare profane Wissen jeweils in den
begriff I_199 lichen Rahmen des Heilswissens einzuführen und zu einem
Welt- und Selbstverständnis zu integrieren.[205]
Ich schlage also vor, die kulturanthropologische Bestimmung des
Religionsbegriffs in zwei Hinsichten zu präzisieren. Erst ein evolutionäres
und sprachtheoretisches Verständnis der Existenzunterstellung
»übermenschlicher Mächte«, und der ambivalenten Erfahrung des sakralen
Umgangs mit ihnen, erklärt den inneren Zusammenhang ritueller Praktiken
mit der Erschütterung und Regenerierung gesellschaftlicher Solidarität. Und
»Religion« erschöpft sich nicht im rituellen Umgang mit Heil und Unheil;
ebenso wichtig wie die performative ist die kognitive Selbstthematisierung
der Gesellschaft in identitätsstabilisierenden Weltbildern, wobei die
Dynamik des Wissenszuwachses in dieser kognitiven Dimension zur
Erklärung der Weltbildrevolution der Achsenzeit beiträgt. Die Betonung der
Inhalte der religiösen Überlieferungen darf andererseits nicht zu einer
wissenssoziologischen Verengung des Blicks auf die religiöse Evolution
führen. Sonst würden wir den gleichen Fehler wie Edward B. Tylor und die
frühe britische Anthropologie begehen, die den Mythos als eine Art
unausgegorenes und fehlerhaftes Gegenstück zur modernen Wissenschaft
begriffen haben.[206] Die Religion begegnet dem säkularen Denken mit ihrer
Verwurzelung in sakralen Schichten vielmehr als ein fremd gewordenes Alter
Ego. Jeder Kultus, auch die reflektierte Gestalt der inzwischen zu Andacht
und Gebet sublimierten Gemeindepraxis, begegnet der Philosophie als
Zeugnis und Residuum einer fernen, in die archaische
Ausgangskonstellation zurückreichenden Periode der
Menschheitsentwicklung. Säkulare Bewusstseinsformationen erklären sich
geradezu dadurch, dass sich ihnen das Sakrale als das schlechthin
Irrationale entzieht. Die Religion zeichnet sich aus ihrer eigenen
Perspektive gegenüber der Vernunft dadurch aus, dass sie in der
epistemischen Dimension von Weltbildern und Ethiken eben nicht aufgeht,
sondern aus der internen Verbindung mit Kultus und Gemeindebildung
I_200 jene solidarisierende Kraft schöpft, die einer aufs Deontologische
zugespitzten praktischen Vernunft, wie wir noch sehen werden, fehlt.
Die Weltbilder der Achsenzeit erben ihre interne Verbindung mit
kultischen Praktiken von einem sehr viel älteren Komplex, der sich aus
mythischen Erzählungen und rituellen Handlungen zusammensetzt. Dieser
sakrale Komplex hatte schon in den archaischen Hochkulturen die
Grundlage für ein Bündnis zwischen politischen Herrschern und Priestern
gebildet. Die Verschmelzung religiöser Überlieferungen und Praktiken mit
der Selbstdarstellung politischer Herrschaft hatte die Legitimation beschafft,
die dann die religiösen und metaphysischen Weltbilder für die Politik der
Alten Reiche geliefert haben. In der westlichen Moderne ist diese Rolle
schließlich von der Philosophie übernommen worden. Auch seither sind
jedoch Sakramente und Verhaltensvorschriften rituellen Ursprungs für das
Überleben der Religionsgemeinschaften konstitutiv geblieben. Am Schicksal
entinstitutionalisierter Formen der allein auf Erleben gegründeten
Religiosität scheint sich zu zeigen, dass Religionsgemeinschaften ohne den
Kern einer liturgischen Praxis kaum Überlebenschancen haben. Diese fremd
gewordene Praxis hält, auch wenn sie nur als ein archaischer Stachel im
Fleisch der Moderne sitzt, einstweilen für die säkulare Umgebung die
Erinnerung an ein starkes Transzendenzbewusstsein wach. Die am Leitfaden
des Diskurses über Glauben und Wissen zu entwickelnde Genealogie
nachmetaphysischen Denkens wird auf die Frage hinauslaufen, ob die
Vernunft aus sich selbst die Kraft behält, aus dem glimmenden Bewusstsein
einer universal verbindenden Normativität immer wieder den befreienden
Funken einer Transzendenz von innen zu entfachen.
I_201 2. Mythos und Ritus
(1) Vollzug des Ritus, Darstellung und Aufführung des Mythos. Wenn wir nun
diesen sakralen Komplex in seiner Bedeutung für die Beteiligten verstehen
und nicht allein aus der Sicht des sozialwissenschaftlichen Beobachters
funktional erklären wollen, müssen wir auf die kulturanthropologischen
Beobachtungen von sogenannten modernen Naturvölkern zurückgehen, aus
denen sich Rückschlüsse auf die bis ins zwölfte vorchristliche Jahrtausend
zurückreichenden neolithischen Lebensformen ziehen lassen. Denn in den
späteren literarischen Zeugnissen und archäologischen Befunden der besser
zugänglichen frühen Hochkulturen spiegelt sich bereits die bewusste
Rekonstruktion eines älteren Bestandes an Mythen und Riten, welche im
Rahmen dieser Schriftkulturen (etwa seit 3000 v. Chr.) auf der Grundlage
eines sich herausbildenden historischen Bewusstseins und unter dem
Einfluss der Interessen staatlich organisierter Herrschaft bearbeitet worden
sind. Die Anfänge des sakralen Komplexes reichen allerdings auch hinter
die jüngere Steinzeit noch weit zurück. Die ältesten in Australien
aufgefundenen Felsenmalereien, die auf Kultstätten schließen lassen,
werden auf ein Alter von 50 000 Jahren datiert, während die erste bei Homo
sapiens nachgewiesene Bestattung etwa 70 000 bis 100 000 Jahre alt sein soll.
Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten Funde von
Schmuckgegenständen. Das unverwüstliche Material dieser Muschelperlen
regt zu der Überlegung an, dass es noch viel ältere mythische Erzählungen
und rituelle Handlungen gegeben haben mag, die in den flüchtigeren
Medien von Rede, Gesang und Tanz keine Spuren hinterlassen konnten:
»Die wenigsten modernen Naturvölker bemalen Höhlen. Ihre Geschichten,
Riten und Gesänge existieren, aber wären für spätere Archäologen kaum
greifbar. Federschmuck, hölzerne oder aus anderen Pflanzenmaterialien
hergestellte Masken und Kostüme oder Körpermalerei erhalten sich schlecht
über die Jahrtausende […].«[207] Da I_202 her wird über ältere, hinter die
archäologischen Funde zurückreichende Ursprünge des sakralen Komplexes
in der Periode der Entstehung von Homo sapiens und Homo
neanderthalensis aus dem älteren Homo heidelbergensis (vor 300 000 bis
100 000 Jahren) nur spekuliert.
Mythische Erzählungen und rituelle Praktiken gehören zusammen, auch
wenn sie in historischer Zeit nicht mehr in jedem Falle zusammen auftreten.
Für uns liefern mythische Erzählungen vielfach erst den Schlüssel zum
Verständnis der Riten. In solchen Fällen handelt es sich um eine
Übertragung semantischer Gehalte von dem einen in ein anderes
Kommunikationsmedium. Den strukturierenden Grundbegriff eines mit
übermenschlichen Kräften ausgestatteten »Geistes«, der sich in vielen
Gestalten manifestiert, auch auf unsichtbare Weise anwesend sein kann,
verbindet die mythische Vorstellungswelt offensichtlich mit der rituellen
Beschwörung höherer Mächte. Dieser Praxis legen wir den Sinn der
Abwehr von profanen Gefahren und der Bewältigung der existentiellen
Erfahrung von Geburt und Initiation, Einsamkeit, Krankheit und Tod bei.
Begräbnisriten scheinen das zu Bewusstsein gelangte Faktum der
Endlichkeit der menschlichen Existenz beschwichtigen zu sollen. Und die
Vorstellung von der Seele, die dem leblosen Körper entweicht, widerruft die
schwer verständliche und noch schwerer erträgliche Endgültigkeit des
Abschiedes von den Nächsten. Mythische Erzählungen bergen im Medium
der Sprache gewissermaßen den Sinn, den Riten bereits in ihren eigenen
symbolischen Darstellungsformen von Musik, Tanz, Pantomime und
Körperbemalung, in vokalen und sichtbaren Gesten performativ ausdrücken.
Mythen erklären den Sinn eines ursprünglich wahrscheinlich autarken, aus
sich selbst verständlichen rituellen Verhaltens. Der Ritus dient schon von
Haus aus der Abwehr von Unheil sowie der Beschwörung von Heil im
Hinblick auf die Bewältigung von kritischen Situationen (von
Naturkatastrophen, Hungersnöten, Epidemien oder feindlichen Angriffen,
allgemein von Gefahren für die physische und seelische Integrität) oder im
Hinblick auf die Gewährleistung lebenswichtiger Funktionen (wie der
erwünschten Witterung, ausreichender Ernten, stabiler gesellschaftlicher
Verhältnisse, also physischen und seelischen Wohlergehens). Der
unverkennbar archaische Charakter und die Übersetzungsbedürftigkeit der
rituel I_203 len Praktiken wirft die Frage auf, ob sich Riten und Mythen
gleichursprünglich mit dem Auftreten von Homo sapiens entwickelt haben
oder ob das rituelle Verhalten sogar hinter die evolutionäre Schwelle der
Entstehung der im engeren Sinne sprachlichen Kommunikation
zurückreicht – »im engeren Sinne« soll heißen: einer Kommunikation auf
der Entwicklungsstufe grammatischer Sprachen.[208] Denn die rituelle
Praxis stellt, wie wir noch sehen werden, selber eine im weiteren Sinne
»sprachliche«, das heißt symbolisch vermittelte Kommunikation dar.
In der kulturanthropologischen Forschung ist die Prioritätsfrage, wenn
ich recht sehe, immer noch umstritten. Die narrative Form erklärt, warum
sich Mythen von Haus aus für Berichte und Erklärungen, also zur
kognitiven Verarbeitung des beobachteten, im praktischen Umgang
erfahrenen Weltgeschehens eignen. Weil sich solche Erfahrungen in der
grammatischen Form von Erzählungen zu einem Ganzen organisieren
lassen, betrachten wir diese Erzählungen auch dann primär unter dem
Darstellungsaspekt, wenn es sich nicht um Kosmogonien oder
Götterepisoden handelt. Demgegenüber begegnen uns Riten vor allem unter
dem performativen Aspekt der Ausführung von genau schematisierten
Handlungen. Im Vollzug bleiben die semantischen Inhalte trotz des
ausdrucksstarken Charakters der verwendeten Symbole und Bilder implizit.
Denn ungeachtet der verbalen Zusätze und eingestreuten Kommentare sind
rituelle Verhaltensweisen wesentlich symbolische Handlungen auf einer
interaktionsgebundenen, propositional noch nicht ausdifferenzierten
Kommunikationsstufe.
Für eine erste sprachtheoretische Annäherung an dieses Phänomen gibt
die Verwandtschaft zwischen rituellen Verhaltensweisen einerseits,
institutionell gebundenen illokutionären Akten (wie dem Eid, der
Ernennung, der Trauung oder der Übereignung von Eigentum, des
Vertragsabschlusses und so weiter) andererseits Aufschluss; beide haben
einen zeremoniellen Charakter, gehorchen also vorge I_204 schriebenen
Mustern. Im Fall der Sprechhandlungen sind es funktional spezifizierte
gesellschaftliche Institutionen wie die Ehe, das Gerichtsverfahren, eine
etablierte Amtshierarchie und so weiter, die für einen entsprechenden
zeremoniellen Akt den Hintergrund bilden und ihm die Kraft verleihen,
einen internen Zusammenhang zwischen dem Aussagesinn der
gesprochenen Worte und spezifischen Erlebnissen, Evaluationen und
Verpflichtungen zu stiften. Zwar ist auch dieser Zusammenhang
semantischer Art, aber anders als der propositionale Gehalt eines
freistehend geäußerten Satzes ist die situationsabhängige Semantik des
Sprechakts, der zum Beispiel eine Eheschließung, einen höchstrichterlichen
Urteilspruch oder einen Vertrag besiegelt, mit einer eigentümlichen
Energie, einer bindenden Kraft aufgeladen – in ähnlicher Weise wie beim
Vollzug eines Ritus. Auch diese Akte können, indem sie etwas aussagen,
stereotype Gefühle und wertende Einstellungen auslösen und soziale
Bindungen erzeugen. Wie im Falle der ästhetischen Erfahrung nimmt dabei
der geäußerte »Gedanke« die komplexe Färbung einer situationsabhängig
aktualisierten »Erfahrung« an, welche die kognitiven Gehalte
gewissermaßen mit expressiven, evaluativen und normativen
Konnotationen einkreist und konkretisiert. Freilich lässt sich der Sinn von
Institutionen, die den »ordnungsgemäß« oder »verfahrensgerecht«
ausgeführten Sprechhandlungen solche Energien mitteilen, selber in der
nüchternen Sprache von (wie immer auch expressiv besetzten) sozialen
Verhaltenserwartungen ausbuchstabieren – auch dann noch, wenn sie nicht
auf expliziten Verabredungen und rechtlichen Satzungen beruhen.
Hingegen lässt sich der Sinn von Riten so wenig wie der von Kunstwerken
diskursiv ausschöpfen. Im rituellen Verhalten versteifen sich vielmehr die
Inhalte durch die Amalgamierung mit einem verständlichen, aber
unvermeidlich implizit bleibenden Bedeutungsüberschuss dieser Art zu
existentiellen Gewissheiten.
Ein genauerer Vergleich mit den institutionell autorisierten
Sprechhandlungen zeigt, was der rituellen Praxis noch fehlt – sowohl ein
aus dem illokutionären Modus ausdifferenzierter Aussagegehalt wie auch
der sinngebende institutionelle Hintergrund, dem jene Sprechhandlungen
ihre illokutionäre Kraft entlehnen. Aber offensichtlich besitzen Praktiken
wie die Initiation junger Stammesmitglieder, Opferkulte, Regenzauber oder
Neujahrsriten die Kraft, von sich aus bei I_205 de Defizite auszugleichen, also
implizite Bedeutungsgehalte und normative Verbindlichkeiten zu
generieren. Maurice Bloch, der rituelles Verhalten unter
sprechakttheoretischen Gesichtspunkten analysiert, betont den Aspekt der
Einschränkung durch einen vorgeschriebenen Kode. Die Standardisierung
der Verhaltensmuster nötigt die Teilnehmer durch die Verbindung eines
minimalen Aussagegehalts mit einer überwältigenden illokutionären Kraft
zum Aufgehen in einer Situation, die sie gemeinsam erzeugen, ohne über
deren propositionale Gehalte narrativ zu verfügen. Auch die Mitglieder eines
Chors können nicht während ihres Gesangs zur Partitur des Liedes Stellung
nehmen: »Man kann nicht mit einem Lied argumentieren.«[209]
Gewiss, die Kulturanthropologie muss sich seit ihren Anfängen im
19. Jahrhundert auf Beobachtungen zeitgenössischer Ethnien stützen. Für
rituelle Praktiken in Gesellschaften, die noch nicht über eine grammatische
Sprache verfügt hätten, gibt es keine empirischen Belege. Gleichwohl hat
die suggestive These des schottischen Orientalisten William R. Smith, der
im Ritus eine gegenüber dem Mythos die menschheitsgeschichtlich
ursprünglichere Formation erkennen will, etwas für sich: »[D]ie alten
Religionen hatten größtenteils keine festen Glaubensüberzeugungen,
sondern bestanden vollständig aus Institutionen und Praktiken. Gewiss
folgen Menschen nicht einfach habituell bestimmten Praktiken, ohne diesen
eine Bedeutung zuzuschreiben; aber in aller Regel war die Praxis streng
reglementiert, wohingegen die ihr beigelegte Bedeutung äußerst vage war;
darüber hinaus wurde ein und derselbe Ritus von verschiedenen Personen
auf verschiedene Weise gedeutet, ohne dass sich daraus Fragen der
Orthodoxie oder Heterodoxie ergeben hätten.«[210] Smith erinnert an das
implizite Wissen, das sich in Fertigkeiten verkörpert. Das praktische
Wissen, wie man Klavier spielt oder Ski fährt, kann sehr wohl
funktionieren, auch wenn wir es nicht explizit, in der Form von Aussagen,
ausdrücken können. Alle unsere elementaren, lebensweltlich erworbenen
Kompetenzen – wie man Handlungen ausführt, I_206 grammatische Sätze
formt und angemessen verwendet, logische Schlüsse zieht, im Kopf rechnet
und so weiter – genießen im Hinblick auf ihre Entstehung Vorrang vor der
Rekonstruktion des zugrundeliegenden Wissens, von dem wir uns bei
diesen Praktiken leiten lassen: »[D]ie Praxis ging der doktrinären Theorie
voraus. Die Menschen bilden allgemeine Verhaltensregeln, bevor sie
anfangen, allgemeine Prinzipien zu formulieren […].«[211]
Smith behauptet nicht nur den genetischen Vorrang des performativen
»Wissens-wie« vor der Explikation eines zunächst nur implizit gewussten
Aussagegehalts des »Wissens-was«; er ist der Auffassung, dass Mythen in
der Regel bereits auf Versuche einer nachträglichen Erklärung von
inzwischen unverständlich gewordenen Praktiken zurückgehen: »[I]n fast
allen Fällen leitete sich der Mythos aus dem Ritus ab und nicht umgekehrt
der Ritus aus dem Mythos; […] und für gewöhnlich handelt es sich dabei
[beim Mythos] um eine Erklärung, die nicht möglich gewesen ist, bevor
nicht der ursprüngliche Sinn der Anwendung [einer rituellen Praxis] mehr
oder weniger in Vergessenheit geraten war.«[212] Offenbar sind die
empirischen Belege für diese Theorie, die eine lang anhaltende Kontroverse
ausgelöst hat, nicht zwingend;[213] einige Anthropologen begreifen rituelle
Praktiken eher als eine Inszenierung der erzählten mythischen Vorgänge,
während andere sogar eine Unabhängigkeit der beiden Genres voneinander
behaupten. Nach meinem Eindruck kann die Kontroverse nicht entschieden
werden, weil grundsätzlich die Schwierigkeit besteht, mythische
Überlieferung eindeutig zu datieren oder gar zweifelsfreie Belege für eine
kommunikative Verwendung ikonischer Symbole zeitlich vor der
Beherrschung einer grammatischen Sprache beizubringen. Auch aus der
Rekonstruktion von Stufen der symbolischen und der sprachlichen
Kommunikation, die ich vornehmen werde, lässt sich kein empirisch
zwingendes Argument gegen die Thesen, sei es der Gleichursprünglichkeit,
sei es der Unabhängigkeit der beiden Genres voneinander, gewinnen. Aber
es steht fest, dass I_207 das rituelle Verhalten einer Kommunikationsform
angehört, die gegenüber der grammatisch ausgebildeten Sprache
mythischer Erzählungen die geringere Komplexität aufweist. Andererseits
liefern Struktur und Inhalt der Mythen Anhaltspunkte dafür, dass der
Kontext dieser Erzählungen auf einen internen Zusammenhang mit
rituellen Praktiken schließen lässt. Ich tendiere zu der Annahme, dass
Mythen die erste Gestalt der Versprachlichung rituell verkapselter sakraler
Gehalte darstellen. Dieser fortgesetzte Prozess der »Versprachlichung« – im
Sinne einer Entbindung propositionaler Gehalte aus ihrer Verkapselung im
rituellen Kode – ist bereits Sache der religiösen, gleichzeitig Weltwissen
verarbeitenden Weltbilder. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich die
Philosophie in der westlichen Kultur die bereits versprachlichten religiösen
Gehalte durch eine Übersetzung in ihre eigene, seit dem 17. Jahrhundert
sogar säkulare Begrifflichkeit aneignen kann.[214]
Doch zunächst zur Darstellungsfunktion dieser Weltbilder. Claude Lévi-
Strauss begreift mythische Erzählungen zwar nicht wie Edward B. Tylor als
ungeschickte und irrationale Vorformen einer wissenschaftlichen
Weltbetrachtung, aber er beschreibt sie als eine durchaus rationale, wenn
auch im Vergleich mit späteren Interpretationen andersartige, an die
konkrete Anschauung gefesselte Verarbeitung von Erfahrungen. Dieses
»wilde Denken« führt ihm zufolge zu einem eigenen Typus von
Weltbildern, die sich im logischen Aufbau von den Weltdeutungen
empirisch-analytischen Denkens unterscheiden. Lévi-Strauss beschränkt
sich wie Tylor auf die kognitive Dimension dieser Vorstellungswelt, aber
sein strukturalistischer Blick richtet sich nicht primär auf die Inhalte,
sondern auf den kategorialen Aufbau, gewissermaßen die Grammatik dieser
Weltbilder.[215] Die strukturierenden Leistungen des wilden Denkens
stützen sich auf die elementare Operation des Unterscheidens. Anhand
eines beein I_208 druckend reichen Materials zeigt Lévi-Strauss, wie die
narrativen Zusammenhänge auf dem Wege der binären Klassifikation
sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften aus einem intellektuell motivierten
Vergleich verschiedener Erfahrungsbereiche entstehen. Das systembildende
wilde Denken fügt freilich die vielfältigen Klassifikationen auf andere Weise
als das übliche analytische Denken zusammen.[216] Aus analytischer Sicht
können konträre Gegensätze, wie die von Bruder und Schwester, Norden
und Süden, oben und unten, kalt und heiß, erst recht die grundlegenden
Oppositionen von Natur und Kultur, von Inzest und Exogamie, von Rohem
und Gekochtem, Wildem und Gezähmtem auf einer jeweils höheren Stufe
der Abstraktion in entsprechenden Oberbegriffen aufgehen. Aber weil der
Mythen bildende Geist der konkreten Anschauung verhaftet bleibt, sind der
hierarchischen An- und Einordnung der Terme in Begriffsbäumen enge
Grenzen gezogen. Für die Bildung eines umfassenden Systems böte sich
beispielsweise das abstrakte Sein des Parmenides oder das Ein und Alles der
kosmologischen Weltbilder an, jedenfalls eine Perspektive, aus der sich die
Vielfalt der fluktuierenden innerweltlichen Phänomene von einer
zugrundeliegenden Struktur des Seienden im Ganzen differenzieren ließe.
Aber das wilde Denken ist in dem Sinne »konkret«, dass es die
Mannigfaltigkeit der Phänomene, zusammen mit den Klassifikationen
selbst, auf derselben begrifflichen Ebene zu einem Ganzen organisieren
muss. Weil es nur »Oberfläche« und keine Tiefenstrukturen unter der
Oberfläche kennt, müssen die binären Begriffe im Horizont eines
zurückweichenden, als solchen unbegriffenen Ganzen über ein jeweils
konkretes Anderes miteinander »vermittelt« werden. Ein Phänomen wird
mit dem anderen über jeweils dritte, aber ebenso konkrete Erscheinungen
vermittelt, nämlich über ein inklusives Netz von anschaulich erfassbaren
Relationen – wie Ähnlichkeit und Kontrast, räumliche Distanz und
Berührung, Simultaneität und zeitliche Aufeinanderfolge, horizontale und
vertikale Richtungen und so weiter. Die gewissermaßen »dialektische«
Einfügung von begrifflichen Gegensätzen in einen umfassenderen
Zusammenhang, der sich als Totalität dem Begriff entzieht, spiegelt sich in
der dynamischen Spannung aufrecht I_209 erhaltener, aber stabilisierter und
nur insoweit überwundener Ambivalenzen. Und das Gespür für solche
Ambivalenzen verrät, dass es sich bei der Totalisierung, die das (wilde)
Denken vollzieht, nicht um eine ausschließlich kognitive Operation handelt.
Auch Lévi-Strauss erwähnt die psychodynamische Seite der
totalisierenden Denkbewegung, wenn er die dialektische Vermittlung
existentiell relevanter Gegensätze – beispielsweise von Leben und Tod,
Inzest oder Exogamie, Krieg und Frieden, Adoption oder Opferung eines
Bruders oder einer Schwester – behandelt.[217] In den Mythen der nord-
und südamerikanischen Indianer verrät das wilde Denken, indem es um das
Thema des »Rohen und Gekochten«, also um die Zäsur der Zähmung des
Feuers zum Zwecke der Zubereitung von Speisen kreist,[218] die
psychodynamische Spannung der Selbstabgrenzung des Menschen vom
Tier, der Kultur von der Natur. Aber weil sich Lévi-Strauss wie Tylor
wesentlich auf die kognitive Dimension der Weltbilder konzentriert, besteht
seine eigentliche Leistung in der Analyse der welterschließenden Funktion
begrifflicher Klassifikationen. Diese werden wie ein »apriorisches Gitter«
über alle empirischen Situationen gelegt, die Berührungspunkte aufweisen.
Dabei tritt die sozialpsychologische Funktion in den Hintergrund, die
mythische Weltbilder neben der kognitiven Strukturierung des
Weltgeschehens offensichtlich auch erfüllen. So sehr Lévi-Strauss die
intellektuelle Neugier als Motiv für die begriffliche Systematisierung des
anschaulich erworbenen Weltwissens hervorhebt, so wenig geht er auf die
sozialpsychologische Funktion von Weltbildern ein: Diejenigen, die sich
gegenseitig ihre Mythen erzählen und diese gemeinsam inszenieren,
vergewissern sich damit zugleich ihrer kollektiven Identität. Mythen sind
nämlich auch Weltbilder, in denen sich das kollektive Selbstverständnis
einer Gruppe artikuliert. Die Nötigung, die Welt zu verstehen, ist von
Anbeginn mit dem Bedürfnis verzahnt, sich selbst zu verstehen und dadurch
einen Halt in der Welt zu finden. In seinem Weltbild schaut sich das
Kollektiv selber an, und zwar gleichzeitig in den Strukturen seines
gesellschaftlichen Zusammenlebens und als integraler Bestandteil der
natürlichen Um I_210 welt. Aus dem reflexiven Bezug auf das Selbst des
erzählenden Kollektives wird erst verständlich, warum die mythischen
Erzählungen die jeweils eigene Kultur im Aufbau der Natur widerspiegeln.
In einer Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen
Vernunft erklärt Lévi-Strauss selber die totalisierende Bewegung des wilden
Denkens aus dem Motiv der Angleichung des Fremden und Unbekannten
ans vertraute Eigene. Die dialektische Vernunft erfahre in der
»unerbittlichen Weigerung des wilden Denkens, daß ihm irgend etwas
Menschliches (und selbst Lebendiges) fremd bleibe, ihr eigentliches
Prinzip«.[219] Erst dieses Motiv der Sicherung der kollektiven Identität –
und nicht allein intellektuelle Neugier – erklärt die obsessive begriffliche
Verklammerung der binären Klassifikationen der
Verwandtschaftsbeziehungen, der räumlichen Organisation des
Zusammenlebens, der Produktionsweise und so weiter mit den
Klassifikationen des beobachteten Naturgeschehens: »Eine Gesellschaft, die
ihre Segmente nach dem Oben und Unten, dem Himmel und der Erde, dem
Tag und der Nacht definiert, kann in die gleiche Gegensatzstruktur auch
soziale oder moralische Seinsweisen einbeziehen: Versöhnung und Angriff,
Frieden und Krieg, Gerechtigkeit und Polizei, Gut und Böse, Ordnung und
Unordnung und so weiter.«[220] Unter dem Gesichtspunkt der Artikulation
und Befestigung der kollektiven Identität von Mitgliedern einer sozialen
Gruppe verschiebt sich der Blick von der kognitiven Verarbeitung der
Erfahrungen mit der Welt auf die Kommunikation des Selbstverständnisses
im erlebten Weltumgang. Und der anthropologische Blick verschiebt sich
von der begrifflichen Struktur der Weltbilder auf deren semantische Inhalte.
[221] Das von Lévi-Strauss erwähnte Mo I_211 tiv der lebensweltlichen

Assimilation des bedrohlichen Fremden ans vertraute Eigene erklärt auch


die kategoriale Verschränkung des Naturgeschehens mit der Ebene der
einfachen Interaktionen, auf der sich das Leben in verwandtschaftlich
organisierten Gesellschaften abspielt. Dadurch entsteht das Netz von
Korrespondenzen zwischen Natur und Kultur. Aus dem Umstand, dass sich
die mythische Welt auf ein und derselben Interaktionsebene spiegelt,
erklären sich zwei auffällige Züge – zum einen die Prominenz der
Erzählform, das heißt die Organisation des ganzen Geschehens in
Handlungskategorien, und zum anderen der Monismus, der die
Unterscheidungen zwischen Dingen und Personen, Sinn- und
Sachzusammenhängen, instrumentellem und kommunikativem Handeln
nivelliert, das heißt auf dieselbe Ebene projiziert. Ebenso unscharf wie
zwischen diesen Objektbereichen und den Einstellungen gegenüber
manipulierbaren Gegenständen einerseits und ansprechbaren Partnern
andererseits wird in mythischen Erzählungen zwischen internen Sinn- und
externen Sachzusammenhängen unterschieden: Kausalität und Schuld
verbinden sich miteinander, wie auch das physische mit dem moralischen
Versagen, das Schädliche mit dem Bösen verschwimmt.[222]
Weil die mythischen Erzählungen nicht nur Beobachtungen verarbeiten
und etwas über die Welt aussagen, sondern die Psychodynamik des
Umgangs mit der Welt spiegeln, wohnt ihnen strukturell die Zweideutigkeit
inne, ebenso zur Kommunikation mit der Welt zu dienen wie zur
Kommunikation über sie. Mythen haben immer auch die Funktion einer
Verarbeitung des praktischen Ausgeliefertseins an die Kontingenzen einer
nicht beherrschten Umwelt.[223] Die Ursachen der unkontrollierten
Gefahren verlangen nach einer Interpretation in dem verfügbaren
narrativen Rahmen von Kommunikation, Zwecksetzung und
instrumentellem Handeln, aktiv und passiv, Angriff und Verteidigung:
»Durch die Analogiebildung werden die unsichtbaren Mächte, die die nicht-
menschliche Welt (die Natur) und I_212 die menschliche Welt (Kultur)
erzeugen und bestimmen, mit den Eigenschaften des Menschen
ausgestattet, das heißt, sie präsentieren sich dem Menschen spontan als
Wesen mit einem Bewusstsein, einem Willen, einer Autorität und einer
Macht, also als dem Menschen analoge Wesen, die sich jedoch dadurch von
ihm unterscheiden, dass sie wissen, was er nicht weiß, tun, was er nicht tun
kann, kontrollieren, was er nicht kontrolliert«.[224] Das Weltgeschehen
strukturiert sich allgemein in der Form sozialer Interaktionen, an denen
Personen und Tiere, aber auch verstorbene Personen und unsichtbare,
imaginierte Natur- und Ursprungsgewalten, also die Geister der Ahnen und
der überpersönlichen Mächte oder Götter teilnehmen.
Jeder kann mit jedem und alles mit allem kommunizieren, Gefühle und
Wünsche, Absichten und Meinungen ausdrücken und reziprok aufeinander
einwirken. Denn die Kommunikation bedeutet Einflussnahme. Aus unserer
heutigen Sicht verschwimmt die performative Einstellung, in der sich eine
erste Person auf eine zweite Person bezieht, um sich mit ihr zu
verständigen, mit der instrumentellen Einstellung gegenüber einer
unpersönlichen oder überpersönlichen Macht, auf die man kausalen
Einfluss ausüben und sie so zu einem bestimmten Verhalten nötigen kann.
Daher führt vom Mythos selbst eine Brücke zum Ritus: »Myth is not just a
statement but an action.«[225] Der durch James G. Frazer berühmt
gewordene Neujahrsmythos, wonach die rituelle Tötung des alten Königs
die Fruchtbarkeit des vegetativen Zyklus, die Jahreszeiten und die
Wiederkehr des Frühlings intakt hält, ist ein berühmtes Beispiel für diesen
engen Zusammenhang zwischen der mythischen Erzählung und ihrer
Inszenierung. Wir müssen beides zusammen sehen: »Framing«, also die
Kraft des Mythos zur sprachlichen Welterschließung, auf die die
Untersuchungen von Lévi-Strauss ein Licht werfen, geht Hand in Hand mit
»re-enacting«, mit der periodisch wiederholten »Aufführung« des Mythos.
Diese verjüngende und verwandelnde Rückkehr zu einem ursprünglichen
Ereignis macht für Mircea Eliade überhaupt den Kern des Sakralen aus:
»[D]a die rituelle Rezitation des kosmo I_213 gonischen Mythos die
Reaktualisierung dieses primordialen Ereignisses bedeutet, so folgt daraus,
daß der, für den man rezitiert, auf magische Weise in ›jene Zeit‹ projiziert
wird, an den ›Beginn der Welt‹. Es handelt sich also für ihn um eine
Rückkehr zur Zeit des Ursprungs […].«[226] Der Zusammenhang von
framing und reenactment verfestigt sich beispielsweise in der Hochform der
griechischen Tragödie zu einem eigenen literarischen Genre; und die
kathartische Wirkung, die nach Aristoteles die Aufführung im Publikum
regelmäßig auslöst, ist ein entferntes Echo jenes Enthusiasmus, den
Autoren wie Rudolf Otto oder Mircea Eliade mit der Erfahrung des Sakralen
verbinden. Wer aber, wie die Vertreter der religionsphänomenologischen
Schule,[227] den Kern des Sakralen überhaupt in den Tiefen der
Psychodynamik ritueller Praktiken sucht, konzentriert sich auf ambivalente
Gefühlseinstellungen wie Angst, Abscheu und Ehrfurcht oder Erschrecken,
widerstrebende Hingabe und Erhebung – also nicht auf Religionspraktiken,
sondern auf Ausdrucksformen des religiösen Erlebens, die, wenn sie sich
nicht in einem literarisch bezeugten Verhalten ausdrücken, nur auf dem
methodisch ungesicherten Wege der Einfühlung eingekreist werden
können. Dabei fließen offensichtlich Anteile einer dramatisierenden
Rückprojektion eigener religiöser Erfahrungen ein, die sich wissenschaftlich
schwer kontrollieren lassen.
(2) Vom Sinn ritueller Praktiken. Der Mythos hätte, wenn er in der
kognitiven Dimension der Welterschließung aufginge, auch unabhängig
vom Ritus entstehen können. Aber die Angehörigen vergewissern sich in
diesen Weltbildern zugleich ihrer Zusammengehörigkeit. Schon die
Spiegelstruktur der Erzählungen, die die wahrgenommene natürliche
Umwelt in Symmetrie zu den eingewöhnten Praktiken der eigenen
Lebenswelt intellektuell verarbeiten, bezeugt eine Identität verbürgende
Funktion dieser Weltbilder. Die Angehörigen erzählen sich ihre mythischen
Geschichten nicht nur, sie inszenieren diese Geschichten so, als lieferten sie
das Skript zur Aufführung. Daraus haben einige Anthropologen im
Gegensatz zu William R. Smith auf den abgeleiteten Stellenwert des Ritus
geschlossen.[228] Aber der I_214 Ritus ist gegenüber der grammatischen
Sprache eine, genetisch gesehen, ältere Form der symbolischen Darstellung.
[229] Die Medien des gemeinschaftlichen Tanzes und des Gesanges erlauben

die Vereinigung der rhythmischen Bewegung und der Musik mit


Pantomime und Mimik, Körperbemalung und Schmuck. Zusammen mit
kultischen Gegenständen (wie Masken, Emblemen, Wappen, Ornamenten
und so weiter) erlauben sie ikonische Darstellungen oder Imitationen, die
auf eine sprachliche Explikation ihres Bedeutungsgehaltes nicht angewiesen
sind. Wenn wir nicht nur nach Funktionen, sondern nach dem Sinn suchen,
den der sakrale Komplex für die Beteiligten selbst gehabt hat, müssen wir
uns auf die Spuren dieser im Ritus versiegelten Bedeutungen setzen.
Max Webers Stichwort für den Übergang von der Mythenwelt zu den
religiösen Weltbildern der Achsenzeit ist »Entzauberung«. Demnach würde
das magische Verhalten für die Erklärung des Sakralen eine wichtige Rolle
spielen. Offensichtlich zehrt die Magie von dem, was uns heute als eine
eigentümliche Konfusion des verständigungsorientierten mit dem
erfolgsorientierten Handeln erscheint. Indem der Medizinmann mit einem
bösen Geist kommuniziert, erlangt er Gewalt über ihn. Ein rigide
wiederholtes rituelles Muster von Fruchtbarkeitsriten oder Regenzaubern
scheint für die Beteiligten so etwas wie ein technisches Verfahren zu sein,
das bei den angesprochenen und beschworenen Göttern berechenbare
perlokutive Effekte hervorruft. Aber das magische Denken setzt
offensichtlich eine mythisch ausgestaltete und narrativ verfügbare Welt
höherer Gewalten schon voraus. Deshalb bietet die Magie auch nicht den
richtigen Schlüssel zum rituellen Kern des Sakralen. Dasselbe gilt für die
Erklärung des Ritus aus dem Opfer. Denn auch die – ebenfalls allgemein
verbreitete – Darbringung eines Sacrificiums soll auf die Gunst überlegener
Mächte einwirken, die längst in mythischen Erzählungen Gestalt
angenommen haben mussten. Dennoch führen die Opfertheorien auf eine
wichtige Spur.
René Girard vermutet im Ritus des Menschenopfers so etwas wie den
Urritus. Die gewaltsame Ausstoßung eines als Opfer identifi I_215 zierten
Schuldigen aus dem eigenen Kollektiv bildet, weil sie das Modell für alle
Opfer sein soll, das Zentrum von Girards Theorie des
Sündenbockmechanismus.[230] Dieser Theorie zufolge soll das
Menschenopfer nicht primär der Bewältigung von unbeherrschbaren
Risiken der Umwelt dienen; Hungerkatastrophen, Überschwemmungen,
Dürreperioden oder Krankheitsepidemien sind vielmehr, weil sie
gesellschaftliche Konflikte auslösen, ein Glied in der kausalen Kette, die zu
den Opferriten hinführt. Diese selbst sollen aber der Abwehr von Krisen
dienen, die aus der Mitte der Gesellschaft aufbrechen: Ihre Funktion ist die
Zähmung von Rivalitäten, die den Zusammenhalt des Kollektivs gefährden.
Angesichts solcher inneren Konflikte müssen Opfer aus den eigenen Reihen
gefunden werden. Genossen, die aufgrund abnormer Merkmale und
entsprechender Stereotype in Verdacht geraten, die Gesellschaft zu
»verseuchen«, werden stigmatisiert und zum Opfer eines rituellen
Ausschlusses aus der Gemeinschaft auserkoren.[231] Für diesen
außerordentlichen Akt, der die in der Gesellschaft ausbrechenden
Aggressionen gewissermaßen nach außen umlenkt, könnte die blutige
Praxis der Großwildjagd eine Anregung gegeben haben.[232] Girard stellt
sich die Inszenierung des Menschenopfers als die extreme Form einer
Exklu I_216 sion vor, die die gefährlichen, den sozialen Zusammenhalt
gefährdenden Affekte nach außen, auf das rituell entäußerte Opfer lenkt und
dadurch die Gefahr der sozialen Desintegration bannt. Die Anomie muss
durch ein antinomisches Verhalten, das heißt die demonstrative Verletzung
einer anerkannten Grundnorm, hier des Tötungsverbots, bewältigt werden
– eine zeremonielle Kanalisierung der ursprünglichen Anomie. Die aus
Pogromen bekannte Psychodynamik, die bis auf den heutigen Tag virulent
ist, spiegelt sich in der Sequenz einer Gefährdung der etablierten Ordnung,
der Stigmatisierung der Opfer, der Transgression, der Erneuerung des
kollektiven Zusammenhalts und schließlich in der Sakralisierung des
Opfers. Girard begreift deshalb das Opferritual letztlich als Antwort auf eine
gesellschaftliche Desintegration, die durch eine Rivalitäten erzeugende
»Begierde« verursacht wird. Das würde den Aspekt der kollektiven
Erregung erklären, der an einigen Opferriten ins Auge fällt. Aber die
Theorie leidet, ganz abgesehen von der Überverallgemeinerung des
Sündenbockmechanismus, an der vorschnellen Psychologisierung eines
Sinnes, der dem rituellen Verhalten objektiv eingeschrieben ist.
Mit der Bewältigung von Anomie nimmt Girard ein frühes Motiv von
Émile Durkheim auf. Dieses Motiv haben dann die Durkheim-Schüler Henri
Hubert und Marcel Mauss auch an nüchterneren Phänomenen wie den
Geschenk- und Tauschritualen wiedergefunden; diese zielen unmittelbar auf
die Bannung von Rivalitäten ab. Nach dieser Lesart haben sich Opferriten
aus der Art von Tauschritualen entwickelt, die – ausgehend vom
Frauentausch zwischen Familienverbänden – Anerkennungsbeziehungen
zwischen rivalisierenden Verwandtschaftsgruppen fördern. Die Akte des
Austauschs stiften oder bekräftigen kommunikative oder kontraktuelle
Beziehungen zwischen konkurrierenden Gruppen, die einen gewaltfreien
Umgang miteinander stabilisieren.[233] Von diesem egalitären Format des
Tausches unterscheidet sich die Solidarität stiftende Darbringung von
Opfern durch die Asymmetrie einer gleichsam vertikalen Beziehung zu
einem überlegenen und schwer berechenbaren Adressaten. Aber das Opfer
kann schon deshalb nicht der Schlüssel zum Ursprung des I_217 Ritus
liefern, weil der Umgang mit höheren Mächten schon voraussetzt, dass
mythische Erzählungen über diese Figuren in Umlauf sind. Demgegenüber
hat der symbolische Austausch von Gaben den aus sich selbst verständlichen
Sinn, zwischen fremden Gruppen reziproke Anerkennungsbeziehungen
herzustellen und zu bekräftigen. Anders als die familial geregelten
Innenbeziehungen sind die ambivalenten Beziehungen zwischen prima facie
fremden Gruppen stabilisierungsbedürftig. Normalerweise finden freilich
Riten innerhalb des eigenen Kollektivs statt. Die Reziprozität, die im Tausch
gestiftet und erneuert wird, scheint nur insofern etwas vom intrinsischen
Sinn rituellen Verhaltens auszudrücken, als sie ein soziales Band zwischen
potentiellen Rivalen knüpft oder festigt.
Die nach wie vor wichtigste Interpretation des Sinnes, den der Ritus für
die Beteiligten selbst gehabt haben kann, geht auf Émile Durkheim zurück.
Er versteht den Ritus als eine selbstbezügliche Praxis, die den
Zusammenhalt sozialer Gruppen stabilisiert.[234] Als Erster schreibt er der
rituellen Praxis einen Sinn zu, der der Praxis selber, das heißt unabhängig
von irgendeiner narrativen Erklärung innewohnt, und zwar die Sicherung
von Solidarität unter Angehörigen eines Kollektivs, die zueinander in
grundsätzlich ambivalenten Beziehungen stehen. Diese Bestimmung ist
indifferent gegenüber der Frage, ob die rituelle Sicherung des sozialen
Zusammenhalts den Beteiligten als solche bewusst ist oder ob es sich um
eine latent erfüllte Funktion handelt. Die Unentschiedenheit ist nicht
zufällig. Durkheim operiert nämlich in diesem Zusammenhang mit dem
problematischen Begriff des »Kollektivbewusstseins«, das sich im Sinne von
Devereux auch als ein kollektiv Unbewusstes deuten lässt. Eine performativ
gegenwärtige, also im Vollzug implizit erfahrene Gemeinsamkeit oder
Solidarität entzieht sich der Trennschärfe der Unterscheidung zwischen
einer latenten und einer absichtlich erfüllten Funktion. Durkheim
untersucht diese intuitiv bewusste Funktion unter zwei Gesichtspunkten –
dem der Selbstthematisierung der Gesellschaft und dem der Erzeugung der
Sollgeltung von normativen Verhaltenserwartungen. Zum einen sollen sich im
Ritus die beste I_218 henden gesellschaftlichen Strukturen spiegeln, zum
anderen sollen sich die Angehörigen eines Kollektivs im Vollzug der
rituellen Selbstdarstellung der Gesellschaft ihrer Identität vergewissern und
dadurch den Formen des sozialen Zusammenlebens normative Kraft
verleihen. Solidarität entsteht nicht ex nihilo. Durkheim erklärt sie durch
den Identität stiftenden Charakter des merkwürdig ambivalenten
Verhaltens gegenüber tabuisierten Gegenständen wie totemistischen
Emblemen, die die Gesellschaft im Ganzen repräsentieren. Seinerzeit fanden
Berichte über Totemismus die Aufmerksamkeit der Profession. An Totem
und Tabu erläutert Durkheim jedenfalls die solidarisierende Bindungskraft
des ritualisierten Umgangs mit sakralen Gegenständen und Symbolen, die
gleichzeitig Ehrfurcht und Schrecken hervorrufen. Nach meiner Auffassung
kommt Durkheim mit den Stichworten der gesellschaftlichen Solidarität
und der Selbstthematisierung der Gesellschaft dem ursprünglichen Sinn des
Ritus am nächsten.
Arnold van Genneps bekannte Untersuchungen von Initiationsriten, die
bei der Geburt oder an der Schwelle zum Erwachsenenalter, bei Heirat oder
Begräbnis den Übergang von einem Status zum nächsten regeln, haben
Durkheims Analysen freilich um einen entscheidenden Gesichtspunkt
ergänzt.[235] Auch diese rituelle Überleitung des einzelnen
Stammesangehörigen von einem Lebenszyklus zum nächsten bietet sich für
eine Analyse unter den beiden genannten Aspekten der
Selbstthematisierung der Gesellschaft und der Erzeugung von normativen
Verpflichtungen an. Wenn beispielsweise der Adoleszente in den Kreis der
erwachsenen Männer aufgenommen wird, erlernt er die sozialen Rollen, die
mit dem neuen Status verbunden sind. Im Vollzug der rituellen Vorschriften
begegnet er gewissermaßen der Struktur der Gesellschaft, und gleichzeitig
erwirbt er die Dispositionen für die Befolgung der entsprechenden sozialen
Verhaltenserwartungen. Die Initiation beugt der Gefahr vor, dass die
Kontinuität der gesellschaftlichen Integration an den Bruchstellen des
Generationenwechsels abreißt und dass die normative Kraft der Gesellschaft
erlahmt. Für den Sinn des Sakralen ist jedoch ein weiterer Aspekt
aufschlussreich, unter dem van Gennep die in drei Phasen I_219 vollzogenen
Statuspassagen deutet: Die Initiation, die gewissermaßen einen Wechsel der
sozialen Identität bedeutet, wird als Tod und soziale Wiedergeburt inszeniert.
Das Durchleben dieser extremen Gegensätze einer Rettung aus höchster
Gefahr ist eine Erklärung für jene Ambivalenz der begleitenden
Gefühlseinstellungen, an der Durkheim die Erfahrung des Sakralen
festgemacht hat.
Das neue Moment ist der inszenierte Durchgang durch ein Stadium der
Absonderung von der Gemeinschaft, worin die soziale Angehörigkeit des
Kandidaten gleichsam suspendiert wird und seine gesellschaftliche Existenz
vorübergehend erlischt, bis dann der rettende Akt der Wiedereingliederung
den zeitweise Ausgeschlossenen in seinen neuen Status einweist. Diese
mittlere Phase der Absonderung, des Ausgesetztseins im sozialen
Niemandsland, der Verstoßung ins »Elend« (etymologisch: »Ausland«),
wiederholt die extreme Erfahrung der Bodenlosigkeit einer Existenz, die
sich – zurückgeworfen auf den Selbsterhaltungsmodus eines abgesonderten,
auf sich allein zurückgeworfenen Organismus – ihrer totalen Abhängigkeit
von der gesellschaftlichen Existenzform bewusst wird. Denn die simulierte
Erfahrung einer vollständigen Exklusion von Gesellschaft bringt dem
Einzelnen nicht nur einen bestimmten sozialen Rollenwechsel, also die
Struktur der jeweils eigenen Gesellschaft zu Bewusstsein, in die der Novize
eingeführt wird. Sie konfrontiert ihn gleichzeitig mit dem
Sozialisationsvorgang als solchem, das heißt mit der prekären Natur des
Modus der Vergesellschaftung: Seine Identität kann der Heranwachsende im
Verlaufe einer langen Periode der Aufzucht und der Abhängigkeit nicht
durch Anklammern an einen Status quo ante sichern; er kann sich als
Person nur erhalten, indem er das Risiko der vorbehaltlosen
Selbstentäußerung eingeht; denn nur über den ebenso vorbehaltlosen
Anschluss an die ihm übergestülpten Kommunikationsnetze der
Gesellschaft kann er sich deren Normen aneignen. Er macht die
exemplarische Erfahrung, dass er sich nur auf dem Wege der Selbstpreisgabe
als ein sozialisiertes Selbst wiedergewinnen und behaupten kann. Van
Genneps Analyse lässt sich so verstehen, dass der Ritus – über die
Selbstthematisierung einer speziellen Rollenstruktur hinausgehend – für das
einzelne Mitglied den radikaleren Sinn einer Selbstvergewisserung der
soziokulturellen Verfassung von Gesellschaft überhaupt hat.
I_220 Gewiss, als Initiationsritus dient diese Praxis der Bewältigung einer
individuell beunruhigenden Erfahrung. Aber darin spiegelt sich die
Dynamik einer fortlaufenden Entstrukturierung und Umstrukturierung,
durch die jede Gesellschaft ihre Kontinuität über den Wechsel der
Generationen hinweg sichern muss. Gleichzeitig macht die rituelle Praxis
Grundzüge einer bestimmten Lebensform bewusst, die sich über
kommunikative Vergesellschaftung reproduziert. In der Phase der
Verstoßung ins Nirgendwo fällt der Novize gewissermaßen aus der
Gesellschaft heraus, sodass ihm die gesellschaftliche Totalität als solche
gegenübertreten kann. Ich werde der Hypothese nachgehen, dass der
abschließende Effekt gelingender Sozialintegration die Urerfahrung einer
Spezies wiederholt, die sich von ihren nächsten biologischen Verwandten
durch ein ungewöhnliches soziales Verhalten unterscheidet, nämlich durch
eine hohe Kooperationsbereitschaft, die auf eine ebenso große Abhängigkeit
von der sozialen Hilfestellung der Anderen antwortet. Und das gilt nicht
nur für die Abhängigkeit des Kindes, des Unwissenden und des
Vereinsamten, des Kranken und des Alten. Jedes vergesellschaftete
Individuum erfährt im Vollzug der Initiation immer wieder, dass es seine
Identität als Einzelner nur in und zusammen mit dem sozialen Netzwerk der
reziproken Anerkennungsbeziehungen eines Kollektivs erhalten kann.
Diese existentielle Abhängigkeit drängt sich ihm in normativer wie in
funktionaler Weise auf – einerseits in der Furcht vor Solidaritätsentzug und
Isolierung, die jeden als Strafe trifft, wenn er sich vom Kollektiv absondert,
indem er gegen dessen Normen verstößt; andererseits in der Furcht vor der
absoluten Hilflosigkeit, die alle trifft, sobald der komplexe gesellschaftliche
Organismus im Ganzen erschüttert wird. Initiationsriten bieten sich nach
dieser Hypothese zur Entschlüsselung des Sinnes von Riten überhaupt an.
Vielleicht wiederholt sich mit der Psychodynamik jeder gelingenden
Statuspassage sogar ein Stück Menschheitserinnerung – die an die
Bewältigung jener anfänglichen gattungsgeschichtlichen Passage von
vorsprachlichen zu soziokulturellen Lebensformen. Demnach wäre die
Erfahrung des Sakralen eine »Durcharbeitung« und ritualisierte
Wiederholung des schicksalhaften Ergebnisses der Hominisation. Bevor ich
aber die evolutionstheoretische Frage, worin dieses »Schick I_221 sal«
besteht, aufnehme, möchte ich an den Fortgang der fachwissenschaftlichen
Diskussion erinnern.[236]
Schon van Gennep selbst hatte versucht, sein Dreiphasenmuster unter
dem Gesichtspunkt der Regeneration und Wiederherstellung stabiler
Ordnungen, Identitäten und Rollen über die Initiationsriten hinaus auf
andere Klassen von Riten zu verallgemeinern. Auch Mircea Eliade erkennt
das an Initiationsriten abgelesene Muster in anderen Riten wieder: In den
Neujahrsriten entspricht dem sozialen Tod der symbolische Tod des Königs
und die Rückkehr zum Chaos sowie der Aufnahme in die neue Statusgruppe
die Erneuerung der Lebensenergien in Natur und Kultur, die
Wiederherstellung der Ordnung.[237] Max Gluckman und Victor Turner
führen die Traditionen Durkheims und van Genneps fort, verschieben aber
die Akzente von der Erneuerung der gesellschaftlichen Solidarität auf die
Eindämmung und Stabilisierung fortbestehender sozialer Spannungen.
Beispielsweise untersucht Gluckman am bekannten Muster der rituellen
Umkehrung des sozialen Oben und Unten, das sich bei uns noch im
Karneval erhalten hat, wie das dynamische Gleichgewicht der etablierten
Ordnung durch eine virtuelle Dramatisierung schwelender Konflikte
aufrechterhalten wird. Konflikte werden auf dem Wege der Ableitung
aggressiver Affekte nicht etwa gelöst, jedoch kanalisiert und auf Dauer
gestellt. Turner hebt den interessanten Gesichtspunkt der Universalisierung
und der entsprechenden Expansion gesellschaftlicher Bindungen hervor:
Die im Verlaufe des »sozialen Dramas« eintretende Grenzsituation, in der
sich die Struktur der gewohnten Ordnung auflöst, dient nicht nur zu einer
Regenerierung der Bindungsenergien, sondern zu einer Ausdehnung des
sozialen Bandes; Loyalitäten gegenüber dem Ganzen gehen gestärkt aus der
Krise hervor.
Allerdings sind die Ideen Durkheims und van Genneps immer stärker in
den Sog einer ausschließlich funktionalistischen Betrachtungsweise geraten.
Das rituelle Verhalten wird dann als ein Mechanismus begriffen, der die
Kohäsion der Gruppe längerfristig sichert, wobei der subjektive Sinn des
Ritus auf die Selbstthematisierung I_222 und den Nachvollzug sozialer
Beziehungen zusammenschrumpft. Über der Verallgemeinerung »sozialer
Dramen« auf alle möglichen formalisierten Verhaltensmuster verflüchtigt
sich der subjektive Bedeutungskern der Begegnung mit dem Sakralen,
nämlich die hochemotionalisierte, gelegentlich exaltierte,
gefühlsambivalente Verarbeitung von Grenzsituationen, in denen sich die
Beteiligten der Dramatik des Verlustes und der Wiedergewinnung der
eigenen Identität ausgesetzt sehen. Aber viele Phänomene weisen darauf
hin, dass sich nur aus dem inszenierten Durchgang durch eine Phase der
Auflösung und der Entfremdung, worin der verlorene Einzelne mit der
Paradoxie seiner gesellschaftlichen Existenzvoraussetzungen konfrontiert
wird, ein Schlüssel für den Sinn des Ritus als solchen gewinnen lässt. Beim
Versuch, sich in der Fülle und Beliebigkeit der zahllosen Klassifikationen
von Riten (nach Themen und Verlaufsformen, typischen
Verhaltensmustern, Adressaten, Anlässen und Funktionen) zurechtzufinden,
schält sich als der archaische Sinn des Heiligen ein gemeinsames Moment
heraus: das Überschreiten der Risikoschwelle eines Identitätsverlustes und
der glückliche Ausgang eines Kampfes um die Wiedergewinnung der eigenen
Identität; beides wird aus der Sicht der vergesellschafteten Individuen als ein
gewaltsamer Prozess schöpferischer Zerstörung und Erneuerung erfahren.
[238] Das erstrebte Heil ist negativ bestimmt als die Abwendung eines tief

im Modus der Vergesellschaftung, also in der Reproduktion der eigenen


Lebensform selbst erfahrenen Unheils.
Nach der von Clifford J. Geertz eingeleiteten kulturalistischen Wende ist
es üblich geworden, rituelle Praktiken nicht mehr so sehr unter
funktionalistischen Gesichtspunkten als vielmehr in der Art einer
konkurrierenden Sprache oder eines eigenen Kodes zu betrachten, der
seinerseits die Gesellschaft strukturiert und gestaltet. Die Betonung der
kommunikativen Natur und des konstruktiven Sinns rückt den Ritus als
eine eigenständige, für Kultur und Gesellschaft konstitutive Form der
symbolischen Kommunikation in den Blick. Die Sprachanalogie verleitet
freilich zu einem deskriptiv verfahrenden I_223 Interpretationismus, der
jedes irgendwie formalisierte Verhaltensmuster wie einen Text entziffert.
Dabei wird die evolutionäre Frage, was denn diesen Kode als solchen
auszeichnet, vernachlässigt. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der
Vergleich der Sprache des Ritus mit den »Sprachen« der Kunst. Gewiss,
autonome Kunstwerke verraten eine Syntax und eine Semantik, die nur von
kompetenten Sprechern beherrscht werden können. Gleichwohl stößt der
Versuch, den Gehalt von Symphonien und Gemälden, von
architektonischen Formen, Designs und Ornamenten, von
Ballettvorführungen oder Skulpturen in Worte zu fassen, selbst bei
professionellen Kunstkritikern auf Grenzen. Diese Grenzen machen uns
bewusst, dass sich ästhetische Erfahrungen begrifflich einkreisen und
erläutern, aber nicht restlos in explizite Urteile einholen lassen.
Die Art des Widerstandes eines intransparent sprachlosen Kerns der
ästhetischen Erfahrung gegen das an die Form von Aussagen gebundene
Begreifen und Erklären kann man sich an der Schwierigkeit, Lyrik in andere
Sprachen zu übersetzen, also selbst am Beispiel sprachlich verfertigter
Werke vor Augen führen. Offenbar sind hochentwickelte ästhetische
Ausdrucksformen wie Musik, Tanz und Pantomime, Malerei und Plastik
einschließlich der onomatopoetischen Anklänge, ohne die Literatur, vor
allem die evokative Kraft von Gedichten nicht zu verstehen ist, in einer
symbolischen, aber nichtsprachlichen Kommunikation verwurzelt. Auch die
rituellen Praktiken nutzen die ikonischen Medien der künstlerischen
Darstellung; mit farbenprächtigen, wohlklingenden und schwungvollen
Designs können sie einen großen Reichtum an ästhetischen Effekten
entfalten. Aber in das Ensemble der hochentwickelten ästhetischen Formen
ragen sie als ein archaisches Element hinein. Anders als die autonom
gewordenen, inzwischen mit der diskursiven Kunstkritik verschwisterten
Künste finden die im Ritus verkapselten Bedeutungen allenfalls in
mythischen Erzählungen einen sprachlichen Ausdruck. Sie sind noch nicht
selber vom Sprachgeist infiziert wie beispielsweise die Instrumentalmusik,
von deren sprachloser »Sprachähnlichkeit« Theodor W. Adorno überzeugt
war.[239] Dem performativ ausgedrück I_224 ten Eigensinn ritueller
Praktiken bleibt die diskursive Form der Kritik wesensfremd. Ursprünglich
hat es wohl nur das aktive Aufgehen im Vollzug der gemeinsamen rituellen
Praxis gegeben und noch nicht – wie später bei den Festspielen der
griechischen Städte – die Arbeitsteilung zwischen der performance, zum
Beispiel der Aufführung einer Tragödie, und der interpretierenden
Aufnahme des Werkes aufseiten des zuschauenden Publikums.
In anderer Hinsicht besteht freilich zwischen dem sakralen Komplex und
den daraus hervorgegangenen modernen Künsten eine Verwandtschaft, die
beide Kommunikationsformen wiederum von der kommunikativen
Alltagspraxis unterscheidet. Ich meine das Moment des
»Außeralltäglichen«. Diese Verwandtschaft mag unter anderem erklären,
warum alle Religionen eine enge Verbindung mit künstlerischen
Ausdrucksformen der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst
eingegangen sind. Diese Symbiose kann auch noch die Kunst dazu
verführen, sich religiöser Motive zu bedienen. Das zu Meditation oder Gebet
einladende Kissen im Oktagon von Mark Rothkos Kapelle in Houston zeigt,
dass nicht einmal moderne Baukunst und abstrakte Malerei vor kultischen
Assoziationen zurückschrecken. »Außeralltäglichkeit« hat zunächst den
trivialen Sinn, dass sakrale Vorgänge und Objekte aus den durchsichtigen
Funktionszusammenhängen sozialer Interaktionen ausgeklinkt sind. Sakrale
Gegenstände und Praktiken sind aus dem Weltumgang, dessen Sinn sich
aus den Interessen und Absichten der beteiligten Akteure, wenigstens aus
den gesellschaftlichen Funktionen ihrer eingewöhnten Alltagspraktiken
ohne Weiteres erschließt, herausgehoben. Sie verschließen sich
gewissermaßen in sich selbst. Diesen virtuellen Charakter teilen sie mit dem
ästhetischen Schein der autonomen Kunst. Merkwürdigerweise provoziert
jedoch die Weltabgewandtheit ritueller Handlungen den anthropologischen
Beobachter zur Zuschreibung latenter Funktionen, die einen fehlenden
Weltbezug substituieren sollen, während der fehlende Weltbezug und die
selbstreferentielle Abschließung von abstrakten Gemälden,
Konzertaufführungen oder Skulpturen auch dann, wenn deren
enigmatischer Inhalt Interpretationsbedarf hinterlässt, als Eigenart einer
ästhetisch erzeugten fiktiven Welt begriffen und als solcher respektiert
wird. Zweifellos haben die Riten in einfachen Gesellschaften eine Fülle von
Funktionen I_225 übernommen. Auch diese Funktionen können sie jedoch
nur aufgrund einer Bedeutung erfüllen, die der ästhetische Kode als solcher
besitzt. Es ist wesentlich der fehlende oder unterbrochene Bezug zum
innerweltlichen Geschehen, der das Sakrale nicht weniger als das moderne
Kunstwerk (die abstrakte Kunst und die nachklassische Musik sogar in
ausgezeichneter Weise) von profanen Äußerungen abhebt.
In Ansehung der Kunst fragen wir nicht nach ihrer Funktion, sondern
nach ihrem Sinn, weil wir davon ausgehen, dass die kommunizierte
Erfahrung als solche relevant ist und keiner Rechtfertigung aus einem
praktischen Wozu bedarf. Kant bestimmt diesen Sinn des Ästhetischen als
die Erzeugung interesselosen Wohlgefallens. Mit der Unterscheidung des
Sakralen vom Profanen hat Durkheim auf einen entsprechenden Sinn des
Rituellen aufmerksam gemacht und diesen am Leitfaden der begleitenden
gefühlsambivalenten Einstellungen gedeutet – als die Selbstvergewisserung
des Prozesses der Vergesellschaftung, der sich in dem durch das
»Kollektivbewusstsein« erschlossenen Horizont vollzieht. Nach der
kulturalistischen Wende der anthropologischen Forschung wird die gleiche
Frage kommunikationstheoretisch beantwortet. Identitätsbildung und
Individualisierung durch Vergesellschaftung können erst in einer durch
Symbolgebrauch erschlossenen und intersubjektiv geteilten Lebensform zum
Problem werden. Daher versteht Wilhelm Dupré den Ritus als denjenigen
Kode, worin sich die evolutionäre Errungenschaft der symbolischen
Kommunikation selbstreferentiell darstellt. Nach seinem Vorschlag ist der
Ritus das Ausdrucksmittel für die kathartische Durcharbeitung von
gattungsgeschichtlichen Erinnerungen, welche durch gegenwärtige
Krisensituationen ausgelöst werden: »Religion stellt sich ihrerseits als ein
genetisches Problem dar. Sie ist mit dem Prozess kultureller Genese
verflochten.«[240]
Wilhelm Dupré knüpft an die romantische, auf Hamann, Herder und
Schleiermacher zurückgehende Tradition an, die den Menschen als animal
symbolicum (Cassirer) versteht. Er begreift das universale, in allen
primitiven Gesellschaften verbreitete Phänomen des Sakra I_226 len als eine
selbstbezügliche Kommunikation über die umwälzende Innovation der
Verwendung von Symbolen, die, weil sie für alle Angehörigen eines
Kollektivs dieselbe Bedeutung haben, für das Kollektiv eine gemeinsame
»Welt« erschließen. Wiederum gilt der Ritus als ursprüngliche Form der
Selbstreflexion früher Gesellschaften; aber nach dieser Lesart ist es nicht der
Prozess der Vergesellschaftung selbst, sondern die welterschließende
Symbolisierung, die darin als die entscheidende emergente Eigenschaft
soziokultureller Lebensformen zum Thema wird: »Weil wir inmitten von
Symbolen und durch sie leben, sind wir imstande, das Symbol der
Symbolisierung zu erfassen. […] Und daher steht die Frage im Raum, ob
diese Dimension womöglich die Quelle und zugleich die erste
Hervorbringung der Religion ist, also die Dimension, aus der Symbole
hervorgehen […].«[241] Mit dem Sakralen ist zugleich eine »Sprache«
gefunden für die Kommunikation über die »ultimativen«, gleichzeitig mit
der symbolischen Verfassung der Lebensform erst bewusst gewordenen
Existenzvoraussetzungen – also über Themen wie Geburt und Tod, die
eigentümliche Zerbrechlichkeit und Ambivalenz des Zusammenlebens, der
Mangel an Zuwendung, die Entbehrung erschöpfter materieller und
natürlicher Ressourcen, die Verletzbarkeit von Leib und Seele. Diese
Bedingungen sind »ultimativ« im Sinne der Unverfügbarkeit. Als
Bedingungen der Endlichkeit unserer Existenzweise, die wir hinnehmen
müssen, nötigen sie zur Stellungnahme und provozieren zur »Sinngebung«:
»Die Hinwendung zum Ultimativen […] ist daher eng verbunden mit dem
Prozess der Hominisation, verstanden als das Generieren von Sinn durch
Teilnahme an dieser Wirklichkeit […].«[242] Diese Interpretation spitzt die
Annahme, dass sich im sakralen Komplex die Bewältigung eines
gattungsgeschichtlichen Traumas widerspiegelt, auf das Überschreiten der
evolutionären Schwelle zu einer neuen Stufe der symbolisch vermittelten
Interaktion zu. Diese Annahme zieht ihre Plausibilität aus der allgemein
akzeptierten Auffassung, dass die Entwicklung von Homo sapiens mit dem
Ursprung der Sprache wesentlich zusammenhängt.
I_227 (3) Exkurs zum Ursprung von Sprache und soziokultureller
Lebensform. Während der letzten Jahrzehnte sind viele Untersuchungen mit
einfallsreichen Forschungsdesigns durchgeführt worden, um den Nachweis
zu liefern, dass Schimpansen, die uns biologisch am nächsten stehen, unter
geeignet variierten Umständen doch noch sprechen lernen können; aber alle
diese Experimente sind gescheitert.[243] Die Hominisation lässt sich so
beschreiben, dass mit zunehmender Größe des Gehirns kulturelle
Lernprozesse die erheblich langsameren biologischen Entwicklungen
zunächst ergänzt und dann abgelöst haben. Die natürliche Evolution geht
erst mit dem Erwerb der Sprache von den durch Mutation und Selektion
gesteuerten Anpassungen der artspezifischen Zusammensetzung des
Genpools an veränderte Umweltbedingungen vollständig auf Lernprozesse
über, die sich bis heute exponentiell beschleunigen. Die kulturellen
Lernfähigkeiten verdanken sich einem kognitiven Schub, der mit der
sozialkognitiven Umstellung des Sozialverhaltens auf eine symbolisch
vermittelte Interaktion zusammenhängt. Die Innovation besteht nicht in der
Adressierung von Zeichen und Signalen an Artgenossen, die wir auch bei
Primaten beobachten, sondern in der reziproken Verwendung von Symbolen,
die für die Gruppenangehörigen dieselbe Bedeutung annehmen. Die
Errungenschaft besteht in der kommunikativen Erzeugung eines Raums
intersubjektiv geteilter semantischer Inhalte. Wir müssen also zunächst
klären, wie die Entwicklung jener kognitiven Fähigkeiten, die den
Menschen auszeichnen, mit dem Übergang zur Stufe der symbolisch
vermittelten Interaktion zusammenhängt, um zu sehen, ob sich der Sinn des
sakralen Komplexes insgesamt im Lichte dieser Erkenntnisse präzisieren
lässt.
Die ehrwürdige Diskussion über den Ursprung der Sprache wird heute
auf der erheblich erweiterten Grundlage empirischer Erkenntnisse aus
Genetik, physischer Anthropologie, Archäologie und Ethologie sowie aus
der vergleichenden linguistischen und psychologischen Forschung an
Schimpansen und Kindern fortgeführt.[244] Fortschritte in der Datierung
von paläolithischen Funden verdan I_228 ken sich neuen technischen und
genetischen Untersuchungsmethoden. Dennoch ist das Rätsel der
Sprachentstehung bis jetzt nicht gelöst. Für dieses Problem hat der
Spracherwerb von Kindern immer schon als eine wichtige Quelle indirekter
Evidenzen gedient. Mitte der 1960er Jahre hatte Noam Chomsky in einem
brillanten Aufsatz mit dem Skinner'schen Sprachbehaviorismus aufgeräumt
und die Aufmerksamkeit auf das Faktum gelenkt, dass Kinder innerhalb
einer atemberaubend kurzen Zeit sprechen lernen, obwohl sie nur einem
sehr unvollständigen, phonetisch verzerrten und grammatisch lückenhaften
Sprachmilieu begegnen.[245] Wenn man die ungewöhnliche syntaktische
Komplexität einer natürlichen Sprache bedenkt, erscheint es
unwahrscheinlich, dass Kinder auf der kognitiven Stufe von Zwei- bis
Vierjährigen diese Aufgabe allein nach induktiven Verfahren meistern.
Chomsky nahm zudem an, dass alle natürlichen Sprachen nach denselben
grammatisch grundlegenden Prinzipien aufgebaut sind, und schloss aus
allen diesen Beobachtungen auf angeborene neuronale Mechanismen, die
den Spracherwerb des Kindes a priori steuern. Aphasieforscher und
Biologen haben diesen linguistischen Cartesianismus als Anregung für eine
naturalistische Suche nach dem »Sprach-Gen« verstanden. Demnach würde
sich die Sprachentstehung leicht ins neodarwinistische Bild der natürlichen
Evolution einfügen. Aber inzwischen erscheint es als unwahrscheinlich,
dass sich für die komplexe Fähigkeit zum Erwerb einer grammatischen
Sprache je eine einfache genetische Erklärung finden wird. Für diese
evolutionäre Schwelle ist offensichtlich eine günstige Konstellation aus
vielen unabhängigen Faktoren nötig gewesen. Auch unabhängig vom Erfolg
biogenetischer Erklärungsstrategien ist die Tatsache, dass alle bekannten
Sprachen ungefähr den gleichen Grad an grammatischer Komplexität
aufweisen, irritierend genug für die alternative Annahme einer längeren
naturgeschichtlichen Entwicklung. In den bekannten Sprachen gibt es keine
linguistischen Hinweise auf Vorstufen geringerer Komplexität. Dafür sind
extraverbale Äußerungen und Gestensprachen kein Beleg, weil
expressi I_229 ve, leibgebundene Ausdruckformen wie mimische oder vokale
Gesten die sprachlichen Äußerungen nur ergänzen und kommentieren. Die
»Körpersprache« bleibt in explizit sprachliche Kontexte eingebettet,
während Signal- oder Taubstummensprachen nach dem Modell natürlicher
Sprachen konstruiert sind. Auch die in nichtsprachlichen Medien erzeugten
Kunstwerke verraten eine Syntax und Semantik, die nur von kompetenten
Sprechern beherrscht werden können.
Andererseits schließt das Komplexitätsargument die Annahme einer
kontinuierlichen Entwicklung von mehreren Kommunikationsstufen, die
wir im Lichte unserer voll entwickelten Sprachfähigkeit rekonstruieren
können, nicht aus. Denn dabei rechnen wir mit allmählichen
Lernvorgängen, die sich über einen Zeitraum von mehreren hunderttausend
Jahren erstrecken.[246] Im Lichte dieser Hypothese fügen sich die Daten aus
den einschlägigen nichtlinguistischen Forschungsgebieten immerhin zu
einem kohärenten Bild der Hominisation zusammen. Nach den
zusammenfassenden Darstellungen der verstreuten Forschungsergebnisse
scheint es sich so zu verhalten, dass die anatomischen und neurologischen
Bedingungen für die Produktion und die Wahrnehmung einer phonetisch
artikulierten Sprache (differenzierendes Gehör, Nervenkanäle zur
Atemkontrolle, menschliches Zungenbein, sprachtypische
Hörspezialisierung und so weiter)[247] bei Homo ergaster und Homo erectus
spätestens bis zu einem Entwicklungsstand von vor 600 000 Jahren erfüllt
waren. Nach diesen Befunden zu urteilen, wären schon diese Frühmenschen
physiologisch imstande gewesen, zu sprechen. Wann die
Sprachentwicklung tatsächlich einsetzte, muss vor allem aus Werkzeugen
und Anhaltspunkten der Lebensweise erschlossen werden. Einige
Anthropologen und Archäologen neigen zu einer frühen Datierung der
Sprache, weil die anzunehmende Dichte und Organisation des
Gruppenlebens sowie die Handhabung der aufgefundenen
Produktionsmittel und Waffen auf eine Verkehrsform hinweisen, die ohne
eine I_230 symbolisch vermittelte Interaktion nicht vorgestellt werden kann.
[248] Wenn man bedenkt, dass schon bei den sozial lebenden Affen ein

Zusammenhang zwischen Gruppengröße und relativem Umfang der


Gehirnrinde besteht, sind offenbar Komplexität und Art des sozialen
Zusammenlebens die wichtigste einzelne Variable für die Erklärung der
Kommunikationsformen und -medien.
Schon für Homo habilis, eine Übergangsform zwischen dem
Australopithecus und Homo erectus, also zu Beginn der Altsteinzeit (vor
etwa 2,5 Millionen Jahren) ist eine Kultur von Steinwerkzeugen
(sogenannten Geröllgeräten) nachgewiesen, deren Bearbeitung erhebliche
feinmotorische Fertigkeiten erfordert. Die Menschen beherrschen das Feuer
seit mindestens 1,6 Millionen Jahren, und in der jüngeren Altsteinzeit setzt
sich eine neue, anspruchsvollere Technik der Herstellung von Faustkeilen
durch. Fallgruben lassen auf Treibjagd schließen; Holzlanzen und Speere,
überhaupt Waffen, die für die Jagd von Großwild benutzt wurden, sind seit
etwa 400 000 Jahren in Gebrauch. Speerspitzen aus Stein sind allerdings nur
von Homo sapiens bekannt. Der naturgeschichtlich »moderne« Mensch hat
sich zusammen mit dem Homo neanderthalensis seit etwa 300 000 Jahren
aus dem Homo heidelbergensis entwickelt. Die ältesten Fundstellen des
Menschen sind mindestens 100 000 Jahre alt. Bis dahin hatte auch ein
Wachstum des Gehirnvolumens stattgefunden, sodass der Mensch den
Anforderungen eines komplexeren Netzes von Face-to-face-Beziehungen in
größeren, auf maximal 150 Personen geschätzten Horden gewachsen war.
[249] Aber schon für den gesamten Zeitraum des älteren Homo erectus

geben die Produktionsmittel der Jäger, erst recht die Rastplätze, an denen
die Beute verteilt wurde, Hinweise auf den gesellschaftlichen
Organisationsgrad, der für eine planmäßige Kooperation von jagenden
Horden und für eine arbeitsteilige Spezialisierung von Tätigkeiten nötig ist.
Bereits vor der Entstehung von Homo sapiens ist die Lebensform der an
Umfang zunehmenden Horden von Jägern und Sammlern so komplex
gewesen, dass sich für die sozialen Interaktionen vermutlich eine – im
Vergleich zur Primatenkommunikation – neue I_231 Kommunikationsstufe
herausgebildet hat. Die vielleicht ausschlaggebende Innovation ist die
verstetigte Paarbildung und die Familiarisierung der Nahrungsvorsorge
vonseiten kooperierender Eltern. Aus der Verstetigung der sexuellen
Verbindung von Mann und Frau über mehrere Geburtszyklen und
Aufzuchtperioden hinaus entwickeln sich Verwandtschaftsbeziehungen, die
das gesellschaftliche Leben im Ganzen strukturieren. Von den Primaten sind
es allein die Gibbons, die als Pärchen zusammenleben. Aber nur beim
Menschen verbindet sich die heterosexuelle Paarbindung mit dem sozialen
Leben in Gruppen. Zur Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung dürften
verschiedene Faktoren beigetragen haben, unter anderem die sexuelle
Dauerbereitschaft der Frau und die lange Aufzuchtperiode der extrem
abhängigen Kinder, die – biologisch gesehen – unreif zur Welt kommen.
Das kindliche Gehirn wächst außerhalb des Uterus weiter; im Reifestadium
hätte der Kopf den Geburtskanal nicht mehr passieren können. Schon in der
Literatur der älteren philosophischen Anthropologie hatte der
Zusammenhang von Neotenie, langer Abhängigkeit des Kindes und
Lockerung des Selektionsdrucks im Schonraum der Familie zu Annahmen
über eine »Selbstdomestikation« unserer Spezies angeregt. Das markante
kindliche Spiel- und Experimentierverhalten und eine zunehmende
Plastizität der Antriebsstruktur könnten kulturelles Lernen begünstigt
haben.[250]
Für eine relativ frühe Datierung der Sprachentstehung auf das mittlere
oder jüngere Paläolithikum, also auf eine Periode vor dem Auftreten von
Homo sapiens – spätestens während seines ersten Auftretens – sprechen
auch funktionale Überlegungen. Dabei müssen Fragen der kausalen
Abhängigkeit offenbleiben. So ist kaum zu entscheiden, ob eine wachsende
Kontaktdichte zur Umstellung auf eine neue Kommunikationsstufe
beigetragen oder ob diese wiederum eine zunehmende Gruppengröße erst
ermöglicht hat. An drei Komponenten der spätpaläolithischen Lebensform
lassen sich funktionale Erfordernisse für die sprachliche Koordinierung von
Handlungen sowie für eine symbolische Generalisierung von
Verhaltenserwartungen ablesen: am Unternehmen der kooperativen
Großwildjagd, an der Verteilung der Beute unter den Beteiligten und am
Interak I_232 tionszusammenhang der Familie(n). Dabei verwende ich
zunächst einen weiten Begriff von »Sprache«, der auch die kommunikative
Verwendung von einzelnen, syntaktisch entweder gar nicht – oder nach
wenigen einfachen Regeln – geordneten »Symbolen« einschließt.
Gegenüber der Primatenkommunikation zeichnet sich die neue Stufe
dadurch als »Sprache« aus, dass die Bedeutungen dieser Symbole in der
Gruppe intersubjektiv geteilt werden. Sprecher, Adressat und Zuhörer
verbinden mit den Lauten, mimischen Ausdrücken, Gesten und
Körperhaltungen »dieselbe« Bedeutung. Allerdings war das Verständnis der
semantischen Inhalte vermutlich zunächst an eine kontextspezifische
Verwendung der Symbole in Zusammenhängen eingewöhnter
Interaktionen gebunden. In dichten Kontexten der Handlungskoordinierung
ist der bahnbrechende intentionale Bezug auf etwas in der auf Distanz
gebrachten Welt noch mit imperativischen Absichten oder Erwartungen
und mit entsprechenden expressiven Gefühlsäußerungen verflochten (was
übrigens für einen sozialpragmatischen Ansatz spricht, der die Entstehung
der Sprache aus kooperativen Handlungszusammenhängen erklärt).
Wenn man ein kollektives Unternehmen wie die Jagd auf Großwild mit
dem Jagdverhalten der Primaten vergleicht, erkennt man die neuen
Anforderungen. Denn nun bedarf es einer funktionierenden Arbeitsteilung.
Die Beteiligten müssen sich über mögliche alternative Geschehensabläufe
und entsprechend variierte Muster der Kooperationen verständigen.
Wechselnde Konstellationen machen auch in actu gegebenenfalls eine
Kommunikation nötig. Eine andere Art von Kommunikationsbedarf
entsteht in den mehr oder weniger egalitären Gruppen über die Verteilung
der Beute. Während Primaten in ähnlichen Situationen jeweils ihre eigenen
Kräfte strategisch einsetzen, müssen die frühen Menschen ihre Beute mit
Rücksicht auf die Interessen von unbeteiligten Kindern (und Frauen? –
wenn das Klischee des männlichen Ernährers stimmen sollte) teilen. Mit der
Rücksichtnahme auf statusabhängige (von Alter und Geschlecht abhängige)
Verpflichtungen kommen normative Gesichtspunkte ins Spiel. Ein wie auch
immer rudimentäres Verwandtschaftsverhältnis geht insofern mit
Sprachfähigkeit im Sinne des kontextspezifischen Gebrauchs von Symbolen
zusammen, als ein Status oder eine Handlungsnorm nur in der Weise
Bestand haben, dass sie in ihrem Bedeu I_233 tungsgehalt von allen
Gruppenmitgliedern intersubjektiv verstanden und anerkannt werden.
Diese Überlegung gilt erst recht für ein auf dem Inzesttabu beruhendes
Verwandtschaftssystem, das für die Entstehung soziokultureller
Lebensformen konstitutiv ist und den gesellschaftlichen Verkehr insgesamt
strukturiert. Schließlich steigert das Familienleben den
Kommunikationsbedarf, und dies nicht nur aus funktionalen Gründen. Die
verstetigte Bindung heterosexueller Paare und die enge Mutter-Kind-
Beziehung müssen auch den kommunikativen Austausch von Gefühlen
intensiviert haben. Trotz der empirischen Anhaltspunkte behalten die
interpolierenden Überlegungen natürlich einen hypothetischen Status.
So ist die Annahme nicht unplausibel, dass sich die Lebensform von
Homo sapiens kontinuierlich über lange Perioden herausgebildet und
irgendwann, vielleicht als Folge der zunehmenden Komplexität des
Gruppenlebens,[251] auch das sprachliches Niveau der Verständigung nötig
gemacht hat. Dieses Szenario legt die Vorstellung nahe, dass sich auch der
Übergang von der signalsprachlichen Tierkommunikation zum Gebrauch
bedeutungsidentisch verwendeter Symbole langfristig als ein kumulativer,
gleichsam stufenloser Lernprozess vollzogen haben könnte. Dieses
suggestive Bild wird durch ethologische Beobachtungen gestützt; denn
schon Affen verfügen über ein großes Repertoire an angeborenen und
erlernten Lauten, Gesten und körpersprachlichen Signalen, die zum Teil
dem Vokabular menschlicher Ausdrucksmittel einverleibt worden sind.[252]
Andererseits verschleiert eine empiristische Sicht die kategorialen
Unterschiede, die mit der evolutionären Errungenschaft der Sprache
auftreten. Mit dem Übergang zur sprachlichen Kommunikationsstufe
verändert sich zugleich der Modus des Lernens selbst. Sobald die unter
Primaten unbekannte Form der symbolisch vermittelten Kommunikation
einsetzt, wird nicht nur arbeitsteilige Kooperation möglich; vielmehr kann
dann das Imitationslernen durch das Lernen von Anderen, das heißt durch
die Weitergabe von Wissen ergänzt und überholt werden. Die kulturelle
Überlieferung, die die genetisch gesteuerte I_234 natürliche Evolution ablöst,
ist von einer intersubjektiven Beziehung zwischen Sprecher und Adressaten
und deren Fähigkeit, ihre auf etwas in der objektiven Welt
Wahrgenommenes gerichteten Intentionen zu teilen, abhängig. Und genau
diese elementare Verschränkung einer horizontalen Beziehung zwischen
Personen mit einer von dieser gemeinsamen Basis ausgehenden vertikalen
Beziehung zu Sachverhalten wird durch das Dazwischentreten einer
öffentlichen, von beiden Seiten wahrgenommenen und als Symbol
verstandenen Geste ermöglicht.
Die Relevanz, die diese philosophische Einsicht für die Naturgeschichte
der Sprache hat, bestätigt Michael Tomasello empirisch in vergleichenden
Untersuchungen mit Menschen und Schimpansen.[253] Wir können uns die
Struktur der folgenreichen Koordinierung von zwei komplementären
Perspektiven, die auf der pragmatischen Ebene selbst für den Austausch von
einfachen Gesten vorausgesetzt wird, zunächst an einer alltäglichen Szene
zwischen erwachsenen, das heißt kompetenten Sprechern klarmachen:
Jemand zeigt stumm auf die Tür zum Nebenzimmer und macht eine
Gebärde (zum Beispiel legt er den Zeigefinger, von einem »Pssst« akustisch
unterstrichen, an die gespitzten Lippen), die den Eintretenden auffordern
soll, eine im Nebenraum ruhende Person nicht zu stören. Für das Gelingen
der Kommunikation müssen mindestens die folgenden Bedingungen erfüllt
sein: Die Beteiligten nehmen,
– aufgrund einer intentional erzeugten Gebärde,
– die Beziehung zwischen Sprecher und Adressaten auf, die sich jeweils
aus Ich- und Du-Perspektiven aufeinander einstellen;
– sie verschränken diese interpersonale Beziehung jeweils mit ihrer
eigenen intentionalen Beziehung zu einem Sachverhalt in der Welt,
– indem sie sich kraft der Gesten gemeinsam auf denselben Sachverhalt
beziehen,
– wobei der Hörer aus einem bereits geteilten normativen
Hintergrundwissen die Konsequenz zieht, dass die Mitteilung des
Sachverhalts als eine Bitte – die schlafende Person nicht zu stören –
gemeint ist.
I_235 Die Beteiligten nehmen »kraft« oder »dank« der intentional
erzeugten Geste eine kommunikative Beziehung miteinander auf und
beziehen sich aufgrund der gemeinsamen Wahrnehmung dieser
Körperbewegung auf denselben Sachverhalt. Freilich haben wir es hier mit
kompetenten Sprechern zu tun, die schon wissen, was ein Symbol ist, und
die die Bedeutung dieser bestimmten Gebärden kennen.
Woraus besteht dieses Wissen? Am praktischen Wissen, wie man eine
öffentlich wahrnehmbare physische Bewegung als eine Gebärde versteht,
die für mehrere Personen »dasselbe« bedeutet, können wir zwei
intentionale Einstellungen unterscheiden, die sich im Akt der Verwendung
und des Verstehens der Geste miteinander verschränken: In der
kommunikativen Verwendung des Symbols nehmen die Beteiligten
miteinander eine interpersonale Beziehung auf, indem beide sich reziprok
aufeinander als die jeweils zweite Person einstellen; gleichzeitig machen sie
von dem Symbol einen darstellenden Gebrauch, wobei sie sich in der
objektivierenden Einstellung eines Beobachters intentional auf einen
Gegenstand oder einen Sachverhalt richten.[254] Das materielle Element, der
Laut oder die Körperbewegung, löst wie ein Katalysator die Verschränkung
der sozialkognitiven, nämlich auf die andere Person gerichtete Intention,
mit der im engeren Sinne kognitiven, nämlich auf etwas in der Welt
gerichtete Intention aus. Die Geste ist das gemeinsam
wahrgenomme I_236 ne öffentliche Element, worin sich die Intentionen der
Beteiligten treffen. Angeregt durch die übereinstimmende Wahrnehmung
dieses Katalysators, werden die jeweiligen Intentionen der Beteiligten auf
etwas in der Welt über die gegenseitige Perspektivenübernahme so
vergemeinschaftet, dass shared intentions, also intersubjektiv geteilte
Wahrnehmungen und Absichten entstehen können. Indem die Beteiligten
eine interpersonale Beziehung eingehen, übernehmen sie reziprok die auf
etwas in der Welt gerichtete Wahrnehmungsperspektive des jeweils
Anderen und bilden auf diese Weise ein gemeinsames Wissen.
Michael Tomasello hat in seinen einfallsreichen
entwicklungspsychologischen Untersuchungen genau diese triadische
Beziehung, die durch die symbolische Verknüpfung des vertikalen
Weltbezugs mit der horizontalen Beziehung zum Anderen zwischen den
Kommunikationsteilnehmern und dem Gegenstand ihrer Kommunikation
hergestellt wird, schon für Interaktionen mit Kindern im vorsprachlichen
Alter nachgewiesen.[255] Ungefähr einjährige Kinder folgen der Zeigegeste
von Bezugspersonen und benutzen selber den Zeigefinger, um sowohl die
Aufmerksamkeit anderer Personen auf bestimmte Dinge zu lenken wie auch
mit diesen ihre Wahrnehmungen zu teilen. Am Funktionieren dieser
einfachen Geste entdeckt Tomasello den sozialkognitiven Kern der
pragmatischen Voraussetzungen für sprachliche Verständigung überhaupt:
Auf der horizontalen Ebene übernehmen Mutter und Kind zusammen mit
der Blickrichtung auch die Intention des jeweils Anderen, sodass eine
soziale Perspektive entsteht, aus der beide in vertikaler Richtung ihre
Aufmerksamkeit auf dasselbe Objekt richten. Mithilfe der Zeigegeste – bald
auch in Kombination mit nachahmenden Gesten – erwerben Kinder von
dem gemeinsam identifizierten und wahrgenommenen Gegenstand ein
intersubjektiv geteiltes Wissen.
In der Ontogenese der Kinder kommen zur Zeigegeste alsbald
nachahmende Gebärden hinzu. Diese repräsentieren Eigenschaften von
Gegenständen. Aus beiden Elementen entwickeln sich später Ausdrücke für
die beiden Komponenten der Aussage, Referenz und Beschreibung. Die
deskriptiven Komponenten stehen für Eigenschaf I_237 ten von
Gegenständen, auch für solche von Objekten außerhalb der Sichtweite des
Kindes. Hier sehen wir in statu nascendi, wie die Gestenkommunikation auf
dem Wege einer intersubjektiven Verschränkung der jeweiligen
Blickrichtungen und Wahrnehmungen den objektivierenden Bezug zu etwas
in der Welt erst entstehen lässt. Die Welt verliert erst aus dem
dezentrierenden Abgleichen der reziprok übernommenen Perspektiven
schrittweise die Züge einer »egozentrisch« wahrgenommenen Umgebung.
[256] Damit gewinnt das Kind die Distanz zur Welt, die wir mit der

Intentionalität von Bezugnahmen auf und Einstellungen zu Objekten und


Sachverhalten verbinden. Diese vergegenständlichende Distanzierung vom
wahrgenommenen Gegenstand resultiert aus der Verschränkung der
eigenen Wahrnehmungsperspektive mit der vom Anderen übernommenen
Perspektive auf denselben Gegenstand. Und weil diese
Perspektivenübernahme durch die Zeigegeste veranlasst oder vermittelt
wird, begreift das Kind, indem es eine objektivierende Einstellung zum
Weltgeschehen einnimmt, die Repräsentationsfunktion des Zeichens: dass
dieses »für« das bezeichnete Objekt steht und dass es selbst, vermittels
dieses Zeichens, sich mit der anderen Person »über« etwas in der Welt
verständigt. Nachahmungsverhalten und Imitationslernen sind im Tierreich
weit verbreitet. Aber in der beobachteten Nachahmung eines als Vorbild
dienenden Verhaltens eine Repräsentation dieses Verhaltens zu erkennen,
verlangt einen weiteren Schritt – den in der Evolution der Sprache
entscheidenden Schritt von der zentrierten Wahrnehmung eines Objekts in
»meiner« Umwelt zu der dezentrierten Wahrnehmung eines Objekts als
eines unter einer Bezeichnung wieder erkennbaren und beschreibbaren
Objekts in der objektiven, das heißt mit allen anderen Sprechern
intersubjektiv geteilten Welt.
I_238 Dass die beiden für Sprachverwendung konstitutiven Leistungen –
die Verschränkung der interpersonalen Einstellungen zueinander mit der
objektivierenden Einstellung zur Welt einerseits, das entsprechende
Verständnis der Repräsentationsbeziehung zwischen Symbol und
Gegenstand andererseits – eine evolutionäre Neuerung markieren, lässt sich
unter anderem dadurch belegen, dass unter Primaten weder der für uns
typische Augengruß noch Pantomime oder Zeigegeste beobachtet werden.
Affen blicken sich nicht gegenseitig »in« die Augen, sind also füreinander
keine zweiten Personen. Und kein Primat lenkt die Aufmerksamkeit eines
Artgenossen auf einen für diesen selbst relevanten Gegenstand in der
Umgebung, indem er entweder direkt auf diesen zeigt oder dessen
charakteristische Züge durch Pantomime nachahmt. Tomasellos
vergleichende Untersuchungen an Kindern und Schimpansen beleuchten
deren Verhalten als eine Kontrastfolie, von der sich die phylogenetischen
Anfänge der menschlichen Kommunikation abheben.[257] Schimpansen
scheinen nicht aus den Schranken ihrer selbstbezogenen, von jeweils
eigenen Interessen gesteuerten Sicht ausbrechen zu können.[258] Sie sind
zwar außergewöhnlich intelligent, können aber jene interpersonale
Beziehung mit einem Artgenossen, die eine symbolische Vergesellschaftung
ihrer Kognition ermöglichen würde, nicht aufnehmen.
Menschenaffen verfügen über eine flexible Gestenkommunikation,
handeln selber intentional und verstehen im Umgang mit Artgenossen oder
Menschen, dass diese eigene Wahrnehmungen machen und I_239 eigene
Intentionen verfolgen; sie können auch die räumliche Differenz zwischen
dem eigenen Standort und dem anderer richtig einschätzen.[259] Dieses
Verständnis erlaubt Primaten sogar eine Art von praktischen
Schlussfolgerungen, die zu Voraussagen über das Verhalten anderer führen:
»Diese Art des praktischen Schlussfolgerns im Hinblick auf andere – im
Sinne der psychologischen Prädikate wollen, sehen und tun – ist
grundlegend für alle Arten der sozialen Interaktion bei Primaten und
Menschen, einschließlich der sozialen Interaktion, die als soziales Handeln
aufgefasst wird, bei dem Individuen versuchen, andere dazu zu bringen, das
zu tun, was sie von ihnen wollen.«[260] Der bemerkenswerte kognitive
Unterschied in der Art, wie Schimpansen und Menschen jeweils
miteinander kommunizieren und umgehen, besteht erst darin, dass
Primaten diese fabelhaften Fähigkeiten zu intentionalem Handeln, zum
Verständnis der Handlungsintentionen anderer und zum praktischen
Schlussfolgern gewissermaßen egozentrisch, das heißt ausschließlich in
einem selbstbezogenen strategischen Sinne zur Manipulation von
Artgenossen im Interesse eigener Absichten einsetzen. Schimpansen
kooperieren nicht miteinander in dem Sinne, dass mehrere Artgenossen
ihre Handlungen in der Absicht, ein gemeinsames Ziel zu erreichen,
koordinierten. Ihnen fehlt der objektivierende Weltbezug, der nötig wäre,
um sich die Kooperation, an der sie in actu beteiligt sind, selber als ein in
der Welt projektiertes Geschehen vorzustellen: »Kleinkinder verstehen die
gemeinsame Tätigkeit aus einer ›Vogelperspektive‹, wobei das gemeinsame
Ziel und die komplementären Rollen alle in einem einzigen Format
vorgestellt werden, was es ihnen ermöglicht, die Rollen bei Bedarf zu
tauschen. Schimpansen hingegen verstehen ihre eigene Handlung aus einer
Erste-Person-Perspektive, nicht aber aus der Vogelperspektive auf die
Interaktion im Ganzen. Deshalb gibt es für sie keine Rollen und keinen Sinn,
demzufolge sie bei ›derselben‹ Tätigkeit die Rollen tauschen könnten.«[261]
Diese Beobachtung besagt nicht, dass Schimpansen nicht ein reiches
soziales Leben entwickelten. Aber es sind nicht gemeinsame Intentionen,
über die ihr Zusammenleben in der Horde ge I_240 steuert und organisiert
wird. Aus sozialpragmatischer Sicht besteht die entscheidende evolutionäre
Errungenschaft von Homo sapiens in der Fähigkeit, sich auf einen Genossen
so einzustellen, dass beide in der gestenvermittelten Bezugnahme auf
objektive Gegebenheiten dieselben Ziele verfolgen, also kooperieren können.
Der sozialkognitive Unterschied, der die unter den großen Affen fehlende
Kooperation erklärt, besteht freilich nicht nur in einem Mangel an shared
intentions. Das Defizit im Vergleich zu Menschenkindern bezieht sich nicht
allein auf das Fehlen potentiell gemeinsamer Handlungsabsichten und
Wahrnehmungen, sondern auch auf die Abwesenheit des gemeinsamen
Kontextes »ihrer Welt«. Die auf Distanz gebrachte, als objektiv unterstellte
Welt ist eine »für uns« nicht nur in dem unverfänglichen Sinne, dass die
Angehörigen einer Sprachgemeinschaft ein gemeinsames Wissen über
etwas in der objektiven Welt bilden. Vielmehr beziehen sie sich auf dieses
objektive Geschehen aus dem intuitiv gegenwärtigen Horizont schon
geteilter und gewusster, nämlich sozial eingelebter Praktiken heraus.
Die entwickelte sprachliche Kommunikation kann als die Art von
Kommunikation beschrieben werden, die über die bedeutungsidentische
Verwendung von Symbolen eine gemeinsame objektive Welt im Horizont
einer jeweils intersubjektiv geteilten Lebenswelt erschließt. Auch diese
Verschränkung der objektiven Welt mit der Lebenswelt gehört zu den
pragmatischen Ermöglichungsbedingungen sprachlicher Kommunikation.
Um diesen Komplex zu begreifen, müssen wir berücksichtigen, dass sich die
kritische Rolle von Gesten für die Entstehung der triadischen Beziehung
nicht in der Rolle eines Katalysators für die Erzeugung intersubjektiv
geteilten Wissens erschöpft. Das mag für die Anfänge gelten, aber erst der
nächste Schritt einer Konventionalisierung des Zeichengebrauchs macht das
Zeichensubstrat selbst zum Träger von Bedeutungen. Erst die regelmäßige
Assoziation des geteilten Wissens mit jenen Lauten und
Körperbewegungen, die zunächst katalysatorisch gemeinsame
Aufmerksamkeit und geteiltes Wissen hervorrufen, führt zur symbolischen
Verkörperung semantischer Gehalte. Wir können zwei sozialkognitive
Voraussetzungen für die Symbolisierung von Gehalten unterscheiden: Ohne
das Dazwischentreten der intentional erzeugten, aber gemeinsam
wahrgenommenen gestischen Äußerung gibt es I_241 keine Koordinierung
der Beziehung zum Anderen mit der intentionalen Einstellung auf etwas in
der Welt; aber ohne eine dauerhafte Assoziation des geteilten Wissens mit
der Geste, die auf beiden Seiten die Koordinierung jener beiden Intentionen
veranlasst, gibt es keine symbolische Verkörperung von semantischen
Gehalten.[262] Der mentalistische Ausdruck »geteiltes Wissen« verdeckt die
welterschließend-konstituierende Leistung der Symbolisierung, die wir von
der sozialkognitiven Leistung interpersonaler Vergemeinschaftung
unterscheiden müssen.
Bisher haben wir die Vergesellschaftung einer schon unter Primaten
hochentwickelten Kognition unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass die
Verwendung von Gesten notwendig ist für die Verschränkung von reziprok
austauschbaren Perspektiven mit einer intentionalen, das heißt
vergegenständlichenden Distanzierung vom Druck der Umwelt. Für diese
Rolle qualifizieren sich Gesten unter anderem durch den öffentlichen
Charakter von Ausdrucksbewegungen, die von allen Beteiligten als
physische Elemente wahrgenommen werden können. Aber sobald diese
Gesten regelmäßig verwendet werden und sich zu konventionellen Trägern
intersubjektiv geteilten I_242 Wissens entwickeln, gewinnen sie gegenüber
dem Geist des einzelnen Subjekts den Eigensinn eines objektiven Geistes,
der zu einer zweiten Natur gerinnt. Sie generieren einen öffentlich
zugänglichen Raum von vorgeschossenen Deutungen, worin sich die
Kommunikationsteilnehmer vorfinden. In diesem Öffentlichkeit stiftenden
Charakter verrät sich die fingierende Kraft der Symbolisierung, die eine
gemeinsame Lebenswelt erzeugt. Dieses Moment von Poiesis bezeugen auch
ontogenetische Beobachtungen. Kinder lernen Symbole nicht nur verstehen,
sondern vergewissern sich spielerisch der Symbolisierungsleistung als
solcher. Am Spielverhalten kleiner Kinder hat die Psychologie immer schon
das Fingieren eines Als-ob fasziniert. Wenn es ein Zweijähriger in der
Interaktion mit Erwachsenen lustig findet, einen Bleistift wie eine
Zahnbürste zu gebrauchen, wechselt er bewusst zwischen den
Wirklichkeitsebenen, von denen die eine die andere symbolisch »vertritt«.
[263] Diese Lesart betont den selbständigen Status, den die

konventionalisierten Gesten als Bedeutungsträger oder Speicher


intersubjektiven Wissens erlangen. Demnach bildet sich zwischen den
Kommunikationsteilnehmern aufgrund des Verständnisses der Gebärde, die
für etwas in der Welt steht, eine gemeinsame Perspektive auf dieses Etwas
und ein intersubjektiv geteiltes Wissen von ihm.[264] Daher bedarf es zum
Verstehen einer Gebärde keiner komplexen Folgenkalkulation von
wechselseitig erkannten Absichten. Diese Auffassung vermeidet die
Schwierigkeit einer mentalistischen Erklärung, die als Ausgangsbedingung
für die Verwendung von Symbolen eine anspruchsvolle Reflexionsstufe
voraussetzt: Die Beteiligten müssen bereits über die Fähigkeit verfügen,
voneinander rekursives Wissen, also Metarepräsentationen auszubilden.
[265]
Unter Schimpansen fehlt die Art von Kommunikation, die über die
bedeutungsidentische Verwendung von Symbolen eine gemeinsame
I_243 objektive Welt im Horizont einer jeweils intersubjektiv geteilten
Lebenswelt erschließt. Aber das Heraustreten aus der egozentrischen
Umweltverhaftung in eine intersubjektiv geteilte, gemeinsam interpretierte
Welt verbindet sich, wie wir nun sehen, mit einer weiteren, über die
Gestenkommunikation hinausgehenden Symbolisierungsleistung. Mit der
Ablösung des gemeinsamen Wissens vom subjektiven Geist verselbständigt
sich das Mentale nicht nur in der sprachlichen Kommunikation; diese ist
nicht die einzige Form der Externalisierung von Bewusstseinsleistungen.
Auf der Grundlage sprachlicher Kommunikation bilden sich mit oralen
Überlieferungen, Familienstrukturen, Sitten und Gebräuchen auch andere
Gestalten des objektiven Geistes. Mit Traditionen und eingewöhnten Normen
entsteht ein öffentlich zugänglicher Raum von symbolischen Gegenständen.
Sozialontologisch betrachtet gewinnen diese merkwürdigen Gegenstände
Existenz zunächst in den kommunikativen Äußerungen, Handlungen und
Artefakten vergesellschafteter Kommunikationsteilnehmer und Akteure.
Für diese bildet das Geflecht von Praktiken und Überlieferungen einen
performativ gegenwärtigen und intersubjektiv geteilten Hintergrund, wann
immer sie sich intentional aufeinander und zugleich auf etwas in der
objektiven Welt beziehen. Der Geist externalisiert sich nicht nur in
kommunikativ verwendeten Symbolen, sondern in normativen Strukturen
der Lebenswelt, welche die Angehörigen so wie ihre Sprache über ein
implizites Hintergrundwissen miteinander teilen.
Gesellschaft und Kultur sind nicht allein aus den bisher betrachteten
kognitiven und sozialkognitiven Leistungen zu erklären, die für eine
sprachliche Kommunikation auf der Stufe symbolisch vermittelter
Interaktionen in Zusammenhängen arbeitsteiliger Kooperation notwendig
sind. Auch die Mythenbildung, überhaupt eine traditionsfeste Überlieferung
von kollektivem Wissen, ist ohne den Übergang zu komplexeren
Sprachsystemen, wie wir ihn auch in der Ontogenese beobachten, schwer
vorstellbar. Die Gebärdensprache weist bereits die triadische Beziehung auf,
die zwischen Ego und Alter und der gemeinsamen Referenz auf etwas in der
Welt besteht; aber im Lichte der grammatisch voll ausgebildeten
Kommunikation zeigen sich die Defizite, die Matthias Vogel am Muster der
symbolisch vermittelten Interaktion zwischen Eltern und Kleinkind
analy I_244 siert.[266] Diese Kommunikationsstufe unterscheidet sich von der
grammatisch ausgebildeten Kommunikation noch durch drei auffällige
Defizite:
– durch das Fehlen einer Grammatik, die der Sprache ihre beispiellose
kompositionale Form verleiht;
– durch die Bindung des semantischen Gehalts an ein gegebenes Medium,
das heißt an akustische, visuelle oder motorische Ausdrucksformen; und
schließlich
– durch die holistische und konkrete Natur der dargestellten Gehalte, die
sich einer Differenzierung zwischen propositionalen Einstellungen und
Aussageinhalten noch entziehen.
Die durch einfache Symbole oder Gesten vermittelte Kommunikation
verlangt zwar die Bezugnahme auf und die Repräsentation von etwas; aber
das Dargestellte selbst hat noch nicht die propositional ausdifferenzierte
Form Frege'scher »Gedanken«, sondern besteht aus dem konkreten Muster
einer komplexen Erfahrung, die typischerweise in bestimmten
Konstellationen hervorgerufen wird. Der semantische Gehalt, den
beispielsweise Interjektionen, Einwortsätze oder kindliche Gesten
ausdrücken, besteht – wie beim Ausruf »Feuer!«, der sich gleichzeitig auf
einen Vorgang bezieht, Furcht ausdrückt und um Hilfe bittet – aus einem
Syndrom von drei noch ungetrennten Elementen: der Darstellung einer
Episode oder eines Zustandes in der Welt, den entsprechenden
Expressionen je eigener Stimmungen und Affekte sowie den dazugehörigen,
an Andere gerichteten Imperativen und Verhaltenserwartungen.[267] Erst in
den Sät I_245 zen einer grammatischen Sprache, die ein vollständiges
Referenzsystem ausbildet und die situationsunabhängige Bezugnahme auf
Gegenstände und Sachverhalte erlaubt,[268] kann sich der propositionale
Gehalt einer potentiellen Aussage aus der Fusion mit den selbstbezogenen
expressiven und den adressatenbezogenen appellativen Gehalten lösen. Erst
hier gliedern sich grammatisch strukturierte Sprechhandlungen in
propositionale und modale, das heißt illokutionäre Ausdrucks- oder
Beziehungskomponenten, die in der Weise zusammengesetzt sind, dass die
Kommunikationsteilnehmer gegenüber denselben Sachverhalten wechselnde
propositionale Einstellungen einnehmen können.
I_246 3. Der Sinn des Sakralen
(1) Ich zähle die durch Symbole (Gesten, Gebärden) vermittelten
Interaktionen, in denen kommunikatives und soziales Handeln noch eins
sind, zur im weiteren Sinne sprachlichen Kommunikationsstufe, weil hier
schon die triadische Beziehung zwischen Ego, Alter und innerweltlichem
Geschehen realisiert ist, die für sprachliche Kommunikation im engeren
Sinne charakteristisch ist. Die triadische Struktur bildet den pragmatischen
Rahmen für die bedeutungsidentische Verwendung von Symbolen; sie ist
damit diejenige evolutionäre Errungenschaft, welche gleichzeitig den
kognitiven Bezug zu einem objektivierten Geschehen in der Welt und die
humanspezifische Form der arbeitsteiligen Kooperation ermöglicht. Die
Vergesellschaftung der Kognition vollzieht sich über die
Konventionalisierung des Zeichengebrauchs, die Speicherung kollektiven
Wissens, die Ausbildung gemeinsamer Praktiken und den Aufbau einer
performativ gegenwärtigen, intersubjektiv geteilten Lebenswelt.
Soziokulturelle Lebensformen – mit kulturellen Überlieferungen und
gesellschaftlichen Institutionen – konnten erst auf der Grundlage der
propositionalen Ausdifferenzierung der Gebärdensprache zu einer
grammatischen Sprache entstehen. Im Laufe dieses Prozesses muss sich die
gattungsgeschichtliche Erfahrung der kommunikativen Vergesellschaftung
von kognitiven Leistungen und Antriebsstrukturen vertieft haben, sodass
sich erst mit dem Übergang zur Beherrschung einer grammatischen Sprache
zeigen kann, was denn das Problem ist, auf das der sakrale Komplex die
Antwort darstellt.[269]
I_247 Zunächst interessiert mich, wie sich der Ritus als eine besondere
Form der Kommunikation zur Alltagskommunikation verhält.[270] Anders
als der Mythos, der auf das Medium einer grammatisch ausgebildeten
Sprache angewiesen ist, gehört der Ritus der weniger komplexen Stufe
einer, wie wir nun sagen können, symbolisch vermittelten Kommunikation
an. Die mimetischen Fertigkeiten unserer Vorfahren haben sich
offensichtlich nicht in einer evolutionär vorteilhaften
Gestenkommunikation erschöpft, die kooperative Alltagspraktiken
ermöglicht. Mimetische Fähigkeiten haben sich gleichzeitig in der
Modellierung von auffälligen Objekten und Vorgängen, in Tänzen,
pantomimischen Darstellungen, Skulpturen, Malereien, Denkmälern und so
weiter entfaltet. Nicht nur die Ausdrucksmittel des menschlichen
Organismus, sondern auch vorgefundene Materialien boten sich als Medien
der Nachahmung an. Ikonische Darstellungen, die nicht wie nachahmende
Gebärden für kommunikative Zwecke konsumiert werden, verselbständigen
sich gegenüber flüchtigen Handlungskontexten, wenn sie beispielsweise in
Ton und Stein überdauern. Ob die entsprechenden archäologischen
Überreste für die Annahme einer eigenständigen »mimetischen Kultur«
genügen, können wir dahingestellt sein lassen.[271] Aber in diesem
Zusammenhang macht Merlin Donald eine interessante Beobachtung: In
den rhythmischen Bewegungen des Tanzes verbinden sich ikonische
Darstellungen verschiedener Modalitäten miteinander. Die
Be I_248 schreibung, die er anbietet, erinnert nicht zufällig an das Schauspiel
ritueller Praktiken: »Das Gespür für Rhythmik ist eine integrative
mimetische Fähigkeit, die sowohl mit der stimmlichen als auch
visuomotorischen Nachahmung in Zusammenhang steht. Sie ist eine
einzigartige menschliche Eigenschaft; kein anderes Wesen ist ohne
Weiteres, das heißt ohne Training dazu in der Lage, Rhythmen
aufzunehmen und zu imitieren. Die Rhythmuskompetenz ist supramodal;
das heißt: Ein einmal etablierter Rhythmus kann mittels einer beliebigen
motorischen Modalität ausagiert werden – durch die Hand, die Füße, den
Mund oder den ganzen Körper. Er ist offenkundig selbstverstärkend in
ebenjener Weise, in der explorierendes Wahrnehmungsverhalten oder
motorisches Spielen selbstverstärkend sind. Die Rhythmuskompetenz ist in
gewisser Weise der Inbegriff einer mimetischen Fähigkeit, weil sie die
Koordination disparater Aspekte und Modalitäten der Bewegung
erfordert.«[272] Der Ritus ist wesentlich eine rhythmische Bewegung, die
Tanz, Pantomime, Körperbemalung und Musik mit audiovisuellen und
motorischen Ausdrucksgesten zu einer darstellenden Inszenierung
verbindet.
Von anderen ikonischen Darstellungen unterscheidet er sich freilich, wie
erwähnt, durch eine merkwürdige Selbstreferenz: Rituelle Praktiken
beziehen sich, obwohl doch darin gerade das Neue der symbolisch
vermittelten Kommunikation besteht, auf kein gemeinsam zu
identifizierendes Etwas »in der Welt«. Während die symbolisch vermittelte
Kommunikation aus alltäglichen Kooperationszusammenhängen entsteht,
ist die rituelle Kommunikation von der Alltagswelt abgekehrt und bleibt
eigentümlich in sich befangen. Die auffällige Abwesenheit irgendeines
Referenten in der Welt unterscheidet den Ritus von den profanen Gestalten
symbolisch vermittelter Kooperation und verleiht ihr den appeal des
Außeralltäglichen. Während die rhythmischen Bewegungen in der Gruppe
eine Gemeinsamkeit der gerichteten Aufmerksamkeit und die
Gleichschaltung der Intentionen ausdrücken, zu reziproker Nachahmung
der Gesten und gegenseitiger Perspektivenübernahme anhalten und
offensichtlich eine intersubjektiv geteilte Erfahrung widerspiegeln, zeigt der
dritte Pfeil der triadischen Struktur ins Leere – jedenfalls so lange, wie wir
für I_249 das Erlebte und Intendierte nach einem Gegenstand oder Zustand
in der objektiven Welt suchen. Robert N. Bellah verbindet Hypothesen von
Robin Dunbar und Merlin Donald, um den Ritus in diesem Sinne als eine
Art »speech before language« zu begreifen: »Eine Gesellschaft, die
mimetische Rituale praktiziert, ohne sich dabei einer Sprache zu bedienen,
wirkt geradezu wie die Reinform einer ›elementaren Form‹ im Sinne
Durkheims, denn die Körper derjenigen, die das Ritual vollziehen, können
so gut wie gar nichts repräsentieren außer sich selbst.«[273] Diese
Beschreibung erklärt noch nicht, warum auf der evolutionär neuen Stufe
der kommunikativen Vergesellschaftung überhaupt eine solche auffällige
Variante entsteht. Durkheim schreibt diesem Verhalten eine Solidarität
stiftende Funktion zu. Aber auf was antwortet diese regenerierende Kraft
des Ritus? Was macht die im Alltag kommunikativ vergesellschafteten
Gruppen überhaupt so anfällig, dass Gefährdungen des sozialen
Zusammenhalts regelmäßig auftreten und durch eine auf solche Fälle
spezialisierte Sonderform der außeralltäglichen Kommunikation
aufgefangen werden müssen?
Äußere Gefahren können ein rituelles Verhalten nur hervorrufen, wenn
diese auf eine Labilität treffen, die in einer irritierbaren Form der
gesellschaftlichen Integration selbst angelegt ist. Wir haben gesehen, dass
der Referent dieser in sich gekehrten Kommunikationsform nicht mit
Händen zu greifen ist, also kein in der Welt identifizierbares Ereignis ist,
sondern in einer anderen Dimension als die wahrgenommene Umgebung
liegen muss. Die Störungen, auf die der Ritus antwortet, brechen aus dem
Inneren des gesellschaftlichen Kollektivs auf; sie scheinen mit einer
spezifischen Anfälligkeit der evolutionär neuen, kommunikativen Form der
Vergesellschaftung zusammenzuhängen. Den Grund für diese Anfälligkeit –
und damit das Problem, für das der sakrale Komplex die Lösung darstellt –
dürfen wir freilich nicht unmittelbar in dem Umstand suchen, dass die Form
der kommunikativen Vergesellschaftung einen neuen Mechanismus der
Handlungskoordinierung darstellt und damit die symbolische
Umstrukturierung der Antriebe zu Handlungsmotiven betrifft. Bevor ich auf
die Transformation der Antriebsstruktur zu I_250 rückkomme, müssen wir
uns an den kognitiven Schub erinnern, der mit der Entstehung der Sprache
Hand in Hand geht. Zwar ist die symbolisch vermittelte Kommunikation
eine neue Form des sozialen Handelns; aber es sind zunächst neue kognitive
und sozialkognitive Leistungen, die zusammen mit der Verwendung von
Symbolen entstehen. Über dem Ritus, der auf die in der kommunikativen
Vergesellschaftung angelegten Störungen der Solidarität antwortet, dürfen
wir die Herausforderungen kognitiver Art nicht vergessen, auf die der
Mythos antwortet.
(2) Die in Kooperationszusammenhängen entstandene
Gestenkommunikation löst Probleme der Handlungskoordinierung dadurch,
dass sie gemeinsames Wissen von etwas in der objektiven Welt ermöglicht.
Auf der neuen Kommunikationsstufe öffnet sich der Geist des Menschen
gegenüber einem auf Distanz gebrachten und gemeinsam interpretierten
Weltgeschehen. Mit dieser Weltoffenheit setzt er sich einer zunehmenden
Flut von Informationen aus, die er verarbeiten muss.[274] Das jeweils Neue
muss in die schon bekannten Zusammenhänge eingeordnet werden. Freilich
kann sich erst in dem Maße, wie sich mit der grammatischen
Ausdifferenzierung der Sprache deren Darstellungsfunktion aus den
Kontexten der gesellschaftlichen Kooperation löst, jener Reichtum an
Beobachtungen aufgedrängt haben, der das »wilde Denken« zu einer
Verarbeitung in Gestalt mythischer Weltbilder herausfordert. Zwar müssen
wir im Lichte der Chronologie der Hominisation die Entstehung einer
grammatischen Sprache viel früher ansetzen als den Beginn der
neolithischen Gesellschaften, deren Lebensformen die Kulturanthropologen
anhand ihrer Erfahrungen mit »modernen« Stammesgesellschaften
rekonstruieren. Aber angesichts der fehlenden empirischen Evidenzen
können wir auf Mittel der begrifflichen Analyse zurückgreifen, um das
kognitive Desiderat festzustellen, das nach meiner Vermutung mythische
Weltbilder im Zuge der Ablösung der Gebärdensprachen I_251 durch eine
propositional ausdifferenzierte Sprache erfüllt haben. Denn mit deren
Grammatikalisierung hat sich die Darstellungsfunktion der Sprache von
Imperativen der Handlungskoordinierung gelöst. Daraufhin musste die
explodierende Fülle der auf den beobachtenden Geist einstürmenden
Eindrücke und Umstände eingefangen, mussten die »Tatsachen« in einen
kohärenten Zusammenhang gebracht und kognitiv beherrschbar gemacht
werden. Abgesehen vom Eintritt in eine gemeinsame soziale Welt, mussten
die Erfahrungen mit dem objektivierten innerweltlichen Geschehen, das nun
nicht mehr nur in den handlungsrelevanten Ausschnitten, sondern in einem
kognitiv erheblich erweiterten Horizont begegnete, in einen strukturierten
Zusammenhang gebracht werden.
Der Zusammenhang des Übergangs zur grammatischen Sprache mit
»Weltoffenheit« und mythischem Weltbild bedarf der Erläuterung. Die
Ausdifferenzierung propositionaler Bestandteile (»p« oder »-dass p«) aus
einem holophrastischen Komplex, in dem noch die repräsentativen mit den
expressiven und appellativen Bedeutungen amalgamiert waren, markieren
den Übergang von der symbolisch vermittelten Interaktion zur sprachlichen
Kommunikation im engeren Sinne. Die repräsentative Dimension der
Sprache beruht auf den kognitiven Voraussetzungen für einen
objektivierenden Weltbezug. Wer sprechen lernt, muss sich von der
Unmittelbarkeit des flutenden Auf und Ab episodischer Erfahrungen
befreien und intentional Abstand von der »Welt« als der Gesamtheit der
Gegenstände möglicher Aussagen gewinnen. Die sprachliche Repräsentation
von Sachverhalten bedeutet, dass der Sprecher auch unabhängig von der
jeweiligen Situation auf einen in der Welt vorkommenden Gegenstand oder
auf ein Ereignis Bezug nehmen kann, um »etwas« von diesem Referenten
auszusagen. Zu einem solchen Sachverhalt kann der Sprecher wiederum
verschiedene propositionale Einstellungen einnehmen.[275] Diese
Einstellungen spiegeln sich im Modus der Sprachverwendung (»Mp«), der
festlegt, wie der Adressat einen Sachverhalt zu verste I_252 hen hat – mit
dem Blick auf die Welt »als« Beschreibung einer Tatsache oder mit dem
selbstbezogenen Blick auf den Sprecher selbst »als« Ausdruck subjektiver
Erlebnisse oder mit dem Blick auf die interpersonale Beziehung »als«
Aufforderung, Versprechen, Ratschlag und so weiter. Der Modus verweist
allgemein auf die soziale Dimension der Verständigung zwischen Sprecher
und Adressat.
Wir haben gesehen, dass mindestens zwei sozialkognitive
Voraussetzungen schon für den elementaren Fall der Verwendung einzelner
Symbole erfüllt sein müssen. Die Teilnehmer an einer
Gestenkommunikation müssen sich performativ auf zweite Personen
einstellen und einen reziproken Wechsel zwischen Sprecher- und
Hörerperspektiven vornehmen können; und sie müssen die horizontale
Verständigung zwischen Sprecher und Hörer mit der gemeinsam
eingenommenen vertikalen Blickrichtung auf Sachverhalte, die für jede
bedeutungsidentische Verwendung von Symbolen erforderlich ist,
verkoppeln. Aber einen eigenen grammatischen Ausdruck finden diese
Bestandteile erst in der voll ausgebildeten Sprache, nämlich einerseits im
Rahmen des Systems der referentiellen Ausdrücke und andererseits in der
Doppelstruktur der Sprechhandlung, die sich aus den unabhängig
voneinander variierenden Bestandteilen »M« und »-p« zusammensetzt.
Schließlich gewinnt das Referenzsystem eine neue Dimension mit der
Differenzierung der Beobachterperspektive von der Teilnehmerperspektive.
Erst die Integration der bereits performativ eingeübten Sozialperspektiven
der Ich-Du-Wir-Beziehungen mit der Beobachterperspektive schafft die
kognitive Grundlage für die Vervollständigung des Systems der
Personalpronomina um eine dritte, neutrale Beobachterposition. Die
Beherrschung dieses Systems verlangt von Ego und Alter die Fähigkeit, sich
ihre dyadische Beziehung reflexiv – aus der Sicht eines Dritten – als etwas
zugleich in der Welt Bestehendes zu vergegenwärtigen. Damit gewinnen die
Beteiligten, während sie sich im Akt der Verständigung über etwas in der
Welt engagieren, ein Hintergrundbewusstsein davon, dass sich dieser
Kommunikationsvorgang gleichzeitig als etwas in derselben Welt ereignet.
Dieses Bewusstsein verdankt sich der Möglichkeit, zwischen engagierter
Teilnahme und unpersönlicher Betrachtung hin und her zu pendeln.
Mit der repräsentativ-kommunikativen Doppelfunktion der Spra I_253 che
und der reflexiven Erweiterung der Sozialperspektiven,[276] die ihre
grammatischen Ausprägungen in der Doppelstruktur der Sprechhandlung
beziehungsweise im System der Personalpronomina finden, löst sich das
kommunikative Handeln aus der Verschmelzung mit sozialen Interaktionen.
Das hat eine Entschränkung der interaktionsgesteuerten Selektivität des
Weltumgangs zur Folge. Für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft weitet
sich mit der propositionalen Ausdifferenzierung der Sprache
gewissermaßen die Welt. Nun können sie wissen, wann sie sich in
performativer Einstellung mit expressiven oder regulativen Äußerungen
einem Gegenüber zuwenden und wann sie sich in objektivierender
Einstellung mit dem beobachtbaren Weltgeschehen konfrontieren, um
Tatsachen festzustellen. Gewiss, der Schritt von dem umweltgebundenen
Primatenbewusstsein, das von episodischen Erfahrungen eingenommen
wird, zur Konfrontation mit einer Welt öffentlich repräsentierter Vorgänge
hat sich nicht von heute auf morgen vollzogen. Schon mit der ersten
ikonischen Darstellung, der ersten konventionalisierten Geste wird die
artspezifische Umwelt entriegelt; mit ihr öffnet sich für die
Kommunikationsteilnehmer, die sich miteinander über etwas verständigen,
schon die Lichtung einer objektiven Welt als das Gegenüber zur
intersubjektiv geteilten Lebenswelt. Aber der Prozess, der so begonnen hat,
kann erst mit der Ausbildung einer grammatischen Sprache und mit der
Erschließung einer propositional gegliederten Welt bis zu dem Punkt
gelangt sein, an dem die Menschen beginnen, sich von der objektiven Welt
»ein Bild zu machen«, das heißt ein Weltbild zu entwickeln. Weil sich das
intersubjektive Verständnis von Symbolen im Anschluss an die
signalgesteuerte Interaktion zwischen Primaten auf dem Wege des
Reflexivwerdens reziproker Verhaltenserwartungen herausbildet,[277]
bleiben die bedeutungsgenerierenden I_254 Blicke zunächst im Rahmen
symbolisch vermittelter Interaktionen noch auf die vom Handlungskontext
bestimmten Weltausschnitte fixiert. Erst in dem Maße, wie sich die
Darstellungsfunktion der Sprache aus den interaktiv vorgebahnten
Schneisen löst, drängt sich der vergesellschafteten Intelligenz jener Reichtum
an Beobachtungen auf, die das wilde Denken zu einer – wie Lévi-Strauss
bewundernd meint: wissenschaftsanalogen – Verarbeitung in Gestalt
mythischer Narrative herausfordern. Die Überkomplexität des darstellbaren
Geschehens, der wahrgenommenen und erkannten Tatsachen und Optionen
wecken das Bedürfnis nach einer kognitiven Aufbereitung der
Informationsflut, die im gleichzeitig erweiterten Zeithorizont der
Handlungsabsichten den Wissensbestand für dahingestellte
Handlungsmöglichkeiten konserviert.
Diesem Bedürfnis dient die systematische Einordnung des jeweils Neuen
in den relevanten Zusammenhang des Bekannten sowie die Verknüpfung
der Probleme und ihrer Erklärungen zum Ganzen eines kulturell
gespeicherten und tradierten Weltwissens. Das Lexikon der Sprache stellt
mit seinem Grundvokabular einen weltbildenden kategorialen Rahmen für
diese Interpretation des innerweltlichen Geschehens bereit. Die neuen, im
problemlösenden Weltumgang gesammelten Erfahrungen können in diesem
grundbegrifflichen Rahmen ausgedrückt, expliziert und verarbeitet werden.
Wilhelm von Humboldt spricht daher von einem »Weltbild«, das der
Semantik der Sprache eingeschrieben ist. In archaischen Gesellschaften sind
es die mythischen Erzählungen, die dieses framing übernehmen.[278] Das
schließt nicht aus, dass sich die Struktur des Weltbildes im Schmelztiegel
der schlussfolgernden Prozesse von Erklärungen, Kommentierungen und
Begründungen auch wiederum verändert.[279]
I_255 (3) Dass die sprachlichen Weltbilder soziomorphe Züge tragen und
die Verwandtschaftsstrukturen der frühen Stammesgesellschaften
widerspiegeln, erklärt sich aus der Differenzierung zwischen dem in Sätzen
explizit verfügbaren propositionalen »Wissen« und dem performativ, aus
der Teilnahme an eingewöhnten Praktiken »Bekannten« – dieses implizit
gewusste Hintergrundwissen erstreckt sich auf alles, was wir aus sozialen
Umgangserfahrungen und entsprechenden Gefühlsdynamiken »kennen«.
Auch diese Differenzierung zwischen der gemeinsamen und nur
»performativ gewussten« Lebenswelt und der objektiven Welt der Gegenstände
und Sachverhalte bildet sich mit der Beherrschung einer grammatischen
Sprache heraus. Gleichzeitig liefert diese hinterrücks vertraute
»Grammatik« der Gesellschaft die semantischen Bausteine für das »Bild«
des Universums – sie wird als Struktur auf die Welt im Ganzen projiziert und
entfaltet so ihre weltbildprägende Kraft. Der kategoriale Rahmen
mythischer Erzählungen wird im sozialen Alltag performativ eingeübt. Die
symbolische Struktur der Lebenswelt – ohne Verwandtschaftsterminologie
keine Verwandtschaftsbeziehungen – ist so vertraut, dass sie
gewissermaßen apriorische Gewissheit genießt. Freilich bieten sich diese
symbolischen Strukturen dem weltoffenen Geist als Grundbegriffe für die
kognitive Bewältigung der auf ihn einstürmenden Informationen nicht nur
deshalb an, weil sie ihm intuitiv bekannt sind. Weil sie ihm vertraut sind,
beleuchtet die Assimilation des Fremden ans vertraute Eigene auch die
dialektische Kehrseite der sprachlichen Welterschließung: Jeder weitere
kognitive Schub zu einer vorbehaltloseren Öffnung gegenüber der Welt
provoziert ein erneutes Einschließen in einer dann weitergehend
dezentrierten, aber erneut zum Ganzen hypostasierten Welt.
Rückblickend betrachtet, mag das symbolisch strukturierte Welt I_256 bild
einer frühen Stammesgesellschaft im Vergleich mit den für uns nomologisch
erklärbaren Naturerscheinungen noch so instabil und künstlich konstruiert
sein; es ist jedoch derart mit der kollektiven Identität der Angehörigen
verwoben, dass es für diese die Maßstäbe für naturwüchsige Stabilität und
Erwartbarkeit liefert. Die hinter dem Rücken der Beteiligten gegenwärtigen
Strukturen der Lebenswelt qualifizieren sich aufgrund ihrer Verlässlichkeit
zu Prototypen für die Ordnung des Weltgeschehens. Denn nach der
Umstellung auf die voll ausgebildete Kommunikationsform einer
grammatischen Sprache müssen sich mythische Weltbilder beiden
Herausforderungen gleichzeitig stellen: der kognitiven Beherrschung der
Erfahrungen, die aus einer sprachlich entriegelten Welt hereinfluten, wie
auch der psychodynamischen Selbstbehauptung und soziomoralischen
Vergewisserung der eigenen Identität inmitten der nicht mehr nur
eingelebten, sondern reflexiv verfügbar gewordenen Interaktionen. Weil
Gefahren der Überwältigung gleichzeitig von außen und von innen,
vonseiten der natürlichen und der gesellschaftlichen Umwelt drohen, greifen
Welt- und Selbstverständnis ineinander. So kann beispielsweise die aus der
Welt normativ geregelter Interaktionen bekannte Dialektik von Verbrechen
und Strafe, Schuld und Sühne gleichzeitig der Ordnung und kausalen
Erklärung des Naturgeschehens dienen. Dabei wird die ontologische
Schwelle zwischen der immer schon vertrauten normativ strukturierten
Lebenswelt und den unüberschaubaren und überraschenden Ereignissen in
der objektiven Welt umso leichter nivelliert, als sich der Horizontcharakter
der Lebenswelt schon aus kognitiven Gründen für Zwecke der
totalisierenden Ausbildung eines ordnenden Systems anbietet. Weil wir den
performativ gegenwärtigen Horizont unserer Lebenswelt durch Inklusion
von Unbekanntem zwar immer weiter ausdehnen, aber nicht als solchen
transzendieren können, erhalten beliebige Phänomene durch Einordnung in
die Deutungsschemata der vertrauten Interaktionszusammenhänge einen
systematischen Ort im Ganzen eines mit der Lebenswelt verschmolzenen
Kosmos. Kurzum, die Assimilation des bedrohlichen Fremden ans vertraute
Eigene ist nicht nur unter dem kognitiven Gesichtspunkt der Dialektik
sprachlicher Welterschließung von Interesse, sondern auch unter dem
soziomoralischen Gesichtspunkt der Identitätsbildung.
I_257 Mythische Erzählungen ordnen einerseits die Fülle der
Informationsstrahlen, die aus der natürlichen Umgebung durch die
aufgestoßenen Fenster der grammatischen Sprache auf die Membrane des
reizbaren menschlichen Geistes einfallen. Andererseits dienen sie der
Selbstverständigung des sozialen Kollektivs über dessen Stellung in der Welt.
Dieses Ineinandergreifen von kognitivem Welt- und psychodynamisch
geprägtem Selbstverständnis manifestiert sich im Inhalt der Mythen. Emil
Angehrn filtert aus der verwirrenden Vielfalt der mythischen Erzählungen
das zentrale Anliegen und Thema, also das, »worum es im Mythos geht«,
heraus. Allerdings stützt er sich nicht auf kulturanthropologische
Beobachtungen, sondern – im Interesse des Philosophen an der
Vorgeschichte der Metaphysik – auf das schriftlich überlieferte, schon
literarisch ausgestaltete Material aus den frühen Hochkulturen des
Vorderen Orients und Griechenlands, wenn er feststellt: »Der allgemeinste
Inhalt [des Mythos] […] ist so etwas wie das tragende
Wirklichkeitsverständnis, der Weltbegriff, der den Rahmen abgibt für alle
einzelnen Episoden und Erfahrungen, für alle Begegnungen und alle
konkreten Situationen, in denen sich der Mensch befindet.«[280] In der
grammatischen Form der Erzählung kann dieses Thema nur als Schilderung
der Weltentstehung, als Kosmogonie, behandelt werden – als Herausgehen
aus dem Chaos und der Ausbildung der kosmischen Ordnung; in dieses
Weltgeschehen ist auch die Subjektgenese des Menschengeschlechts, das
sich in der Selbstbehauptung gegenüber den unbeherrschten Kontingenzen
dieser Welt zugleich seiner Identität vergewissert, eingeflochten. Für die
kognitive Bewältigung der verwirrenden Vielfalt von Erfahrungen und
Begegnungen, die in der sprachlich erschlossenen Welt nicht mehr bloß
episodisch widerfahren, sondern als Tatsachen Respekt verlangen, drängt
sich die kosmogonische Frage nach einem »Ersten«, dem Anfang von Allem
auf. Die Antwort, die diese totalisierende Fragestellung verlangt, kann ein
Denken, das grammatisch ans Nacheinander der Geschehnisse und ans
konkrete Nebeneinander der Begebenheiten fixiert ist, noch nicht in der
Gestalt von abstrakten Prinzipien jenseits von I_258 Raum und Zeit geben,
sondern nur im Rekurs auf das, was in Zeit und Raum das Ursprüngliche ist.
Was liegt der zeitlich organisierten Reihenfolge der Ereignisse voraus, was
erstreckt sich über die räumlichen Koordinaten der wahrnehmbaren Dinge
hinaus? Es ist das Unbestimmte, Formlose, Nichtgestaltete und Umfassende,
kurz das überwältigende Chaos, ein Einst und Überall, woraus alles in der
Welt Vorkommende und für uns Fassbare hervorgegangen ist.
Das Chaos wird in der zeitlichen Dimension als der Anfang allen
Geschehens vorgestellt, in der räumlichen Dimension als das Nirgendwo-
oder Nichtseiende, das heißt als das, was an keinem Ort als ein Etwas
begegnen kann. Aus diesem schlechthin unbestimmten Ursprung geht der
Kosmos hervor, das erzählbare, also kognitiv bestimmte und organisierte
Geschehen – die geschaffene oder gewordene Ordnung, in der sich die
Geschichten ereignen und die Dinge zueinander verhalten. Der Prozess des
Hervorgehens der lichten Welt aus dem Chaos kann nach organischen
Mustern als Wachsen und Entsprießen, in physikalischen Bildern als die
Scheidung der Elemente (die Trennung von Wasser und Erde oder Himmel
und Erde) oder nach dem Handwerkermodell als Herstellung eines Produkts,
als Schöpfung vorgestellt werden (allerdings noch nicht im biblischen Sinne
des absoluten Anfangs als »Schöpfung aus dem Nichts«). Dem entsprechen
die verschiedenen Bilder vom Chaos – der quellende Sumpf oder der Samen,
aus dem die Pflanze hervorsprießen wird; der Urstoff, der noch einer
Differenzierung und Grenzziehung harrt; oder das Material, das noch nicht
geformt ist. Kosmogonien befriedigen nicht nur kognitive Bedürfnisse.
Vielmehr verrät sich in der affektiven Aufladung der mythologischen
Grundbegriffe eine Verschränkung der kognitiven Dimension der Erklärung
des Weltgeschehens mit der psychodynamischen Dimension der
Vergewisserung der Identität der Menschen und des eigenen Kollektivs. Das
gestaltlose Chaos ist nicht nur in einem deskriptiven Sinne »finster«; der
Sog dieser abgründigen Nacht löst Grauen vor einer destruktiven,
verschlingenden Macht aus. Dadurch erhält das Nichtseiende die
Konnotation des Abschreckenden und Bösen, das – im normativen Sinne
des Nicht-sein-Sollens – negiert wird. Die Entstehung des Kosmos bedeutet
die doppelte Negation einer Verneinung des Verabscheuten und gewinnt
dadurch die agonale Dynamik einer I_259 Aufklärung, die die dämonischen
Gewalten der Nacht und des Bösen besiegt. Freilich kann sich der aus dem
Chaos hervorgehende Kosmos seines Sieges noch nicht sicher sein; das
überwundene Negative brütet als dunkler Kern und Gefahr in ihm fort. Mit
der strukturbildenden Kraft des Kosmos, der die Flut des Weltgeschehens in
geordnete Bahnen lenkt und kognitive Übersicht schafft, feiert das Gute und
Schöne noch nicht – wie im Platonismus – einen selbstgewissen Triumph.
[281] Denn der Selbstwerdungsprozess des menschlichen Geistes, der mit

dem Weltentstehungsprozess verflochten ist, verbindet sich mit einem


höchst ambivalenten Erfahrungsgehalt.
Kosmogonien sind in einem doppelten Sinne Ursprungsmythen. Sie
erklären das Weltgeschehen, indem sie es narrativ aus einem Anfang
herleiten; aus demselben, nun genealogisch verstandenen Ursprung
begreifen die Menschen auch ihre Herkunft und ihre kulturellen
Errungenschaften. Aus dieser Herkunftsperspektive wenden die
Ursprungsmächte den Menschen ein Janusgesicht zu – als die fesselnden
Mächte der Ahnen, aus deren Banden sich die zurückblickenden
Generationen befreit haben; aber auch als gründende und haltende,
Geborgenheit verheißende Mächte, von denen die Späteren um den Preis
fortschreitender Degeneration abgefallen sind.[282] In diesen Ambivalenzen
dürfen wir wohl zwiespältige kollektive Erinnerungen an den weit
zurückliegenden, gefahrvollen Prozess der Herausbildung einer
zerbrechlichen Identität von kleinen Familienverbän I_260 den vermuten, die
sich unter den kaum beherrschten Kontingenzen einer altsteinzeitlichen
Lebenswelt behaupten mussten. Die Perspektive der Sorge um das Wohl
und Wehe einer gefährdeten Existenz erklärt die affektive Dimension dieser
gefühlsambivalenten Erzählungen – die Abwehr von Unheil ist motiviert
durch die Hoffnung, »mit heiler Haut davonzukommen«.
(4) Mit diesen Überlegungen ist die Frage, was der Übergang zur Stufe
sprachlicher Kommunikation über den Sinn des Ritus verrät, noch nicht
beantwortet. Die Dimension des Umgangs mit Mächten des Heils und des
Unheils erschließt sich nicht schon – jedenfalls nicht allein – aus
Erfahrungen der Selbstbehauptung eines Kollektivs, das versucht, die in
seiner natürlichen und sozialen Umgebung auftretenden Kontingenzen zu
bewältigen und seine Identität durch Abgrenzung nach außen zu festigen.
Auch im Mythos spiegeln sich, wie gezeigt, die Ambivalenzen dieser
Anstrengung. Aber die Semantik von Heil und Unheil berührt die tiefere
Erfahrungsschicht der Bewältigung von Kontingenzen, die im Inneren eines
sozialen Kollektivs selbst aufbrechen. Diese Spur führt zurück zur
kommunikativen Vergesellschaftung als der Quelle einer Labilität, die in
dieser Form der sozialen Integration selbst angelegt ist. Es ist der Ritus, der
dieses Erfahrungspotential verarbeitet, wenn er mit der Stiftung
gesellschaftlicher Solidarität zum inneren Zusammenhalt eines Kollektivs
beiträgt. Deshalb können mythische Erzählungen, sobald sie sich mit
rituellen Praktiken verbinden, auch aus einer archaischen Quelle von
symbolisch bereits chiffrierten Erfahrungen schöpfen.
Bisher habe ich den Mythos als eine Antwort auf kognitive
Herausforderung der Weltoffenheit begriffen, der eine kommunikativ
vergesellschaftete Intelligenz ausgesetzt ist. Zum Kern des Sakralen dringen
wir vor, wenn wir den Ritus als eine Antwort auf die Transformation der
Antriebsstruktur verstehen, die mit dem Formwandel der sozialen
Integration schon mit dem Übergang zur Stufe der gestenvermittelten
Kommunikation eingesetzt haben muss. Diese motivationale
Herausforderung besteht in der Dialektik einer vergesellschaftenden
Individuierung, die den Blick auf das spannungsreiche Verhältnis von
Individuum und Gesellschaft im Inneren des Kollektivs lenkt. Diese Dialektik
lässt sich anschaulich unter psychosozialen Gesichtspunkten beschreiben.
Die Angst gleichermaßen vor den I_261 identitätsbedrohenden Folgen der
Exklusion wie der Überinklusion, vor dem Zerreißen des sozialen Bandes und
der erstickenden Zwangsintegration bildet das Thema weit
zurückreichender gattungsgeschichtlicher Erfahrungen, die in rituellen
Ausdrucksformen verkapselt sind. Im Verlauf der Ontogenese wiederholen
sich diese Ängste bei jeder krisenhaften Statuspassage; ähnliche Ängste der
sozialen Entfremdung werden auch durch äußere Gefahren provoziert, die
Konflikte und anomische Tendenzen auslösen und das soziale
Gleichgewicht erschüttern. Sobald die entdifferenzierten Antriebsenergien
vom artspezifisch angeborenen Mechanismus freigesetzt und an die
prägende Kraft der gesellschaftlichen Kommunikationsstruktur
angeschlossen werden,[283] vollziehen sich Individuierung, die
Herausbildung der Person, und Vergesellschaftung, die Integration des
Einzelnen in die intersubjektiv geteilten Praktiken der gemeinsamen
Lebensform, uno actu. Wenn man diese Verschränkung aus dem sozialen
Raum auf die historische Zeit projiziert, bilden Verlust und
Wiedergewinnung der eigenen Identität das Muster der Selbstwerdung im
Durchgang durch Krisen der gesellschaftlichen Integration. Der Untergang
der je eigenen Identität droht von beiden Seiten, sowohl durch eine
Verstoßung aus dem Kollektiv als auch durchs Aufgehen im Kollektiv. Die
aus dem Untergang der ontogenetisch alten hervorgehende neue Identität
bewährt sich demgegenüber in der Aufrechterhaltung der Balance zwischen
zu großer Abhängigkeit von und zu großer Distanz zu einer ebenso
forcierend prägenden wie Halt gebenden kollektiven Identität.
In diesem Individuierungsdrama der lebensgeschichtlichen Passagen
winkt auf beiden Seiten das Chaos. Bei der Flucht in die Regression einer
vorbehaltlosen Auslieferung ans Kollektiv drohen Selbstverlust und
Diffusion, auf die Auflehnung gegen die Aufopferung für das Kollektiv steht
die Strafe der hilflosen Isolierung. Aus dieser anthropogenetischen Sicht
geht die Ambivalenz der Besinnung auf den Ursprung über die in
kosmogonischen Erzählungen festgehaltene Alternative hinaus. An die
Stelle des Schwankens zwischen einer Interpretation des Ersten als einer
abgründigen Herkunft, von I_262 der man sich entweder befreit oder zu der
man zurückkehrt, tritt eine Ursprungserfahrung anderer Art – das
Schwindelerregende eines Aktes der Grenzüberschreitung, der gleichzeitig
ängstigt und als mögliche Rettung fasziniert. Die Grenzüberschreitung ist
die riskante Einwilligung in einen destruktiven Prozess mit ungewissem
Ausgang – in die Zerstörung einer alten, diffus gewordenen Identität
zugunsten einer neuen, aber ihrerseits mit konsumierender Überwältigung
drohenden Identität. In der Bodenlosigkeit dieses grenzüberschreitenden
Prozesses, im Schweben zwischen alter und neuer Identität verbirgt sich das
als ambivalent erfahrene Ursprüngliche. Mit Bezugnahme auf orphische
Kulte und Nietzsches Antagonismus zwischen Dionysischem und
Apollinischem trifft Emil Angehrn die gefährliche Ambivalenz dieses
Schrittes mit folgenden Worten: »Die Grenzüberschreitung in Mythos und
Ritual, der Durchgang durch die Region der Auflösung und Zersetzung, die
Integration des Fremden – all dies sind Formen des Rückgangs zu einem
Ersten, das in mehrerer Hinsicht zwiespältig erscheint: Es ist Gegenstand
ambivalenter Affekte, erschreckend wie ersehnt, ängstigend wie
faszinierend; es ruft gegensätzliche Reaktionen hervor, es ist ein Negatives,
das durchlaufen und überwunden, angeeignet und abgestoßen wird; es
erscheint an ihm selbst als Heilung und Verderben, als kreative wie als
destruktive Macht.«[284]
Nach dieser Hypothese vom gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus
verrät sich in der Dimension von Heil und Unheil die Erinnerungsspur der
zentralen Erfahrung eines höchst ambivalenten Formwandels der sozialen
Integration, der sich im Zuge der Umstellung auf symbolisch vermittelte
Interaktionen vollzieht und der sich, im Zuge der Entwicklung einer
grammatischen Sprache, mit zunehmender Weltoffenheit dramatisiert.
Erinnern wir uns an Michael Tomasellos vergleichende Studien, die zeigen,
wie sich der sozialisierte Geist der vorsprachlichen Kleinkinder von der
gewissermaßen egozentrischen Bewusstseinsform der Schimpansen abhebt.
Merlin Donald charakterisiert diesen Entwicklungsschritt mit dem
Stichwort »Preisgabe des Solipsismus« (abandoning solipsism). Das sind
metaphorisch zu verstehende Ausdrücke, denn der Selbstbezug auf ein
I_263 Ego, dem Bewusstseinszustände zugeschrieben werden können, kann
sich erst mit der sozialkognitiven Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive
des Anderen auf »mich« herausbilden.[285]
Die erste Geste, die im pragmatischen Rahmen einer geteilten Perspektive
auf etwas in der objektiven Welt für Ego und Alter eine identische
Bedeutung stiftet und daher die Aufmerksamkeit auf einen für beide Seiten
gleichermaßen relevanten Gegenstand lenkt, hat gewissermaßen das
subjektive Bewusstsein aus seinem egozentrischen Gehäuse befreit. Und die
erste konventionalisierte Bedeutung entreißt die episodischen
Bewusstseinsinhalte verschiedener Individuen dem Strom der Erlebnisse
und hebt das Gemeinsame in der öffentlichen, symbolisch geronnenen Form
des intersubjektiv verständlichen oder »objektiven« Geistes auf. Indem die
Bewusstseinsinhalte über die Symbolisierung von Bedeutungen zugleich
externalisiert und vergemeinschaftet werden, wird das monadische
Bewusstseinsleben des einzelnen Artgenossen aufgesprengt. Dieser Eintritt
in die öffentliche Welt der symbolischen Formen bedeutet nicht nur die
Überwindung eines kognitiven Egozentrismus, ist nicht nur eine
Herausforderung vonseiten der natürlichen Umgebung, die in the long run –
vielleicht vorbereitet durch die Interaktionen im Rahmen einer
»mimetischen Kultur« – mit mythischen Weltbildern kognitiv bewältigt
werden musste. Die Vergesellschaftung der Intelligenz geht vielmehr mit
einer Revolution in der Art der Verhaltenskoordinierung zusammen – mit
einer Umstellung von den instinktiv gesicherten, affektiv gesteuerten, durch
Signale ausgelösten Interaktionen von Artgenossen, die in ihrem
intentionalen Handeln im angegebenen Sinne egozentrisch befangen sind,
auf die symbolisch vermittelten Interaktionen von Gruppenmitgliedern, die
im Horizont ihrer gemeinsamen Lebenswelt mit den Kontingenzen der Welt
kooperativ zurechtkommen müssen. Die kognitive Herausforderung, die wir
im Hinblick auf die Mythenbildung charakterisiert haben, geht also Hand in
Hand mit einer psychodynamischen. Im Zuge der Umwälzung der
Beziehungen des Einzelnen zu seiner sozialen Umgebung gerät das
egozentrische Bewusstsein in den Sog einer kommu I_264 nikativen
Vergemeinschaftung von Individuen, die sich ihrer eigenen Intentionalität als
solcher jetzt erst bewusst werden und in der Übernahme der Perspektive
einer zweiten Person auf sich das Bewusstsein von sich als einer ersten
Person ausbilden.
(5) Diese Umwälzung in den sozialen Beziehungen übt auf das
individuelle Bewusstsein des Einzelnen den Zangendruck aus simultaner
Vergesellschaftung und Individualisierung aus. Einerseits fällt die Last der
Handlungskoordinierung zunehmend aufs kommunikative Handeln und
damit auf die Schultern der Individuen selbst; andererseits kommt diesen zu
Bewusstsein, dass die Reproduktion ihres eigenen Lebens wesentlich von
der kollektiven Selbstbehauptung, das heißt dem Funktionieren der
gesellschaftlichen Kooperation abhängig ist. Der evolutionäre Übergang
vom egozentrischen Bewusstsein zu einem subjektiven Bewusstsein, das als
individuiertes Bewusstsein seiner Abhängigkeit vom objektiven Geist der
intersubjektiv geteilten Lebenswelt eines Kollektivs gewahr wird, muss eine
höchst ambivalente gattungsgeschichtliche Erfahrung gewesen sein. Dem
einzelnen Mitglied muss der komplexe gesellschaftliche Organismus
gleichzeitig als eine überwältigend konsumierende und als eine erhaltende,
Überleben und Sicherheit garantierende Gewalt begegnet sein. Das
übersubjektive, aus den Fäden kommunikativer Handlungen gewobene
soziale Band zwingt und rettet zugleich, weil mit ihm, sozialontologisch
gesprochen, eine neue Realitätsschicht symbolischer Ordnungen entsteht –
die öffentliche Wirklichkeit des Normativen, das nach und nach anstelle der
angeborenen Mechanismen die Verhaltenskoordinierung übernimmt.
In jeder Ontogenese wurzeln Erinnerungsspuren einer frühen, höchst
ambivalenten Abhängigkeit, eines radikalen Ausgeliefertseins an die
zugleich haltende Struktur einer hilfreichen sozialen Umgebung. Aus der
Sicht des Individuums ist die Macht des gesellschaftlichen Kollektivs
gleichzeitig überwältigend und lebensermöglichend. Auch in der Phylogenese
muss die ursprüngliche Krisenerfahrung des bodenlosen Schwebens zwischen
einer ans Kollektiv übereigneten und doch individuell zu »leistenden« Existenz
ein Beben ausgelöst haben, das die Reproduktion gesellschaftlichen Lebens
bis auf den heutigen Tag begleitet. Sie hat beispielsweise in Rousseaus
Beschreibung des Gesellschaftsvertrags – als eines Akts der
Selbstentfremdung und si I_265 multanen Selbstübereignung des Einzelnen an
die Gesellschaft – ein fernes Echo gefunden. Diese Denkfigur ist auch in
anderer Hinsicht lehrreich. Mit dem Gesellschaftsvertrag entsteht genau das
Gefälle zwischen Faktizität und Geltung, das eine neue, gewissermaßen aus
Natur emergierende Schicht des Normativen auszeichnet. Von diesem
diffusen Komplex zehrt die Autorität von Überlieferungen und Normen (die
sich später in Sitte, Moral und Recht ausdifferenzieren). Das von Rousseau
in Anschlag gebrachte Faktum der »Sittlichkeit« – das als selbstverständlich
vorausgesetzte »Ethos« der Bürgergemeinde – geht zurück auf das tragende
normative Hintergrundeinverständnis einer Lebensform, die auf die
Solidarität ihrer Mitglieder angewiesen ist, weil sie latent – durch den
Vergesellschaftungsmechanismus der zum Ja- und Neinsagen
ermächtigenden Sprache – in ihren innersten Bezirken immer von sozialer
Desintegration bedroht ist. Die Rede von einer »emergenten« Schicht des
Normativen weicht allerdings der Frage nach der Entstehung der
Bindungswirkung von Normen und der Vorbildwirkung von
traditionswürdigen kulturellen Inhalten aus. Auch Durkheim hatte rituelle
Praktiken nur unter den Gesichtspunkten der Regenerierung
gesellschaftlicher Solidarität und der Selbstthematisierung einer jeweils
bestehenden Gesellschaft charakterisiert und damit die Frage der Herkunft
des normativen Komplexes selbst offengelassen. Die normative Kraft des
rituell erneuerten Kollektivbewusstseins, die Verbindlichkeit und
Vorbildlichkeit der rituell vergegenwärtigten Strukturen von Gesellschaft
und Kultur sind für den Soziologen Durkheim als solche keine
erklärungsbedürftigen Phänomene.
Das ist unter anthropogenetischen Gesichtspunkten unbefriedigend, denn
als Generator dieser »starken«, Affekte, Wertbindungen und
Handlungsmotive prägenden Normativität kommt auch die sprachliche
Kommunikation nicht in Frage. Die schwache grammatische Normativität
der Sprache hat keine affektsteuernde und motivbildende Kraft. Gewiss,
schon mit dem konventionalisierten Gebrauch von Symbolen entwickelt
sich das normative Bewusstsein, das allem regelgeleiteten Verhalten
eingeschrieben ist. Die kognitive Fähigkeit, zwischen richtigem oder
regelrechtem versus falschem oder abweichendem Verhalten zu
unterscheiden, bedeutet eine Revolution. Aber jene Normativität, die sich in
der Befolgung sprachlicher Konventio I_266 nen und insbesondere in der
konsenserzielenden Kraft der kommunikativen Verständigung selbst zur
Geltung bringt,[286] ist schwächer als die Autorität, die sich im
exemplarischen Anspruch von Traditionen und im Sollen normativer
Verhaltenserwartungen ausdrückt.[287] Wir müssen die kognitiv lenkende
Kraft grammatischer, logisch-semantischer und mathematischer Regeln,
selbst die normativ gehaltvolleren formalpragmatischen Voraussetzungen
sprachlicher Verständigung von der die Persönlichkeit prägenden, Affekte
steuernden und Motive bindenden Kraft der intuitiv akzeptierten
Überlieferungen und der bestehenden Institutionen unterscheiden. Die
Quelle dieser starken Normativität des maßgebenden Vorbilds und des
richtigen oder falschen sozialen Handelns ist nicht schon in der
verständigungsorientierten Verwendung sprachlicher Symbole selbst
enthalten.[288] Denn die interpersonale Bindungskraft von Werten,
Verpflichtungen und Berechtigungen darf nicht mit dem Appell von
Aufforderungen im Sinne einer einseitigen Willensäußerung verwechselt
werden. Aus Sicht einer Sozialpragmatik, welche die Sprachverwendung
allein aus den kognitiven Erfordernissen für eine effiziente
Handlungskoordinierung erklärt, bleibt der Übergang von imperativischen
Aufforderungen zu starken Wertungen und normativen
Verhaltenserwartungen eine Leerstelle.[289] Darüber kann auch die
I_267 rückwirkende Semantisierung von bestimmten Institutionen in der Art
illokutionärer Bedeutungen (wie heiraten, ernennen, besiegeln, betteln und
so weiter) oder in Gestalt generalisierter Modalitäten (wie befehlen,
versprechen, empfehlen, sich binden und so weiter) nicht hinwegtäuschen.
Der normative Geltungsanspruch, den wir mit regulativen
Sprechhandlungen erheben können, wird jeweils einem normativen
Hintergrund entlehnt, der zwar seinerseits symbolisch strukturiert ist und
daher die Verwendung von Symbolen voraussetzt, dessen Existenz aber
nicht wie die Sprache aus den profanen Zusammenhängen und
funktionalen Erfordernissen der sozialen Kooperation erklärt werden kann.
In der formalpragmatischen Sprachtheorie stößt man auch auf diese
relative Unabhängigkeit der sprachlichen Alltagskommunikation von
Einbettungskontexten, die von Haus aus einen im starken Sinne normativen
Charakter haben. Die Bedingungen für das Verständnis von normativ nicht
eingebetteten, aber rational einleuchtenden Willensäußerungen – zum
Beispiel von einfachen Imperativen oder Ankündigungen – können im
Lichte von aktorrelativen Gründen aus Ressourcen der sprachlichen
Kommunikation allein erfüllt werden, während das Verständnis von
normativen Sprechhandlungen die Attraktivität entsprechender Werte oder
die Akzeptabilität von entsprechenden Normen voraussetzt, sodass diese
ihrerseits der Rechtfertigung und Erklärung bedürfen.[290] Auf ähnliche
Weise stellt sich in der Moraltheorie die Unabhängigkeit dieser starken
Normativität von der Alltagssprache heraus. Bei der Begründung des
Diskursprinzips wird nämlich deutlich, dass der deontologische
Geltungsmodus bindender Handlungsnormen vorausgesetzt werden muss
und nicht etwa aus den Argumentationsvoraussetzungen selbst hergeleitet
werden kann – Kant beruft sich aus gutem Grund I_268 auf das Gefühl der
Pflicht als ein »transzendentales Faktum«.[291] Auf der Suche nach einem
von der Alltagssprache unabhängigen Generator für die konsensstiftende
Autorität von Werten und Normen bietet es sich an, auf Durkheims Deutung
des Ritus zurückzugehen. Eine befriedigende Erklärung müsste freilich die
Annahme, dass das rituelle Verhalten in Situationen der Erschütterung des
sozialen Zusammenhalts die gesellschaftliche Solidarität wiederherstellt,
radikalisieren. Unter phylogenetischen Gesichtspunkten können wir hier
den Ursprungsort der gesellschaftlichen Solidarität nur dann finden, wenn
der normative Zusammenhalt der kooperierenden Gemeinschaft als solcher
rituellen Praktiken entspringt.
Ich habe auf die kognitiven und motivationalen Herausforderungen
hingewiesen, denen die Spezies beim Überschreiten der evolutionären
Schwelle zur sprachlichen Kommunikation ausgesetzt worden ist, als sie mit
der Vergesellschaftung ihrer Kognition aus der gewissermaßen egozentrisch
befangenen Sicht der Primaten hervortrat und sich gleichzeitig mit der
kommunikativen Handlungskoordinierung in eine hochambivalente Art der
Vergesellschaftung durch Individuierung verstrickte. Die rituelle
Kommunikation lässt sich als eine Antwort auf diese Herausforderungen
verstehen. In dieser außeralltäglichen Kommunikation wurden offenbar die
Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft, die in der
Alltagskommunikation aufbrechen, zum Thema gemacht und aufgefangen.
Die Bearbeitung des selbstbezüglichen Themas der im
Vergesellschaftungsprozess selbst angelegten Instabilität würde nicht nur den
fehlenden Weltbezug des Ritus, sondern auch die Qualifikation zur
Erzeugung der gegensteuernden normativen Bindungsenergien erklären.
In der Ambivalenz des Anschlusses der individuellen Handlungsmotive
an die bindende Autorität überlieferter kultureller Inhalte und bestehender
gesellschaftlicher Normen spiegelt sich jene Dia I_269 lektik zwischen der
Selbstbehauptung des Einzelnen und dessen Hingabe ans Kollektiv, die der
Form einer individuierenden Vergesellschaftung als solcher innewohnt. Die
konfliktreiche Spannung zwischen den komplementären, also gleichzeitig
zu erfüllenden Imperativen der Selbsterhaltung der Einzelnen einerseits und
der Sicherung ihrer gesellschaftlichen Kooperation andererseits nötigt zu
einem prekären Ausgleich zwischen Solidarität und Eigeninteresse. In der
Normativität gesellschaftlich institutionalisierter Verhaltenserwartungen
und traditionsfester Werte wird die endemische Spannung zwischen den
Selbstbehauptungsimperativen der Einzelnen und den
Selbsterhaltungsimperativen der Gruppe stabilisiert. Wenn diese
krisenanfällige Austarierung versagt, kann der Ritus als diejenige Praxis
eingreifen, die den ursprünglichen Prozess der Erzeugung von Normativität
wiederholt und erneuert. Akute Erschütterungen der gesellschaftlichen
Balance rufen eine Praxis auf den Plan, in der sich die individuellen
Mitglieder ihrer Abhängigkeit vom mächtigen Kollektiv auf dem Wege
einer aggressionshemmenden »Submission unter das Höhere« (Schelling)
vergewissern. Diese Art der kommunikativen Vergewisserung nimmt eine
selbstreferentielle Form an, weil der Referent nichts ist, worauf sich »in der
Welt« mit Fingern zeigen lässt. Der Referent, das Heilige oder die rettende,
Unheil abwehrende Macht, ist das Spiegelbild einer Problemlage, die sich
mit der sprachlichen Vergesellschaftung von Kognition und Motivation
einstellt. Durkheim identifiziert dieses »Höhere« unmittelbar mit der
Wahrnehmung der kollektiven Macht »der« Gesellschaft: Diese soll sich in
den symbolischen Ordnungen der Religion gleichsam selber anschauen. Ich
möchte eine etwas andere Interpretation vorschlagen. In jenem »Höheren«
manifestiert sich die autoritäre Macht eines zwingenden Kollektivs nicht
unmittelbar. Denn mit der kommunikativen Vergesellschaftung der
Intelligenz entsteht die Autorität eines übersubjektiven Sprachlogos, der den
menschlichen Geist für Gründe sensibel macht und diesem nur in der
dissonanten Vielfalt der Stimmen eine gemeinsame Basis sichert. Die
Erneuerung einer versöhnenden Balance zwischen den entzweiten Teilen
und dem desintegrierten Ganzen lässt sich nicht einfach diktieren; sie kann
nur vorübergehend durch die enthusiastische Verschmelzung vieler
Einzelner gelingen. Den Beteiligten ist bewusst, I_270 dass kein Einzelner
den glücklichen Ausgang dieses Prozesses in der Hand hat; deshalb
beschwören alle gemeinsam die Gunst, die das Risiko eines Fehlschlages
aufwiegen muss, als das Höhere – als eine Unheil abwendende Macht. Auch
im ambivalent erfahrenen schöpferischen Prozess der Zerstörung und
Erneuerung von Identitäten stellt die Gesellschaft an der Schwelle des
Untergangs einer alten Identität die rettende Wiedergeburt nur in der Gestalt
einer neuen, aber noch unbestimmten Identität in Aussicht. Zur »höheren«
Gewalt verdichtet sich die kollektive Erfahrung des Aufatmens, wenn sich
Verknotungen im kommunikativ gewobenen Band der Intersubjektivität
lösen – ein überwältigendes, nicht intendierbares Geschehen, das sich jeder
Verfügung der noch so konzentrierten Macht eines Einzelnen entzieht.
(6) Um den Sinn des Sakralen aufzuklären, habe ich überlegt, wie die
Entstehung von Ritus und Mythos mit der Umstellung auf symbolisch
vermittelte Interaktion und sprachliche Kommunikation zusammenhängt.
Am Ende müssen wir die Frage aufnehmen, was die Verbindung mythischer
Erzählungen mit rituellen Praktiken, aus der ja der sakrale Komplex erst
hervorgeht, bedeutet. Unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten
betrachtet, handelt es sich um eine Fusion von zwei verschiedenen
Kommunikationsstufen. Mythische Erzählungen, die eine voll ausgebildete
grammatische Sprache voraussetzen, verbinden sich mit Formen ikonischer
Darstellungen überwiegend expressiven Gehalts und sozialintegrativer
Kraft. Diese Verbindung mit einer kognitiv unspezialisierten Form der
Kommunikation könnte eine Immunfunktion gehabt haben. Denn
mythische Weltdeutungen waren aufgrund ihrer kognitiven Funktion von
Anbeginn offen für Lernprozesse und gewissermaßen wehrlos gegen
kognitive Dissonanzen, die den Anstoß für weitere Lernprozesse geben.
Diese offene Flanke gegenüber dem empirischen Druck des pragmatisch
erworbenen und an Handlungserfolgen getesteten Weltwissens macht
Weltbilder, soweit sie der Stabilisierung kollektiver Identitäten dienen, zu
unsicheren Kandidaten. In dieser Hinsicht ist der Mythos aufgrund seiner
kognitiven Weltbildfunktion von Anbeginn eine ambivalente Neuerung.
Der dogmatisierende Effekt einer Verbindung mit den vielleicht schon
vorgefundenen rituellen Praktiken könnte diese Schwäche kompensiert
haben, weil I_271 die rituelle Kommunikation auf ganz andere Weise als
wahrheitsfähige narrative Darstellungen gegen dissonantes Weltwissen
abgeschirmt ist. Diese funktionale Verbindung hat jedoch bestenfalls eine
aufschiebende Wirkung; sie erklärt nicht die bis heute andauernde Symbiose
von religiösen Weltdeutungen mit kultischen Handlungen. Heute scheinen
sich die Mitglieder von Religionsgemeinschaften im Vollzug ihrer
kultischen Praxis immer noch einer auf andere Weise nicht mehr
zugänglichen Quelle der Solidarität zu vergewissern. Im Folgenden werde
ich die evolutionären Veränderungen in der Zusammensetzung des sakralen
Komplexes am Leitfaden der Entwicklung der Weltbilder untersuchen.
Dabei will ich die Entwicklung von elementaren Stammesreligionen zu den
historisch belegten religiösen Überlieferungen der archaischen
Hochkulturen überspringen und zu den Alten Reichen übergehen, in denen
sich die Revolutionen der Achsenzeit vorbereitet haben.[292]
Erst im Rahmen dieser Schriftkulturen sprengt der Zuwachs an profanem
Wissen zunächst die mythische und dann auch, an der Schwelle zur
Moderne, die religiös-metaphysische Form des in Weltbildern artikulierten
Selbst- und Weltverständnisses gesellschaftlicher Kollektive. Dieser
kognitiv stimulierte Formwandel nötigt zu einer Sublimierung des Heiligen
und zu einer entsprechenden Entzauberung des rituellen Umgangs mit den
Mächten von Heil und Unheil. Am Ende der Genealogie
nachmetaphysischen Denkens wird die Frage offenbleiben, ob in den
pluralistischen und hochindividualisierten Gesellschaften des Westens, die
als demokratische Verfassungsstaaten organisiert sind, demokratische
Willensbildung und liberale politische Kultur nach der vollständigen
Entsakralisierung des Welt- und Selbstverständnisses als säkulares
Äquivalent für den einstmals im Rituellen verwurzelten Umgang mit den
Krisen der sozialen Integration ausreichen werden.[293] Vielleicht könnte
uns dabei die Erinnerung an Rousseaus enigmatische Vorstellung der
psychodynamisch verwandelnden Kraft des demokratischen
Gründungsaktes auf die richtige Spur setzen. Aber diese spekulative Spur
werde ich nicht aufnehmen.
I_272 Unsere Hypothese über den Ursprung des Sakralen aus der
Umstellung von Kognition und Handlungskoordinierung auf die sprachliche
Kommunikationsstufe postuliert jedenfalls einen Zusammenhang zwischen
dem sakralen Komplex auf der einen, dem kommunikativen
Vergesellschaftungsmodus auf der anderen Seite. Für diese Annahme
spricht auch eine interessante Beobachtung, die ich wenigstens erwähnen
möchte: Offenbar korreliert der Gestaltwandel des Heiligen mit der
sozialevolutionär folgenreichen Erweiterung der Kommunikationsmedien.
Die Metaphysiken und Weltreligionen entstehen im Rahmen von
Schriftkulturen als »Buchreligionen«, die den rituellen Umgang mit dem
Heiligen auf schriftlich überlieferte und dogmatisierte Lehren umstellen.
Und der erneute Schub zur Subjektivierung und Individualisierung im
Umgang mit dem Heiligen, der im Westen mit der Reformation und der
Umdeutung des Abendmahls besiegelt wird, wäre ohne die
Medienrevolution des Buchdrucks und die Ermächtigung von Hörern zu
potentiellen Lesern nicht möglich gewesen. Die Frage, was die Umstellung
auf digitale Kommunikationsmedien und die Ermächtigung weltweit
vernetzter Leser zu Autoren für einen weiteren Formwandel des sakralen
Komplexes oder das mögliche Versiegen dieser Quelle von Solidarität
bedeuten könnte, ist einstweilen offen.
I_273 4. Der Weg zur
achsenzeitlichen Transformation
des religiösen Bewusstseins
Der Mythos hat aus gutem Grund das Interesse der Gesellschaftstheorie auf
sich gezogen. Er ist gewissermaßen selbst die Struktur der Gesellschaft und
spiegelt sie nicht nur, denn er ist für die soziokulturelle Lebensform als
solche konstitutiv. In den archaischen Gesellschaften verbindet sich nämlich
der Mythos mit dem Ganzen der Verwandtschaftsstrukturen und der
Verkehrsformen, in denen sich diese Gesellschaften reproduzieren. Darum
lassen sich am Mythos die gesellschaftlichen Normen und
Wertorientierungen, die Organisationsformen der Kooperation und die
Austauschbeziehungen (sowohl zwischen den Familien im Inneren wie nach
außen mit fremden Kollektiven) ablesen. Dieser enge sozialevolutionäre
Zusammenhang zwischen Religion und Gesellschaft bleibt bis in die
Moderne bestehen. Daher müssen wir im Blick behalten, wie sich Kultus
und Glaubensinhalte im Zuge der Ausdifferenzierung der holistisch
verfassten Stammesgesellschaften und beim Übergang zu staatlich
organisierten Gesellschaften verändern. Während sich ursprünglich die
Verwandtschaftsbeziehungen in den mythischen Erzählungen
widerspiegeln und ihre Kohäsionskraft aus dem Vollzug ritueller Praktiken
schöpfen, ist seit der Entstehung staatlicher Gewalt die politische Herrschaft
auf religiöse Formen der Legitimation angewiesen.
Ich möchte zunächst am Beispiel der polytheistischen Religionen in den
frühen Hochkulturen des Vorderen Orients die Veränderungen skizzieren,
die sich nach der Umstellung auf die neuen Grundlagen der staatlichen
Organisation der Gesellschaft und einer Verschriftlichung der Tradition an
mythischen Weltbildern und rituellen Praktiken vollziehen. Im Verlauf
dieser hochkulturellen Entwicklung differenzieren sich verschiedene
Textsorten und entsprechende Wissenstypen heraus, die am Ende die
Erklärungskraft mythischer Weltbilder überfordern und die magische
Denkweise untergraben werden. Der kognitive und vor allem
sozialkognitive Druck, den das in der entzauberten Alltagswelt entstehende
Weltwissen auf das mythologische Welt- und Selbstverständnis der
politisch herrschen I_274 den Klassen ausübt, erzeugt kognitive Dissonanzen.
Diese äußern sich in der moralischen Kritik einer neuen Schicht von
Intellektuellen, die sich sowohl in Israel als auch in Indien, China und
Griechenland herausbildet und den Anstoß gibt zur Überwindung des
magischen Denkens und vor allem zur Sublimierung der anschaulichen
mythischen Gewalten in eine transzendente Größe »des« Heiligen oder
Göttlichen. Die achsenzeitliche Revolution des Denkens, die sich in den
sozialen und kognitiven Entwicklungen der vorderorientalischen
Hochkulturen vorbereitet, nimmt in Israel die Gestalt des Monotheismus an;
im antiken Judentum führt die Moralisierung des Heiligen zur Idee der
Gesetzgebung eines transzendenten Gottes.
(1) Pantheon und Glaubenspraxis in den frühen Hochkulturen des Vorderen
Orients. In Mesopotamien und Ägypten haben sich wie in Indien und China
etwa seit Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends die ersten
Hochkulturen herausgebildet – Syrien am östlichen Rand des Mittelmeeres,
Assyrien und Babylon an Euphrat und Tigris und Ägypten entlang des Nils
(so wie die fernöstlichen Zivilisationen im Industal und entlang des Gelben
Flusses).[294] Gegenüber den aus der neolithischen Revolution
hervorgegangenen Gesellschaften zeichnen sich diese frühen Alten Reiche
wesentlich durch drei Elemente aus, nämlich durch
– die Herausbildung einer bürokratisch organisierten Herrschaft, die mit
dem zentral verwalteten Kultus eine enge Symbiose eingeht;
– die Entstehung einer stark stratifizierten Gesellschaft mit einzelnen
städtischen Zentren inmitten der großen Masse der Landbevölkerung; und
– die Erfindung der Schrift als des ersten Kommunikationsmediums, das
eine Zeit- und Raumgrenzen übergreifende Externalisierung von
Gedächtnisleistungen ermöglicht.
Diese großen Innovationen im ausgehenden vierten oder um die Wende
zum dritten vorchristlichen Jahrtausend gehen der Weltbildrevolution der
Achsenzeit um etwa zweieinhalb Jahrtausende voraus; sie bereiten aber den
kognitiven Durchbruch zur Transzendie I_275 rung einer bis dahin in
Begriffen der mythischen Götterwelt vorgenommenen Selbst- und
Weltdeutung vor. Bis zur Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends hat
sich die Komplexität des gesellschaftlichen Lebens in den alten
Zivilisationen erheblich gesteigert. Der hierarchischen Ordnung von Politik
und Gesellschaft entspricht spiegelbildlich die hierarchische
Ausdifferenzierung der dann auch schriftlich überlieferten und schließlich
literarisch ausgestalteten Götterwelt, die im Vergleich mit den archaischen
Mächten des Heils und des Unheils menschliche, auch humanere Züge
angenommen hat. Das Tun und Lassen der näher gerückten, aber nach wie
vor kapriziösen Götter ist auf vielfältige Weise mit dem gesellschaftlichen
und politischen Alltag verwoben.
(a) Für die Entstehung des evolutionär neuen Komplexes von Recht und
politischer Macht, der in imperialen Königreichen, in kleinen
Territorialstaaten und Stadtherrschaften eine jeweils verschiedene Gestalt
annehmen wird, sind viele Hypothesen entwickelt worden. Ein
naheliegender wirtschaftsgeographischer Erklärungsversuch bezieht sich
auf den Umstand, dass eine landwirtschaftliche Produktion, die auf
Flutregulierung und künstliche Bewässerung angewiesen ist, die
Gesellschaft vor komplexe und großräumige Organisations- und
Verteilungsprobleme stellt und daher die Koordinationsleistungen von
Stammesgesellschaften, selbst wenn diese inzwischen hierarchisch
gegliedert sind, überfordert. Diese spezielle Erklärung könnte zwar auf
Ägypten und Babylonien, aber schon nicht mehr für das vom Regenfeldbau
lebende Syrien zutreffen. Und die allgemeinere Erklärung, dass
Größenwachstum und zunehmende Komplexität der Gesellschaft die sozial
integrativen Kräfte des Verwandtschaftssystems überfordern und eine
Zentralisierung der Befehlsgewalt in einem sakralisierten Königtum nötig
machen, ist offensichtlich zirkulär.[295] Funktionalistische Überlegungen
mögen interessante Gesichtspunkte beisteuern, reichen aber zur Erklärung
eines evolutio I_276 nären Schubs wie der Entstehung politischer Macht
nicht aus.[296] Ich habe schon im Einleitungskapitel eine andere, von Klaus
Eder vorgeschlagene Erklärung erwähnt; aber im jetzigen Zusammenhang
sollen uns nicht die Ursachen der Staatsbildung interessieren, sondern die
neue Art des Legitimationsbedarfs, der gleichzeitig mit der aus Recht und
politischer Macht zusammengesetzten Herrschaft entsteht. Die politische
Herrschaft, die über die Reichweite von Verwandtschaftsbeziehungen
hinausreicht, ist jedenfalls das neue Medium der gesamtgesellschaftlichen
Integration.
Dass einer für alle Mitglieder eines Gemeinwesens kollektiv bindende
Entscheidungen treffen darf, versteht sich nicht von selbst. Auch in
Stammesgesellschaften gab es Befehlshaber. Aber deren Befugnis war
spezifiziert und wurde vorübergehend bestimmten Personen übertragen, die
sich durch individuell erworbenes Ansehen oder durch eine vom
Altersstatus abhängige Autorität auszeichneten. Im Rahmen eines noch so
komplexen Verwandtschaftssystems konnte sich die Macht, kollektiv
verbindliche Entscheidungen zu treffen, noch nicht zu einer vom Inhaber
auf die Nachfolger übertragbaren Kompetenz verallgemeinern und
verstetigen, das heißt zu einem Herrscherstatus verfestigen. Die großräumig
institutionalisierte Befugnis, in gemeinsamen Angelegenheiten für alle
Mitglieder normativ verbindliche und sanktionierte Entscheidungen zu
treffen (die im Kollisionsfall – wie im Antigone-Mythos – auch die
familiären Verpflichtungen übertrumpfen), bedarf einer anderen Grundlage
als der von Pietät regulierten Verwandtschaftsbeziehungen. Ein politisches
Gemeinwesen besteht nicht länger aus blutsverwandten Angehörigen, die
durch ein genealogisches Band zusammengehalten werden, sondern aus
Organisationsmitgliedern, die als Rechtsgenossen unter gesatzten Normen
miteinander verbunden sind. Politische Macht und Recht konstituieren sich
gegenseitig. Denn die jurisdictio sichert I_277 die politische Macht des
Herrschers, der im Modus der Rechtsprechung zugleich neues Recht setzt.
Die Personalunion des Herrschers und des Gerichtsherrn kann der
Herrschaft selbst den Charakter der Rechtmäßigkeit verleihen, wenn die
Herrschaftsunterworfenen Adressaten eines Rechts sind, das als ein
intersubjektiv anerkanntes Normengefüge schon vorausgesetzt werden
kann. Der Gerichtsherr rekurriert, anders als bei den in
Stammesgesellschaften verbreiteten schiedsrichterlichen Verfahren, auf ein
der Idee nach auch für ihn unverfügbares, von allen Parteien im Voraus
anerkanntes Recht.
Das der politischen Herrschaft vorausgesetzte Recht bezieht aber seine
Geltung aus der Einbettung in ein mythisches Weltbild, das nun nicht mehr
nur die aus Verwandtschaftsstatus abgeleitete persönliche Autorität von
Ältesten und Kriegsführern legitimieren muss, sondern die politische
Autorität eines Recht sprechenden Herrschers, der aus dem ganzen
Kollektiv herausgehoben ist. Diese Legitimität, und das ist in unserem
Zusammenhang wichtig, gewinnt der Herrscher aus dem genealogischen
Anschluss der »Linie« seiner Dynastie an die der Götter. Erst die exklusive
Verbindung eines Herrscherhauses mit religiösen Glaubensvorstellungen
und Praktiken sichert den Regierenden den Rechtsgehorsam des Volkes.
Während die Rechtsordnung durch die Sanktionsmacht des Staates
stabilisiert wird, muss die politische Herrschaft selbst wiederum von der
legitimierenden Kraft eines von ihr bloß verwalteten, aber von Haus aus
sakralen Rechts zehren. Das Recht und die Recht sprechende Gewalt des
Königs beziehen die Aura des Heiligen aus dem Erbe der mythischen
Erzählungen, die eine herrschende Dynastie mit dem Göttlichen fusionieren.
Dabei verwandeln sich die überlieferten rituellen Praktiken in Staatsriten,
das heißt in Formen der symbolischen Selbstdarstellung einer administrativ
ausgeübten politischen Herrschaft. In der Figur des Herrschers repräsentiert
sich die Gesellschaft als Ganze.
In dieser symbolischen Dimension entsteht jene legitimationswirksame
Legierung aus Politik und Religion, auf die sich der Begriff »des
Politischen« im Unterschied zur »Politik« im Sinne der institutionalisierten
Herrschaftsausübung bezieht. »Das Politische« bezeichnet eine neue
religiöse Form kollektiver Identität, und zwar jene Fusion von »Heil« und
»Herrschaft«, worin sich die Bürger ih I_278 rer selbst als Mitglieder eines
politischen Gemeinwesens ansichtig werden und vergewissern können.
Legitimierende Kraft verdankt dieses Amalgam seiner religiösen Natur, weil
die Religion in den Vorstellungen von Heil und Unheil und in den Praktiken
des Umgangs mit Heil stiftenden und Unheil bannenden Mächten eine
eigene, von der Politik unabhängige Wurzel hat. Zwar haben mythische
Erzählungen und Riten immer schon die Funktion der Vergewisserung einer
kollektiven Identität erfüllt. Aber beim Übergang von
stammesgesellschaftlichen zu staatlich organisierten Gesellschaften tritt in
dieser Hinsicht ein Moment der Reflexion hinzu: In der repräsentativen
Darstellung des Herrschers, der seine politische Macht administrativ ausübt,
indem er als Inhaber der jurisdiktiven Gewalt Recht setzt und anwendet,
schaut sich das Kollektiv als ein Gemeinwesen an, das seinen sozialen
Zusammenhalt über die Ausübung politischer Herrschaft nun auch
intentional herstellt, also mit Willen und Bewusstsein organisiert. Das
Politische bezieht sich auf die kollektive Selbstvergewisserung eines
Gemeinwesens, das sich von naturwüchsig integrierten
Stammesgesellschaften durch das Reflexivwerden einer politisch, also
bewusst vollzogenen sozialen Integration unterscheidet. Im kollektiven
Selbstverständnis verlagert sich der locus of control in Richtung des
kollektiven Handelns.[297] Allerdings kann das Politische so lange nicht als
solches diskursiv zum Thema gemacht werden, wie für die symbolische
Darstellung nur mythische Narrative zur Verfügung stehen. Erst die
religiösen und politischen Weltbilder der Achsenzeit werden für die
Anfänge einer Politischen Theorie (vor allem in China, Griechenland und
Israel) den geeigneten begrifflichen Rahmen bieten. Zwar bilden Recht und
Politik zusammen mit der Legitimationsressource des Heiligen seit der
Entstehung des Staates an der Wende zum dritten vorchristlichen
I_279 Jahrtausend – und bis zu den europäischen Verfassungsrevolutionen
des späten 18. Jahrhunderts – ein Amalgam. Aber die innerweltliche
Symbiose von Heil und Herrschaft wird sich auflösen, sobald die
mythischen Narrative in ihrer Herrschaft legitimierenden Rolle durch
Weltreligionen abgelöst werden, die das Recht in der transzendenten
Autorität Gottes oder des Kosmos verankern und dieses als eine
Appellationsinstanz der Herrschaft und den politischen Herrschern selbst
überordnen.
Die Tatsache, dass »das Politische« bis zur frühen Moderne, nämlich bis
zur Schwelle der funktionalen Ausdifferenzierung der kapitalistischen
Wirtschaft aus der staatlich organisierten Gesamtgesellschaft evolutionär in
Führung geht, hat für den Fortgang unserer Untersuchung eine wichtige
Konsequenz. Bis dahin bleibt nämlich die Entwicklung der religiösen und
metaphysischen Weltbilder mit der Evolution von Recht und Politik
verzahnt, wobei das Recht von Haus aus ein ambivalentes Gesicht zeigt.
Einerseits entsteht es und funktioniert fortan als Sprache und
Organisationsmittel der politischen Herrschaft; insoweit ist das Recht das
Medium, durch das die Befehle des politischen Herrschers eine für die
Bevölkerung verhaltensregulierende Wirkung entfalten. Andererseits ist das
Recht mit Moral verwoben; es verdankt ja seine Autorität keineswegs allein
der staatlichen Sanktionsgewalt, sondern ebenso sehr der Autorität der
jeweils in der Bevölkerung verbreiteten und religiös gestützten moralischen
Überzeugungen. Das erklärt eine nur langsam fortschreitende begriffliche
Differenzierung zwischen Recht und Moral. Und diese hängt, wie die
Interpretation von Recht und Moral überhaupt, vom Einbettungskontext der
Weltbilder ab. Denn die Religionen beanspruchen spätestens seit der
Achsenzeit ein Interpretations- und Begründungsmonopol sowohl für eine
Moral, die ihre Wurzeln in der kommunikativen Alltagspraxis hat, als auch
für das in der Herrschaftspraxis verwurzelte Recht.
Daher ist die Rechtsentwicklung ein Schlüssel für die Evolution von
staatlich organisierten Gesellschaften, wobei sich die Interpretation des
Rechts zunächst in Abhängigkeit von der Entwicklung der religiösen und
metaphysischen Weltbilder verändert. Dieser sozialevolutionäre
Zusammenhang von Recht und Religion wirft ein Licht auf den im
Einleitungskapitel entwickelten Gedanken. Dort hat I_280 uns die Frage
nach einem interkulturell zustimmungsfähigen Begriff der politischen
Gerechtigkeit – als der notwendigen Grundlage für eine mögliche rechtliche
Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft – zu der, wie sich nun zeigt, nur
scheinbar entfernten Frage nach dem Selbstverständnis
nachmetaphysischen Denkens und der Stellung der Philosophie zwischen
Wissenschaft und Religion hingeführt. Mit dem Blick auf »das Politische«
erkennen wir nun den genealogischen Zusammenhang zwischen beiden
Fragestellungen.
(b) In den Alten Reichen bildet die Schrift, zusammen mit der
Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses und der Veränderung des
Zeitbewusstseins, einen ebenso tiefen Einschnitt in der kulturellen
Entwicklung wie die Entstehung von Königsherrschaften, sozialen Klassen
und urbanen Siedlungsformen. Die Erfindung der Schrift steht im
Zusammenhang mit der Zentralisierung einer staatlichen Verwaltung in
den städtischen Zentren und mit der Entstehung sozialer Klassen, die den
Anstoß zu einer hierarchischen Gliederung – und konfliktreichen Spaltung
– der bis dahin mehr oder weniger egalitären Gesellschaften geben. Den
gebildeten städtischen Eliten, die auf die eine oder andere Weise an der
Herrschaft partizipieren und zu den von Priestern verwalteten Heilsgütern
einen privilegierten Zugang haben, stehen die breiten Schichten einer
armen Landbevölkerung, steht also »das Volk« gegenüber. Literatur und
eine entsprechende literarische Bildung entstehen freilich erst Jahrhunderte
nach dem Beginn einer aus ganz profanen Bedürfnissen erwachsenen
Schriftkultur. Die frühesten schriftlichen Zeugnisse sind Gebrauchstexte,
die – wie in Mesopotamien – in Bereichen der Palast- und Tempelwirtschaft
oder – wie vor allem in Ägypten – aus funktionalen Bedürfnissen der
staatlichen Bürokratie und der Selbstdarstellung der politischen Herrscher
entstehen.[298] Zum einen fallen in den komplexen Wirtschafts- und
Verwaltungssystemen große Mengen von Daten an, die gespeichert und
von Buchhaltern und Beamten verarbeitet werden müssen
(Warenkennzeichnungen, Steuervermerke und so weiter). Zum anderen
dienen chronologische Aufzeichnungen und biographische Angaben der
Repräsentation der Herrschaft. I_281 In vielen Fällen handelt es sich dabei
um die Verewigung von Siegen, Gründungen, Einweihungen und so weiter.
[299] Eine politische Ordnung, die in heterogen zusammengesetzten

Bevölkerungen eine, wenn auch oberflächliche, aber über Stammesgrenzen


hinausgreifende kollektive Identität von Bewohnern eines staatlichen
Territoriums sichtbar macht und auf Dauer stellt, muss symbolisch
inszeniert werden.
Allerdings zeigt sich das fortdauernde Gewicht der oralen Kultur schon
daran, dass die Schreiber, Beamten und Priester, die ihren Schülern und
Gehilfen das Schreiben beibringen, noch nicht wie einst die
Gedächtnisspezialisten der Barden und Spielleute einen eigenen Berufsstand
bilden: »Schulen in unserem Sinne, mit hauptberuflichen Lehrern, gab es
nicht. Das mesopotamische ›Tafelhaus‹ ist ein verhältnismäßig kleiner
Raum, der Privathäusern und wohl auch Büros, Tempeln und Palästen
angegliedert sein konnte und in dem das Schreibenlernen mit der
Inganghaltung der Tradition Hand in Hand ging. Außerhalb dieser
Institutionalisierungsform des Traditionsstroms […] gab es keine
literarische Kommunikation, keine Bibliotheken, Buchläden, Buchmärkte
und privaten Leser.«[300] Der Kultus ist der Bereich, der sich der
Verschriftlichung der oralen Überlieferungen am hartnäckigsten widersetzt.
Ritus und bildliche Darstellung, Zeremonie und Erzählung genügen, um
nach wie vor die Kontinuität der Überlieferung zu sichern. Das
Paradebeispiel für die mnemotechnische Leistung oraler Kulturen sind die
über Jahrhunderte fast wortgetreu rezitierten Veden, die erst um die Mitte
des ersten Jahrtausends vor Christus schriftlich fixiert worden sind. Selbst
in Ägypten und Mesopotamien, wo Orakel und Zaubersprüche, magische
Formeln, Hymnen, Gebete und Liturgien aufgezeichnet werden, bewegt sich
die religiöse Praxis weiterhin in der Umgebung einer dichten mündlichen
Überlieferung und einer Volkskultur der Feste und Prozessionen. Die Masse
der Bevölkerung hatte zu den Tempelzeremonien ohnehin keinen Zugang.
Und selbst bei der Rezitation heiliger Texte behält der förmliche, also
präskriptive Um I_282 gang mit Schriften Vorrang vor der
Interpretationsarbeit, also dem Streben nach korrektem Verständnis des
semantischen Gehaltes dieser Schriften. Ein ritueller Umgang mit Texten,
die im Volk weniger verstanden als zelebriert werden, erhält sich sogar bis
auf unsere Tage in der häufig zu beobachtenden Differenz zwischen der
Volkssprache und einer sakralen Sprache, die nur noch von den
Religionsfunktionären beherrscht wird.
Der stabile Sockel oraler Überlieferungen darf aber nicht über den
Unterschied hinwegtäuschen, der zwischen der mythischen Welt der
anthropologisch beschriebenen und archäologisch rekonstruierten
Stammesgesellschaften und der schon literarisch geprägten Welt der
historisch und philologisch erschlossenen Hochkulturen besteht, für die es
eine Fülle schriftlich dokumentierter Quellen gibt. Jeder an interkulturellen
Vergleichen oder philosophischen Verallgemeinerungen Interessierte
möchte spätestens jetzt vor dem Expertenwissen der gelehrten Spezialisten
die Waffen strecken. Meine kursorischen Bemerkungen können sich nur auf
eine viel zu selektive Lektüre von Zusammenfassungen dieser
hochspezialisierten Forschungen stützen. Einerseits scheint sich beim
Eintritt der neolithischen Gesellschaften in die historische Welt ungefähr
am Ausgang des vierten vorchristlichen Jahrtausends ein radikaler
Gestaltwandel zu vollziehen. Andererseits bilden gerade Mythos und Ritus
eine Brücke über jene Zäsur hinweg, die mit der Entstehung des Staates
menschheitsgeschichtliche Epochen voneinander trennt. Nach wie vor
kristallisiert sich die Abwehr von Unheil und die Beschwörung von Heil um
dieselben Motive – um Störungen des Naturkreislaufes, in dessen Zyklen
die anfällige Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens eingebettet ist; um
die Gefahren für physische Unversehrtheit und seelisches Gleichgewicht;
um die Bewältigung des als unabwendbar antizipierten Todes (der Nächsten
wie des eigenen); und um die Erschütterungen des sozialen Zusammenhalts
des Kollektivs durch innere und äußere Aggressionen, also um jene
Herausforderungen der sozialen Integration, in die letztlich alle genannten
Risiken einmünden. In Kraft bleibt auch das Prinzip der »rituellen
Kohärenz«, von dem Jan Assmann spricht.[301] Nach wie vor dienen die
I_283 rituellen Praktiken dazu, einen Weltzusammenhang intakt zu halten, in
den die Götter ebenso eingebettet sind wie die Menschen. Mit dieser Praxis
wollen und sollen die Menschen dafür sorgen, dass das alles tragende
kosmische Geschehen seinen vorgeschriebenen Gang nimmt; unverändert
herrscht die magische Vorstellung, dass Menschen etwas tun müssen, damit
ihr eigenes Schicksal nicht den irrationalen Eingriffen zorniger Götter oder
den Tricks böser Dämonen zum Opfer fällt.
(2) Götterkult. Vor dem Hintergrund dieser Kontinuitäten haben sich in
den frühen Hochkulturen mit der Entstehung politischer Herrschaft, wenn
schon nicht die Struktur des Heiligen selbst (a), so doch die soziale
Grundlage und die Funktion des Umgangs mit Heil und Unheil verändert
(b). Die wachsende gesellschaftliche Komplexität gibt schließlich den
Anstoß zu einer reflexiven Bearbeitung und kognitiven Ausdifferenzierung
der Götterwelt (c).
(a) In neolithischen Gesellschaften hatte es neben den für den Kult
zuständigen Priestern schon ein Netz von religiösen Spezialisten wie
Wahrsagern, Schamanen und Heilern gegeben. Orakelbefragung und
Mantik, der Totenkult und die Ahnenverehrung, Opferpraktiken und
Beschwörungen, weiße und schwarze Magie, Reinigungsriten und
Dämonenaustreibungen, kultische Feste, Prozessionen und festliche
Mahlzeiten gehörten zu einem überlieferten Bestand an Praktiken, die
zunächst in den frühen Hochkulturen fortgeführt werden – und bis in die
Gegenwart ein Reservoir der »Volksreligionen« geblieben sind. In den
Alten Reichen des Vorderen Orients hat die Mantik in Gestalt des
Traumorakels, der Eingeweideschau und der astrologischen Deutung von
Himmelszeichen, haben auch die Nekromantie, das heißt die Befragung von
Toten, und die skurrile Wahrsagung aus Figuren, die Öltropfen auf der
Wasseroberfläche bilden, offenbar weite Verbreitung gefunden. Mit den für
politische Zwecke in Anspruch genommenen Propheten und Prophetinnen
könnte sich ein neues Moment angebahnt haben, obwohl die Grenzen
zwischen Wahrsagerei und ekstatischer Prophetie ebenso fließend sind wie
die zwischen Astrologie und Astronomie, Beschwörungskunst und Medizin.
Aber interessant im Hinblick auf ein geschichtliches Bewusstsein und die
Anfänge einer prophetischen Vermittlung göttlich autorisierter Botschaften
sind beispielsweise die Texte aus I_284 dem syrischen Mari des
17. Jahrhunderts vor Christus: »Die Gottesbotschaften sind in Briefform in
Mari überliefert, wobei man drei Typen prophetischen Erlebens
unterscheiden kann: Entzückung, Träume und Visionen.«[302]
Die Opferpraxis erfährt eine weitere Ausdifferenzierung, auch wenn
diese am magischen Sinn des Opfers nichts ändert. Wie das Gebet behält
auch das Opfer den Sinn einer Beschwörung von schwer berechenbaren
Göttern, die gleichzeitig verehrt und gefürchtet werden.[303]
Göttermahlzeiten werden mit Fleisch, Fisch, Gemüse, Mehl, Öl, Wein, Bier
oder Honig ausgestattet, mit Gaben, die vielfach von den Teilnehmern
selbst verzehrt werden. Kleinere Tiere wie Schafe oder Ziegenböcke oder
verschiedene Brot-, Obst- und Gemüsesorten werden verbrannt und als
Opfergaben den Göttern dargebracht. Außer diesen Speise- und
Brandopfern spielen Grabbeigaben, die die Toten für ihre Reise ins
Schattenreich ausstatten, eine wichtige Rolle – mit besonderem Nachdruck
in Ägypten, wo die gesamte Kultur auf den Totenkult und den Wunsch
nach Verewigung ausgerichtet ist.[304] Rituelle Menschenopfer scheint es in
den frühen Zivilisationen des Nahen Ostens nicht gegeben zu haben. Eine
merkwürdige Ausnahme bildet der Ritus des »Ersatzkönigs«, der bei
unheilvollen Vorzeichen in altbabylonischer Zeit und im hethitischen
Kleinasien gelegentlich ausgeübt und noch einmal während einer Krisenzeit
im Neuassyrien des siebten vorchristlichen Jahrhunderts mehrfach
wiederholt worden ist. Bei diesem Ritual »wurde im Regelfall für 100 Tage
ein Ersatzkönig eingesetzt, der das Unheil, das dem echten König
angekündigt war, auf sich ziehen sollte, um so das Heil des Königs zu
bewahren. Nach Verlauf von 100 Tagen wurde der Ersatzkönig getötet
[…].«[305]
I_285 Wie auch die Kultur der großen Feste steht dieses »verdeckte«
Menschenopfer schon im Zusammenhang mit Bedürfnissen einer
politischen Herrschaft, die vermutlich weniger Inhalt und
Erscheinungsform als vielmehr die Funktion und den Stellenwert von
Mythos und Ritus in den frühen Hochkulturen insgesamt verändert hat. Die
festlichen Riten, die die ganze Bevölkerung einbeziehen, finden nach wie
vor aus den bekannten Anlässen statt, auch wenn die astronomischen
Kenntnisse nun eine präzisere Bestimmung der im Jahreszyklus
wiederkehrenden Daten (Neujahr, Ernte, Flut- und Regenperioden)
erlauben. Der tiefe historische Einschnitt der Entstehung der Staatsgewalt
manifestiert sich auch bei diesen Gelegenheiten in der Aufspaltung des
Kultus zwischen der herrschenden Elite und dem Volk. Während Herrscher
und Priester Zugang zum Tempelheiligtum oder zur Cella einer Gottheit
haben, wo der regelmäßige Kultus stattfindet, begegnet die breite Masse der
Bevölkerung ihren Göttern nur bei rituellen Umzügen und Festen. Die
Götter treten erst bei diesen Gelegenheiten aus der Verborgenheit in die
Öffentlichkeit. Der selektive Zugang zum Heiligtum ergibt sich aus der
politischen Zentralisierung des Umgangs mit Heil und Unheil, die sich
architektonisch oft in der räumlichen Nähe von Palast und Tempel spiegelt
und die organisatorisch in der Ausdifferenzierung der Beamtenschaft auf
der einen, der Schicht von Kultspezialisten und religiösen Funktionären auf
der anderen Seite ihren Ausdruck findet. Eine relative Trennung der
profanen Ausübung der politischen Herrschaft von der Autorität der
Priester ist wohl zuerst in Babylonien im Laufe des dritten vorchristlichen
Jahrtausends eingetreten.
(b) Die aus der Wohnarchitektur entwickelten Tempelbauten sind als
Behausung für die Götter konzipiert und oft durch Erhöhung von der
profanen Umwelt abgegrenzt. Sie entwickeln sich in Mesopotamien und vor
allem in Ägypten zu weitläufigen, architektonisch anspruchsvollen
Anlagen, die zugleich der Repräsentation der Königsherrschaft dienen. Der
Sakralbezirk wird oft zu einer symbolischen Darstellung des Kosmos
ausgestaltet.[306] Schon die Errichtung des Tempels selbst und die
Einweihung der Götterstatuen sind heilige, rituell eingehegte Aktivitäten. In
Syrien haben die Kulthandlun I_286 gen nicht nur in Tempeln, sondern auch
an kleinen Stelen oder Schreinen stattgefunden. Die für den Kult
zuständigen Priester und Priesterinnen unterscheiden sich von Wahrsagern,
Beschwörern, Hebammen und anderen religiösen Spezialisten. Die
Götterstatuen müssen gewaschen, gesalbt und gekleidet sowie mit Speise
und Trank versorgt werden. Der Tempelvorsteher ist zugleich der oberste
Priester in einem Kollegium, das streng hierarchisch gegliedert und
funktional, zum Beispiel für die Rezitation von Klageliedern, Hymnen und
Gebeten, spezialisiert ist.
Es versteht sich, dass der Kult im Vorderen Orient damals, als die
Geschichte durch Aufstieg und Fall der großen Imperien sowie durch die
Konflikte zwischen ihnen geprägt ist, auch die »Außenpolitik« der
jeweiligen Herrscher unterstützt. Aber das Verhältnis von staatlichen und
religiösen Gewalten ist offenbar nirgends ohne Spannungen gewesen, nicht
einmal in Ägypten, wo die Vergöttlichung des Königs zeitweise am
weitesten gediehen ist. Die Religion kann nirgendwo ganz in
Religionspolitik aufgehen, weil das im Volksglauben verwurzelte Sakrale
nach wie vor für die Gesellschaft im Ganzen konstitutiv ist und dem Willen
der politischen Herrscher nicht zur beliebigen Disposition steht. Im Ritual
eines babylonischen Erntedankfestes muss beispielsweise der Oberpriester
dem König symbolisch Trost zusprechen, der sich wiederum vor Marduks
Thron erniedrigt, bevor dieser ihn wieder in seine Würden einsetzt. In
Assur übernimmt der König selber von Zeit zu Zeit die Rolle des
Oberpriesters. Während in Mesopotamien die Herrscher nicht selber zu
Göttern erhoben werden, genießt der Pharao im Allgemeinen eine
Zwischenstellung zwischen sterblichen Menschen und unsterblichen
Göttern. In der Doppelstatue des Niuserre verbindet sich das menschliche
mit dem göttlichen Wesen.[307] Vielleicht darf man sich die Verschiebung
der sozialintegrativen Rolle der Religion beim Übergang von
Stammesgesellschaften zu frühen Hochkulturen etwa folgendermaßen
vorstellen. In den frühen mythischen Erzählungen ist das
verwandtschaftlich strukturierte Ganze unmittelbar mit dem kosmischen
Geschehen verzahnt, sodass die sakralen Mächte in Stammesgesellschaften
noch diffus ausgebreitet sind und für alle Mitglie I_287 der gleichmäßig
zugänglich bleiben, auch wenn gelegentlich die Hilfe von Medizinmännern
oder Schamanen in Anspruch genommen werden muss. Hingegen zieht sich
das Sakrale später in der umfassenden, das gesellschaftliche Ganze
hierarchisch überwölbenden Organisation des Staates, jedenfalls in dessen
unmittelbarer Nachbarschaft zusammen. Die gesellschaftliche Struktur
spiegelt sich wiederum in einem immer stärker hierarchisierten
Götterhimmel, zu dem es nur sozial abgestufte Zugänge gibt. Der Herrscher
gewinnt durch den privilegierten Zugang zum Heiligen selber eine sakrale
Aura, die in Ägypten durch die stereotype Formel »Sohn des Re«
ausgedrückt wird. Diese Symbiose färbt wiederum auf die Götter ab: »In
den orientalischen Reichen […] und ganz besonders in Ägypten treten die
Gottheiten ebenfalls als Herrscher auf. Sie herrschen als Reichsgötter über
ganze Staaten, so wie Assur über Assyrien, Marduk über Babylonien, Amun
oder Re-Amun über Ägypten, oder als Stadtgötter über Städte so wie Enlil
über Nippur, Ischtar über Uruk, Re über Heliopolis, Amun über Theben,
Athene über Athen. Diese Götter herrschen aber nicht unmittelbar, direkt,
sondern indirekt. […] Auf Erden werden sie in ihrer Herrschaft durch den
König repräsentiert.«[308]
Wenn ein politischer Herrscher aufgrund seines unvermittelten
Kontaktes mit und der Nähe zur Götterwelt Legitimation genießt, ist freilich
»Repräsentation« eine vieldeutige und missverständliche Kategorie. Die
Beziehung der herrschenden Dynastien zu den göttlichen Mächten hat nicht
den funktionalen Sinn einer institutionalisierten Stellvertretung, sondern
eher den magischen Sinn der Teilhabe an oder der Herleitung aus einer
Energie, die sich auf die Person des Herrschers überträgt. Wie die Götter in
Bildern, Statuen oder heiligen Tieren eine Verkörperung finden, so
verleihen sie auch den Symbolen, Zeichen und rituellen Handlungen, in
deren Medium sich die Herrschaft des Königs »repräsentiert«, etwas
Heiliges. Eine genealogische Vater-Sohn-Beziehung, wie sie für den Pharao
im Verhältnis zum Sonnengott vorgestellt wird, veranschaulicht die
Verbindung von »außerordentlicher Gottesnähe« mit »exemplarischer
Gottesdienerschaft« besser als die funktionale Stellung eines
»Re I_288 präsentanten«.[309] Auf diese Weise wird die Legitimität einer
Herrschaft bezeugt, die den Göttern dabei hilft, die Weltordnung in Balance
zu halten und dadurch Gerechtigkeit auch unter den Menschen zu
verwirklichen. Vom Abglanz einer »Repräsentanz« in diesem Sinn mögen
sogar noch, wie Carl Schmitt behauptet, das zeremonielle Auftreten von
Papst und Kaiser während des europäischen Mittelalters gezehrt haben. Sie
haben die Aura einer »repräsentativen Öffentlichkeit« erzeugt.[310]
(c) Die intellektuelle Arbeit an der Welt- und Selbstverständigung sprengt
in den frühen Hochkulturen noch nicht die begrifflichen Schranken
mythischen Denkens. Aber mit der zunehmenden gesellschaftlichen
Komplexität öffnen und erweitern sich die sozialen Lebenswelten so weit,
dass sich auch die Götterwelt in den Grenzen narrativer Erklärungen zu
einem differenzierten, vielgestaltigen und hierarchisch geordneten Pantheon
entfaltet. Aus den Opferlisten, die aus dem nordsyrischen Ebla des dritten
vorchristlichen Jahrtausends überliefert sind, schließt man auf
durchschnittlich etwa 100 Götternamen; diese Größenordnung wird auch
für die Kulte im altbabylonischen Mari bestätigt. Die Fülle der
spezialisierten Gottheiten fügt sich in ein System ein, an dessen Spitze zwei
oder drei, manchmal bis zu neun Hauptgötter stehen. So wird das syrische
Pantheon von Ebla von einer göttlichen Trias, das altägyptische von Seth
von einem Duo, von Seth und dem Falkengott Horos, gekrönt. In
sumerischer Zeit steht eine kosmische Vierheit an der Spitze der syrischen
Götterwelt. Interessanterweise nötigt das mythische Denken noch nicht zu
einer scharfen begrifflichen Alternative zwischen unpersönlichen Mächten,
heiligen Tieren und persönlichen Göttern. Die Personifizierung von
Himmel, Wasser und Erde spielt in allen Schöpfungsmythen eine Rolle,
ebenso verbreitet ist die astrale Trias von Mond, Sonne und Venus (sowohl
als Abend- wie als Morgenstern). Der Auf- und Abstieg von Hochgöttern
vollzieht sich, wie im Falle des Sonnenkönigs Re, in Gesellschaft anderer
Göt I_289 ter. Aus dem ägyptischen Totenkult ist beispielsweise die
»Reichstriade« aus Re, Amun und Ptah, neben denen sogar Ramses II. als
Gottkönig gleichberechtigt Platz nehmen darf, zu Berühmtheit gelangt.[311]
Hier hat der Zug zu Abstraktion und Vereinheitlichung des Götterhimmels
die polytheistische Vielfalt vorübergehend sogar zugunsten eines
Henotheismus verdrängt – zunächst am Ende der Hyksos-Periode, als der
König die Alleinverehrung der Gottheit Seth-Baal propagierte, sodann
während der Regierungszeit von Echnaton, der die exklusive Anbetung von
Aton befahl. Nicht nur der episodische Charakter dieser Versuche zeigt an,
dass sich noch in dieser extremen Vereinheitlichung der Götterwelt die
mythische Denkweise fortsetzt. Später, nach der Entstehung des
Monotheismus, werden sich die Geister weniger am Pluralismus als an der
Weltimmanenz göttlicher Mächte scheiden, gleichviel ob diese nun in
kosmischer, animalischer oder persönlicher Gestalt, im Singular oder im
Plural auftreten. Der ägyptische Henotheismus ist aus denselben Begriffen
gemacht wie der Polytheismus.
Echnaton lässt zwar alle Tempel schließen und alle Kulte verbieten, die
nicht der Verehrung des einzigen Lichtgottes gewidmet sind. Aber der als
singulär ausgezeichnete Aton-Kult zielt auf einen ausgewählten Gott, ohne
die Existenz anderer Götter zu leugnen: »Die [anderen] Götter werden nicht
explizit zu ›Götzen‹ erklärt, sondern ignoriert.«[312] Der Henotheismus ist
nicht exklusiv, sondern eine Fortentwicklung des Polytheismus. Auch Aton
erscheint in Bildern, Statuen und Zeichen. Ein derart verkörperter Gott
gewinnt – nicht anders als Marduk oder Zeus und der Jahwe des Judentums
bis in die Königszeit hinein – seine Evidenz aus lebensweltlicher
Anschauung, in Ägypten nach wie vor aus der Beobachtung des Auf- und
Untergangs der Leben spendenden Sonne. Aton bleibt ein Teil der von
Menschen bewohnten Welt und transzendiert die Welt im Ganzen so wenig
wie der König selbst. Es geht also nicht um eine »Aufkündigung des
symbiotischen Weltverhältnisses« und um das Ende der »Beheimatung«
des Menschen in einem Kosmos, den dieser mit den I_290 Göttern (oder
auch nur mit einem unter ihnen) teilt.[313] Ohne einen kognitiven
Durchbruch zum Gedanken eines allem Innerweltlichen transzendenten
Gesetzes oder Gesetzgebers kann es auch keine moralische Autorität geben,
die der König in der Weise »vertritt«, dass er sich am Maßstab dieser
Autorität selber rechtfertigen und kritisieren lassen müsste: »Der König ist
der einzige Repräsentant des Gottes. […] In ihm allein ist der Gott den
Menschen zugänglich. Sonst erfahren sie ihn nur in Licht und Zeit, also in
kosmischen Energien.«[314] Im alten Ägypten hat es so wenig wie in
Assyrien und Babylonien eine »Verantwortlichkeit der Herrscher
gegenüber einer höheren Ordnung gegeben, wie wir sie im alten Israel oder
in China finden«.[315]
Andererseits verrät sich in der Mobilität der Hochgötter, die im Verlaufe
von drei Jahrtausenden immer wieder in anderen Konstellationen auftreten,
die Plätze wechseln oder einander ganz verdrängen, der Umstand, dass der
religiöse Kultus oft in die Abhängigkeit von Schicksalen der politischen
Herrschaft geraten ist und immer mehr konstruierte Züge annimmt. So
spiegelt sich in der Gewichtsverschiebung zwischen den ägyptischen
Kultzentren von Heliopolis nach Memphis und von dort über Herakleopolis
nach Theben ein gleichzeitiger Wandel der politischen Machtverhältnisse
und der mythologischen Götterkonstellationen. In der politischen
Bedeutung der großen Stadtfeste manifestiert sich schon ein Schritt in
Richtung eines durch dynastische Chronologien veränderten kulturellen
Gedächtnisses, das heißt eines reflektierteren Zeitbewusst I_291 seins. Indem
die Einwohner von Babylon, der Kapitale eines großen Reiches, die
Herrschaft von Marduk, ihres zentralen Gottes feiern, feiern sie zugleich –
in der Art eines Nationalfestes – die politische Macht der Stadt und des
Imperiums. Gleichzeitig steht das jeweils eigene Pantheon für die
Einverleibung fremder Götter offen, wenn die Bevölkerung militärisch
eroberter Gebiete in die politische Herrschaft des Siegers einbezogen
werden soll.
Ganz abgesehen vom üblichen Götterexport und -import, war es offenbar
nicht schwierig, aufgrund der Ähnlichkeit der Systeme die fremden Götter
den eigenen zuzuordnen. Die lokalen Götterwelten waren nicht nur
geographisch benachbart, sondern im Hinblick auf die funktional
äquivalenten Zuständigkeitsbereiche einzelner Gestalten sozial und sachlich
so eng miteinander verwandt, dass die Korrespondenzen auf der Hand
lagen. Davon zeugen die Übersetzungsmanuale für Götterlisten. Mit der
schriftlichen Aufzeichnung der mythischen Erzählungen verstärkte sich,
wenigstens unter den literarisch Gebildeten, die Reflexivität im Umgang mit
der religiösen Überlieferung; im Medium der Schrift wird das gesprochene
Wort vom Kontext der Redesituation abgelöst und aufbewahrt, sodass Leser
auf die konservierten Aussagegehalte nach Belieben zurückkommen und
Autoren wiederum ihre eigenen Kenntnisse und Einstellungen in die
Bearbeitung der Texte einbringen konnten. Eine wachsende Reflexivität
äußert sich gleichzeitig in der Verinnerlichung des religiösen Bewusstseins.
[316] Diese fördert wiederum ein ethisches Verständnis der bis dahin eher

ritualistisch befolgten Verhaltensvorschriften. Gebete und Klagelieder


verraten ein Bewusstsein individueller Schuld und ein Bewusstsein vom
Zusammenhang der Sünde mit Buße und Versöhnung.[317] Das »Hiob-
Problem« des unschuldig ins Unglück Gestürzten taucht sowohl in
Babylonien wie in Ägypten auf. Aus einem Totenbuch des Neuen Reiches
stammt auch die berühmte Gerichtsszene, die auf die Vorstellung schließen
lässt, dass sich die Toten in einem Prozess für ihre Lebensweise
rechtfertigen müssen. Diese Individualisierung des Selbstverständnisses
führt zu einer schärferen Differenzierung zwischen der I_292 Vorsorge für
das persönliche Heil und dem rituellen Umgang mit dem kollektiven
Schicksal der vom König repräsentierten Gemeinschaft. In dem zunehmend
individualisierten Umgang mit Heil und Unheil spiegelt sich persönliche
Frömmigkeit. Entsprechend differenzieren sich die religiösen Vorstellungen
und Praktiken. In Ägypten wird der Begriff des »Ba« entwickelt;[318] in
Babylonien und Syrien ergänzt die Beziehung zu einem jeweils persönlichen
Schutzgott die kollektiven Praktiken und Staatsriten.
Diese Subjektivierung, die im Lichte eines individualisierten
Verhältnisses zu den Göttern, aber auch in interpersonalen Beziehungen
und in der reflexiven Beziehung zu sich selbst einsetzt, sprengt freilich noch
nicht die konzeptuellen Schranken einer auf »Innerweltliches« fixierten
Denkweise. Der von mir deskriptiv verwendete Begriff der Weltimmanenz
ist schon aus einer anderen, dem Mythos noch verschlossenen Perspektive
gewählt. Sowohl an den Schöpfungsmythen wie an den sogenannten
Jenseitsvorstellungen zeigt sich die Schwierigkeit, sich den Anfang der Welt
und ein Fortleben der Menschen nach ihrem Tode auf andere Weise als
durch eine Extrapolation vertrauter Umgangserfahrungen, das heißt als
Minimierung oder Steigerung von Vorkommissen der sinnlich evidenten
Alltagswelt begreiflich zu machen. Was diesseits oder jenseits »unserer«
Welt liegt, wird als ein expandierter Abschnitt dieser Welt vorgestellt und
auf der Zeitachse als Noch-nicht oder Nachher eingetragen.
(3) Die Ausdifferenzierung der Wissensformen als Anstoß zur Sublimierung
von Heil und Unheil. Die Achsenzeit gibt Versuchen einer soziologischen
Erklärungsstrategie, die die Weltbildentwicklung ausschließlich auf die
Dynamik der gesellschaftlichen Evolution zurückführen möchte, Rätsel auf.
Denn die großen gesellschaftlichen Transformationen sind längst vollzogen,
als die intellektuellen Eliten der »fahrenden« Literaten und Weisheitslehrer
in China, der Philosophen in Griechenland, der Mönche und
Wanderprediger in Indien, der Propheten und Schriftgelehrten in Israel das
magische Denken und die Opferpraxis bekämpfen oder umformen und mit
neuen religiösen und metaphysischen Lehren die alten Mythen verdrängen.
I_293 Die kriegerische Dynamik der Alten Reiche hatte schon seit
Jahrtausenden die politischen Schicksale der zivilisierten Welt bestimmt, als
die Weltbildrevolutionen der Achsenzeit fernab von den Machtzentren eher
unauffällig einsetzten, so in China an kleinen Höfen während einer Periode
des Zerfalls und militärischer Wirren oder – wie in Ionien, Sizilien und
Griechenland, im Vorgebirge des Himalaya nahe der nepalesischen Grenze
und in Israel – inmitten städtischer Republiken oder Adelsherrschaften,
kleiner Königreiche oder Theokratien.
Autoren, die wie Marcel Gauchet die Ursachen der Erschütterung der
mythischen Denkform allein in gesellschaftlichen Strukturveränderungen
suchen, bleibt nur der Rückgriff auf die fortschreitend expansive Dynamik
der staatlichen Herrschaft. Bei Gauchet entsteht das flächige Bild einer
linearen Verfallsgeschichte des sakralen Komplexes, die nur einen einzigen
harten Einschnitt kennt. Nach dieser Lesart beginnt die Erosion des
Heiligen mit der Entstehung der repressiven Gewalt politischer Herrschaft
und mit der Aufspaltung egalitärer Stammesgesellschaften in soziale
Klassen, um sich dann unaufhaltsam fortzusetzen: »Voll entwickelte
Religionen existierten schon vor der Weggabelung, die uns um das
Jahr 3000 v. Chr. in eine andere religiöse Welt stürzen ließ, in eine Welt, die
ohne Religion existieren kann – in unsere eigene.«[319] Aus der Annahme
des monolithischen Charakters einer ursprünglich in sich verkapselten
mythischen Welt, die von außen aufgebrochen worden ist, folgt bei Gauchet
die eigentümliche Nivellierung aller weiteren kognitiven Schübe: »Aus
diesem Blickwinkel erscheint die Entstehung des Staates klarerweise als das
wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte. Sie ist nicht bloß ein
Stadium unter vielen im fortschreitenden Prozess der Ausdifferenzierung
sozialer Funktionen und der Stratifizierung von Status. […] Sie geht einher
mit einer massiven Revision im Hinblick darauf, wie Menschen ihr Dasein
begreifen und beschreiben […]. Nach Dutzenden von Jahrtausenden, in
denen die Religion die Politik dominiert hat, und weiteren 5000 Jahren, in
de I_294 nen die Politik die Oberhand über die Religion hatte, befinden wir
uns [heute] an einem Punkt, an dem sich die Religion systematisch
erschöpft hat und ihr Vermächtnis allmählich verblasst. […] Die
sogenannten ›großen Religionen‹ oder ›Weltreligionen‹ sind alles andere
als die ultimative Gestalt der Religion, sondern lediglich Etappen auf dem
Weg von deren Rückzug und Zerfall.«[320]
Der Fehler dieser flächigen Konzeption steckt bereits im projektiven
Ausgangszustand einer in sich ruhenden, von Riten eingezäunten
mythischen Welt, die aus sich heraus keine kognitive Dynamik entwickelt.
Und falsch ist die implizite Annahme, dass Mythos und Ritus keine
Gestalten des Geistes und keiner Rationalisierung fähig sind, ohne ihren
sakralen Kern einzubüßen. Gewiss haben sich die Götterpantheons, die sich
erst im Zuge der Stratifizierung der frühhochkulturellen Gesellschaften zu
einem hierarchischen Götterhimmel ausdifferenziert haben, an den
externen Druck wachsender gesellschaftlicher Komplexität und veränderter
politischer Machtverhältnisse angepasst. Aber die literarische
Ausgestaltung der mythischen Welten reagiert nicht nur auf die
funktionalen Imperative einer veränderten sozialen Umgebung, sondern
auch auf die Sprengkraft, die das in diesen Kulturen anwachsende
empirische und moralisch-praktische Wissen für die kognitive
Fassungskraft eines narrativ strukturierten Welt- und Selbstverständnisses
entfaltet. Und die kognitiven Dissonanzen, die die achsenzeitliche
Revolution der Weltbilder auslösen, müssen an den narrativen Gründen
ansetzen, die den Erklärungsanspruch des mythischen Denkens einlösen.
Ein Formwandel der sozialen Integration, wie er sich in den Kulturen der
Achsenzeit vollziehen wird, erklärt sich aus dem Ineinandergreifen
systemischer Anpassungs- und endogener Lernprozesse. Er hängt sogar
vom Vorlauf der sozial- und moralkognitiven Lernprozesse ab, die mit
einem Strukturwandel des Selbst- und Weltverständnisses erst die
Möglichkeitsspielräume für institutionelle Neuerungen eröffnen. Solche
Lernprozesse verändern das kulturelle Programm einer Gesellschaft, indem
sie gleichzeitig kognitive Dissonanzen erzeugen und das kognitive Potential
für die Lösung von aufgestauten Systemproblemen bereitstellen. Zu diesem
andernorts ausgearbei I_295 teten evolutionstheoretischen Ansatz[321] passt
die schon erwähnte These, dass zwischen den beiden Elementen des
sakralen Komplexes von Anfang an eine Spannung besteht – zwischen
einem Mythos, der die Welt nicht nur kategorial erschließt, sondern auch
für innerweltliche Lernprozesse öffnet, auf der einen Seite und dem
weltbildversiegelnden Ritus, der auf vorsprachliche Ressourcen der
gesellschaftlichen Solidarität zurückgreift, auf der anderen Seite.
Die Entwertung der mythischen Denkform geht auf die Lehren
intellektueller Eliten zurück, die ihrerseits auf Krisenerfahrungen reagieren.
Die Kritik spiegelt sich in dem Aufruf zu moralischer Umkehr und in dem
Sündenbekenntnis, welche wortgewaltige jüdische Propheten in ihren
Bußpredigten einklagen; in der Erschütterung des Siddharta Gautama beim
Anblick des Elends, der Gewalt und des Blutvergießens, die den jungen
Prinzen nach seinen vier legendären Ausfahrten zur Konversion bewegen;
in der Rastlosigkeit des Konfuzius und anderer chinesischer Philosophen,
die im Bewusstsein, dass die Menschheit »ihren Weg verloren« hat, von
Hof zu Hof ziehen, um Herrscher und Heerführer über ihre radikalen
Lesarten des politischen Ethos aufzuklären; schließlich in der asketischen
Strenge der pythagoreischen Bruderschaften sowie im politischen, vor allem
gesetzgeberischen und pädagogischen Engagement der Vorsokratiker. Diese
Reaktionen lassen auf ähnliche Erfahrungen und Motive schließen. Sosehr
sich die Weisheitslehren, Prophetien, Offenbarungen und Philosophien in
ihrem Inhalt unterscheiden, so sehr gleichen sie sich in ihrer kritischen
Distanz zu allem Bestehenden. Für die Erklärung der Weltbildrevolution
kann der Hintergrund von Krisensituationen, die es ja in den instabilen
Alten Reichen immer schon gegeben hat, freilich nur eine auslösende
Funktion gehabt haben; er ist nicht die entscheidende Variable. Ich verfolge
stattdessen die Hypothese, dass sich im Protest jener neuen
Intellektuellengruppen etwas anderes ausdrückt: der Sachverhalt, dass ein
längerfristig akkumuliertes Weltwissen die Verarbeitungskapazität der
überlieferten und rituell befestigten Denkweise überfordert.
I_296 Im Vorderen Orient entsteht bis zum Ende des dritten
vorchristlichen Jahrtausends eine Literatur, die sich in Form und Inhalt von
den Gebrauchstexten in Wirtschaft und Verwaltung unterscheidet.
Interessanterweise besteht diese Literatur in allen frühen Hochkulturen aus
den gleichen Textsorten, denen jeweils verschiedene Wissenstypen
entsprechen – religiöse, literarisch-fiktive, historische, moralisch-praktische,
naturphilosophische, mathematische und im weitesten Sinne empirische Texte.
Hier akkumuliert sich ein Wissen, das vor dem Hintergrund der von
Mythos und Magie bestimmten Überlieferungen kognitive Dissonanzen
erzeugen musste und damit einen internen Anstoß zur Reflexion und
begrifflichen Rekonstruktion des mythischen Selbst- und
Weltverständnisses gegeben hat. Die Verschriftlichung der zunächst
mündlich oder durch Bild, Tanz und Gesang überlieferten Riten und
Mythen begründet ja erst so etwas wie »kulturelle Überlieferung«. In den
frühen Hochkulturen bilden Schreiben und Lesen das Medium, durch das
sich das bis dahin mündlich überlieferte kulturelle Wissen zu einem für
lange Zeit nur noch selektiv zugänglichen Bildungswissen verdichtet. Das
Schreibenlernen, für das sich die Übung im Abschreiben maßgebender
Texte empfahl, führte nicht nur zum Erwerb einer Kompetenz, die den
herausgehobenen Status des Beamten und Gebildeten auszeichnete; es
bedeutete zugleich die Einübung in ein Bildungswissen, das Geist und
Charakter des Schreibers formt. Auf dieses frühhochkulturelle Verständnis
der schreibenden Aneignung und Fortsetzung der Kultur geht noch unser
eigener humanistischer Bildungsbegriff zurück. Er hat in der griechischen
paideia sein unmittelbares Vorbild; im Ägyptischen, Hebräischen,
Chinesischen und so weiter finden sich entsprechende Begriffe mit
ähnlichen Konnotationen. Die Umstellung der oralen Überlieferung auf die
literarische Aneignung kultureller Texte regt schon von sich aus zu
Neuerungen an, weil Lesen immer auch ein Stück Interpretation bedeutet.
Während der Lektüre kann der Leser am Text nachdenkend »auf und ab
gehen«, das heißt in beliebiger Reihenfolge auf beliebige Zeilen
reflektierend beliebig oft »zurückkommen«. Und jede Weitergabe durch
Interpretation verändert die Bedeutung des Textes und erneuert die
Tradition auf dem Wege einer mehr oder weniger produktiven Fortsetzung.
Mit der hermeneutischen Aneignung von Texten zieht also I_297 ein anderer
Bearbeitungsmodus in die Fortsetzung der Tradition ein; der Interpret bahnt
dem bloßen »Abschreiber« den Weg zum »Autor«.
Jan Assmann mag diese Konsequenz des Einwanderns der Schrift in die
Traditionsfortsetzung etwas überpointiert ausdrücken, wenn er meint, dass
der Autor die Erwartung spürt, etwas Neues und Unbekanntes sagen zu
müssen, während der Barde mit jeder neuen Aufführung seines Gesangs das
alte Lied reproduziert.[322] Aber ein Phänomen, auf das er hinweist, spricht
tatsächlich dafür, dass eine mündliche Tradition durch Verschriftlichung
unter Veränderungsdruck gerät: In den alten Kulturen entsteht vor der
Wende zum ersten vorchristlichen Jahrtausend, also lange vor der
exemplarischen Kanonisierung der Tora, so etwas wie ein literarischer
Kanon im Sinne der Auswahl klassischer Werke. Diese Texte werden dem
naturwüchsigen Strom der Interpretation gewissermaßen entzogen. Dem
Wortlaut darf nichts weggenommen, nichts hinzugefügt werden; er muss,
so ist die Erwartung, in seiner »ursprünglichen« Form bewahrt werden. Auf
diese Weise wird ein »Bestand« an maßgeblichen Werken eingefroren und
prima facie dem Veränderungssog der Wirkungsgeschichte entzogen. Das
Zeiten überwindende Moment dieser Strategie besteht darin, wie Hans-
Georg Gadamer gesehen hat, dass die Klassiker für alle künftigen
Generationen Zeitgenossen bleiben. Als gemeinsames Erbe bieten sie für die
hermeneutische Aneignung über Jahrhunderte hinweg einen fixen
Bezugspunkt, der den Zeitenabstand zwischen den Generationen entweder
vergessen lässt oder durch Renaissancen, durch unmittelbare Rückgriffe auf
eine vermeintlich ursprüngliche Bedeutung negiert. Darin spiegelt sich ein
historisches Bewusstsein, für das die Wirkungsgeschichte klassischer
Werke allerdings noch nicht als solche zum Thema geworden ist.[323]
Nun zu den einzelnen Bestandteilen der kulturellen Überlieferung, den
Wissenstypen, die sich in allen Hochkulturen, lange vor der Achsenzeit, an
den verschiedenen Textsorten ablesen lassen. Einen leicht
I_298 identifizierbaren Bestandteil bilden zunächst jene religiösen Texte, die
aus der Verschriftlichung des Kultus, also der in seinem Verlauf
gesprochenen Worte und vollzogenen Handlungen resultieren. Dazu
gehören die rituellen Vorschriften für Opfergaben und Orakel, für
Reinigungsprozeduren, Fluch- und Segenswünsche, das heißt alles, was die
Kultspezialisten bei der Durchführung ihrer Aufgaben zu beachten haben;
außerdem die Formeln für die Anrede der Gottheit, für Beschwörung und
Dank, für die oft schon poetisch ausgestalteten Hymnen, Klagelieder und
Gebete. Andere Texte stammen aus dem Totenkult. In den ägyptischen
Nekropolen berichten die erzählenden Szenen und Inschriften auf
Grabmälern von mythischen Vorstellungen und festlichen Ritualen.
Ähnliches gilt für die ikonischen Darstellungen an den reich dekorierten
Wänden von Osiris-Heiligtümern und anderen Tempeln und ebenso für die
auf Papyrusrollen überlieferten Toten- und Unterweltbücher. Die mündlich
überlieferten Mythen bilden andererseits Quellen für profane Texte, für
Dichtungen verschiedener literarischer Gattungen. Das altbabylonische
Gilgamesch-Epos ist das erste bekannte Beispiel für eine Sorte von Texten,
die das Selbstverständnis der Kulturen jahrtausendelang geformt haben,
ohne je als heilige Schriften verehrt worden zu sein.[324] Gilgamesch ist der
teils göttliche, teils menschliche Held von parataktisch aneinandergereihten
Abenteuergeschichten. Zusammen mit seinem Freund Enkidu fordert er die
Götter heraus und besteht schreckliche Gefahren. Dem Gilgamesch folgen
andere Epen wie das Atrahasis und das Enuma Elisch, die im Orient immer
wieder abgeschrieben wurden. Damit beginnt eine Literaturgattung, die im
Westen von den klassischen griechischen Epen des achten vorchristlichen
Jahrhunderts über die mittelalterlichen Sagenkreise bis zu den modernen
Picaro-Romanen wie Parzival oder Don Quijote reicht.
Das Epos ist nicht die einzige literarische Abzweigung aus der religiösen
Überlieferung. Aus der reflektierenden »Arbeit am Mythos« entstehen
poetische Texte wie Erzählungen, lyrische Gesänge und später die
Tragödien, die im klassischen Athen aus Anlass kultischer Feste aufgeführt
wurden und ihre kathartische Wirkung auch außer I_299 halb des religiösen
Kontextes nicht verfehlten. In Ägypten führt von den rituellen
Verwünschungen eine Linie zu den sogenannten Ächtungstexten (die
Rhetorik wortmagischer Verächtlichmachung diente der Taktik geistiger
Entwaffnung). Auch wenn solche Texte noch eine Herkunft aus dem
kultischen Wissen verraten, unterscheiden sie sich von religiösen Texten,
weil sie ein kulturelles Wissen transportieren, das sich aus der
Umklammerung des Ritus schon gelöst hat. Hingegen stützt sich die profane
Weisheitsliteratur zum großen Teil auf Alltagserfahrungen. Diese Sorte von
Texten besteht aus Lehrfabeln, Sprichwörtern, moralischen Geschichten,
Legenden, Ermahnungen, zeitkritischen Erzählungen und so weiter. Die
Verarbeitung von politischen Anlässen oder historischen Ereignissen, die in
Fiktionen und Weisheitstexte einfließen, gibt einen Hinweis auf den
Zusammenhang zwischen den Anfängen dieser Literatur und einem
veränderten Zeitbewusstsein.[325] In den alten Schriftkulturen hatte die
Auszeichnung klassischer Texte und eine entsprechende Reflexion auf die
Stillstellung des Traditionsflusses zur Entstehung eines historischen
Bewusstseins beigetragen, das im Laufe des ersten Jahrtausends vor
Christus die ersten in unserem Sinne »historischen« Darstellungen möglich
gemacht hat. Klassische Texte nehmen keine religiöse Autorität mehr für
sich in Anspruch, und sie wurden als das Werk von individuellen Autoren
wahrgenommen. Daher konnten sie auch den Sinn für die Relevanz
bestimmter, nicht wiederholbarer, aber erinnerungswürdiger Ereignisse
stimulieren. Historisch festgehaltene »Geschichten« unterscheiden sich von
den typisierten »Geschichten« der Götterwelt durch die Einmaligkeit ihres
Ereignischarakters. Diese Geschichten mussten der Nachwelt auf andere
Weise als die kultisch wiederholten oder fiktiv vergegenwärtigten Aktionen
der Götterwelt überliefert werden.
Mit dem Wissen der ersten »Historiker« vom Schlage Herodots greifen
wir auf einen dritten Typus des Wissens voraus, auf ein »Weltwissen«, das
sich nicht mehr aus »kultureller Überlieferung«, sondern vornehmlich aus
empirischen Quellen speist. In den städtischen Zen I_300 tren der frühen
Hochkulturen hatte sich, wie sich schon an den hochkomplexen Verkehrs-
und Organisationsformen des Staates und der Wirtschaft, an den
entwickelten Technologien der Kriegführung, der Landwirtschaft, der
Wasserregulierung und der Schifffahrt sowie an der großartigen Tempel-,
Grab- und Palastarchitektur ablesen lässt, eine Masse an
erfahrungskontrolliertem Weltwissen angesammelt. Das historische Wissen
ist gegenüber diesem allmählich akkumulierten »Sachwissen« eine relativ
späte Erscheinung. Natürlich haben die Menschen ihr Leben immer schon
im Modus eines intelligenten, das heißt lernbereiten kognitiven Umgangs
mit enttäuschten Erwartungen geführt; aber dieses Weltwissen (ich spreche
fortan von »mundanem« Wissen) differenziert sich erst in den
Hochkulturen in Bestandteile des pragmatischen, empirischen und
theoretischen Wissens aus. In Bereichen der Verwaltung und des Militärs
entsteht eine neue Art von Organisationswissen, in der Architektur
verfeinert sich das entsprechende Konstruktionswissen, in der
wirtschaftlichen Produktion und im Umgang mit zyklisch wiederkehrenden
Naturereignissen entfaltet sich das technische Wissen. Naturkundliches
Wissen verdankt sich vor allem astronomischen und medizinischen
Beobachtungen. Die eindrucksvollen mathematischen Kenntnisse zeugen
nicht nur in Ägypten von einem hohen Stand der theoretischen
Verarbeitung empirischer Beobachtungen. In den Spätphasen jener alten
Hochkulturen, die ihre traditionswirksame Kraft bis in die römische
Kaiserzeit hinein erhalten, müssen die Menschen im Alltag immer häufiger
auf kognitive Dissonanzen gestoßen sein. Die herkömmlichen magischen
Praktiken können nicht länger mit jenem Wissensstand vereinbar gewesen
sein, der inzwischen in Bereichen des profanen gesellschaftlichen Verkehrs
und der Naturbeherrschung erreicht worden war. Mit der Verschärfung des
Kontingenzbewusstseins mussten sich deshalb die mythischen Deutungen
und die entsprechenden Praktiken immer weiter aus dem Alltag
zurückziehen und die erweiterten Kontingenzspielräume für das mundane
Wissen der pragmatisch bewährten Verfahren und der empirisch oder
theoretisch gestützten Problemlösungen gewissermaßen freigeben.
(4) Wissensdynamik und Weltbildentwicklung. Ich gehe davon aus, dass
die stetigen sozialstrukturellen Veränderungen, die sich zwi I_301 schen dem
dritten und der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends in den frühen
Hochkulturen vollzogen haben, für eine plausible Erklärung des Bruchs in
der Weltbildentwicklung allein nicht hinreichen. Offenbar mussten die
mythischen Weltbilder auch durch eine interne Wissensdynamik unter
Druck geraten. Das mit dem rituellen Verhalten verschränkte religiöse
Wissen trat nach wie vor mit dem holistischen Anspruch auf, das Selbst-
und Weltverständnis der politischen Kollektive wie der einzelnen Personen
zu bestimmen. Dieser Anspruch der mythischen Narrative ist vermutlich
von beiden Seiten, vonseiten der Literatur und des erfahrungsgestützten
mundanen Wissens auf je verschiedene Weise in Frage gestellt worden. Die
Evidenz der überlieferten mythischen Erzählungen ist einerseits durch die
Ästhetisierung ihrer Inhalte und andererseits durch die konkurrierenden
Geltungsansprüche des akkumulierten Weltwissens erschüttert worden. Die
Literarisierung des überlieferten, zu Fiktionen verarbeiteten Mythenstoffs
greift die Glaubwürdigkeit dieser Geschichten an, indem sie deren
konstruierten Charakter durchsichtig macht. Dafür ist Hesiods Theogonie
ein Beispiel; in Griechenland habe er, wie Werner Jaeger meint, »am
meisten dazu beigetragen, den weltanschaulichen Gehalt der Mythen mobil
zu machen«.[326] Gleichzeitig verunsichert das anwachsende mundane
Wissen von (technisch beherrschten) natürlichen, politischen,
gesellschaftlichen und historischen Vorgängen die mythischen
Weltdeutungen gewissermaßen von außen, indem es kognitive Dissonanzen
erzeugt.
In diesem Zusammenhang verdient die interessante Rolle der beiläufig
erwähnten Weisheitsliteratur (Psalmen, Sprichworte, moralische
Geschichten, Lehrfabeln) besondere Aufmerksamkeit. Jan Assmann
unterscheidet innerhalb des »kulturellen«, also zwar profanen, aber nicht
mundanen Wissens sorgfältig zwischen zwei Komponenten, denen er
einerseits die »formativen«, das Welt- und Selbstverständnis prägenden
fiktiven Texte und andererseits die »normativen« Texte zuordnet, die das
soziale Verhalten der Gesellschaft orientieren.[327] Die
Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich in diesen Texten spiegeln,
I_302 stammen offenbar nicht wie die Inhalte der literarischen Texte aus
dem Schatz der religiösen Überlieferungen, sondern überwiegend aus den
profanen Quellen des Brauchtums und der Alltagssittlichkeit sowie aus den
ebenso profanen Enttäuschungen des Volkes im Umgang mit der
rechtsetzenden und rechtsprechenden Praxis seiner Herrscher. Dieser
überraschende Befund bedeutet, dass Moral und Gerechtigkeit und –
angesichts von politischer Gewalt und Willkür – auch die ethische
Besinnung auf das eigene individuelle Schicksal nicht als integrale
Bestandteile des sakralen Komplexes begriffen werden müssen. In den
frühen, holistisch strukturierten Gesellschaften war das Sakrale so eng mit
den sozialen Strukturen verschränkt, dass die spätere Unterscheidung
zwischen Religion und Sittlichkeit noch nicht greift. Daher wäre es voreilig
zu behaupten, dass Religion und Sittlichkeit unabhängige Wurzeln haben.
Aber beide Komplexe differenzieren sich dann eher in sachlicher als in
funktionaler Hinsicht voneinander; denn beide beziehen sich in den
frühhochkulturellen Gesellschaften nach wie vor auf Probleme der sozialen
Integration, wenn auch in jeweils anderer Weise. Daher ist ein Konflikt
zwischen ihnen nicht ausgeschlossen.[328] Religiöse Praktiken zielen auf die
Abwehr von Unheil und die Beschwörung von Heil, wenn das soziale Band
bis zum Zerreißen angespannt ist und Krisen der Vergesellschaftung, das
heißt extraordinäre Zustände bewältigt werden müssen. Hingegen besagen
die »sittlichen« Moral- und Gerechtigkeitsnormen im weiteren, das Ethos
einer Gesellschaft einschließenden Sinn, welches Verhalten der eine vom
anderen normalerweise erwarten kann, wann einer dem anderen normativ
begründete Vorwürfe machen oder mit der Ungerechtigkeit der Umstände
seines persönlichen Schicksals hadern darf. Die Stiftung von Heil rettet das
Kollektiv oder den Einzelnen aus existentieller Not, während die eingelebte
Sittlichkeit, die Moral und das Recht den normalen gesellschaftlichen
Verkehr stabilisieren, verbindliche Muster der Konfliktlösung etablieren
und Maßstäbe für die Beurteilung der eigenen Existenz setzen.
I_303 Gewiss nehmen die politischen Herrscher die von Priestern
verwalteten Erzählungen und Heilsgüter für ihre Legitimationsbedürfnisse
in Anspruch; sie rühmen sich der privilegierten Abstammung von und der
Nähe zu den sakralen Gewalten. Religiöse Praktiken stützen die Heiligkeit
eines Rechts, das die Ausübung der politischen Gewalt autorisiert. Dieser
konstitutive Zusammenhang von Heil und Herrschaft erklärt sich daraus,
dass die Religion Zugang zu Energien hat, von denen der soziale
Zusammenhalt der Gesellschaft im Ganzen zehrt. Demgegenüber scheint
die Ressource der Gerechtigkeit unmittelbar der Reziprozität von
Anerkennungsverhältnissen zu entspringen, die in der kommunikativen
Alltagspraxis angelegt sind. Zwar manifestiert sich in der von Hegel
beschriebenen »Kausalität des Schicksals«, wonach die schmerzliche
Zerrüttung dieser kommunikativen Anerkennungsverhältnisse die Dynamik
einer »rächenden Gewalt« auf den Plan ruft, auch ein Zusammenhang
zwischen ethischen Reaktionen auf die erfahrene Verletzung von
Gerechtigkeitserwartungen einerseits, Störungen der sozialen Integration
andererseits. Aber diese spiegeln sich im Sakralen auf andere Weise als in
moralischen Gefühlen von Kränkung und Empörung. Die außeralltägliche
Erfahrung von Identitätsverlust und Errettung aus der tödlichen
Konkurrenz zwischen den Selbsterhaltungsimperativen des Einzelnen und
des Kollektivs unterscheidet sich von Entwürdigung und Verletzung
legitimer Ansprüche im Alltag. In der Welt des Mythos verdeckt die
Verwandtschaft zwischen Religion und Sittlichkeit nicht die spezifischen
Quellen, von denen sie jeweils zehren.
Paul Veyne beschreibt das antike Heidentum in der Spätphase der
römischen Kaiserzeit mit großer Anschaulichkeit als »eine Religion, die mit
der Moral nichts zu schaffen hat«.[329] Die häufigen religiösen Feste und die
regelmäßigen Opferkulte an den zahlreichen Altären in römischen Städten
und Siedlungen bezeugen eine »fünfhundert Jahre nach Sokrates« immer
noch intakte Volksreligion, die das alltägliche Leben durchdringt. Der
Umgang mit Heil und Unheil flößt der frommen Bevölkerung nach wie vor
»ein tiefes Gefühl von I_304 Angst, Faszination und Staunen« ein; aber das
Volk erwartet von den launischen, oft nachtragenden und zornigen Göttern
nicht in erster Linie Gerechtigkeit, sondern Wohltaten, Interventionen zu
ihren Gunsten, gute Ernten, Gesundheit, Hilfe für den glücklichen Ausgang
ungewisser Unternehmungen und so weiter. »Die Beziehung zur Gottheit
ist die eines Käufers zu einem mehr oder weniger verläßlichen
Lieferanten.«[330] Natürlich hält die vorgeschriebene Verehrung der Götter
die Gläubigen auch zu einem tugendhaften Leben an, aber die Götter selbst
zeichnen sich gegenüber den Menschen nicht durch Tugend und
Vertrauenswürdigkeit aus; sie werden als Schicksalsmächte
wahrgenommen, die eher mit sich und der Aufrechterhaltung der Ordnung
in Natur und Gesellschaft beschäftigt sind als mit der Aufsicht über die
Rechtschaffenheit der Gläubigen.
Wenn sich aber Moral, Gerechtigkeit und Ethos – unabhängig von der
Religion – im täglichen Verkehr gewissermaßen »von selbst verstehen«,
drängt sich die Hypothese auf, dass sich das moralische Bewusstsein auf
dem Wege einer kognitiven Verarbeitung von alltäglichen
Konflikterfahrungen in den immer komplexer werdenden Verhältnisse der
frühen Hochkulturen eigenständig, also unabhängig von der religiösen
Vorstellungswelt fortentwickelt. Die Ausdifferenzierung der
Gerechtigkeitsurteile und der ethischen Deutungen persönlicher Schicksale
folgt einer eigenen Logik, sodass der menschliche Geist in der sozial- und
moralkognitiven Dimension ähnlich wie in der im engeren Sinne kognitiven
Dimension aus den täglichen Umgangserfahrungen Anstöße zu
Lernprozessen empfängt. Wie das eigensinnig anwachsende theoretische
und empirische Weltwissen die narrative Erklärungskraft der mythischen
Weltbilder herausfordert, so entfaltet auch die andere Komponente des
sittlichen Alltagswissens angesichts der ungerechten Kontingenzen von
Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung schreiende kognitive Dissonanzen.
Auch das aus profanen Umgangserfahrungen gespeiste moralisch-praktische
Wissen entfaltet im Zuge der fortschreitenden Universalisierung und
Individualisierung der Gerechtigkeitsvorstellungen sowie der
entsprechenden Verinnerlichung der ethischen Reflexion seine
I_305 Sprengkraft für die am Konkreten und Konventionellen haftende
mythische Denkform. Angesichts dieser Herausforderungen konnte der
totalisierende Anspruch des religiösen Welt- und Selbstverständnisses nur
aufrechterhalten werden, wenn es gelingen würde, den konzeptuellen
Rahmen so zu erweitern, dass darin das profane Wissen insgesamt,
einschließlich der geschärften moralischen Maßstäbe, begrifflich assimiliert
werden konnte. Einer solchen Reorganisation verdanken die Weltbilder der
Achsenzeit ihren »theoretischen« Charakter als »Bilder«, die die Welt im
Ganzen – und die Stellung des Menschen in ihr – zum ersten Mal
vergegenständlichen.
Der Weg zur achsenzeitlichen Transformation des Bewusstseins lenkt
den Blick auf zwei Komponenten, die nun erst, wie wir sehen werden, zu
einer Struktur zusammengefügt werden. Im Hinblick auf die kognitive
Verarbeitung des Weltwissens besteht zwischen dem Mythos und den nun
entstehenden Metaphysiken und Weltreligionen eine Kontinuität; denn
diese integrieren das inzwischen akkumulierten Wissen ebenso in einen –
kategorial erweiterten und explanativ leistungsfähigeren – Horizont des
Welt- und Selbstverständnisses. Bei genauerer Betrachtung bezieht sich
diese Kontinuität aber in erster Linie auf das empirische Wissen und nicht
in derselben Weise auf das moralisch-praktische Wissen. Denn in der
grundbegrifflichen Grammatik der mythischen Erzählungen spiegelten sich
die spezifischen Erfahrungen des Umgangs mit sakralen Mächten, während
Moral und Sittlichkeit primär in Alltagserfahrungen wurzeln und als solche
erst dank einer Moralisierung des Heiligen in die achsenzeitlichen Weltbilder
integriert worden sind. Dafür spricht unter anderem der Umstand, dass
neben den Psalmen Teile der überlieferten Weisheitsliteratur als »Bücher
der Lebensweisheit« trotz ihrer vermutlich profanen Herkunft in die
Hebräische Bibel aufgenommen worden sind. Wenn wir unter »Sittlichkeit«
den vertrauten Kontext der im täglichen Umgang eingelebten
Verhaltenserwartungen verstehen, die Solidarität im Sinne eines reziproken
Vertrauens auf das Für-einander-Einstehen stiften, und wenn wir
»Gerechtigkeit« als den abstrakten Maßstab für die Reziprozität des
gesollten Verhaltens begreifen, drängt sich eine Verwandtschaft von
Religion und Sittlichkeit auf: Die Erfahrung des Sakralen wird ja durch
Krisen der sitt I_306 lichen Lebensverhältnisse ausgelöst; und sie spiegelt den
Prozess der Wiederherstellung fragiler Bindungsenergien. Aber die
Erfahrung des Sakralen selbst besteht in etwas anderem, und zwar in der
Erfahrung, einem Prozess ohnmächtig ausgesetzt zu sein, der sich an uns
vollzieht, nämlich in einen tödlichen Konflikt zwischen zwei
kontradiktorischen Imperativen der »Selbst«-Erhaltung hineinzugeraten
und daraus dank einer rettenden Macht mit einer erneuerten Identität, als
»neuer Mensch« hervorzugehen.
Die existentielle Erfahrung der Errettung aus höchster Not steht zwar
objektiv im Zusammenhang mit der rituellen Erneuerung gesellschaftlicher
Solidarität, verbindet sich aber als subjektive Erfahrung nicht mit der
Qualität einer rettenden Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein normativer
Maßstab, der sich mit bestimmten Eigenschaften der sprachlichen
Kommunikation verbindet und nicht mit der Fragilität, die dem
kommunikativen Vergesellschaftungsmodus innewohnt. Das
verständigungsorientierte Handeln setzt pragmatisch voraus, dass die
Beteiligten ihre Perspektiven gegenseitig übernehmen und diese reziproke
Verschränkung der Perspektiven noch einmal aus der Sicht eines
Beobachters vergegenständlichen können. Darauf stützen sich
Gerechtigkeitsvorstellungen. Demgegenüber wird das Sakrale, inmitten
einer Welt von mythischen Mächten des Heils und des Unheils, einer Macht
zugeschrieben, die das vergesellschaftete Individuum aus dem Abgrund der
Anomie, das heißt aus der Gefahr, den gesellschaftlichen Boden zu
verlieren, retten kann. Meine Hypothese zielt nun darauf, dass erst die
achsenzeitlichen Weltbilder das Sakrale in eine Macht transformieren, die
eine rettende Gerechtigkeit verheißt, indem sie die Erlangung des Heils mit
einem ethisch anspruchsvollen Heilsweg verkoppeln, also die Errettung aus
irdischer Not ausdrücklich von der Befolgung eines universalistischen Ethos
abhängig machen.
I_307 III.
Ein provisorischer Vergleich der
achsenzeitlichen Weltbilder
I_309 Ich erkläre die achsenzeitliche Weltbildrevolution damit, dass das
mythologische Selbstverständnis der Hochkulturen infolge des Wachstums
eines ausdifferenzierten Wissensstandes und der fortgeschrittenen
Sensibilisierung und Entwicklung des moralischen Bewusstseins kognitive
Dissonanzen verarbeiten musste, die sich in diesen grundbegrifflichen
Rahmen schließlich nicht integrieren ließen. Unter bestimmten
kontingenten Bedingungen, die noch zu erörtern sind, ist dieser kognitive
Druck von Intellektuellen aufgenommen und in eine moralisch motivierte
Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und politischen Praktiken umgesetzt
worden. Und diese hat wiederum zu einer Moralisierung des Heiligen geführt
und damit den kategorialen Rahmen mythischen und magischen Denkens
gesprengt. Die drei Innovationen, die sich am jüdischen Beispiel zeigen,
müssten sich, wenn die These stimmt, mutatis mutandis auch für die
zeitgenössischen Religionen und Weisheitslehren des Ostens nachweisen
lassen:
– der Durchbruch zu einer Weltbildperspektive, die mit dem Bezugspunkt
Gottes (oder eines göttlichen Gesetzes) alles Innerweltliche transzendiert;
– die Koppelung des kommunikativen (oder eines funktional
äquivalenten) Zugangs zu Gott (oder dem Göttlichen) mit einem Heilsweg,
der das Versprechen rettender Gerechtigkeit an die Befolgung eines
universalistischen Ethos bindet und eine Individualisierung der
Heilskommunikation fördert;
– eine um heilige Schriften konzentrierte Form des Kultus, der die im
magischen Denken wurzelnden Praktiken »entzaubert«.
Im Judentum vollzieht sich die Sublimierung der vielen Heilsbringer zu
einer transzendenten Gewalt auf dem Wege der Übertragung der
Kompetenzen rechtlicher und moralischer Gesetzgebung auf eine exklusiv
aus dem Verborgenen waltende, allmächtige Herrschergestalt, die
Gesetzestreue verlangt und Rettung verspricht. In den kosmologischen
Weltbildern des Ostens vollzieht sich die gleiche Transzendierung der
Götterwelt auf verschiedenen Wegen einer perfektionistischen
Ontologisierung der Naturgewalten zu Grund, We I_310 sen oder Gesetz der
kosmischen Ordnung im Ganzen. Während sich der unsichtbare Gott
seinem Volk in prophetischen Worten offenbart, sodass die Gläubigen eine
ritualisierte, aber verinnerlichte Kommunikation mit einem persönlichen
Gegenüber aufnehmen, stellen die kosmologischen Auffassungen die
Weichen für epistemische Zugänge zum Göttlichen – auf Wegen des
meditativen In-sich-Gehens, der sittlichen Bildung durch Erkenntnis oder
der kontemplativen Anschauung des Kosmos. Während Gott vom Volk der
Gläubigen absoluten Gesetzesgehorsam verlangt und für seinen Beistand
einen strengen moralischen Lebenswandel erwartet, verbinden sich die
epistemischen Zugänge zum Göttlichen mit den exemplarischen
Lebensformen des disziplinierten Mönches, des asketischen Wanderlehrers
oder des der Theorie sich hingebenden Weisen zu ethisch anspruchsvollen
Heilswegen. Während Moses in der Gestalt eines militärischen Anführers,
politischen Gesetzgebers und Propheten auftritt, werden im Osten die
Stifter, Lehrer und Weisen durch asketischen Lebenswandel und geistiges
Exerzitium zu Vorbildern.
Eine solche Skizze »starker« Behauptungen könnte nur durch einen
systematischen Vergleich der achsenzeitlichen Weltbilder wenigstens
plausibilisiert werden. Dass dieser auf wissenschaftlich seriöse Weise ohne
die Kenntnisse eines Experten auf jedem dieser Gebiete und ohne Kenntnis
(beinahe) aller einschlägigen Originalsprachen nicht durchführbar wäre,
liegt auf der Hand. Als Entschuldigung für die Trockenübung eines auf
Gelegenheitslektüre angewiesenen Amateurs kann ich lediglich anführen,
dass es mir – wie schon Jaspers – im Folgenden nur um Belege für eine,
wenn auch folgenreiche, so doch begrenzte und wenig überraschende These
geht: Jene Traditionen, die die gegenwärtigen Zivilisationen immer noch
auf nachhaltige und unterscheidbare Weise prägen, enthalten das gleiche
kognitive Potential; insbesondere kristallisieren sie sich um die Initial- und
Kerngedanken eines moralischen Universalismus. Nur im Lichte dieser
These rechtfertigt sich ferner die Engführung auf den okzidentalen Pfad der
Weltbildentwicklung, die ich im Anschluss an dieses Kapitel vornehmen
werde. Zunächst will ich aber den Faden der Moralisierung des Heiligen
aufnehmen (1), um sodann den jüdischen Ursprung des Monotheismus (2)
mit den indischen Anfängen des Buddhismus (3) und den beiden
wirkungsmächtigsten chinesi I_311 schen Lehren zu vergleichen (4). Die
griechische Philosophie von Anaximander bis Sokrates teilt mit den
indischen und chinesischen Weltbildern wesentliche Strukturen, aber ihr
fehlt eine Verwurzelung in der rituellen Praxis (5). Schließlich lassen sich
die vorgreifend angedeuteten Gemeinsamkeiten und Differenzen im
Anschluss an die platonische Ideenlehre, die sich durch den Grad ihrer
diskursiven Ausdifferenzierung vor anderen Weltbildern auszeichnet,
zusammenfassen (6).
I_312 1. Die Moralisierung des
Heiligen und der Bruch mit dem
mythischen Denken
(1) Die kritische Rolle, die in Israel die Propheten von Jesaja, Hosea, Amos
und Micha im achten Jahrhundert bis zu Jeremia, Nahum und Habakuk
gespielt haben, spricht dafür, dass die bis zur Abfassung der Tora im vierten
vorchristlichen Jahrhundert über verschiedene Stufen der Textbearbeitung
voranschreitende Umformung des mythischen Jahwe-Glaubens in einen
strengen Monotheismus in erster Linie von moralischer Empörung
angetrieben worden ist. Jesaja empört sich über die »ungerechten Richter«,
»die unheilvolle Gesetze erlassen und unerträgliche Vorschriften machen,
um die Schwachen vom Gericht fern zu halten und den Armen meines
Volkes das Recht zu rauben, damit die Witwen ihre Beute werden und sie
die Waisen ausplündern« (Jes 10,1-2).[331] Gleichzeitig ermahnt er die
Gläubigen mit den Worten: »Das ganze Volk sollte erkennen« (Jes 9,8), und
droht ihm: »Aber das Volk kehrte nicht um […]. Deshalb freut sich der Herr
nicht über seine jungen Männer und über seine Waisen und Witwen
erbarmt er sich nicht. Denn ein jeder ist gottlos und tut Böses« (Jes 9,12.16).
Er klagt über die Verbrechen der imperialen Herrscher und droht Babylon
und anderen Regimes den Untergang an (Jes 13-21); er weissagt das
apokalyptische Weltgericht und Gottes Urteil am Ende aller Tage: »Er
richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet
er nicht, sondern er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und entscheidet
für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt das Land mit dem
Stock seines Mundes und tötet den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen.«
(Jes 11,3-4) Alle Verwünschungen münden in die Aussicht auf Entsühnung:
»Dem Volk, das darin [Zion] weilt, ist die Schuld vergeben« (Jes 33,24), und
in dem Anbruch des messianischen Reiches: »Die vom HERRN Befreiten […]
kommen zum Zion mit Frohlocken. Ewige Freude ist auf ihren Häuptern,
Jubel und Freude stellen sich ein, Kummer und Seufzen entfliehen.«
(Jes 35,10)
I_313 Die prophetischen Drohreden, Verwünschungen und Verheißungen
verraten den moralischen Impuls für jenen gewaltigen Abstraktionsschritt,
der die in persönlicher Gestalt auftretenden mythischen Gestalten von Heil
und Unheil auf dem Wege einer Moralisierung des »Heiligen« zum
unsichtbaren Gott abstrahiert: Gott selbst wird nun nach dem politischen
Vorbild imperialer Gesetzgeber zum Stifter und moralischen Gesetzgeber
einer politisch verfassten Religionsgemeinschaft. Über allen innerweltlichen
Konflikten stehend, greift er in diese ein und beendet die aparten
Techtelmechtel zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Des Wortes
mächtig und daher, wie abwesend auch immer, nach wie vor in persönlicher
Gestalt vorgestellt, ist Jahwe, dieser einzige und unersetzliche Heilsgarant,
nicht mehr von dieser Welt. Er ist als Schöpfer der Welt nun auch deren
Erlöser. Auf ihn kann keines der innerweltlichen Prädikate mehr zutreffen.
Offenbar ist die Umgestaltung der mythischen Götterwelt nicht nur in Israel
von den kognitiven Dissonanzen ausgegangen, die das entwickelte
moralische Bewusstsein der Intellektuellen zur öffentlichen Kritik an den
zeitgenössischen Praktiken der Kriegsführung und der tyrannischen
Herrschaft, auch an der Repression und dem Elend in den
hochstratifizierten Gesellschaften der Alten Reiche angestachelt hat. Wie in
Israel trifft dieser Impuls in Indien, China und sogar in Griechenland auf das
Grundproblem, das sich in dem Maße aufdrängt, wie das akkumulierte
Weltwissen die mythische Denkweise gleichsam von innen angreift: Wie
können sich die Götter und Geister, die konkreten Gestalten von Heil und
Unheil unter dem kognitiven Druck einer fortschreitend entzauberten
Alltagswelt aus der sichtbaren Umgebung, aus der ihr Wirken bisher seine
Evidenzen bezogen hatte, zurückziehen, ohne dass sich der sakrale Komplex
als solcher auflöst? Wie können Heil und Unheil so zu einer transzendenten
Macht diesseits oder jenseits alles sinnlich Gegebenen sublimiert werden,
dass die rituelle Abstützung eines identitätsstabilisierenden Welt- und
Selbstverständnisses gleichwohl intakt bleibt?
Dieses Problem wird in Israel durch die »Verschiebung der sozio-
politischen Handlungssphäre von Recht und Gerechtigkeit in die theo-
politische Sphäre«,[332] also dadurch gelöst, dass Gott selbst die
I_314 politisch-moralische Gesetzgebung an sich zieht. Aber eine Lösung
findet die Moralisierung des Heiligen keineswegs nur in monotheistischer
Gestalt; äquivalente Lösungen bieten die kosmologischen Konzeptionen, die
zur gleichen Zeit im Fernen Osten und in Griechenland entstehen. Mit dem
Entwurf eines eschatologisch ausgerichteten, aber unter
physikomoralischen Gesetzen unpersönlich gelenkten Weltprozesses gibt
der Buddhismus der brahmanischen Seelenwanderungslehre eine Gestalt,
die meritokratischen Maßstäben einer egalitär-universalistischen Moral
genügt. Konfuzianismus, Taoismus und griechische Metaphysik entwickeln
Grundlagen für die Lesarten eines zwar nicht egalitären, aber
universalistischen Naturrechts, sei es mit Vorstellungen von einem rechten
Weg, der die Balance zwischen gegenstrebigen kosmischen Kräften allen
Menschen vorzeichnet, sei es mit Grundbegriffen wie »Sein« und »Logos«,
die die Verfassung der Natur mit der Ordnung der Menschen verklammern.
Alle achsenzeitlichen Weltbilder leisten auf die eine oder andere Weise den
Abstraktionsschritt zu einer Transzendenz, die den Blick auf die Teleologie
der Natur beziehungsweise der Weltgeschichte im Ganzen eröffnet; zugleich
zeichnen sie Gott oder das Göttliche als das befreiende Telos eines
Heilsweges aus. Dieser Weg zum Heil verbindet sich jeweils mit einer
exemplarischen Lebensform. Ein heiliges Ethos verkörpert sich im Leben
der Religionsstifter, Propheten oder Weisen. (Mit zunehmender Fallhöhe des
Anspruchs wächst allerdings für die Kandidaten auch die Gefahr, ins
Zwielicht »falscher Propheten« zu geraten.)[333]
So vollzieht sich der Abstraktionsschritt zur Transzendenz nicht nur im
Judentum auf dem Wege einer Moralisierung von Heil und Unheil. Auch in
den vergleichbaren Fällen ebnet die Nachahmung eines vorbildlichen Ethos
den Weg zum Heiligen. Zwar eröffnen die Weltreligionen den Kontakt mit
dem Heiligen auf verschiedene Weise – im Monotheismus gewissermaßen
über das Ohr, durch Offenbarung I_315 und kommunikative Begegnung, in
Buddhismus und Taoismus auf dem Wege der Meditation über das innere
Auge, in Platonismus und Konfuzianismus auf dem Wege der
kontemplativen Vergewisserung und pädagogischen Vermittlung der
kosmischen Einbettung der Menschenwelt über eine Sublimierung der
äußeren Wahrnehmung zur intellektuellen Anschauung. Diese
kommunikativen oder epistemischen und pädagogischen Zugänge zum Heil
verbinden sich überall mit einer präskriptiven Lebensform, dem Heilsweg,
der nun zu einer bewussten Lebensführung anhält. Ohne richtiges Leben
und rechtes Tun besteht keine Aussicht auf eine rettende Befreiung. Der
moralische Impuls nimmt allerdings in den indischen Erlösungsreligionen
wie in den chinesischen und griechischen Weisheitslehren eine jeweils
andere Richtung als im Judentum, wo die an Gericht und Rechtsprechung
orientierte Gerechtigkeitsvorstellung maßgebend bleibt.
Anders als in der israelischen Prophetie drückt sich in der eher
unpolitischen Lehre des Buddhismus keine moralische Empörung über die
Ungerechtigkeit von imperialer Fremdherrschaft und politischer
Unterdrückung aus, nicht der Zorn über das ungerechte Leiden der sozial
Benachteiligten und Marginalisierten, auch und vor allem nicht über die
Sittenlosigkeit des erwählten Volkes. Die Konversion des jungen, an einem
Fürstenhof aufgewachsenen Gautama wird vielmehr durch die tiefe
persönliche Erschütterung im Anblick des physischen Elends und
kreatürlichen Leidens der menschlichen Existenz ausgelöst. Während seiner
legendären Ausfahrten begegnet der verwöhnte Spross aus privilegiertem
Hause in seinem prächtigen vierspännigen Wagen unversehens einem
gebeugten Greis mit ausgefallenen Zähnen, einem schmerzgekrümmten
Kranken und einem Leichenwagen mit menschlichen Kadavern.[334] Die
würdevolle Erscheinung eines asketischen Wandermönches, der ihm bei
seiner vierten Ausfahrt über den Weg läuft, öffnet dem 29-Jährigen
schließlich die Augen für eine Alternative zu Verfall und Nichtigkeit des an
die Materie gefesselten irdischen Lebens. Die schockierenden Erlebnisse
motivieren ihn zum Bruch mit seinem ausschweifenden Leben und zur
Suche nach der Wahrheit hinter den Phänomenen einer un I_316 reinen, von
Gier getriebenen, der körperlichen Hinfälligkeit, dem Leiden und dem Tod
ausgelieferten Existenz.
Zwar zielen die moralisch-politischen Belehrungen des Konfuzius auf den
ersten Blick in dieselbe herrschaftskritische Richtung wie die Predigten der
Propheten. Aber nicht nur der pädagogisch-aufbauende Tenor unterscheidet
das politische Ethos des »Edlen« von den Appellen der Priester ans
Sündenbewusstsein, von ihren Aufrufen zur Umkehr und den
messianischen Verheißungen. Im China der »Streitenden Reiche« richtet
sich die Kritik der von Hof zu Hof wandernden Lehrer und Ratgeber in
erster Linie an Fürsten, deren Regiment keine Fremdherrschaft kannte und
nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Im Kontext der anhaltenden
Konflikte zwischen kriegsbereiten, rücksichtslos um Vorherrschaft
rangelnden Königsreichen bildet auch hier das Unheil von Zerstörung,
Gewalt und Elend den Motivationshintergrund für den Abscheu vor Krieg,
Elend und Willkürherrschaft. Konfuzius nimmt dieses Unheil als Folge
unkluger und ungerechter Herrschaft wahr und rekonstruiert die
volksreligiösen Überlieferungen im Sinne einer kosmisch begründeten
universalen Ordnung von Staat und Gesellschaft, die allen, in erster Linie
aber den politischen Herrschern ethische Verpflichtungen auferlegt.
Demgegenüber zieht sich Lao-tse (Laozi), angewidert von den korrupten
Verhältnissen in Politik und Gesellschaft, in die Einsamkeit eines
Eremitendaseins zurück. Auch Chuang-tse (Zhuangzi) weist alle Angebote,
die übliche Rolle des Fürstenratgebers zu übernehmen, zurück.
Thales war für die Griechen einer der »Sieben Weisen«, die ganz ähnlich
wie in China als politische Ratgeber und Gesetzgeber hohes Ansehen
genossen. In den naturphilosophischen Anfängen der griechischen
Philosophen scheint auf den ersten Blick ein moralischer Antrieb zur
Überwindung der Grenzen mythischen Denkens zu fehlen. Nach der
herrschenden Lesart hat erst Sokrates die Aufmerksamkeit der Philosophie
auf die Frage nach dem guten und gerechten Leben gelenkt.[335] Aristoteles
verfolgt die Geschichte des philosophischen Denkens zurück bis zu Thales
und den ionischen »Naturphilosophen« des sechsten vorchristlichen
Jahrhunderts mit dem Argu I_317 ment, dass diese nach den stofflichen
Prinzipien des Seienden gesucht und damit einen neuen Modus der
Erklärung »aus Anfangsgründen« eingeführt hätten. Thales werden
verschiedene Entdeckungen im Bereich der Astronomie, Meteorologie und
Mathematik zugeschrieben. So soll er eine Theorie für die Erklärung der
Überschwemmung des Nils entwickelt, eine Sonnenfinsternis vorausgesagt
und wichtige Erfindungen im Ingenieurswesen gemacht haben. Mithin
konnte er wissenschaftliche Alternativen zu den überkommenen
mythologischen Naturerklärungen und magischen Verfahren anbieten.
Dieser Kontext legt die Vermutung nahe, dass Thales seine Philosophie, der
zufolge alles Naturgeschehen aus einem einzigen Element, dem Wasser,
hergeleitet und erklärt werden kann, nicht aus moralischen Impulsen,
sondern in rein theoretischer Absicht entwickelt hat: Das dissonante
Wissen der Tradition wollte er durch »wahres Wissen« ersetzen.
Andererseits sind unsere Kenntnisse von seiner Lehre dürftig und unsicher.
Die übliche Lesart lässt wichtige Fragen offen. Wie hängt seine Theorie mit
seiner Tätigkeit als politischer Ratgeber zusammen? Herodot berichtet
beispielsweise davon, dass er seinen Landsleuten geraten habe, eine
gemeinsame Ratsversammlung aller ionischen Städte einzurichten. Der
Annahme, dass die ionische Naturphilosophie von einem rein theoretischen
Antrieb geleitet war, widerspricht auch die Tatsache, dass in dem einzigen
Satz, der von Anaximander, dem Schüler und Nachfolger des Thales,
überliefert ist, bereits eine kosmoethische Auffassung des Naturgeschehens
anklingt: Das Entstehen und Vergehen der Dinge vollzieht sich gesetzmäßig
oder »nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und
Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.« (Anaximander,
DK 12 B 1)[336] Und der nur wenig jüngere Heraklit hat mit dem »Logos«
den Begriff einer universalen Gesetzmäßigkeit des Kosmos ausgebildet, die
sich gleichzeitig in der Lebenswelt der Menschen, in deren politischen und
sittlichen Ordnungen zur Geltung bringt. Bereits bei den Vorsokratikern
scheint sich die Verbindung der Theorie mit der Praxis in der Lebensform
des Weisen gespiegelt zu haben. Schon Herak I_318 lit hat diese Lebensform
mit dem elitären Anspruch, dass nur Wenige einen privilegierten Zugang
zur Wahrheit haben, von den aktiven und gewöhnlichen Lebensformen der
»Vielen« prononciert abgesetzt. Die ontologische Verankerung des Guten
und Gerechten im Seienden selbst wird seit Plato zum festen Bestandteil des
philosophischen Idealismus. Diese Anhaltspunkte sprechen für die
Vermutung, dass sich der Durchbruch zur Transzendenz auch im alten
Griechenland auf den Spuren einer Moralisierung des Heiligen vollzogen
hat.
(2) Der Abstraktionsschritt von den Göttern zu Gott oder dem Göttlichen
sprengt den kategorialen Rahmen narrativer Darstellungen, indem er von
einem transzendenten Bezugspunkt aus den Blick auf die heilsrelevante
Verfassung der Welt oder der Weltgeschichte eröffnet. Dieser Blick dringt
durch die ontische Stufe der wahrnehmbaren und erzählbaren Dinge und
Ereignisse hindurch in die Tiefe eines Explanans hinter den Dingen und
Ereignissen – und dringt vor zum Wesen, das den Erscheinungen zugrunde
liegt. Bis dahin bewegten sich Darstellungen und Erklärungen im Rahmen
der episodischen Reihung und genealogischen Verkettung von Geschichten
und Personen in der Welt. Bevor ich daran erinnere, wie der jüdische
Monotheismus diese Begrifflichkeit überschreitet, möchte ich einige
allgemeinere Aspekte vorwegnehmen und einer suggestiven Engführung
dieser logischen Operation auf die Vorstellungen des Monotheismus von
einem einzigen, »über der Welt« thronenden, der Wahrnehmbarkeit
entzogenen Gott vorbeugen. Auch in den griechischen und fernöstlichen
Lehren wird mithilfe der Oppositionsbegriffe von »Wesen« und
»Erscheinung« die mythologische Welterklärung überwunden und durch
eine kosmologische ersetzt. Für diese Begriffe griechischen Ursprungs –
ousía und phainómenon – finden sich, wenn ich recht sehe,[337] in den
anderen Traditionen Ausdrücke mit äquivalenten Bedeutungen.
Wie die griechischen Philosophen, so begreifen auch die indischen
Mönche und chinesischen Weisen den Grund oder das Sein des Seienden –
die gesetzmäßige Ordnung oder die Seele des Kosmos – als I_319 die
zugleich ermöglichende, begründende, verursachende und regelnde
Infrastruktur allen Geschehens. Die Begriffe des »Dharma«, »Tao« oder
»Logos« beziehungsweise des »Ontos on« verlangen die gleiche Abstraktion
der Welt vom innerweltlichen Geschehen wie die theologische Vorstellung
von Welt und Weltgeschichte als einer göttlich konzipierten und
hervorgebrachten Schöpfungs- und Heilsordnung. Vor dem Hintergrund
von Prinzipien, Gesetzen und Ideen – sei es Gottes oder der Natur –
verblasst die kontingente Mannigfaltigkeit der vielen und flüchtigen
Entitäten und Ereignisse zur Gesamtheit der »bloßen« Erscheinungen.
Gewiss, schon das mythische Denken und die Magie deuten sinnlich
wahrnehmbare Phänomene als Zeichen und Manifestationen des Eingriffs
höherer Mächte. Aber die »Erscheinungen« des zugrundeliegenden
»Wesens« dürfen mit »Manifestationen« von Mächten und Dämonen so
wenig verwechselt werden wie der grammatische Ausdruck eines
Gedankens oder propositionalen Gehaltes mit der mimischen oder
pantomimischen Äußerung einer Gemütsregung. Die Ausdrucksrelation
zwischen dem Zorn Poseidons und dem Sturm auf hoher See stellt die
Beziehung zwischen zwei empirischen Zuständen her, die auf der gleichen
ontischen Stufe nebeneinander oder nacheinander in der Welt auftreten. In
der logisch-semantischen Relation zwischen Wesen und Erscheinung drückt
sich hingegen eine ontologische Schichtung zwischen Gegenständen
begrifflicher und sinnlicher Art aus. Das Wesen ist, gleichviel ob es als
Substanz, Gesetz beziehungsweise Idee oder als Gedanke beziehungsweise
Intention Gottes gedeutet wird, begrifflicher oder geistiger Natur.
Die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung spielt einerseits
eine wichtige explanatorische Rolle; andererseits lenkt sie die
Theoriebildung in eine dualistische Richtung der Gegenüberstellung der
Welt des Geistes und der Welt des Materiellen. Viele ähnliche Phänomene
können mithilfe von Begriffen höherer Stufe in einen abstrakten
Zusammenhang eingeordnet und auf diese Weise nicht nur narrativ,
sondern »theoretisch« erklärt werden, sobald sich aus diesen Operationen
Grundbegriffe für ein vertieftes Welt- und Selbstverständnis bilden. Dieses
bewährt sich an der Auflösung der kognitiven Dissonanzen, die zwischen
den mythologischen Erklärungsmustern einerseits, einem
anspruchsvolleren moralischen Bewusstsein I_320 und dem
Erklärungsbedarf des inzwischen akkumulierten Weltwissens andererseits
entstanden waren. Aber erst in der theoretischen Einstellung eines
Beobachters, der die Welt beziehungsweise die Weltgeschichte im Ganzen
abbildet, gewinnen die alles Innerweltliche transzendierenden
Grundbegriffe eine ontologische Bedeutung und verwandeln sich in
»Wesenheiten«. Die geistige und sprachliche Natur des grundbegrifflichen
Rahmens wird, wenn Alles als Eines angeschaut wird, zu einem An-sich-
Seienden, zu einem Etwas vergegenständlicht, das sich von sich selbst aus als
das zeigt, was es ist. Alle achsenzeitlichen Weltbilder stellen die Weichen
für einen Idealismus, der den Wesensgrund der Welt oder den
Weltenschöpfer als Geist begreift. Für diese Weltbilder nehmen die
Kategorien der Darstellung die ontische Gestalt des theoretisch
Dargestellten an – die ontologischen Grundbegriffe sind die Grundbausteine
der Welt beziehungsweise Gottes eigene Ideen. »Dharma« bezeichnet
gleichzeitig die wahre Lehre des Buddha und deren Gegenstand, die
erkannte Struktur der Wirklichkeit, »die Wahrheit des Nirvana«.[338]
Dieselbe Fusion der Bedeutungen gilt für das »Tao«. Bei Parmenides, der
vermutlich die Abhängigkeit der Wahrheit einer Aussage von der Existenz
ihres Bezugsgegenstandes vor Augen hatte, konvergiert der nous des
Erkennenden mit der geistigen Natur des erkannten Seins, also das
veritative Sein des »es ist wahr, dass ›p‹« mit dem existentiellen des »es
gibt« des Gegenstandes, von dem »p« ausgesagt wird; »denn nicht ohne das
Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken
antreffen« (Parmenides, DK 28 B 8). Und die von Moses verkündeten Worte
Gottes sind zugleich die Schöpfungsworte der Genesis: »Gott sprach: Es
werde Licht. Und es wurde Licht.« (Gen 1,3) Aber wie erklärt sich diese
Vergegenständlichung der begrifflichen und sprachlichen Mittel, die das
Ganze erfassen sollen, zu Wesenheiten, aus denen das Ganze selber besteht?
Die kognitive Operation, die die achsenzeitlichen Weltbilder mit ihrem
Abstraktionsschritt zur Transzendenz vollziehen, lenkt die Aufmerksamkeit
auf die theoretische Verwendung der Oppositionsbegriffe von »Wesen« und
»Erscheinung«; aber mit dieser Operation verbindet sich die Sublimierung
der Mächte von Heil und Unheil I_321 zur transzendenten Größe »des«
Heiligen, also eine evaluative Bedeutungskomponente. Die ontologische
Schichtung von Geist und Materie enthält eine Bewertung, nämlich eine
pauschale Herabstufung jener sinnlich erfahrbaren Welt, die nach
mythischer Auffassung die Sterblichen und die Unsterblichen in gleicher
Weise umschließt, zur nichtigen Sphäre »bloßer« – schattenhafter, unsteter
und irreführender – Erscheinungen. Erst mit dieser Um- und Abwertung
kann dem spiritualisierten Heiligen trotz seiner Entweltlichung, ja wegen
seiner Absetzung von der Welt der Erscheinungen, eine Dignität bewahrt
werden, die ihm seine unerhörte existentielle Relevanz sichert. Die neuen,
totalisierenden Grundbegriffe können diese praktische Bedeutung
übernehmen, weil sie dank ihrer konzeptuellen, nur sprachlich greifbaren
Natur zu Entitäten des »Geistes« substanzialisiert werden. Gleichviel ob die
mythischen Mächte zum kosmischen Gesetz oder zum transzendenten Gott
abstrahiert werden, in beiden Fällen kommt es zu einer Spiritualisierung des
Heiligen, zu einer »Aufhebung« der vielen Götter in der Dimension des
einen »Geistes«.
Die griechische Tradition legt uns eine platonische Lesart der Wesen als
Ideen nahe, deren wir uns kontemplativ im Aufstieg aus der Welt der
täuschenden Bilder vergewissern; am anderen Ende verliert sich die Welt
der Abbilder, durch welche die Ideen nur noch abgeblasst und verzerrt
hindurchscheinen, im Abgrund des Nichtseienden. Die metaphysische
Entgegensetzung von Sein und Nichts erfährt im Buddhismus eine
erlösungsreligiöse Zuspitzung mit der Vorstellung von der meditativen
Befreiung aus dem »Samsara«, dem erlittenen Kreislauf der Wiedergeburten
(was heißt: der Wiedereintritte in die materielle Welt) zum Aufgehen im
»Nirwana«, dem körperlosen Zustand der Erleuchtung. Im Monotheismus
wird diese in ähnlicher Weise ethisch-existentiell besetzte Unterscheidung
als Differenz zwischen Wesen und Erscheinung auf die Dichotomie
zwischen Jenseits und Diesseits zugespitzt – auf den Gegensatz zwischen
den Gedanken und Absichten, den rettenden Worten und Taten eines
transzendenten, durch die Geschichte hindurch greifenden Erlösergottes auf
der einen, den irdischen Schicksalen der unter Gottes Gesetzen stehenden
Kreaturen auf der anderen Seite. Im Konfuzianismus wird die Spannung
zwischen den harmonisierenden Kräften des Him I_322 mels und den
gewaltsamen Konflikten eines friedlosen Erdenlebens zwar vergleichsweise
entdramatisiert; aber auch hier dient sie der Beschwörung eines
zivilisierenden Ethos, das zu einem »heilen« Zustand zurückführen soll.
(3) In Anbetracht der Tatsache, dass der kognitive Schub der Achsenzeit
von den Dissonanzen zwischen dem profanen Wissen und der
mythologischen Welterklärung angestoßen wird und daher auch aus
Lernprozessen hervorgeht, fällt an den metaphysischen und religiösen
Weltbildern ein weiterer Zug auf: Alle treten mit einem exklusiven
Geltungsanspruch auf. Auch die Mythen sind geglaubt und für wahr
gehalten worden. Aber die Mythologien haben die kognitive Funktion der
Selbst- und Weltdeutung mit der Aufgabe der Stabilisierung von Volks- und
Stammesidentitäten in der Weise verknüpft, dass in den frühen
Hochkulturen eine Übersetzung der Narrative und der handelnden
Personen aus fremden Götterwelten in das vertraute eigene Pantheon
offenbar zwanglos möglich war. Der Glaube an die eigenen Götter nötigte
nicht dazu, die Existenz der fremden Götter zu leugnen – man konnte die
eigenen Figuren und Geschichten in den fremden wiedererkennen.
Demgegenüber treten die Weltbilder der Achsenzeit mit einem exklusiven
Geltungsanspruch auf. Sie fordern entweder einen Modus des Glaubens, der
»heidnische« Auffassungen als unrichtigen und unsittlichen Irrglauben
ablehnt, oder einen Modus des Wissens, der konkurrierende Weltdeutungen
als unwahr zurückweist. Die biblische Verurteilung der Idolatrie wird uns
noch beschäftigen.
Die Weltbilder der Achsenzeit haben sich wohl in der Modulierung, nicht
aber in der binären Kodierung ihrer »starken«, mit normativen
Konnotationen verbundenen Wahrheitsansprüche unterschieden. Das zeigt
sich unter anderem daran, dass sich mit den Lehren des Judentums, des
Konfuzianismus, Buddhismus und Platonismus Argumentationsspielräume
eröffnet haben, in denen sich konkurrierende Schulen befehdet, aber auch
miteinander diskursiv auseinandergesetzt haben. Dafür sprechen nicht nur
die konkurrierenden Lehrmeinungen und Sekten im vorrabbinischen
Judentum. Die Lehre des Konfuzius hat im China der Streitenden Reiche
nicht nur den entschiedenen Widerspruch von Lao-tse und dessen Schülern
gefunden; die vielstimmige Diskussion zwischen den verschiedenen
I_323 Schulen in der klassischen Zeit ist unter dem Ehrentitel der »Hundert
Meister« bekannt. Im ältesten Bücherverzeichnis aus der Han-Zeit (25-
220 n. Chr.) werden zehn Schulen aufgezählt.[339] Ganz abgesehen von den
vielstimmigen Vorsokratikern auf dem asiatischen Festland und in
Unteritalien, haben sich Sokrates und Plato mit den Sophisten
auseinandergesetzt, während ihre Auffassungen wiederum der
materialistischen Kritik von Demokritos und Epikur ausgesetzt waren. In
Indien trat der Buddhismus nicht nur in Konkurrenz zur verwandten
Mönchsbewegung des Jainismus, sondern auch zu materialistischen,
hedonistischen und atheistischen Schulen.[340] Die lebhaften
philosophischen Debatten innerhalb der Klöster führten zu Abspaltungen
und Sektenbildungen. Unter dem konvertierten Kaiser Ashoka (268-232 v. 
Chr.) soll es bereits 18 buddhistische Schulen gegeben haben.
Der mehr oder weniger diskursive Streit um die Wahrheit einer »Lehre«
ist dem mythischen Denken fremd gewesen. Die religiösen und
metaphysischen Lehren haben schon deshalb eine strengere
Wahrheitsorientierung ausbilden müssen, weil sie ein profanes Wissen zu
assimilieren hatten, das bereits nach empirischen Maßstäben von Versuch
und Irrtum oder nach praktischen Maßstäben erfolgreicher Konfliktlösung
gewonnen, als wahr oder moralisch richtig beurteilt und theoretisch
verarbeitet worden war. Eine wichtige Rolle mag auch der Umstand gespielt
haben, dass im Übergang von der oralen zur schriftlichen Überlieferung der
reflexive Umgang mit sowie die professionelle Bearbeitung von Texten
eingeübt worden war. Im Laufe dieser Praxis musste sich die
Aufmerksamkeit von Autoren und Interpreten auch auf das sprachliche
Medium der schriftlich überlieferten Gedanken, also auf grammatische,
rhetorische und poetische Fragen, und schließlich auf die logische
Verknüpfung der Aussagen selbst richten. In China, Indien und Griechenland
geht die systematische Beschäftigung mit Grammatik und Logik, Rhetorik
und Poetik auf die Anfänge der Achsenzeit zurück. Mit diesen Disziplinen
entwickelte sich ein Denken zweiter Ordnung, unter anderem ein
Nachdenken über semantische Grundbegriffe wie »Bedeutung« I_324 und
»Wahrheit«. Begriffe erster Ordnung beziehen sich unmittelbar auf etwas
in der Welt. Begriffe zweiter Ordnung beziehen sich auf die Form der Sätze
und Aussagen, in denen wir Begriffe erster Ordnung mit dem Ziel
verwenden, etwas Wahres oder Richtiges zu sagen, eigene Erlebnisse
wahrhaftig auszudrücken oder etwas Eindrucksvolles oder Schönes treffend
zu beurteilen.[341]
So sprechen die lebhaften Kontroversen, die in den neu erschlossenen
Diskursräumen zwischen den konkurrierenden Schulen aufflammen, zwar
für eine Wahrheitsorientierung des achsenzeitlichen Denkens. Aber diese
Diskurse dürfen nicht über den dogmatischen Charakter der unfehlbaren
Wahrheitsansprüche hinwegtäuschen, mit denen die religiösen und
metaphysischen Weltbilder als erklärende und beschreibende Theorien über
die Stellung des Menschen im Kosmos auftreten. Das gilt auch für die mit
der Weltweisheit gleichgesetzte Tora, die die Schöpfungsordnung darstellen
soll.[342] Indem diese Theorien die Welt im Ganzen erklären und
beschreiben, geben sie dem sublimierten Heiligen eine begrifflich fassbare
Gestalt. Gleichzeitig halten sie den sakralen Komplex auf einer höheren
Stufe der Abstraktion dadurch zusammen, dass sie mit dem theoretischen
Welt- und Selbstverständnis drei religiöse Bestimmungen verbinden:
– die kommunikativen oder epistemischen Zugänge zum Heiligen;
– die mit diesen Zugängen (von Offenbarung und Gebet, Meditation,
Lernen und Kontemplation) jeweils ausgezeichneten Heilsziele; und
– die exemplarisch verkörperten ethischen Lebensformen, die zusammen
mit den Heilszielen und den privilegierten Zugängen zum Heil die Heilswege
definieren.
I_325 Die Weltbilder der Achsenzeit sind in ihren evaluativ gehaltvollen
Grundbegriffen mit Geboten einer präskriptiven Lebensführung
verklammert. Weil die Beschreibung des Ganzen mit der Hilfe von normativ
gehaltvollen Konzepten wie »Gott« oder »Karma«, »To-on« oder »Tao«
vorgenommen wird, lässt sich an der perfektionistisch beschriebenen Natur
beziehungsweise an der Heilsgeschichte das der Menschenwelt
eingeschriebene Telos ablesen.
Schon die grundbegriffliche Verschränkung der Theorie mit einem
ausgezeichneten Ethos entzieht die religiösen und metaphysischen
»Wahrheiten« der Fallibilität. Denn die theoretischen Überzeugungen
müssen, wenn sie sich auch im persönlichen Leben bewähren sollen, den
Anforderungen an die Belastbarkeit ethisch-existentieller Gewissheiten
genügen. Die Verschmelzung des theoretischen mit dem praktischen
Wissen erklärt die dogmatische Denkform, die den Glaubens- und
Weisheitslehren der Achsenzeit die Gestalt »starker« Theorien verleiht. Es
sind nicht nur die Erlösungsreligionen im engeren Sinne, auch die
konfuzianische Weisheitslehre und die griechische Metaphysik
unterschieden sich von mythischen Überlieferungen durch eine neue Praxis
der Lehre und der wahrheitsorientierten Auslegung sakralisierter Texte, um
die sich Schulen und Ritualgemeinschaften bilden. Dabei hat vermutlich die
Erfahrung, die man mit der Kanonbildung literarischer Werke bereits
gemacht hatte, eine Rolle gespielt. Die Überlieferung kultischer Handlungen
und Texte musste wegen ihrer rituellen Bedeutung immer schon streng
fixiert und wörtlich festgehalten werden. So musste die Kanonisierung
heiliger Lehren, für die die Hebräische Bibel das Modell lieferte, strengeren
Maßstäben genügen als die der Literatur von Heldensagen und Hymnen.
Die Kanonisierung von Lehren, die historischen Stifterfiguren
zugeschrieben werden, soll nicht nur der Veränderung in der Zeit
entgegenwirken und Klassiker als Zeitgenossen gegenwärtig halten, sie soll
vielmehr die Authentizität von zeitenthobenen Wahrheiten verbürgen. Die
Aussagen heiliger Texte verdanken ihre unfehlbare Geltung auf der einen
Seite der historischen Offenbarung und der Inspiration durch Gottes Wort.
Auf der anderen Seite verleihen auch die epistemischen Heilswege der
Mönche und der Weisheitslehrer den durch Meditation, Lernen und
Kontemplation gewonnenen Erkenntnissen eine besondere Autorität. In
beiden Fäl I_326 len verknüpft sich der Anspruch auf die Infallibilität der
Wahrheit dieser Lehren mit dem Anspruch auf die Authentizität des
Wirkens von geschichtlichen Personen oder, wie im Falle von Moses, von
Figuren, die als solche imaginiert werden.
I_327 2. Die Abkehr des jüdischen
Monotheismus vom »Heidentum«
(1) Die Moralisierung des Heiligen ist eine wichtige Variable, um die
Entstehung der neuen Weltbilder zu erklären. Aber in diesem Prozess wird
die lokal verwurzelte Alltagsmoral ihrerseits auf unerhörte Weise
transformiert – erst im Rahmen religiöser und metaphysischer Weltbilder
kann sie als Weg zum Heil die Gestalt eines egalitären Universalismus
annehmen. Mit der Moralisierung des Heiligen gewinnen die moralischen
Gebote ihrerseits eine transzendierende, eine normativ über die
Alltagspraxis hinausschießende Kraft.
Der radikal neue Inhalt der jüdischen Religion ist das Ergebnis der Um-
und Ausformung des Stammesgottes JHWH in einen allmächtigen Schöpfer
des Himmels und der Erde, der mit seinem auserwählten Volk einen
zugleich absolut verpflichtenden und Rettung verheißenden Bund schließt.
Die Genealogie dieser erstaunlichen Verwandlung des weltimmanenten
Götterhimmels in eine absolut gebietende und transzendente, aber
gleichzeitig in das historische Schicksal seines Volkes rettend eingreifende
Macht erschließt sich vor dem Hintergrund der »geglaubten Geschichte«
(Johann Maier). Der als historisches Ereignis imaginierte Auszug aus dem
ägyptischen »Sklavenhaus« und das Offenbarungsgeschehen am Berge
Sinai – Moses Verkündigung und der Zweite Bund – bezeugen eine
revolutionierte Beziehung des Menschen zu dem einzigen und unsichtbaren
und allmächtigen Gott. Seine überwältigende Evidenz bezieht dieser Gott
nicht aus Wundertaten, also sinnfälligen Manifestationen in der Welt,
sondern aus der Stimme, die aus dem brennenden Dornbusch spricht: Der
Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs offenbart sich dem erschrockenen und
verzagten, von seinem göttlichen Auftrag völlig überforderten Moses zum
ersten Mal unter seinem Namen: »Gott redete mit Mose und sprach zu ihm:
Ich bin der HERR.« (Ex 6,2) Die intervenierenden Wundertaten sollen den
heidnischen Pharao einschüchtern und das unter Strapazen verunsicherte
und murrende Volk bei der Stange halten. Aber die Gläubigen überzeugt
Gott allein durch die Kraft des Wortes seiner »Selbstmitteilung« (Karl
Rahner). Der Logos dieser Botschaft bricht von jenseits dieser I_328 Welt in
den geschichtlichen Kontext dieser Welt ein. Die Namensoffenbarung
initiiert einen neuen Anfang in der Geschichte: das Befreiungsgeschehen
des Exodus. Die Verkündung der Gottesherrschaft am Berge Sinai ist
eingebettet in die Emanzipation des auserwählten Volkes von ägyptischer
Knechtschaft. Der Akt, mit dem sich Gott dem Moses als Jahwe zu erkennen
gibt, ist der Beginn eines historischen Geschehens, in dessen Verlauf Gott
und sein Volk interagieren. Die Israeliten raffen sich unter der Führung
Moses auf und formieren sich zu einem handlungsfähigen Ansprechpartner,
bevor sich ihnen Gott als der Herrscher und Retter dieser Welt zu erkennen
gibt. Dann weist er ihnen die Ressourcen zu, die ihnen eine unabhängige
politische und gesellschaftliche Existenz sichern: das Land zum Besiedeln
und die Gesetze, die das israelische Volk formen und instand setzen, sich im
Lichte seiner göttlichen Mission bis zum Anbruch des Jüngsten Tages zu
bewähren.
Gott ruft seinem Volk zu: »Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf
das, was vergangen ist, achtet nicht mehr! Siehe, nun mache ich etwas
Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?« (Jes 43,18f.) Aus der
Moralisierung von Heil und Unheil geht die unerhörte Idee der Verheißung
einer auf das Schicksal der Menschen konzentrierten, und zwar einer
»rettenden«, aus entwürdigenden Verhältnissen »befreienden«
Gerechtigkeit hervor. Den Nachkommen Jakobs wird eine solche
emanzipierende Gerechtigkeit durch die allmächtige Gestalt eines
transzendenten, aber in die Geschichte intervenierenden Gottes verbürgt:
Am Ende aller Tage wird Gott selbst die Herrschaft auf Erden übernehmen.
Der Gegensatz zum mythischen Welt- und Selbstverständnis der Ägypter
und zu der als gewissermaßen »ungeschichtlich« erlebten Existenz ihres
Reiches ist offensichtlich. Diese Differenz zwischen dem geschichtlich
mobilisierten Bewusstsein eines Volkes, das sich immer wieder fragen muss,
was Gott mit ihm vor hat, und dem, in den Naturkreislauf eingelassenen
mythischen Bewusstsein beschreibt Jan Assmann treffend: »In dieser Form
scheinen sich die Ägypter diese Frage nie gestellt zu haben. Sie haben sich
als ›Menschen‹ verstanden, nichts Besonderes, zusammen mit allen anderen
Lebewesen inklusive Gottheiten im Zuge der Weltentstehung aus Gott
hervorgegangen, der seinerseits nichts Besonderes mit ihnen vorhat,
sondern nichts anderes anstrebt, als die aus ihm I_329 hervorgegangene
Welt in Gang zu halten, wobei ihn die ›Menschen‹ mit ihren Riten
unterstützen können.«[343] Der Sinn des Monotheismus erschließt sich über
das kritische und gleichzeitig sündensensible Bewusstsein eines Volkes, das
unter den Augen eines gesetzgebenden und absolut verpflichtenden
Erlösergottes lebt. Es weiß, dass es sich ihm gegenüber, der seinerseits in
die Geschichte interveniert, weil er gegenüber dem Schicksal des Volkes,
dem er seinen Beistand zugesagt hat, nicht indifferent ist, bewähren muss
und nicht versagen darf. Später haben sich auch das Christentum und der
Islam diese bewegende Erzählung vom befreienden Exodus, von der
Erwählung durch Gott, vom Bundesschluss und von der Verheißung als
Bestandteil ihrer Gründungsakte zu eigen gemacht.
Wenn man den Blick von der »geglaubten« zur realen Geschichte
wendet, drängt sich die Frage auf: Warum gerade an diesem Ort? Um die
Wende vom ersten zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend bildet die
schmale Landbrücke zwischen Totem Meer, arabischer Wüste und
Mittelmeer das Territorium des alten Israel, das (in der Nähe von Ammon,
Moab und Edom) als eines von mehreren kleinen Königtümern aus
verschiedenen Stämmen zusammengewachsen war und eine politisch
unbedeutende Existenz am Rande und unter dem beherrschenden
kulturellen Einfluss der Alten Reiche, vor allem Ägyptens, später Babylons
und Assyriens führte. Hier war der Herrscher, nicht anders als in den
umliegenden Königreichen, zunächst als vermittelnder Teilhaber an der
Macht des »Gottes der Hebräer« betrachtet worden. Der ehemalige
Stammesgott Jahwe soll schon während der Königszeit mehr oder weniger
exklusiv verehrt worden sein. Doch eine solche Monolatrie bricht noch
nicht mit der mythischen Vielfalt und Weltimmanenz der Götter. Der
Henotheismus ist weit davon entfernt, den für die Hebräer maßgebenden
Gott in der Weise als den »einzigen« Gott zu betrachten, dass damit die
Existenz aller anderen Götter geleugnet worden wäre. Warum vollzieht sich
der kognitive Durchbruch zum Monotheismus aus dem Rückblick einer
Handvoll gelehrter, im babylonischen Exil lebender Juden auf die
Religionsgeschichte ihres exzentrisch gelege I_330 nen und weltgeschichtlich
doch ziemlich marginalen Königreiches?[344] Die Krise des Untergangs des
Nordreichs 722 v. Chr., die Zerstörung des Tempels, der Verlust der
politischen Unabhängigkeit und das Exil sind offenbar als tiefe Zäsuren
erfahren worden. Nach diesen Erschütterungen fiel es den aus Babylon nach
Jerusalem zurückkehrenden Juden nicht schwer, die ringsum existierenden
Imperien in ihrer nackten Realität wahrzunehmen und des Schleiers einer
mythisch gedeuteten Einheit von Heil und Herrschaft zu entkleiden. Die
Verfasser des biblischen Kanons lassen diese Denkweise mit dem
gewaltigen Abstraktionsschritt zu einem welttranszendenten Gott endgültig
hinter sich. Schon im Israel der Königszeit war der Herrscher nach und
nach aus dem kultischen Bereich verdrängt und das Königtum
entsakralisiert worden.[345] Umso eher können die Redakteure und
Verfasser der fünf Bücher Moses dann die in der Welt zerfallene Symbiose
von Heil und Herrschaft zur Idee einer rettenden Gottesherrschaft am Ende
der Geschichte sublimieren.
Daraus konnten sie die Konsequenz ziehen, dass letztlich die Theokratie
die einzige legitime Form der politischen Herrschaft ist – eine Tendenz, die
sich im alten Israel unter Bedingungen der Königsherrschaft schon
abgezeichnet hatte. Diese Tendenz setzte sich unter der vergleichsweise
toleranten Oberherrschaft der Perser in anderer Gestalt fort; nach der
Restauration des Tempelkults im Jahre 516 ernannten die Perser keinen
Statthalter mehr; im Auftrag von Kyros richtet Esra eine Art von
Kirchenstaat ein, sodass das Gemeinwesen unter der politischen Oberhoheit
der Perser von Leviten und Priestern verwaltet wird. Zusammen mit der
davidisch-königlichen Komponente der Geschichte Israels wird
gewissermaßen auch die Politik als solche abgewertet. Diese Abwertung
gibt den Weg frei für eine Übertragung der Metaphorik der alles
überstrahlenden politischen Herrschaft in das religiöse Sprachregister. Die
einst auf die imperialen Herrscher gemünzten Bilder konnten fortan für die
metaphorische Einkreisung und Umschreibung des abbildlosen Gottes
verwendet werden: Der »Herrgott« behält seine persönliche Gestalt und
wird als zweite Person angeredet. Dafür bot sich die Ikonogra I_331 phie des
vergöttlichten Pharao als Brücke für die verehrende Imagination der ins
Unendliche gesteigerten Macht einer der Anschauung entzogenen Person
an. Dieser Gott, der dem auserwählten Volk moralische Gebote und eine
politische Ordnung auferlegt, lebt allein aus dem Wort und seiner Weisheit.
Die Schlüsselszene am Sinai belehrt uns darüber, wie sich die Konstellation
von Politik und Religion im Licht der verschärften moralischen Maßstäbe
verschoben hat:[346] Der Moralisierung von Heil und Unheil in Gestalt eines
moralisch gesetzgebenden und richtenden Gottes entspricht die Verpflichtung
des Bundesvolkes, jenen 248 Geboten und 365 Verboten der Tora, die Moses
in 40 Tagen und Nächten aufgezeichnet hatte, absoluten Gehorsam zu
zollen. Aus beidem, der Ausrichtung auf die eschatologische Idee einer
künftigen Gottesherrschaft und der Selbstbindung der Juden an die Gebote
der Tora, folgt für die Übergangszeit bis zur Ankunft des Messias eine
vollständige Umwertung der politischen Herrschaft. Diese verliert die Aura,
die sie der symbiotischen Verbindung mit der sakralen Macht verdankt
hatte. Stattdessen enthüllen die prophetischen Klagen die Zweischneidigkeit
einer Legitimation von Gottes Gnaden, welche die Person des Herrschers und
den Modus seiner Machtausübung ihrerseits einklagbaren (und tatsächlich
eingeklagten) moralischen Geboten unterwirft.[347]
Der Monotheismus sprengt also die mythische Weltauffassung in der
Weise, dass er die Moralisierung von Heil und Unheil auf dem Wege einer
Übertragung bekannter historisch-politischer Grundbegriffe auf die Sphäre
einer welttranszendenten Macht vornimmt. Das legt anthropomorphe
Vorstellungen nahe, die sich auf dem monotheistischen Pfad der
Abstraktion der Götterwelt zu einem persön I_332 lichen Gott ohnehin
aufdrängen. Aber ein wörtliches Verständnis der Analogie hätte bei der
Rede von der »Person« Gottes oder der »Herrschaft des Allmächtigen« den
Abstraktionsgewinn des kognitiven Schubes der Achsenzeit verspielt. Denn
dieser liegt exakt in der Unterscheidung zwischen der monotheistischen
Ansprache des einzigen Gottes, der nicht »von dieser Welt ist«, und der
monolatrischen Anbetung eines Gottes, der zwar »für uns« der einzige ist,
aber die Welt mit den Göttern anderer Religionen, in welch
herausgehobener Stellung auch immer, teilt. Die Konsequenz für Aussagen
über Eigenschaften eines transzendenten Gottes liegt auf der Hand: Sie
nimmt die paradoxe Form eines Verbots jeder Analogiebildung mit
innerweltlichen Entitäten an. Moses Zorn über den Tanz ums Goldene Kalb
und seine drakonische Strafe gehören zum Kern des Bundesschlusses. Diese
Kritik des Götzendienstes mag den Bruch mit der mythischen Denkweise
religionspropagandistisch durchgesetzt haben; aber erst das Bilderverbot auf
der ersten der beiden Gesetzestafeln bringt die Transzendenz Gottes
theologisch zum Ausdruck und weist der diskursiven Vernunft den – in der
liturgischen Praxis freilich ungangbaren – Weg zu einer negativen
Theologie.[348] Das zweite Gebot (Ex 20,7; Dtn 5,11) wird als Pars pro Toto
verstanden und durch das Verbot der Namensnennung ergänzt; es wird,
neben dem Gebot der Sabbatheiligung am ausführlichsten expliziert und ist
das einzige der Zehn Gebote, das mit der Androhung von Sanktionen
versehen ist. Gewiss, jede Religion muss das Paradox der
Vergegenwärtigung eines nicht Repräsentierbaren lösen. Aber im Fall des
Monotheismus bedarf es offensichtlich besonderer Vorkehrungen, um
einzuschärfen, dass der Abstraktionsschritt zur Vergeistigung des Wortes der
im Gebet, also in der Kommunikation gewissermaßen nur virtuell
anwesenden zweiten Person nicht geringer ist als in der griechischen
Metaphysik der Schritt von den konkreten innerweltlichen Erscheinungen
zum Logos der Welt im Ganzen. Abgesehen von seiner Anwesenheit im
sakramentalen Geschehen der Gemeinde, begegnet Gott dem Menschen
direkt im Gespräch mit dem Betenden und auf indirekte Weise in den –
entsprechend inter I_333 pretierten – Folgen seiner strafenden und rettenden
Interventionen in die Geschichte.
Aus der transzendenten Stellung Gottes ergibt sich, wenn man das
Verhältnis Gottes zur Welt nicht unter heilsgeschichtlichen, sondern unter
dem ontologischen Gesichtspunkt der Schöpfungstheologie betrachtet, ein
weiteres Problem. Für kosmozentrische Auffassungen des Heiligen genügt
die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung, um die zugrundeliegende
Infrastruktur des ewigen Kosmos von den innerweltlichen Zuständen und
Ereignissen abzuheben. Aber an der Transzendenz eines Gottes, der allem in
der Zeit verstetigten Seienden voran- und vorausgeht, relativiert sich auch
die Ewigkeit der Natur – dieser Gott setzt als Schöpfer auch dem Kosmos
einen Anfang in der Zeit. Die Hebräische Bibel gibt auf das Problem, wie
überhaupt ein absoluter Anfang zu denken ist, eine Antwort mit der
Denkfigur der Weltschöpfung durch Gottes Wort: Gott ruft die Dinge
hervor, er bringt sie zur Existenz allein kraft seiner Worte: »Gott sprach: Es
werde Licht. Und es wurde Licht.« (Gen 1,3) Die erst in der Spätantike
gefundene Formel der »Schöpfung aus dem Nichts« ergibt sich daraus als
eine konsequente Antwort auf die Frage nach dem Woher der Gesamtheit
dessen, was die kreativen Sprechhandlungen Gottes »ins Leben gerufen«
haben. Die Schöpfung wird nicht länger mythisch als die Herstellung der
Welt aus einem gegebenen und vorgefundenen Material oder als Zeugung
und Wachstum, also als technischer oder organischer Vorgang vorgestellt;
sie wird vielmehr als ein einmaliger Akt gedacht, der sich im
geschichtlichen Ereignis eines absolut neuen Anfangs manifestiert. An den
kosmogonischen Erzählungen hatte sich die Schwierigkeit gezeigt, mit
Mitteln eines weltimmanenten Denkens einen Uranfang zu konzipieren.[349]
Dieser Schwierigkeit begegnet die Bibel nicht mit der Verewigung des
Kosmos, sondern mit dem revolutionären Gedanken I_334 der creatio ex
nihilo, der freilich ein Hauch von Paradoxie anhaftet. Auch griechisch
gebildete jüdische Theologen wie Philon von Alexandria sahen sich noch
genötigt, den einmaligen historischen Akt der göttlichen Schöpfung in eine
Hypostase, in das Hervortreten oder die Emanation des Vielen aus dem
Einen neuplatonisch umzudeuten. Wie Plato oder später Plotin dachten sie
in Begriffen einer perfektionistischen Stufenontologie. Sie konnten das
Nichts nur als das »Nichtsseiende«, das heißt als ein abgeschattetes, in
seinem Sein verringertes Seiendes denken.[350] Der radikale Gedanke des
»Nichts« ist monotheistischen Ursprungs. Er stammt nicht aus dem
ontischen Bereich der Abwesenheit oder Verminderung des Seienden,
sondern aus dem historischen und lebensgeschichtlich-existentiellen
Erfahrungsbereich des Verfehlens und der Vernichtung, der Entbehrung
und der sinnlosen Leere.
(2) Aus christlicher Sicht ist immer wieder eine Lesart des Alten
Testaments – und insbesondere der Exodusgeschichte bis zum Einzug ins
Gelobte Land – vorgeschlagen worden, die den partikularistischen
Charakter des Geschehens betont und die Ablösung des mosaischen Gottes
von der Konkretion des ursprünglichen Stammesgottes Jahwe bezweifelt.
Nach dieser Auffassung erschöpft sich das Revolutionäre der Moses-Episode
in der eigentümlichen Idee des Gottesbundes; darin soll der Schritt zur
universalistischen Konzeption eines der Welt im Ganzen transzendenten
Gottes noch nicht enthalten sein. Demgegenüber legt der Wortlaut nahe,
dass sich in der Konstruktion des Bundes zwischen Gott und dem Volk
Israel die transzendente Stellung Gottes mit den beiden Ideen verschränkt,
die den Inhalt des Vertrages ausmachen. Denn darin verbindet sich die
Verfassung einer im Kern egalitär-universalistischen Staats- und
Gesellschaftsordnung mit dem Beistandsversprechen für die Mission Israels,
das bis zum Erscheinen des Messias und der Errichtung der
Gottesherrschaft allen anderen Völkern vorangehen soll. Diese beiden im
Gedanken des Bundes miteinander verknüpften Ideen einer gerechten und
absolut verpflichtenden Herrschaft der Gesetze einerseits und der
heilsgeschichtlichen Rolle Israels andererseits sind ihrerseits abhängig von
der Idee Gottes als einer alle anderen I_335 Mächte ausschließenden
transzendenten Macht. Diesen begrifflichen Zusammenhang bringt
Deuterojesaja in seinem hymnischen Gesang auf den Gott, der keine
anderen Götter neben sich hat, am klarsten und in immer neuen
Formulierungen zum Ausdruck: »Ich bin der Erste, ich bin der letzte, außer
mir gibt es keinen Gott.« (Jes 44,6) Diesen monotheistisch begriffenen Gott
stellt Deuterojesaja sodann in den beiden Rollen des Schöpfer- und des
Erlösergottes vor: »Der das Licht formt und das Dunkel erschafft, der das
Heil macht und das Unheil erschafft, ich bin der HERR, der all dies macht.«
(Jes 45,7). In der geschichtlichen Dimension der rettenden Gerechtigkeit
differenziert er sodann zwischen der Rolle des göttlichen Gesetzgebers
einerseits: »Dem HERRN hat es um seiner Gerechtigkeit willen gefallen, die
Weisung groß und herrlich zu machen« (Jes 42,21), und der Rolle des
Retters andererseits: »Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht, sie ist
nicht mehr fern und meine Rettung verzögert sich nicht.« (Jes 46,13) Der
Heilsbringer ist gleichzeitig der großherzige Erlöser (»Ich habe
weggewischt deine Vergehen wie eine Wolke und deine Sünden wie Nebel«
[Jes 44,22]), der diese Befreiung – wie später Christus – an keine
Bedingungen knüpft: »Ich, ich bin es, der deine Vergehen wegwischt um
meinetwillen, deiner Sünden gedenke ich nicht mehr.« (Jes 43,25)
Schon aus der Personalunion des Erlösers mit dem Weltenschöpfer ergibt
sich die transzendente Stellung als zwingende Konsequenz: Der Erlöser ist
identisch mit einem Gott, der, weil er die Welt im Ganzen erschaffen hat,
nicht gleichzeitig als ein Gott neben anderen Göttern existieren, also »von
dieser Welt« sein kann. Gleichzeitig ist dieser Gott der Herr der Geschichte,
der, obwohl er in diese eingreift, der Geschichte im Ganzen Anfang und
Ende setzt. Als Regisseur der Heilsgeschichte, der die Wiederherstellung
Zions im Blick hat, kann er nicht gleichzeitig in ihr als einer neben anderen
Akteuren auftreten. Vor Gott ist die Geschichte die Gegenwart eines
Weltalters, worin auch die Israeliten nur ein Volk unter anderen sind.
Gewiss, Gott reißt das israelische Volk als Erstes aus dem fatalistischen
Gleichmut des mythischen Kreislaufs der ewig sich erneuernden Natur und
erweckt es zu dem historischen Bewusstsein eines im göttlichen Auftrag
handelnden Akteurs. Aber als Gottes Knecht soll Israel nicht selbstbezogen,
sondern in dem Wissen handeln, dass es I_336 auf dem Schachbrett der
Geschichte nur eine Figur ist in einem Spiel mit vielen Figuren: »Es ist zu
wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder
aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich
zum Licht der Nationen; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.«
(Jes 49,6) Aus universalgeschichtlicher Perspektive behält Gott, wenn er das
israelische Volk mit einer besonderen Mission betraut, das Schicksal aller
Völker im Auge; denn Ziel der Geschichte ist die Wallfahrt der Völker zum
gesegneten Jerusalem: »Alle Völker sind versammelt und die Nationen sind
zusammengekommen.« (Jes 43,9) Dann werden »Nationen wandern zu
deinem Licht und Könige zu deinem strahlenden Glanz« (Jes 60,3). Ohne
einen Gott, der die Welt im Ganzen transzendiert und die Geschichte der
Menschheit als solche zu seinem Anliegen macht, ist das zwiespältige
Privileg des Volkes nicht zu verstehen, das sich für die Heilszusage Gottes
nur dadurch qualifizieren kann, dass es sich zu absolutem Gehorsam
gegenüber Gottes Gesetzen verpflichtet. Und weil diese Mission nicht nur
Auszeichnung ist, sondern Anstrengung und neue Gefahr bedeutet, weiß
Deuterojesaja, dass seine Adressaten immer wieder in die gleichermaßen
kognitive wie moralische Bequemlichkeit des einbettenden mythischen
Bewusstseins zurückfallen. Das Verbot des Götzenkults ist die
handgreifliche Konsequenz aus der transzendenten Stellung Gottes. Weil
sich der transzendente Gott, der nur im Wort anwesend ist, der Anschauung
entzieht, lässt sich diese Konsequenz dem an wahrnehmbaren
Gegenständen haftenden Verstand freilich nur auf paradoxe Weise erklären:
»Wer sich einen Gott macht und sich ein Götterbild gießt«, um zu sehen,
der sieht nichts: »Nichtig sind alle, die ein Götterbild formen; ihre geliebten
Götzen nützen nichts. Und ihre Zeugen, sie sehen nichts und verstehen
nichts« (Jes 44,9-10).
Die interne Verklammerung der Idee der göttlichen Transzendenz mit der
im Bundesgedanken ausgedrückten Idee der rettenden Gerechtigkeit erklärt
den revolutionären Charakter der Zehn Gebote und die außerordentliche
Wirkungsgeschichte des christlichen Naturrechts, das nur deshalb den
Anstoß zur Entwicklung des modernen Vernunftrechts geben wird, weil es
die Rekonstruktion des römischen Rechts mit den mosaischen Gesetzen
verknüpft. Revolutionär waren diese Ideen, wie Jan Assmann zeigt, schon
zu ihrer Zeit. I_337 Offenbar haben die Verfasser der Bücher Exodus und
Deuteronomium den Bundesvertrag nach assyrischen Vorbildern des
siebten vorchristlichen Jahrhunderts modelliert, aber in zwei
entscheidenden Hinsichten weichen sie davon ab.[351] Beide Neuerungen
betreffen die Implikationen des Vertragsmodells:
– Während der assyrische König seine Vasallen und Untertanen in der
Form eines solchen Bündnisses zur Loyalität verpflichtete und selber
zwischen der Autorität der Götter, die seine Herrschaft legitimieren, und
den Untertanen vermittelte, kommt es am Sinai zur direkten Beziehung
zwischen den Vertragspartnern. Auch Moses tritt nicht an die Stelle des
Königs, der die Autorität Gottes vor dem Volk repräsentiert. Denn das
Bündnis schließt Gott mit dem ganzen, am Fuß des Berges versammelten
Volk. Weil die Vermittlungsstufen des Königs und der Vasallen fehlen, stellt
das Format des Vertrages die Weichen für eine egalitäre Struktur der zu
gründenden Gemeinschaft. Dem entspricht auch die abstrakt-allgemeine
Form der Zehn Gebote, die sich ohne Ausnahmen und Privilegierungen an
alle richten und den Kern einer universalistischen Moral bilden.
– Während der König seinen Untertanen einen Treueschwur abnimmt,
macht Gott seinem Volk ein Bündnisangebot. Am Sinai trägt Moses dem
Volk die Bedingungen sogar zweimal vor; und nach der Niederschrift
werden die Gesetze öffentlich vorgelesen. Beide Male stimmt das Volk aus
freien Stücken zu. Gottes befreiende Gerechtigkeit kann nur denen
zugutekommen, die Gottes Gesetze freiwillig annehmen. Erst dieses Muster
der autonomen Willensbildung begründet das fortan maßgebende
trianguläre Netz zwischen den Beziehungen, in denen die Mitglieder des
Volkes zueinander stehen, und der Beziehung, die diese, als Volk vereinigt,
zum transzendenten Gott eingehen. Aus der Beziehung des Kollektivs zu
Gott wird sich erst im Zuge der Individualisierung das für die Gemeinschaft
der Gläubigen typische Gewebe der vertikalen, auf den Einheit stiftenden
Bezugspunkt konzentrisch zulaufenden Beziehungen der jeweils einzelnen
Personen zu Gott entfalten, das sich über der Basis des mittelpunktlosen
und inklusiven Netzes der horizontalen Bezie I_338 hungen aller Einzelnen
zueinander ausspannt. Diese Struktur wird freilich erst in den
calvinistischen Kirchengemeinden zu einer organisationsprägenden Kraft.
Interessanterweise verrät das mosaische Gesetzesbuch eine weitgehende
Verrechtlichung der Moral (die wir in moderner Gestalt erst wieder bei Kant
antreffen). Das ergibt sich aus der Tatsache, dass sich in Israel die
Moralisierung des Heiligen in Gestalt der Promotion Gottes zum
moralischen Gesetzgeber durchsetzt. Schon die Grundsätze der Moral hat
Gott in der zweiten Tafel der Zehn Gebote in Form abstrakt-allgemeiner
Rechtsgesetze verkündet. Auf die gleiche Weise bezieht er auch den Bestand
an Sittlichkeit, der in den Kulturen des Vorderen Orients bisher in der
profanen Weisheitsliteratur Ausdruck gefunden hatte, ins Recht ein. Neben
den kultischen und den straf- und zivilrechtlichen Gesetzen greift die
Gesetzgebung auch in Lebensbereiche ein, die bisher – wie die soziale
Wohlfahrt und der Umgang mit Sklaven und Gästen – der informell
geregelten Alltagssittlichkeit überlassen worden waren. Auffällig ist hier die
stereotype Wiederholung von sozialen Kategorien der verletzbarsten
Gruppen der Bevölkerung – der Armen und Unterdrückten, der Witwen
und Waisen und der Fremden.[352] Der zugleich revolutionäre und
umfassende Charakter der im Bundesbuch enthaltenen Regeln lässt
schließlich den konstituierenden Charakter dieser Gesetzgebung erkennen,
die den Haufen der geflüchteten Israeliten erst zur politischen Gestalt eines
Volkes formt. Nach modernen Begriffen hat der Bund verfassungsgebenden
Charakter. Wenn man sich die erwähnten egalitären, universalistischen und
antiautoritären Züge dieses Gründungsaktes vor Augen führt, begreift man,
warum Baruch de Spinoza, unter den Philosophen der erste Verteidiger
einer säkularen Demokratie, für die vernunftrechtliche Begründung einer
modernen Republik auf das Beispiel des alten Israel und der mosaischen
Gesetze zurückgreifen konnte.
Neben diesen weit vorausweisenden Zügen des alttestamentarischen
Gesetzesbegriffs zeichnet sich die Rechtskonzeption des Bundes durch eine
zweite revolutionäre Neuerung aus. Allen achsen I_339 zeitlichen Religionen
sind Begriffe einer »rettenden« Gerechtigkeit eingeschrieben; den
monotheistischen Weg zum Heil zeichnet jedoch das Moment der
Unbedingtheit der Gesetzestreue aus. Eine selbstbezogene Orientierung an
der Einlösung des Heilsversprechens, also an der jeweils eigenen
Glückseligkeit, würde den deontologischen Sinn der kategorisch gültigen
Zehn Gebote und die entsprechende moralische Gesinnung unbedingter
Folgebereitschaft verfehlen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das
Judentum von allen übrigen Traditionen der Achsenzeit. Die Hebräische
Bibel nimmt das Thema des unbedingten Gehorsams im Buch Hiob auf, das
bezeichnenderweise aus der älteren Weisheitsliteratur stammt, auch wenn
es seine kanonisierte Form erst in der Zeit nach dem Exil gefunden hat. Das
Thema des ungerecht Leidenden ist schon aus ägyptischen
Weisheitsschriften bekannt. Aber in der poetischen Darstellung des
Kontrastes zwischen dem untadeligen Verhalten des frommen Mannes aus
Uz und seinem Leiden an der unverdienten Härte der ungerechten
Schicksalsschläge erfährt es nicht nur eine radikale Zuspitzung; vielmehr
verschiebt sich das Thema vom ungerechten Leiden auf die Erprobung des
Gottesgehorsams. In der mythischen Welt hatte zwischen dem
Wohlverhalten frommer Menschen und den Gunsterweisungen tricksender
Götter, also zwischen Moral und Heil, keine zwingende interne Beziehung
bestanden. Aber nun wird sogar der Gott Hiobs selber zur Quelle von Recht
und Unrecht. Ist es vorstellbar, dass der Allmächtige das Recht, das er setzt,
selber beugt? Daher muss sich Hiob, obwohl er allen Grund zur Klage hat,
fragen: »Wie wäre ein Mensch bei Gott im Recht!« (Ijob 9,2)
Die drei Freunde, die aus Teman, Schuach und Naama herbeigeeilt sind,
verurteilen den hadernden Hiob, der es wagt, Gott zur Rede zu stellen, weil
auch sie sich die Gerechtigkeit Gottes nicht anders vorstellen können als die
Tauschgerechtigkeit, wonach die fromme Redlichkeit mit Wohlergehen
belohnt und Frevel mit Leiden bestraft wird. Aus dieser Sicht kann Hiob
sein Ungemach nur selber verschuldet haben: »Wer Unrecht pflügt, wer
Unheil sät, der erntet es auch.« (Ijob 4,8) Die selbstgerechten Freunde
verhöhnen den Ärmsten gar: »Wegen deiner Gottesfurcht sollte er dich
strafen, vor Gericht mit dir gehen?« (Ijob 22,4) Sie haben nicht begriffen,
dass die göttliche I_340 Moral keine Moral der Vergeltung, keine des do ut
des mehr sein kann. Die Gebote Gottes beanspruchen vielmehr kategorische
Geltung und fordern von den Adressaten, dass sie ohne Ansehung der
Konsequenzen befolgt werden. Auch Hiob bleibt zunächst im Horizont des
Vergeltungsdenkens befangen. Gerade weil er sich in seinem Glauben an
Gott nicht beirren lässt (»Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt« [Ijob
19,25]), beharrt er auf einer Erklärung des Unverständlichen und erhält die
enigmatische Antwort: »Sieh, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, das
Meiden des Bösen ist Einsicht.« (Ijob 28,28) Gott unterwirft seinen Knecht
tatsächlich nur einem Exerzitium, das ihn zur rechten Einsicht führen soll.
Allein die Einübung des absoluten, sei es auch zunächst »blinden«
Gehorsams gegenüber Gott soll den Gläubigen über den Charakter der
unbedingten Verbindlichkeit moralischer Gebote belehren. Aus der Sicht
eines Frommen bedeutet also die monotheistisch herbeigeführte
Moralisierung von Heil und Unheil subjektiv die vollständige Entkoppelung
des moralischen Lebenswandels von persönlichen Heilserwartungen in der
Gestalt von »Vergütungen« für erbrachte Leistungen. Solange Hiob
hochmütig auf seinem Recht beharrt (»Rein bin ich und ohne Sünde,
makellos und ohne Schuld« [Ijob 33,9]), erkennt er in seinem Schicksal
nicht die Prüfung, die Gott ihm auferlegt, »weil er [diesem] nach der Art
der Frevler erwidert« (Ijob 34,36). Er versteht noch nicht, dass Gott »[d]en
Geplagten rettet […] durch seine Plage und öffnet durch Bedrängnis sein
Ohr« (Ijob 36,15). Sein Schicksal wendet sich erst mit der Umkehr zur
Einsicht in den absoluten Charakter des Gottesgehorsams: »Wer ist es, der
ohne Einsicht den Rat verdunkelt? – Fürwahr, ich habe geredet, ohne zu
verstehen, über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind.
[…] [I]ch will dich fragen, du belehre mich!« (Ijob 42,3-4) So kann Hiobs
Geschichte als eine Sozialisationsfabel gelesen werden, die von der
Einübung in die kategorische Geltung moralischer Gebote berichtet.
Die Theodizee-Frage der Rechtfertigung bestehenden Unrechts im
Angesichte Gottes gewinnt ihre eigentliche Bedeutung aus der Spannung
zwischen den beiden Momenten, die in der Idee der rettenden Gerechtigkeit
zusammengeschlossen sind.[353] Im Hinblick auf Hiobs
I_341 Einzelschicksal, mag diese Frage noch vergleichsweise harmlos
erscheinen. Als Frage nach der Belastbarkeit der spannungsreich-
dialektischen Zusammenführung von Moral und Heil wird sie im Bibeltext
selbst vonseiten der Gerechtigkeit Gottes her aufgerollt. Eine ganz andere,
gleichermaßen berühmte, wenn nicht berüchtigte alttestamentarische
Geschichte ist historisch älteren Ursprungs und rollt dieselbe Problematik
vonseiten der Glaubenstreue eines »Gottesknechtes« auf. Gott stellt
Abrahams Gehorsam auf die Probe, indem er ihm den moralisch obszönen
Befehl gibt, seinen geliebten Sohn Isaak Gott als Brandopfer darzubringen.
Die trocken berichtete Episode sticht schon in ihrer schmucklosen
literarischen Form von der poetisch reich ausgestalteten Hiobsklage ab. Da
die Patriarchengeschichte zu den ältesten Überlieferungen Israels und seiner
Nachbarvölker gehört, hatte sich die Frage, wie Gott einen so
unmoralischen Befehl geben konnte, für einen früheren Erzähler, sagen wir
um das Jahr 1400 v. Chr., noch nicht in derselben Weise stellen können, wie
sie sich einem Autor und Bearbeiter dieser überlieferten Geschichte unter
der Prämisse eines voll ausgebildeten Monotheismus aufdrängen musste.
Für einen Redakteur um das Jahr 500 v. Chr., der altisraelische
Überlieferungen aus der monotheistischen Sicht eines Deuterojesaja
überarbeitete, mochte sich die kognitive Dissonanz allerdings dadurch
entschärfen, dass er mit Lesern rechnete, die – nach der inzwischen
eingetretenen Moralisierung des Heiligen – selbstverständlich von der
moralischen Integrität Gottes überzeugt waren und von vornherein den
Widerruf des problematischen Befehls antizipierten; vermutlich konnte man
erwarten, dass diese Leser die Geschichte unter dem eigentlich
thematischen Gesichtspunkt einer experimentellen Überprüfung von
Abrahams Glaubenstreue lesen würden.
Die Wirkungsgeschichte von Gen 22 spiegelt in den Repliken, die sie in
der bildenden Kunst und Literatur des Abendlandes hervorgerufen hat, die
tiefe, mit Faszination gemischte Beunruhigung über biblische Spuren der
längst überwunden geglaubten archaischen Gewalt von Menschenopfern.
Dieser Abscheu gibt im Zeichen der aktuellen I_342 Auseinandersetzung mit
dem Islam christlichen Theologen sogar heute noch Anlass für ein Plädoyer,
von Abraham »Abschied zu nehmen«.[354] Dagegen hat sich ein
romantischer Geist wie Sören Kierkegaard so tief in Abrahams zerrissenen
Gemütszustand hineinversetzt, dass seine Interpretation die Bruchstelle
offenlegt, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist. Kierkegaard
wusste, dass die Moralisierung von Heil und Unheil das Proprium der
Religion, nämlich das Hier und Jetzt des ambivalenten Erschauerns in der
Begegnung mit der sakralen Gewalt, nicht in Moral aufgehen lassen darf.
Die komplexe Gestalt der rettenden Gerechtigkeit Gottes ist eine Synthese,
worin die unpersönliche Gerechtigkeit der Moral nur eines von zwei
Momenten bildet. Die Gesetzestreue – der Gehorsam gegenüber dem
moralischen Gesetzgeber – ist zwar in der Glaubenstreue – in der Treue
zum allmächtigen Retter – fundiert, aber nicht mit ihr identisch. Gott spielt
den Gesetzesgehorsam gegen Abrahams Glaubenstreue aus, um diese – und
nicht wie im Falle Hiobs die Gesetzestreue – zu prüfen. Kierkegaard begreift
die mögliche Konkurrenz der gleichwohl zusammengehörenden Momente:
»Die Geschichte von Abraham enthält eine teleologische Suspension des
Ethischen«, denn es gibt »keine absolute Pflicht gegen Gott«, wenn dieser in
seiner vorrangigen Rolle als Rettung verheißende sakrale Macht vom
Erzvater eine prima facie unmoralische Handlung verlangt (FZ, GWT 04: 72;
74ff.).[355] Der richtende Gott, der den allgemeinen moralischen Gesetzen
absolute Geltung verschafft, ist als der befreiende und erlösende Gott
zugleich Garant der Heilsgeschichte. Eine Spannung zwischen den
Momenten der Gerechtigkeit und des Heils kann aus der Sicht des
Gläubigen auftreten, weil Gott das moralische Handeln in die
Verantwortung des Menschen legt, während diesem das Heil »widerfährt«.
Damit berühren wir ein Thema, das uns noch beschäftigen wird. In der
Moderne wird die nachmetaphysische Vernunft – aus ihrer
anthropozentrischen Sicht – vom göttlichen Gesetzgeber nur den
»mora I_343 lischen Gesichtspunkt« als einen die Welt transzendierenden
Gesichtspunkt zurückbehalten. Aber wird ihr das gelingen, ohne mit dem
Zerfall des spannungsreichen Begriffs einer rettenden Gerechtigkeit auch
die Transzendenz des Sollens selbst aufzuheben?
Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass die moralische
Gesetzgebung in eine geschichtstheologische Verheißung eingebettet ist, die
Jahwe mit dem Schicksal Israels und des jüdischen Volkes verbindet. Der
Bundesschluss behält eine partikularistische und zugleich kollektivistische
Referenz, die auf den ersten Blick der grundsätzlich universalistisch und
individualistisch angelegten Moral Beschränkungen auferlegt. Diese
Dissonanz löst sich freilich unter dem Gesichtspunkt auf, dass die
Heilsgeschichte Israels als Menschheitsgeschichte konzipiert wird und dass
die Zehn Gebote an alle Völker adressiert sind. Wie die endzeitliche Vision
der Wallfahrt aller Völker nach Jerusalem belegt, erfüllt sich der
Universalismus in der zeitlichen Dimension (Jes 2,2-5; Mi 4,1-5; Sach 8,23).
Für das alte Israel hatten auch alle nichtjüdischen Völker Anteil am
Heilszustand, wenn sie nur die Noachidischen Gebote beziehungsweise
Verbote (von Götzendienst, Gotteslästerung, Blutvergießen, Diebstahl,
Inzest und so weiter) anerkannten und sich zur Einrichtung einer gerechten
politischen Herrschaftsordnung verpflichteten.[356] Die Zentrierung der
Bundestheologie auf das geschichtliche Kollektiv des jüdischen Volkes
bedeutet keine Minderung der ausschließlich persönlichen Verantwortung
des Einzelnen für seine Handlungen, auch wenn sich umgekehrt die
mangelnde Gesetzestreue vieler Individuen in schlimmen Folgen für das
kollektive Schicksal auswirken kann. Die Vorstellungen von der Präexistenz
der Seele und die Idee der Auferweckung von den Toten dringen erst mit
der Verbreitung platonischer und pythagoreischer Lehren ins hellenistische
Judentum ein.[357] Die Erlösungshoffnungen waren eher auf einen
messianischen Zustand der Gottesherrschaft auf Erden gerichtet, der Elend
und Unterdrückung beseitigen, also die Form des Zusammenlebens
revolutionieren würde. Und weil man sich diesen zwar »als ideale, aber
doch geschichtlich-irdische Endperiode« vorstellte, gab es zu I_344 nächst
keine individuelle Heilserwartung für ein Leben im Jenseits.[358] Eine
individuierende Kraft geht vielmehr von einer Moral aus, die im Lichte der
egalitären Vorstellung eines Jüngsten Gerichtes an das Sündenbewusstsein
jedes Einzelnen appelliert.
(3) Bisher habe ich nur die kognitive Seite der monotheistischen Wende
behandelt. Da der Bruch mit dem mythischen Denken auch den magischen
Praktiken die Grundlage entzieht, stellt sich die Frage, wie der sakrale
Komplex im Zuge der monotheistisch veränderten Selbst- und Weltdeutung
insgesamt transformiert wird. Auf der institutionellen Ebene spiegelt sich
der individualistische Egalitarismus der göttlichen Gesetzgebung in einer
Öffnung des Heiligtums und des Kultes für alle Gläubigen. In Israel liegen
Tempelorganisation und Gottesdienst in den Händen der Leviten und der
Priester, aber alle Juden sind (allerdings mit einer deutlichen
Differenzierung zwischen den Geschlechtern) in die kultische Praxis
einbezogen. Das Judentum zeichnet sich durch die Inklusivität seiner
religiösen Praxis aus. In diesem einen Fall hat sich die aus allen
Weltreligionen bekannte Abstufung zwischen Schrift- und Volksreligion
nicht in der üblichen Form sozialer Abstufungen herausgebildet. In Israel
hat sich die religiöse Gemeinde schon relativ früh auch von den ethnischen
Herkunftsmilieus gelöst; die aus allen Teilen des Landes stammenden Eliten
– die »Richter« der Hebräischen Bibel – verdankten schon während der
Zeit der Könige ihre Autorität nicht länger den askriptiven Merkmalen ihrer
Herkunft.[359]
Die Weltbildrevolution der Achsenzeit führt zu einer radikalen
Verwandlung der rituellen Praxis. Gewiss bleibt der im Kern ambivalente
Umgang mit dem Sakralen, zusammen mit der Idee der Reinigung von
dämonischen Einflüssen, in den entsprechenden Speisevorschriften und
Reinheitsgeboten erhalten. Tora und Halacha enthalten bekanntlich eine
Fülle von rituellen Vorschriften und erwecken den Eindruck einer rechtlich-
rituellen Einhegung des gesamten ge I_345 sellschaftlichen Lebens. Zu den
ehe-, handels- und strafrechtlichen Vorschriften treten umfängliche Gebets-
, Fest- und Opferregeln. Aber diese dichte Reglementierung aller
Lebensbereiche suggeriert den irreführenden Anschein einer Kontinuität
heidnischer Überlieferungen. Der jüdische Kodex von Regeln hat vielmehr
eine sublimierte, dem Geist des Monotheismus angepasste Gestalt
angenommen. Zum einen bricht der jüdische Kultus mit dem magischen
Denken. Der Eliminierung von Zauberei und Aberglauben entspricht die
Tatsache, dass Opfer und Prophetie einen neuen Sinn annehmen (a). Zum
anderen manifestiert sich der Rückzug des Sakralen aus der entzauberten
Welt in einer Sakralisierung des geoffenbarten Wortes, das heißt im
ritualisierten Umgang mit einem nur noch in Gebeten, vor allem in Lektüre
und Auslegung der Schrift anwesenden Gott (b).
(a) Eine deutliche Zäsur bildet die Abschaffung des heidnischen Opfers,
das als Götzendienst verurteilt wird. Das in magischer Absicht dargebrachte
Opfer, das einen Gott oder eine göttliche Macht den eigenen Interessen
durch Zuwendungen günstig stimmen soll, jeder Zaubertrick, der sich über
die natürliche Kausalität des Weltgeschehens hinwegsetzt, und jede Mantik,
die beobachtbare Vorgänge als Zeichen für künftig eintretende Ereignisse
deutet, verkennt die transzendente Erhabenheit des weltenthobenen,
exklusiv über alles Innerweltliche herrschenden Gottes. Kein Mensch kann
Gott seinen Willen aufzwingen oder Gottes Gedanken und Absichten
beeinflussen. Im Deuteronomium verkündet Moses seinem Volk: »Wenn du
in das Land hineinziehst, das der HERR, dein Gott, dir gibt, sollst du nicht
lernen, die Gräuel dieser Völker nachzuahmen. Es soll bei dir keinen geben,
der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der
Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert,
Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher,
keinen, der Verstorbene um Rat fragt. Denn jeder, der so etwas tut, ist dem
HERRN ein Gräuel.« (Dtn 18,9-12) Und Hexerei soll mit dem Tode bestraft
werden (Ex 22,17). So urteilt die Bibel über eine entzauberte Welt, aus der
sich die vielen unsterblichen, aber bestechlichen Götter zurückgezogen
hatten, weil nun alles innerweltliche Geschehen allein dem Willen und den
Gesetzen einer dieser Welt im Ganzen voraus- und I_346 zugrundeliegenden
Macht, eben der eines transzendenten Weltenschöpfers untersteht.[360]
Die Hebräische Bibel verarbeitet Überlieferungen aus verschiedenen
Epochen der jüdischen Geschichte; darin finden sich noch die Spuren älterer
Praktiken, heidnische Überreste wie die Praxis des Gottesurteils oder die
Zeremonie des Sündenbocks, die magische Verwendung von Räucherwerk
und so weiter. Aber wie im Falle des Abraham-Opfers werden diese Relikte
des Volksglaubens im Allgemeinen aus der Perspektive des nachexilischen
Judentums – wie die Opferpraxis insgesamt – umgedeutet. Das abgeschaffte
Opfer überlebt in der Gestalt einer symbolischen Verehrung Gottes; den in
der Bibel geforderten Opferhandlungen ist der magische Rest einer
angemaßten »Versuchung« Gottes abgestreift – »Reue oder Buße [treten]
an die Stelle des Opfers als das Mittel, um Gottes Vergebung zu erlangen«.
[361] Dieser Sinneswandel manifestiert sich (trotz des Sündenbockrelikts am

Versöhnungstag [Lev 16,1-34]) in einer bemerkenswerten moralischen


Umwertung des Ausstoßungsrituals. Dieses hatte einst in der
solidarisierenden Gewaltanwendung des Kollektivs gegen ein als dämonisch
ausgegrenztes, aber objektiv unschuldiges Opfers bestanden. René Girard
hat in subtilen Untersuchungen, unter anderem in einem faszinierenden
Vergleich der Josephsgeschichte mit dem Ödipusmythos, nachgewiesen,
dass die Bibel mit der Anerkennung der moralischen Unschuld des
»Opfers« die mythische Gewalt dieses Solidarität erzeugenden
Opfermechanismus als solche zu Bewusstsein bringt – und sie damit bricht.
Indem das unschuldige Opfer ins Recht gesetzt wird, wird die nun als
moralisch anstößig empfundene Gewalt überwunden: »Im Mythos hat das
Opfer immer unrecht […]. In der Bibel ist es umgekehrt: Joseph hat ein
erstes Mal recht gegen seine Brüder, und er hat zweimal
I_347 hintereinander recht gegen die Ägypter, die ihn ins Gefängnis werfen.
Er hat recht gegen die lüsterne Ehefrau, die ihn beschuldigt, er habe sie
vergewaltigen wollen. Da der Ehemann dieser Frau, Potiphar, Josephs Herr,
seinen jungen Sklaven wie einen eigenen Sohn behandelt hat, gemahnt die
auf Joseph lastende Anschuldigung in ihrer Schwere an den Ödipus
vorgeworfenen Inzest. […] Überall stellt sich dieselbe Frage. Verdient es der
Held, vertrieben zu werden? Der Mythos antwortet stets mit ›Ja‹, die
biblische Geschichte mit ›Nein‹, ›Nein‹ und abermals ›Nein‹. Ödipus'
Laufbahn endet mit einer Vertreibung, deren Endgültigkeit seine Schuld
bekräftigt. Josephs Laufbahn endet in einem Triumph, dessen Endgültigkeit
seine Unschuld bekräftigt.«[362]
Die Überwindung des magischen Denkens zeigt sich auffällig in einem
radikal veränderten Rollenverständnis der Propheten. Orakelpraxis,
Wahrsagerei und Mantik waren in den frühen Hochkulturen weit
verbreitet. Die seit dem Ende der Königszeit in Israel auftretenden
Propheten sind aber keine Wahrsager mehr, sondern Berufene, Botschafter
oder Sprecher des unsichtbaren Gottes, der seine Worte einzelnen,
historisch bezeugten Personen offenbart, um durch sie mit seinem Volk zu
kommunizieren. Diese Auserwählten agieren als wache politische
Zeitgenossen und Intellektuelle, als Gesellschaftskritiker, Bußprediger und
Reformatoren in einem.[363] Die Propheten stellen ihre aufwühlenden
Zeitdiagnosen in heilsgeschichtliche Dimensionen; sie »erfassen ihre Zeit in
Gedanken« (Hegel) mit dem Ziel einer Aktualisierung des im Bund
beschlossenen Heilsweges. Die anklagende Rhetorik zielt nach innen auf
Umkehr und Buße, auf eine moralische Erneuerung des treulosen Volkes
und auf eine Revitalisierung des Glaubens an die emanzipierende
Gerechtigkeit Gottes. Nach außen wendet sich ihre Propaganda gegen
Unterdrückung und politische Fremdherrschaft. Mit ihren Drohungen und
Klageliedern, mit ihren Visionen vom neuen Israel, ihrer Empörung über die
Habsucht der Reichen, die Ausbeutung der Elenden und die Repression der
Geknechteten, mit ihrer Geißelung von Sünde, Korruption und Verfall,
ihren apokalyptischen Gerichtsreden I_348 und messianischen
Verheißungen haben sie eine neue literarische Gattung geschaffen.
(b) Der Judaismus ist noch prononcierter als andere Weltreligionen eine
Buchreligion.[364] Auch der Kultus ist um die Heilige Schrift zentriert. Die
Torarollen bilden in Tempel und Synagoge das Allerheiligste – und dies
nicht erst, seitdem die fünf Bücher Moses in der zweiten Hälfte des fünften
vorchristlichen Jahrhunderts kanonisiert worden sind. Schon in der Zeit der
Propheten bildet die Lesung heiliger Texte den Mittelpunkt des
Gottesdienstes.[365] Sakralen Charakter erhalten diese Texte durch die
Quelle göttlicher Inspiration. Ein vermeintlich authentisch überlieferter
Offenbarungsinhalt, der auf Moses und die Propheten zurückgeht, bildet
den Kern der Bibel und macht sie zum Gründungsdokument des jüdischen
Volkes als einer Religionsgemeinschaft. Dieser Kernbestand wird zunächst
durch die Bücher der Propheten und im Zuge einer jahrhundertelangen
Kanonisierungsgeschichte – wie in den heiligen Schriften anderer
Religionen – durch historisches Erzählgut, Psalmen, das heißt Lieder und
Gebete, sowie durch Weisheitstexte ergänzt. Die Sakralisierung eines
solchen Textes geht über die bloße Fixierung eines unveränderlichen
Wortlautes hinaus; sie geht auf die indirekt bezeugte Herkunft des
Textinhaltes zurück.
Für den Gläubigen sind die Autoren der (unter Umständen bereits in
andere Sprachen übersetzten) biblischen Texte zwar geschichtliche
Personen, die die Begrenzungen des falliblen, Zufällen ausgesetzten und von
Kontexten abhängigen Menschengeistes teilen. Aber sie berichten von der
Verkündigung göttlicher Inspirationen, deren Glaubwürdigkeit nach dem
Zeugnis der Zeitgenossen durch die Authentizität von Rede und
Lebenswandel der zu »Boten« auserwählten Personen verbürgt ist. Moses
verkündet Gottes Wort gewiss nicht in dessen, sondern in seinen eigenen
Worten. Der Inhalt des offenbarten Wortes wird nur in der historisch
vermittelten Gestalt des verkündeten Wortes greifbar, der verborgene Urtext
also nur I_349 in einem durch den menschlichen Geist entzifferten Text. Wie
in der Metaphysik das Denken vom Sein, die intellektuelle Anschauung von
den kontemplativ erfassten Ideen bestimmt wird, so im Monotheismus der
Glaube von den geoffenbarten Worten. Auch hier wird – wie beim Aufstieg
zu den Ideen – die »Erkenntnis von Angesicht zu Angesicht« als Ziel in
Aussicht gestellt, aber eschatologisch auf das Ende aller Tage
hinausgeschoben. Die ganze Wahrheit unterliegt einem Aufschub. Bis dahin
lässt die Differenz zwischen dem Urtext des göttlichen Autors und der
Schrift, die die Verkündigung von Gottes Wort festhält, genügend Raum zur
Interpretation und zum Streit um die richtige Auslegung der Bibel. Das
erklärt die große Bedeutung, die der mündlichen Überlieferung im Judentum
zukommt. Für uns ist das naive Verhältnis des Gläubigen zum sakralisierten
Wort, nämlich zur Bibel als dem Text, der uns Gottes absolute Wahrheit
durch die historische Milchglasscheibe einer interpretationsbedürftigen
Verkündigung mitteilt, nicht mehr leicht nachzuvollziehen. Seit dem
19. Jahrhundert haben die Erkenntnisse der historischen Bibelkritik auch
dem Gläubigen das Verhalten gegenüber einem Text erschwert, der mehr
sein will als bloß ein Text und der beansprucht, die Tiefendimension der
göttlichen Autorschaft offenzuhalten. Der Literalismus, die Abkehr von der
Hermeneutik und die vermeintliche Rückkehr zu einer buchstabengetreuen
Auslegung der Schrift, ist eine Reaktion auf diese Verlusterfahrung, die, wie
die fundamentalistischen Bewegungen überhaupt, erst unter Bedingungen
der gesellschaftlichen Moderne entstehen konnte.
In Israel drückt sich die Sakralisierung schriftlich fixierter Worte in der
Ritualisierung des Umgangs mit den materiellen Trägern der Schrift und in
der Zelebrierung ihres Inhalts aus – in den respektvollen Formen des
Umgangs, in Reinheitsvorschriften, in Tonlage und Modulierung der Lesung
und so weiter: »Die Bibel als Druckerzeugnis ist nicht ›heilig‹. Zur Heiligen
Schrift wird das Buch erst durch den liturgischen Gebrauch.«[366] Das
Gewicht der Botschaft, die der Text enthält, spiegelt sich in den
performativen Aspekten ihrer Verwendung – in der kultischen Darbietung
und Präsentation der ver I_350 kündigten Wahrheiten[367] ebenso wie im
Exerzitium ihrer Aneignung und Tradierung durch Auswendiglernen, im
rituellen Gebet[368] oder in der schulmäßigen Interpretation. Die
Umstellung der rituellen Praxis auf die Vermittlung des biblischen Wortes
hat eine Intellektualisierung zur Folge, die sich einerseits in
»Schriftgelehrsamkeit«, also in der Dogmatisierung der »Lehre« und der
entsprechenden Rationalisierung des überlieferten Stoffes, andererseits in
einer Kultur des Gebets und der entsprechenden Individualisierung und
Vertiefung des persönlichen Verhältnisses zu Gott manifestiert. Das Lesen
und Auslegen fordert die Rabbiner zu einer intellektuellen Arbeit an den
Texten heraus, die von Anfang an den Keim zu einer theologischen und,
soweit die Texte zugleich die Verfassung des politischen Gemeinwesens
vorschreiben, auch zu einer juristischen Reflexion in sich getragen hat. Das
schlägt sich wiederum in der Interpretationspraxis der »mündlichen«
Tradition nieder. Eine Auswahl des umfangreichen Korpus dieses gelehrten
Wissens von Kommentatoren wird zu Beginn des dritten nachchristlichen
Jahrhunderts in der Mischna zusammengefasst. Dieses Kompendium wird
später in den babylo I_351 nischen Talmud aufgenommen, der wiederum
eine Flut von Kommentaren auf den Plan gerufen hat. Schließlich ist im
hohen Mittelalter aus der verbindlichen Kompilation von solchen
rabbinischen Sammelwerken die Halacha hervorgegangen. Dabei dürfen wir
nicht verkennen, dass die Tora, die der Bezugspunkt dieser Diskurse bleibt,
immer schon mit einem Grundriss für die Totalität des Wissens und der
Weisheit gleichgesetzt worden ist.
Obwohl das tägliche Leben der orthodoxen Juden durch viele rituelle
Gebote geprägt ist, genießt das Gebet – ein von Magie auf Kommunikation
umgestelltes Gebet – den Rang des Königswegs zum Kontakt mit Gott. Viele
Gebete sind rituell vorgeformt und vorgeschrieben, und in der Synagoge
sind die Gebete in den gemeinsamen Kultus eingebunden. Aber trotz der
kollektiven Referenz der Heilsbotschaft zur Erwählungsgemeinschaft der
jüdischen Nation bietet sich das individuelle Gebet als der bevorzugte Weg
für eine Intensivierung der Beziehung des Einzelnen zu Gott an. Die
individuelle Frömmigkeit, die sich – wie unter anderem das ägyptische
Konzept des »Ba« zeigt – schon in den frühen Hochkulturen des Vorderen
Orients vom öffentlichen Kultus abgespalten hatte, findet nun im
persönlichen Gebet den Spielraum für die dialogische Entfaltung einer
vertieften subjektiv gefärbten Religiosität. Die Vergeistigung des rituellen
Umgangs mit der rettenden Macht des Sakralen, die aufseiten der gelehrten
Eliten stattfindet, bahnt auch in der Breite der Bevölkerung den Weg zu
einer existentiellen Verinnerlichung und Individualisierung des Vertrauens
auf Gottes Beistand.
(4) Exkurs zur Frage der singulären Stellung des Monotheismus. Das
Konzept der Achsenzeit kann sich erst im Vergleich des Judaismus mit den
anderen, ungefähr gleichzeitig entstandenen religiösen oder
metaphysischen Lehren bewähren. Daher möchte ich, obwohl ich ohne
Expertenkenntnis nur auf schmaler Grundlage operieren kann, den Versuch
machen, die achsenzeittypischen Merkmale, die ich am Beispiel des – für
das abendländische Religionsverständnis maßgebenden – Monotheismus
herausgearbeitet habe, auch für die asiatischen »Religionen« und die
griechische Metaphysik nachzuweisen.[369] Nach unserer Hypothese gehen
der Buddhismus, die chi I_352 nesischen Weisheitslehren und die griechische
Metaphysik ebenso wie die jüdische Religion aus einer Umformung des
sakralen Komplexes früher Hochkulturen hervor; sie alle überschreiten den
mythischen Denkhorizont und entzaubern die Kultpraxis, indem sie diese
auf eine neue Reflexionsstufe heben. Diese Behauptung relativiert die
bekannte, ob nun affirmativ oder kritisch gemeinte Auffassung, dass der
Monotheismus unter diesen gleichzeitig entstandenen Traditionen eine
Sonderstellung innehat. Zuletzt hat Jan Assmanns Behauptung über die
singuläre Stellung des Monotheismus eine lebhafte Debatte ausgelöst. Sie
veranlasst mich zu einem kurzen Exkurs.[370]
Nur jene radikale Abkehr vom Polytheismus, die sich in Israel ereignet
hat, soll nach dieser Lesart eine menschheitsgeschichtliche Zäsur bilden. Für
den Ägyptologen Jan Assmann liegt es nahe, mit Echnatons Sonnenkult
eine zweite Linie des »Göttersturzes«, das heißt der Überwindung von
Mythos und Magie beginnen zu lassen. Diese Linie beschreibt er zunächst
als die tolerantere Alternative zur Entwicklungsgeschichte eines in seinem
theologischen Kern gewaltsamen Monotheismus: »Der eine, evolutionäre
Weg führt zu einem inklusiven Monotheismus, der nichts anderes als ein
Reifestadium des Polytheismus darstellt. Der andere, revolutionäre Weg
führt dagegen zu einem exklusiven Monotheismus, der nicht durch einen
[kontinuierlichen] Entwicklungsschritt, sondern nur durch einen
revolutionären Bruch mit allem Vorhergehenden zu erreichen ist. Nur für
diesen, exklusiven, Monotheismus gilt die Unterscheidung zwi I_353 schen
wahrer und falscher Religion.«[371] Nicht die Anknüpfung an Echnaton
muss uns hier interessieren, sondern die Kontrastierung, die Assmann
zunächst mithilfe der Oppositionsbegriffe wahr/falsch, tolerant/intolerant
und friedlich/gewaltsam zwischen persönlichen und unpersönlichen Gottes-
beziehungsweise Göttlichkeitskonzeptionen hergestellt hat. Denn unter
dem »inklusiven Monotheismus« versteht er den auch »kosmoethisch«
genannten »Glauben an die Göttlichkeit der Welt«, der das »symbiotische
Weltverhältnis« des Mythos nicht »aufkündigt«.[372] Diese
Charakterisierung soll wohl, wenn ich recht sehe, auch die in der
Achsenzeit entstandenen asiatischen Weltreligionen einschließen. Ich lasse
die spiegelbildliche These, dass die abendländische Geistesgeschichte vom
Schatten der verworfenen Alternative – des vom Monotheismus
verdrängten Kosmotheismus – begleitet worden ist,[373] auf sich beruhen
und beschrän I_354 ke mich auf den Aspekt, der in unserem Zusammenhang
relevant ist – auf den Zusammenhang der »mosaischen Unterscheidung«
mit religiöser Gewalt, die die singuläre Stellung des Monotheismus
begründen soll. Diese These hält Jan Assmann inzwischen nur noch für
Christentum und Islam aufrecht, während er das Judentum davon
ausnimmt. Am revolutionären Charakter der Sinai-Offenbarung hält er fest,
führt diese nun aber auf einen »Monotheismus der Treue« zurück.
Die These vom Ursprung der religiösen Gewalt aus dem Monotheismus
hatte zunächst den in der Tat neuen Typus einer Ablehnung fremder
Glaubenspraktiken und -vorstellungen im Auge, die mit der Kritik an
Götzendienst und Idolatrie auf den Plan getreten ist. Während die
verschiedenen Stammes-, Stadt- und Reichsmythologien ineinander
übersetzbar gewesen waren, erhob die Hebräische Bibel einen exklusiven
Wahrheitsanspruch: »Für die Juden ließ sich Jahwe nicht mit ›Assur‹,
›Amun‹ oder ›Zeus‹ übersetzen. Das haben die ›Heiden‹ nie
verstanden.«[374] Bevor wir der im strengen Monotheismus gebräuchlichen
Unterscheidung zwischen »wahrer« und »falscher« Religion alles Mögliche
zur Last legen, möchte ich eine Differenzierung zwischen verschiedenen
Anwendungen des Wahrheitsprädikats vorschlagen. Auch im
nachexilischen Israel dürfte die Ablehnung »falscher Götter«, das heißt
einer magisch-mythologischen Denkweise im Ganzen, einen anderen Sinn
gehabt haben als das »Nein« im Streit der Schriftgelehrten um die richtige
Interpretation der Bibel oder das »Nein« im Streit der Orthodoxie mit
Auffassungen, die der Häresie verdächtig sind, oder schließlich das triviale
»Nein« im alltäglichen oder diskursiven Streit um profane Aussagen
I_355 über faktische und normative Sachverhalte. In diesen Fällen handelt es
sich um eine binäre Kodierung, die eine dritte Option zwischen »Ja« und
»Nein« ausschließt. Aber die Verneinung einer Denkweise hat ein
»Negationspotential«, das reicher ist an Konnotationen als die Bestreitung
einzelner Aussagen. Worin besteht dieser polemogene
Bedeutungsüberschuss des Monotheismus – und worin unterscheidet er
sich von den übrigen achsenzeitlichen Weltbildern? Wenn ich recht sehe,
prüft Jan Assmann im Wesentlichen drei Kandidaten: den exklusiven
Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligionen (a), eine Toleranz
ausschließende Moralisierung des Heiligen (b) und als praktische
Konsequenz aus beidem das Missionsgebot von Christentum und Islam (c).
(a) Die »mosaische Unterscheidung«, auf die Assmann zunächst das
vermeintlich singuläre Gewaltpotential des Monotheismus zurückführt,
bezieht sich nicht auf die binäre Kodierung von Aussagen als wahr oder
falsch, sondern auf die Emphase, die sich mit dem Charakter göttlich
geoffenbarter Wahrheiten verbindet. Auf diese Weise kann er den
dogmatischen Charakter der Unterscheidung zwischen wahrem Glauben
und Unglauben gegen den epistemischen Charakter der parmenideischen
Unterscheidung zwischen der Erkenntnis des Seienden und der dem
Nichtseienden verhafteten Täuschung profilieren.[375] Demgegenüber ist
daran zu erinnern, dass der theoretische Wahrheitsanspruch der
Metaphysik – wie auch der anderer ostasiatischer Weisheitslehren – nicht
weniger dogmatisch und selbstimmunisierend ist als der religiöse. Ein
profilierter Gegensatz von »Glauben« und »Wissen« bildet sich, wie wir
sehen werden, erst im Zuge der Symbiose von Platonismus und
Christentum aus, und zwar in dem Maße, wie der christliche Heilsweg den
kontemplativen der Philosophie verdrängt. Solange die griechische
Metaphysik das Leben in der »Theorie« überhaupt als ihren eigenen
kontemplativen Weg zum Heil behauptet, erlaubt dieser »starke«
Theoriebegriff ebenso wenig eine fallible Einstellung gegenüber
konkurrierenden Ansätzen wie die christliche Theologie gegenüber den
»Gentiles«. Gewiss, in der Modalität der Glaubensgewissheit mag sich ein
»Wissen«, das auf überlieferte Offenbarungsquellen zurückgeht, von
je I_356 nem »Wissen« unterscheiden, das durch Kontemplation des Weltalls
oder durch meditative Versenkung ins Selbst erworben wird – auch im
Buddhismus verbindet sich ein epistemischer Heilsweg mit
Erlösungsgewissheiten. Aber alle Glaubens- und Weisheitslehren der
Achsenzeit teilen eine dogmatische Denkform. Der Unfehlbarkeitsanspruch,
mit dem religiöse und metaphysische »Wahrheiten« gleichermaßen
auftreten, erklärt sich aus dem praktischen Sinn des Heilswissens als
solchem. Denn wenn sich die achsenzeitlichen Weltdeutungen in
Heilswegen und maßgebenden Modellen der Lebensführung bewähren
sollen, müssen die entsprechenden theoretischen Überzeugungen, wie
erwähnt, den Anforderungen an die Belastbarkeit von ethisch-existentiellen
Gewissheiten genügen.
Aus meiner Sicht liegen die Phänomene, die Jan Assmann bei seiner
Deutung der zweifellos polarisierenden Folgen der monotheistischen
Ablehnung des »Heidentums« vor Augen hat, auf einer anderen Ebene. Sie
haben weniger mit dem Glaubensmodus zu tun als mit den verschiedenen
historischen Umständen, die die Unterschiede im Umgang der Gläubigen,
der Weisen und der Erleuchteten mit den überlieferten Mythen und Riten
erklären. Beispielsweise lehnt der Buddhismus die Überzeugungen und
Praktiken des brahmanischen Volksglaubens ebenso schroff ab wie der
Judaismus die in den altorientalischen Reichen verbreiteten mythischen
Erzählungen; aber jener ist eine wesentlich individuelle Heilslehre und
verbindet die Abgrenzung gegen die »heidnischen« Praktiken des
brahmanischen Opferkultes nicht mit dem politischen Schicksal eines
Kollektivs. Die Abgrenzung von anderen Religionen konnte hier nicht wie
in Israel entlang politischer Grenzen verlaufen. Konfuzius hat gegenüber
dem überlieferten Ahnenkult überhaupt eine andere Strategie gewählt:
Einverleibung statt Ausgrenzung. Er hat den Volksglauben durch ethische
Um- und Aufwertung transformiert, indem er den pietätvollen Umgang mit
den Familienangehörigen in den Katalog allgemeiner, »von Natur aus
begründeter« Pflichten aufnahm. Und die griechischen Philosophen haben
sich auf eine Auseinandersetzung gar nicht erst eingelassen, sondern sich
auf den ästhetischen Umgang der literarisch Gebildeten mit einer in Fiktion
verwandelten Götterwelt beschränkt und dafür den Preis bezahlt, dass sie
im bestehenden Poliskult keinen Fuß fassen konnten.
I_357 (b) Der einzige Aspekt, unter dem sich der strenge Monotheismus
nicht nur von Monolatrie und Polytheismus, sondern auch von allen
kosmozentrisch angelegten Religionen der Achsenzeit unterscheidet, ist
eine Zuspitzung der binären Unterscheidung zwischen gut und böse:
Singulär ist die Vorstellung des radikal Bösen, die sich nicht schon aus der
deontologischen Auffassung der Moral als solcher ergibt, sondern erst aus
einer an die Dimension der Heilsgeschichte gebundenen Eschatologie. Die
gnostische Macht Luzifers als des Gegenspielers zu Gottes rettenden
Interventionen spielt freilich erst im Christentum eine Rolle. Andererseits
hat die Frage, ob sich mit dem »Kampf gegen das Böse« ein spezifisches
Aggressionspotential verbinden könnte, das allen anderen Religionen fehlt,
wenig mit der problematischen Aussage zu tun, dass der Aufkündigung des
»symbiotischen Weltverhältnisses« – die für die Achsenzeit im
Allgemeinen charakteristisch ist – eine dem Monotheismus eigene Gewalt
innewohne. Eine zunächst am Judentum erläuterte »Moralisierung des
Heiligen« wird uns auch als ein prägnanter Zug der anderen
achsenzeitlichen Weltbilder begegnen. In der Ablehnung des Heidentums
aktualisiert sich ein, wie ich vermute, im kognitiven Gefälle gegenüber
Mythos und Magie begründetes Negationspotential. Gewiss, in der Welt der
frühen Hochkulturen hat das geteilte mythologische Weltverständnis eine
Basis für die Unterstellung geboten, dass andere Völker im Lichte ihrer
Mythen dasselbe meinen, was das jeweils eigene Volk im Lichte seiner
Mythen meinen konnte. Aber diese gemeinsame Basis zerbricht aus
Gründen, sodass eine Rückkehr zur monolatrischen oder polytheistischen
Denkweise weder möglich noch wünschenswert war.[376] In Anbetracht der
Tatsache, dass die Moralisierung von Heil und Unheil zur Abschaffung der
mythischen Gewalt des Opferkults geführt hat, verliert der Vorwurf der
monotheistischen Entfesselung von Gewalt aus entwicklungsgeschichtlicher
Sicht seine Plausibilität. Wie Assmann selbst feststellt, bedeutet in dieser
Hinsicht die Einsetzung Gottes zum moralischen Gesetzgeber – im
Vergleich zu der Fusion von Heil und Herrschaft in den sakralen
Königtümern der frühen Hochkulturen – einen »Befreiungsschlag«.[377]
I_358 Ich vermute, dass dem Verdacht gegen die Moralisierung des
Heiligen ein ungeklärter Toleranzbegriff zugrunde liegt – und eine
nichtkognitivistische Auffassung der Moral, die verkennt, dass mit dem
moralischen Universalismus des achsenzeitlichen Denkens die kognitiven
Voraussetzungen für einen toleranten Umgang mit weltanschaulichem
Pluralismus überhaupt erst entstehen.[378] Um fremde Denkweisen und
andere ethische Auffassungen zu tolerieren, die wir aus der jeweils eigenen
Sicht als falsch ablehnen, ist eine Basis von gemeinsamen Überzeugungen
nötig, die eine reziproke Anerkennung im Umgang miteinander
ermöglichen. Die Moral der gleichen Achtung aller als Basis für einen
ernstlich toleranten Umgang mit kulturellen und weltanschaulichen
Differenzen, die sich mit der wachsenden Komplexität der Gesellschaften
unvermeidlich vertiefen und vervielfältigen, bildet sich gewiss erst mit den
säkular begründeten Verfassungsgrundsätzen liberaler Demokratien heraus.
[379] Aber aus dieser Perspektive setzt sich ein Monotheismus, der mit dem

moralischen Universalismus über das für einen toleranten Umgang


erforderliche kognitive Potential verfügt, dem Verdacht der Ermöglichung
von Intoleranz und Gewalt am wenigsten aus.[380] Allerdings belegen die
Religionskriege zwischen monotheistischen Religionen und Konfessionen
zur Genüge, wie hoch die erst in der westlichen Moderne überwundene
Schwelle war, die genommen werden musste, um die Moral aus ihrer
achsenzeitlichen Fusion mit dem nur in partikularer Gestalt auftretenden
»Heiligen« zu lösen. Andererseits konnte sie nur in der universalistischen
Gestalt, die sie in dieser Verbindung schon angenommen hatte, über die
Grenzen der jeweils eigenen Religions- oder Konfessionsgemeinschaft
hinausgreifen. Auf diesen wahren Kern schrumpft die Gewaltthese, um
deren richtige Lokalisierung es mir geht, zusammen.
(c) Im Verlauf der Diskussion hat Jan Assmann die ursprüngliche These
in mehrfacher Hinsicht qualifiziert. Wie wir gesehen haben, I_359 ist die
Hebräische Bibel nicht aus einem Guss; sie spiegelt einen Prozess der
Verarbeitung archaischer Überlieferungen wider. Die Gewalttexte, die sich
darin auch finden, hat das Judentum selbst, wie Assmann feststellt, »nie in
historische Gewalt umgesetzt«.[381] Das Judentum kennt zudem kein
Missionsgebot, das für die christlichen Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen
und Pogrome oder die islamischen Eroberungen eine notwendige
Bedingung gewesen ist.[382] Allerdings möchte Jan Assmann nun in der
Hebräischen Bibel zwei verschiedene Traditionslinien unterscheiden, von
denen die eine den Universalismus des Christentum vorbereitet und dessen
missionarischen Geist inspiriert haben könnte. Dem jüngeren, von Jesaja
und Daniel vertretenen »Monotheismus der Wahrheit«, dem es um den
Gott der Schöpfung und die universale Gerechtigkeit unter den Menschen
geht, stellt er einen offenbar älteren, um die Figur des Moses kreisenden
»Monotheismus der Treue« gegenüber, dem es vor allem um die Befreiung
und das partikulare Heilsschicksal des jüdischen Volkes geht.[383] Auf diese
Weise verteilt Assmann die beiden im Bundesgedanken verschränkten
Gedankenkomplexe, die sich um die Ideen von »Gerechtigkeit« und »Heil«
kristallisieren, auf verschiedene Traditionen, auch wenn diese sich in der
weiteren Geschichte des rabbinischen Judentums vermischen: »Der
partikulare Monotheismus I_360 der Treue und der universale
Monotheismus der Wahrheit existieren in dem komplexen, vielstimmigen
Kanon der biblischen Schriften nebeneinander, wobei der Monotheismus
der Treue den Cantus firmus bildet.«[384] Die beiden Monotheismen sollen
sich auch in dem Ziel unterscheiden, gegen das sich ein religiöses
Gewaltpotential gegebenenfalls richtet. Während sich die missionarische
Verbreitung einer exklusiven Wahrheit potentiell aggressiv nach außen
richtet, ergibt sich aus der selbstbezogenen Perspektive der auf das jüdische
Volk allein konzentrierten Lehre allenfalls eine homogenisierende Tendenz
zur »Schließung der eigenen Reihen«. Die irritierenden und berüchtigten
Aufrufe zur Gewalt gegen Kanaaniter und andere Ureinwohner des
Gelobten Landes begreift Assmann nicht als Relikte einer älteren
Überlieferungsstufe, sondern als Konsequenz eines durch Treue
zusammengeschweißten Gottesbundes.[385]
Die beiden Strömungen sollen sich nicht nur durch die Deutung der
binären Kodierung – wahr/falsch versus Treue/Verrat – unterscheiden,
sondern vor allem in der Abstraktionsstufe der Gottesvorstellung: Der
mosaische Bund soll sich derart auf das konkrete Schicksal, die Erwählung,
die Mission und die Erlösung des heiligen Volkes konzentriert haben, dass
sich auch die Beziehung zum göttlichen Vertragspartner als ein konkretes,
weltimmanentes Verhältnis der Monolatrie begreifen lässt. Für die eigene
Nation soll es daher ohne Bedeutung gewesen sein, dass der mosaische Gott
noch andere Götter neben sich hatte. Damit streitet Assmann dieser
Traditionslinie des Judaismus genau den Durchbruch zur Transzendenz
Gottes ab, die doch den zentralen Gedanken dieser Religion und den Kern
ihrer Wirkungsgeschichte ausmacht. Meine Zweifel an dieser These stützen
sich auf das bereits oben vorgetragene Argument, dass die Konstruktion des
Bundes schon aus begrifflichen Gründen die Transzendenz Gottes
voraussetzt.[386]
I_361 3. Buddhas Lehre und
Praxis
(1) Da der Buddhismus wichtige Konzepte wie die Seelenwanderung (und
die entsprechenden Grundbegriffe von »Karma«, »Dharma« und
»Samsara«) der Vorstellungswelt der Upanishaden des siebten und sechsten
vorchristlichen Jahrhunderts entnommen hat, will ich auf den
Brahmanismus (aber nicht den Hinduismus)[387] wenigstens insoweit
eingehen, wie er zum prägenden historischen Hintergrund der
buddhistischen Lehre gehört. Im nördlichen Gangestal, also im Gebiet des
heutigen Pakistans, hatte vor der Einwanderung der vedischen Arier eine
Kultur bestanden, deren Blütezeit auf die erste Hälfte des zweiten
Jahrtausends v. Chr. datiert wird. Die archäologischen Kenntnisse von
dieser Induskultur sind spärlich; heute vermutet man, dass sich diese auf
Weizen- und Hirseanbau basierte Stadtkultur mit ihrem hochentwickelten
Kanalsystem, auch wenn von ihr keine schriftlichen Zeugnisse überliefert
sind, nicht grundsätzlich von den Zivilisationen des Vorderen Orients
unterschieden hat.[388] Nach dem Verfall dieser Kultur hat die (um 1500 v. 
Chr.) aus dem Nordwesten einsetzende Einwanderung der »Arier«, eines
indoeuropäischen Hirtenvolkes, erneut zur Gründung von kleinen
Stadtstaaten geführt. Daraus ist um die Wende zum ersten vorchristlichen
Jahrtausend die bis in die Gegenwart hineinreichende indische
Kastengesellschaft entstanden. Im Laufe der Zeit haben sich die drei
privilegierten Stände, der »zum Dienen geborene« vierte Stand und die
Parias zu einer Stufenfolge von mehreren tausend Kasten ausdifferenziert.
[389] Dieses starke hierarchische Gefälle einer relativ undurchlässigen

sozialen Schichtung definierte sich nach religiösen Merkmalen, nämlich


über den selektiven Zugang zu beziehungsweise den Ausschluss von jenen
Heiligtümern, welche die Priester verwalteten. Die Priesterschaft der
Brahmanen, die sich vornehmlich I_362 aus den arischen Einwanderern
rekrutierte, besetzte auf dem Wege der Monopolisierung des
hochspezialisierten Wissens der Kultpraxis auch die übrigen
Herrschaftspositionen. Ebenfalls um die Wende zum ersten vorchristlichen
Jahrtausend ist dann das weiterhin oral, aber ziemlich wortgetreu
überlieferte religiöse Wissen kanonisiert worden.
Die vier großen Sammlungen dieser Veden (indogermanisch: »Wissen«
oder »Weisheit«), die erst viele Jahrhunderte später – man vermutet zuerst
um 500 v. Chr. – in Sanskrit festgehalten und systematisiert worden sind,
sind Kompilationen aus einer großen Zahl von Ritualformeln und Hymnen.
Die Priestergesänge und Handlungsanweisungen für den Kultus sind also
im Kernbestand ein Ritualwissen, das nicht für die religiösen Laien
bestimmt war: »Diese Hymnen dienen nicht primär religiöser Erbauung,
sondern sind selbst Texte des Opferrituals und anderer religiöser Akte.«[390]
Erst die Upanishaden (zwischen 800 und 600 v. Chr.) eröffnen gegenüber
dieser nach wie vor von Mythos und Magie bestimmten Überlieferung eine
neue spekulative Weltsicht; dabei handelt es sich um arkane
Offenbarungsweisheiten, die oft die Form von Dialogen zwischen
Weisheitslehrern und Novizen annehmen (und unter anderem als Vorbild
für die platonischen Dialoge angesehen werden). Die älteste, die
Brihadaranyaka-Upanishad, wird auf das späte achte vorchristliche
Jahrhundert oder den Beginn des siebten, also auf einen deutlich
vorbuddhistischen Zeitraum datiert, während die Entstehungszeit anderer
wichtiger Texte ins fünfte und vierte Jahrhundert hineinreichen, sodass eine
Überlappung mit der Lebenszeit Buddhas nicht ausgeschlossen ist. In
diesen, einer gebildeten Schicht von Brahmanen und Fürsten vorbehaltenen
philosophischen Geheimlehren (die als ergänzender Bestandteil der
Vedenliteratur überliefert wurden) bahnt sich bereits eine bemerkenswerte
kognitive Wende an.
Der Durchbruch zum Monismus vollzieht sich hier nicht in Gestalt der
historischen Verheißung eines alle politischen Verhältnisse auf Erden
transzendierenden Gottesreiches, sondern auf dem Wege der
Ontologisierung des Heiligen in Gestalt einer unpersönlichen, alle
natürlichen Erscheinungen fundierenden und beherrschenden
All I_363 einheit.[391] Das religiöse Denken kreist um »Brahman«, den
Wesensgrund der Welt, der als das Einheit stiftende und alles bewirkende
Prinzip von den sinnlichen Erscheinungen in der Welt differenziert wird:
»Das Brahman ist jenes Bleibende, das hinter dem gesprochenen Wort liegt,
das Unsichtbare, Unhörbare, nicht Tastbare, aber eigentlich Wirksame, das
allem Dasein zugrunde liegt.«[392] Eine gewisse Verwandtschaft scheint mit
dem platonischen Begriff der Weltseele zu bestehen. Das Brahman wird als
das umfassende kosmische Bewusstsein eines depersonalisierten Selbst
gedacht. Es korrespondiert mit und spiegelt sich im »Atman«, dem jeweils
eigenen, introspektiv zugänglichen individuellen Bewusstsein des Weisen –
aber nur so lange, wie dieser noch nicht zu der erlösenden Einsicht gelangt
ist, dass »an sich« Brahman und Atman dasselbe sind. Die erlösende
Verschmelzung des Atman mit der Alleinheit des Brahman ist das Ziel eines
Heilsweges, der aus dem frustrierenden Kreislauf des schmerzlichen, dem
Materiellen und der Begierde verhafteten Menschenlebens herausführt. Den
Weg selbst markieren Stufen eines reflexiv die Verblendung der
Individuierung überwindenden Erkenntnisprozesses, der über meditative
Übungen, also über eine Disziplinierung des Körpers und des Geistes, zur
Erleuchtung führen soll.
Diese kosmotheistische Konzeption begegnet freilich einem Problem, das
der Monotheismus gleichzeitig mit dem Abstraktionsschritt zu einem
transzendenten Gott hat lösen können. Während im Judentum zwischen
dem Schöpfer- und Erlösergott einerseits und dem für alle Gläubigen
verbindlichen moralischen Gesetzgeber andererseits eine Personalunion
besteht, verbindet sich die brahmanische Spekulation über einen
unpersönlichen Weltengrund zunächst nur mit einem selbstreflexiv nach
innen gekehrten epistemischen Zugang zum Göttlichen, der sich als Heilsweg
für religiöse Virtuosen, für Gelehrte, Priester und gegebenenfalls
eingeweihte Fürsten eignet. Diese rituell geschulte Selbstreflexion mochte
sich in vielen Fällen mit dem Rückzug der meditierenden Person von der
Welt, mit sexueller Enthaltsamkeit und asketischer Lebensweise verbinden;
und der meditativen Ablösung von einer getriebenen leiblichen
Exis I_364 tenz entsprach ein vornehmes Ethos von Selbstbeherrschung,
Sanftmut und Ataraxie. Aber ein auf Wenige zugeschnittener epistemischer
Heilsweg hätte für das Ethos der übrigen Kasten – ganz zu schweigen vom
»unterständischen« Volk – keine breitenwirksamen praktischen Folgen
haben können. Offenbar sind auch im Indien des siebten und sechsten
vorchristlichen Jahrhunderts die moralischen Sensibilitäten mit den
Erscheinungen und diskriminierenden Praktiken einer hochstratifizierten
Kastengesellschaft in Widerspruch geraten. Die Philosophie der
Upanishaden tut jedenfalls einem wachsenden Gerechtigkeitsbedürfnis
dadurch Genüge, dass sie mit der Ontologisierung des Heiligen eine
Konzeption verbindet, welche die krassen sozialen Unterschiede moralisch
rechtfertigt. Sie findet für dieses Problem eine geniale Lösung mit der
physikoethischen Konzeption der Seelenwanderung.[393]
Nach dieser Lehre ist der Kosmos so verfasst, dass sich die Eschatologie
nicht als Heilsgeschichte, sondern in Gestalt einer physikalisch
gesetzmäßigen Evolution vollzieht. Nach der Verwandlung des Brahman in
eine transzendente Größe führen die Upanishaden mit der Lehre vom
Karma eine zweite Neuerung in die vedische Tradition ein. Diese
Konzeption verankert das Walten absoluter Gerechtigkeit in den Gesetzen
der Naturzyklen selbst. Demnach löst sich nach dem Tod der Person die
Seele von dem Leib, in dem sie bis dahin inkarniert war, und steigt in der
naturgegebenen Hierarchie der mehr oder weniger erstrebenswerten
Existenzformen auf oder ab, und zwar eine jede Person jeweils nach
Maßgabe der moralischen Qualität der bisherigen Lebensführung. Aus der
Verteilung der karmischen Energie folgt nämlich naturnotwendig die streng
meritokratische Aufrechnung der im Laufe eines Lebens akkumulierten
guten und schlechten Intentionen und Handlungsweisen mit den verdienten
Belohnungen und Strafen. Auf diese Weise ließen sich mit der
I_365 Seelenwanderung auch die moralisch beunruhigenden sozialen
Ungerechtigkeiten erklären und legitimieren. Diese bemerkenswerte
Theoriekonstruktion gelingt mithilfe von zwei Grundbegriffen, die – wie
alle metaphysischen Begriffe – gleichzeitig normativ ausgezeichnete und
kausal wirksame Zusammenhänge beschreiben.
»Dharma« bedeutet die ewige kosmische Ordnung, die sowohl den
Prozessen der Natur wie den rituellen Handlungen der Priester und den
Lebensformen der verschiedenen Kasten ihre Gesetze vorschreibt. »Karma«
ist der Ausdruck für eine im Kosmos zerstreute Energie, die in der Kette der
Wiedergeburten für eine unparteiliche Verteilung von moralisch
erworbenen Verdiensten sorgt. Die Probleme des ungerechten Leidens
rechtschaffener Personen und der ungleichen Verteilung irdischer
Glücksgüter werden durch die Konzeption einer ausgleichenden
Gerechtigkeit gelöst, die über Generationen und Artenschranken hinweg
greift: In der Folge der Generationen findet sich jede Seele auf der
mineralischen oder organischen Seinsstufe beziehungsweise in der sozialen
Stellung wieder, die dem Kontostand ihrer in früheren Leben angesparten
oder verspielten moralischen Verdienste genau entspricht: »Wo Handeln
nur aus Selbstsucht oder Bosheit stattfindet, führt es zur Befleckung und
Verdunkelung der ihrer Natur nach lichthaften Seele und ihrer
Wahrnehmungsorgane. Wo dagegen selbstlos, aus Güte oder aus der
Erkenntnis einer Notwendigkeit gehandelt wird, führt die karmische
Prägung zu größerer Reinheit«.[394]
Der kognitive Schub, der sich in den Upanishaden spiegelt und den
Brahmanismus wenigstens im Kreise der religiösen Eliten in Richtung eines
achsenzeitlichen Weltbildes verändert, scheint freilich noch keinen
expliziten Bruch mit dem vedischen Pantheon und dem traditionellen
Opferkult bedeutet zu haben. Ganz abgesehen von den üblichen
Begleitphänomenen der »heidnischen« Praktiken, die sich in allen
Volksreligionen wiederfinden, scheint sich trotz der philosophisch
fortgeschrittenen Lehren der Upanishaden im Alltag nicht viel an den
magischen Riten und der Vielgötterei geändert zu haben. Selbst dort, wo
eine weiter vorangetriebene Abstraktion die Hochgötter Vishnu und Shiva
dem attributlosen Brahman unterordnet, I_366 fehlt der konsequente Schritt
zu einer unmissverständlich atheistisch-monistischen, ausschließlich auf
eine unpersönliche Einheit zugeschnittenen Konzeption. Vom
Brahmanismus lässt sich allgemein feststellen, dass diese Tradition über
einen reichen Kanon heiliger Schriften verfügt, während die theologische
Neigung zu einer dogmatischen Klärung und Systematisierung der
verschiedenen Lehren eher schwach ausgeprägt ist. Auch damit mag es
zusammenhängen, dass hinduistische Strömungen bis heute vor dem
gemeinsamen polytheistischen Hintergrund zwischen stärker pantheistisch
oder monotheistisch geprägten Auffassungen schwanken. Obwohl sich die
Anhänger der Upanishaden von dem hochritualisierten Opferkult des
überlieferten Brahmanismus gelöst und auf Yoga als meditativen Heilsweg
umgestellt hatten, fehlte der moralische Anstoß zu einem egalitären
Universalismus, der mit einer radikalen Entzauberung der Kultpraxis Hand
in Hand geht. Gewiss, die Karmalehre fördert mit der Auffassung, dass jede
Person ihr Schicksal selbst in der Hand hat, das Bewusstsein der
Autonomie. Aber ganz abgesehen von der Ambivalenz einer solchen, leicht
ins Hybride umschlagenden Selbsteinschätzung, die seinerzeit tatsächlich
kritische Vorbehalte hervorgerufen hat,[395] fehlt der Sorge des
meditierenden Weisen um das je eigene Heil die moralische Dimension der
Verpflichtung gegenüber dem Heilsschicksal anderer Personen. Der auf den
epistemischen Zugang zum Göttlichen beschränkte Heilsweg führt zwar aus
Sicht der Beteiligten durch das Tor des je eigenen Bewusstseins hindurch
zum erlösenden Telos der Erleuchtung. Aber darin ist, solange sich das
Heilsversprechen nicht gleichermaßen auf alle Personen erstreckt, ein
Egozentrismus angelegt, der sich mit dem Partikularismus einer
Kastengesellschaft arrangieren konnte.[396]
Die brahmanische Tradition hat sich später unter dem Konkurrenzdruck
von Buddhismus, Jainismus und anderer Reformbewegungen
weiterentwickelt; aber bis zu diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung
I_367 gewissermaßen auf dem halben Wege zur achsenzeitlichen
Revolutionierung der Denkungsart stehen geblieben.[397] Auf die weitere
Entwicklung des Hinduismus, der heute die drittgrößte unter den
Weltreligionen darstellt, kann ich nicht eingehen. Es war der Buddhismus,
der in Indien die entscheidende kognitive Wende herbeigeführt hat. Freilich
hat er sich in der indischen Gesellschaft nicht auf Dauer durchgesetzt,
sondern seine größte Verbreitung in anderen Ländern, vor allem in Sri
Lanka und Südostasien, in Tibet, der Mongolei, China und Japan gefunden.
Ein kognitiver Schub ist nicht ortsgebunden, der Geist weht, wo er will.
Diese alttestamentarische Weisheit gilt, mit Ausnahme des Konfuzianismus,
der an seine Herkunftsregion gebunden blieb, für alle Weltreligionen.
(2) Buddha hat die Offenbarungsautorität, die Brahmanen der vedischen
Überlieferung zuschreiben, abgelehnt. Er hat die religiöse Bedeutung der
Kasten geleugnet und die Klöster und die Gemeinden der Laienanhänger für
alle sozialen Schichten geöffnet; er hat sich energisch gegen die magischen
Prämissen und die Ziele der brahmanischen Opferrituale gewendet und eine
radikale Moralisierung der Seelenwanderungslehre vorgenommen. Um diesen
Bruch mit der brahmanischen Tradition und mit der Halbherzigkeit der
philosophischen Geheimlehren zu verstehen, müssen wir auf den
moralischen Gründungsimpuls der neuen Lehre und auf die historisch
beispiellose Rolle des Wanderpredigers Siddhartha Gautama
zurückkommen: Er ist der erste Religionsstifter, dessen Person und Leben
geschichtlich belegt ist. Nicht die Lebensdauer, aber die Geburts- und
Todesdaten sind bis heute umstritten; in dieser Hinsicht weichen die
Hypothesen um mehr als ein Jahrhundert voneinander ab. Während man
lange Zeit von einer achtzigjährigen Lebenszeit um die Periode zwischen
560 und 480 v. Chr. ausgegangen war, schließen heutige Historiker aus
verschiedenen Quellen auf die Periode zwischen 450 und 370 v. Chr., sodass
der Buddha Shakyamuni I_368 ein etwas jüngerer Zeitgenosse von Sokrates
(470-399) gewesen wäre.[398]
Das neue indische Denken entstand im Schatten der damals jungen
Königreiche Kosala und Magadha während einer Zeit tiefgreifender sozialer
Umbrüche.[399] Die wirtschaftliche Mobilisierung im Gefolge neuer
Handelsstraßen und eine neue Welle von Stadtgründungen haben damals
die traditionellen Lebensverhältnisse erschüttert und somit ein Milieu
geschaffen, das intellektuelle Unruhe und religiöse Erweckung fördert: »Der
Buddhismus kann als Antwort einer der zahlreichen Asketenbewegungen
auf die rasante Bewegung der Urbanisierung der Gesellschaften
Nordindiens verstanden werden, durch die zahlreiche Menschen sozial,
lokal und kultisch entwurzelt wurden.«[400] Unter politisch-geographischen
Gesichtspunkten betrachtet, hat diese Lehre einen eher peripheren
Ursprung in der Gegend des heutigen Gorakhpur. Gautama selbst ist
(vermutlich) in Lumbini (im heutigen Nepal) geboren und wuchs in
Kapilavastu, der Hauptstadt der kleinen Adelsrepublik der Shakya, auf. Sein
Vater war ein Raja (Fürst), der als Vertreter des Königs von Kosala die
Geschäfte der heimischen Ratsversammlung führte. Gautama stammt also
aus einer Familie, die in diesen überschaubaren Verhältnissen Reputation
und Einfluss genoss, wobei die Region damals eher am Rande des
kulturellen Einflusses der brahmanischen Zentren lag. Der Legende nach
hatte der im Luxus der Oberschicht aufgewachsene und verwöhnte Jüngling
ein Konversionserlebnis, das durch schockierende Begegnungen mit Armut
und Elend, mit körperlicher Hinfälligkeit, Krankheit und Greisenalter
motiviert war. Wie erwähnt, machten die legendären Ausfahrten den
jungen Gautama mit der Obszönität des Leidens bekannt und belehrten ihn
über die Nichtigkeit der irdischen Existenz zwischen Geburt und Tod.[401]
Sie sollen den Anstoß zu einer radikalen Abkehr vom höfischen Leben der
Familie gegeben haben. Nach verzweifelten Versuchen der rituellen
I_369 Selbstreinigung, der Askese und der Absonderung führte schließlich
die Meditation den suchenden, in sich gekehrten jungen Mann – nach
bestandenen »Versuchungen« – zum emanzipierenden »Erwachen«. In der
Predigt von Benares verkündet der Buddha als das Ergebnis dieses
schmerzhaften Lern- und Reifungsprozesses die »Vier Edlen Wahrheiten«
und den »Edlen Achtfachen Pfad«.[402] Gautama werden nach dem
Erlangen des Buddhastatus die Worte zugeschrieben: »Wird aber das
Nichtwissen aufgehoben unter restloser Vernichtung des Begehrens, so
bewirkt dies die Aufhebung der Gestaltungen; durch Aufhebung der
Gestaltungen wird das [gewöhnliche, unerleuchtete] Erkennen aufgehoben;
durch Aufhebung des Erkennens werden Name und Körperlichkeit
aufgehoben […]; durch Aufhebung der Geburt werden Alter und Tod,
Schmerz und Klagen, Leid, Kümmernis und Verzweiflung aufgehoben.
Dieses ist die Aufhebung des ganzen Reiches des Leidens.«[403]
Fortan führte der Buddha das Leben eines Wanderpredigers,
Ordensgründers und Mönches. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass
das zur Heiligenlegende ausgestaltete Leben Buddhas – wie später das Leben
Christi – den sittlichen Grundimpuls einer hochkomplexen Lehre in der
Gestalt eines universalistischen Ethos der selbstlosen Barmherzigkeit und
des Mitleidens mit allen Lebewesen verkörpert. Gläubigen aus allen
Bevölkerungsschichten war dieses Modell zur Nachahmung empfohlen.
Dieses Leben stellte eine auch exoterisch einleuchtende Verbindung
zwischen der moderaten Weltflucht des reflexiv nach innen gekehrten
epistemischen Zugangs zum Heilsziel und dem Weg einer
universalistischen, von Sanftmut und Ehrfurcht vor dem Leben geprägten
Mitleidsethik dar. Der »Achtfache Pfad«, auf dem Buddha der
erlösungsbedürftigen Menschheit vorangegangen sein soll,[404] verknüpft
Meditation mit sittlichem I_370 Handeln, also die Geistesschulung, die
Versenkung und das Ziel der befreienden Weisheit mit einer ethisch
anspruchsvollen Lebensführung. Auf diese Weise vollzieht sich eine
Moralisierung des Heiligen auch im Buddhismus. Ohne die lebenslang
geübte Praxis der gütigen und heilenden Hinwendung zu allen Lebewesen
kann die egozentrische Abhängigkeit von Gier und Hass und die Illusion
eines beständigen Selbst nicht überwunden werden: »[D]er Buddhismus ist
keineswegs nur Philosophie der Weisheit, wobei der Ethik (sila) nur eine
propädeutische, nicht aber soteriologische Funktion zukommen würde,
sondern die Ethik ist konstitutiv für das Verständnis des buddhistischen
Lebenszieles, des nirvana.«[405]
Der buddhistische Heilsweg führt also einen epistemischen Zugang zum
Göttlichen mit einem universalistischen Ethos zusammen. Das spiegelt sich
in der sozialen Differenzierung der Glaubensgemeinschaft in Mönche und
Laien. Mit den Klöstern entsteht nicht nur eine neue Organisationsform und
eine neue Art von religiösen Spezialisten, sondern auch eine neue religiöse
Schichtung zwischen Ordensmitgliedern und Laien, die den anderen
Weltreligionen fremd ist und auch erst durch den Import des Buddhismus
nach China gelangt. Erst im Rahmen der römisch-christlichen
Kirchenorganisation wird diese Organisationsform Nachahmung finden.
Andererseits ist die buddhistische Lehre inklusiv angelegt. Auch wenn
Mönche und Nonnen nach strengeren Regeln leben und die Freiheit
genießen, sich auf systematische Weise der Meditationspraxis zu widmen,
weist das großherzige Ethos der Freundlichkeit und des Mitleidens allen
Gläubigen denselben Weg zum Heil. Auch die Laien streben nach einer
guten Wiedergeburt, nach Annäherung an das ersehnte Ziel, das
Emanzipation vom Kreislauf des Lebens und ein Aufgehen im Nirwana
verspricht. Dem Buddhismus fehlt jener elitäre Zug eines privilegierten, nur
den Wenigen vorbehaltenen Zugangs zur Wahrheit, der typisch ist für die
griechische Philosophie. Der Mahayana-Buddhismus, der sich seit dem
ersten vorchristlichen Jahrhundert aus den Spaltungsprozessen der unter
Kaiser Ashoka zunächst konsolidierten Lehre herausbildet, hat diesen
inklusiven Sinn der Heilsbotschaft durch Einführung des bodhisattva-Ideals
mas I_371 senwirksam verstärkt: Der selbstlos handelnde Heilige, der das
Stadium der Erleuchtung erreicht hat, verschiebt aus Solidarität mit den
weniger Glücklichen seinen Eintritt ins Nirwana, um zunächst anderen auf
ihrer Suche nach dem Heil zu helfen.[406]
Der Zug zu einer Ontologisierung des Heiligen macht in allen
kosmozentrischen Lehren zunächst die Struktur des Seienden im Ganzen
zum vorrangigen Thema. In Indien, China und Griechenland genießt die
theoretische Erkenntnis, ob sie nun meditativ nach innen, dem eigenen
Bewusstseinsgeschehen zugekehrt oder auf pädagogische Umsetzung
angelegt oder kontemplativ nach außen auf die Natur gerichtet ist, Vorrang
vor der praktischen Vernunft. Der epistemische Zugang zum Göttlichen ist
nicht unmittelbar praktisch, er ist mit dem Heilsweg, also dem erlösenden
Weg zum Telos des Weltengrundes – des Nichts, der Mitte oder des Seins –
nicht identisch. Wo der göttliche Gesetzgeber fehlt, müssen die Normen der
Lebensführung erst aus der Verfassung des Kosmos abgeleitet werden. Im
Gegensatz zur brahmanischen Überlieferung ist allerdings das buddhistische
Lehrgebäude von Anfang an systematisch durchgearbeitet und
philosophisch ausgestaltet worden. Es zieht bis heute auch das theoretische
Interesse westlich geschulter Philosophen auf sich.[407] Vielleicht ist es
diesen strengeren Konsistenzforderungen geschuldet, dass der Buddha an
den Geheimlehren der Upanishaden zwei tiefgreifende Korrekturen
vornimmt: Er bestreitet die Substantialität und Ewigkeit der individuellen
Seele, die dem Brahmanismus zufolge ihre Identität im Laufe der
Wiedergeburten nicht verändert; und er begreift das ontologisierte Heilige,
das alles Seiende transzendiert und ihm zugrunde liegt, nicht mehr als
Brahman, als das Alles umgreifende Eine, sondern als die absolute Leere, die
nur durch die schrittweise Negation alles Seienden und Aussprechbaren
einzukreisen ist. Die eine Weichenstellung zieht die andere nach sich. Die
konsequente Leugnung der Unsterblichkeit individueller Seelen legt die
Interpretation des Brahmans als dem Nirwana nahe, worin alle Ich-
Verblendungen verlöschen.
Die in unerhörten Details ausgearbeitete brahmanische Konzeption
I_372 des Dharma bleibt insoweit erhalten, als die moralischen Vorschriften
– ganz ähnlich wie im stoischen Naturrecht – in der Struktur der Welt
selbst verankert werden. Der Buddha übernimmt in wesentlichen Zügen
auch die Konzeption des Karma und des Kreislaufs der Geburten (Samsara),
zieht allerdings daraus die moralisch bemerkenswerte Konsequenz, dass die
Androhung von Höllenstrafen sinnlos ist. Wenn die Einstufung der
Wiedergeburt dem tugendhaften oder bösen Leben auf dem Fuße
automatisch folgt, bleibt kein Platz für Hölle und ewige Verdammnis.[408]
Vor allem scheint der Buddha gesehen zu haben, dass die beiden genannten
Konzeptionen nicht ausreichen, um eine interne Verbindung herzustellen
zwischen einer egozentrisch geübten, auf das je eigene Heil ausgerichteten
Meditationspraxis einerseits und dem universalistischen Mitleidsethos, das
ein gleichmäßiges Interesse für das Heil eines jeden fordert, andererseits. In
der Lehre der Upanishaden fehlt ein Äquivalent für die Unbedingtheit des
vom transzendenten Gott geforderten absoluten Gehorsams. Hier hatte ja
diese deontologische Dimension der Gesetze die moralischen
Verhaltensorientierungen des Gläubigen vom Egozentrismus der Suche
nach dem persönlichen Heil entkoppelt.
Die meditative Versenkung verliert, ungeachtet ihres Ziels des Aufgehens
in einer impersonalen Alleinheit, ihren narzisstischen Charakter erst
dadurch, dass jeder den eigenen Prozess der Annäherung ans Heil als
solidarischen Beitrag zu einem allgemeinen und inklusiven, alle
erlösungsbedürftigen Lebewesen gleichmäßig einbeziehenden Heilsprozess
begreift. Die Lücke, die im Brahmanismus zwischen der Orientierung am
eigenen Heil und der Solidarität mit dem Heil der anderen klafft, wird im
Buddhismus durch einen »Schleier des Nichtwissens« geschlossen. Sobald
im festgehaltenen Rahmen der Karmalehre die Annahme der
Unsterblichkeit der individuellen Seele entfällt, fehlt dem Gläubigen die
Gewissheit über die soteriologischen Konsequenzen der jeweils eigenen
Heilsbemühungen. Sobald der Gläubige akzeptiert, dass seine eigene Seele
mit dem Eintreten des Todes ebenso zerfällt wie deren organisches Substrat,
fehlt für eine meritokratische Zurechnung der individuell erworbenen
I_373 Verdienste ein eindeutiger, über den jeweils eigenen Tod
hinausreichender Referenzpunkt: »[D]urch die Meditation über die
Irrealität der Person zerstört man den Egoismus von seinen Wurzeln
her.«[409] Mit der Preisgabe des Substanzbegriffs der Seele entfällt zugleich
die Möglichkeit, das ontologisierte Heilige nach dem Modell des eigenen
Selbst als Weltbewusstsein zu denken. Gewiss, schon im Brahmanismus
geht die Individuierung auf eine Verblendung zurück, die sich für das
Individuum am Ende der unbestimmt vielen Zyklen von Geburt und
Wiedergeburt als die hartnäckigste Illusion erweist. Aber diese Illusion
ewiger Seelensubstanzen bleibt für alle Generationen, also für die Dauer des
gesamten Heilsprozesses in Kraft. Und die eschatologische Frage, ob dieser
Prozess überhaupt einmal zu einem Ende gelangen wird, an dem alle Seelen
erlöst sein werden, bleibt in den brahmanischen Lehren unbeantwortet.[410]
Auch der Buddha gibt darauf keine eindeutige Antwort.[411] Die
heilsgeschichtliche Denkweise – mit dem Telos des jüngsten Tages – bleibt
dem zyklischen Denken der Inder fremd. Im Buddhismus bleibt eine gewisse
Spannung zwischen dem Eschaton der Erlösung aller Lebewesen einerseits,
der Anfangs- und Endlosigkeit allen kosmischen Geschehens andererseits
erhalten. Der Heilsprozess vollzieht sich eben nach einem kosmischen
Gesetz und nicht in der Dimension der Geschichte.
Der Buddhismus denkt kosmologisch, auch er muss daher die spekulative
Frage beantworten, die die griechische Metaphysik von Anbeginn
beschäftigt: Wie muss die Einheit des Seienden im Ganzen gedacht werden,
damit es zum Vielen, zur Mannigfaltigkeit des innerweltlich Seienden in
Beziehung gesetzt werden kann, ohne selber zu einem anderen Seienden, zu
einem Seienden im Großen vergegenständlicht zu werden? Noch Schellings
und Hegels Dialektik wird ihren Ausgang von der Frage Plotins und Platos
nehmen: Wie kann I_374 die Beziehung der Alles in sich befassenden Einheit
zum vielen Einzelnen, des Unendlichen zum Endlichen, des Ewigen zum
Zeitlichen gedacht werden, ohne die Einheit im Verschiedenen zerfallen
oder das Verschiedene im Einen aufgehen zu lassen? Im Rahmen des
kosmologischen Denkens erfindet der Buddhismus eine epistemologische
Antwort, die sich als ein Pendant zur Antwort der negativen Theologie
verstehen lässt: Die Transzendenz lässt sich nicht beschreiben, sondern nur
auf dem Wege der Negation von zerstreuten Illusionen als das Nichts von
allem Seienden bestimmen. Das, was unter Abzug aller möglichen
prädikativen Bestimmungen des Seienden und Aussagbaren, zugleich Gier
und Leid Erregenden, übrigbleibt, ist das durch bestimmte Negation
erworbene Wissen vom Leeren als der Gesamtheit des Nichtseienden und
Unsagbaren, des alle Regungen Besänftigenden, allen Streit Schlichtenden.
Mit anderen Worten: In diesem wunschlos glücklich machenden Nirwana
enthüllen sich, sobald sich unser subjektives Bewusstsein in ihm auflöst, alle
Erfahrungen in der Welt als Illusion. Die Erfahrung der Auflösung einer
Illusion kommt aus subjektiver Sicht jener Art des Zerfalls am nächsten, der
im Augenblick der Erleuchtung die individuierte, zugleich unwissende und
leidende Existenz ergreifen und implodierend auslöschen wird.[412]
(3) Obwohl kosmo- und theozentrische Weltbilder die Erscheinungswelt
gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung transzendieren, erkennen
wir beim Vergleich der buddhistischen und der jüdischen Lehre ähnliche
Strukturen. Was die Moralisierung von Heil und Unheil über den
kommunikativen Zugang zu Gott direkt erreicht, nämlich die Verbindung
eines maßgebenden Ethos mit der Aussicht auf Erlösung, erreicht die
Ontologisierung von Heil und Unheil auf dem Umweg über den
epistemischen Zugang zum Göttlichen: Die moralischen Gebote werden aus
Gesetzen des kosmischen Geschehens herausgelesen. In beiden Fällen
vollzieht sich ein kognitiver Schub zum egalitär-universalistischen
Verständnis der Moral, wobei sich der Heilssinn des exemplarischen
Lebenswandels in der Funktion der »Reinigung« verrät, die dem ethischen
Verhal I_375 ten zugeschrieben wird. Wie der Judaismus das Versprechen der
»befreienden« Gerechtigkeit von Gottes Herrschaft mit dem Imperativ des
gesetzestreuen Lebens verbindet, so verlangt der Buddhismus als
Vorbereitung zur meditativen Annäherung an die Wahrheit ein Ethos des
Mitgefühls mit dem Leiden aller gequälten Naturen. Dieser moralische
Imperativ stützt sich nicht auf die Autorität eines gesetzgebenden und in die
Geschichte intervenierenden Gottes, sondern auf das Walten eines
anonymen Naturgesetzes, das heißt auf die physikoethische Verfassung
eines kosmischen Geschehens, das im subjektiv erfahrenen Zyklus des
eigenen organischen Lebens seine Resonanz findet. Die Eschatologie – das
Versprechen einer rettenden Gerechtigkeit – zielt hier nicht auf Errichtung
der Herrschaft Gottes, sondern stellt allen Individuen ein Aufgehen im
aufklärenden Licht des Nirwana in Aussicht.
Mit diesen verschiedenen Heilszielen verbinden sich, wie Max Weber
gesehen hat, gegensätzliche Einstellungen zur »Welt«. Die Lebenswelt
erscheint im Buddhismus nicht als das von politischer Gewalt und
Unterdrückung gezeichnete »Diesseits«, das einst eine revolutionäre
Umwälzung erfahren wird, sondern als der trostlose Ort des Leidens einer
gequälten und ruhelos umgetriebenen, weil organisch verkörperten, an die
Materie gefesselten Seele. Die Welt ist nicht attraktiv, sie wird in beiden
Fällen negiert. Aber während Jahwe sein Volk zur gerechten
Selbstbehauptung und aktiven Gestaltung in der Welt ermutigt, gibt Buddha
seinen Anhängern das Beispiel eines der Welt entsagenden, gegenüber den
temporären innerweltlichen Schicksalen letztlich indifferenten Heiligen. Die
beiden Traditionen unterscheiden sich in ihren Reaktionen auf die verneinte
Welt: Konfrontation oder Rückzug. Diese Differenz der Welteinstellungen
spiegelt sich in Inhalt und Ausrichtung der korrespondierenden Ethiken.
Die buddhistischen Tugenden der Gewaltlosigkeit und Milde, der
fürsorglichen Zuwendung zu allen leidensfähigen Kreaturen finden keine
Entsprechungen in der Ethik der Hebräischen Bibel, die nicht an den
Gleichmut und die Enthaltsamkeit des Einzelnen appelliert, sondern auf das
solidarische Zusammenleben in einer staatlich organisierten Gesellschaft
abzielt. Noch aufschlussreicher als diese inhaltlichen Differenzen sind die
grundbegrifflichen Unterschiede.
Für den Gläubigen besitzen die moralischen Gebote, die im einen
I_376 Fall durch einen persönlichen Gott, im anderen Fall durch ein
normativ aufgeladenes Naturgesetz autorisiert sind, einen jeweils anderen
Geltungsmodus. Wohl beanspruchen sie beide Male absolute Geltung, aber
während die von Gott gesetzten Normen an den guten Willen des Gläubigen
appellieren, stützt sich die Beachtung eines kosmischen Gesetzes auf die
Erkenntnis einer normativ gehaltvollen Seinsverfassung. Gewiss, das Gesetz
verlangt auch vom gläubigen Juden beides, Entschlusskraft oder freien
Willen und Einsicht oder begründete Überzeugung. Nicht nur der
buddhistische Mönch erkennt, wie er sich verhalten soll. Auch Hiob fügt
sich nicht blind in Gottes Willen, am Ende erkennt er Gottes Weisheit,
wenigstens steckt in der Anerkennung Gottes auch ein Moment von
Einsicht in dessen begründete Autorität. Aus der Konfrontation mit den
unbedingten Imperativen des gerechten Gottes entwickelt sich ein
Verständnis für die Sollgeltung von Normen, die ihre Adressaten aus guten
Gründen verpflichten. Aber wegen der verschiedenen Gewichtung der
Momente von Willen und Wissen nimmt die Folgebereitschaft des Gläubigen
in der buddhistischen »Seinsethik«, wenn man sie so nennen darf, eine
andere Qualität an als in der jüdischen Sollensethik. Weil sich aus der
Einsicht in den längerfristig wirksamen karmischen Zusammenhang
zwischen ethischem Tun und meritokratisch zugemessenen Tatfolgen kein
Pflichtbewusstsein ergibt, sondern nur eine Strategie der klug kalkulierten
Schadensvermeidung, hatte der Buddha, wie erwähnt, das Defizit einer auf
bloße Folgenkalkulation angelegten Seelenwanderungslehre mit der Lehre
von der Substanzlosigkeit der Seele ausgeglichen. Aber auch in dieser
reformierten Gestalt verbindet sich das vom rationalen Egoismus
entkoppelte ethische Wissen mit einem moralischen Geltungsmodus, der als
Sollgeltung nicht hinreichend charakterisiert ist. Das ethische Wissen bringt
vielmehr eine ontologische Komponente ins Spiel: »Das Handeln des
Menschen kann nicht dauerhaft einem äußeren Imperativ folgen, sondern
muß einer inneren ›Notwendigkeit‹ entspringen, d. h., das Sein des
Menschen bestimmt sein Tun. […] [E]ine Ethik des Seins muß letztlich eine
Ethik des Sollens ablösen, wenn sie nachhaltig sein soll.«[413] Aus dem
Unterschied zwischen I_377 dem kosmozentrischen beziehungsweise
theozentrischen Hintergrund erklären sich der Perfektionismus auf
buddhistischer und die Deontologie auf jüdischer Seite.
Aus demselben Grund fehlt im Buddhismus ein Äquivalent zum
biblischen Begriff des radikalen Bösen. Dieser Begriff muss sich keineswegs
mit magischen Vorstellungen von Hölle und ewiger Verdammnis verbinden
(obwohl diese sich in der christlichen Theologie bis zu Luther und in den
volksreligiösen Überlieferungen von Christentum und Islam bis auf den
heutigen Tag erhalten haben). Der Begriff des Bösen verdankt seinen
spezifischen Bedeutungsüberschuss gegenüber dem moralisch bloß
Fehlerhaften oder Schlechten einem verkehrten, gegen Gott gerichteten
Willen, der nur durch rettende Eingriffe in die Dimension der Geschichte,
das heißt durch heilsgeschichtliche Peripetien überwältigt werden kann.
Solange der Einzelne sein Schicksal auf dem epistemisch gebahnten
Heilsweg von Meditation und erkenntnisgeleitetem sittlichen Handeln
selber in der Hand hat, behält die Unterscheidung zwischen richtigem und
falschem, gutem und bösem Handeln einen moralkognitiven Sinn, während
die als kollektive Heilsgeschichte gedeutete Eschatologie, in die das
individuelle Schicksal eingebettet ist, dem kognitiven Sinn des moralisch
bloß Falschen eine schwerwiegende Konnotation hinzufügt: Im
heilsgeschichtlichen Drama des Ringens um die Errettung der sündigen
Gemeinschaft der Gläubigen wächst den individuellen Verfehlungen der
moralischen Gebote Gottes eine schicksalhafte Bedeutung zu, die über das
jeweils individuelle Lebensschicksal hinausreicht. Am Ende richtet Gott
nicht nur den Einzelnen, sondern urteilt über sein Volk. Aus dieser
geschichtstheologischen Sicht zählen auch die nichtintendierten Folgen der
moralisch zurechenbaren Fehler der Einzelnen und belasten das im binär
kodierten Begriff der Gerechtigkeit enthaltene »Falsche« mit der
Konnotation des »Bösen«. Die Gewalt des Bösen wird später unter
gnostischen Einflüssen in der Gestalt von Luzifer zum Gegenspieler Gottes
im Drama der Heilsgeschichte personalisiert.
Der Buddhismus ist wiederum in anderer Hinsicht radikaler als das
Judentum. Während die Theologie des Bundesschlusses dem egalitären
Universalismus gewisse Grenzen zieht, ist die buddhistische Ethik, die die
Gebote des mitfühlenden und hilfreichen Umgangs I_378 sogar auf alle
Lebewesen ausdehnt, konsequenter. In einer Welt, in der Individuierung auf
Selbsttäuschung beruht, sodass letztlich alle Unterscheidungen nur auf den
subjektiven Schein sprachlicher Kategorisierungen zurückgehen, gibt es
keine »natürlichen Arten«, auf deren Unterscheidung sich das Gebot
moralischen Verhaltens stützen könnte. Wenn alle Unterscheidungen
nomineller Natur sind, ist es nicht gerechtfertigt, Unterschiede im Maß der
moralischen Anteilnahme am Schicksal des einen oder anderen zu
akzeptieren.[414] Allerdings fehlt der buddhistischen Lehre die politische
Dimension der jüdischen Gesetze. Die Gebote der buddhistischen Ethik
richten sich an den Einzelnen im Umgang mit anderen Personen und
anderen Lebewesen überhaupt, während die fromme Lebensführung der
Juden vom Bewusstsein der dialektischen Einbettung des eigenen Schicksals
in die nationale Heilsgeschichte getragen ist. Der Buddhismus ist zwar von
Kaiser Ashoka vorübergehend zur Staatsreligion erklärt worden; aber das
ist Episode geblieben. Trotz des Abstandes von der Politik hat allerdings
diese Religion, obwohl sie auf Weltentsagung programmiert ist, in ihren
gesellschaftlichen Umgebungen sehr wohl ein kritisches Element gebildet
und erhebliche soziale Folgen gehabt.
Während das für Jahwe beanspruchte Gerechtigkeitsmonopol schon in
Altisrael zu einer folgenreichen Entsakralisierung der Königsherrschaft
beigetragen hat, hat der Buddhismus in der indischen Kastengesellschaft
eine subversive Kraft entfaltet: Mit der entschiedenen Kritik am
gesellschaftlichen Quietismus der Brahmanen hat er der krassen sozialen
Ungleichbehandlung der Einzelnen die religiöse Grundlage entzogen.
Gewiss, auch für den Buddhisten legitimiert die Wiedergeburtslehre eine
gleichsam natürliche soziale Ungleichheit; aber die gesellschaftliche
Hierarchie verblasst im Lichte des egalitären Erlösungsversprechens zu
einer bloß virtuellen Realität und rechtfertigt nicht die moralische
Ungleichbehandlung von I_379 Personen, von denen jede die gleiche
Zuwendung verdient. Die buddhistische Klostergemeinschaft, eine der
großen Innovationen in der Geschichte der Weltreligionen, war auch ein
Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaft. Für die innere Organisation
der Klöster soll sich Gautama das Vorbild der »republikanischen«
Ratsversammlung seiner Heimatstadt zunutze gemacht haben. Für die
Rekrutierung der Nonnen und Mönche war die Kastenzugehörigkeit ihrer
Herkunftsfamilien grundsätzlich irrelevant, auch wenn zunächst nur etwa
zehn Prozent von ihnen aus den beiden untersten Kategorien stammten.
Obwohl die enthaltsame Lebensweise der Ordensmitglieder strengen
Verhaltensnormen unterlag, bildete die monastische Disziplin keine
undurchlässige Schranke zur Umwelt der Laien. Der Übergang vom Ethos
der Mönche zum Ethos der Laien war fließend; Meditation und geprüftes
sittliches Verhalten waren nicht grundsätzlich den religiösen Spezialisten
vorbehalten.[415] Auch wenn der Weg zur Erlösung über die meditierende
Versenkung führt und dem bodhisattva auf diesem Pfad eine
Avantgarderolle zugedacht ist, ist der Buddhismus keine Virtuosenreligion,
keine Religion für die Weisen, denen die Erleuchtung in ähnlicher Weise
vorbehalten gewesen wäre wie in Griechenland den Philosophen der
Aufstieg zu den Ideen.
(4) Die zahlreichen Schulen, die bald nach dem Tode des Buddha
entstanden sind, haben die spekulative Ausarbeitung der Karmalehre zu
einer umfassenden Kosmologie gefördert. Das bemerkenswerte
intellektuelle Niveau dieser Lehren hat insbesondere im Westen oft dazu
geführt, den Buddhismus eher als Quelle philosophischer Lehren denn als
Religion im engeren Sinne zu begreifen. Diese bildungsreligiöse Auffassung
verkennt den handfesten Sinn der Erlösung, den sittliches Verhalten und
Meditation als Wege zur Reinigung vom Gift der leibgebundenen und
triebhaften Existenz genießen. Als die andere große Erlösungsreligion ist
der Buddhismus tief im Rituellen verwurzelt. Um das zu erkennen, muss
man nicht erst auf die volksreligiösen Züge, etwa die Heiligenlegenden und
den Reliquienkult verweisen, die sich um Geburt, Konversion und
Lebensgeschichte der Stifterfigur ranken. Gleichzeitig hat der Buddhismus,
I_380 wenn auch auf andere Weise als das Judentum, entschieden mit
magischem Denken und Mythos gebrochen. Die Upanishaden hatten den
brahmanischen Opferkult schon in einem ethischen Sinne umgedeutet. Der
Buddha trat dann, wie erwähnt, konsequent für die Abschaffung des Opfers
ein, indem er nicht nur wie die zeitgenössischen Materialisten die
Wirksamkeit dieser Praktiken bestritt, sondern deren magischen Sinn, also
die Instrumentalisierung heilbringender Mächte kritisierte. Die gleiche
Mentalität bekämpfte er in der radikalen Askese der konkurrierenden
Bewegung der Shramanas. Er empfahl stattdessen das enthaltsame Leben
und die Disziplin der Mönche als Vorbild für einen »Mittleren Weg«
zwischen Hedonismus und Askese; der Gläubige soll sich nicht durch eine
den Leib schändende Askese reinigen, sondern durch geistigen Frieden und
sittliches Handeln.[416]
Die Entzauberung des Ritus zeigte sich in Israel beispielhaft an der
Transformation von Wahrsagerei in Prophetie. In Indien beobachten wir
einen ähnlichen Übergang der Religion von der Grundlage der magischen
Einflussnahme auf Mächte des Heils und Unheils zur Begegnung mit dem
sublimierten, aus der Sinneswelt entschwundenen Heiligen. Anstelle der
kommunikativen Offenbarung gegenüber Personen, die Gott zu seinen
Botschaftern erwählt, eröffnet der Buddhismus einen epistemischen Zugang
zum Heil, der – als wichtiger Bestandteil des Heilsweges – in Gestalt von
anspruchsvollen Meditationsübungen ritualisiert wird. Auch diese Praxis
hat ihre Vorläufer. Die in allen Kulturen weitverbreitete Übung von
Magiern, die sich in Zustände der Ekstase hineinsteigern, um mit Geistern
Kontakt aufzunehmen, nimmt den Charakter der Besessenheit an. Im
Buddhismus vollzieht sich die Transformation dieser Begegnung mit dem
Außerordentlichen auf dem Wege einer verinnerlichenden Umkehrung der
Ekstase zur Einkehr des Bewusstseins in sich.[417] Während vom Schamanen,
der in Trance aus sich heraustritt, eine höhere Macht auf ähnliche Weise
Besitz ergreift wie der Hypnotiseur von seinem Medium, ist es in der
Meditation der menschliche Geist selbst, der sich einem Exerzitium der
verstetigten Aufmerk I_381 samkeit auf innere Zustände unterwirft und auf
dem Wege der Anamnese in die eigene Tiefe vordringt. Wie in Israel die
Wahrsagerei gewissermaßen durch Historisierung in eine neue Gestalt der
Prophetie überführt worden ist, so spiegelt sich in der Gestalt jener
Konzentrationsübungen, die der Buddhismus systematisch zu einer
anspruchsvollen Disziplin der Selbstbesinnung entwickelt hat, eine frühere,
durch Psychologisierung aufgehobene Form des magischen Umgangs mit Heil
und Unheil wider – die schamanistische Geisterbeschwörung. Ein Ziel
dieses Gedächtnis erweiternden Bewusstseinstrainings ist im Buddhismus
die Vergegenwärtigung vergangener Verkörperungen im Zyklus der
Wiedergeburten – eine Fähigkeit, die Buddha als »Seher« in hohem Maße
beherrscht haben soll.
Ähnliches gilt für die epistemischen Zugänge des Taoismus und der
Metaphysik zum Göttlichen. Die Kontemplation, der sich der griechische
Philosoph in seinen wachsten Momenten überlässt, ist auch eine
intellektuelle, aber nach außen gewendete Anschauung des Kosmos, des
Seins oder der höchsten Idee, während sich der meditierende buddhistische
Mönch oder der taoistische Meister in eine Versenkung ins eigene
Bewusstseinsleben einübt. In Indien, China und Griechenland fordern die
Heilswege der Weisen die Beherrschung ähnlicher Disziplinen und
Lebensformen. Als eine pädagogische Variante lässt sich sogar der
konfuzianische Weise, der lernt und lehrt, diesem Typus zurechnen. Der
gelassene Weise steht dem leidenschaftlich und kompromisslos
auftretenden Propheten gegenüber. In den Haltungen dieser beiden Typen
spiegelt sich die Natur der entsprechenden Heilswege. Während das
monotheistische Weltbild über die moralische Gesetzgebung Gottes
unmittelbar einen praktischen Heilsweg vorzeichnet, ist das jeweilige Ethos,
das die Heilswege der kosmozentrischen Weltbilder charakterisiert, über
den epistemischen Zugang zu einem ontologisierten Heiligen vermittelt.
Die buddhistischen, taoistischen oder griechischen Weisen, die sich
entweder meditierend auf eigene Wahrnehmungen und Empfindungen
zurückwenden oder nach außen einer kontemplativen Vergegenwärtigung
des kosmischen Geschehens im Ganzen hingeben, beschreiten einen
epistemischen Weg zur Entdeckung der befreienden Wahrheit. Sie nehmen
die Rolle eines Lehrers an, der seine Schüler unterweist, weil die Lehre auf
erkennbaren Wahrheiten beruht. An I_382 ders als der moderne Lehrer, der
fallibles Wissen unterrichtet, muss der antike Weise allerdings die
Reputation des Eingeweihten einsetzen, um das Vertrauen seiner Schüler für
ein sei es meditativ, lernend oder kontemplativ erworbenes Wissen zu
gewinnen, das als intuitiv oder anschaulich erworbenes Wissen letztlich nur
aus der Perspektive der ersten Person zugänglich ist. Auch in diesem Fall
zehren die Wahrheiten, die Befreiung und Rettung versprechen, nicht allein
von Gründen. Religiöse Lehren konstituieren deshalb in allen Fällen die
spezifische Lebensform einer allerdings von askriptiven Merkmalen
abgelösten Gemeinde, in die Novizen von vertrauenswürdigen Personen
eingeführt werden. Der Weise sozialisiert seine Schüler, indem er sie
belehrt. Im Vergleich mit den epistemischen Heilswegen verschieben sich
beim wesentlich praktischen Heilsweg des Judaismus die Gewichte erst
recht von der Einsicht zum Vertrauen, das der Prophet erwarten muss,
wenn er vom Inhalt seines Offenbarungserlebnisses Zeugnis ablegt. Der
Prophet kann sich nicht wie der Weise mit dem Bewusstsein eines
Lehrauftrages begnügen; er, der einen privilegierten Zugang zur
Heilswahrheit genießt, hat einen Verkündigungsauftrag erhalten. Er muss
Gottes moralischen Geboten Achtung verschaffen, indem er das Vertrauen
seiner Umgebung für das Zeugnis eines ihm von Gott persönlich
offenbarten Rettungsversprechens gewinnt.
I_383 4. Konfuzianismus und
Taoismus
(1) Neueren archäologischen Funden zufolge, wird der Beginn der
chinesischen Schriftkultur wie der im Vorderen Orient auf die Wende vom
vierten zum dritten vorchristlichen Jahrtausend datiert. Die ältesten
Orakelinschriften auf Schildkrötenpanzern und Tierknochen stammen aus
der Zeit um 3000 v. Chr. Darauf folgen Grabinschriften, überhaupt
Inschriften in Stein und auf Bronzegefäßen, und mit dem Beginn des ersten
Jahrtausends tauchen »Bücher« auf, das heißt Texte in Gestalt von
Bambustafeln, die mit Pinsel und Tusche beschrieben sind.[418] Auch wenn
eine genaue Chronologie erst mit dem Jahre 841 v. Chr. einsetzt, reicht die
historische Überlieferung bis in die Mitte des dritten Jahrtausends zurück;
das Buch der Wandlungen beginnt mit dem mythischen Kaiser Fu Xi, das
Buch der Urkunden mit den ebenso sagenhaften Gestalten der Kaiser Yao
und Shun.[419] Die Zhou-Dynastie, die Mitte des zwölften vorchristlichen
Jahrhunderts die Shang-Dynastie der Bronzezeit ablöst, beendet den
politischen Einfluss der Orakelpriester und legitimiert ihre Herrschaft
fortan mit der Berufung auf ein »Mandat des Himmels«. Das bedeutet noch
keinen Bruch mit der mageren mythischen Überlieferung[420] und der
magischen Praxis, auch wenn Konfuzius in der Mitte des ersten
Jahrtausends die weisen Herrscher der Westlichen Zhou-Zeit (bis 722 v. 
Chr.) verklärt und die normativen Auffassungen seiner eigenen politischen
Ethik auf beispielhafte Königsgestalten aus den unmittelbar
vorangegangenen Jahrhunderten rückprojiziert.
Die Orakelpraxis und der in China besonders stark und anhaltend
ausgeprägte Ahnenkult sind Teil der altchinesischen Naturreligion, an
deren mythische Vorstellungswelt nicht nur die spätere, auf
be I_384 grifflichem Niveau entwickelte Naturphilosophie der Yin-Yang-
Schule anknüpft.[421] Danach sind Himmel und Erde aus der Ureinheit, dem
Tao, hervorgegangen, während das Gegenspiel der Grundkräfte Yin und
Yang die Welt in Gang hält. Der Mensch steht in der Mitte des
Antagonismus von Himmel und Erde. Die Herkunft der menschlichen Seele
verdankt sich der als männlich, aktiv und hell vorgestellten Kraft des
Himmels, während sein Körper der als weiblich, passiv und dunkel
verstandenen chthonischen Kraft der Erde entstammt. Auch Konfuzius und
Lao-tse, eine legendäre Gestalt, die ein jüngerer Zeitgenosse des Konfuzius
gewesen sein könnte, knüpfen an die kosmogonischen Vorstellungen der
Volksreligion an. Unter Beibehaltung der alten Namen verwandeln sie
jedoch die mythischen Bilder in kosmoethische Grundbegriffe, indem der
eine das Mandat des Himmels moralisiert, der andere das Tao ontologisiert
und beide, jeder auf seine Weise, mit dem magischen Denken der
Überlieferung brechen. Während Konfuzius Riten und Staatszeremonien
durch eine umdeutende Sublimierung gewissermaßen ethisch verinnerlicht,
ohne deren sakralen Kern zu zerstören,[422] stellt Lao-tse den Umgang mit
den sakralen Mächten auf einen neuen, und zwar epistemischen Heilsweg
um.
Mit Konfuzius (551-479 v. Chr.) beginnt das klassische Zeitalter der
chinesischen Philosophie. In China selbst trägt diese Periode den Namen der
»Hundert Schulen« oder der »Hundert Meister«, die die große
Produktivität und Vielfalt der damals entstandenen philosophischen
Richtungen signalisieren. In dem ältesten Bücherverzeichnis aus der
späteren Han-Zeit (25-220 n. Chr.) werden außer den beiden
wirkungsgeschichtlich entscheidenden Lehren des Konfuzianismus und
Taoismus sieben weitere Schulen aufgeführt, darunter die Mohisten, die
Legalisten und die Logiker oder Dialektiker, die – wie auch Xunzi, unter
den klassischen Konfuzianern die letzte und bedeutendste Figur – dieser
unruhigen Periode unmissverständlich den Charakter der Aufklärung
aufprägten. Diese klassische Zeit I_385 endet politisch wie intellektuell mit
der Einigung Chinas unter dem ersten historischen Kaiser Qin Shi Huang Di
(221-206 v. Chr.). Kein Ereignis könnte die politische Bedeutung der
vorangegangenen intellektuellen Umwälzung besser beleuchten als die
Büchervernichtung, die im Jahre 213 vom Kanzler des neu begründeten
Reiches Qin im Stile einer landesweiten Razzia angeordnet wurde: »Von
jedem Buch wurde [nur] ein Exemplar in der kaiserlichen Bibliothek
aufbewahrt, alle anderen wurden verbrannt. Ausgenommen von diesem
Bücherverbot […] waren Texte zur Medizin, zum Ackerbau und zur
Orakelkunde.«[423] Der brutal durchgesetzte Wunsch nach vollständiger
ideologischer Kontrolle verrät einerseits die gefährlich-subversive Kraft der
philosophischen Aufklärung, die das auf Orakelpraxis und Ahnenkult
beruhende Mandat des Himmels untergraben und eine neue Art der
Herrschaftslegitimation nötig gemacht hat. Denn keiner der Philosophen
glaubte mehr an die Geister und Götter des alten China. Andererseits
manifestiert sich in dem Wunsch nach Kontrolle auch die Wahrnehmung
eines sakralen Kerns, der in den neuen kosmoethischen
Ordnungsvorstellungen konserviert wurde und von den Kaisern als
Legitimationspotential genutzt werden konnte. Jedenfalls wurde der
Konfuzianismus von der alsbald folgenden Han-Dynastie (206 v. Chr. bis
220 n. Chr.) kanonisiert und mit synkretistischen Beimischungen aus
Taoismus und Legalismus zur Staatsdoktrin erhoben.[424] Dass diese
imperiale Ideologie Züge einer politischen Religion trägt, zeigt sich auch an
der zähen Konkurrenz der einheimischen Lehren mit der buddhistischen
Mönchsreligion, die schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert nach
China eindringt. Nach dem Zusammenbruch der Han-Dynastie gewinnt
nämlich bis zur erneuten und endgültigen Konfuzianisierung des Reiches im
ausgehenden 13. Jahrhundert ein sinisierter Buddhismus – insbesondere in
harten Auseinandersetzungen mit dem in inhaltlicher und funktionaler
Hinsicht verwandten Taoismus – einen bemerkenswerten gesellschaftlichen
und politischen Einfluss.
I_386 Wie in Indien fällt auch in China die Entstehung der neuen
philosophischen und religiösen Ideen in eine Zeit der sozialen Umbrüche.
[425] Schon im Laufe der Zhou-Dynastie beginnt die Auflösung der feudalen

Gesellschaftsordnung, worin der König als oberster Lehnsherr zugleich die


kultische Funktion eines Oberpriesters wahrgenommen und »zwischen
Himmel, Erde und Mensch [vermittelt hatte]«.[426] Ein neues soziales
Gefüge wird sich erst unter dem kaiserlichen Regime des wiedervereinigten
Reiches, das sich auf eine meritokratische Beamtenherrschaft stützen wird,
festigen. Seitdem ist der Kaiser nur noch formell Herr der ethisch
gedeuteten und von der Bürokratie überwachten Staatsriten. Am Ende der
Zhou-Periode hatte der Verfall der feudalen Ordnung zunächst mit der
Aufspaltung der weit ausgespreizten, aber bis dahin durch ein gemeinsames
Ethos zusammengehaltenen Statushierarchie der auf Kriegsführung
spezialisierten Adelsfamilien eingesetzt. Vom privilegierten, dem Hof
nahestehenden und mitregierenden Adel trennte sich nun die sozial
absteigende Schicht des niederen Adels, der sich mit den urbanen
bürgerlichen Schichten verband. Mit dieser »Gentry« bildete sich eine
soziale Klasse zwischen Volk und Herrscherhaus heraus. Offenbar
rekrutierte sich die um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends
entstehende Gruppe von Intellektuellen zum überwiegenden Teil aus
Familien dieses niederen Adels, der seine Privilegien verloren hatte. Mit
dem Niedergang des Herrscherhauses der Zhou zerfiel zudem die bis dahin
unangefochtene Zentralmacht; ihr gegenüber verselbständigten sich
größere und kleinere Lehnsfürstentümer zu eigenen Territorialstaaten. Die
Rivalität zwischen der wachsenden Zahl dieser Königreiche bestimmte die
kriegerische Dynamik, der die Periode der »Streitenden Reiche« ihren
Namen verdankt. Aggression und Zerstörung, Elend und soziale Unordnung
bilden die historischen Rahmenbedingungen für den Lebensstil der von Hof
zu Hof wandernden Weisheitslehrer, die in den meisten Fällen nach
Staatsämtern strebten, um den Regierenden ihren Rat anzudienen. Die
zerrissenen politischen Verhältnisse begünstigten die Vielfalt der
Lehrmeinungen von Philosophen, die freilich ihre Auffas I_387 sungen eher
dogmatisch gegeneinander behaupten, als sich darüber miteinander im
Diskurs auseinanderzusetzen.
Die singuläre, bis heute ungebrochene Wirkungsgeschichte des
Konfuzianismus beginnt erst damit, dass die Han-Dynastie den von
Konfuzius geschaffenen Kanon der Fünf Bücher in Stein meißeln ließ und –
zusammen mit den Gesprächen (Analekten) des Konfuzius sowie den Lehren
seiner Schüler – als Legitimationsgrundlage ihrer Herrschaft adoptierte. Sie
machte diese klassische Literatur zum Ausbildungskanon für eine
Beamtenschaft, die nach strengen Bildungsstandards ausgewählt wurde.
[427] Der Konfuzianismus hat diese Rolle bis ins 20. Jahrhundert hinein

gespielt; sogar in der Volksrepublik China gibt es inzwischen Anzeichen für


eine erneute Konfuzianisierung des ohnehin sinisierten (und durch
staatskapitalistische Wirtschaftspolitiken weiterhin aufgeweichten)
Marxismus. Auch die psychoökonomisch relevante Arbeitsteilung, die der
Konfuzianismus im Hinblick auf die Heilsbedürfnisse des individuellen
Seelenhaushalts mit Taoismus und Buddhismus eingegangen ist, mag zum
anhaltenden Einfluss der konfuzianischen Staatsdoktrin beigetragen haben.
Die Polemiken zwischen den drei religiösen Hauptströmungen dürfen nicht
über die fließenden Grenzen zwischen diesen nur selten dogmatisch zu klar
abgegrenzten Doktrinen verfestigten Lehren hinwegtäuschen. Andererseits
weckt und bestärkt die politische Rolle des Konfuzianismus den Verdacht,
dass die Klassifikation dieser Lehre als Weltreligion voreilig sein könnte;
denn die Lehre ist nirgends zum Kristallisationskern eines organisierten,
vom Staat unabhängigen religiösen Gemeindelebens geworden.
Max Weber trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass er den
Konfuzianismus zwar zu den »Weltreligionen« rechnet, aber als »Kultur-«
oder »Bildungsreligion« den »Erlösungsreligionen« gegenüberstellt.[428]
Auch der Judaismus war ursprünglich eine politische Reli I_388 gion; als
Gesetzesreligion erstreckte er sich grundsätzlich auf eine Regelung des
politischen Gemeinwesens im Geiste einer Theokratie. Aber die
Komponente der Erlösungsreligion ist in diesem Fall offensichtlich so stark,
dass der jüdische Glauben seine Kontinuität in den weltweit verstreuten
Diasporagemeinden bis heute ohne staatlichen Rückhalt (und lange genug
ohne den Bezug zu einem israelischen Staat) wahren konnte. Der
Buddhismus ist (wie der Taoismus) eine weltverneinende und gegenüber
der jeweiligen politischen Herrschaft eher indifferente Lehre; das mag dazu
beigetragen haben, dass er sich mit seinen egalitären Auffassungen in
seinem Ursprungsland nicht gegen den Hinduismus (in der Nachfolge des
Brahmanismus) hat durchsetzen können. Aber anders als der Hinduismus
hat sich der Buddhismus auch ohne die Rückendeckung durch eine
nationale Kultur als Weltreligion behaupten können. Die griechische
Philosophie hat ähnlich wie der Konfuzianismus Lehren vom »guten
Regieren« und vom »besten Staat« entworfen und damit in der
Ideengeschichte des Westens tiefe Spuren hinterlassen. Aber nirgendwo hat
sie die prägende Kraft einer politischen Religion erlangt – obwohl
platonistische Strömungen in hellenistischer Zeit für die Bildungsschichten
des Römischen Reiches auch die Funktion einer Heilslehre erfüllt haben.
Im Hinblick auf die politische Wirkungsgeschichte liegt der Vergleich des
Konfuzianismus mit dem kirchlich organisierten Christentum näher; dieses
ist durch die konstantinische Verbindung mit dem römischen Imperium zur
Weltreligion aufgestiegen und hat in den mittelalterlichen Nachfolgestaaten
des Weströmischen Reiches bis in die frühe Neuzeit hinein die Rolle einer
Staatsreligion gespielt. Aber die christlichen Konfessionen haben sich auch
unter den modernen Bedingungen der Säkularisierung der Staatsgewalt als
Weltreligion behaupten und in nichtchristlichen Mehrheitskulturen
verbreiten können. Demgegenüber fehlen für den Konfuzianismus
Anzeichen dafür, dass er auch ohne den politischen Kontext und die
einzigartige Kontinuität eines Weltreiches allein aus seiner religiösen
Substanz die kraftvolle Wirkungsgeschichte einer Weltreligion hätte
entfalten können. Gleichwohl begreife ich in unserem Zusammenhang die
konfuzianische Lehre nicht nur als politische Ethik, sondern als eine der
Weltreligionen, weil sie mit diesen die I_389 Strukturen teilt, die für die
achsenzeitlichen Weltbilder im Allgemeinen konstitutiv sind. Der
Konfuzianismus erzielt auf dem Wege der Ontologisierung des Heiligen den
Durchbruch zu einer Perspektive, die alles Innerweltliche transzendiert; er
hat ferner den Schritt zu einer universalistischen Moral getan, ohne dabei
das Sakrale im Schmelztiegel eines säkular aufgeklärten moralischen
Bewusstseins aufgehen zu lassen; und schließlich hat er auch an rituellen,
aber aus ihrer Verwurzelung im magischen Denken gelösten und ethisch
umgedeuteten Praktiken festgehalten.
(2) Konfuzius – der von den Jesuiten latinisierte Name des Meisters Kong
– stammt aus einer nach dem frühen Tod des Vaters verarmten
Adelsfamilie. Im Alter von 17 Jahren wurde er für einige Jahre Beamter und
verwaltete die Getreidevorräte seiner Lehnsherren. Ab 530 v. Chr. führte er
das Leben eines unabhängigen Gelehrten und unterrichtete seine Schüler in
den traditionellen Disziplinen Musik, Dichtung und Riten. Politische
Unruhen nötigten ihn, vorübergehend seine Heimat Lu zu verlassen. Auf
das Exil folgte eine dreizehnjährige Wanderschaft; während dieser Periode
trug er seine Lehre an vielen Fürstenhöfen vor. Aber mit seinem Bemühen
um ein einflussreiches Staatsamt hatte er keinen Erfolg.[429] Konfuzius hat
sich, ohne selber Schriften zu hinterlassen, als Lehrer verstanden. Als
solcher genoss er große Verehrung. Er war kein Heiliger und beanspruchte
keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit. Er verstand sich nicht als
Verkünder, sondern als Reformator und Erneuerer uralter Wahrheiten.[430]
Er soll die fünf klassischen Bücher der chinesischen Literatur in der
überlieferten Form redigiert, vielleicht die Annalen des Staates Lu aus den
Jahren von 522 bis 481 selber verfasst haben. Die Hauptquelle für seine
eigene Lehre sind jedoch die Analekten (oder das Buch Lun Yu).[431] Diese
Sammlung von Gesprächen des Konfuzius mit seinen Schülern und von
Anekdoten aus dem Leben des Meisters geht auf Aufzeichnungen zwischen
dem fünften I_390 und dritten Jahrhundert zurück; die kanonisierte Form
der Gespräche stammt aus der Zeit um 150 v. Chr.
Konfuzius sieht sich wie alle Weisen und Propheten des Achsenzeitalters
durch den moralisch beklagenswerten Zustand der Welt zur Kritik
herausgefordert: »Wenn der Erdkreis in Ordnung wäre, so wäre ich nicht
nötig, ihn zu ändern.« (XVIII, 6)[432] Er hat eine realistische Einschätzung der
menschlichen Natur, macht sich keine Illusionen über die Schwäche
moralischer Gefühle (XV, 12) und guter Gründe (IV, 6) und setzt auf einen
beharrlichen Prozess der Erziehung und Zivilisierung des Menschen. Der
zentrale Begriff »rén«, der mit »Sittlichkeit« oder »Humanität« übersetzt
wird, weist in die Richtung einer stetigen Humanisierung der
unvollkommenen Natur des Menschen. Ein solcher Prozess kann allein in
der Festigkeit des Gemüts motivational verankert werden. Daher setzt
Konfuzius auf Beharrlichkeit als die Fähigkeit, die eine milde Ethik des
Wohlwollens, der Großmut und der Güte fördert: »Einen Gottmenschen zu
sehen, ist mir nicht vergönnt; wenn es mir vergönnt wäre, einen Edlen zu
sehen, dann wäre es schon gut. Einen guten Menschen zu sehen, ist mir
nicht vergönnt; wenn es mir vergönnt wäre, einen Beharrlichen zu sehen,
wäre es schon gut.« (VII, 25) Für den Sprössling einer abgestiegenen
Adelsfamilie bot sich »der Edle« als die Sozialfigur an, die die Metatugend
der gelassenen Menschlichkeit vorbildlich verkörpert. Sittliche Appelle, die
sich jeweils an den Einzelnen richten, können aber ihre Adressaten nicht
erreichen, wenn diese nicht auf eigene Erfahrungen mit sittlichen
Vorbildern rekurrieren können, also in gewisser Weise an einen ethischen
Umgang schon gewöhnt sind. Daher versteht sich Konfuzius nicht nur als
akademischer Lehrer, sondern in erster Linie als (weitgehend verhinderter)
politischer Ratgeber der Regierenden. Er wendet sich an die politischen
Herrscher, die Kriege führen und Bevölkerungen ausplündern, und hält
ihnen den Spiegel des kultivierten Edlen vor, der sein Land so regieren
würde, dass sittliche Verhältnisse von selbst entstehen: »Wenn ein
[wirklicher] König käme, so wäre nach einem Menschenalter I_391 die
Sittlichkeit erreicht.« (XIII, 12) Viele der im Lun Yu wiedergegebenen
Gespräche beginnen mit der Frage eines Fürsten nach dem »Wesen der
Regierung«. Meister Kong entwickelt seine kluge Regierungslehre unter der
Prämisse, dass es auf Lebensführung und Person des Fürsten ankommt, weil
sich eine tugendhafte Regierung in der Münze von Frieden und Wohlstand
auszahle. Er verwendet jedoch das pragmatische Argument, das den
Herrscher zu »edler« Gesinnung und Praxis bewegen soll, eher in einem
güterethischen als in einem streng utilitaristischen Sinne. Ein humaner Fürst
würde, indem er Angriffskriege unterlässt und für das Wohlergehen des
Volkes sorgt, genau die zivilisierenden Lebensbedingungen schaffen, unter
denen sich allgemein das sittliche Niveau der Gesellschaft heben würde. In
einem wohl bestellten Land würden auch die Bürger den moralischen
Maximen folgen, über die sich der Fürst hat belehren lassen: »Beim Lehren
gibt es keine Standesunterschiede.« (XV, 38)
Freilich ist nicht ganz klar, ob dem Individualismus der konfuzianischen
Ethik, die sich jeweils an den Einzelnen adressiert, eine Allgemeinheit der
Grundsätze entspricht. Wie in den Kulturen des Vorderen Orients ist
vermutlich auch im vorkonfuzianischen China die Goldene Regel bereits
Teil der profanen Umgangsethik gewesen. Der Umstand, dass Konfuzius
diese Maxime aufnimmt und immer wieder formuliert,[433] ist für den
Schritt zur Verallgemeinerung moralischer Regeln noch nicht signifikant,
denn die Goldene Regel bricht noch nicht mit dem Egozentrismus
langfristiger Klugheitserwägungen.[434] Obwohl sich die politische Ethik
auf Gerechtigkeitsgrundsätze stützt, die für Staat und Gesellschaft allgemein
gelten sollen, hält Konfuzius an einem Katalog von Pflichten fest, die nach
Familienstand und sozialer Schicht spezifiziert sind. Andererseits hat
Konfuzius, wenn er die Gesinnung des »Edlen« mit der des »Gemeinen«
konfrontiert, keineswegs Unterschiede der sozialen Stellung im Auge: Die
edle Gesinnung wird jedermann angesonnen. In I_392 diesen
Zusammenhängen lässt Konfuzius die statusabhängigen Pflichten von
Kindern und Eltern, Herren und Dienern, Fürsten, Beamten und Bürgern
dahingestellt und bewegt sich auf der Abstraktionsebene von Pflichten
»überhaupt«: »Der Edle ist bewandert in der Pflicht, der Gemeine ist
bewandert im Gewinn.« (IV, 16) Weil die Moral immer schon in sittliche
Kontexte eingebettet ist, spricht Konfuzius von Pflichten nicht im Sinne
einer deontologisch verstandenen Sollensethik. Aber einem Schüler, der
sich darüber beklagt, dass er keinen Bruder habe, antwortet der Meister im
Sinne einer universalistischen Brüderlichkeitsethik: »Der Edle ist sorgfältig
und ohne Fehl: im Verkehr mit den Menschen ist er ehrerbietig und
taktvoll: so sind innerhalb der vier Meere alle [Menschen] seine Brüder.
Warum sollte der Edle sich bekümmern, daß er keine Brüder hat?« (XII, 5)
Ungeachtet der traditionalistischen Betonung des rollenkonformen
Verhaltens, der Loyalität gegenüber Vorgesetzten und der Pietät gegenüber
der Familie, kennt Konfuzius eine universalistische Pflicht zu humanem
Verhalten: »Die Sittlichkeit ist jedes Menschen Pflicht. Hier darf man
(sogar) dem Lehrer nicht den Vortritt lassen.« (XVI, 35) Alle konkreten
Tugenden fassen sich in der Tugend der Menschlichkeit (rén) zusammen.
[435] Dem entspricht der egalitäre Begriff von Autonomie und menschlicher

Würde, die wir jedem, unabhängig vom sozialen Status, zuschreiben:


»Einem Heer von drei Armeen kann man seinen Führer nehmen; dem
geringsten Mann aus dem Volk kann man nicht seinen Willen nehmen.« (IX,
25) Allerdings soll jeder seine konkreten Pflichten an dem Platz ausfüllen,
den er in Familie und gesellschaftlicher Hierarchie einnimmt. Dabei zählt
die moralische Gesinnung als das Wesentliche, nicht die äußerliche
Reputation jener »ehrbaren Leute«, die die konventionelle Form erfüllen,
aber in Wahrheit »Räuber der Tugend« sind (XVII, 13; auch XII, 20). Die
begriffliche Trennung von »Wesen« und äußerer »Form« erlaubt den
Kompromiss zwischen dem Universalismus der allgemeinen moralischen
Grundsätze und dem Partikularismus der schichten- und
familienstatusabhängigen sozialen Pflichten.
I_393 Dieser Kompromiss wird damit gerechtfertigt, dass die im
»Himmelssohn« zentrierte Herrschafts- und Ahnenordnung in der
ontologischen Verfassung der Natur selbst, also im Tao, verankert ist. Der
kosmologische Hintergrund einer vom Tao in Gang und im Gleichgewicht
gehaltenen Welt bildet einen transzendenten, über das innerweltliche
Geschehen der »tausend Dinge« hinausreichenden kosmologischen
Bezugspunkt. Im Anschluss an Max Webers Interpretation der
»weltbejahenden« und konformistischen Einstellung des Konfuzianismus
sind gelegentlich Zweifel am transzendenten Charakter des Tao als eines
Weltgesetzes geäußert worden. Aber die chinesischen Weisen hätten an der
politischen Amtsführung der »vom Wege eines Edlen« abweichenden
Fürsten, ja des Kaisers selber, keine Kritik üben können, wenn sie sich nicht
an der Richtung eines für den Kosmos im Ganzen konstitutiven »Weges«
hätten orientieren können.[436] Sie genießen bei Hofe nur deshalb die
Autorität von Ratgebern, weil sie bei ihren Adressaten auf die Anerkennung
der kosmologischen Begründung ihres Rates rechnen dürfen – auch die
Kritisierten glauben an ein Tao, das allem innerweltlichen Geschehen die
Richtung weist. Konfuzius konzentriert sich allerdings wie Sokrates auf
Fragen der praktischen Philosophie und scheint sich um theoretische
Fragen der Kosmologie nicht viel gekümmert zu haben. Bei seinen Schülern
tritt der Zusammenhang von Ethos und Kosmos deutlicher hervor. Zisi, dem
Enkel des Konfuzius, der noch zu dessen Lebzeiten gestorben ist, wird der
folgende Text (aus dem Buch Zhong Yong) zugeschrieben: »Was der
Himmel (dem Menschen) aufträgt, das nennt man sein Wesen. Dem Wesen
folgen, nennt man den Weg. Den Weg kultivieren, das nennt man die
Lehre.« Und wie Parmenides die erkennbare Wahrheit ontologisch
begründet, so heißt es hier: »Wahrheit ist der Weg des Himmels. Wahrheit
gewinnen ist der Weg des Menschen.«[437]
I_394 Aus der chinesischen Konzeption der gegenstrebigen Kräfte Yin und
Yang, die sich harmonisch ergänzen und die Welt im Gleichgewicht halten,
ergibt sich als das ethisch maßgebende Prinzip die Einhaltung der Mitte.
Daher fordert Konfuzius vom Edlen »die Anwendung der Mitte«: »Die
Mitte ist die große Wurzel der Oikumene. Die Harmonie ist der allgemeine
Weg der Oikumene. Sind Mitte und Harmonie erreicht, so kommen Himmel
und Erde ins Gleichgewicht, und die Zehntausend Dinge gedeihen.«[438]
Die Dinge in der Welt werden als solche vom harmonisierenden Prinzip der
Mitte kategorisch unterschieden. Die Harmonie des Himmels ist Vorbild für
die etablierten Ordnungen des Staates und der Familie. Aufgrund dieser
Widerspiegelung des Makrokosmos in den gesellschaftlichen Mikrokosmen
erhalten die sozialen Rollen der gegebenen Hierarchien in Staat und Familie
gewissermaßen das Siegel einer Ewigkeitsgarantie.[439] Wie bei anderen
zeitgenössischen Philosophen beschränkt sich die Kritik des Konfuzius auf
den Modus der Ausübung einer politischen Herrschaft, die jedoch in ihrer
Struktur als unveränderlich unterstellt wird. Die stillschweigende
Akzeptanz der bestehenden Ordnung beschränkt den moralischen
Universalismus auf eine andere Weise als in Indien oder in Israel. Die
buddhistische Ethik ist einerseits auf konsequente Weise universalistisch,
aber sie verhält sich im Rahmen einer Religion, die die Welt schlechthin
verneint, eher passiv gegenüber einer politischen Verbesserung
kritikwürdiger Verhältnisse. In dieser Hinsicht ist der Vergleich des
Konfuzianismus mit dem Judaismus, die beide einen moralisch-praktischen
Heilsweg und die herrschaftskritische Einstellung vertreten, interessanter.
Auch in Israel schränkt der privilegierende Bezug des Heilversprechens zum
israelischen Volk den freilich deontologisch verstandenen Universalismus
ein.[440] Aber anders als die kosmoethische Zentrierung auf die Herrschafts-
und Familienordnung eines Weltreichs bedeutet die Zentrierung auf das
Bundesvolk unter dem heilsge I_395 schichtlichen Gesichtspunkt immerhin
nur eine historisch vorläufige Einschränkung.
(3) Vor allem unterscheidet sich natürlich der Konfuzianismus vom
Judaismus durch den kosmozentrischen Aufbau des Weltbildes, der einen
epistemischen Zugang zur Transzendenz vorzeichnet – der Kontakt mit
Gott beziehungsweise dem Göttlichen führt nicht über Offenbarung und
Gebet, sondern über Lernen und Wissen. Nur die Erkenntnis des Tao, des
Welt- und Menschengesetzes, führt zur richtigen Praxis. Das richtige
moralische Handeln ergibt sich aus einem kosmoethischen Wissen, das
erlernt werden muss: »Sittlichkeit lieben, ohne das Lernen zu lieben: diese
Verdunkelung führt zur Torheit« (XVII, 8). Jedes Wissen resultiert aus
Lernen und Nachdenken: »Lernen und nicht denken ist nichtig. Denken und
nicht lernen ist ermüdend.« (II, 15) Kein Wissen verdient diesen Namen
ohne das reflexive Moment des Geprüft- und Erkannthabens: »Was man
weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß, als Nichtwissen gelten
lassen: das ist Wissen.« (II, 17) Konfuzius ermahnt unermüdlich zur
Offenheit des Geistes und zum Training der geistigen Fähigkeiten: »Lernen
und fortwährend üben« (I, 1) – »Das Alte üben und das Neue kennen« (II,
11) – »Weisheit zu lieben, ohne das Lernen zu lieben: diese Verdunkelung
führt zur Ziellosigkeit« (XVII, 8). Aber anders als im Buddhismus hat
Konfuzius diesen epistemischen Zugang zur richtigen moralisch-politischen
Lebensweise nicht selber zum Heilsweg ausgestaltet; anders als der Buddha
verspricht er sich vom Erkenntnisprozess als solchem keinen erlösenden
Effekt. Ziel der Erkenntnis ist vielmehr »Bildung«. Zum Heil führen die
Kultivierung des Geistes und ein moralischer Lebenswandel: »Wer eine
umfassende Kenntnis der Literatur besitzt und sich nach den Regeln der
Moral richtet, der mag es wohl erreichen, Fehltritte zu vermeiden.« (XII, 15)
Der Konfuzianismus ist eine Bildungsreligion – darin übrigens jenem
geisteselitären griechischen Bildungshumanismus nicht unähnlich (der sich
noch im Curriculum des deutschen Gymnasiums niedergeschlagen hat).
Aber der Konfuzianismus ist auch eine Bildungsreligion, die nicht in Ethik
aufgeht. Der traditionelle Umgang mit den Mächten von Heil und Unheil
wird gewiss moralisiert, jedoch nicht so weit, dass das Heilige seine Aura
verliert und als solches zerfällt. Das erklärte Ziel, I_396 das auch der
konfuzianischen Lehre einen religiösen Charakter verleiht, ist nicht nur ein
gerechtes, sondern ein – im Sinne einer befreienden Befriedung – rettendes
Ethos. Die Bildung von Geist und Charakter, die von keinem Status
abhängig ist, verleugnet nicht die Qualität einer Reinigung; sie trägt das
sakrale Versprechen in sich, Unheil und existentielle Unruhe abzuwehren:
»Weisheit macht frei von Zweifeln, Sittlichkeit macht frei von Leid,
Entschlossenheit macht frei von Furcht.« (IX, 28) An einen Heilsweg
erinnert auch die Initiation des Schülers durch den Lehrer: »Der Meister
lockt freundlich Schritt für Schritt die Menschen. Er erweitert unser Wissen
durch (Kenntnis der) Kultur, er beschränkt es durch (die Gesetze des)
Geziemenden. Wollte ich ablassen, ich könnte es nicht mehr« (IX, 10). Wenn
die durch Lehre und Lernen aktiv erworbene »Persönlichkeitsbildung« ein
sakrales Ziel sein soll, muss aber das kosmoethische Welt- und
Selbstverständnis in einer rituellen Praxis verankert bleiben. Da der
Heilsweg moralisch-praktischer Natur ist, konnte Konfuzius nicht wie Lao-
tse – durch Disziplinen der Körperbeherrschung und Meditationsübungen –
den epistemischen Zugang zum kosmoethischen Wissen, also den
Bildungsprozess selber zu einem veritablen Heilsweg ausgestalten.
Konfuzius muss das rituelle Defizit seiner Lehre gespürt haben. Zum einen
hat er die Bildung auf dem Wege einer Ästhetisierung der sittlichen
Einsichten sakralisieren wollen: »Sich selbst überwinden und sich den
Gesetzen der Schönheit zuwenden: dadurch bewirkt man Sittlichkeit.« (XII,
1) Diese Absicht erklärt auch den außerordentlichen Stellenwert, den er
(wie auch Sokrates [Phd. 61a]) der Musik – der sprachfernsten und dem
rituellen Ursprung nächsten unter den Künsten – nicht nur in seiner
Unterrichtspraxis, sondern auch im öffentlichen Leben einräumte.[441] Aber
die Ästhetisierung des Wissens und der Bildung allein hätte den religiösen
Anspruch der konfuzianischen Ethik kaum einlösen können. Daher
beschwört Konfuzius zum anderen den reflektierten Nachvollzug der
traditionellen Riten, auf die retrospektiv, im Rahmen eines ethischen
Erziehungsprogramms ein anderes Licht fällt. Ohne rituelle Grundlage hätte
eine sakralisierte I_397 Bildung nicht die Kraft gewonnen, um dem
magischen Denken, dem Ahnenkult und der Opferpraxis den Boden zu
entziehen. Konfuzius konnte, sosehr er sich sonst einer nostalgischen
Verklärung der kulturellen Überlieferung überließ, mit dem magischen Sinn
der überlieferten rituellen Praktiken nichts anfangen: »Der Meister sprach
niemals über Zauberkräfte oder widernatürliche Dämonen.« (VII, 20) Er
stritt ab, Zugang zu Mysterien und Geheimwissen zu haben, gab aber in
einer Diskussion über Tieropfer einem aufgeklärten Schüler die interessante
Antwort: »[D]ir ist es leid um das Schaf, mir ist es leid um den Rauch« (III,
17) – das heißt um den Ritus als solchen.
Die modernen Interpreten waren immer wieder irritiert von der
auffälligen Spannung, die zwischen dem zentralen Begriff »rén« für eine zu
vielen Tugenden ausdifferenzierte »Menschlichkeit« einerseits und der von
Konfuzius geforderten Beachtung von »li«, der überlieferten Riten und
Zeremonien, andererseits besteht.[442] »Konfuzius bestimmt die
Menschlichkeit zum einen als Unterlassung von allem, ›was nicht der
Etikette entspricht‹, erkennt aber umgekehrt der Einhaltung des
Anstandskodex jeden Sinn ab, wenn man ›als Mensch nicht menschlich
ist‹.«[443] Wie ist die postkonventionelle Stufe des moralischen
Bewusstseins vereinbar mit dem entschiedenen Beharren auf der
Einhaltung der Riten in Staat und Familie? Ich habe aus der Lektüre nicht
den Eindruck gewonnen, dass es sich um eine Unaufrichtigkeit des Autors
oder um die Unausgegorenheit einer der Konvention halbherzig verhaftet
bleibenden Form moralischen Denkens handelt. Vielmehr drückt sich in
dem Umstand, dass Konfuzius der Beherrschung der Riten in seinem
Bildungsprogramm einen bedeutenden Platz einräumte, eine andere, durch
die Sublimierung des Heiligen bestimmte Art der Frömmigkeit aus.
Konfuzius überwindet den traditionellen Ahnen- und Opferkult, indem er
die vom Zhou-Regime übernommenen Riten nicht nur im Sinne seiner
Ethik umdeutet, sondern umfunktioniert. Er ist der Überzeugung, »daß es im
Ritual im weitesten Sinn – angefangen bei den Essensmanieren bis hin zu
einem Gottesdienst, bei dem es im Grunde der Exis I_398 tenz eines Gottes
gar nicht bedarf – um mehr geht als um eine reine Äußerlichkeit«.[444]
Alle praktisch wirksame und nachhaltige Bildung verdankt sich einer
Assimilation an Vorbilder, die in jedem Vorgang der Sozialisation und
Akkulturation am Werke ist: Im Verlaufe der Habitualisierung dringt das
Wissen, das von Vorbildern aufgenommen und durch Training eingeübt
wird, in Kopf und Herz des Novizen gewissermaßen von außen nach innen
ein. Statt den überlieferten Kultus durch einen Gottesdienst, in dessen
Zentrum ein heiliges Buch steht, oder durch einen epistemischen Aufstieg
über sakralisierte Stufen der Selbstreflexion zu ersetzen, wird ganz im
chinesischen Geiste einer Wahrung von Kontinuität der Bruch mit der
Tradition vermieden. Konfuzius verwandelt stattdessen das Praktizieren der
Riten – neben Musizieren und Bogenschießen, Schreiben, Lesen und
Wagenlenken – in eine gelehrte Disziplin. Die entsprechenden Muster
ritualisierten Könnens sollen fortan der zeremoniellen Einübung in eine
moralisch sensibilisierte Gefühlskultur dienen, insbesondere soll die
Einhaltung der »Formen« das Empfinden für harmonische Beziehungen,
den Sinn für wohl proportionierte Verhältnisse, für die Mitte zwischen den
Extremen schulen: »Bei der Ausübung der Formen ist die (innere) Harmonie
die Hauptsache. Der alten Könige Pfad ist dadurch so schön, daß sie im
Kleinen und Großen sich danach richteten. […] Die Harmonie kennen, ohne
daß die Harmonie durch die Form geregelt wird: das geht auch nicht.« (I, 12)
Auf diese Weise kann Konfuzius die magisch verwurzelten Praktiken auf
eine ganz andere Weise wie Judaismus und Buddhismus »aufheben«: nicht
durch eine Substitution, sondern auf dem Wege einer reflektierten
Wiederholung von längst auf Distanz gebrachten Riten.
(4) Die konfuzianische Ethik bedeutet zweifellos einen kognitiven Schub
zum Selbstverständnis eines sich als autonom erfahrenden Individuums; sie
ist jedoch Bestandteil einer primär auf das Heil von Staat und Gesellschaft
abzielenden politischen Religion, die trotz einer (wenigstens schwachen)
rituellen Verankerung individuelle Heilsbedürfnisse weitgehend unbefriedigt
lässt. In dieser Hinsicht bildet der Konfuzianismus zur buddhistischen
Lehre, die sich auf I_399 die Erlösung des Einzelnen von der Rotation eines
peinigenden Lebenskreislaufes konzentriert, das andere Extrem. Die
schwache soteriologische Kraft des Konfuzianismus erklärt auch die
Konkurrenz zu jener anderen, in den chinesischen Kanon aufgenommenen
Schulrichtung, dem Taoismus. Ein Gegensatz zwischen diesen beiden
chinesischen Schulen besteht auch in anderer Hinsicht. Anders als
Konfuzius lehrt Lao-tse die Abkehr von der Politik und allgemein den
Rückzug von der Welt. Aber vor allem das konfuzianische Erlösungsdefizit
erklärt die Lücke in der persönlichen Lebensökonomie, in die der Taoismus
und ein später mit dem Taoismus verschmelzender Buddhismus eindringen
konnten, um die Staatsreligion gewissermaßen arbeitsteilig zu ergänzen.
[445]
Auch der Taoismus ist ursprünglich so wenig wie die anderen
autochthonen Schulen Chinas eine Erlösungsreligion. Lao-tse hatte keine
Jünger und keine religiöse Gemeinde. Aber schon die legendäre
Lebensgeschichte macht ihn in einem ganz anderen Sinne als Konfuzius zu
einem »Religionsstifter«. Er wird bereits in der aus dem zweiten
vorchristlichen Jahrhundert überlieferten Biographie (im 63. Kapitel des
ersten chinesischen Geschichtswerkes Shiji) als eine geheimnisvolle und
sagenumwobene Gestalt dargestellt – als ein Zeitgenosse des Konfuzius, der
zunächst als Archivar am Hofe eines Königs aus der Zhou-Dynastie tätig
gewesen und dann »nach Westen« gezogen sein soll, um das berühmte Tao
Te King (auch Daodejing) zu schreiben und an unbekanntem Ort im hohen
Alter von 160 Jahren zu sterben.[446] Man weiß nichts Gesichertes von
diesem Autor, der vermutlich (wenn diese Person nicht überhaupt eine
Konstruktion gewesen ist) etwa um 400 v. Chr. gelebt hat. Seit dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert wird Lao-tse in China als Gott verehrt. Einige
taoistische Strömungen haben sich offenbar mit volksreligiösen
Überlieferungen verbunden.[447] Aber im Kontext der Achsenzeit geht es
nur um die Philosophie des meistübersetzten altchinesischen I_400 Textes
von Lao-tse, des Tao Te King, sowie des bedeutenden Buches Chuang-tse
(auch: Zhuangzi oder Das wahre Buch vom südlichen Blütenland), das dem
Mitbegründer des Taoismus und vermutlichen Zeitgenossen des Lao-tse,
Chuang-tse, zugeschrieben wird. Der Ausgangspunkt ist derselbe wie bei
Konfuzius: Die Welt ist in großer Unordnung; die Menschheit verfehlt ihr
Tao, sie ist aus dem Tritt geraten. Aber Lao-tse hält dem Programm der
sittlichen Bildung und der Zivilisierung der Menschheit höhnisch entgegen:
»Wohlverhalten ist die Oberflächlichkeit von Treu und Glauben / und der
Beginn des Durcheinanders. / Vorauswissen ist [demgegenüber] der Schein
des Dao / und der Beginn der [nötigen] Einfalt.« (I)[448] Ebenso entschieden
weist Lao-tse das Gelehrtenethos des Lernens zurück. Das Wissen des
wahrhaft Weisen, der sich nicht alles Mögliche aneignen will, sondern
»geringer wird«, indem er sich in sich zurückzieht, ist »einfältig«: »Wer das
Lernen betreibt, / gewinnt täglich hinzu. / Wer vom Dao hört, / wird täglich
geringer.« (XI) Gegen Konfuzius, der »die Begriffe richtigstellen« will, pocht
Lao-tse auf die Ordnung, wie sie ist: »Himmel und Erde sind von selbst
richtiggestellt.« (LXXXI) Auch Chuang-tse hält die Bemühungen des braven
Ethiklehrers für Anmaßung. Er erzählt die berühmte Episode der
Begegnung des Konfuzius mit einem alten Fischer. Dieser belehrt ihn in
einem langen philosophischen Gespräch über die Vergeblichkeit seines
pädagogischen Tuns, indem er zunächst die realen Sorgen des Bürgers, des
Landesfürsten und des Himmelssohns schildert und dann meint: »Aber Du
bist weder Himmelssohn noch Landesfürst [noch einfacher Bauer oder
Handwerker] und hast keine Pflichten als Minister. Du maßt dir einfach an,
Rituale und Musik zu verschönern, Morallehren auszuwählen und das Volk
zu normieren. Ist das nicht ein bisschen viel?«[449]
Für die Taoisten ist Moral, so wie das von Menschen Gemachte
überhaupt, etwas Unnatürliches; die fortschreitende Zivilisation
bedeu I_401 tet wachsende Entfernung von den Ursprüngen. Aber aus dieser
an Rousseau erinnernden Verfallsdiagnose ergibt sich kein
gesellschaftliches Reformprogramm; was bleibt, ist die individuelle Abkehr
von der Welt. Der Einzelne muss sich auf sein eigenes Schicksal
konzentrieren und aus den Verstrickungen einer korrumpierten Welt lösen.
Lao-tse empfiehlt die Weisheit der schweigsamen Passivität und des
Loslassens: »Die Lehre des Nicht-Reden, / die Nützlichkeit des Nicht-
Handeln: / in der Welt können wenige an sie gelangen« (VI); »Wer handelt,
scheitert dabei. / Wer festhält, verliert's« (XXVII); »Von den Übeln ist keines
schmerzlicher, / als die Begierde nach Besitz« (IX). Das Ethos des Rückzugs,
der Enthaltsamkeit und der Selbsteinschränkung soll nicht von der Fürsorge
für andere abhalten, aber durchaus von der arroganten Neuerungssucht, die
pädagogisch in die Gesellschaft interveniert, um diese zu verbessern.
Stattdessen gilt es, auf das Tao zu hören und der Natur ihren Lauf zu lassen.
Auch in Staat und Gesellschaft fehlt es nicht an Bildung und Sittlichkeit,
den Fürsten mangelt es vor allem an weiser Zurückhaltung und friedlicher
Selbstgenügsamkeit: »Die Unordnung unter den Leuten: / Weil die Oberen
ein ›Wofür‹ haben – / gerade daher herrscht Unordnung. / […] Nun, / allein
nichts für das Leben tun: / Das ist weiser als das Leben zu schätzen.« (XL)
Lao-tse malt sich unter dem Titel »Ein kleines Land, wenig Menschen« ein
romantisches Bild vom friedlich-einfachen Leben in überschaubaren
Verhältnissen aus (XXX). Und dem Fürsten legt er ans Herz, es dem Tao
gleichzutun – zu herrschen, ohne das Herrscheramt auszuüben: »Weil er
nichts Großes tut, / deshalb kann er Großes vollbringen.« (LXXVIII)
Das kosmologische Weltbild, wonach das Tao des Menschen dem Tao der
Welt entsprechen muss, um im Gleichgewicht zu bleiben, nimmt in der
taoistischen Spekulation deutlichere Konturen an als im Konfuzianismus.
Dabei tritt auch die Transzendenz des Tao gegenüber den »zehntausend
Dingen« klarer hervor. Unter diesem Namen wird die Gesamtheit des
innerweltlichen Geschehens, sowohl das von Natur aus Gewachsene wie
das von Menschenhand Erzeugte, vorgestellt: »Als Dinge sind sie geformt. /
Als Geräte sind sie vollendet.« Wenn es nun von diesen heißt: »Das Dao /
bringt sie hervor, / hegt sie, / lässt sie wachsen, / begleitet sie, / schützt die, /
I_402 zieht sie auf, / nährt sie, / bewacht sie« (XIV), dann scheint das Bild des
»Hervorbringens« an mythische Vorstellungen der Weltentstehung
anzuknüpfen. Aber von dieser Konnotation setzt sich Lao-tse im selben Vers
sogleich ab, indem er den Akt des Hervorbringens als »verborgene Kraft«
von einem innerweltlichen Vorgang unterscheidet, worin eine Entität auf
die andere bloß einwirkt: »Hervorbringen, ohne zu besitzen; / handeln,
ohne abhängig zu sein; / wachsen, und nicht befehlen. / Das heißt:
›verborgene Kraft‹.« Verborgen ist das Tao, weil es nicht wie ein beliebiges
Ding in der Welt wahrgenommen, benannt und beurteilt werden kann. Das
Tao ist das zum Gesetz der Welt abstrahierte Heilige, es ist »erhaben«; es
lässt sich nicht wie etwas in der Welt erfassen – es bleibt »ohne Namen«
(III). Lao-tse versucht an einer anderen Stelle (V), den Wesensunterschied
zwischen dem Gesetz, das dem Geschehen in der Natur seinen Gang
vorschreibt, und dem innerweltlichen Geschehen selbst mit einem Bild zu
veranschaulichen. Welt und Innerweltliches unterscheiden sich so
voneinander, wie sich die arithmetische Regel für die Erzeugung natürlicher
Zahlen überhaupt von den Zahlen selbst unterscheidet. Aber im
Allgemeinen zieht er sich auf die negativ-ontologische Einkreisung des
Unsagbaren zurück: Der Weg, der begangen werden kann, ist nicht der
ewige Weg, der Name der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name
und so weiter (XLV). Dem entsprechen poetisch-paradoxe Formulierungen:
»Wonach man schaut und es nicht sieht: / ›Winzig‹ ist es benannt. /
Wonach man horcht und es nicht hört: / ›Still‹ ist es benannt. / Wonach
man greift und es nicht faßt: / ›Glatt‹ ist es benannt.« (LVIII) Die
Unaussprechlichkeit und Unerkennbarkeit des Tao erklärt auch die
Ablehnung von Gelehrsamkeit und Weltwissen. Das Lernen lenkt vom
Wesentlichen ab. Die Mannigfaltigkeit der »zehntausend Dinge« lässt sich
auf diskursivem Wege erkennen und öffentlich verteidigen, während das
Eine und Zugrundeliegende und zugleich Wegweisende nur intuitiv erfasst
werden kann, in einem Akt schweigender Versenkung. So heißt es bei
Chuang-tse im 25. Kapitel: »Ein Mensch, der das Dao geschaut hat, geht
weder dem Vergehen (der Dinge) noch den Ursachen ihres Entstehens nach.
Damit kommen alle Diskussionen zu einem Ende.«[450]
I_403 Der gemeinsame kosmologische Ausgangspunkt für eine
Transformation der Mächte von Heil und Unheil lenkt in China, Indien und
Griechenland die Abstraktion vom innerweltlich Seienden in dieselbe
Richtung einer als Nichtseiendes oder Sein des Seienden begriffenen
Transzendenz. Dem entspricht in allen Fällen eine Erkenntnislehre, welche
die intuitive Erfassung des Einen, Ewigen und Wesentlichen – gleichviel ob
es als Tao oder Nirwana oder Ontos on begriffen wird – der diskursiven
Erkenntnis der vielen veränderlichen Erscheinungen gegenüberstellt und
dieser überordnet. Das intuitive Erkenntnisideal genießt überall den
höheren Rang. Aber es verbindet sich im Taoismus mit einer geradezu
existentiellen Verurteilung des Weltwissens, während in Buddhismus und
griechischer Metaphysik das Heilswissen der Weisen zugleich den
kategorialen Rahmen für eine begriffliche Organisation und Verarbeitung
des Weltwissens vorschießt. Als würde ein Nullsummenspiel zwischen
Heils- und Weltwissen bestehen, warnt Lao-tse: »Nicht vor die Tür
hinaustreten, / um die Welt zu kennen. / Nicht aus dem Fenster schauen, /
um das Dao des Himmels zu kennen. / Umso weiter das Hinaustreten, /
umso geringer die Kenntnis [des Wesentlichen].« (X) Nicht als ergäbe sich
diese rigorose Abwertung des Weltwissens aus dem Gegensatz einer nach
innen, auf das eigene Bewusstsein gerichteten Meditation und der nach
außen gerichteten theoretischen Erkenntnis, die in der griechischen
Kontemplation des Einen und Ganzen kulminiert. Der Buddhismus, der den
Blick primär nach innen wendet, benutzt die meditativ gewonnenen
Erkenntnisse als Schlüssel für die kosmologische Ausgestaltung der
Dharmalehre zu einem hochdifferenzierten Weltbild, während der Taoismus
mit dem epistemischen Sinn der Meditation bricht.
Vielleicht ist es die theoriepolitische Konstellation in der Zeit der
Streitenden Reiche, vor allem der Konflikt mit der im Ganzen
pragmatischen und weltbejahenden Einstellung des gelehrten
Konfuzianismus, die Lao-tse zur Polarisierung von Heils- und Weltwissen
motivieren. Im Taoismus tritt die ritualisiert eingeübte Selbstbesinnung des
weltabgewandten, in sich gekehrten Weisen an die Stelle ritueller
Praktiken. Er bricht nicht nur mit dem magischen Denken von Orakelpraxis
und Ahnenkult, sondern lehnt zugleich die ethische Überformung und die
Umfunktionierung der herkömmlichen I_404 Riten ab. Chuang-tse lehrt,
dass Rituale nur aus Gewohnheiten entstehen, während uns die Exerzitien
der Einkehr ins eigene Bewusstseinsleben über die Wahrheiten des
Himmels aufklären. Er erläutert die körperlichen Übungen und asketischen
Praktiken, die das »Sitzen in Vergessenheit« an den Umschlagspunkt einer
Selbstauflösung des Ichs heranführen sollen. Außer Diätvorschriften,
sexueller Enthaltsamkeit und Gymnastik sollen insbesondere
Atemtechniken die »Versenkung ins Nichts« fördern. Auf die Frage, was
»das Fasten des Herzens« bedeutet, heißt es bei ihm: »Dein Ziel sei Einheit!
[…] Das äußere Hören darf nicht weiter eindringen als bis zum Ohr. Der
Verstand darf kein Sonderdasein führen. Dann wird die Seele leer und
vermag die Welt in sich aufzunehmen. Und das Tao ist es, das diese Leere
füllt.«[451] Die Meditationstechnik ist Mittel zum Zweck, aber anders als im
Buddhismus ist dieser Zweck, die erleuchtende Begegnung mit dem Tao,
Selbstzweck und nicht Station auf einem langen Weg der Selbstreinigung.
Das Ethos des Nichthandelns, das der Taoismus verkündet, ist keine
moralische Lebensweise, die sich im Rahmen einer kosmisch geregelten
Seelenwanderung eines unbestimmten Tages meritokratisch auszahlen
wird. Das Leben des Weisen verdankt sich keiner moralischen
Anstrengung, ist keine Sache des guten Willens, es soll aus dem
Intentionslosen hervorgehen. Das Heilsziel selbst beschreibt Lao-tse nur
zögernd: »Gebeugtes wird ganz. / Gebogenes wird recht. / Tiefes wird
gefüllt. / Abgenutztes wird neu.« (LXVII) Ein solches Eschaton verbindet sich
nicht mit dem künftigen Schicksal der Menschheit, es erfüllt sich individuell
und augenblicklich, nämlich im reflexionslosen Augenblick des Gelingens
einer Meditation. Die besonnene Lebensweise des Meditierenden erfährt ihr
Höchstes in solchen Augenblicken einer sich selbst überschreitenden und
alle Reflexion auslöschenden Besinnung.
Wie man am taoistischen Beispiel sieht, disponiert die Verehrung einer
transzendenten Macht nicht immer zu einer transzendenten Heilserwartung
jenseits des gegenwärtigen Lebens. Es gibt allerdings Anhaltspunkte dafür,
dass im alten China Atemtechniken zu einer Verlängerung des Lebens
führen sollten.[452] Die eher nüchterne, fast I_405 medizinische
Heilserwartung des taoistischen Mystikers scheint in China alsbald
volksreligiös ausgestaltet worden zu sein. Seit dem zweiten vorchristlichen
Jahrhundert gilt Lao-tse als ein in die »Praktiken des langen Lebens
eingeweihter« Heiliger. Später verfolgen die meisten taoistischen Sekten
das Ziel, irdische Unsterblichkeit zu gewinnen. In einigen sinisierten
Strömungen des Buddhismus sind schließlich die Grenzen zum Taoismus so
weit verschwommen, dass dem adoptierten Lao-tse eine Reihe von
Inkarnationen zugeschrieben wurden. Was die beiden Religionen
tatsächlich verbindet, ist die Betonung der Flüchtigkeit und der
kontinuierlichen Veränderung der sichtbaren Welt, ist der Heilsweg der
Konzentration auf das eigene Bewusstsein und die Diagnose der Ursache
des Leidens. Als Ursache allen Unglücks benennt Lao-tse nicht anders als
Buddha die Verhaftung des menschlichen Lebens an den Körper: »Der
Grund, warum ich große Sorge habe, / ist, daß ich einen Leib habe. / Hätte
ich keinen Leib, worum sollte ich mich sorgen?« (LVII)
I_406 5. Von den griechischen
»Naturphilosophen« zu Sokrates
(1) Aus der Sicht der okzidentalen Geschichtsschreibung erscheint
Griechenland als die Wiege Europas.[453] Tatsächlich bildet sich im
ägäischen Raum während der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen
Jahrtausends eine Kultur, die aus dem Verkehr mit den alten Zivilisationen
des Vorderen Orients viele Anregungen aufnimmt und, zunächst im
Windschatten der damaligen Weltgeschichte, produktiv zu etwas Eigenem
verarbeitet. Diese Kultur versteht sich, spätestens seit den glücklichen
Siegen Athens über die persische Flotte (bei Salamis und Platäa in den
Jahren 480/479 v. Chr.) als »europäisch« und grenzt sich auf den Landkarten
ihrer Geographen von Asien ab. Ungefähr auf demselben Territorium hatte
seit der Mitte des zweiten Jahrtausends eine Hochkultur gleicher Sprache
bestanden. Aber zu dieser um 1500 v. Chr. blühenden mykenischen Kultur,
die um 1200 dem Ansturm der »Seevölker« und den Einwanderungswellen
aus dem Balkan erlegen war, bestanden keine historisch wirksamen
Verbindungen mehr. Aus den »dunklen« Jahrhunderten der Phase zwischen
1200 und 800 v. Chr. ging also eine Reihe von verstreuten, auf
Grundeigentum und Seehandel basierenden Stadtsiedlungen hervor, die als
Fürstentümer und Adelsherrschaften organisiert waren und politisch mehr
oder weniger unabhängig voneinander agierten. In diesen kleinen
städtischen Gemeinden wird der politische Zusammenhalt nicht wie in den
orientalischen Reichen durch die staatliche Bürokratie einer herrschenden
Dynastie gesichert, sondern durch horizontale Verflechtungen und
Konkurrenzen zwischen großen Grundeigentümern. Die sonst für die Alte
Welt typische und weit über die Zäsur der Achsenzeit hinaus typisch
gebliebene Herrschaftsform der imperialen Könige und Kaiser fehlt in
Griechenland.
Der durch gemeinsame Sprache, Sitte und Lebensform informell gestiftete
politische Zusammenhalt charakterisiert auch die Beziehun I_407 gen
zwischen den Poleis, die durch Bündnisse und Gesandtschaften miteinander
verbunden waren oder über nachbarschaftliche Konkurrenzen und
kriegerische Querelen miteinander in Kontakt standen. Das Bewusstsein
panhellenischer Zusammengehörigkeit festigte sich auch durch die
gemeinsamen Götter, das heißt durch kultische Praktiken, Feste,
Heiligtümer und Wettkämpfe – die ersten olympischen Spiele sind für das
Jahr 776 v. Chr. bezeugt. Seit der Mitte des achten vorchristlichen
Jahrhunderts setzte sich diese segmentäre Form der politischen
Vergesellschaftung auf dem Wege der Kolonialisierung fort; schon zu Ende
des sechsten Jahrhunderts erstreckten sich etwa 150 griechische
Kolonialstädte von Spanien und Südfrankreich über das ganze östliche
Mittelmeer bis zur kleinasiatischen und ägyptischen Küste. Die politische
Landkarte dieser herrschaftsverdünnten Region ist vermutlich ein Schlüssel
für die Erklärung der ersten der beiden Innovationen, durch die sich
Griechenland im Laufe des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts politisch
und kulturell vom Rest der damaligen Ökumene unterschieden hat. Hier ist
eine neue, die demokratische Form der Herrschaftsausübung entstanden,
und diese hat der Philosophie, der anderen großen Neuerung, den Boden
bereitet.
In den anderen Regionen hat erst die Revolutionierung der Weltbilder
dazu geführt, dass sich die Legitimationsgrundlagen der bestehenden
monarchischen Herrschaftsformen veränderten. Überall sonst hat eine
intellektuelle Trägerschicht erst die mythische Weltdeutung und das
magischen Denken erschüttert und damit der Symbiose von Herrschaft und
Heil die Grundlage entzogen. In den Alten Reichen hatte sich die
bürokratisch ausgeübte imperiale Herrschaft in den von der Priesterschaft
verwalteten Kulten und Staatsriten vor dem Volk darstellen können. Könige
und Kaiser hatten sakrale Mächte verkörpert oder in dem Sinne
»repräsentiert«, dass sie die Autorität besaßen, als verlängerter Arm der
Götter zu handeln. Erst mit der Entwertung der mythischen Weltbilder war
diese magisch gedeutete Repräsentation zusammengebrochen. Die
Repräsentanten der göttlichen Macht standen fortan selber unter den
gültigen Gesetzen, auf die sich Propheten, Weise, Mönche und
Wanderprediger berufen konnten, um die Herrscher zu kritisieren.
Monarchische Formen der Regierung setzten sich freilich auch auf der
veränderten Legiti I_408 mationsgrundlage fort. Im Machtvakuum der
griechischen Inselwelt und in den marginal gelegenen Städten an der
ionischen Küste hatte sich dagegen um die Mitte des ersten vorchristlichen
Jahrtausends eine neue dezentralisierte Herrschaftsform herausgebildet. Im
geographischen Schatten der Alten Reiche und ungestört von den
Eroberungszügen der großen Imperien hat sich bis zum Beginn des fünften
vorchristlichen Jahrhunderts im Inneren der griechischen Städte die
durchaus turbulente Entwicklung zur »Isonomie« gewissermaßen
naturwüchsig aus politischen und wirtschaftlichen Interessen, jedenfalls
ohne den Vorlauf einer tiefgreifenden intellektuellen Umwälzung,
vollzogen.[454] Mit diesem Begriff fassen die Griechen damals die
Entwicklung zu Reformen der städtischen Verfassungen zusammen, mit
denen »breite Bürgerschichten sich wirksame Mitsprache in politicis
gegenüber dem herrschenden Adel erkämpften.«[455] Diese institutionellen
Neuerungen gingen auf pragmatische Antworten zurück, die einzelne
intelligente, mit Vollmachten ausgestattete Politiker auf die oft
selbstzerstörerische Eigendynamik gestörter aristokratischer
Machtgleichgewichte gefunden hatten.
Ein inspirierender Einfluss des philosophischen Denkens auf die in Athen
exemplarisch durchgeführten Solonischen Reformen zu Beginn des sechsten
Jahrhunderts v. Chr. oder auf die entscheidende Reform des Kleisthenes
hundert Jahre später ist nicht zu erkennen. Die Revolution der
einschlägigen politischen und verfassungsrechtlichen Begriffe, in denen der
tiefgreifende politische Wandel den Zeitgenossen zu Bewusstsein kommt,
hatte sich längst vollzogen, als Sokrates auf der Agora erscheint.[456] Schon
im sechsten vorchristlichen Jahrhundert lassen sich die
Verfassungsgründungen vom Ziel der »Eunomie«, der guten politischen
Ordnung, leiten. Im frühen fünften Jahrhundert kommt die folgenreiche
begriffliche Verbindung von Isonomie, der Gleichberechtigung der
Vollbürger, mit de I_409 ren politischer Freiheit, der Eleutheria, zustande.
Der traditionsbeladene Begriff des Nomos wird jetzt auch für die politisch
beschlossenen, also »positiven« Gesetze verwendet; vergleichsweise spät,
463 v. Chr. in einer Tragödie des Aischylos, taucht für den Begriff der
Isonomie auch der dann im Gegensatz zu Tyrannei eingebürgerte Begriff
der Demokratie auf. Für das Verhältnis von Philosophie und Demokratie ist
es bezeichnend, dass das philosophische Denken nur noch die Chance
wahrnehmen konnte, auf eine inzwischen bestehende und in ihrer
revolutionären Bedeutung erkannte politische Lebensform zu reflektieren.
Vor dem historischen Erfahrungshintergrund einer schnellen Abfolge von
Macht- und Regierungswechseln hat sich aus diesem Nachdenken über das
politisch verfasste Zusammenleben von Bürgern die politische Theorie als
eine neue Disziplin entwickelt. Damit gingen die Philosophen in
Griechenland weit über die in Israel geübte moralisierende
Herrschaftskritik, auch über die in China entwickelte politische
Bildungsidee hinaus. Aber weder als Theoretiker noch als Bürger haben sich
bedeutende Philosophen, von dem ein oder anderen Sophisten abgesehen,
als Vorkämpfer oder Sprecher der Demokratie hervorgetan – daran wird
sich auch bis zu den Tagen des modernen Vernunftrechts nicht viel ändern.
Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Philosophie mag einer der
Gründe dafür sein, dass die Metaphysik, bei aller sonstigen Verwandtschaft
mit den anderen Weltbildern der Achsenzeit, im politischen Kultus der Stadt
nicht Fuß fassen konnte und in ihrem Einfluss auf die Bildungseliten
beschränkt geblieben ist.
Diese Feststellung wirft im Kontext des Weltbildvergleichs Fragen auf.
Denn die an den drei bisher betrachteten Fällen entwickelten Hypothesen
lassen nicht erwarten,
– dass eine radikal neue Herrschaftsform wie die Isonomie, das heißt die
Beteiligung gleichberechtigter Bürger an der kommunalen
Selbstverwaltung, ohne den Vorlauf eines kognitiven Durchbruchs auftritt,
der die auf Mythos und Magie gestützte Legitimationsgrundlage schon
unterminiert und entwertet hatte;
– dass sich die kognitive Wende zum philosophischen Denken offenbar
nicht wie in China oder Israel in einem Klima des offenen Protestes gegen
unerträgliche politische und soziale Lebensverhält I_410 nisse vollzieht (oder
wie in Indien aus dem eschatologischen Bedürfnis, der schockierenden
Erfahrung des verbreiteten sozialen Elends und existentiellen Leidens mit
einer radikalen Antwort zu begegnen).
Die Kontinuität der griechischen Götterwelt und der entsprechenden
kultischen Praktiken reicht über den Zeitpunkt der demokratischen
Umgestaltung der aristokratischen Herrschaft hinaus. Das erklärt sich aus
der relativ unabhängigen Stellung, die in Griechenland die Politik
gegenüber der Religion genießt. Die politische Eigendynamik ist
anscheinend ihrerseits ein Schlüssel für die Erklärung des take-off der
Naturphilosophie und allgemein der idealistischen Metaphysik. Die
Anfänge der Philosophie sind wie überall von kognitiven Dissonanzen
ausgegangen; aber diese sind zunächst in den ionischen Küstenstädten wohl
eher vom technischen und wissenschaftlichen Profanwissen erzeugt worden
als vonseiten einer Überanstrengung der bestehenden Formen sozialer
Integration, die andernorts die Kritik der intellektuellen Eliten
herausgefordert hat.
Die Priesterschaft, die für die Verwaltung des Kultus zuständig war, hatte
vermutlich von Anfang an keinen direkten Einfluss auf die politische
Führung der Stadt. Gewiss war der religiöse Kultus für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt der Polis von großer Bedeutung; die
häufigen Feste wurden mit Prozessionen und Opferriten, mit dem Gesang
der Chöre, mit Tanz und kultischen Mahlzeiten begangen. Aber als
Kultusgemeinschaft vergewisserten sich die Bürger eher ihrer gemeinsamen
Identität, also der autonomen Selbstbehauptung der jeweils eigenen Stadt
wie auch der gemeinsamen Kultur der griechischen Städte nach außen.
Anders als das Volk unter den orientalischen Herrschern hatten hier die
Bürger nicht die Rolle von Komparsen auf der Bühne einer akklamierenden
Öffentlichkeit, auf der die Fürsten und der Adel ihre repräsentative Macht
entfalteten: »Die griechischen Aristokraten haben daraus [aus der Religion]
kein Herrschaftsmittel gemacht. Genauer: Sie haben den Zugang zu den
Göttern, speziell zur Eruierung und Deutung von deren Willen, nicht derart
organisiert (und kontrolliert), daß daraus priesterliche und letztlich
politische Autorität hätte erwachsen können. Es sammelte sich kein
überlegenes Wissen bei den Priestern an, sondern nur I_411 die Kunst, den
Kult richtig zu vollziehen.«[457] Das panhellenische Heiligtum in Delphi ist
ein gutes Beispiel für die funktionale Differenzierung zwischen der
Verwaltung der Heilsgüter und der Politik, wie sie sich im ägäischen Raum
allgemein herausgebildet hat. Da es keine überregionale, über die
Stadtgrenzen hinausreichende politische Autorität gab, konnte die
Anrufung und Befragung der delphischen Götter nicht unmittelbar der
politischen Legitimation dienen. Die religiöse Praxis bestärkte in erster Linie
die soziale Integration einer verstreuten Bevölkerung. Die Gesandtschaften
kamen mit Weihegeschenken zum Orakelheiligtum des Apollon, um sich
mit den vieldeutigen Sprüchen der Pythia einzelne waghalsige Projekte wie
Kriege und Stadtgründungen absegnen zu lassen.[458] Dadurch gewann
Delphi während der Zeit der Kolonialisierung seine Bedeutung als zentrales
Heiligtum aller Griechen. Die Schamanentradition, in der auch diese Orakel
und Reinigungsriten standen, verweist übrigens auf asiatische Ursprünge
des scheinbar »urgriechischen« Apollonkultes. Ein »fremder« Gott wie der
aus Thrakien stammende Dionysos, der nicht zum griechischen Pantheon
gehört, spielt nicht nur in den Stadtfesten Athens eine zentrale Rolle (seit
Peisistratos fanden die Dionysien viermal jährlich statt). Der volkstümliche
Kult, der trotz der großen Öffentlichkeit Züge eines Initiationsritus behielt,
war in ganz Hellas verbreitet. Das Thema berührt Tod und Auferstehung,
die Erneuerung des Lebens: »Euphorie und Trunkenheit antizipieren
gewissermaßen das Leben in einem Jenseits, das nichts mehr mit dem
traurigen Jenseits Homers zu tun hat.«[459] Die auf die Mitte des zweiten
vorchristlichen Jahrtausends zurückgehenden Mysterien von Eleusis
bildeten – neben der Verehrung der lokalen Gottheiten – den dritten Kult
von überregionaler Bedeutung, der »die olympische Religion und die
öffentlichen Kulte ergänzte, ohne sich gegen die traditionellen religiösen
Institutionen der Stadt zu stellen«.[460] Die Bezeichnung »Mysterienkult«
darf nicht irreführen: Die ins Geheimnis Initiierten, die sich erst nach ihrem
Tod von den Nichtinitiierten trennen würden, schlossen sich noch
I_412 keineswegs (wie das in hellenistischer Zeit der Fall sein wird) als
Angehörige einer Sekte von ihrer Umgebung ab.[461]
Die Differenzierung zwischen dem Bereich der bürgerlichen
Angelegenheiten und der Sphäre des Heiligen (to hieron) darf über die
Einbettung der politischen Geschäfte in den Poliskult nicht
hinwegtäuschen. Die innerweltliche Symbiose von Heil und Herrschaft ist
hier noch nicht aufgelöst und wird selbst später im römischen Imperium
noch fortbestehen. Die Götter wurden verehrt, weil von ihnen der Schutz
gegen äußere Feinde, die Abwendung von Hungersnöten, die Bewahrung
vor Krankheiten und so weiter als Gegenleistung erwartet wurde. Die
griechische und die römische Antike gehören auch insofern zur Alten Welt,
als sie politische Verpflichtungen zur Teilnahme am Kultus einschlossen.
Dieser war so sehr zentraler Bestandteil des öffentlichen Lebens der Stadt,
dass auch die Prozesse gegen Gotteslästerung eine wichtige politische
Angelegenheit waren. Auch wenn man die klassische Aussage von Fustel de
Coulanges, dass die Stadt aus der Religion hervorgegangen und wie eine
Kirche organisiert worden ist,[462] nicht beim Wort nehmen darf, muss man
sich an Benjamin Constants berühmte Unterscheidung zwischen der
Freiheit der Alten und der Freiheit der Modernen erinnern: Es gibt in
gewisser Weise kein privates, vom Zugriff der Polis abgetrenntes, der
kollektiven Aufsicht entzogenes Leben – und das gilt erst recht für den mit
der Politik verwobenen Kultus.[463]
Auch noch im »aufgeklärten« klassischen Griechenland war also der
Glaube an die Götter in der Breite der Bevölkerung intakt; die Vitalität des
Götterglaubens blieb bis in die römische Kaiserzeit ungebrochen. Allerdings
kann die literarische Ausgestaltung und Episierung der Götterwelt durch
Homer und Hesiod den Glaubensmodus nicht unberührt gelassen haben.
Die Dichter und Sänger, die das mythische Geschehen zum Kunstwerk
ausgestalteten, konnten bei ihren Zuhörern und Zuschauern offensichtlich
auf reflektierte Einstel I_413 lung und ästhetisches Interesse rechnen. Diese
Rezeptionshaltung wird sich allmählich auch vom Kontext der Teilnahme
an rituellen Praktiken abgelöst haben. Die Literarisierung macht die
mythischen Inhalte einerseits unabhängig vom Ritus. Dichter und Musiker,
die zu Ruhm gelangt sind, komponieren und verfassen aus Anlass religiöser
Zeremonien Gesänge und Texte. So erklärt sich die Inszenierung von je drei
Dramen und einem Satyrspiel bei den Großen Dionysien in Athen, der wir
den Kanon der griechischen Tragödien und Komödien verdanken. Diese
Aufführungen waren kultische Veranstaltungen, deren kathartische
Wirkung Aristoteles analysiert hat: »Im Hindurchgehen durch den
Schrecken und das Mitleiden soll die Seele gelöst, geläutert werden; im
Aushalten von Angst soll sich der Mensch von Ängsten befreien.«[464] Es
sind also die Künstler und nicht die Philosophen, die für die Masse der
Bürger eine neue Dimension der Reflexion auf Menschheitsschicksale
eröffnet haben – sie sind es, die das Selbstverständnis der breiten
Bevölkerung artikulieren und prägen. Während elitäre Philosophen
wirkungsgeschichtlich weitreichende Bildungsideale aufstellen, sind es die
Dichter und die Künstler, die damals den hellenischen Geist der
Zeitgenossen in der Breite »bilden«; manchmal spiegeln sie sogar einen
Wandel des politische Bewusstseins, indem sie sich, wie Christian Meier am
Beispiel der Orestie zeigt, von aktuellen Ereignissen literarisch anregen
lassen.[465] Zweifellos sollten die Tragödien die schicksalhaft versiegelte
mythische Weltsicht nicht nur bekräftigen, sie waren andererseits darauf
angelegt, die ausweglose Verstrickung des tragischen Helden in
schicksalhafte Schuld zu problematisieren. Sie hätten freilich im Rahmen
des Poliskultes von den Teilnehmern selbst dann nicht als eine
mythensprengende Kraft rezipiert werden können, wenn sie in ihrem
objektiven Bedeutungsgehalt das Potential zur Überschreitung der
weltimmanenten Verschlingung von Götter- und Menschenschicksalen
besessen hätten.[466]
So musste die Politik im alten Griechenland ihre Legitimation eher aus
eigenen Erfolgen als aus einem privilegierten Zugang zu den I_414 Mächten
von Heil und Unheil bestreiten. Die um die Wende zum sechsten
vorchristlichen Jahrhundert einsetzenden politischen Reformen haben sich
an Gerechtigkeitsideen und Erfahrungen profanen Ursprungs orientiert.
Wie im Orient bildeten auch hier standardisierte Weisheiten wie etwa die
»Goldene Regel« oder das »Suum Cuique« seit langem ein Reservoir, aus
dem die Griechen beispielsweise Anregungen für ihr Bild von Dike, der
Tochter von Zeus und Themis, schöpfen konnten. Im ägäischen Raum, wo
die politischen Entscheidungen der Stadt überwiegend unter den horizontal
vernetzten aristokratischen Grundeigentümern ausgehandelt werden
mussten, hat vor allem das Modell einer gleichgewichtig ausbalancierten
Teilnahme an politischen Verhandlungen die Gerechtigkeitsvorstellungen
inspiriert. Die Polis beruhte gesellschaftlich auf einer Oikosstruktur, die
erklärt, warum den Frauen und Sklaven (wie auch den Fremden, den
Metöken) das Bürgerrecht der »Oikodespoten«, das heißt der männlichen
Haushaltsvorstände, vorenthalten wurde. Im schnellen Wechsel der
herrschenden Dynastien verhinderte aber die strukturelle Trennung
zwischen Stadt und Haus auch eine Verstetigung der Klientelpolitik.
Im Verlauf der kolonialen Ausbreitung und des wachsenden Wohlstandes
der Handel treibenden Städte hat sich freilich die zunächst segmentär
gegliederte Polisgesellschaft funktional soweit ausdifferenziert und vor
allem sozial so weit stratifiziert, dass sich soziale Unruhen schließlich zu
politischen Krisen zuspitzten. Die wachsende Ungleichverteilung von
Reichtum und Grundeigentum löste Forderungen nach einer Neuaufteilung
des Bodens aus. Ein deutliches Krisensymptom war die Forderung nach
Abschaffung der Schuldknechtschaft. In der Periode zwischen 650 und 550
v. Chr. erschütterten Racheakte, Rechtsverletzungen und Gewaltausbrüche
der Bevölkerung die alte Polisordnung. Die Herrschaft von Tyrannen, die in
vielen Städten für jeweils zehn, zwanzig oder dreißig Jahre die Macht
ergriffen, war ein Anzeichen für das Experimentieren mit neuen
Regierungsformen. Oft konnten die aristokratischen Machthaber die
Konkurrenz um die Teilnahme am politischen Prozess unter sich
ausmachen und eine Ausbalancierung dieser Kräfte gewährleisten. Die neue
Herausforderung bestand in der Inklusion von verarmten und entrechteten
sozialen Klassen. Die Macht musste I_415 zwischen Volk und Aristokratie
aufgeteilt werden. Solon war ein Reformer, der die alte Ordnung unter den
neuen sozialen Bedingungen wiederherstellen wollte. Dieses konservative
Ziel verstand er unter »Eunomie«. Die gleichmäßige Beteiligung am
politischen Prozess ist der Schlüssel zu einer »wohlgeordneten« Gesellschaft,
die keinen konsolidierten Staatsapparat kennt, keine Beamten und
Strategen auf Lebenszeit, keine professionellen Richter und Juristen,
sondern gewählte Archonten. Die politische Ordnung ist in erster Line eine
Antwort auf die Frage nach der ausgewogenen politischen Teilnahme. Auf
dieser pragmatischen Linie entwickelte sich auch die Demokratie. Selbst
Kleisthenes lässt neben der Volksversammlung den Areopag bestehen. Noch
in der von Aristoteles bevorzugten Form der gemischten Regierung drückt
sich das Gerechtigkeitsmodell des Gleichgewichts der Kräfte aus, und nicht
etwa der moderne Gedanke einer egalitär-universalistisch begriffenen
»Isonomie« der gleichen Rechte für alle.
Christian Meier erkennt in der Erfindung der Demokratie das Ergebnis
eines inkrementellen Lernprozesses. Dieser ist durch Erfahrung und
Nachdenken über institutionelle Regeln inspiriert, nicht durch das
prinzipiengeleitete Denken der Achsenzeit.[467] Wie das Beispiel von
Pittakos von Mytilene zeigt, finden sich unter den politischen Pragmatikern,
die mit temporären Vollmachten ausgestattet wurden, um den krisenhaften
Dauerzustand einer Stadt durch kluge institutionelle Reformen zu
überwinden, auch Tyrannen, aber keine Namen, die auf eine philosophische
Herkunft verweisen:[468] I_416 »Damals begegnen uns eine Reihe von
Spezialisten politischen Denkens in den Quellen. Es sind die
›Rechtsfeststeller‹ (die man mit der Kodifikation und zumeist Modifikation
des bis dahin nur ›gewussten‹ Rechts betraute, zum Beispiel Zaleukos und
Charondas, die ›Wieder-ins-Lot-Bringer‹, die teils mit Gesetzen, teils aber
auch mit direkten Eingriffen die Krise der Stadt beheben sollten (zum
Beispiel Solon), schließlich allgemein der Kreis derer, die als Sieben Weise
in den Quellen erscheinen.«[469] Die Experten sind sich nicht einig, wer zu
den »Sieben Weisen« zählte. Von ihnen sind Allgemeinplätze in der Art des
»Erkenne dich selbst« überliefert; der Typus entspricht den aus
Mesopotamien und Ägypten bekannten Intellektuellen, die ihre Weisheiten
aus profanen Erfahrungen gewinnen.[470] Philosophen, die sich wie
Parmenides gelegentlich auch um die Angelegenheiten ihrer Polis
gekümmert oder gar Gesetze auf den Weg gebracht haben sollen, gehören
späteren Generationen an. Sie denken und handeln bereits unter
Bedingungen einer politischen Öffentlichkeit, in der sich der Gedanke der
Isonomie schon Bahn gebrochen hatte. Dieser Gedanke ist allerdings von
einem universalistischen Begriff der Bürgerfreiheit weit entfernt. Nach
Benjamin Constant ist die antike Freiheit eher als das Privileg einer
Minderheit der männlichen Vollbürger zu verstehen, die die staatliche
Gewalt unter sich gleichmäßig aufteilen, um für das Kollektiv insgesamt
verbindliche Gesetze zu beschließen, Gerichtsurteile zu fällen, über Krieg
und Frieden zu entscheiden und so weiter.[471]
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich auch eine Antwort auf die zweite
der beiden Ausgangsfragen. Weil sich die politische Ordnung aus
pragmatischen Gründen und durchaus noch im Einklang mit den Praktiken
und Vorstellungen einer wie auch immer schon ratio I_417 nalisierten
Götterwelt erneuert hatte, bedurfte es nicht erst des kognitiven Schubs der
Achsenzeit, um eine erweiterte Inklusion der Bürger herbeizuführen. Die
Verbindung von Demokratie und Volksreligion, die sich seit dem Beginn
des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts angebahnt und im fünften
Jahrhundert hergestellt hat, bildete für die Entfaltung des philosophischen
Denkens eine ganz andere Konstellation, als sie in Israel, Indien und China
für die kognitive Revolution der Achsenzeit bestanden hatte. Diese
Ausgangslage erklärt die zweiphasige Entstehungsgeschichte der
griechischen Metaphysik – mit dem naturphilosophischen Anfang und dem
Auftritt von Sokrates als Zäsur. Auch in Griechenland bestätigt sich die
Hypothese, dass es kognitive Dissonanzen waren, die den Anstoß zu einer
Revolutionierung der Denkungsart gegeben haben. Die Griechen hatten
sich mit der Einführung der phönizischen Buchstabenschrift und der
Geldwirtschaft, mit der Adaptation fremder Religionen und vor allem mit
der produktiven Aneignung eines im Orient längst akkumulierten
Reichtums an wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen als
weltoffen, intelligent und außerordentlich lernfähig erwiesen. So waren es
nicht in erster Linie die moralischen Empfindlichkeiten, die zur Kritik am
launischen Regiment der Götter aufreizten. Die Dissonanzen mit dem
Götterglauben sind hier wohl eher durch das überlegene empirische,
theoretische und technische Wissen der Schiffsbauer und der Mediziner, der
Seefahrer und der Astronomen, der Landvermesser und der Mathematiker
ausgelöst worden.
Das Interesse der milesischen Naturphilosophen an der Verfassung des
Kosmos erklärt sich eher aus einer Beunruhigung der theoretischen als der
praktischen Vernunft. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die
Philosophie der Vorsokratiker von der Religion als solcher abgewendet
hätte. Auch diese gelangt nur über eine Ontologisierung des Heiligen zu dem
transzendenten Gesichtspunkt, unter dem die Welt als Einheit erfasst und
als ganze theoretisch vergegenständlicht werden konnte. Die von Heraklit
und Parmenides zu Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts
entwickelten Grundbegriffe wie »Logos«, »Sein« und »Nomos« hatten
immer auch einen praktischen Sinn. Aufgrund der Verschmelzung des
Seienden mit dem Seinsollenden führt die Ontologisierung des Heiligen
auch I_418 zu dessen Moralisierung (2). Nachdem dieses begriffliche Niveau
erreicht worden ist, hat sich das metaphysische Nachdenken in der zweiten
Hälfte des fünften Jahrhunderts auf das praktische Leben der Polis
zurückgewendet. Das vorrangige Interesse an Fragen des guten oder
richtigen Lebens begründet die schon erwähnte Verwandtschaft der Lehren
von Sokrates und Konfuzius. Aber anders als dieser, befindet sich Sokrates
in der Situation eines Bürgers von Athen und kann die ethischen
Grundfragen aus dieser Sicht zum Thema machen. Er rekonstruiert mit den
inzwischen entwickelten begrifflichen Mitteln die sittlichen und rechtlichen
Grundlagen der Polisordnung (3). Erst Plato wird diesen anthropologischen
Blickwinkel, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, erweitern; er wird
den ontologischen Zusammenhang zwischen der Verfassung des Kosmos,
der Natur des Menschen und der Polis herstellen und wiederum den
religiösen Sinn des metaphysischen Welt- und Selbstverständnisses
hervorkehren.
(2) Der Rückblick des Aristoteles auf seine philosophischen Vorgänger
(Met. I/3-9) hat für die Philosophiegeschichtsschreibung kanonische Geltung
erlangt:[472] Die Philosophie bricht mit der mythischen Weltauffassung,
indem sie nach Prinzipien fragt. »Prinzip« ist die lateinische Übersetzung
von »arché« oder Anfang. Thales unterscheidet sich von Hesiod dadurch,
dass er die Frage nach dem Ursprung des Kosmos nicht mehr im Sinne einer
Kosmogonie als Frage nach dem zeitlichen Anfang versteht. Die
Ursprungsfrage, die in der zeitlichen Dimension keine begründete Antwort
gefunden hatte, wird fortan in der sachlichen Dimension mit der Angabe
eines Prinzips beantwortet, das erklärt, »woraus alles Seiende ist und« –
Aristoteles benutzt hier eine Formulierung, die an den Satz des
Anaximander erinnert – »woraus es als Erstem entsteht und worein es als
Letztem untergeht, indem das Wesen bestehen bleibt und nur die
Eigenschaften wechseln« (Met. I/3, 983b8-10).[473] Den Hinweis auf
Substanz und Akzidenzien fügt Aristoteles natürlich aus dem eigenen
Begriffsrepertoire hinzu. Vom Hintergrund des mythischen I_419 Denkens
in zeitlichen und räumlichen »Anfängen« heben sich Prinzipien dadurch ab,
dass sie einen anfangslosen oder absoluten Anfang von allem, was ist,
benennen. Und da das systematische Denken auf die Identifizierung eines
ersten Prinzips hindrängt, entsteht mit diesem Erklärungsanspruch die
Perspektive, aus der das Geschehen in der Natur von dem im Ganzen
ungewordenen Kosmos selbst unterschieden werden konnte. Kurzum, dem
Prinzipiendenken entspricht ein Erklärungsmuster, das voraussetzt, dass
wir die beobachtbaren Naturerscheinungen auf die allgemeineren
begrifflichen Strukturen einer ihnen im Ganzen zugrundeliegenden
Wesensordnung hin transzendieren können.
Strittig ist die genaue Bedeutung der Prinzipien, die epistemisch als
»Grundsätze«, aber gleichzeitig auf der ontologischen Ebene als
»Ursachen« fungieren. Solange die Anfänge wie bei Thales und
Anaximenes noch mit Elementen – wie Wasser oder Luft – gleichgesetzt
werden, bilden sie einen sichtbaren Bestandteil des Kosmos und eignen sich
nicht zu Prinzipien im strengen Sinne. Ein innerweltliches oder
»stoffliches« Element steht selber im raumzeitlichen und sachlichen Nexus
des Weltgeschehens; es kann keinen absoluten Anfang bilden und nicht die
Konstitution der Welt im Ganzen erklären. Diesem Einwand setzt sich
Anaximander (der um 611 v. Chr. geboren wird und nach 546 stirbt), der
erste Philosoph mit schriftlichem Nachlass, nicht aus: Er wählt sein Prinzip,
das »Apeiron« oder das Unbegrenzte, hinreichend abstrakt, sodass dieses
nicht mit einer Entität in der Welt verwechselt werden kann.[474] Dennoch
fassen viele Interpreten das Unbegrenzte als etwas Materielles oder im
Sinne der beiden anderen milesischen Naturphilosophen als »Urstoff« auf.
Diese Deutung könnte jedoch die Konsequenz eines falschen
Vorverständnisses sein, das die »Naturphilosophen« als Vorläufer der
Naturwissenschaften, also im weiteren Sinne als Physiker betrachtet – und
nicht als die Philosophen, die das, was der Mythos nicht mehr leistet, im
Einklang mit dem inzwischen akkumulierten Weltwissen durch ein
vernünftiges Selbst- und Weltverständnis substituieren. Werner Jaeger
erinnert daran, dass sich »ta onta«, der Ausdruck für die Gesamtheit der
Dinge, die Anaximander erklären möchte, nicht nur auf I_420 Körper, also
sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezieht: »Dieser Ausdruck ist bis in
spätere Zeiten im Griechischen gebräuchlich für das, was als Bestand zum
Haushalt und zum Besitz eines Menschen gehört; er wird jetzt von der
philosophischen Sprache ausgedehnt auf alles, was überhaupt die
menschliche Wahrnehmung in der Welt vorfindet.«[475] Die
Naturphilosophen gehen selbstverständlich noch nicht von einer im
modernen Sinne objektivierenden, sondern von der »natürlichen«
Weltansicht aus.
Aus dieser im Alltagsleben zentrierten Sicht des Umgangs mit Dingen
und Menschen ergibt sich für das »Unbegrenzte«, das aus der mythischen
Sicht der Kosmogonien noch den dunklen Ursprung ohne Konturen und
Bestimmungen bedeutet hatte, eine andere Bedeutung: »Unbegrenzt« ist der
scheinbar Grenzen ziehende, aber mit jedem Schritt zurückweichende
Horizont, worin uns alles mehr oder weniger Beständige begegnet – die
Natur mit ihren Bergen, Flüssen und Gestirnen ebenso wie der Oikos mit
der Arbeit der Frauen und der Sklaven, mit Essen und Trinken, Geburt und
Tod, oder die Polis mit ihren Reden auf dem Marktplatz, dem Streit vor
Gericht und der Entscheidung über Krieg und Frieden. Im Horizont der
»Lebenswelt« (wie Edmund Husserl sagen wird) verschmelzen die als
Horizont sich abzeichnenden Grenzen des physisch Wahrnehmbaren mit
den symbolischen Grenzen der eingelebten gesellschaftlichen und
kulturellen Umgebung. Und was diese Grenzen so eigentümlich porös und
dehnbar macht, ist der Umstand, dass wir sie geographisch durch Reisen
und imaginativ in Gedanken beliebig hinausschieben, ja fortgesetzt ins
Unendliche, wie es scheint, erweitern können. In diesem Sinne kann das
Apeiron – das Unbegrenzte des ins Unendliche zurückweichenden, aber
niemals überschreitbaren Horizonts – alles Seiende umfassen und so wie
auf andere Weise die Oberfläche einer Kugel (ein anderes Bild des
Anaximander für Hegels Begriff der »konkreten Unendlichkeit«) die Einheit
von Allem veranschaulichen. Das grenzenlos Umfassende (Jaspers'
»Umgreifendes«) markiert nicht nur die Perspektive, aus der die
verwirrende Vielfalt des Seienden als Ganzes betrachtet werden kann,
sondern zugleich das Prinzip selbst, das Einheit in der Mannigfaltigkeit
I_421 stiftet, indem es alles innerweltliche Geschehen durchwirkt,
zusammenhält und regiert. Ontologisch gesehen, begreift Anaximander das
Apeiron zugleich als den Nomos oder die Notwendigkeit, gemäß der alles
Seiende entsteht und vergeht. Wie der einzige Satz, der von Anaximander
wörtlich überliefert ist – der erste Satz der abendländischen Philosophie
überhaupt –, besagt, schaffen die derart gesetzmäßig entstehenden und
vergehenden Dinge »gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit
nach der Zeit Anordnung« (DK 12 B 1). Wenig überraschend verrät sich in
der ontologischen Konzeption von Schuld und Strafe ein Gesetzesbegriff,
worin die sanktionsbewehrte Normativität der Rechtsprechung mit der
ontischen Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens noch identisch ist.[476]
In dieser Hinsicht denken die griechischen Naturphilosophen in
Kategorien ähnlicher Abstraktionsstufe wie die Gottesmänner im alten
Israel oder die Mönche und die Weisen in Indien und China. Und
I_422 wenn man den Kontext betrachtet, in dem alle diese indirekt und
hochselektiv überlieferten Texte stehen, leuchtet die Behauptung ein, dass
auch die frühen griechischen Denker »Theologie« betrieben haben: »Wer
zuerst den allgemeinen Begriff ›das Göttliche‹ [das heißt anstelle der Götter
das unpersönliche to theion] gebraucht, der wirft damit eben die
philosophische Frage nach dem Wesen der Gottheit auf. Das geschieht bei
Anaximander. Das Unbegrenzte ›umfasst alles und steuert alles‹; damit
erfüllt es die oberste Anforderung, die das religiöse Denken von jeher an die
Gottheit gestellt hatte: es ist der Träger der höchsten Macht und
Herrschaft.«[477] Andererseits unterscheiden sich die griechischen
Philosophen von jenen Intellektuellen, die in Indien oder China ähnliche
Konzeptionen des Göttlichen entwickeln, in einem ganz entscheidenden
Punkt. Abgesehen von den Pythagoreern, die sich in religiösen Orden
organisieren, entwickeln sie nämlich keinen eigenen Kultus. Das weitgehend
entritualisierte Geschäft der philosophischen Theorie wird seit Plato Sache
einer Bildungselite, die sich in die Akademie zurückzieht, also der breiten
Bevölkerung den Rücken kehrt und keinen transformierenden Einfluss auf
den überlieferten Poliskult ausübt.
Die milesischen Naturphilosophen stellen bereits die Weichen für eine
philosophische Theologie, worin schließlich die blasse Gestalt eines
unpersönlichen Gottes mit der abstrakten Rolle des »unbewegten
Bewegers« nur noch eine theoretische Lücke im System ausfüllen wird.
Jedenfalls wird Aristoteles den zu seiner Zeit noch nicht festlegten
Ausdruck »Theologie« in zweifachem Sinne gebrauchen: Einerseits für
Hesiod und für die religiösen Denker und Dichter bis zum Beginn der
Philosophie in Milet, andererseits gebraucht er ihn für die »erste
Philosophie«, die im eigenen System neben Mathematik und Physik eine
der drei theoretischen Wissenschaften bildet (Met. VI/1, 1026a18-19). Es stellt
sich also die Frage, warum in Griechenland die Philosophie, die den anderen
Weltbildern der Achsenzeit in vielen Hinsichten ähnlich ist, nicht die Kraft
hat, den sakralen Komplex aus Opferkult und Götterwelt umzuformen. Die
Verbindung einer theoretischen Weltauslegung, die auf der intellektuellen
Höhe ihrer Zeit steht, mit der rituellen Selbstvergewisserung I_423 einer auf
Inklusion angelegten religiösen Gemeinschaft wird sich im hellenistischen
Okzident erst nach der unwahrscheinlichen Symbiose des christlichen
Glaubens mit dem Platonismus herstellen.
Aufschlussreich für die religiöse Geisteshaltung der Vorsokratiker, die
sich zur theoretischen Anschauung sublimiert, ist Xenophanes von Kolophon
(der um 570 v. Chr. geboren wird und nach 470 stirbt), der eine Generation
jünger war als Anaximander und in Elea während der zweiten Hälfte des
sechsten vorchristlichen Jahrhunderts den italischen Zweig der Philosophie
begründete. Er übt an den anthropomorphen Zügen der griechischen
Götterwelt schon auf ähnliche Weise Kritik wie sehr viel später in ganz
anderer Situation Ludwig Feuerbach. Dabei bildet die Empörung über die
laxe Moral der Götter ein wichtiges Motiv (»Stehlen und Ehebrechen und
einander Betrügen« [DK 21 B 12]). Eine eher erkenntnisskeptische Haltung
führt Xenophanes freilich nicht zum Atheismus. Vielmehr zieht er aus der
Unangemessenheit der mythischen Göttervorstellungen die Konsequenz,
den einheitsstiftenden Ursprung des Seienden als Gott zu denken: »Ein
einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt
den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.« (DK 21 B 23) Die Idee des einen
Gottes macht Xenophanes weder zum Monotheisten noch zu einem
bedeutenden Philosophen. Durchdacht hat diesen Monismus erst sein
Schüler Parmenides (der um 520 v. Chr. geboren wird und nach 450 stirbt
und dem jungen Sokrates noch begegnet sein könnte). Von ihm sagt
Aristoteles, er spreche mit »hellerer Einsicht«: »Parmenides nämlich
scheint das begrifflich Eine aufgefaßt zu haben« (Met. I/5, 986b18-19). In
seinem berühmten Lehrgedicht macht Parmenides als Erster einen
Gedankengang explizit, den alle Weltreligionen mehr oder weniger
unreflektiert vollziehen: Der Wesensgrund, das Substrat, die Verfassung der
Welt ist selbst von der geistigen, genauer, von der konzeptuellen Natur der
Aussagen, in denen wir die Welt als solche ontologisch – oder das Schicksal
der Menschen eschatologisch – beschreiben: »denn dasselbe ist Denken und
Sein« (DK 28 B 3).
Das in großen Teilen überlieferte Lehrgedicht des Parmenides ist seiner
poetischen Form nach eine Verkündigung der Göttin Dike für einen
auserwählten »wissenden Mann«. Seinem Inhalt nach besteht I_424 es aus
einer Reflexion auf zwei entgegengesetzte Wege der Forschung. Den einen
soll der Weise im philosophischen Nachdenken über das Seiende als solches
einschlagen, den anderen meiden. Das Gedicht ist im Tenor eines Aufrufs
zur existentiellen Entscheidung angesichts einer Krise abgefasst. Daraus
geht schon hervor, dass die religiöse Rahmenerzählung mehr ist als nur die
poetische Einkleidung eines Arguments; Parmenides zeichnet vielmehr den
richtigen Weg zu theoretischer Erkenntnis als den Heilsweg aus, der zu einem
Leben »in der Wahrheit« führt. Ziel ist die kontemplative Erfassung des
Seins – des wohlgerundeten und sich selbst genügenden, allem Entstehen
und Vergehen enthobenen, ewigen und notwendigen Zusammenhangs alles
Seienden. Auch auf dem rechten Weg gelangen wir freilich nur durch
diskursive Überlegung zum Ziel der intellektuellen Anschauung des Seins.
Schon Parmenides trifft die wichtige Unterscheidung zwischen Vernunft
und Verstand, nous und dianoia, also der unvermittelt intuitiven Hingabe an
das im Erfassen uns umfassende Ganze einerseits, der schrittweise
begründenden, durch Argumente vermittelten Erkenntnis andererseits. Als
Schlüssel zum Verständnis des kryptischen Satzes von Parmenides, »daß IST
ist und daß Nichtsein nicht ist« (DK 28 B 2), schält sich aus der langen
Interpretationsgeschichte ein Vorschlag heraus, der sich an Charles Kahns
Untersuchung zur griechischen Sprachgeschichte anschließt.[478] Im
damaligen Sprachgebrauch lag es offenbar nahe, die existentielle Bedeutung
von »sein« im Sinne von »es gibt« mit der veritativen Bedeutung des in
deskriptiven Aussagen prädikativ verwendeten »ist« so zu verschmelzen,
dass ausgesagte »Gedanken« selbst Existenz annehmen konnten. Wenn
aber die Wahrheit einer Aussage nicht nur die Existenzvoraussetzung des
Gegenstandes impliziert, von dem etwas ausgesagt wird, sondern an das
»Gegebensein« oder die Existenz der ausgesagten Inhalte selbst assimiliert
wird, liegt die Hypostasierung von Gedankeninhalten zu Ideen nahe. Seit
Parmenides spricht der objektive Idealismus den in wahren Aussagen
ausgedrückten Gedanken selbst in der Weise Existenz zu, dass sich das
Seiende im Ganzen aus solchen existierenden Gedanken zusammenfügt.
Diese Wesenheiten, die nun der erscheinenden Wirklichkeit zu I_425 grunde
liegen sollen, weisen wiederum der Forschung oder dem untersuchenden
Denken den Weg: »Dasselbe ist Denken und der Gedanke, daß IST ist; denn
nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das
Denken antreffen.« (DK 28 B 8) Das bedeutet keine Identität von Denken
und Sein, auch keine idealistische Setzung des Seins. Vielmehr sind beide
gedanklicher Natur; aber gefasst wird ein Gedanke nur aufgrund des darin
gedachten Seienden selbst. Das gedachte Seiende ist der Grund des
Gedankens.[479]
Parmenides interessiert sich freilich noch nicht wie Plato für den
hierarchischen Aufbau der Welt; er entwickelt keine Ideenlehre. In seinem
Lehrgedicht geht es um die »Methode«, den richtigen Weg zur Erkenntnis
und nicht, wie noch bei den ionischen Naturphilosophen und Heraklit, um
Beschreibung und Erklärung des Kosmos selber. Aber der Weg erfordert die
Angabe des Ziels; es geht um den epistemischen Zugang zum ewig mit sich
selbst gleichbleibenden Sein. In diesem Gedanken des Seienden als solchen –
des Seins im ontologisch ausgezeichneten Sinne eines Weltengrundes,
worin sich alle platonischen Wesenheiten zum Einen zusammenfassen –
verbindet sich, sprachanalytisch betrachtet, der existentielle Sinn des
»Gegebenseins« eines in der Welt vorkommenden Dings mit den
klassischen Wahrheitsattributen, der überzeitlichen, unverbrüchlichen und
(trotz variierender Inhalte) einheitlichen Geltung wahrer Aussagen.[480] Für
den ontologischen Begriff des Seins entlehnt Parmenides der
Wahrheitsgeltung die Eigenschaften der Ewigkeit, der Notwendigkeit und
Identität und verschmilzt diese wiederum mit dem originären Sinn des »es
gibt«. Auf diese Weise steigert er den trivialen Sinn von »Existenz« zur
»wahren Existenz«. Damit gewinnt das Sein die Aura des Göttlichen, das
nicht bloß wie etwas Gegebenes in der Welt existiert, sondern als das
Seiende im Ganzen – das alles Seiende umfassende Eine – in einem
exemplarischen und richtungweisenden Sinne existiert. In seinem Sein ist es
zugleich eine Quelle der Erleuchtung für den, der den rechten Weg
einschlägt. So gewinnt der Weg zur philosophischen Erkenntnis dessen,
»was ist«, I_426 die Qualität einer Fahrt zu den Himmeln der Dike, die den
weisen Mann aus der Scheinwelt entführt und die Teilhabe an der
wahrhaften Existenz verspricht.[481]
Das ist freilich nur dann mehr als eine poetische Ausschmückung, wenn
der epistemische Zugang zu dem Einen auch bei Parmenides – wie
offensichtlich bei Xenophanes, der das Eine als Gott oder Göttliches
beschrieb – die Qualität eines Heilsweges erhält. Die These, dass das
Seiende ist und das Nichtseiende nicht ist, klingt auf den ersten Blick wie
eine leere Tautologie. Aber sie enthüllt im zweiten Teil des Lehrgedichts
den tieferen Sinn eines religiösen Aufrufs zur Entscheidung zwischen dem
wahren und dem falschen Leben.[482] Wenn sich »Forschung« in einem
ausschließlich kognitiven Unternehmen erschöpfte, hätte die Grundfrage,
wie das Verhältnis zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden, dem
Einen und dem Vielen im Rahmen einer monistischen Auffassung vom
Seienden im Ganzen zu bestimmen ist, die Gemüter im Verlauf der
Geschichte der Metaphysik nicht immer wieder beunruhigen können. Der
theologischen Unterscheidung von Jenseits und Diesseits entspricht die
ontologische Differenz von der All-Einheit der »Welt« und der
Mannigfaltigkeit des »Innerweltlichen«. Diese, wie wir sehen werden,
immer wiederkehrende Grundfrage der Metaphysik hätte sich in ihren
Anfängen leicht im Sinne einer subjektiven Befangenheit der Sterblichen
epistemologisch entschärfen lassen – und ist auch von den Sophisten
genauso entschärft worden. Die Sphäre der Erscheinungen würde sich
dann, sobald die Phänomene der erscheinenden Wesenheiten als bloßer
Schein erkannt sind, in nichts auflösen: »denn Sein ist, ein Nichts dagegen
ist nicht« (DK 28 B 6). Aber bei Parmenides, der das feststellt, gewinnt dieses
Nichts durch das skandalöse Gebaren des »verblödeten, unentschiedenen
Haufens«, I_427 der »doppelköpfig« in seinen »Scheinmeinungen« hin- und
hertaumelt, dämonische Kraft. Es ist ein dämonisches Unheil, dem sich der
weise Mann durch die befreiende Kraft der Theorie entringen muss. Und
das begründet den Streit der Metaphysiker mit den Sophisten, der so lange
währen wird, wie die metaphysische Denkform als solche ihre Liebhaber
findet. Aber recht behalten haben die Sophisten mit der Parteinahme gegen
den elitären Ausschluss der »Vielen« vom elitären Zugang zur Wahrheit.
Andererseits muss man auch den Kontext sehen: Was dem »blöden
Haufen« nicht zu Bewusstsein kommt, ist die Relevanz der Unterscheidung
zwischen »wahr« und »falsch«. Wie die Propheten dem Volk mit der
Unbedingtheit, das heißt dem deontologisch zwingenden Sinn der
göttlichen Gebote den vernünftigen Charakter der Unterscheidung des
Gerechten vom Ungerechten einschärfen, so verteidigen die griechischen
Philosophen spiegelverkehrt mit der Ontologisierung von Sein und Nichts
das ethisch-existentielle Gewicht der Differenzierung des Wahren vom
Falschen. Solange der Masse der Bevölkerung eine Meinung so viel gilt wie
die andere, kommt ihr nicht zu Bewusstsein, wodurch sich die Menschen
vor anderen Lebewesen auszeichnen. Menschen sind von der Art, dass sie
sich irren und ihr Leben verfehlen können. Und solange sie sich nicht als
diejenigen verstehen, die Wahres vom Falschen, Sein von Schein
unterscheiden können, vollzieht sich ihr ganzes Leben im Unwissen und im
Nichtseienden. Daraus erklärt sich die existentielle Aufladung des
Nichtseienden mit den Konnotationen des Dunklen, Irreführenden und
Verächtlichen.[483] Diese Sphäre erhält das Ge I_428 wicht einer unheilvollen
Gegenwelt zur lichten Sphäre des Seienden und affiziert wiederum den
Begriff des Unwissens, des fehlenden Bewusstseins von der kritischen
Bedeutung des begründeten Neinsagenkönnens. Der epistemische Sinn des
Irrtums nimmt den religiösen Sinn des verfehlten Lebens an. Auch aus den
Äußerungen von Heraklit, der in Ephesos ungefähr zur selben Zeit wie
Parmenides gelebt und geschrieben haben dürfte, spricht nicht nur
aristokratischer Hochmut, sondern ein religiöses Wüten gegen das Unheil
des Unwissens, wenn er sagt: »Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es
vernommen; so sind sie wie Taube.« (DK 22 B 34)
Anders als Parmenides lehnt Heraklit es ab, überhaupt am politischen
Leben teilzunehmen. Er galt als Misanthrop und lebte zurückgezogen, denn
»[f]ür der Lehre Sinn, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein
Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn
vernommen« (DK 22 B 1). Obwohl der in Rätseln schreibende Heraklit in
Inhalt und Stil seiner Lehre oft als Kontrastfigur zu Parmenides, dem
elegant schreibenden und streng denkenden »Ontologen«, wahrgenommen
wird, unterscheiden sich ihre Konzeptionen, soweit sie überliefert sind,
zwar in Thema und Fragestellung, aber nicht in den metaphysischen
Grundzügen. Während Parmenides über die Methode, also den Weg der
Forschung nachdenkt, entwirft Heraklit wie die Naturphilosophen ein Bild
des Kosmos. Er begreift den Logos, der »aus Allem Eins und aus Einem
Alles« macht (DK 22 B 10), als das Gesetz, das in der dynamischen
Mannigfaltigkeit der fließenden Erscheinungen die Einheit einer
spannungsreichen Balance aufrechterhält: »gegenstrebige Vereinigung wie
die des Bogens und der Leier« (DK 22 B 51). Heraklit beschreibt den Kosmos,
in ähnlicher Weise wie Parmenides das Sein, als unerschaffen,
unvergänglich und »immerseiend«; und wie bei diesem das Denken, so
bezieht sich bei Heraklit der Logos auf beides, sowohl auf die Erklärung,
also die Aussage des Philosophen über die Verfassung des Seienden im
Ganzen, wie auf den Gegenstand der Erklärung selbst, auf die gesetzesartige
Struktur der Welt beziehungsweise auf das Seiende als solches. Allerdings
bietet der Doppel I_429 sinn von Logos als Vernunft und Rede zugleich die
Möglichkeit, das Verhältnis von Denken und Sein aus den Himmeln des zur
Göttin auffahrenden Philosophen auf die Erde zurückzuholen, wo er für die
miteinander redenden Menschen die Welt konstituiert, in der alle
gemeinsam leben.
Gewiss, auch hier ist das Verhältnis von Sprache und Sein ontologisch
gedacht (und nicht transzendental). Der Logos der Menschen, die im
Wachen miteinander sprechen, erschließt nicht nur den Logos der Welt, die
für alle dieselbe ist, sondern der Logos ist auch seinerseits darin begründet.
Aber weil sich wie bei Anaximander der Blick aus der intersubjektiv
geteilten Lebenswelt heraus auf den Kosmos richtet und die eine mit dem
anderen verschmilzt, kann Heraklit das Verhältnis von Sein und
Nichtseiendem, Wissen und Nichtwissen aus einer anderen Perspektive als
Parmenides beschreiben, nämlich aus der Sicht interpersonaler
Beziehungen, die in der Dimension von Gemeinsamkeit und
idiosynkratischer Abschottung gegeneinander charakterisiert werden: »Die
Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer
wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.« (DK 22 B 89) Die Vernunft
und das Denken sind allen Menschen gemeinsam; aber »obschon der Sinn
[der logos] gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene
Einsicht« (DK 22 B 2). Die Menge verfällt der Täuschung, lebt in einer Welt
des bloßen Scheins, weil sie der egozentrischen Traumwelt des Schlafenden
auch nach dem Erwachen verhaftet bleibt: den Vielen »bleibt unbewußt,
was sie nach dem Erwachen tun« (DK 22 B 1).[484] Wie bei Parmenides
taumelt die Menge im Wachen wie im Schlaf, weil sie die Bedeutung des
logos, der alle Menschen verbindet, nicht als solche erkennt. Sie führt eine
gleichermaßen phantastische und verfehlte Existenz, weil ihr das
Bewusstsein von der konstitutiven Fähigkeit I_430 und Bestimmung des
Menschen fehlt: die objektive, allen gemeinsame Welt von bloß subjektiven
Einbildungen zu unterscheiden. Der Menge fehlt die Besonnenheit
(Sophrosyne), wie Sokrates sagen wird.
(3) Im Denken von Anaximander, Parmenides und Heraklit öffnet sich
mit den Grundbegriffen »Apeiron«, »Ontos on« und »Logos« wie in den
fernöstlichen Religionen und Weltbildern der epistemische Zugang zu einem
die Welt im Ganzen transzendierenden Gesichtspunkt. Auch hier zeichnet
sich ein der Theorie gewidmetes Leben als ein allerdings den Philosophen
vorbehaltener Heilsweg ab. Alle Weltreligionen verbinden mit ihrem
Konzept des Heilswegs die Vorstellung der praktischen Wahl zwischen dem
rechten und dem falschen Weg. Den epistemischen Zugang zum Heil
bestimmt die Metaphysik insofern in anderer Weise als Buddhismus und
Taoismus, als sich hier die Kontemplation zunächst nicht nach innen
richtet, sondern in der Anschauung des Kosmos aufgeht. Der Einübung in
die Kontemplation fehlt, wie erwähnt, auch der rituelle Charakter, der die
fernöstlichen Meditationstechniken auszeichnet. Zudem kreist die
Spekulation in Griechenland nicht nur um den kontemplativen Zugang zur
All-Einheit. Mit ihr verbindet sich eine anthropologische Auffassung vom
vernünftigen Charakter des Menschen, die über den religiösen Kontext
hinaus Geltung beansprucht. Seit Parmenides sind die griechischen
Philosophen davon überzeugt, dass nicht allein das Haben des Logos für die
menschliche Lebensweise konstitutiv ist, also die Fähigkeit, zwischen
Wahrem und Falschem, Sein und Schein zu unterscheiden, sondern das
reflexive Wissen von diesem Umstand. Sokrates nennt »besonnen«
denjenigen, der weiß, »was er weiß und was er nicht weiß, das eine, daß er
es weiß, und das andere, daß er es nicht weiß« (Charm. 171d).[485] Der
»Besonnene« hat nicht nur Erkenntnisse von etwas, sondern mit der
»Erkenntnis der Erkenntnis« gewinnt er eine »Selbsterkenntnis« – das
Wissen von sich als einem Wesen, das kraft seiner Vernunft jeweils die
Grenze zwischen Wissen und Unwissen zu ziehen vermag. Demnach hat
Vernunft nicht schon derjenige, der performativ die Unter I_431 scheidung
zwischen »wahr« und »falsch« beherrscht, sondern erst derjenige, der im
Bewusstsein von der konstitutiven Bedeutung der Vernunft weiß, dass
Gründe für das menschliche Zusammenleben zählen. Der Logos zahlt sich in
der Münze des dialogischen Nehmens und Gebens von Gründen aus.
Sophrosyne ist allerdings noch keine sophia. Das Bewusstsein vom
vernünftigen Charakter des eigenen Tuns ist nur eine notwendige
Bedingung dafür, dass der Weise die Performanzen der sprechenden,
handelnden und erkennenden Subjekte zum Gegenstand philosophischer
Untersuchungen macht.
Aber offenbar zweifelten die griechischen Philosophen daran, dass ihnen
die Masse der Bevölkerung auf dem Weg zur theoretischen Einsicht
überhaupt folgen könnte. Dieser Vorbehalt und eine fortschreitende
akademische Spezialisierung des Zugangs zu den Ideen sind naheliegende
Gründe dafür, dass der Heilsweg für die Wenigen, die ein Leben in der
Theorie führen können, reserviert wird. Anders als im Brahmanismus ist
das Heilsprivileg zwar nicht an Geburtsstände gebunden, aber faktisch doch
an eine gebildete soziale Klasse. Daher drängt sich die Frage auf, wie sich
der exklusive Zugang zum Heil mit einer universalistischen, also auch die
Vielen einschließenden Konzeption des Guten und Gerechten verbinden
lässt. Sokrates und seine sophistischen Kollegen sind anscheinend die
Ersten, die sich auf philosophische Weise den praktischen Fragen des
Lebens in der Polis zuwenden. Ja, das politische Leben und die Gespräche
auf dem Forum haben offenbar für dieses diskursive Denken nicht nur die
Plattform, sondern ein Milieu gebildet, das dem Denken selbst nicht
äußerlich geblieben ist. Aber während Protagoras, der Demokrat und
Aufklärer, die Existenz der Götter schlicht bestreitet, hat der ebenfalls
wegen Asebie, also Gotteslästerung und Gottlosigkeit, verurteilte Sokrates
nicht die Abschaffung der Religion im Sinn, sondern die geistige
Sublimierung der »heidnischen« Frömmigkeit. Er will die Anbetung der
antiken Götter in die erhebende und erlösende Praxis reiner »Theorie«
überführen. Sokrates macht einerseits eine posttraditional verallgemeinerte
Moral zum Gegenstand der Erkenntnis und will andererseits das religiöse
Bedürfnis nach reinigender Erlösung und Unsterblichkeit befriedigen.
Platos Darstellung vermittelt jedenfalls den Eindruck einer auratischen
Stifterfigur, der »etwas Göttliches und Daimonisches wider I_432 fährt«
(Apol. 31d). Sokrates folgt der Bestimmung eines Lehrers, der zeitlebens für
Gerechtigkeit und für deren rechtes Verständnis streitet, der auf öffentliche
Ämter verzichtet, kein Geld annimmt, in Bescheidenheit lebt und schließlich
als »Erdichter neuer Götter« (Eutyphr. 3b) angeklagt wird: »Mir aber ist
dieses […] von dem Gotte auferlegt zu tun durch Orakel und Träume, und
auf jede Weise, wie nur je göttliche Schickung einem Manne etwas auferlegt
hat zu tun.« (Apol. 33c) Nach dem von ihm auch provozierten Todesurteil
erklärt Sokrates seinen Schülern mithilfe der Seelenwanderung, warum
»Philosophieren heißt, sterben zu lernen«: Die Seele findet nur dann in »die
wahre Geisterwelt« Eingang, »[w]enn sie sich rein losmacht und nichts von
dem Leibe mit sich zieht, weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein
hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies
immer im Sinn hatte, was nichts anderes heißen will, als daß sie recht
philosophierte und darauf dachte, leicht zu sterben« (Phd. 80e). Von
Sokrates haben wir wie von anderen Religionsstiftern – Moses und Jesus,
Buddha, Konfuzius und Lao-tse – nur indirekte Überlieferungen. Dagegen
sprudelt die Hauptquelle – Platos Schriften – in ungewöhnlicher Fülle.
Offensichtlich sind Platos Dialoge in einzigartiger Vollständigkeit
überliefert. Kein antiker Schriftsteller zitiert einen seiner Texte, über den
wir heute nicht verfügten.[486] Dieser Umstand hätte zur Klärung der Frage,
was der historische Sokrates wirklich gelehrt hat, mehr beigetragen, wenn
Plato nicht selbst der Denker geworden wäre, zu dessen Texten die
abendländische Philosophie während der folgenden zweieinhalbtausend
Jahre nur noch »Fußnoten« (Whitehead) beitragen wird. Aber original sind
offensichtlich die »Was ist?«-Fragen, mit denen Sokrates seine Schüler
traktiert hat: Was ist Mut? (La.) Was ist Besonnenheit? (Charm.) Was ist
Wahrhaftigkeit? (Hp. min.) Was ist Gerechtigkeit? (Alc. I) Was ist
Freundschaft? (Ly.) Was ist Schönheit? (Hp. mai.) Sokrates macht die
Erkenntnis des Parmenides von der begrifflichen Natur des Seienden zum
Ausgangspunkt seiner Fragen nach dem »Wesen« einer Sache. Allerdings
erprobt er diese Fragestellung an den sozialen und kulturellen Tatsachen
einer I_433 städtischen Lebenswelt. Während schon die Vorsokratiker die
begriffliche Perspektive für die Untersuchung von Naturtatsachen
erschlossen hatten, verzichtet Sokrates darauf, wie Thales »die
Sonnenfinsternis anzuschauen«. Ihn dünkte, er »müsse zu den Gedanken
[s]eine Zuflucht nehmen und in diesen das wahre Wesen der Dinge
anschauen«. (Phd. 99e)
Die von Perikles reformierten Verhältnisse im demokratischen Athen
bildeten den Nährboden für die radikalen Fragen der sophistischen
Aufklärer – so auch für das sokratische Projekt, das aus denselben Motiven
entsteht wie ungefähr gleichzeitig die neuen Weltreligionen und Weltbilder
in Israel, Indien und China. Die Intellektuellen haben inzwischen ihre
posttraditionalen Vorstellungen von Moral auf den Begriff gebracht und
fordern, wenn nicht überhaupt die schroffe Abkehr von dem volksreligiösen
Welt- und Selbstverständnis, so doch eine kognitive Transformation dieser
Überlieferung. Ein Dialog beleuchtet diese Motivation auch bei Sokrates.
Euthyphron, den der Tod eines durch die Fahrlässigkeit seines Vaters
umgekommenen Tagelöhners in einen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und
Pietät gestürzt hat, wendet sich um Rat an Sokrates, als dieser
delikaterweise schon wegen Gottlosigkeit angeklagt ist. Sokrates möchte
dem skrupulösen jungen Mann nicht etwa die Frömmigkeit überhaupt
austreiben; aber er traktiert Euthyphron im Hinblick auf dessen
traditionsgebundene Frömmigkeit mit der Frage, ob »alles Fromme auch
gerecht sei«. Aus den bohrenden Nachfragen des Meisters ergibt sich als
Erstes, dass die den antiken Göttern entgegengebrachte Frömmigkeit
bestenfalls einen untergeordneten Teil der Idee der Gerechtigkeit bildet. Die
fortschreitende Begriffsklärung führt dann zur Problematisierung einer
Volksfrömmigkeit, die sich im konkretistischen »Handel zwischen
Menschen und Göttern« erschöpfe. Ein verwirrter Euthyphron enteilt
schließlich Sokrates, der selbstironisch über seine Unwissenheit in
göttlichen Dingen reflektiert, mit dem Eingeständnis: »Von Anfang an also
müssen wir noch einmal erwägen, was denn das Fromme ist.« (Eutyphr.
15c)
I_434 6. Platos Ideenlehre – im
Vergleich
(1) Bei der Lektüre des Schriftstellers Plato ist nicht leicht zu entscheiden,
wann Sokrates – auf dem Weg von der Definition einzelner Tugendbegriffe
zur epistemologisch und kosmologisch entfalteten Ideenlehre – die Führung
ganz an den Philosophen Plato abgibt. Um den Vergleich des Platonismus
mit den anderen Weltbildern der Achsenzeit vorzubereiten, kann ich es
dahingestellt sein lassen, wann nur noch Plato durch die Stimme des
literarischen Sokrates zu uns spricht. Den bekannten Gedankengang
resümiere ich in sechs Schritten. Ich behandele (a) den Weg von der
Begriffsbestimmung der Tugenden zur Erkenntnis der höchsten Idee des
Wahren, Guten und Schönen; (b) die abgestufte Teilhabe der erkennenden
Seele am Seienden; (c) die religiöse Bedeutung der Erkenntnisstufen, also
den epistemischen Heilsweg und das philosophische Leben; (d) die
philosophische Bedeutung des Mythos; (e) Polis und politische Theorie; und
schließlich (f) die Rolle des Kultus in der politischen Theorie.
(a) Sokrates untersucht eine offene Vielfalt von Tugenden, darunter
immer wieder die Weisheit, die Tapferkeit, die Besonnenheit und die
Gerechtigkeit. Diese vier bilden nämlich das Ethos der Bürger, von dem das
Zusammenleben und die Einrichtungen einer wohlgeordneten Polis zehren
(Resp. IV, 427c-434d). In jedem Fall geht es um die Bestimmung derjenigen
Idee, in deren Licht eine Äußerung, eine Praxis oder eine Einrichtung als
weise beziehungsweise tapfer, besonnen oder gerecht beurteilt werden
kann. Denn das wahrhaft tapfere, großmütige oder gerechte Verhalten
hängt von der vorgängigen Erkenntnis, also dem richtigen Begriff von
Tapferkeit, Großmut und Gerechtigkeit ab. Nachdem die geeigneten
Definitionen für einzelne Tugenden gefunden sind, drängt sich die Frage
nach der Definition von Tugend im Allgemeinen auf (Men. 72c ff.). Nach
gründlicher Erörterung erkennt Menon in der allen Tugenden gemeinsamen
Gestalt, dem Eidos der Tugend, das Vermögen »Gutes herbeizuschaffen«.
Die Tugenden selbst sind nichts, wonach wir von Natur aus streben; aber
durch ein tugendhaftes Leben erwerben wir das, was schlechthin
erstrebenswert ist – die Erfüllung des Lebens oder das I_435 Gute (to
agathon). Und jeder folgt seinem natürlichen Streben nach dem Guten.
Wiederum bedarf es zunächst der Erkenntnis des Guten, um sich über das
Wichtigste im Leben nicht zu täuschen. Auf diesem Wege gelangt Sokrates
von der Analyse einzelner Tugenden über den Begriff der Tugend zur Idee
des Guten.[487] In dieser Idee fassen sich die Begriffe aller Güter, alles
dessen, was glücklich macht, zusammen; aber worin besteht die Idee des
höchsten Gutes selbst? Für den an Fragen der praktischen Vernunft
interessierten Sokrates erweist sich die Idee des Guten als die Quelle des
Lichts, worin sich alle übrigen Ideen erst erkennen lassen; wie wir die
Gestalt der Dinge erst im Lichte der Sonne wahrnehmen, so enthüllt sich im
Lichte der Idee des Guten die Ideenwelt im Ganzen (Resp. VI, 506b-509b).
Das mag die Pointe des Sonnengleichnisses erklären, die in der
Selbstbezüglichkeit der Erkenntnis des Guten besteht: Wer die Idee des
Guten erkennt, weiß, dass das höchste Gut in der Erkenntnis dieser Idee
besteht.
Wenn das gute und erfüllte Leben eine Sache der Erkenntnis ist, muss
Sokrates sagen, worin sittliche Erkenntnis besteht. Für Plato ist – ein
pythagoreisches Erbe – die Mathematik zwar nicht die höchste, aber doch
die exemplarische Wissenschaft. Sie hat es mit abstrakten Gegenständen
wie Zahlen und geometrischen Gebilden zu tun, die von Haus aus
unsichtbar sind und der symbolischen Verkörperung bedürfen. Damit bietet
sie das Vorbild für die Untersuchung von Ideen, die sich nun aber nicht auf
abstrakte Gegenstände beschränken, sondern alle möglichen Begriffe
einschließen. Geraden und Kreise sind das Modell für Begriffe und
Prädikate, die sich ebenso auf natürliche wie auf kulturelle Gegenstände
oder Sachverhalte beziehen. Stoffe, Tiere und Stühle begreifen wir im Lichte
derjenigen Ideen, die sich in ihnen verkörpern, und in derselben Weise auch
edle oder schnöde Handlungen. Der vernünftige Teil der Seele ist das Organ
für eine Erkenntnis der Ideen, die sich im Modus der Begriffsklärung
vollzieht. Das mathematische Vorbild suggeriert, dass es sich dabei immer
um eine Erkenntnis a priori handelt; sie wird nicht durch Erfahrung geleitet,
sondern durch Anamnese in Erinnerung gerufen. Zur Erklärung greift Plato
auf die Seelenwanderung zurück. Vor ihrer I_436 Implantation in den
lebenden Körper hatte die Seele bereits Bekanntschaft mit der Welt der
Ideen. So verdankt sich strikte Erkenntnis dem expliziten Auffassen von
etwas Vertrautem oder intuitiv Bekanntem. Auf diesem rekonstruktiven
Wege werden Ideen, die wir immer schon kennen, als Ideen erkannt.[488]
Wenn aber die Welt der Ideen weit über die sozialen Beziehungen und
Praktiken hinaus auf alles ausstrahlt, was es in der Welt gibt, muss es
erstaunen, dass die Idee des Guten, also die aus dem Begriff der Tugend
gewonnene höchste Idee, alle anderen Begriffe – also auch die für Minerale
oder Pflanzen, für Organismen oder Gesellschaften, für Farben, Gewichte
oder Artefakte – unter sich befassen soll. Einerseits verrät sich in diesem
überinklusiven Gebrauch von Begriffen der praktischen Vernunft für alles
im Bereich von Kultur und Natur Vorkommende jener Grundzug einer
Moralisierung des Heiligen, der für achsenzeitliches Denken überhaupt den
Motivationshintergrund bildet. Andererseits bilden Erkennbarkeit und
ideales Sein des Guten die Brücke zum auratischen Sein des Parmenides:
Das höchste Gut besteht in der Erfüllung des Lebens, die der Philosoph im
Anblick des »wahrhaft« Seienden erfährt. Dieses an sich Seiende besteht
selber im Modus des Gutseins – allerdings nicht nur des Gutseins, sondern
zugleich des Wahr- und des Schönseins. Wie allen Ideen kommt der Einheit
stiftenden Idee des Guten die ontologische Würde der wahren und
vollkommenen Existenz zu – und zwar an einem Ort über den Himmeln, wo
sie nur die Vernunft zum Beschauer hat (Phdr. 247c). Im Gastmahl entfaltet
Plato weiterhin den Gedanken, dass sich im Eros das Streben nach dem
Guten mit der Sehnsucht nach dem Schönen verschwistert und in der
theoretischen Erkenntnis des Wahren erfüllt. Der analytische Geist der
Griechen unterscheidet explizit zwischen den drei Aspekten des Wahren,
Guten und Schönen – aber eben nur als Aspekten der höchsten Idee. In den
metaphysischen Grundbegriffen des »Ontos on« oder des »Logos« sind
diese Seinsaspekte und Geltungsdimensio I_437 nen freilich so miteinander
verschränkt wie auch in den anderen theologischen und kosmologischen
Grundbegriffen (ob nun »Jahwe«, »Dharma« oder »Tao«). Auch das
philosophische Denken der Griechen erlaubt eine Differenzierung im
Göttlichen nur unter der Bedingung, dass die ontologisch
vergegenständlichten Prädikate des Wahren, Guten und Schönen als
Wahrsein, Gutsein und Schönsein unselbständige Momente im Seinsmodus
des wahrhaft Seienden bilden. Daher sind metaphysische Aussagen in einer
holistischen Sprache formuliert, die deskriptive, normative und evaluative
Bedeutungen auf der Ebene der Grundbegriffe amalgamiert. Erst Kants
Metaphysikkritik wird eine entsprechende Differenzierung im Begriff der
Vernunft selbst erlauben: die praktische trennt sich von der theoretischen
Vernunft, und beide wiederum von der ästhetischen Urteilskraft.
(b) Platos Ideenlehre erbt gewissermaßen von Parmenides die dann von
Aristoteles monierte Schwierigkeit, das spezifische Verhältnis von Seiendem
und Nichtseiendem zu bestimmen. Die Unterscheidung von Wesen und
Erscheinung hat Äquivalente in den anderen Weltbildern und ist überall
religiösen Ursprungs. Aus der Sicht eines epistemischen Zugangs zum Heil
bildet die schemenhafte Sphäre der Körper den Ausgangspunkt eines durch
Meditation, Lernen oder Kontemplation bestimmten Heilsweges, auf dem
sich die Seele aus der leidvollen Umklammerung der Materie befreien kann.
In Griechenland hat das theoretische Wissen, das ein vergleichbares
Heilsversprechen einlösen soll, zwar den reflexiv in sich gekehrten Modus
der Selbsterkenntnis nicht ganz abgelegt; aber die Verbindung des
Interesses an der Erklärung von Naturphänomenen mit der Auszeichnung
von Astronomie und Mathematik als Leitwissenschaften verleiht dem
wissenschaftlichen Charakter, den das Heilswissen freilich auch im
Buddhismus gewinnt, gegenüber der Heilsfunktion des Wissens ein
größeres Gewicht. In Griechenland drückt sich im kosmologischen Weltbild
nicht nur ein religiös bestimmtes Selbst- und Weltverständnis aus, das
zugleich den Rahmen für die Integration des Weltwissens darstellt; Plato
artikuliert dieses Weltverständnis vielmehr – wie Pythagoras – nach dem
Vorbild der Mathematik, einer in der Welt bewährten wissenschaftlichen
Disziplin.
Daher wird auch das problematische Verhältnis von Seiendem und
I_438 Nichtseiendem, unabhängig vom religiösen Kontext, alsbald als eine
wissenschaftliche Frage erkannt, an der sich die berühmte Kritik von
Aristoteles entzündet. Der hält es für »unstatthaft«, »daß man zwar gewisse
Naturen annimmt neben denen im Weltall, diese aber den sinnlich
wahrnehmbaren gleichmacht, mit dem einzigen Unterschied, daß die einen
ewig seien, die andern vergänglich. Denn sie [die Vertreter der Ideenlehre]
reden von einem Menschen-an-sich, Pferd-an-sich, Gesundheit-an-sich und
fügen eben nichts weiter als dies ›an-sich‹ hinzu, ganz so wie diejenigen,
welche zwar Götter annehmen, aber von Menschengestalt« (Met. III/2,
997b5-10). Mit dem Ausdruck »Eidos« für das »Wesen« eines
»erscheinenden« Dinges legt Plato die Vorstellung einer idealen, der
Körperwelt enthobenen Gestalt nahe. Eine Idee ist begrifflicher Natur und
verkörpert sich jeweils in genau den Dingen, die unter diesen existierenden
Begriff fallen. Dadurch haben diese an jener teil. Auf die Art dieser Teilhabe
(methexis) bezieht sich die Frage des Aristoteles. Nun ist es nicht so, als
hätte Plato dazu nichts gesagt. Aber Aristoteles vermisst bei Plato die
Hervorhebung der Relation, die er selbst im Auge hat, wenn er die Form
oder die Idee als eine der »Ursachen« der zugehörigen Phänomene begreift.
Aus Platos Sicht sind Ideen zwar selbständig, sodass sie nur aus sich selbst
erkannt werden können; aber als exemplarische Gestalten sind sie ihrem
Sinne nach darauf angelegt, exemplifiziert zu werden. Das gilt in ähnlicher
Weise für die symbolische Verkörperung von Begriffen oder Bedeutungen
in Zeichen oder Worten,[489] Artefakten oder Handlungen – und so auch
für die materielle Verkörperung von Begriffen in Gegenständen der Natur.
Diese Verkörperung einer idealen Gestalt begreift Plato als die durch
Nachahmung und Ähnlichkeit spezifizierte Beziehung zwischen Regel und
Beispiel. Die Beziehung changiert zwischen der »Nachbildung« im
deskriptiven Sinn der Abbildung eines Originals und der »Nachahmung«
sowohl im normativen Sinn der Verpflichtung, einem moralischen Vorbild
nachzueifern, wie auch im evaluativen Sinne des Strebens, einem Ideal
nahezukommen. In diesen drei Kon I_439 notationen spiegeln sich die
Dimensionen des Wahren, Guten und Schönen bei der Transmission des
Wesensgehaltes der Ur- und Vorbilder in die Welt der sichtbaren und
materiellen, also der erscheinenden Dinge.
Durch die semantische Vernetzung der Ideen untereinander (symploke)
besteht auch schon innerhalb der Ideenwelt eine Art von begrifflicher
Teilhabe. Aber hier, wo die Ideen »nur in Wechselbeziehung aufeinander«
(Prm. 133c) betrachtet werden, beschränkt sich, so Plato, die horizontale
»Teilhabe« auf Implikationsverhältnisse zwischen Bedeutungen. Gegenüber
dieser semantischen Verflechtung der Ideengehalte untereinander muss die
vertikale Teilhabe der wahrnehmbaren Entitäten in der Welt an den
überweltlichen Ideen ein Gefälle zwischen Stufen des Seins, einen
chorismos, überbrücken. In graduell absteigender Richtung vermindert das
perfektionistisch gedeutete Sein gewissermaßen seine ideale Qualität
stufenweise. Schließlich verliert das fortschreitend eingetrübte Sein allen
Wert, wenn es sich ins Nichtseiende auflöst – im Nichts als dem Ursprung
aller Verkörperungen und der Quelle alles Schlechten. Von der Materie als
dem Schlechten kann es keine Idee geben; sie bildet vielmehr das Substrat,
worin sich Geistiges verkörpert. Dabei ist »Materie« kein wertneutraler
Begriff, der nur in religiösen Zusammenhängen mit negativen
Konnotationen aufgeladen würde. Als Gegenbegriff zum höchsten Seienden,
das die Ideen des Wahren, Guten und Schönen in sich vereinigt, bedeutet
das Nichtseiende das Schlechte – einen existierenden Unwert und einen Ort
des Unheils. So birgt die ontologische und epistemologisch ausgearbeitete
Ideenlehre von Haus aus auch einen religiösen Sinn.
(c) Die Wertunterschiede der Seinsstufen spiegeln sich in entsprechenden
Stufen der Erkenntnis. Die Erkenntnisweisen unterscheiden sich je nach
ontologischem Abstand der Aussagen vom wahren Sein. Zwar sind alle
Aussagen binär kodiert, können nur wahr oder falsch sein; aber je nach
ontologischer Stufe des Sachverhalts oder des Gegenstandes variieren
Aussagen nach dem Grad der jeweils möglichen Gewissheit. Denn die
»Wahrheit« selbst ist nach dem intuitionistischen Modell sinnlicher
Gewissheit konzipiert und erlaubt nach Maßgabe der mehr oder weniger
gewissen Meinungen beziehungsweise Erkenntnisse eine Graduierung der
»Wahrheitsfä I_440 higkeit«, die von der binären Kodierung der
entsprechenden Aussagen unabhängig ist. Dem Liniengleichnis zufolge
(Resp. VI, 509c-511e) entsprechen den Seinsstufen der sichtbaren, den Sinnen
zugänglichen, und der unsichtbaren, nur dem Denken zugänglichen
Gegenstandsbereiche das schwankende Meinen (doxa) und das unfehlbare
Wissen (episteme). Die Ungewissheit der Meinungen variiert noch einmal
nach der Flüchtigkeit oder Stetigkeit der Phänomene (Schatten und
täuschende Spiegelungen versus festumrissene
Wahrnehmungsgegenstände). Aufseiten des gewiss Erkennbaren
unterscheidet Plato wiederum die dianoetische Wissensform, für die die
erklärende und beweisführende Mathematik das Beispiel ist, von der Noesis,
die zur unmittelbaren Anschauung des idealen Gehalts, letztlich zur
Vereinigung der vernünftigen Seele mit dem idealen Sein selbst führt. Das
diskursive Denken kann sich noch nicht von den symbolischen
Ausdrucksformen der grammatischen Sprache, der Zahlen oder
geometrischen Figuren lösen. Andererseits steigen wir im Durchlaufen der
Argumente zum vollkommenen Wissen auf (Ep. VII, 342a-e).
Diese Lehre gibt ihren rettenden, also religiösen Sinn zu erkennen, sobald
wir die Seelenvermögen, die mit den Seinsstufen und Wissensformen
korreliert werden, näher betrachten. Der Abschnitt über das Liniengleichnis
endet mit einer Aufforderung an Glaukon: »Und nun nimm mir auch die
diesen vier Teilen [Seinsstufen und Wissensformen] zugehörigen Zustände
der Seele dazu, die Vernunfteinsicht [noesis] dem obersten, die
Verstandesgewißheit [dianoia] dem zweiten, dem dritten aber weise den
Glauben [pistis] an und dem vierten die Wahrscheinlichkeit [eikasia]; und
ordne sie dir nach dem Verhältnis, daß soviel das, worauf sie sich beziehen,
an der Wahrheit teilhat, soviel auch jedem von ihnen Gewißheit
zukomme.« (Resp. VI, 511d-e) Das jeweils höhere Seelenvermögen erreicht
eine entsprechend höhere Seinsstufe, wobei sich im Grad der
Erkenntnisgewissheit die Annäherung der Seele an die Wahrheit verrät.
Und weil sich am Ende die Wahrheit des Gedankens nur in der
Kommunikation der Seele mit dem Wahrsein des Gedachten bestätigt,
verwandelt sich der epistemische Zugang zur höchsten Idee in einen Weg,
der zum Heil führt. Wie in den Mysterienkulten enthüllt sich der Seele die
Wahrheit von Stufe zu Stufe; sie nimmt auf dem Weg zur streng
I_441 theoretischen Erkenntnis zunehmend Teil an der Wahrheit. Der im
Höhlengleichnis (Resp. VII, 514a-518b) geschilderte Aufstieg aus den tiefen
Regionen der Höhle, wo die Unwissenden die Schatten mit der Realität der
Schatten werfenden Gegenstände verwechseln, zum Sonnenlicht des
wahrhaft Seienden kann nicht ohne die Transformation der Seele selbst
gelingen. Nur auf dem Wege einer sukzessiven Läuterung der Seele kann
nämlich die zunehmende Teilhabe an der Wahrheit in die kontemplative
Hingabe an die Wahrheit münden. Erst wenn sich ihr noetischer Teil von
allen niederen Seelenteilen gereinigt hat, kann die Seele im Medium des
vollkommenen Wissens selber zum Bestandteil der Ideenwelt werden. Die
Teilhabe an der Wahrheit geht in den Momenten der seligen Anschauung
der höchsten Idee zum Sein in der Wahrheit über. Nur in diesen
Augenblicken ist die Seele davon befreit, das Sein durch den Leib »wie
durch ein Gitter« zu betrachten (Phd. 82e).[490]
Und auf Dauer kann nur der Tod die an sich unsterbliche Seele aus der
Gefangenschaft des Leibes befreien. Aber selbst an dieser Schwelle wird sie
vom Schicksal weiterer Wiedergeburten ereilt, solange sie unvorbereitet ist.
Hoffnung besteht nur für denjenigen, der bereits das richtige Leben geführt
hat.[491] Der verurteilte Sokrates lehrt angesichts seines Todes den einzigen
bios, der angemessen auf den Tod vorbereitet. Auch der Platonismus
verkoppelt den epistemischen Heilsweg mit einem Ethos, und zwar mit der
wahrhaft philosophischen Lebensweise. Der Philosoph widmet zwar sein
Leben der Theorie, aber diese ist nicht nur selber eine praktische Übung, die
per se zu Besonnenheit, Selbstgenügsamkeit und Redlichkeit erzieht – sie
I_442 fordert auch eine mit ihr konsistente Lebensführung. Sokrates lehrt
nicht nur die Erkennbarkeit des Sittlichen, vielmehr gebietet die sittliche
Erkenntnis auch ein Handeln nach Maßgabe des Erkannten. Die
Konzentration auf die Frage nach dem guten Leben und die theoretische
Vergewisserung der Tugenden haben praktische Folgen für ein Leben, das
asketische Züge trägt. So »enthalten sich die wahrhaften Philosophen aller
von dem Leibe herrührenden Begierden und harren aus und geben sich
ihnen nicht hin, weil sie ja auch nicht Verderb des Hauswesens und Armut
fürchten wie die meisten Geldsüchtigen oder die Ehrlosigkeit und Schmach
der Trägheit scheuen wie die Herrschsüchtigen und Ehrsüchtigen; also
enthalten sie sich ihrer« (Phd. 82c).
(d) Exkurs zur philosophischen Bedeutung des Mythos. Interessanterweise
wählt Plato mythische Erzählungen, also ein anderes Genre der Darstellung
als den philosophischen Diskurs, um vom Schicksal der Seelen nach dem
Tod zu berichten und von der eschatologischen Hoffnung auf überirdische
Gerechtigkeit sowie auf Befreiung aus dem Gefängnis des Leibes einen
suggestiven Ausdruck zu verleihen. Auch im Phaidros, im Timaios und vor
allem im Schlusskapitel der Politeia[492] bedient sich Plato dieser
literarischen Form der Darstellung. Aber was bedeutet dieser Wechsel des
Genres von der begrifflichen Entfaltung eines Gedankens zur Erzählung? In
der Politeia folgt der Bericht über den Mythos von Er unmittelbar der
pathetischen Hasspredigt, mit der Plato begründet, warum er die Dichtung
aus der Polis ausschließen möchte. Homer und die Tragödiendichter
fertigen von den Ideen, die nur die Philosophen unvermittelt anschauen und
diskursiv darstellen können, im trüben Medium einer spielerisch-
metaphorischen, wilde Affekte aufrührenden mythischen Sprache
irreführende Nachbilder an. Philosophen müssen also, wenn sie sich dieses
Genres bedienen, beanspruchen, einen anderen Gebrauch von mythischen
Überlieferungen zu machen als die Dichter. Der im Phaidon (Phd. 114c-115a)
enthaltene Abschnitt über die Bedeutung des Mythos räumt freilich diese
Zweideutigkeiten nicht ganz aus.
I_443 Zwar dürfe, heißt es hier, ein vernünftiger Mann die Wahrheit
mythischer Erzählungen nicht geradeheraus behaupten; aber zu behaupten,
dass es mit der Seele nach dem Tode »eine ähnliche Bewandtnis haben
muß«, wie es der Mythos von der Seelenwanderung als Reinigungsprozess
darstellt, sei in Ordnung: »[W]enn doch die Seele offenbar etwas
Unsterbliches ist«, und von dieser Voraussetzung geht Plato aus, ohne es
beweisen zu können, »lohne [es sich] auch zu wagen, daß man glaube, es
verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit
solcherlei gleichsam sich selbst besprechen.« (Phd. 114d) Plato erlaubt sich
offenbar immer dann den Rückgriff auf einen Mythos, wenn das, was dieser
berichtet, zwar nicht wörtlich wahr sein kann, aber auf der Basis dessen,
was wir mit Sicherheit wissen, so verstanden werden kann, dass er unsere
Erkenntnis in einer praktisch hochbedeutsamen Sache ergänzt – und damit
zugleich eine »große Hoffnung« befriedigt. Auf genau diese Weise redet
auch der verurteilte Sokrates in der Situation des bevorstehenden Todes, als
der Sinn seines eigenen philosophischen Lebens auf dem Spiel steht. Der
Mythos kann nicht mehr als Wahrscheinlichkeit beanspruchen; aber diesem
»Glauben« räumt Plato einen anderen Stellenwert ein als der gewöhnlichen,
auf Sinneswahrnehmung gestützten doxa, denn dieser führt nicht erst wie
die bloße Meinung zum wahren Wissen hin, sondern baut auf dessen
Grundlage – wenn auch selbst nicht unfehlbar – spekulativ auf. Im Fall der
Seelenwanderung und ähnlicher Motive konnte Plato, wenn diese
Interpolation stimmt, auch nicht die längst entwertete homerische
Götterwelt vor Augen haben, sondern allenfalls eine veritable Weltreligion
wie den Buddhismus.[493]
Platos Polemik gegen die öffentliche Rolle der Dichtung richtet sich
gegen einen Konkurrenten, der – anders als die Philosophie – zum
Bestandteil des Poliskultes geworden war. Allen anderen religiösen oder
metaphysischen Weltbildern der Achsenzeit ist es über kurz oder lang
gelungen, dem Mythos und der Opferpraxis nicht nur kognitiv den Boden
zu entziehen, sondern die Legitimationsfunktion, die bis dahin die
Volksreligion ausgefüllt hatte, zu übernehmen. Na I_444 türlich haben die
Philosophen, wie die Sophisten überhaupt, in der athenischen Demokratie
und in anderen Städten eine bedeutende politische Rolle gespielt; als
Sprösslinge der Demokratie waren sie Träger einer völlig neuen Form von
Reflexion und Aufklärung. Eine so mächtige Denkbewegung musste auf Stil
und Inhalt der öffentlichen Diskussionen auf den Marktplätzen, vor Gericht
und in den politischen Versammlungen Einfluss haben. Aber wie hätte die
platonische Lehre, die den Heilsweg der Kontemplation nur den Weisen,
also den Wenigen anbietet und die unaufgeklärte Menge der aktiven
Bürger, Frauen und Sklaven im Halbdunkel der Höhle sitzen lässt, wie hätte
sie das elementare Bedürfnis der allgemeinen Bevölkerung nach
individueller Selbstverständigung und kollektiver Selbstvergewisserung
befriedigen können? Anders als Konfuzianismus und Judaismus,
Buddhismus und Taoismus hat die Philosophie dem »großen Haufen« den
Heilsweg versperrt.
(e) Umgekehrt war die Polis ihrerseits für die Philosophen eine Quelle der
Inspiration; sie bot dem philosophischen Nachdenken ein vorrangiges
Thema. Wie Aristoteles war auch schon Plato davon überzeugt, dass der
Mensch sein Telos nur als Bürger einer Polis verwirklichen kann. Der
Mensch kann sein Wesen nicht im Leben von Familie und Haushalt, nicht in
der Ausübung einer Profession, eines Handwerks, einer kommerziellen
Tätigkeit, sondern allein in der Teilnahme am politischen Leben der Stadt
wahrhaft entfalten. Natürlich sucht auch die Philosophie das Heil für alle;
aber für die Masse der Bevölkerung bestünde es nicht im Kontakt mit der
Welt der Ideen, sondern in dem guten Leben, das ihnen in einer
wohlgeordneten Polis beschieden wäre. Der Konditionalis verweist auf die
Idealisierung, die Plato mit der Eunomie des Solon vornimmt. Die
Institutionen der Stadt bilden für Plato das einzige Medium für eine
gelingende Verkörperung der Ideenwelt in der Welt der Erscheinungen.[494]
Im Hinblick auf das philosophische Interesse am Zustand des politischen
Lebens besteht zwischen Platons Lehre und der politischen Ethik des
Konfuzius auf der einen, dem Nomosdenken der Hebräischen Bibel auf der
anderen Seite zwar eine gewisse Verwandtschaft. In allen Kulturen der
Achsenzeit hat sich das in die I_445 Transzendenz entrückte Heil aus der
symbiotischen Umklammerung der politischen Herrschaft gelöst; und
abgesehen von den weltabgewandten Lehren des Buddhismus und
Taoismus ist die Unterwerfung der politischen Herrschaft unter göttliche
Gesetze auch sonst ein wichtiges Thema. Aber das sophistisch aufgeklärte
politische Leben im klassischen Athen inspiriert Plato zu einer völlig neuen
Behandlung dieses Themas. Mit dem Entwurf des idealen Staates wird er
zum Begründer der »politischen Theorie«.
Konfuzius entwickelt aus der Perspektive des weisen Ratgebers eine
Regierungslehre; er wendet sich primär an die Könige, um sie nach
Maßgabe seiner kosmisch verankerten Ethik auf eine tugendhafte
Ausübung ihres Herrscheramtes zu verpflichten. Auch Platos Reisen nach
Sizilien haben den Zweck, Dionysos als weisen Tyrannen für seine
Auffassungen zu gewinnen. Diese bestehen jedoch nicht aus ethischen
Vorschlägen zum guten Regieren, sondern aus dem Entwurf einer idealen
Verfassung. Nach solonischem Vorbild soll der Gesetzgeber Institutionen
einer wohlgeordneten Polis schaffen, und zwar nach Maßgabe der Ideen.
Jetzt sind die Gesetze das Mittel, um »das Ganze der Tugenden« im
Gemeinschaftsleben zu verwirklichen. Zwar ist auch Jahwes Gesetzgebung
nicht nur Maßstab für die Kritik an der Ausübung der bestehenden
politischen Herrschaft, sondern Basis für die rechtliche und politische
Ordnung des israelischen Volkes. Aber die von der Tora eingesetzte
politisch-soziale Ordnung der religiösen Gemeinschaft lässt auf Erden allein
Spielraum für ein »gesetzgeberisches« Handeln, das sich in der
fortlaufenden Aktualisierung der an sich feststehenden mosaischen Gesetze
erschöpft. Dieser konservative Geist spiegelt sich in den später als Mischna
gesammelten Texten wider (»Mischna« heißt so viel wie »Wiederholung«
der Lehre). Der Rest ist Halacha, ein Verwaltungshandeln, für das die Bibel
keine bindenden Vorschriften enthält. In Griechenland soll demgegenüber
»das Politische« – also jene symbolische Ordnung aus staatlicher Macht
und sakralem Komplex, worin sich die Bevölkerungen der Alten Reiche als
politisch handlungsfähige Kollektive hatten anschauen können – nicht nur
ethischen Maßstäben unterworfen werden. Hier wird es als ein Gegenstand
der Theorie gewissermaßen verwissenschaftlicht.
In Athen haben drei Bedingungen das Entstehen einer
philosophi I_446 schen Lehre von der Politik begünstigt: Die Erfahrung mit
dem ständigen Wechsel zwischen traditioneller Adelsherrschaft,
Tyrannenherrschaft und Demokratie hat erstens genügend
Anschauungsmaterial für einen systematisierenden Vergleich von
Regierungsformen geboten. Sodann traten in Krisenzeiten immer wieder
herausragende, als historisch bedeutsam wahrgenommene Personen als
»Gesetzgeber« auf und unterwarfen bestehende Polisordnungen
tiefgreifenden Reformen. Damit hatte die Politik selbst die neue Stufe eines
reflexiv auf die eigenen »Verfassungsgrundlagen« gerichteten politischen
Handelns erreicht. Und in diesem Zusammenhang war schließlich auch ein
neues Legalitätsbewusstsein entstanden. Gesetze hatte es auch in
Mesopotamien, Ägypten und anderen Königreichen gegeben; aber
Gerichtsverfahren, die für die Annahme einer Anklage und den
Urteilsspruch rationale Begründungen auf der Grundlage eines
Gesetzestextes vorsahen, haben sich zuerst in den griechischen Städten
ausgebildet.[495] Als Beobachter eines solchen Experimentierens mit Recht
und Politik konnte Plato den Gedanken fassen, eine ideale Ordnung, das
heißt eine den Ideen entsprechende Verfassung für die Polis zu entwerfen.
Er konnte die Ausgangsbedingungen für eine politische
Vergemeinschaftung von Bürgern realistisch einschätzen und über die
empirischen Beschränkungen nachdenken, denen die Verkörperung der
Idee eines guten und gerechten Zusammenlebens unterliegen würde. Die
Erfahrung mit der athenischen Demokratie geht der politischen Theorie
voraus. Im Gegensatz zur jüdischen Eschatologie der kommenden
Gottesherrschaft und zum konfuzianischen Denken, das sich in Kategorien
einer sittlichen Pädagogik bewegt, kann der philosophische Idealismus aus
den frei variierten Bruchstücken der Poliswelt das Gegenbild eines idealen
Staates konstruieren.
Die Lehre von der Politik fällt noch durch ein weiteres Charakteristikum
aus dem Rahmen: In Platos Staat werden die Weisen selbst zu politischen
Herrschern promoviert oder die Herrscher zu Philoso I_447 phen (Resp. V,
473b-474b).[496] Im zeitgenössischen Kontext würde es vielleicht noch
eingeleuchtet haben, wenn Plato in Angelegenheiten der Begründung einer
Polisverfassung nur diejenigen für qualifiziert halten würde, die Zugang zu
den Ideen und nicht bloß zu deren Nachbildern haben; aber es bedarf schon
einer Erklärung, warum er diese Experten nach dem Vorbild jener
»Gesetzgeber« modelliert, die nach getaner Arbeit als »gute Tyrannen« ihre
Herrschaft verstetigen. Gewiss, in China wird die Bürokratie des Kaisers aus
konfuzianisch geschulten Beamten bestehen; und zweifellos harmoniert
eine Herrschaft der Priester mit Aussagen der Hebräischen Bibel am
ehesten. Aber den chinesischen Weisen, den jüdischen Priestern und den
buddhistischen Mönchen ist die Rolle von vorbildlichen Lehrern zugedacht.
Sie gewinnen durch exemplarische Lebensführung zwar eine besondere
Autorität. Aber sie verwalten die Heils- und Wissensgüter nur, um sie im
Prinzip an alle Bürger als Gemeindemitglieder zu vermitteln. Sie tragen
Sorge für die unbeschränkte Verbreitung von Heil spendenden Wahrheiten,
aber sie machen sich nicht mithilfe dieser Wahrheiten selber zu Herrschern.
Auch die griechischen Philosophen sind Treuhänder der Heilswahrheiten,
aber in ihrer Rolle als Philosophenkönige nicht nur deren Lehrer und
Propagandisten. Sie sollen zugleich die politische Herrschaft ausüben, weil
sie einen epistemischen Heilsweg verwalten, der nicht verallgemeinerbar ist,
sondern den Weisen vorbehalten bleibt.
(f) Interessanterweise entwickelt Plato seine Ansichten über die
Erkenntnisstufen und deren religiöse Bedeutung am ausführlichsten in
I_448 der Politeia, und zwar genau im Kontext der Erklärung seiner Ansicht,
dass die Philosophen zur Herrschaft berufen sind (Resp. V, 473b-480a; 502a-
521b). Sie oder die philosophisch gewordenen Herrscher verfügen über die
nötige Weitsicht, weil sie gelernt haben, den begehrenden Teil ihrer Seele
mithilfe des mutigen unter die Kontrolle des vernünftigen Seelenteils zu
bringen; nur die, die »eine philosophische Seele« haben, können erkennen,
was für alle, auch für die »geringeren Naturen«, die den epistemischen
Aufstieg zu den Ideen nicht leisten können, das Beste ist. Das Beste für alle
Sterblichen ist eine Existenz als Bürger im wohlgeordneten Staat (selbst
Hausfrauen und Sklaven, muss man wohl hinzufügen, wird nirgendwo
sonst eine bessere Existenz beschieden sein). Eine solche Polis würde die
Erziehung und die Praxis seiner Bürger so organisieren, dass jeder nach
Maßgabe seiner beschränkten Einsicht und an seinem sozialen Ort zu einem
tugendhaften Leben angehalten wird. Damit würde der ideale Staat jedem,
ob er das erkennen kann oder nicht, optimale Bedingungen für ein
tugendhaftes Verhalten gewährleisten. Und dieses allein kann ja den
Kontostand der sittlichen Verdienste verbessern, der über das weitere
Schicksal der Seele im meritokratisch geregelten Kreislauf der
Wiedergeburten entscheidet.
Zu den ermöglichenden Bedingungen gehört ironischerweise auch der
Kult der Götter. Der breiten Bevölkerung fehlt »von Natur aus« die Kraft,
um auf der Stufenleiter der Erkenntnis bis zum Guten und Gerechten
hochzuklettern. Daher kann sie ohne die Stützen von Mythos und Poliskult
nicht auskommen. Aber darf es im idealen Staat »zwei Wahrheiten« geben,
eine für die gesetzgebenden Philosophen und eine andere für die übrigen
Bürger? Am Anfang des vierten Buchs der Nomoi deutet sich diese
beunruhigende Frage an. Hier heißt es einerseits, »daß für einen guten
Menschen das Opfern und der ständige Verkehr mit den Göttern durch
Gebete, Weihgeschenke und alle Formen der Gottesverehrung das schönste
und beste und wirksamste [!] Mittel zu einem glücklichen Leben […] ist«
(Leg. IV, 716d). Andererseits erfolgt auf die Frage nach der religiös
angemessenen Handlungsweise prompt die philosophische Antwort: der
Gottheit am liebsten ist der Besonnene (Leg. IV, 716c-d). Die schon von
Parmenides ausgezeichnete Kardinaltugend der Besonnenheit ermöglicht
ein an der Wahrheit orientiertes Leben, weil I_449 der Besonnene über das
Bewusstsein von der Relevanz des Unterscheidens zwischen dem Richtigen
und dem Falschen verfügt. In Ansehung der Tatsache, dass die Ideenlehre
unmissverständlich mit dem Mythos bricht und eine radikale Wende zur
Transzendenz verlangt, muss die detailbesessene Regelungswut, mit der
sich Plato in den »Gesetzen« um sakrale Vorschriften kümmert,
verwundern. Die Indifferenz, die er gegenüber dem Unterhaltungswert der
für die Philosophen unglaubwürdig gewordenen Göttergeschichten von
Homer und Herodot an den Tag legt, mag aus seiner Sicht noch
verständlich sein: »Diese alten Geschichten wollen wir also beiseite lassen
und ihnen Lebewohl sagen, und wie es den Göttern gefällt, so mag man sie
erzählen.« (Leg. X, 886d) Offensichtlich können Philosophen diese
Götterwelt nicht mehr ernst nehmen.[497] Was bedeutet dann aber die Flut
der gesetzlichen Regelungen, die Plato für die Verehrung der Götter
vorsieht? Der Staat soll den Tempelkult und die Art und Anzahl der Feste
normieren; er soll für alle Heiligtümer die Modalitäten der Anstellung von
Tempeldienern, Priestern und Priesterinnen – sei es die Erblichkeit des
Priesteramtes oder die Wahl durch Los – festlegen; Tempelraub und andere
Frevel gegen die Götter soll er bestrafen und Vorschriften für
Verlobungszeremonien und alles, was die Opfer vor der Hochzeit angeht,
erlassen; er muss sogar die homerische von der orphischen Götterwelt
trennen[498] und »mit Hilfe der Orakelsprüche aus Delphi […] gesetzlich
[…] bestimmen, welche Opfer und welchen Göttern diese vom Staat
darzubringen sind, um sich für ihn zum größten Segen auszuwirken.« (Leg.
VIII, 828a)
Angesichts der Dissonanz zwischen der Wissenschaft vom wahrhaft
Seienden einerseits und dem Konkretismus der überlieferten Vorstellungen
und Praktiken andererseits drängt sich die Frage auf, ob denn auch aus
philosophischer Sicht die Götter existieren (Leg. X, 885b). Allerdings wird
diese Frage in den Nomoi nicht vonseiten I_450 der wahren Philosophen
beantwortet, sondern von jenen sophistischen Gottesleugnern und
Materialisten, die überzeugt sind, dass »Feuer und Wasser und Erde und
Luft […] alle ihr Dasein der Natur und dem Zufall« verdanken (Leg. X, 889b).
Plato gibt sich nicht damit zufrieden, gegen die Atheisten die Beseelung der
Welt und die Existenz der Götter aus der ursprünglichen Spontaneität der
sich selbst bewegenden Seele zu »beweisen«. Es geht ihm gleichzeitig um
die entschiedene Moralisierung eines Göttlichen, das nicht mehr mit den
selbstinteressiert-launischen und bestechlichen Akteuren der alten
Göttergeschichten verwechselt werden darf. Um die Götter, die vom Volk
noch als solche verehrt werden, an die Wirklichkeit der Ideen
heranzuführen oder gar anzugleichen, bemüht sic