Sie sind auf Seite 1von 9

Hallo Daniela,

herzlichen Dank für Deine E-mail.Die Auslassungen des Herrn GLR über
klassische Musik sind wiedermal ein wunderbares Beispiel dafür,mit welcher
Selbstverständlichkeit(und Selbstgefälligkeit)sich manche ´Klassikliebhaber`auf
den höchsten Gipfeln der menschlichen Kultur wähnen,während der Rest der
Welt,dumpf vor Fernseher und PC hockend, vor sich hindämmert.Ihm sei der
Ausspruch eines englischen Literaturwissenschaftlers ans Herz gelegt:“Es gibt
keine Masse,es gibt nur Leute,die von andern als Masse denken“ .Am
dreistesten ist wohl der Vorschlag,den Begriff Klassik als Synonym für alles
Edle,Gute und Wahre zu verwenden.

Obwohl Herr GLR wahrscheinlich nur Zustimmung und emsiges Kopfnicken


erwartet,fühle ich mich bemüßigt,mit den folgenden Zeilen darzulegen,dass
zwar nicht die klassische Musik an sich,wohl aber die Entwicklung und
Verfremdung,die sie bis zum heutigen Tag
durchgemacht hat,als Übel der Welt und Wurzel allen Elends angesehen werden
muss.
Diese Entwicklung betrifft verschiedene Aspekte,die miteinander verflochten
sind.
Wir beginnen mit der Hirnforschung.Aufgrund des Absolutheitsanspruchs der
klassischen Musik(vor allem bei Akademikern) werden Untersuchungen auf
dem Gebiet Musik/Gehirnforschung traditionell natürlich nur mit klassischen
Musikern durchgeführt.
Zufällig bin ich vor ca.20 Jahren auf eine Ausnahme gestossen.Man sammelte
Musiker mit Läsionsschäden,d.h. irgendein Teil des Gehirns war durch Unfall
oder Krankheit beschädigt.
Zum Glück ist das recht selten,so dass man schon fast gezwungen war,auch
Nichtklassiker an der Untersuchung zu beteiligen.
Zusammengefasst stellte man folgendes fest:
a.linker Schläfenlappen geschädigt
Die Musiker konnten nicht mehr vom Blatt spielen,aber wie zuvor auswendig
spielen, Melodien nachspielen oder nachsummen und selbst Melodien und
Rhythmen erfinden.
Dies alles mit Sensibilität und rhythmischem Gefühl.Notenlesen oder vom Blatt
spielen konnten sie nicht mehr.
b.rechter Schläfenlappen geschädigt
Die Musiker konnten weder auswendig spielen,noch einfache
Melodien/Rhytmen nachspielen oder selbst erfinden.Wer vor seiner Schädigung
nach Noten spielte,konnte es nachher auch noch,es klang allerdings seltsam
mechanisch und roboterhaft,also ohne jeden musikalischen Sinn.
Dies entsprach genau meiner damaligen Erfahrung mit klassischen Musikern,die
(obwohl sie ihr Instrument zum Teil sehr gut beherrschten)ohne Noten keine 5
sinnvollen Töne herausbrachten,was viele auch bedenkenlos zugaben.Damals
war ich darüber ziemlich schockiert,mittlerweile bin ich durch ungezählte
Beispiele daran gewöhnt. Ein Paradebeispiel bringt der Neurowissenschaftler
Manfred Spitzer in seinem äußerst lesenswerten Buch „Musik im Kopf“(der
wissenschaftliche Wert leidet leider auch hier zum Teil unter dem Dogma
Musik=Klassik):
`Ein guter Freund,mit dem ich vor mehr als zwei Jahrzehnten immer die ganze
Fastnachts-saison musikalisch verbrachte,brauchte noch am Faschings-Dienstag
die Noten des Narrhalla-Marschs,den wir die Saison über sicherlich mehrere
hundert Male zum Auf-und Abgang von Büttenrednern,Ballett-Tänzern oder
anderen Gelegenheiten gespielt hatten.In dieser Hinsicht war er ein rechtes
Original!`
Für Spitzer ist das allerdings ein Zeichen von besonderer Originalität.

Auch bei Schlaganfallpatienten lässt sich feststellen,dass bei Ausfall der linken
Hirnhälfte
das Sprachvermögen gestört,das musikalische Empfinden aber noch intakt ist.
Nun gut,dachte ich damals,zumindest ist die Wissenschaft den
Zusammenhängen auf der Spur.Ca.20 Jahre später saß ich im Ehrensaal des
Deutschen Museums,gespannt auf den Vortrag `Musik und Gehirnströme,die
neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung`.
Die beiden Professoren verfügen in Heidelberg über modernste Ausrüstung,wie
MRT und PET,um Funktionsbilder am lebenden Gehirn zu erstellen und über
ein Heer von Musikern,die darauf brennen sich untersuchen zu lassen.Es
wurden nur klassische Musiker ausgewählt(um den Umfang in Grenzen zu
halten!).
Das Fazit nach 2 Stunden Vortrag war wörtlich:Die Musik sitzt im linken
Schläfenlappen!
Auf eine Frage nach irgendwelchen Unterschieden zwischen improvisierter und
nach Noten gespielter Musik waren sie zuerst perplex,(obwohl z.B.Mozart und
Beethoven als erstklassige Improvisateure galten,ist Improvisation in der
Klassik erfolgreich ausgemerzt worden),einer der Beiden erzählte aber dann von
ganz aktuellen Ergebnissen,die dann wirklich interessant waren.Wenn z.B. ein
klassischer Geiger auf klassisches Schlagwerk umsteigt spielt er die erste Zeit
noch „auf“ dem linken Schläfenlappen,was sich recht hölzern anhört ,und
braucht dann über ein Jahr,bis er langsam auf den rechten überwechselt(wo es
anscheinend auch hingehört).Nun gut ,zumindest ist die Wissenschaft auf der
Spur.

Oliver Sacks staunt in seinem Buch `Der einarmige Pianist`über die


Gehirnveränderungen bei Berufsmusikern,vor allem eine Verdickung des
Balkens(Corpus Callosum):
``Heutige Anatomen täten sich schwer,das Gehirn eines bildenden
Künstlers,eines Schriftstellers oder eines Mathematikers zu erkennen_aber sie
könnten ohne Zögern sagen ob es sich um das Gehirn eines Berufsmusikers
handelt.``
An anderer Stelle schreibt er:
Es heißt,selbst eine kurze Darbietung klassischer Musik könne bei Kindern
mathematische,sprachliche und räumlich-visuelle Fähigkeiten anregen und
verbessern-der sogenannte Mozart-Effekt.Das ist von Schellenberg und anderen
zwar bezweifelt worden,doch außer Zweifel ist die Auswirkung einer intensiven
musikalischen Früherziehung auf das junge bildsame Gehirn.Takako Fujioka
und ihre Kollegen haben mit Hilfe der Magnetenzephalographie akustisch
evozierte Potentiale im Gehirn untersucht und verblüffende Veränderungen in
der linken Hemisphäre von Kindern aufgezeichnet,die nur ein einziges Jahr
Geigenunterricht hatten während Kinder ohne Unterricht keine solche
Veränderung aufwiesen.
Übertrüge man diese Vorgehensweise z.B.auf die Malerei,ergäbe sich folgendes
Szenario:
An Universitäten und Schulen würde auschließlich `Malen–nach-
Zahlen`gelehrt(zugegeben auf höchstem Niveau)alles andere würde als
lächerlich, kindisch und nutzlos höchstens noch im Kindergarten zur Hinführung
an die E-Malerei toleriert.Die Forschung entdeckt dann staunend die
phänomenalen Unterschiede zwischen Maler-und Nichtmalergehirnen als
weiteren Beweis für die (natürlich positiven) Auswirkungen `der`
Malerei.Sogar das numerische Denken würde durch Malen gefördert.
.
Dies soll (neben unzähligen anderen Forschungsarbeiten,die den Anspruch
erheben „die“Musik zu erforschen und sich doch nur auf die Klassik
beschränken)Beweis genug sein,wie das elitäre Selbstverständnis der heutigen
Klassiker es schafft,sogar die Naturwissenschaften zu blockieren und in die Irre
zu führen.Darin mag auch der Grund für die Schwierigkeiten liegen den Satz
`Musik macht schlau`wissenschaftlich zu beweisen.Es würde mich nicht
wundern,wenn auch die oft gepriesene Verbesserung des räumlichen Denkens
durch „die“Musik mehr auf das ständige Notenlesen als aufs Musizieren
zurückzuführen ist.
Anerkennend muss man jedoch anmerken,dass manche Klassiker überhaupt
Interesse für Gehirnforschung aufbringen.Vielen sind ja auch die
Naturwissenschaften schon zu profan.(vgl.C.P.Snow:Die zwei Kulturen)

Im folgenden soll nun die Frage gestellt werden,mit welchen Mitteln die Musik
in für sie völlig ungeeignete Gehirnbereiche gezwungen wurde.
Da wäre zuerst die völlige Gleichsetzung von Musik und Vom-Blatt-
spielen.Dadurch wird automatisch die linke Hirnhälfte angesprochen,die für
abstrakte Symbole und deren Übersetzung zuständig ist.Gleichzeitig werden
sich nicht zuständige fühlende Bereiche gehemmt.Der schlimmste Nebeneffekt
dieser Gleichsetzung ist jedoch die völlig unnötige Abschreckung eines
Großteils der Menschheit sich aktiv mit Musik zu befassen.Wer kennt nicht die
Aussage.“Ich bin unmusikalisch,ich kann ja nicht mal Noten lesen“
Sehr schön hat dies Wolfgang Pöhlert im Vorwort seiner Grundlagenharmonik
ausgedrückt:
„Genie-oder Starkult und die Unnahbarkeit eines überzogenen Künstlertums
sorgten über Generationen dafür,dass sich der „Durchschnittsmensch“häufig
als“unmusikalisch“ bezeichnet.Der Musik haftet-wie auch anderen Bereichen
der Kunst-ein falscher Ruf von Unerlernbarkeit an,und nur wenige „dafür
Geborene“sind angeblich für Erfolge prädestiniert.....
(übers ohne Noten spielen):...Häufg sind es gerade solche praktischen
Anforderungen,denen beispielsweise Absolventen einer klassisch-
konventionellen Hochschulausbildung nicht gewachsen sind.Trotz
entsprechender Bestätigung ihrer“Hochschul-Musikalität“gelingt es derart
Diplomierten häufig nicht einmal ...einfache Volkslieder oder Schlager zu
begleiten.Nicht umsonst hielt sich bei den Jazz-und Tanzmusikern der
Nachkriegsjahre die Erkenntnis,dass man auf der Suche nach Ersatz für einen
erkrankten Musikerkollegen überall hingehen könne,nur nicht an einen Ort-die
Musikhochschule.`
Darüber hinaus erhält sich in weiten Teilen der Bevölkerung eine unangebrachte
Hochachtung vor der eigentlich relativ leicht erlernbaren Fähigkeit des
Notenlesens,welche häufig irrtümlich mit Musikalität gleichgesetzt wird.Diese
Überbewertung wird von Medien,Hochschulen und anderen Institutionen
genährt,so dass die derart fehlgeleitete öffentliche Meinung gewissermaßen
schon vor dem notenlesenden Interpreten als solches strammsteht „
Wie früh diese Entwicklung begonnen hat soll folgendes Czerny-Zitat zeigen:
„Es gibt Schüler die ein so gutes musikalisches Gedächtnis haben,dass sie
...nicht mehr in die Noten sehen wollen.Man nehme dann den Schülern die Piece
weg und lasse sie etwas Neues beginnen und bald darauf wieder was anderes,so
dass sie erst einmal mit dem genauen Notenlesen beschäftigt seien.“
Ein Beispiel aus heutiger Zeit ist z.B.die im Brustton der Überzeugung
gemachte Feststellung eines Musikers:“Ein echter Musiker spielt nicht ohne
Noten.“(persönlich vernommen)oder die Angewohnheit von Dirigenten das
Notenmaterial selbst von 200 Jahre alten Stücken zum spätmöglichsten
Zeitpunkt auszuteilen.Den Wahnsinn zur Methode macht ein höllandischer
Dirigent(Name ist nicht von Bedeutung) Er ist stolzer Erfinder der´´
Scratchperformance`` d.h.im Orchester werden vormittags die Noten verteilt und
abends werden die Stücke aufgeführt.
Daß beim vom-Blatt-spielen das Aufeinanderhören zu kurz kommt wird wohl
keiner bezweifeln.Vielleicht erklärt das auch die Vorliebe von Schulen und
„Kulturförderern“ für Big-Bands,die mit der gleichen Einstellung geleitet
werden können wie ein Orchester.Man kann Vielseitigkeit vortäuschen,ohne
seine Herangehensweise zu ändern.
Ein weiteres Beispiel aus einem Interview mit Gabriela Montero,einer
klassischen Pianistin,die als einzigartige Ausnahmemusikerin gehandelt wird, da
Sie noch improvisieren kann:
`Als ich acht Jahre alt war,sind wir aus Caracas weggezogen nach Miami zu
einer berühmten Klavierlehrerin.Sie hat mir leider das Improvisieren
verboten.Sie hat gesagt,es hätte keinen Wert,es wäre zu nichts nütze,es wäre
lächerlich..Zehn Jahre habe ich unter dieser Frau gelitten Ich spielte das
klassische Repertoire gewann Preise,aber ich war unglücklich und habe das
Klavier gehasst...`
Kurz und kompakt wurde der Vorgang,der bei uns in großem Maßstab
praktiziert wird,kürzlich in einer BR-Dokumentation dargestellt.Es ging um ein
Kulturprojekt,das jungen Menschen in Afrika klassische Musik näherbringen
sollte.Nachdem die Projektleiter den Großteil der Teilnehmer durch ihre
Notenfixiertheit zum Abspringen gebracht hat,wurde der
kleine verbleibende Rest mit Lehrsätzen wie „Kinn gerade“ „nicht
zappeln“drangsaliert und ständig auf die“richtige Haltung“ hingearbeitet.Am
Ende des Projekts merkt sie allerdings selber, daß die jungen Leute leider viel
von ihrer natürlichen Frische verloren haben.Den Grund hat sie dann aber
schnell gefunden:durch die finanzielle Unterstützung stünden sie jetzt materiell
besser da(mit anderen Worten ihnen geht´s zu gut)—Ist solche Hirnlosigkeit an
sich schlimm genug,wird sie durch den hochgeistigen und weltbeglückenden
Anspruch mit dem sie einherstolziert schon fast unerträglich.
Ein weiterer Bereich in dem der potentielle Segen der Musik ins Gegenteil
gekehrt wird ist die Verlagerung vom Auditiven zum Visuellen.
Joachim E.Behrendt hat in seinem Buch“Das Dritte Ohr“die Überbetonung des
Visuellen und die Unterdrückung des Auditiven in unserer heutigen Kultur
mitsamt den tragischen Konsequenzen,die daraus folgen ausführlich
dargelegt.Daß das im Bereich der Musik(!)besonders absurd und fatal
ist,versteht sich wohl von selbst..
In der Klassik mag das „funktionieren“,da jeder seine Noten hat und wie die
Leibnizschen Monaden sein Programm abspulen kann,bei jeder anderen Musik
wird’s aber wirklich schlimm.Leider ist durch die Allgegenwart der Klassik
dieser Ungeist auch schon z.B.
im Jazz angelangt.Jeder beschäftigt sich nur mit sich selbst und seinem
Instrument in blindem(bzw. taubem)Vertrauen,dass die anderen ja das gleiche
Stück spielen.
Der Dirigent(der durch den Mangel an „Aufeinanderhörkultur“ erst seine
immense Bedeutung erlangt)versucht dann wieder auf visuellem Weg die
einzelnen Stimmen irgendwie zu koordinieren.Dass es im klassischen Bereich
trotzdem wunderbare Musik gibt,ist zum Teil nur durch die Perfektion zu
erklären,mit der die einzelnen Musikermonaden ihr eigenes Progamm abspielen.
Die Fixierung auf Komponisten und ihre Produkte engt außerdem die Musik auf
linear fortschreitende Musik ein.Zyklische Musik wird de facto eliminiert,da
Komponisten glauben in jedem Takt ihre Kreativität beweisen zu müssen.
Daß die völlige Gleichsetzung Musik=nach Noten spielen aus der
unendlichen Vielfalt der Musik nur eine kleine Teilmenge(nämlich die im
Notensystem einigermaßen bequem zu notierende)herausfiltert,soll folgendes
Zitat verständlich machen:
Lothar Zanetti“Peitsche und Psalm“S.96: (es geht um Spirituals):
„Da sich die unerschöpfliche Vielgestaltigkeit des Stimmenablaufs im Notenbild
ebenso wenig festhalten lässt wie die sich überkreuzenden Rhythmen und die
Eigentümlichkeiten der schwarzen Tongebung,musste bei diesen
Aufzeichnungen das vielgliedriege Geschehen notwendig erstarren und
verflachen.Im Notenbild erschienen nun die wenigen verbliebenen Afrikanismen
als „falsch“ im Sinne der europäischen Harmonielehre.So filterte man das Ganze
mehr und mehr aus,bis aus dem ursprünglichen Spiritual eine europäische
Melodiestimme,wenn auch mit kleinen exotischen Reizen übrigblieb...... Nicht
anders ist es mit der Offbeat-Phrasierung,deren unendliche Möglichkeiten zur
braven europäischen Synkope verarmen.“

Über die „Off-beat-Problematik „kommen wir fast zwangsweise zum größten


Frevel der heutigen Auffassung von klassischer Musik:der Abtötung jeglichen
Körperbewusstseins von Kindesbeinen an.Gerade Kindern,mit ihrem natürlichen
Bewegungsdrang,wird durch die ihnen aufgezwungene starre
Körperhaltung(keine unnötigen Bewegungen!der Kopf ist sowieso durchs
Notenblatt fixiert)die Freude am Musizieren ausgetrieben.
Hervorzuheben ist hierbei,dass die Körperfeindlichkeit der klassischen Musik
keineswegs immanent ist,sondern ihr erst nachträglich mit Aufkommen des
Bildungsbürgertums übergestülpt wurde.Es ist unwahrscheinlich,dass
z.B.Mozart mit dieser Einstellung sich so lebendige Musik hätte ausdenken
können.
Gerade der Off-beat eignet sich hierfür als Beispiel da er ohne zumindest
rudimentäres Körpergefühl eigentlich jeden musikalischen Sinn verliert,beim
Hören wie beim Spielen.
Daraus resultiert auch die haarsträubende Unsitte der Klassiker grundsätzlich
auf 1 und 3 mitzuklatschen was jeder Musik einen marschähnlichen,leicht
faschistoiden Charakter gibt.
Mit Ausschalten des Körperbewusstsein verliert man natürlich auch die
Fähigkeit andere Musik überhaupt zu begreifen, was einer verbreiteten Form
von Rassismus Vorschub leistet.
Da wird dann z.B.stocksteif ein lateinamerikanisches oder afrikanisches Stück
gespielt.Vorausgesetzt der fehlende Geist der Musik wird überhaupt
registriert,folgt dann unweigerlich die Behauptung“Da muss man halt
Brasilianer ,Afrikaner etc. sein.“Und wenn
10jährige afrikanische Kinder im kleinen Finger mehr Rhythmusgefühl haben
als Absolventen unserer“musischen“Gymnasien im ganzen Körper,hat das
weder mit Genen noch mit Hautfarben zu tun,sondern mit dem Gipskorsett das
unseren Kindern lehrplanmäßig andressiert wird,sowie der Umerziehung von
der linken auf die rechte Gehirnhälfte.Behrendt:“Im Nahen Osten,in Indien,in
Afrika,in Indonesien kann man auf der Strasse junge Burschen sehen,die aus
selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten.....die kompliziertesten Polyrhythmen
mit absoluter Genauigkeit anschlagen,sieben oder acht verschiedene Rhythmen
überlagernd.Um etwas annähernd Ähnliches im Raum der westlichen Musik zu
realisieren,bräuchte man ein halbes Dutzend verschiedener hoch-studierter
Perkussionisten,von denen dann jeder einzelne seinen Part stur durchschlagen
würde,-wobei,versteht sich,der Schwung und die Vitalität der orientalischen
Darbietung gar nicht erst aufkämen.......die klassische indische Musik lässt sich
bis ins7.Jahrhundert vor Christus zurückverfolgen-so dass es heute eine
ungebrochene Überlieferung gibt,die sich über einen Zeitraum von fast drei
Jahrtausenden erstreckt.Es ist an der Zeit,dass sich westliche Musikhörer dies
vergegenwärtigen,damit sie bescheidener werden in ihrem seit Generationen
gedankenlos nachgeplapperten Anspruch,Musikkultur-zumal das,was wir
„Klassik“ nennen
für sich gepachtet zu haben.“)Daß sie damit nicht die Hüter hehrer Traditien
sind,als die sie sich gern gerieren.zeigt Freia Hoffmanns“Instrument und
Körper,die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur“,in der obwohl primär
die Rolle der Frau betrachtet wird,die geschichtliche Entwicklung unseres
Musikverständnisses zu verfolgen ist.
Die Saat des Verderbens ist natürlich auch in den Jazzschulen in vollster
Blüte.Seit dem Imagewandel des Jazz von der Tanzmusik zur komplizierten
„Verstehmusik“(was natürlich die entsprechende Klientel anzieht),ist die
Bewegungsfeindlichkeit und -unfähigkeit bei Jazzmusikern oft noch größer als
bei den meisten Klassikern.Statt einer aus dem Innern durch die Musik
entstehenden natürlichen Bewegung sieht man allerhöchstens noch
Gaudiburschengehampel oder aufgesetzte Showposen.Selbst Jazzschulen
entlassen ihre Schüler erfahrungsgemäß mit noch weniger Körpergefühl als sie
zuvor hatten. Bei Konzerten,die wirklich in die Beine gehen und das
unverbildete Publikum mitswingt,sitzen oder stehen sie dann in Totenstarre,die
nur ab und an von einem weisen und verständigen Nicken unterbrochen
wird.Die meisten komponieren natürlich auch,was mittlerweile auch bei Jazzern
als die höchste Form der Musikbeschäftigung angesehen wird(sogar die Musik
wird immer mehr produkt-statt prozessorientiert).Das ist dann meistens,wie es
dem heutigen Jazzklischee entspricht,kompliziertes,überladenes Zeug.Und
natürlich untanzbar,um sich vor dem Stigma der Unterhaltungsmusik zu
schützen.
Weitere schädliche Auswirkungen auf die Musikkultur gehen von der
übermäßigen Betonung der Talentidee aus,die zwar ebenfalls nicht auf die
Klassik beschränkt bleibt,von ihr jedoch mit Vorliebe propagiert wird,obwohl es
zu den schönsten und menschenverbindendsten Eigenschaften der Musik
gehört,daß sie allen Menschen zugänglich ist.Das geht soweit dass sogar
nachweislich fleißigen Musikern (z.B.Bach,Mozart) die eigene Arbeit und
Leistung abgesprochen werden soll.Idealbild ist anscheinend das
Wunderkind,das von Gott oder den Musen sein gesamtes Können in die Wiege
gelegt wurde.Oliver Sacks `beweist`das Angeborensein von Musikalität recht
leichtfertig mit dem kurzen Hinweis auf die Bachfamilie.(In einem
Zeitungsartikel wurde sogar der Umstand, dass Bach seinem Bruder als Kind
ziemlich schwierige Noten stibizte als Beweis für Bachs angeborenes Genie
dargestellt,der sich sich nicht,wie oft fälschlich behauptet würde,sein Können
selbst erarbeiten musste.(?))Oft genug wird mit dem Hinweis auf die
Bachfamilie versucht primitivsten Rassismus zu legitimieren(z.B.Heinrich
Sanden“Was muß geschehen?“)
Zum Glück relativiert Oliver Sacks seine Überzeugung an anderer Stelle:``Es
gibt offenkundig ein breites Spektrum musikalischer Begabungen,trotzdem lässt
vieles darauf schliessen.dass praktisch jeder Mensch über angeborene
Musikalität verfügt.Das hat sich am deutlichsten bei der Suzuki-Methode zur
musikalischen Früherziehung gezeugt,die sich beim Erlernen der Geige
vollkommen auf das Hören und die Nachahmung verlässt.Praktisch alle
hörfähigen Kinder reagieren auf solche Ausbildung.``
Untersuchungen(Manfred Spitzer `Musik im Kopf`)zeigen auch,dass z.B.bei
Streichern die Qualität des Spiels ziemlich genau mit der am Instrument
verbrachten Zeit korreliert.Eine Ausnahme bildet allerdings der Gesang,da das
Instrument genetisch bedingt ist und von Geburt an mehr oder weniger bewußt
ausprobiert wird.Wenn wir uns statt durch Sprache mit Geigenspiel unterhalten
würden,sähe es wieder anders aus. Richtig ist nur,daß die Liebe zur Musik die
unbedingt notwendige eigene Leistung erleichtert.Die Auswirkungen dieses
Talentgeredes auf den musikalischen Nachwuchs ist,wenn ernst
genommen,natürlich verheerend.Es fühlt sich dadurch nur der zum Musizieren
tauglich,der schon von seinen ersten musikalischen Versuchen begeistert ist,was
eigentlich mehr auf fehlende Selbstkritik als auf Musikalität hinweist.Der viel
grössere Teil,der die ersten Versuche kritischer sieht,betrachtet sich als
unmusikalisch und scheidet(obwohl viel geeigneter)aus dem Musikleben
aus.Außerdem ist dem sich für talentiert haltenden Rest die Notwendigkeit des
Übens schwerer zu vermitteln.Wohin sich eine Menschengruppe charakterlich-
mental entwickelt, die sich als auserwählt betrachtende tendenziell anzieht und
andere,mit mehr Selbstkritik,eher abschreckt kann man sich leicht
ausrechnen.Endergebnis ist ein kleines Grüppchen `Auserwählter`die von einer
großen Schar nichtauserwählter Musikkonsumenten ehrfurchtsvoll bewundert
werden,die es nie wagen würden selbst ein Instrument in die Hand zu nehmen,es
nicht einmal mehr wagen ihre ehrliche Meinung zu sagen( siehe Buchtitel:Bin
ich normal wenn ich mich im Konzert langweile?)Die durch solche unbewußte
Selektion erzeugte Homogenität ``der Musiker``in Verbindung mit deren
Selbstverständnis
bestärkt wiederum den Irrglauben an eine besondere ``Menschengattung
Musiker`` .Einer der wenigen,die diese Problematik überhaupt wahrgenommen
haben ist Daniel J. Levitin in „Der Musik-Instinkt“:``…warum spielen von den
Millionen Menschen die als Kinder Musikunterricht nehmen,nur relativ wenige
auch als Erwachsene noch ein Instrument?...Die Kluft zwischen
Musikkoryphäen und Alltagsmusikern ist in unserer Kultur so groß,daß die
meisten Menschen entmutigt sind.Aus irgendeinem Grund gilt das nur für die
Musik.Obwohl die meisten Menschen nicht Basketball spielen können wie Dirk
Nowotzki oder Kochen wie Paul Bocuse,haben sie dennoch Freude daran,im
Hinterhof Bälle in den Korb zu werfen oder für Freunde ein leckeres Essen zu
kochen.Diese Kluft beim Musizieren scheint kulturell bedingt und spezifisch für
die moderne westliche Gesellschaft zu sein.``

Zum Schluß sei noch,neben dem übermäßigen Gebrauch von religiösen


Begriffen,die eigentlich Gott vorbehalten sein sollten,auf die falschen
Hoffnungen hingewiesen,die in den Menschen geweckt werden.So beklagt z.B.
in einem Buch über Musik die Autorin alle Mißstände dieser
Welt:Umweltzerstörung,Kriege,Hunger und Elend und verzweifelt fast an der
Menschheit.Wenn sie dann allerdings zufällig ein Kind mit einem Geigenkoffer
in der Hand sieht,ist die Verzweiflung weggewischt und neue Hoffnung in die
Zukunft keimt auf.
Mit gleicher Berechtigung kann man jedoch in dem Kind mit Geigenkasten ein
Sinnbild für das bei uns herrschende Musikverständnis sehen,das nicht die
kleinste Schuld an den Übeln der Welt hat,vor allem die Entfremdung vom
eigenen Körper sowie die Umerziehung auf die linke Gehirnhälfte,die bekannt
ist für Egobetonung und das Ausblenden größerer Zusammenhänge.Da erscheint
es fast als Glücksfall,daß das gleiche Musikverständnis einen Großteil der
Menschen von vornherein von der Musik fernhält. Es gibt das durchaus löbliche
Ansinnen jedem Kind ein Instrument zur Verfügung zu stellen,wenn die
Initiatoren allerdings ihre Drohung wahrmachen und den (natürlich staatlich
geprüften)Musiklehrer gleich mitliefern,ist der Segen,der in der Musik liegt,und
der sich in langen Zeiträumen genetischer und memetischer Evolution
entwickelte, bald gänzlich ins Gegenteil verkehrt, bevor er überhaupt vernünftig
erforscht werden konnte.

„Überall spielen und sitzen diese Musiklehrer und ruinieren Tausende und
Hunderttausende von Musikschülern,als wäre es ihre Lebensaufgabe,die
außerordentlichen Talente junger Musikmenschen im Keim zu ersticken“
Thomas Bernhard ,Der Untergeher,

Das könnte Ihnen auch gefallen