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herzlichen Dank für Deine E-mail.Die Auslassungen des Herrn GLR über
klassische Musik sind wiedermal ein wunderbares Beispiel dafür,mit welcher
Selbstverständlichkeit(und Selbstgefälligkeit)sich manche ´Klassikliebhaber`auf
den höchsten Gipfeln der menschlichen Kultur wähnen,während der Rest der
Welt,dumpf vor Fernseher und PC hockend, vor sich hindämmert.Ihm sei der
Ausspruch eines englischen Literaturwissenschaftlers ans Herz gelegt:“Es gibt
keine Masse,es gibt nur Leute,die von andern als Masse denken“ .Am
dreistesten ist wohl der Vorschlag,den Begriff Klassik als Synonym für alles
Edle,Gute und Wahre zu verwenden.
Auch bei Schlaganfallpatienten lässt sich feststellen,dass bei Ausfall der linken
Hirnhälfte
das Sprachvermögen gestört,das musikalische Empfinden aber noch intakt ist.
Nun gut,dachte ich damals,zumindest ist die Wissenschaft den
Zusammenhängen auf der Spur.Ca.20 Jahre später saß ich im Ehrensaal des
Deutschen Museums,gespannt auf den Vortrag `Musik und Gehirnströme,die
neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung`.
Die beiden Professoren verfügen in Heidelberg über modernste Ausrüstung,wie
MRT und PET,um Funktionsbilder am lebenden Gehirn zu erstellen und über
ein Heer von Musikern,die darauf brennen sich untersuchen zu lassen.Es
wurden nur klassische Musiker ausgewählt(um den Umfang in Grenzen zu
halten!).
Das Fazit nach 2 Stunden Vortrag war wörtlich:Die Musik sitzt im linken
Schläfenlappen!
Auf eine Frage nach irgendwelchen Unterschieden zwischen improvisierter und
nach Noten gespielter Musik waren sie zuerst perplex,(obwohl z.B.Mozart und
Beethoven als erstklassige Improvisateure galten,ist Improvisation in der
Klassik erfolgreich ausgemerzt worden),einer der Beiden erzählte aber dann von
ganz aktuellen Ergebnissen,die dann wirklich interessant waren.Wenn z.B. ein
klassischer Geiger auf klassisches Schlagwerk umsteigt spielt er die erste Zeit
noch „auf“ dem linken Schläfenlappen,was sich recht hölzern anhört ,und
braucht dann über ein Jahr,bis er langsam auf den rechten überwechselt(wo es
anscheinend auch hingehört).Nun gut ,zumindest ist die Wissenschaft auf der
Spur.
Im folgenden soll nun die Frage gestellt werden,mit welchen Mitteln die Musik
in für sie völlig ungeeignete Gehirnbereiche gezwungen wurde.
Da wäre zuerst die völlige Gleichsetzung von Musik und Vom-Blatt-
spielen.Dadurch wird automatisch die linke Hirnhälfte angesprochen,die für
abstrakte Symbole und deren Übersetzung zuständig ist.Gleichzeitig werden
sich nicht zuständige fühlende Bereiche gehemmt.Der schlimmste Nebeneffekt
dieser Gleichsetzung ist jedoch die völlig unnötige Abschreckung eines
Großteils der Menschheit sich aktiv mit Musik zu befassen.Wer kennt nicht die
Aussage.“Ich bin unmusikalisch,ich kann ja nicht mal Noten lesen“
Sehr schön hat dies Wolfgang Pöhlert im Vorwort seiner Grundlagenharmonik
ausgedrückt:
„Genie-oder Starkult und die Unnahbarkeit eines überzogenen Künstlertums
sorgten über Generationen dafür,dass sich der „Durchschnittsmensch“häufig
als“unmusikalisch“ bezeichnet.Der Musik haftet-wie auch anderen Bereichen
der Kunst-ein falscher Ruf von Unerlernbarkeit an,und nur wenige „dafür
Geborene“sind angeblich für Erfolge prädestiniert.....
(übers ohne Noten spielen):...Häufg sind es gerade solche praktischen
Anforderungen,denen beispielsweise Absolventen einer klassisch-
konventionellen Hochschulausbildung nicht gewachsen sind.Trotz
entsprechender Bestätigung ihrer“Hochschul-Musikalität“gelingt es derart
Diplomierten häufig nicht einmal ...einfache Volkslieder oder Schlager zu
begleiten.Nicht umsonst hielt sich bei den Jazz-und Tanzmusikern der
Nachkriegsjahre die Erkenntnis,dass man auf der Suche nach Ersatz für einen
erkrankten Musikerkollegen überall hingehen könne,nur nicht an einen Ort-die
Musikhochschule.`
Darüber hinaus erhält sich in weiten Teilen der Bevölkerung eine unangebrachte
Hochachtung vor der eigentlich relativ leicht erlernbaren Fähigkeit des
Notenlesens,welche häufig irrtümlich mit Musikalität gleichgesetzt wird.Diese
Überbewertung wird von Medien,Hochschulen und anderen Institutionen
genährt,so dass die derart fehlgeleitete öffentliche Meinung gewissermaßen
schon vor dem notenlesenden Interpreten als solches strammsteht „
Wie früh diese Entwicklung begonnen hat soll folgendes Czerny-Zitat zeigen:
„Es gibt Schüler die ein so gutes musikalisches Gedächtnis haben,dass sie
...nicht mehr in die Noten sehen wollen.Man nehme dann den Schülern die Piece
weg und lasse sie etwas Neues beginnen und bald darauf wieder was anderes,so
dass sie erst einmal mit dem genauen Notenlesen beschäftigt seien.“
Ein Beispiel aus heutiger Zeit ist z.B.die im Brustton der Überzeugung
gemachte Feststellung eines Musikers:“Ein echter Musiker spielt nicht ohne
Noten.“(persönlich vernommen)oder die Angewohnheit von Dirigenten das
Notenmaterial selbst von 200 Jahre alten Stücken zum spätmöglichsten
Zeitpunkt auszuteilen.Den Wahnsinn zur Methode macht ein höllandischer
Dirigent(Name ist nicht von Bedeutung) Er ist stolzer Erfinder der´´
Scratchperformance`` d.h.im Orchester werden vormittags die Noten verteilt und
abends werden die Stücke aufgeführt.
Daß beim vom-Blatt-spielen das Aufeinanderhören zu kurz kommt wird wohl
keiner bezweifeln.Vielleicht erklärt das auch die Vorliebe von Schulen und
„Kulturförderern“ für Big-Bands,die mit der gleichen Einstellung geleitet
werden können wie ein Orchester.Man kann Vielseitigkeit vortäuschen,ohne
seine Herangehensweise zu ändern.
Ein weiteres Beispiel aus einem Interview mit Gabriela Montero,einer
klassischen Pianistin,die als einzigartige Ausnahmemusikerin gehandelt wird, da
Sie noch improvisieren kann:
`Als ich acht Jahre alt war,sind wir aus Caracas weggezogen nach Miami zu
einer berühmten Klavierlehrerin.Sie hat mir leider das Improvisieren
verboten.Sie hat gesagt,es hätte keinen Wert,es wäre zu nichts nütze,es wäre
lächerlich..Zehn Jahre habe ich unter dieser Frau gelitten Ich spielte das
klassische Repertoire gewann Preise,aber ich war unglücklich und habe das
Klavier gehasst...`
Kurz und kompakt wurde der Vorgang,der bei uns in großem Maßstab
praktiziert wird,kürzlich in einer BR-Dokumentation dargestellt.Es ging um ein
Kulturprojekt,das jungen Menschen in Afrika klassische Musik näherbringen
sollte.Nachdem die Projektleiter den Großteil der Teilnehmer durch ihre
Notenfixiertheit zum Abspringen gebracht hat,wurde der
kleine verbleibende Rest mit Lehrsätzen wie „Kinn gerade“ „nicht
zappeln“drangsaliert und ständig auf die“richtige Haltung“ hingearbeitet.Am
Ende des Projekts merkt sie allerdings selber, daß die jungen Leute leider viel
von ihrer natürlichen Frische verloren haben.Den Grund hat sie dann aber
schnell gefunden:durch die finanzielle Unterstützung stünden sie jetzt materiell
besser da(mit anderen Worten ihnen geht´s zu gut)—Ist solche Hirnlosigkeit an
sich schlimm genug,wird sie durch den hochgeistigen und weltbeglückenden
Anspruch mit dem sie einherstolziert schon fast unerträglich.
Ein weiterer Bereich in dem der potentielle Segen der Musik ins Gegenteil
gekehrt wird ist die Verlagerung vom Auditiven zum Visuellen.
Joachim E.Behrendt hat in seinem Buch“Das Dritte Ohr“die Überbetonung des
Visuellen und die Unterdrückung des Auditiven in unserer heutigen Kultur
mitsamt den tragischen Konsequenzen,die daraus folgen ausführlich
dargelegt.Daß das im Bereich der Musik(!)besonders absurd und fatal
ist,versteht sich wohl von selbst..
In der Klassik mag das „funktionieren“,da jeder seine Noten hat und wie die
Leibnizschen Monaden sein Programm abspulen kann,bei jeder anderen Musik
wird’s aber wirklich schlimm.Leider ist durch die Allgegenwart der Klassik
dieser Ungeist auch schon z.B.
im Jazz angelangt.Jeder beschäftigt sich nur mit sich selbst und seinem
Instrument in blindem(bzw. taubem)Vertrauen,dass die anderen ja das gleiche
Stück spielen.
Der Dirigent(der durch den Mangel an „Aufeinanderhörkultur“ erst seine
immense Bedeutung erlangt)versucht dann wieder auf visuellem Weg die
einzelnen Stimmen irgendwie zu koordinieren.Dass es im klassischen Bereich
trotzdem wunderbare Musik gibt,ist zum Teil nur durch die Perfektion zu
erklären,mit der die einzelnen Musikermonaden ihr eigenes Progamm abspielen.
Die Fixierung auf Komponisten und ihre Produkte engt außerdem die Musik auf
linear fortschreitende Musik ein.Zyklische Musik wird de facto eliminiert,da
Komponisten glauben in jedem Takt ihre Kreativität beweisen zu müssen.
Daß die völlige Gleichsetzung Musik=nach Noten spielen aus der
unendlichen Vielfalt der Musik nur eine kleine Teilmenge(nämlich die im
Notensystem einigermaßen bequem zu notierende)herausfiltert,soll folgendes
Zitat verständlich machen:
Lothar Zanetti“Peitsche und Psalm“S.96: (es geht um Spirituals):
„Da sich die unerschöpfliche Vielgestaltigkeit des Stimmenablaufs im Notenbild
ebenso wenig festhalten lässt wie die sich überkreuzenden Rhythmen und die
Eigentümlichkeiten der schwarzen Tongebung,musste bei diesen
Aufzeichnungen das vielgliedriege Geschehen notwendig erstarren und
verflachen.Im Notenbild erschienen nun die wenigen verbliebenen Afrikanismen
als „falsch“ im Sinne der europäischen Harmonielehre.So filterte man das Ganze
mehr und mehr aus,bis aus dem ursprünglichen Spiritual eine europäische
Melodiestimme,wenn auch mit kleinen exotischen Reizen übrigblieb...... Nicht
anders ist es mit der Offbeat-Phrasierung,deren unendliche Möglichkeiten zur
braven europäischen Synkope verarmen.“
„Überall spielen und sitzen diese Musiklehrer und ruinieren Tausende und
Hunderttausende von Musikschülern,als wäre es ihre Lebensaufgabe,die
außerordentlichen Talente junger Musikmenschen im Keim zu ersticken“
Thomas Bernhard ,Der Untergeher,