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Luthers Wirklichkeitsverständnis: Hans Friedrich Geißer zum 65. Geburtstag am 6. 8.

1993
Author(s): Gerhard Ebeling
Source: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Vol. 90, No. 4 (Dezember 1993), pp. 409-424
Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
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Luthers Wirklichkeitsverständnis1

von

Gerhard Ebeling

Hans Friedrich Geißer zum 65. Geburtstag am 6. 8.1993

I.I. Vorbemerkungen

Bei den Vorüberlegungen zum Tagungsthema hatte ich - vielleicht etwas vor
schnell einem spontanen Einfall folgend - die Formulierung vorgeschlagen:
»Woraufhin kann ich angesichts des Sterbens sagen: Amen, so ist es!? [mit dem
Untertitel] Luthers Wirklichkeitsverständnis«. Im Umfeld des ontologischen
Problems, das im Bericht über die finnische Luther-Forschung2 und bei der
Interpretation eines Textes aus den Operationes in psalmos Leitmotiv war3,
nimmt sich die Frage, woraufhin ich angesichts des Sterbens Amen sagen kön
ne, anscheinend befremdend aus. Stellt man sich bei Luther freilich von vorn
herein auf eine nur implizite Erörterung der Ontologie ein, so ist es durchaus
nicht überraschend, im Sinne dessen, was letztlich gilt, nach dem befreienden
Gewißheitsgrund gefragt zu sein, welcher der Wirklichkeit des Todes überle
gen ist. Belassen wir es vorläufig bei diesem eigenartigen Wegweiser in die on
tologische Besinnung. Ich werde ihm nicht direkt folgen, vielmehr auf einigen
Umwegen das Problemfeld zu ordnen versuchen, in das wir dabei geraten, und
kann überwiegend nur an bereits Bekanntes erinnern4.

1 Vorgetragen am 14. 4. 1993 im Löwensteiner Kreis, der sich seit 25 Jahren - ab


1975 unter diesem Namen - jährlich einmal zu einer theologischen Arbeitstagung trifft,
gewöhnlich in der Evangelischen Tagungsstätte Löwenstein bei Heilbronn, in diesem
Jahr ausnahmsweise aus Raumgründen im Bildungshaus Kloster Schöntal.
2 Dr. Albrecht Beutel (Tübingen): Luther in Helsinki oder: Was wollen die Fin
nen? Ein Lagebericht. Aus der diesbezüglichen Literatur ist besonders informativ: T.
Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung.
Zum ökumenischen Dialog, 1989. Luther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der
abendländischen Theologie. Referate der Fachtagung der Luther-Akademie Ratzeburg
in Helsinki 30. 3.-2. 4. 1982. Hg. von S. Peura und A. Raunio, 1990.
3 Prof. Dr. W. Mostert (Zürich): Sacramentum incarnationis - ein Text aus den
Operationes in psalmos und seine ontologischen Implikationen (WA 5;128,17-129,16 =
AWA 2;225,7-227,14). Das Schlußreferat hielt Prof. Dr. Th. Jorgensen (Kopenhagen):
Wort und Bild bei Luther - anhand des Sermons von der Bereitung zum Sterben.
4 In einem knappen Rückblick fasse ich hier zusammen, wie im Verlauf meiner Be

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1. 1. Zum Begriff Ontotogie

»Ontologie«5 ist eine neugriechische Wortbildung vom Ende des 16. Jahrhun
derts. Der Sache nach aber gibt es Ontologie als methodische Reflexion seit
Aristoteles. Bei ihm ist beides ineinander verschränkt: die vom Einzelnen ab
strahierende Bestimmung der Grundprinzipien des Seienden rein als solchen
sowie die Frage nach dem Seienden im Ganzen. In der einen Hinsicht ergeben
sich Grundbestimmungen des Seins in Gestalt fundamentaler Distinktionen
wie - ich halte mich gleich an die lateinischen Ausdrücke - zwischen substan
tia und essentia, essentia und accidens, forma und materia, actus und potentia,
qualitas und relatio und dergleichen. In der andern Hinsicht wird ein Brük
kenschlag zwischen der Sprache der Philosophie und der Sprache der Religion
vollzogen, indem der Gottesbegriff Aufnahme und Verankerung in der Meta
physik findet. Der Scholastik bot sich diese einzigartige Konstellation als ein
tragendes Gerüst für die Verbindung von Philosophie und Theologie an, von
rationaler Weltoffenheit und christlichem Glauben. An der Wende zum
17. Jahrhundert - nicht ohne Vorbereitung von lang her - beginnen sich aber
die Risse in dieser Struktur zu mehren: Ontologie und natürliche Theologie
trennen sich voneinander, und beide büßen ihren objektiven Anspruch ein, von
Kant reduziert auf eine transzendentalphilosophische Analytik der reinen und
der praktischen Vernunft. Der Begriff der Ontologie gerät dabei ebenso wie
der der Metaphysik in Mißkredit. Die Wissenschaft beschreitet nun den Weg
rationaler Emanzipation, mehr und mehr beflügelt von den Erfolgen techni
scher Machbarkeit. Die Theologie hingegen - in dem richtigen Empfinden, daß
dieses Verständnis für ihre Sache unzureichend und der Wirklichkeit über
haupt letztlich unangemessen sei - zieht sich auf das Subjektive als ihre ver
meintliche Domäne zurück. Schlagwortartig pflegt man dann in der innertheo
logischen Auseinandersetzung gern »ontologisch« und »personal« mit beider
seits kritischem Akzent einander entgegenzusetzen. Dabei bleibt unbedacht,

schäftigung mit Luther (vgl. dazu das Nachwort zur 3. Auflage meiner Dissertation:
Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, 1991,
545-560) die Leitfrage sich mir aufdrängte und darstellte. Das macht Verweise auf meine
früheren Publikationen notwendig. Aus der übrigen Sekundärliteratur, der ich viel ver
danke, erwähne ich: E. Metzke, Sakrament und Metaphysik. Eine Lutherstudie über
das Verhältnis des christlichen Denkens zum Leiblich-Materiellen (H.9 der Schriftenrei
he Lebendige Wissenschaft), 1948. L. Grane, Contra Gabrielem. Luthers Auseinander
Setzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517.
(AThD Vol. IV), 1962. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, 1967. L. Grane, Er
wägungen zur Ontologie Luthers (NZSTh 13, 1971, 188-198). Ders., Modus loquendi
theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515-1518) (AThD
Vol. XII), 1975.
5 Vgl. HWPh 6, 1189-1207.

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daß ein vom Menschsein abstrahierender Objektivismus nicht weniger, nur in


anderer Weise subjektivistisch ist als ein personales Denken, das die Seinsfrage
ausklammert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat die Philosophie verschiedene
Wege zur Erneuerung ontologischer Fragestellung eingeschlagen. Es wäre aber
irrig, wollte sich die Theologie anleiheweise so oder so davon viel Gewinn ver
sprechen. Nicht daß ihr eine Auseinandersetzung damit erspart bliebe. Theo
logie darf sich nicht provinziell und dogmatistisch auf ein separates Verstand
nis von Ontologie versteifen, muß vielmehr offen dafür sein, daß ihre Sache
zum Wirklichkeitsverständnis insgemein etwas beiträgt, was zu respektieren
jedem zumutbar ist, sei er nun ein Glaubender in christlichem Sinne oder nicht.

2. Die Art des Beitrags Luthers zur Frage der Ontologie

In ungewöhnlicher Weise quer zu dieser knapp skizzierten geistesgeschicht


liehen Entwicklung stellt sich Luthers Beitrag zur Frage der Ontologie dar.
Selbstverständlich ist er nicht unbeeinflußt von kritischen Impulsen des ausge
henden Mittelalters, insbesondere dem Ockhamismus und der Mystik, in sehr
begrenzter Weise auch dem Humanismus, so gut wie gar nicht freilich der
Renaissance-Philosophie. Nach all diesen Seiten hin wie auch gegenüber dem
Hauptstrom des scholastischen Aristotelismus zeigt sich bei ihm eine souverä
ne Distanz, die es erlaubt, Anregungen aufzunehmen, jedoch selbständig zu
verarbeiten. Die Art, wie er davon Gebrauch macht, entspringt durchweg einer
andern Quelle, und zwar stets derselben. Sämtliche in Betracht kommende Be
Ziehungen gleichen sich formal darin, daß auch bei deutlichen Anklängen ein
anderer Grundton, ein anderer Skopus dominiert und übernommene Termini
begrifflich umgeprägt werden. Am deutlichsten und für unsere Fragestellung
am lehrreichsten zeigt sich dies an Luthers lebenslangem Umgang mit Begrif
fen aristotelischer Ontologie. Er geht ihnen durchaus nicht aus dem Wege, ver
wendet sie z.T. sogar auffallend gern, macht sie dann aber, trotz der Einsicht in
ihr sei es scholastisches, sei es genuin aristotelisches Verständnis, einem andern
Gesamtzusammenhang dienstbar. Der Umgang etwa mit dem forma-Begriff6
oder dem vierfachen causa-Schema7 liefert dafür bekannte Beispiele.
Die eine, einzige Quelle, aus der sich bei Luther dieser vielgestaltige Inter
pretationsvorgang speist und seine alles verändernde Stoßkraft empfängt, ist
die heilige Schrift. Die Beobachtung, daß die Bibel anders von den Dingen re
det als die Philosophie und deshalb auch anders als die scholastische Theologie,

6 Vgl. meine Lutherstudien (im folgenden abgek.: LuSt I II/l II/2 II/3 III), aus dem
Kommentar zur Disputatio de homine, LuSt 11/1,191-194 11/3,473—483.
7 LuSt 11/2,333-452.

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wird für ihn schon sehr früh zur methodischen Direktive biblischer Exegese
und macht sie dadurch zur theologisch allein maßgebenden Disziplin. Ein er
hebliches Gewicht fällt dabei auf die Entdeckung der Besonderheiten des He
bräischen8. Freilich wäre es eine Simplifizierung, die der von Luther wohlbe
dachten Unterscheidung zwischen verba und res9 zuwiderliefe, wollte man sei
ne ontologische Neuorientierung allein auf Eigentümlichkeiten einer einzelnen
Sprache zurückführen.

II.II. Ontologische Signale

Anstatt aus einem Prinzip zu deduzieren, folgen wir zunächst verschiedenen


Hinweisen, sozusagen einigen ontologischen Signalen bei Luther. Dabei kön
nen wir uns jetzt nicht an die chronologische Folge halten, wie diese Signale
erstmals sich anmelden, so wichtig solche Feststellungen sein mögen. Der Be
fund ist viel zu komplex, als daß er sich schrittweise rekonstruieren ließe und
entsprechend schichtweise zu gliedern wäre. Auch eine innere Systematik, wie
sich die verschiedenen Aspekte auseinander ergeben, läßt sich nur mit Vorbe
halt erwarten. In lockerer Reihung füge ich Beobachtungen aneinander, die in
die früheste Phase von Luthers Theologie zurückreichen.

1. 1. 1. 1. Substantia

Gleich das grundlegende erste der zehn aristotelischen Prädikamente »sub


stantia« wird in der heiligen Schrift charakteristisch anders gebraucht als in der
Philosophie, metaphorisch und doch in strengem Sinne eigentlich verstanden:
als der Boden, auf dem man stehen kann, was den Füßen Halt gibt, dem Leben
Grund verleiht; nicht als das bleibende innere Wesen, die essentia einer Sache,
sondern als die äußere Qualität der Dinge, auf die man sich verläßt. Das hängt
aber wiederum davon ab, wie gesonnen der Mensch ist, d.h. wem er sich anver
traut. Eben darauf richtet die Bibel den Blick. Der Glaube ist seinsbestimmend

8 Dazu S. Raedek, Das Hebräische bei Luther, untersucht bis zum Ende der ersten
Psalmenvorlesung (BHTh 31), 1961. Ders., Die Benutzung des masoretischen Textes
bei Luther in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Psalmenvorlesung (1515-1518)
(BHTh 38), 1967. Ders., Grammatica Theologica. Studien zu Luthers Operationes in
Psalmos (BHTh 51), 1977.
9 LuSt II/3,34f 111,375. Vgl. A. Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu
Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), 1991, passim.

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und eben deshalb ausschlaggebend für den Lebensgrund: qualiter unusquisque


est et agit, secundum hoc habet substantiam10.

2. Intellectus

Die höchste menschliche Seelenpotenz nach Aristoteles, der intellectus, gerät


in der Bibel ins Zwielicht, wird teils gleichsinnig mit fides gebraucht, teils in
schroffem Gegensatz zum Glauben, der den Intellekt blind macht, statt ihn zu
erleuchten. Hier ist der Intellekt also nicht eine fixierte, in sich identische See
lenpotenz, vielmehr das Betroffensein des Menschen von dem Objekt, an dem
er sich orientiert. Der geistlich geschenkte Intellekt, der theologicus et gra
tuitus intellectus, ist deshalb ein anderer als der intellectus philosophorum et
naturalis11. Er verändert das Sein des Menschen und darum dessen Urteilen.
Qualis enim quisque est, taliter iudicat12. Der geistlich bestimmte Intellekt ist
nicht auf das Sichtbare ausgerichtet, sondern auf das Verborgene. Und man be
sitzt ihn nicht einfach, sondern befindet sich in der ständigen Bewegung von
der litera zum spiritus, von dem intellectus acquisitus zum intellectus acqui
rendus13, de fide in fidem14.

3.3. Verbale Interpretation von Substantiven

Bemerkenswert ist ferner die verbale Interpretation von Substantiven, deren


Sein erst als ein Geschehen richtig verstanden ist. Das verbindet sich mit kausa
tiver bzw. faktitiver Deutung15: der Weg Gottes ist der, auf dem er uns gehen
macht16. Seine Macht und Stärke ist, durch die er uns zu Siegern macht17. Die
virtus Dei ist nicht eine formierende Eigenschaft in Gott selbst, vielmehr die
aus ihm heraustretende Kraft, die uns zugute kommt18, das Urteil Gottes dieje

10 WA 3:419,25-420,13 440,34-^41,10 (l.Ps.Vorl., 1513/15). LuSt I,24f. Das obige


Zitat: WA 3:419,38f.
11 WA 4:324,2-4 3:176,3-27 507,34-508,5 (l.Ps.Vorl., 1513/15). LuSt 1,39-42
11/2,112-117.139-145.232-237.
12 WA 3:176,24 (l.Ps.Vorl., 1513/15).
13 WA4:390,24f (l.Ps.Vorl., 1513/15).
M AaO 319,8-10.
15 LuSt 1,61-68.
16 WA 3:529,33 = WA 55,1:543 RG117 (l.Ps.Vorl., 1513/15).
17 WA 4:22,36 = WA 55,1:596,4f (l.Ps.Vorl., 1513/15).
18 WA 56:169,28-170,6 (Röm.Vorl., 1515/16).

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nige Äußerung, der gemäß wir Geurteilte sind19. Mit dieser kausativen bzw.
faktitiven Deutung paart sich die kognitive. Solange etwas als geschehen nicht
erkannt ist, ist es bei dem Betroffenen noch nicht geschehen, ereignet sich bei
ihm aber, wenn es in seinem factum esse erkannt wird20. Wir werden allererst
zu Sündern, wenn wir uns als solche erkennen21. Obwohl wir es sind, werden
wir es in Wahrheit nur durch das Erkennen. Allein so jedoch besteht für den
Sünder Hoffnung, ein solcher dennoch nicht mehr zu sein.

4.4. lustitia Dei

Diese Art, die Seinsaussagen dadurch zu ihrer biblischen Wahrheit gelangen zu


lassen, daß sie in eine ganz ungewohnte Bewegung geraten, weist uns zu
Schlüsselbegriffen von Luthers Theologie. »Gerechtigkeit« oder »Ungerech
tigkeit« ist nicht mit Philosophen und Juristen im Sinne einer qualitas animae
als ein dinghafter Sachverhalt aufzufassen, vielmehr als ein Urteilsspruch Got
tes, hängt deshalb stärker von der imputatio seitens Gottes ab als vom esse rei.
Dennoch erlaubt, ja gebietet die reputatio miserentis Dei die Aussage, daß wir
Sünder Gerechte sind22. Der Grund dessen liegt im biblischen Sinne von iu
stitia Dei, die Luther im Gegensatz zum philosophischen Verständnis als stra
fender Gerechtigkeit erst nach hartem Ringen als das Geschenk Gottes aufge
gangen ist, nämlich daß der barmherzige Gott durch seine Gerechtigkeit uns
gerecht macht23.

5.5. Expectatio creaturae

Als ein vorläufig letztes Beispiel dafür, wie Luther gänzlich ungewöhnlich auf
Grund biblischer Exegese in die ontologische Thematik eingreift, sei das Scho
lion zu Rom 8,19f über das Harren der Kreatur erwähnt24. Während die Philo
sophen den Blick in die Präsenz der Dinge versenken, in deren quidditates und
qualitates, ruft uns der Apostel eben davon fort in Richtung auf ihr zukünfti
ges Sein. Anders als im Banne der Metaphysik spricht er nicht über Wesen,
Wirken und Bewegung der Kreaturen, sondern über deren Wegschauen von

19 WA 3;465,33-35 (l.Ps.Vorl., 1513/15).


20 AaO 435,37-39.
21 AaO 288,6f.
22 WA 56;287,16-24 (Rom.Vorl., 1515/16).
23 WA 54;185,14-186,16 (Vorrede zum 1. Bd. d.Wittenb. Ausg. d. lat. Sehr. Luthers,
1545).
24 WA 56;371,1-373,21 (Röm.Vor!., 1515/16). LuSt 11/3,393-397.509-513.

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dem, was ist, und seufzendes Ausschauen nach dem, was noch nicht ist. Die
Philosophen erfassen mit ihrer Sicht die Kreaturen gar nicht als Kreaturen,
sondern als ein Konstrukt wie eine Schaubühne, deren Herstellung und Auf
bau sie interessiert, ohne daß sie danach fragen, wozu dieser technische Appa
rat diene, also ohne sich für die Komödien und Tragödien zu interessieren, die
dort zur Darstellung kommen sollen, geschweige denn, was aus all dem einmal
endgültig wird infolge dessen, wie der Mensch in seiner Nichtigkeit damit um
geht.

III.III. Der fundamentaltheologische Charakter ontologischer Fragestellung

Was ich durch die wenigen Beispiele ontologischer Signale bei Luther in Erin
nerung rief - stellvertretend für eine unerschöpfliche Materialfülle -, läßt er
kennen: Ihm geht es dabei um die Frage nach dem wahrhaft Theologischen. In
sofern wird die ontologische Frage bei ihm zur fundamentaltheologischen
schlechthin. Wir könnten auch sagen: Ihm geht es dabei um die angemessene
Erfassung des biblischen Wirklichkeitsverständnisses. Dem korrespondiert
durchaus die Frage: »Woraufhin kann ich angesichts des Sterbens sagen: Amen,
so ist es!?« Denn das biblische Wirklichkeitsverständnis erhebt selbst ange
sichts des Todes den Anspruch befreiender Wahrheit und deshalb letztgültig
gewißmachender Gewißheit.
Nun wäre es aber ein Kurzschluß zu meinen, Theologie müsse, ehe sie zu
ihrer eigentlichen Sache kommt, Ontologie betreiben. Ist es einem um die
Wahrheit, die Gewißheit, die Wirklichkeit theologischer Aussagen zu tun, so
befindet man sich damit nicht bloß vorläufig und peripher bei ihrer Sache, viel
mehr bei deren Kern. Deshalb läßt sich die ontologische Frage in Sachen der
Theologie nicht in einem Abstraktionsverfahren erörtern, sondern stets nur als
ein Implikat der Theologie. Das scheint freilich der Absicht der Ontologie
strikt zu widersprechen. Ist diese doch auf eine allumfassende Anleitung zum
Verständnis des Seienden als solchen und im ganzen aus und insofern auf eine
neutrale, wenn auch nötigenfalls kritische, Klarstellung des Sinnes von Sein
überhaupt. Wie denn eine Grammatik und mehr noch eine Logik sich um ab
strahierende Allgemeingültigkeit bemühen muß. Der Theologie komme allen
falls, wenn überhaupt, dann nur ein bedingtes und regionales Mitspracherecht
in ontologischer Hinsicht zu, bezogen auf den religiösen Spezialbereich oder
noch weiter eingeengt: auf den Sektor biblischer Glaubensaussagen. Nun ist
gegen eine Spezialisierung der Ontologie je nach Zuständigkeitsbereich grund
sätzlich nichts einzuwenden25. Physikalische Seinsaussagen etwa stehen unter

Vgl. WA 39,2:5,27-40 (Disp. über Joh 1,14, 1539).

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anderen Bedingungen als der Wirklichkeitscharakter von Märchenaussagen. Je


in verschiedenen Horizonten des Seienden gelten verschiedene Modi von
Wirklichkeit und darum auch von Wahrheit. Es klingt nun aber, als drehe der
Theologe den Spieß um, wenn er der herkömmlichen aristotelischen Ontologie
und ihren Derivaten einen abstrakten Regionalismus vorwirft und nicht min
der dem sich für selbstverständlich haltenden alltäglichen Wirklichkeitsver
ständnis, was dann - mutatis mutandis - erst recht sogar moderner Wissen
schaftstheorie vorzuhalten wäre. Dies ist in der Tat Luthers Meinung: Mit dem
Unglauben - und darunter fällt die sich absolut setzende Ratio - liegt der
Glaube im Streit um die Wirklichkeit26. Nicht daß nur ein fehlender Aspekt -
etwa das Reden von Gott - zu ergänzen wäre. Vielmehr wird alles verzerrt,
wenn die Gesamtsituation des Menschen, der zur Wirklichkeitsrechenschaft
gefordert ist, ontologisch unberücksichtigt bleibt. An dieser Stelle setzt
Luthers Kritik der herkömmlichen Ontologie ein.

IV.IV. Ontologische Grundzüge

1. 1. 1. Coram-Relation

Sucht man nach dem Brennpunkt der augenfälligen Verschiedenheit zwischen


traditioneller Ontologie insgesamt und Luthers ontologischer Intention, so
drängt sich die Rolle der Präposition coram auf27. Deren biblischer Gebrauch
zeitigt in beispielloser Weise bei Luther geradezu explosionsartige Folgen.
Herkömmliche Ontologie ist um Feststellung der allgemeinen Seinsbedingun
gen bemüht als des Ermöglichungsgrundes von Bewegung und Veränderung.
Das Primärinteresse gilt gewissermaßen dem Stillstand dessen, was ist, in der
Objektivation durch den Menschen. Während dieser als species an der Spitze
der Hierarchie des Seienden die methodische Voraussetzung dafür liefert,
klammert er doch sich selbst als problemlos, als anscheinend unbeteiligten Zu
schauer, weitestgehend aus. Bei Luther hingegen bricht die ganze Turbulenz
der Lebensbezüge, wie sie den Menschen als Individuum angehen, in das
Wirklichkeitsverständnis ein. Das Verhältniswort coram sorgt dafür, daß der
Mensch sogar in der Ontologie sich nicht seinem eigenen Mitsein entzieht und

26 Vgl. meinen Aufsatz: Glaube und Unglaube im Streit um die Wirklichkeit (in:
Wort und Glaube I, [1960] 19673, 393-406).
27 LuSt I passim. Luther. Einführung in sein Denken, (1964) 2.Nachdr.der4.Aufl.
1990, 219-238. Dogmatik des christlichen Glaubens (abgek.: D) I, (1979) 19873, 346
355.

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Luthers Wirklichkeits Verständnis 417

deshalb auch nicht unberücksichtigt läßt, in welchen Verhältnissen und Bezie


hungen er lebt.
Coram weist auf die Forumsituation hin, in der ich mich, Auge in Auge, an
gesichts anderer befinde, die ihrerseits urteilend über mich befinden, was wie
derum mein inneres Befinden hinsichtlich der Selbsteinschätzung tangiert. Das
gleichzeitige Wechselspiel von coram hominibus und coram meipso - wie ich
die andern ansehe, wie ich vor ihnen aussehe, in welchem Ansehen ich bei ih
nen stehe - bildet einen höchst verwickelten Komplex seinsrelevanter Bewußt
seinsvorgänge. Wollte man diese Korrelation für ein bloßes Akzidens mensch
licher Substanz halten - was freilich in Anbetracht von Leben und Sprache des
Menschen absurd wäre -, so verböte sich das vollends im Blick auf die Totali
sierung des Gegenübers als Welt und erst recht im Blick auf dessen Eschatolo
gisierung als Gott. Das untrennbar korrespondierende Beieinander von coram
Deo und coram mundo kennzeichnet als eine einzige seinsmäßige Verhältnis
bestimmung, die das coram hominibus und coram meipso mit umgreift, die
Wirklichkeit, in welcher der Mensch lebt.
Daß der Gottesbezug hier hinzutritt, ist nicht ein dogmatisches Postulat,
beruht nicht auf einem separaten theoretischen Gottesbeweis, einer speziell
theologischen Erweiterung der Ontologie, gründet vielmehr in der nun einmal
so und nicht anders ansprechbaren eschatologischen Dimension der Wirklich
keit alltäglichen Lebens. Wie Luther bei der Auslegung des ersten Gebots defi
nitorisch erläutert: »Worauf du nun dein Herz hängest und verlässest, das ist
eigentlich dein Gott.«28 In unsern Kontext übersetzt: Die sich an dich richten
de aufs letzte zielende Frage, der unbekannte begleitende Blick, den du er
sehnst oder der dich ängstet, das Urteil, das du befürchtest oder dir versprichst,
ja, das du dir selber sprichst oder von dem du dich selbst meinst freisprechen
zu können, »das ist eigentlich dein Gott«.
Wie die mehrdimensionale coram-Relation, die unabdingbar zum Mensch
sein und zu der es umgreifenden Wirklichkeit gehört, erst durch die heilige
Schrift in aller Schärfe erkennbar und aussagbar wird, so auch die Tatsache, daß
es sich um einen zutiefst gestörten Sachverhalt handelt, um eine Strittigkeit des
Seins, in der eines der Feind des andern wird, um einen Vorgang wechselseiti
ger Verwirrung und Entstellung. Deren Ursache nennt die Bibel »Sünde«. An
statt daß alles zusammenstimmt, gerät es, wie die Erfahrung zeigt, in einen
Wirbel schriller Dissonanzen.

28 BSLK 560,24f.

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2. Wort und Glaube

Aus der Forum-Situation, die für das Sein des Menschen fundamental ist, er
gibt sich, daß dem Wort ontologische Relevanz zukommt. Entsprechendes lie
ße sich, wenn auch nur beschränkt, schon aus einer allgemeinen Phänomen
analyse aufweisen, die den Strukturen und Funktionen von Sprache nachgeht.
Aber wie die Meinung verfehlt wäre, für die Theologie erledige sich auf diese
Weise die ontologische Frage, so desgleichen die Erwartung, damit werde der
Theologie das eigene Nachdenken über Wort und Sprache abgenommen. Drei
Argumente mögen dies vorläufig bestätigen: Zum einen, daß im Forum Gottes
dem Urteil, das dort ergeht, und darum dem Wort unvergleichliches Gewicht
zukommt. Zum andern, daß hier das rein feststellende Urteil völlig in den Plin
tergrund tritt zugunsten eines zurechtbringenden, schöpferischen Aktes. Und
schließlich, daß im Unterschied zur Pluralität menschlicher Äußerungen hier
das Wort auf die prinzipielle Singularität hin tendiert: die Rede von dem einen
Worte Gottes.
Es wäre unzureichend, die Rede vom Worte Gottes als Akkomodation an die
Rolle der Sprache im Menschsein erklären zu wollen. Die Differenz von Men
schenwort und Gotteswort29 ist nicht durch Ubersetzung zu überbrücken, son
dern hat mit der Verschiedenheit ihres Wirklichkeitscharakters zu tun. Men
schenwort - was immer es an Information oder Zusage enthalten möge - kann
trügen und vermag als Versprechen seine Erfüllung nicht zu garantieren. Zu die
ser bedarf es ohnehin einer zusätzlichen Tat, die das Wort als solches nicht ist.
Das Wort Gottes hingegen ist als solches Tatwort, von schöpferischer Macht
und unfehlbarer Verläßlichkeit. Freilich ist dieses Verständnis nicht mit der
Rede von Gott überhaupt gegeben. Daß dem Worte Gottes ein solches Gewicht
zufällt, ist eine biblische Eigentümlichkeit, die, trinitarisch begründet, das Ver
ständnis von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung prägt.
Die Tragweite dessen, daß in biblischer Aussage die Rede von Gott sich auf
Gottes eigenes Wort konzentriert und dieses wiederum auf das eine Wort
Gottes, wird freilich erst von daher deutlich, daß dieses eine Wort Gottes in sei
ner Verlautbarung zu unterscheiden ist als Gesetz und Evangelium30. Das hat
seinen Grund darin, wie Gott jener zutiefst gestörten Situation im Geflecht der
coram-Relationen begegnet. Nach beiden Seiten hin scheint das Wort Gottes
nun den Charakter als Tatwort des Schöpfers - »so er spricht, so geschieht's«31 -
einzubüßen: Als Gesetz gibt es nicht, was es sagt, sondern fordert es vom Men
sehen und von dessen Tun. Im Evangelium schenkt Gott wohl, jedoch allein sein

29 Wort und Glaube 1,279-281. Luther, 131-133.


30 Vgl. D III, (1979) 19933,251-295.
31 Ps 33,9.

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Luthers Wirklichkeitsverständnis 419

Wort. Im einen Fall bloßes Geheiß, im andern Fall bloße Verheißung. Das eine
Mal immerhin drohendes Machtwort, das andere Mal hingegen so ohnmächtig
wie ein Gekreuzigter. Verbum crucis ist anscheinend ein Widerspruch in sich,
denkt man an den Schrei, mit dem Jesus am Kreuz verschied. Ja, gar ihn selbst
mit »Wort« zu titulieren, tönt in unsern Ohren geradezu lächerlich, als sei er
Schall und Rauch, nichtig wie ein Strohhalm32.
Die an das Sein selbst rührende Kraft des Wortes Gottes bekundet sich je
doch durch Gesetz und Evangelium in äußersten Weisen der Seinsbetroffen
heit. Wie das Schöpferwort dem, was nicht ist, ruft, daß es sei33, und das Ge
richtswort Lebende zum ewigen Tode verdammt34, so - aber in entgegenge
setzter Folge - tötet das Gesetz, während das Evangelium zu neuem Leben
erweckt. Das eine zielt auf das andere hin in einem einzigen Vorgang von Ster
ben des alten und Auferstehen des neuen Menschen. So teilt sich das, was das
Wort Gottes in sich selbst ist, dem mit, an den es ergeht: Es ist heilig und macht
heilig. Der lebendige Gott gibt sich selbst in seinem Wort. Das Wort, das als
Menschenwort schwach und hinfällig erscheint, obzwar es auch Fürchterliches
anrichtet, damit aber letztlich nichts anderes ausrichten kann als das Geschäft
des Teufels und des Todes, vermag als Gotteswort die Macht des Teufels und
des Todes zu brechen.
Diesem Wort entspricht allein der Glaube, der sich ihm verdankt und in
welchem es sich erfüllt. Wie sollte Gott auch anders geehrt und wie dem ersten
Gebot anders entsprochen werden als durch zustimmendes Einverständnis:
Amen, so ist es, also durch Glauben allein. Darum erkennt Luther in Wort und
Glaube ein zusammenhängendes Geschehen, das alles von Grund auf verän
dert. Das Wort verändert die Situation der Seele. Während es gewöhnlich
heißt: Wie die Seele des Menschen beschaffen ist, so auch das Wort, das aus ihr
hervorgeht, heißt es nun bei Luther: »Wie das Wort ist, so wird auch die Seele
von ihm«35. Entsprechend heißt es gemeinhin: Hast du was, so kannst du ge
trost der Zukunft entgegengehen. Nun aber heißt es nach Luther: »Glaubst du,
so hast du«36. Freilich hat diese Umkehrung eine Analogie ebenfalls im Ver
hältnis zur Welt. Die Meinungen, die man hat, regieren die Welt37. Das gilt so
gar für das Verhältnis zu Gott: Sicut de Deo cogito, ita fit mihi, selbst wenn die
Gottesvorstellung falsch ist38, dann vielleicht erst recht. Was jedoch den Glau

32 WA 27;525,10-12 (Pred., 1528).


33 Rom 4,17.
34 Mt 25,41ff.
35 WA 7;24,32f (Von der Freiheit eines Chr., 1520).
36 WA 2;733,35f (Serm. v. d. Sakr. d. Taufe, 1519). LuSt 11/3,147.469.497.
37 WA 5;159,10f = AWA 2;285,19f (Op. in ps., 1519/21).
38 WA 40,2:343,2-4 (Enarr. Ps 51, 1532). Vgl. auch WA 5:216,5-7 = AWA 2:388,5-7
(Op. in ps., 1519/21).

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420 Gerhard Ebeling

ben auszeichnet und ihn seinsbestimmend macht, ist nicht eine qualitative
Wandlung des Subjekts, sondern die Veränderung des Ortes, wo es sein Leben
empfängt und hat: extra se in Christus, im verbum externum. Ideo nostra theo
logia est certa, quia ponit nos extra nos39. Deshalb widersprechen sich hier
nicht das »schon jetzt« und das »noch nicht«.

3.3.3. Distinctio - unio

Der Gesichtspunkt des Unterscheidens begegnete uns bisher an zwei Stellen:


zum einen am Anfang bei der Erwähnung ontologischer Distinktionen des
Aristoteles, die zugleich Grundstrukturen der Sprache liefern und deshalb als
Unterscheidungskategorien auch für die Logik bedeutsam sind; ferner soeben
bei Luthers Begriff des einen Wortes Gottes, das als Gesetz und Evangelium zu
unterscheiden ist. Diese zwei Vorkommen bestätigen in grundverschiedener
Hinsicht die Lebensnotwendigkeit des Unterscheidens40: erkenntnistheore
tisch als die Grundbedingung von Wahrnehmung, soteriologisch als die zwei
einander zugeordneten Weisen des Wortes Gottes, den Sünder sozusagen
wahrzumachen, ihn zu retten. Daß beides miteinander unter den ontologi
sehen Aspekt fällt, ergibt sich zum einen daraus, daß, erkenntnistheoretisch
geurteilt, die Schärfe des Unterscheidens das Erkennen optimiert, während,
ontologisch geurteilt, bei völligem Unterscheidungsverlust das Sein selbst ent
schwindet; zum andern daraus, daß, soteriologisch gesehen, die unterschei
dende Urteilskraft die soteriologische Einsicht stärkt, weil es, ontologisch
betrachtet, dabei um Sein oder Nichtsein geht, während der Mangel an Unter
Scheidungsfähigkeit den Sinn dafür trübt.
Luthers Beitrag zum Thema des Unterscheidens profiliert sich am deutlich
sten in der Konfrontation mit der Scholastik. Von der distinctio macht die
scholastische Methode vornehmlich in logischer Hinsicht Gebrauch, um Wi
dersprüche innerhalb des Uberlieferungsbefundes im Interesse dogmatischer
Konkordanz auszuräumen. Die Indienstnahme aristotelischer Logik fördert
dabei die Harmonisierung zwischen aristotelischer Ontologie und biblischem
Wirklichkeitsverständnis durch ein gestuftes Unterscheiden zwischen Natürli
chem und Ubernatürlichem, ein Verfahren, das auf das Ganze der Theologie
abfärbt. Das ließe sich sowohl an der Christologie wie an der Gnadenlehre zei
gen. In beiden Fällen verrät sich am Verständnis der unio41 - sei es der göttli
chen und der menschlichen Natur in Christus, sei es der menschlichen Natur

39 WA 40,1:589,8 (Gal.Vorl., 1531).


40 Vgl. meinen Aufsatz: Das rechte Unterscheiden. Luthers Anleitung zu theologi
scher Urteilskraft (ZThK 85, 1988, 219-258).
41 Vgl. LuSt 11/3,163-177.

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Luthers WirklichkeitsVerständnis 421

und der übernatürlichen Gnade im Menschen wie die distinctio ontologisch


verwurzelt ist. Nicht daß etwa die Unterscheidung als solche mit der unio kon
kurrierte. Daran besteht kein Zweifel, daß die unio die distinctio nicht aufhebt
und die distinctio die unio nicht verhindert. Es geht nicht um Verschmelzung
oder um Zertrennung, sondern um eine Vereinigung des bleibend zu Unter
scheidenden. Wie diese Aufgabe aber zu lösen ist, entscheidet sich am ontolo
gischen Konzept des Unterscheidens. In der Christologie tendiert die Schola
stik infolge des Aristotelismus auf ein Verständnis von unio hin, das, gleichsam
nach außen abgeschottet, in erster Linie ein Sprachproblem aufgibt. In der
Gnadenlehre hingegen beschreitet die Scholastik den Weg zu einer in den Men
sehen verlagerten unio, von der sich viel unbekümmerter reden läßt. Die Folge
ist freilich, daß zu dieser am Menschsein selbst sich vollziehenden unio die
unio göttlicher und menschlicher Natur in Christus als bloße Vorbedingung in
einem nur indirekten Verhältnis steht.
Gegenüber der Scholastik hat sich bei Luther beides außerordentlich ver
schärft: der Umgang mit der distinctio wie das Verständnis von unio. Weit ent
fernt, daß das eine das andere abzuschwächen vermöchte, hat vielmehr eins das
andere gesteigert. An die Stelle einer interpretatorisch nivellierenden Verwen
dung der distinctio als logischer Konkordanzmethode tritt bei ihm die Kon
zentration auf ein Unterscheiden, wie es durch die Strittigkeit der Wirklichkeit
gefordert und im Lebensvollzug selbst auszutragen ist. Diese Kampfsituation
läßt ein relatives Zur-Ruhe-Kommen in einer seinsmäßigen Gnadenausstat
tung des Menschen nicht zu. Die Teilhabe an der unio in Christus bedarf einer
unio mit Christus, die im Zeichen des verbum externum steht und der fides im
Sinne eines Versetztwerdens extra se bedarf. So wird die unio in Christus sei
ber zur Quelle der unio mit Christus, zu dem Geschehen gegenseitiger com
municatio, eines Tausches zwischen ihm und dem Sünder, das in Analogie steht
zur communicatio idiomatum beider Naturen in Christus. Hatte in der Schola
stik die aristotelische Ontologie sowohl die distinctio als auch die unio beein
trächtigt, so macht Luther von der distinctio einen ontologisch begründeten
Gebrauch von der Art, daß die Gegensätze des Lebensvollzuges dabei unver
söhnlich aufeinanderprallen, die unio jedoch auf diesem Hintergrund ungleich
stärker zum Leuchten kommt in Gestalt des Seins mit Christus, des Seins in
Christus oder des Seins Christi in uns.

4.4. Persona - conscientia

Man könnte behaupten, in Luthers Denken habe sich eine ontologische Revo
lution vollzogen. Das sei zuletzt noch an seiner anthropologischen Terminolo
gie gezeigt. Worum es sich dabei handelt, wird völlig verkannt, wenn man ihm

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422 Gerhard Ebeling

die Reduktion ins rein Anthropologische zuschreibt, wie dies Feuerbach tat
und wie es etwas grobschlächtig der neukantianisch orientierten Theologie un
terstellt wird; gleichfalls aber auch dann, wenn man gegen solche Deutung
Luther unter dem Schlagwort »real-ontologisch«42 verteidigt, wobei als Maß
stab ohne weiteres die herkömmliche Ontologie suggeriert wird bzw. ein naiv
alltägliches Verständnis von Wirklichkeit. Ein Symptom dessen, was ich etwas
plakativ »ontologische Revolution« nannte, ist innerhalb von Luthers Anthro
pologie die Tatsache, daß hier entgegen der gesamten philosophischen und
theologischen Tradition zwei Termini miteinander beherrschend ins Zentrum
rücken: persona und conscientia.
Das Wort persona43 ist - abseits von seiner Verwendung in der Theaterspra
che und in der Jurisprudenz - erst durch das Ringen um das altkirchliche Dog
ma zum Gegenstand einer an das Ontologische rührenden Reflexion gewor
den, noch dazu sehr unterschiedlich in der Trinitätslehre und in der Christolo
gie. So gut wie ausschließlich in diesen beiden Kontexten beschäftigte sich die
Scholastik damit. Das Wort conscientia (syneidesis)44 in der Doppelbedeutung
von Bewußtsein und Gewissen erhielt durch die spätantike Philosophie Ver
breitung und gelangte von dorther auch in das Neue Testament. Inwiefern die
Verwendung durch Paulus neue Perspektiven öffnet, blieb vorerst unerkannt.
In der Scholastik ist conscientia auf das Moralische beschränkt und zum Ur
teilsvermögen des Menschen geworden. Obwohl von der unfehlbaren Instanz
der Synteresis zum Guten gewiesen, ist die conscientia fehlbar bei der Anwen
dung der Prinzipien auf die ethischen Konkretionen. In ontologischer Hin
sieht steht dabei die Zuordnung zum Menschen als dem tätigen animal rationa
le außer Frage. Wenn in der Moderne der Gewissensbegriff gesteigert Verwen
dung gefunden hat, so ist dies nur indirekt mit Luther in Verbindung zu
bringen, in erster Linie vielmehr eine Folge zunehmender Ethisierung, die das
Religiöse vereinnahmt.
Was hat Luther dazu veranlaßt, diese beiden Termini persona und conscien
tia trotz ihrer sehr ungleichen Herkunft und, was speziell den ersteren betrifft,
trotz seiner diffizilen Begriffsgeschichte sowie trotz beider allenfalls nur mar
ginaler Rolle in der scholastischen Anthropologie so in Brauch zu nehmen und

4242 Z.B. bei U. Asendorf in der Einführung zu dem o. Anm. 2 genannten Buch von
T. Mannermaa, 8.
43 Vgl. LuSt 1,152-157.160-163.321-323. LuSt 11/1,120-135. LuSt 11/3,179-207.
4444 Vgl. meine Aufsätze: Theologische Erwägungen über das Gewissen (WG I, [1960]
19673, 429-446). Das Gewissen in Luthers Verständnis. Leitsätze (LuSt 111,108-125).
Ferner LuSt 11/3,316-319.461—466. Zu den durch Luthers Wirklichkeitsverständnis ge
prägten anthropologischen Begriffen gehören u.a. auch experientia oder affectus. Zu
letzterem s. K.-H. zur Mühlen, Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Refor
mationszeit (ABG XXXV, 1992,93-114).

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Luthers Wirklichkeitsverständnis 423

umzuformen, daß sie in Hinsicht auf das Menschsein selbst einander eng be
rühren und gemeinsam der Anthropologie ihren Stempel aufprägen? Das ist
m.E. nur von daher zu erklären, daß es ihm um die Befreiung des theologi
sehen Redens vom Menschen aus der Vorherrschaft einer unangemessenen und
verfälschenden Ontologie zu tun war. Dabei vollzog sich eine merkwürdige
Akzentveränderung. Hatte bis dahin »persona« den Schwerpunkt in Trinitäts
lehre und Christologie, »conscientia« hingegen ganz einseitig in der Lehre von
den menschlichen Seelenpotenzen, so trafen sie nun beide - fast könnte es
scheinen: einander konkurrierend - zur zentralen Kennzeichnung des Mensch
seins zusammen. Jedoch nicht orientiert am Verständnis des Menschen als Sub
stanz, sondern in Auswirkung derjenigen ontologischen Grundzüge, auf die
wir unter dem Aspekt der coram-Relation, des Verhältnisses von Wort und
Glaube sowie der Beziehung von distinetio und unio gestoßen sind.
Was den persona-Begriff betrifft, so hat er in Luthers Verwendung viele
Facetten, läßt darin aber trotzdem durchweg den neuen ontologischen Ansatz
erkennen: in dem Primat der Person vor dem Werk, was zum Urgestein refor
matorischer Rechtfertigungslehre gehört; in der strikten Verneinung dessen,
daß Gott die Person eines Menschen ansieht und das eigene Urteil etwa davon
abhängig macht, was ein Mensch zu sein vorgibt; und schließlich in den an der
Tradition gemessen unerhörten Aussagen, woraufhin Gott die Person eines
Menschen dennoch annimmt: fides facit personam45, ja, fides facit ex te et
Christo quasi unam personam46.
Luther kann sogar die Bedeutungsvariante von persona im Sinne von facies,
der Maske, die einer trägt, der Rolle, die einer spielt, positiv aufnehmen durch
die Unterscheidung von persona privata und persona publica, um so die Ver
schiedenheit der Foren Gottes und der Welt zu überbrücken: Die Person als
solche ist Adressat des Wortes Gottes, die Amtsperson Repräsentant des Wor
tes Gottes. Demgegenüber konzentriert sich der conscientia-Begriff aus
schließlich auf das Herz des Menschen. Hier wird miteinander akut, wovon die
drei vorausgegangenen Abschnitte handelten. In der conscientia hat alles sei
nen Ort: die Strittigkeit der coram-Relationen, die Seinsmacht von Wort und
Glaube sowie der Vollzug von distinetio und unio. Im Gewissen hat Christus
sein Wohnrecht. Ubi Christus, da soll bona conscientia sein47. Fides nihil aliud
est quam bona conscientia48. So läßt sich theologisch nur dann reden, wenn der
Bann eines vermeintlich selbstverständlichen Wirklichkeitsverständnisses ge
brochen ist.

45 WA 39,1;281,17-283,21 (Zirk.Disp. de veste nuptiali, 1537).


46 WA 40,1:285,5 (Gal.Vorl., 1531).
47 AaO 281,8.
48 WA 20:718,19f (Vorl.l.Joh., 1527).

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424 G. Ebeling, Luthers Wirklichkeitsverständnis

V.V. Summar

Der Versuch, den Befund zusammenfassend durch die Unterscheidung von


Substanzontologie und relationaler Ontologie zu kennzeichnen49, mag korrek
turbedürftig sein und ist auf jeden Fall-nach vielen Seiten hin auf Explikation
und Ergänzung angewiesen. Das gilt auch von den anthropologischen Varian
ten: Anthropologie der Seelenvermögen und Anthropologie der Daseinsmäch
te50 oder animal rationale und homo theologicus51 oder - um noch eine weitere
ins Spiel zu bringen - animal rationale und anima verbo vivens. Solche Formu
lierungen sind von begrenztem Wert. Entscheidend ist nicht die Formel, son
dern wozu man sich durch sie anleiten läßt. Uber die Luther-Interpretation
hinaus verrät sich dies auch daran, was wir für unser eigenes theologisches Ver
antworten daraus lernen. Das Summar von Beobachtungen zu Luthers ontolo
gischer Intention, das ich vorzulegen wagte, ist eine Sammlung von Früchten,
die ich in mehr als sechzigjährigem Umgang mit Luthers Theologie als Ernte
eingebracht habe. Früchte enthalten Samen dessen, was künftig weiter keimen,
wachsen und reifen soll. Möge es auch in diesem Falle so sein.

49 Vgl. D 1,219-224.
50 Vgl. LuSt 11/2,265-277. LuSt 11/3,88.
51 Vgl. LuSt 11/3,161-163.

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