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1993
Author(s): Gerhard Ebeling
Source: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Vol. 90, No. 4 (Dezember 1993), pp. 409-424
Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23585362
Accessed: 27-06-2016 09:27 UTC
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Zeitschrift für Theologie und Kirche
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Luthers Wirklichkeitsverständnis1
von
Gerhard Ebeling
I.I. Vorbemerkungen
Bei den Vorüberlegungen zum Tagungsthema hatte ich - vielleicht etwas vor
schnell einem spontanen Einfall folgend - die Formulierung vorgeschlagen:
»Woraufhin kann ich angesichts des Sterbens sagen: Amen, so ist es!? [mit dem
Untertitel] Luthers Wirklichkeitsverständnis«. Im Umfeld des ontologischen
Problems, das im Bericht über die finnische Luther-Forschung2 und bei der
Interpretation eines Textes aus den Operationes in psalmos Leitmotiv war3,
nimmt sich die Frage, woraufhin ich angesichts des Sterbens Amen sagen kön
ne, anscheinend befremdend aus. Stellt man sich bei Luther freilich von vorn
herein auf eine nur implizite Erörterung der Ontologie ein, so ist es durchaus
nicht überraschend, im Sinne dessen, was letztlich gilt, nach dem befreienden
Gewißheitsgrund gefragt zu sein, welcher der Wirklichkeit des Todes überle
gen ist. Belassen wir es vorläufig bei diesem eigenartigen Wegweiser in die on
tologische Besinnung. Ich werde ihm nicht direkt folgen, vielmehr auf einigen
Umwegen das Problemfeld zu ordnen versuchen, in das wir dabei geraten, und
kann überwiegend nur an bereits Bekanntes erinnern4.
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410 Gerhard Ebeling
»Ontologie«5 ist eine neugriechische Wortbildung vom Ende des 16. Jahrhun
derts. Der Sache nach aber gibt es Ontologie als methodische Reflexion seit
Aristoteles. Bei ihm ist beides ineinander verschränkt: die vom Einzelnen ab
strahierende Bestimmung der Grundprinzipien des Seienden rein als solchen
sowie die Frage nach dem Seienden im Ganzen. In der einen Hinsicht ergeben
sich Grundbestimmungen des Seins in Gestalt fundamentaler Distinktionen
wie - ich halte mich gleich an die lateinischen Ausdrücke - zwischen substan
tia und essentia, essentia und accidens, forma und materia, actus und potentia,
qualitas und relatio und dergleichen. In der andern Hinsicht wird ein Brük
kenschlag zwischen der Sprache der Philosophie und der Sprache der Religion
vollzogen, indem der Gottesbegriff Aufnahme und Verankerung in der Meta
physik findet. Der Scholastik bot sich diese einzigartige Konstellation als ein
tragendes Gerüst für die Verbindung von Philosophie und Theologie an, von
rationaler Weltoffenheit und christlichem Glauben. An der Wende zum
17. Jahrhundert - nicht ohne Vorbereitung von lang her - beginnen sich aber
die Risse in dieser Struktur zu mehren: Ontologie und natürliche Theologie
trennen sich voneinander, und beide büßen ihren objektiven Anspruch ein, von
Kant reduziert auf eine transzendentalphilosophische Analytik der reinen und
der praktischen Vernunft. Der Begriff der Ontologie gerät dabei ebenso wie
der der Metaphysik in Mißkredit. Die Wissenschaft beschreitet nun den Weg
rationaler Emanzipation, mehr und mehr beflügelt von den Erfolgen techni
scher Machbarkeit. Die Theologie hingegen - in dem richtigen Empfinden, daß
dieses Verständnis für ihre Sache unzureichend und der Wirklichkeit über
haupt letztlich unangemessen sei - zieht sich auf das Subjektive als ihre ver
meintliche Domäne zurück. Schlagwortartig pflegt man dann in der innertheo
logischen Auseinandersetzung gern »ontologisch« und »personal« mit beider
seits kritischem Akzent einander entgegenzusetzen. Dabei bleibt unbedacht,
schäftigung mit Luther (vgl. dazu das Nachwort zur 3. Auflage meiner Dissertation:
Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, 1991,
545-560) die Leitfrage sich mir aufdrängte und darstellte. Das macht Verweise auf meine
früheren Publikationen notwendig. Aus der übrigen Sekundärliteratur, der ich viel ver
danke, erwähne ich: E. Metzke, Sakrament und Metaphysik. Eine Lutherstudie über
das Verhältnis des christlichen Denkens zum Leiblich-Materiellen (H.9 der Schriftenrei
he Lebendige Wissenschaft), 1948. L. Grane, Contra Gabrielem. Luthers Auseinander
Setzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517.
(AThD Vol. IV), 1962. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, 1967. L. Grane, Er
wägungen zur Ontologie Luthers (NZSTh 13, 1971, 188-198). Ders., Modus loquendi
theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515-1518) (AThD
Vol. XII), 1975.
5 Vgl. HWPh 6, 1189-1207.
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Luthers Wirklichkeitsverständnis 411
6 Vgl. meine Lutherstudien (im folgenden abgek.: LuSt I II/l II/2 II/3 III), aus dem
Kommentar zur Disputatio de homine, LuSt 11/1,191-194 11/3,473—483.
7 LuSt 11/2,333-452.
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412 Gerhard Ebeling
wird für ihn schon sehr früh zur methodischen Direktive biblischer Exegese
und macht sie dadurch zur theologisch allein maßgebenden Disziplin. Ein er
hebliches Gewicht fällt dabei auf die Entdeckung der Besonderheiten des He
bräischen8. Freilich wäre es eine Simplifizierung, die der von Luther wohlbe
dachten Unterscheidung zwischen verba und res9 zuwiderliefe, wollte man sei
ne ontologische Neuorientierung allein auf Eigentümlichkeiten einer einzelnen
Sprache zurückführen.
1. 1. 1. 1. Substantia
8 Dazu S. Raedek, Das Hebräische bei Luther, untersucht bis zum Ende der ersten
Psalmenvorlesung (BHTh 31), 1961. Ders., Die Benutzung des masoretischen Textes
bei Luther in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Psalmenvorlesung (1515-1518)
(BHTh 38), 1967. Ders., Grammatica Theologica. Studien zu Luthers Operationes in
Psalmos (BHTh 51), 1977.
9 LuSt II/3,34f 111,375. Vgl. A. Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu
Luthers Sprachverständnis (HUTh 27), 1991, passim.
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Luthers Wirklichkeitsverständnis 413
2. Intellectus
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414 Gerhard Ebeling
nige Äußerung, der gemäß wir Geurteilte sind19. Mit dieser kausativen bzw.
faktitiven Deutung paart sich die kognitive. Solange etwas als geschehen nicht
erkannt ist, ist es bei dem Betroffenen noch nicht geschehen, ereignet sich bei
ihm aber, wenn es in seinem factum esse erkannt wird20. Wir werden allererst
zu Sündern, wenn wir uns als solche erkennen21. Obwohl wir es sind, werden
wir es in Wahrheit nur durch das Erkennen. Allein so jedoch besteht für den
Sünder Hoffnung, ein solcher dennoch nicht mehr zu sein.
Als ein vorläufig letztes Beispiel dafür, wie Luther gänzlich ungewöhnlich auf
Grund biblischer Exegese in die ontologische Thematik eingreift, sei das Scho
lion zu Rom 8,19f über das Harren der Kreatur erwähnt24. Während die Philo
sophen den Blick in die Präsenz der Dinge versenken, in deren quidditates und
qualitates, ruft uns der Apostel eben davon fort in Richtung auf ihr zukünfti
ges Sein. Anders als im Banne der Metaphysik spricht er nicht über Wesen,
Wirken und Bewegung der Kreaturen, sondern über deren Wegschauen von
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Luthers Wirklichkeitsverständnis 415
dem, was ist, und seufzendes Ausschauen nach dem, was noch nicht ist. Die
Philosophen erfassen mit ihrer Sicht die Kreaturen gar nicht als Kreaturen,
sondern als ein Konstrukt wie eine Schaubühne, deren Herstellung und Auf
bau sie interessiert, ohne daß sie danach fragen, wozu dieser technische Appa
rat diene, also ohne sich für die Komödien und Tragödien zu interessieren, die
dort zur Darstellung kommen sollen, geschweige denn, was aus all dem einmal
endgültig wird infolge dessen, wie der Mensch in seiner Nichtigkeit damit um
geht.
Was ich durch die wenigen Beispiele ontologischer Signale bei Luther in Erin
nerung rief - stellvertretend für eine unerschöpfliche Materialfülle -, läßt er
kennen: Ihm geht es dabei um die Frage nach dem wahrhaft Theologischen. In
sofern wird die ontologische Frage bei ihm zur fundamentaltheologischen
schlechthin. Wir könnten auch sagen: Ihm geht es dabei um die angemessene
Erfassung des biblischen Wirklichkeitsverständnisses. Dem korrespondiert
durchaus die Frage: »Woraufhin kann ich angesichts des Sterbens sagen: Amen,
so ist es!?« Denn das biblische Wirklichkeitsverständnis erhebt selbst ange
sichts des Todes den Anspruch befreiender Wahrheit und deshalb letztgültig
gewißmachender Gewißheit.
Nun wäre es aber ein Kurzschluß zu meinen, Theologie müsse, ehe sie zu
ihrer eigentlichen Sache kommt, Ontologie betreiben. Ist es einem um die
Wahrheit, die Gewißheit, die Wirklichkeit theologischer Aussagen zu tun, so
befindet man sich damit nicht bloß vorläufig und peripher bei ihrer Sache, viel
mehr bei deren Kern. Deshalb läßt sich die ontologische Frage in Sachen der
Theologie nicht in einem Abstraktionsverfahren erörtern, sondern stets nur als
ein Implikat der Theologie. Das scheint freilich der Absicht der Ontologie
strikt zu widersprechen. Ist diese doch auf eine allumfassende Anleitung zum
Verständnis des Seienden als solchen und im ganzen aus und insofern auf eine
neutrale, wenn auch nötigenfalls kritische, Klarstellung des Sinnes von Sein
überhaupt. Wie denn eine Grammatik und mehr noch eine Logik sich um ab
strahierende Allgemeingültigkeit bemühen muß. Der Theologie komme allen
falls, wenn überhaupt, dann nur ein bedingtes und regionales Mitspracherecht
in ontologischer Hinsicht zu, bezogen auf den religiösen Spezialbereich oder
noch weiter eingeengt: auf den Sektor biblischer Glaubensaussagen. Nun ist
gegen eine Spezialisierung der Ontologie je nach Zuständigkeitsbereich grund
sätzlich nichts einzuwenden25. Physikalische Seinsaussagen etwa stehen unter
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416 Gerhard Ebeling
1. 1. 1. Coram-Relation
26 Vgl. meinen Aufsatz: Glaube und Unglaube im Streit um die Wirklichkeit (in:
Wort und Glaube I, [1960] 19673, 393-406).
27 LuSt I passim. Luther. Einführung in sein Denken, (1964) 2.Nachdr.der4.Aufl.
1990, 219-238. Dogmatik des christlichen Glaubens (abgek.: D) I, (1979) 19873, 346
355.
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Luthers Wirklichkeits Verständnis 417
28 BSLK 560,24f.
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418 Gerhard Eßeling
Aus der Forum-Situation, die für das Sein des Menschen fundamental ist, er
gibt sich, daß dem Wort ontologische Relevanz zukommt. Entsprechendes lie
ße sich, wenn auch nur beschränkt, schon aus einer allgemeinen Phänomen
analyse aufweisen, die den Strukturen und Funktionen von Sprache nachgeht.
Aber wie die Meinung verfehlt wäre, für die Theologie erledige sich auf diese
Weise die ontologische Frage, so desgleichen die Erwartung, damit werde der
Theologie das eigene Nachdenken über Wort und Sprache abgenommen. Drei
Argumente mögen dies vorläufig bestätigen: Zum einen, daß im Forum Gottes
dem Urteil, das dort ergeht, und darum dem Wort unvergleichliches Gewicht
zukommt. Zum andern, daß hier das rein feststellende Urteil völlig in den Plin
tergrund tritt zugunsten eines zurechtbringenden, schöpferischen Aktes. Und
schließlich, daß im Unterschied zur Pluralität menschlicher Äußerungen hier
das Wort auf die prinzipielle Singularität hin tendiert: die Rede von dem einen
Worte Gottes.
Es wäre unzureichend, die Rede vom Worte Gottes als Akkomodation an die
Rolle der Sprache im Menschsein erklären zu wollen. Die Differenz von Men
schenwort und Gotteswort29 ist nicht durch Ubersetzung zu überbrücken, son
dern hat mit der Verschiedenheit ihres Wirklichkeitscharakters zu tun. Men
schenwort - was immer es an Information oder Zusage enthalten möge - kann
trügen und vermag als Versprechen seine Erfüllung nicht zu garantieren. Zu die
ser bedarf es ohnehin einer zusätzlichen Tat, die das Wort als solches nicht ist.
Das Wort Gottes hingegen ist als solches Tatwort, von schöpferischer Macht
und unfehlbarer Verläßlichkeit. Freilich ist dieses Verständnis nicht mit der
Rede von Gott überhaupt gegeben. Daß dem Worte Gottes ein solches Gewicht
zufällt, ist eine biblische Eigentümlichkeit, die, trinitarisch begründet, das Ver
ständnis von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung prägt.
Die Tragweite dessen, daß in biblischer Aussage die Rede von Gott sich auf
Gottes eigenes Wort konzentriert und dieses wiederum auf das eine Wort
Gottes, wird freilich erst von daher deutlich, daß dieses eine Wort Gottes in sei
ner Verlautbarung zu unterscheiden ist als Gesetz und Evangelium30. Das hat
seinen Grund darin, wie Gott jener zutiefst gestörten Situation im Geflecht der
coram-Relationen begegnet. Nach beiden Seiten hin scheint das Wort Gottes
nun den Charakter als Tatwort des Schöpfers - »so er spricht, so geschieht's«31 -
einzubüßen: Als Gesetz gibt es nicht, was es sagt, sondern fordert es vom Men
sehen und von dessen Tun. Im Evangelium schenkt Gott wohl, jedoch allein sein
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Luthers Wirklichkeitsverständnis 419
Wort. Im einen Fall bloßes Geheiß, im andern Fall bloße Verheißung. Das eine
Mal immerhin drohendes Machtwort, das andere Mal hingegen so ohnmächtig
wie ein Gekreuzigter. Verbum crucis ist anscheinend ein Widerspruch in sich,
denkt man an den Schrei, mit dem Jesus am Kreuz verschied. Ja, gar ihn selbst
mit »Wort« zu titulieren, tönt in unsern Ohren geradezu lächerlich, als sei er
Schall und Rauch, nichtig wie ein Strohhalm32.
Die an das Sein selbst rührende Kraft des Wortes Gottes bekundet sich je
doch durch Gesetz und Evangelium in äußersten Weisen der Seinsbetroffen
heit. Wie das Schöpferwort dem, was nicht ist, ruft, daß es sei33, und das Ge
richtswort Lebende zum ewigen Tode verdammt34, so - aber in entgegenge
setzter Folge - tötet das Gesetz, während das Evangelium zu neuem Leben
erweckt. Das eine zielt auf das andere hin in einem einzigen Vorgang von Ster
ben des alten und Auferstehen des neuen Menschen. So teilt sich das, was das
Wort Gottes in sich selbst ist, dem mit, an den es ergeht: Es ist heilig und macht
heilig. Der lebendige Gott gibt sich selbst in seinem Wort. Das Wort, das als
Menschenwort schwach und hinfällig erscheint, obzwar es auch Fürchterliches
anrichtet, damit aber letztlich nichts anderes ausrichten kann als das Geschäft
des Teufels und des Todes, vermag als Gotteswort die Macht des Teufels und
des Todes zu brechen.
Diesem Wort entspricht allein der Glaube, der sich ihm verdankt und in
welchem es sich erfüllt. Wie sollte Gott auch anders geehrt und wie dem ersten
Gebot anders entsprochen werden als durch zustimmendes Einverständnis:
Amen, so ist es, also durch Glauben allein. Darum erkennt Luther in Wort und
Glaube ein zusammenhängendes Geschehen, das alles von Grund auf verän
dert. Das Wort verändert die Situation der Seele. Während es gewöhnlich
heißt: Wie die Seele des Menschen beschaffen ist, so auch das Wort, das aus ihr
hervorgeht, heißt es nun bei Luther: »Wie das Wort ist, so wird auch die Seele
von ihm«35. Entsprechend heißt es gemeinhin: Hast du was, so kannst du ge
trost der Zukunft entgegengehen. Nun aber heißt es nach Luther: »Glaubst du,
so hast du«36. Freilich hat diese Umkehrung eine Analogie ebenfalls im Ver
hältnis zur Welt. Die Meinungen, die man hat, regieren die Welt37. Das gilt so
gar für das Verhältnis zu Gott: Sicut de Deo cogito, ita fit mihi, selbst wenn die
Gottesvorstellung falsch ist38, dann vielleicht erst recht. Was jedoch den Glau
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420 Gerhard Ebeling
ben auszeichnet und ihn seinsbestimmend macht, ist nicht eine qualitative
Wandlung des Subjekts, sondern die Veränderung des Ortes, wo es sein Leben
empfängt und hat: extra se in Christus, im verbum externum. Ideo nostra theo
logia est certa, quia ponit nos extra nos39. Deshalb widersprechen sich hier
nicht das »schon jetzt« und das »noch nicht«.
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Luthers WirklichkeitsVerständnis 421
Man könnte behaupten, in Luthers Denken habe sich eine ontologische Revo
lution vollzogen. Das sei zuletzt noch an seiner anthropologischen Terminolo
gie gezeigt. Worum es sich dabei handelt, wird völlig verkannt, wenn man ihm
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422 Gerhard Ebeling
die Reduktion ins rein Anthropologische zuschreibt, wie dies Feuerbach tat
und wie es etwas grobschlächtig der neukantianisch orientierten Theologie un
terstellt wird; gleichfalls aber auch dann, wenn man gegen solche Deutung
Luther unter dem Schlagwort »real-ontologisch«42 verteidigt, wobei als Maß
stab ohne weiteres die herkömmliche Ontologie suggeriert wird bzw. ein naiv
alltägliches Verständnis von Wirklichkeit. Ein Symptom dessen, was ich etwas
plakativ »ontologische Revolution« nannte, ist innerhalb von Luthers Anthro
pologie die Tatsache, daß hier entgegen der gesamten philosophischen und
theologischen Tradition zwei Termini miteinander beherrschend ins Zentrum
rücken: persona und conscientia.
Das Wort persona43 ist - abseits von seiner Verwendung in der Theaterspra
che und in der Jurisprudenz - erst durch das Ringen um das altkirchliche Dog
ma zum Gegenstand einer an das Ontologische rührenden Reflexion gewor
den, noch dazu sehr unterschiedlich in der Trinitätslehre und in der Christolo
gie. So gut wie ausschließlich in diesen beiden Kontexten beschäftigte sich die
Scholastik damit. Das Wort conscientia (syneidesis)44 in der Doppelbedeutung
von Bewußtsein und Gewissen erhielt durch die spätantike Philosophie Ver
breitung und gelangte von dorther auch in das Neue Testament. Inwiefern die
Verwendung durch Paulus neue Perspektiven öffnet, blieb vorerst unerkannt.
In der Scholastik ist conscientia auf das Moralische beschränkt und zum Ur
teilsvermögen des Menschen geworden. Obwohl von der unfehlbaren Instanz
der Synteresis zum Guten gewiesen, ist die conscientia fehlbar bei der Anwen
dung der Prinzipien auf die ethischen Konkretionen. In ontologischer Hin
sieht steht dabei die Zuordnung zum Menschen als dem tätigen animal rationa
le außer Frage. Wenn in der Moderne der Gewissensbegriff gesteigert Verwen
dung gefunden hat, so ist dies nur indirekt mit Luther in Verbindung zu
bringen, in erster Linie vielmehr eine Folge zunehmender Ethisierung, die das
Religiöse vereinnahmt.
Was hat Luther dazu veranlaßt, diese beiden Termini persona und conscien
tia trotz ihrer sehr ungleichen Herkunft und, was speziell den ersteren betrifft,
trotz seiner diffizilen Begriffsgeschichte sowie trotz beider allenfalls nur mar
ginaler Rolle in der scholastischen Anthropologie so in Brauch zu nehmen und
4242 Z.B. bei U. Asendorf in der Einführung zu dem o. Anm. 2 genannten Buch von
T. Mannermaa, 8.
43 Vgl. LuSt 1,152-157.160-163.321-323. LuSt 11/1,120-135. LuSt 11/3,179-207.
4444 Vgl. meine Aufsätze: Theologische Erwägungen über das Gewissen (WG I, [1960]
19673, 429-446). Das Gewissen in Luthers Verständnis. Leitsätze (LuSt 111,108-125).
Ferner LuSt 11/3,316-319.461—466. Zu den durch Luthers Wirklichkeitsverständnis ge
prägten anthropologischen Begriffen gehören u.a. auch experientia oder affectus. Zu
letzterem s. K.-H. zur Mühlen, Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Refor
mationszeit (ABG XXXV, 1992,93-114).
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Luthers Wirklichkeitsverständnis 423
umzuformen, daß sie in Hinsicht auf das Menschsein selbst einander eng be
rühren und gemeinsam der Anthropologie ihren Stempel aufprägen? Das ist
m.E. nur von daher zu erklären, daß es ihm um die Befreiung des theologi
sehen Redens vom Menschen aus der Vorherrschaft einer unangemessenen und
verfälschenden Ontologie zu tun war. Dabei vollzog sich eine merkwürdige
Akzentveränderung. Hatte bis dahin »persona« den Schwerpunkt in Trinitäts
lehre und Christologie, »conscientia« hingegen ganz einseitig in der Lehre von
den menschlichen Seelenpotenzen, so trafen sie nun beide - fast könnte es
scheinen: einander konkurrierend - zur zentralen Kennzeichnung des Mensch
seins zusammen. Jedoch nicht orientiert am Verständnis des Menschen als Sub
stanz, sondern in Auswirkung derjenigen ontologischen Grundzüge, auf die
wir unter dem Aspekt der coram-Relation, des Verhältnisses von Wort und
Glaube sowie der Beziehung von distinetio und unio gestoßen sind.
Was den persona-Begriff betrifft, so hat er in Luthers Verwendung viele
Facetten, läßt darin aber trotzdem durchweg den neuen ontologischen Ansatz
erkennen: in dem Primat der Person vor dem Werk, was zum Urgestein refor
matorischer Rechtfertigungslehre gehört; in der strikten Verneinung dessen,
daß Gott die Person eines Menschen ansieht und das eigene Urteil etwa davon
abhängig macht, was ein Mensch zu sein vorgibt; und schließlich in den an der
Tradition gemessen unerhörten Aussagen, woraufhin Gott die Person eines
Menschen dennoch annimmt: fides facit personam45, ja, fides facit ex te et
Christo quasi unam personam46.
Luther kann sogar die Bedeutungsvariante von persona im Sinne von facies,
der Maske, die einer trägt, der Rolle, die einer spielt, positiv aufnehmen durch
die Unterscheidung von persona privata und persona publica, um so die Ver
schiedenheit der Foren Gottes und der Welt zu überbrücken: Die Person als
solche ist Adressat des Wortes Gottes, die Amtsperson Repräsentant des Wor
tes Gottes. Demgegenüber konzentriert sich der conscientia-Begriff aus
schließlich auf das Herz des Menschen. Hier wird miteinander akut, wovon die
drei vorausgegangenen Abschnitte handelten. In der conscientia hat alles sei
nen Ort: die Strittigkeit der coram-Relationen, die Seinsmacht von Wort und
Glaube sowie der Vollzug von distinetio und unio. Im Gewissen hat Christus
sein Wohnrecht. Ubi Christus, da soll bona conscientia sein47. Fides nihil aliud
est quam bona conscientia48. So läßt sich theologisch nur dann reden, wenn der
Bann eines vermeintlich selbstverständlichen Wirklichkeitsverständnisses ge
brochen ist.
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424 G. Ebeling, Luthers Wirklichkeitsverständnis
V.V. Summar
49 Vgl. D 1,219-224.
50 Vgl. LuSt 11/2,265-277. LuSt 11/3,88.
51 Vgl. LuSt 11/3,161-163.
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