Sie sind auf Seite 1von 11

EPISTEMOLOGISCHE KRITIK ALS ÄSTHETISCHE

INNOVATION IM EXPRESSIONISTISCHEN ROMAN.


ANMERKUNGEN ÜBER ROBERT MÜLLERS TROPEN.
Catarina Martins

Universität Coimbra

Das heutige Verständnis der Literatur des Expressionismus geht immer noch im
Allgemeinen auf die „Konstruktion der Literaturgeschichtsschreibung“ (Anz, 2002),
die sich hauptsächlich in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte,
zurück. Diese Konstruktion stützte sich überwiegend auf die Analyse deutscher,
insbesondere Berliner Bewegungen, und auf einige einzelgängerische Schriftsteller,
aus denen ein Kanon mit stark normativen Zügen gebildet wurde. Thematische
Stichworte wie Entfremdung, Angst, Psychopathologie, Apokalypse und O-Mensch,
sowie die einer Ästhetik des Visionären oder der Verknappung der kürzeren
Prosagattungen schließen Manifestationen anderer Art aus, die aber auch zur
expressionistischen Bewegung, laut dem ausdrücklichen Bekenntnis der eigenen
Autoren, gehörten. Dies galt eine Zeit lang für den Roman, sowie für Werke in
denen die Rationalität statt des emotionellen, irrationalen Erlebnisses, trotz der
Beschreibung einer „erkenntnistheoretischen Reflexionsprosa“ von Silvio Vietta und
Hans-Georg Kemper in ihrem immer noch kanonischen Band „Expressionismus“
(1975), dominierte.

Das Erstaunlichste an der kritischen Konstruktion des Expressionismus, wie sie in


übergreifenden Epochendarstellungen oder Literaturgeschichtswerke immer noch
dargestellt wird, liegt aber im Paradox ihrer Langlebigkeit angesichts der
Disparatheit der ästhetischen Manifestationen, die der Begriff zu verbinden versucht
(und laut vielen Kritikern den Begriff unbrauchbar machen). Dies geschieht trotz der
immensen Forschungsarbeit, die in den letzten vierzig Jahren nicht nur über die
kanonisierten Autoren, die neue Interpretationen anbot, entwickelt wurde, sondern
auch über andere von dem Kanon vernachlässigten Schriftsteller, die in der
expressionistischen Bewegung sehr aktiv waren. Diese Schriftsteller – unter denen
ganz besonders die Österreicher zu nennen sind – finden heute immer noch kaum
mehr als eine Randerwähnung, die unfähig ist, weder die großen Linien noch die
Grenzen des kanonisierten Begriffes zu ändern. Das bedeutet aber, dass dieser
Begriff weitgehend die Logik der Künstler- bzw. Schriftstellerbewegungen ignoriert,
die den Expressionismus auf grundlegende Weise bestimmt.
Ein deutliches Beispiel dieser Marginalisierung ist der führende Wiener
Expressionist Robert Müller (1887 – 1924) und sein Hauptroman – Tropen. Der
Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915). Die Originalität der
ästhetischen Konzeption, der fiktionalen Konstruktion und der Thematik Tropens ist
aber nicht nur eine ausführliche Analyse wert, sondern muss auch in Hinblick auf
ein mögliches Neuverständnis des Expressionismus bewertet werden.

Tropen erzählt, wie drei westliche Schatzsucher, ein Deutscher, ein Amerikaner und
ein Holländer, im Urwald des Amazonas und in einem Indianerdorf Abenteuer
erleben, und dabei verschiedene Liebesbeziehungen mit den Indianerinnen,
insbesondere mit der Priesterin Zana des Indianerstammes eingehen. Erzählt wird
auch wie diese Männer den gesuchten Schatz im Herz des Waldes doch nicht finden
und sich auf Grund psychischer Störungen, bis auf den deutschen Ingenieur Hans
Brandlberger, der von Zana gerettet und in die Zivilisation zurückgeschickt wird,
gegenseitig umbringen.

Es wird erstmal sehr deutlich, dass die Thematik des Romans sich schwer in den
Kanon des Expressionismus einreihen lässt. Es geht hier nicht um die Entfremdung
des Subjektes in der massenhaften Anonymität des für den Expressionismus
typischen Handlungsraums der Groβstadt (die in anderen Werken Müllers eine
wichtige Rolle spielt). Die Deutung des Urwaldes als Metapher des urbanen
Djungles, in dem die Figuren doch „expressionistische“ Ausbrüche einer
pathologischen und gewalttätigen Irrationalität erleiden oder von visionären
Träumen befangen werden, wirkt auch nicht überzeugend. Höchstens wäre hier von
expressionistischer Ich-Dissoziation zu sprechen, aber diese muss meiner Ansicht
nach aus einer ganz anderen Perspektive analysiert werden als es bei der
expressionistischen Kritik üblich ist. Meine These lautet: Tropen ist durch und durch
ein expressionistischer Roman, aber das Expressionistische an ihm soll nicht nach
der typischen Topoi-Liste gesucht werden, sondern bedarf einer tieferen Analyse der
Weltanschauung, der Epistemologie, und der ästhetischen und poetologischen
Konzeptionen, die dem Roman zugrunde liegen.

An erster Stelle kommt die Problematisierung des Erzählens in Frage, die auf ein
Verständnis des Realen als nicht-linear, sondern vielschichtig, vernetzt, paradox und
spannungsgeladen hinweist. Und dies entspricht einer tiefgründigen philosophischen
und epistemologischen Kritik des Paradigmas der rationalistischen Moderne und
seines vereinfachenden, kategorisierenden, sich kausal bewegenden Verstandes. Der
Essayismus des Romans ist in diesem Rahmen zu erklären: er soll performativ einen
neuen Denk- und Diskursmodus verkörpern, der für eine radikal andere – ich würde
sagen expressionistische - Weltanschauung passend ist.

Die erstaunliche Originalität von Müllers Essayismus muss angemessen bewertet


werden. Er arbeitet nicht nur – wie zumindest seit der Romantik üblich - mit einem
theoretischen Diskurs, der die Handlung zum Beispiel durch philosophische
Dialogen unterbrechen würde. Im Gegenteil: Müller verwandelt hauptsächlich die
Figuren, die Schauplätze und die Symbole der Handlung, unter anderem, in
Verkörperungen philosophischer Thesen und epistemologischer Standpunkte um,
ohne dass jene ihre normale erzählerische Funktion verlieren. Die Erzählung wird
dadurch verunsichert, dass sie ständig eine Kehrseite beibehält, die die Oberfläche
der Handlung in Frage stellt. Dies geschieht außerdem durch eine Struktur, die an
Friedrich Schlegels Idee der progressiven Universalpoesie denken lässt: eine
potenzierende Reihe von Spiegeln, die durch ein transzendentales Denken – ein
Denken, das sich ständig durch Selbstreflexivität überholt – graduell die Ganzheit
bilden und darstellen sollen.1 Diese Struktur nennt Robert Müller die
„Fächererzählung“ der „Kosmoromantik“, ein Begriff, der für ihn Synonym von
Expressionismus ist:

Die Ereignisse liegen statt eines beim andern wie räumlich-zeitliche


Identitäten, motivische Wiederholungen, Verzahnungen des Schicksalrades.
Sie sind einander durchdringlich, das physikalische Gesetz ist aufgehoben. Es
gibt in der Erzählung keine Verläufe, sondern nur Lauf, ein sich in sich selbst
vergliederndes Teleskop in den Kosmos hinaus. Dies ist eine Welt als
Vorstellung, wobei wir, wenn wir es so heißen, die expressionistische
Scharfhörigkeit praktizieren, denn diese Welt ist Vorstellung, eins vor’s
andere gestellt, Fächerfalten, und alles ist Eines, immer dieses, der Kosmos,
Formgeschehen. (…) In der Fächererzählung, wo Schicht vor Schicht gestellt
ist, Falte vor Falte, wird durch Projektion Schicksal sichtbar am Vollzug
verschiedener Lebensträger, sozial disparater Persönlichkeiten, die letztlich
nur eine kosmische Person sind. […]. Erzählraum ist erst die Verwicklung der
Kapitelflächen. (Müller, 1995: 449)

Tropen ist durch und durch diese Fächererzählung. Der Roman ist in mehrere
erzählerische Ebenen verschachtelt, unter denen nicht nur das Vorwort des
Herausgebers zu zählen ist, sondern besonders die verschiedenen Schichten und
Überkreuzungen der paradoxen Selbstreflexivität, die als oft verwirrende
Leseanweisungen fungieren. Ein Beispiel dafür ist die folgende Textstelle, in der der
Erzähler Hans Brandlberger einer Erzählung von Slim, dem Amerikaner, zuhört, die

1
Der Spiegel ist nicht zufällig eine der wichtigsten Metaphern der Selbstreflexivität und der Paradoxie
des Romans, wie aus der folgenden Stelle zu entnehmen ist: „Hei! Ich verkündige den Spiegel, die
Verkehrtheit, das Paradox! Es soll meine andere große Arbeit für die Menschheit werden. Auf den
Spiegel kommt es an! Spiegel akzentuieren! Seid eitel, turnet vor Spiegeln! Beäuget euch von vielen und
allen Seiten, lasset euch hin- und herschnappen! „ (Müller, 1993: 57).
sich wiederum als ein Buch entpuppt, das der Erzähler liest und schreibt und in dem
er gleichzeitig als Figur auftritt. Dies Buch ist natürlich der Roman selbst:

Außer uns beiden gab es nichts, die Welt, die Stadt, die Landschaft waren nur
seine Erzählung. […] Seine Erzählung war ein einziges langes, wildes Lied.
Und schon begann ich bohrend zu fragen. Wer war ich in seiner Erzählung?
Wer war er selbst? War er außerhalb seiner Erzählung? Und ich gewahrte,
dass er nur ein Stück seiner Erzählung war. Er war die Gestalt eines Buches,
das ich las. Während ich es aber las, schrieb ich es, und ich schrieb es ab von
meiner Seele mit Schaudern und Staunen und Neugier. Alles was ich träumte,
war nur ein Buch, das ich schrieb, und es sollte alle die schwere Weisheit
meiner Jugend tragen, sollte im kalten Kelch meinen formlosen, doch feurigen
Wein kredenzen. (Müller, 1993: 181)

Die erzählerischen Ebenen Tropens sollen demnach im ständigen Gegensatz


zueinander gelesen werden, wie ein unendliches Netz von multiperspektivischen
Thesen und Antithesen, die gerade durch diese paradoxen Beziehungen ein
spannungsvolles, aber einheitliches Ganzes zusammensetzen. Dieses Ganze bildet,
wie Müller selber behauptet, den eigentlichen Erzählraum oder die Materialität des
Buches, das weder Erzählung noch Essay ist, sondern ein Ereignis der Form, das
ganz expressionistisch als Erlebnis der Einheit erfahren werden muss.

Die ganz wichtige performative Dimension dieser neuen strukturellen Konzeption


des Romans – eine Dimension, die die Theorie des Essays für diese Gattung auch
hervorhebt (Adorno, 1972) – besteht darin, dass sie die „Aussage“ des Romans in
die Praxis umsetzt und materialisiert. Deswegen muss sie in direkter Verbindung mit
der jeweiligen philosophischen und ästhetischen Begründung gelesen werden. Wie
gesagt, vertreten die erzählerischen Elemente Tropens philosophische Ideen, die die
erzählte Geschichte verunsichern, um auf eine – wie ich denke – expressionistische
Weltanschauung hinzuweisen. Zum Beispiel wird die Reise in den Amazonas im
Untertitel des Romans ausdrücklich als Mythos entlarvt. Dazu wird die
Abgetrenntheit des Reiseziels vom reisenden Subjekt negiert, denn, laut dem
Erzähler, „die Tropen bin ich!“ (Müller, 1993: 402). Weiter werden die Tropen, die
als Erzählraum dienen, als Metapher verstanden und diese in Anlehnung an der
Philosophie Nietzsches als einzige Substanz einer ästhetischen Welt verkündet:

Ich hätte es [mein Buch] »die Tropen« genannt; nicht nur dem Milieu zuliebe
[…] sondern aus Hinterlist, aus Spitzfindigkeit, weil alles Gegebene immer
nur eine poetische Methode, ein Tropos ist, und weil mich dieses seltsame
Gewächs reizt, das wie eine Vegetation von purem Stoff haushoch,
elefantiasisartig anschießt, mir unter die Füße wächst und meinen Standpunkt
hebt, und dessen Säfte doch immer wieder mein eigenes rollendes Blut sind
und nichts Fremdes. (Müller 1993: 303)
Der Amazonas erscheint dann konsequent und wieder im Sinne Nietzsches als
symbolische Verkörperung des Lebensstroms, der seinerseits das fundamentale
Motto des Romans darstellt: „Das Leben ist eine Entwicklung vom Figürlichen ins
Figürlichere“.

Dieses ist das philosophische und poetologische Hauptprinzip, das den Roman
thematisch, inhaltlich und strukturell bestimmt. Es wird später in anderen Texten
Müllers als Schlüssel sowohl des Romans als auch des Expressionismus erklärt, wie
auch 1920 in einer kritischen Rezension von Gottfried Benns Das Moderne Ich.

Das Ich mischt die Karten und ist am Geben. Es gibt, es nimmt nicht. Es ist
gebend, nicht erleidend, schon gar nicht leidend. Diese neue Welteinstellung
liegt in der Luft. Das jüngere Geschlecht hat diesen solaren Egozentralismus
als Weltanschauung mitgebracht; eine kopernikanische Einstellung des
Rotationsakzentes. Die Welt hängt zentripetal vom Ich ab, nicht umgekehrt.
Der Satz: Das Leben ist eine Entwicklung vom Figürlichen ins Figürlichere
und die Absicht des Romans “Tropen”, Äußeres als aktiv gesetztes Gleichnis
des Ichs, selbst die Analyse als synthetischen Akt zu begreifen, verkünden
diesen Trieb, der zu allen Arten der Ausdruckskunst, Expressionismen und
Aktivismen geführt hat. (Müller, 1995: 476)

Hier wird die ästhetische Dynamik des nietzschianischen Lebensstroms, der sich
durch sukzessive Figurationen entwickelt, mit dem zentralsten Problem der
ästhetischen Moderne in Beziehung gesetzt: das Problem des zersplitterten
„unrettbaren“ Subjekts (Hermann Bahr), das nach Einheit strebt, oder laut der
typischen expressionistischen Topos-Liste, die Frage der Ich-Dissoziation. Die
Lösung liegt für Müller in der Auffassung eines ganzheitlichen, ursprünglichen und
schöpferischen Ichs, das die Welt als das Ensemble seiner Ausdrücke und
Gleichnisse aus sich selbst herausbringt („expressioniert“) und somit identisch mit
der Welt als Ganzheit bleibt und den Prozess der Individuation in sich behält. Jede
Figuration dieses globalen Ichs – das Individuelle oder das Besondere – strebt
danach, durch eine Reihenfolge von Synthesen mit anderen Individuen den Status
der Ganzheit wiederzuerlangen. Die angestrebte Ganzheit wird ein Neues mit dem
Ursprünglichen koinzidentes Ich sein, das Müller wiederum durch das Verständnis
des Menschen selbst als ästhetische Schöpfung oder Form mit der
expressionistischen Utopie des Neuen Menschen in Verbindung setzt. Und der
Roman, als Fächererzählung, soll die Umsetzung des oben erwähnten
Verständnisses der Wirklichkeit als fortwährende ästhetische Dynamik –
„Formgeschehen“ - sein, die im Ich ihren Ursprung und auch ihr Ziel hat: ein neues
kosmisches Ich bzw. einen neuen globalen Mensch.

Die Konzipierung und die Entwicklung der Handlungsfiguren sind in diesem Sinne
zu interpretieren. Als Ensemble weisen sie die Einheit des Dialektischen auf, das
der Synthese vorausgeht: die drei Schatzsucher einerseits und die drei Indianerinnen
andererseits bilden ein komplexes Netz von gegenseitigen Spiegelbildern, die nach
der Müllerschen Theorie der kosmischen Einheit des Ichs graduell durch
Verwischung der Grenzen der „bürgerlichen Persönlichkeit“ synthetisiert werden
sollen. Dies ist besonders deutlich bei dem deutschen Ingenieur Hans Brandlberger,
und bei Slim, dem Amerikaner. Ab einem bestimmten Punkt im Roman sind die
Aussagen und Handlungen dieser Figuren nicht zu unterscheiden und keiner weiß,
wer was gemacht oder gesagt hat, was eine graduelle Verschmelzung der Beiden
bedeutet. Die Handlung stellt letztendlich ein Experiment dar, in dem der Neue
kosmische Menschen gesucht wird. Verschiedene männliche Hypothesen werden
sowohl gegeneinander wie auch gegen die weiblichen Gegensätze auf die Probe
gestellt.

Die Figuren des Romans sind kulturelle und menschliche Typen, die hauptsächlich
verschiedene Wahrnehmungsarten und Erkenntnisweisen vertreten, wie der deutsche
Ingenieur, der die technische Rationalität der westlichen Zivilisation verkörpert.
Diese wird dann mit dem Vor-rationellen und Triebhaften vereint, die man aus dem
Prinzip Weib bei Otto Weininger kennt und im Roman von den primitiven
Indianerinnen symbolisiert werden. Die Begegnung mit dem Fremden dient also der
Konfrontation eines Selbst, das erkenntnistheoretisch definiert wird, mit einem
konstruierten Anderen, der gleichfalls durch die Art der Beziehung zum Realen und
der entsprechenden Auffassung des Wirklichen, charakterisiert wird. Zu diesem
Fremden gehört auch der Urwald, der den deutschen Ingenieur in nicht-rationelle
Erkenntnisarten einführt, wie die für den Expressionismus typischen Visionen und
symbolischen Träumen. Somit wird durch Erkenntniskritik auch Zivilisationskritik
geübt, aber immer mit dem Auge auf die Perfektionierung des Ichs und der eigenen
Kultur, und nicht durch die Aufgabe des Selbst zu Gunsten des Fremden, wie das
Ende des Romans beweisen wird.

Die Figuren sind außerdem als philosophisch-politische Thesen zu verstehen. Der


Amerikaner zum Beispiel verkörpert die Idee einer globalen Rassen- und
Kulturmischung, die Müller in anderen Texten unter dem Namen „Der Slimismus“
wieder aufnimmt. Er steht außerdem für die Rolle Amerikas in Müllers Utopien, ein
Thema, das sich vom Anfang bis Ende seiner Schriften beharrlich wiederholt. In
Manhattan (1920-23), zum Beispiel, wird New York als melting pot einer globalen
Rasse, die die verschiedensten Elemente der Kulturen und Geographien der
Gegenwart und der Vergangenheit, des Norden und Südens, und ganz besonders des
Westens und des Ostens, enthalten soll. Diese Elemente beziehen sich wieder
hauptsächlich auf die Art der jeweiligen Wahrnehmung der Wirklichkeit, bzw. auf
eine Erkenntnisart, die sich irgendwo zwischen Verstand (vom westlichen Mann der
modernen Technik verkörpert) und Trieb (von den primitiven Weibern dargestellt)
befindet und diese epistemologischen Gegenpole verschmilzt. Die nicht-farbige,
oder gerade unfarbige „graue Rasse“ (Manhattan), die Slim in Tropen verkörpert,
stellt vordergründig eine epistemologische Synthese dar, die als Alternative zur
engen Rationalität der aufklärerischen Moderne in dem Kontext einer Ästhetisierung
des Wirklichen vorgeschlagen wird.

Doch ist der deutsche Ingenieur der Einzige, der am Ende diese Schatzsuche
überlebt, indem er vom Indianerweib symbolisch im Lebensstrom des Amazonas
geboren wird, nachdem er den Amerikaner in sich „aufgenommen“ hat. Er wird
deswegen zum einzigen Vertreter der synthetisierten neuen Epistemologie, die der
modernen Welt am adäquatesten erscheint. Dieser deutsche Ingenieur, der auch als
Dichter beschrieben wird, wie der Protagonist Tropens, ist der Neue Mensch im
Rahmen einer ästhetischen und epistemologischen Utopie. Er wird zum Träger einer
teils rationellen, teils mystischen, teils empfindlichen, teils triebhaften, teils
ästhetischen Alternative zur Unfruchtbarkeit der aufklärerischen Vernunft
auserwählt. Diese Alternative wurde durch die verschiedenen Begegnungen der
Figuren graduell synthetisiert.

Die Auswahl eines nationalen Subjekts als Neuen Menschen bedeutet aber, dass der
Roman kein Lob auf den Mestizen macht. Die Synthese der Rassen und Kulturen,
die Slim symbolisierte, bevor er vom deutschen Protagonisten verschlungen wurde,
hat letztendlich ein politisches Ziel im Rahmen eines wesentlichen nationalistischen
und imperialistischen Projekts Müllers, das vom geschichtlichen Kontext eines
Weltkrieges, in dem es um Welthegemonie geht, nicht zu trennen ist. Dieses Projekt
ist wiederum von der Poetologie und den philosophisch-ästhetischen Auffassungen
Müllers nicht zu unterscheiden, denn auch die Politik bewegt sich innerhalb einer
aus rein ästhetischer Materie bestehenden Welt, die durch eine ästhetische
Erkenntnisart wahrzunehmen und durch ästhetische Schöpfung zu bewegen ist.

Die politischen Ziele des Autors werden sowohl in Manhattan wie in Tropen
explizit und sind aus dem Essay Macht. Psychopolitischen Grundlagen des
gegenwärtigen atlantischen Krieges (1915) am deutlichsten zu entnehmen. Dieses
Projekt nennt Müller „Imperialismus des Geistes“ und beruht auf der Herstellung
eines Weltreiches des geistig überlegenen Volkes – d.h., des Deutschen Volkes, das
von Natur aus dazu bestimmt ist, Macht auszuüben und alle anderen Völker zu
leiten. Die Begründung dieser mentalen Überlegenheit liegt darin, dass der Deutsche
die oben genannte epistemologische Alternative zur Unfruchtbarkeit der
aufklärerischen Vernunft vertritt.

Müller stellt den deutschen Übermenschen als den neuen prophetischen Zarathustra
eines extremen subjektiven und ästhetischen Idealismus des Willens vor. Der
Deutsche ist der Schöpfer einer Ganzheit, die wie in Tropen seinen Ursprung im Ich
hat:
Denn wir besitzen beides und Alles, aber erst über unseren Kopf, unser
seelisches Erlebnis, unsere „mentale“ Produktivität. Das Ding ist ein Produkt
des Subjekts. Was ist und klar ist, setzen wir. (…) Zarathustra lehrte: Die
Tafeln des Gesetzes sind zu brechen. Meißelt neue aus! Stiftet Satzungen an!
Setzet! Immer in „Positur“: diese Spannung ist es, die andere an uns sehen…
(Müller, 1995a: 96-7)

Der Deutsche ist aber insbesondere dazu fähig, nicht nur die Welt, sondern
hauptsächlich das Ich aus sich selbst zu schaffen. Das passende Bild dieses
absoluten Subjekts, das sich trotz seiner „Unrettbarkeit“, als Einheit erlösen kann, ist
der von Müller im Essay evozierte Münchhausen, der sich aus dem Sumpf rettet,
indem er sich an seinem eigenen Haarschopf heraus zieht, der sowieso schon eine
seiner Erfindungen ist. Münchhausen sowie auch Faust erscheinen als Epitome des
deutschen Charakters und der deutschen Kultur:

Gestehen wir’s ehrlich, wir sind ein, nein wir sind das imperialistische
Volk. (…) ich nehme Münchhausen neben Faust als deutschen
Urmenschen in Anspruch, diese Riesenphantasie, diesen Kreuz- und
Querdenker, der sich selbst und eigenhändig bei einem Haarschopf,
bitte einem Haarschopf aus dem Wasser zieht, den er gar nicht besitzt,
denn es ist eine Perücke, die Mache. Genau die gleichen self made
men sind wir inmitten dieser Welt. Alles was wir sind, ein Ursprung,
ein Urdasein von Mann und Volk, sind wir als Resultat unserer selbst.
(Müller, 1995a: 93, Hervorhebung im Original)

Der Deutsche Übermensch ist somit der allmächtige Schöpfer der ästhetischen,
mystischen und vitalistischen Wirklichkeit, die die von der rein rationalistischen
Modernität verursachte Leere ersetzt. Das mechanische Denken der Technologie
weiß er produktiv mit mentaler Fähigkeiten spiritueller und mystischer Art, sowie
mit Einbildungskraft, Vision und Übertreibung zu synthetisieren, die vom
teuflischen Pakt Fausts symbolisiert werden. Und deswegen ist er sowohl Ingenieur
wie auch Dichter und ist zur Macht bestimmt. Das im Essay Macht theoretisch
exponierte politische Projekt ist somit identisch mit den in Tropen in erzählende
Praxis umgesetzten nationalistischen und imperialistischen Ideen, obwohl der
Roman als performative Materialisierung der Weltanschauung und Ästhetik, die
dem politischen Projekt zugrunde liegen, viel umfangreicher ist.

Tropen beweist erstens, wie mit ganz anderen Topoi als die des kanonisierten
Expressionismus eine besonders konsequente expressionistische Weltanschauung
sowohl ästhetisch und erzählerisch dargestellt, philosophisch exponiert und in eine
Denk-und Textpraxis umgesetzt werden kann. Es zeigt auch eine Auffassung des
umfangreichen literarischen Kunstwerks, d.h., des Romans, als kohärente und
einheitliche Ganzheit, die im kanonisierten Expressionismusbegriff, der eher das
„Impressionistische“ der verknappten und kürzeren Formen als Ausdruck einer
fragmentierten und dissoziierten Wahrnehmung betont, wenig Platz hat.

Zweitens: Die Aufhebung der Grenzen zwischen verschiedenen Gebieten des


Denkens und zwischen unterschiedlichen Diskursen, die den Roman in eine sehr oft
anscheinend unverständliche Nebulose des Wahnsinns verwandeln, ist das logische
Ergebnis und die konsequente performative Konkretisierung einer radikalen
epistemologischen Kritik, die unter anderem auf die Methoden der allzerstörenden
Genealogien Nietzsches zurückzuführen ist und viele seiner Philosophemen und
Symbolen benutzt.2 Das heißt, in Tropen ist die bis zum Extrem geführte Ratio am
Werk und nicht die Irrationalität, auch wenn dieser einen Platz in einer
epistemologischen Alternative zum modernen Verstand gebührt wird. In diesem
Sinne beweist Tropen auch ganz besonders wie epistemologische Kritik im
Expressionismus als Motivation und Erklärung wesentlicher ästhetischen
Innovationen einen entscheidenden Platz hat. Diese Innovationen können unter den
gemeinsamen Nenner eines gleichfalls radikalen Essayismus gebracht werden, der
das textuelle Gebilde und die erzählerischen Kategorien und Strukturen nach den
Prinzipien der mehrperspektivischen paradoxen Selbstreflexivität grundlegend
umformt.

Drittens: Die radikale epistemologische Kritik Müllers ist, wieder ganz im Sinne
Nietzsches, die nochmals ganz logische Voraussetzung seiner radikal subjektiven
und ästhetischen Weltanschauung, die wegen seiner Kohärenz mehr als viele andere,
die im Kanon des tradierten Expressionismus zu finden sind, das Adjektiv
„expressionistisch“ verdient. Die Verkündung sowohl einer tropischen Welt wie des
Ichs als Ursprung und Ende des Realen, als Synonym gleichzeitig des Besonderen,
des Ganzen, und der Dynamik der ästhetischen Figuration, der beide verbindet,
entspricht im Kern einem Verständnis der Welt als ein subjektiver ästhetischer
Ausdruck, als die Ex-pression, die die expressionistischen Bewegungen in
polemischer Ablehnung der umgekehrten Logik des Impressionismus behaupteten.
Dies bedeutet seinerseits, dass die Expressionisten, auch wenn sie sich gegen die
Impressionisten wendeten, zum Subjektivismus und Ästhetizismus der
Jahrhundertwende eine verstärkende, vielleicht sogar verabsolutierende, direkte
Verbindung herstellten. Die Zentralität der Ich-Frage als Hauptmotivation des
ästhetischen Denkens und Schaffens muss im diesem Sinne als Zeichen der tiefen
Einheit dieser zwei Perioden der ästhetischen Moderne verstanden werden.

Viertens: Die Politik darf nicht, wie in der expressionistischen Kritik üblich, vom
Expressionismus einfach getrennt werden oder höchstens einiger Aktivistischen

2
Über dieses Thema, das ich hier leider nicht ausführlicher betrachten kann, siehe Martins, 2010.
Zirkeln innerhalb der Bewegung zugewiesen werden. Robert Müller zeigt durch sein
ganzes Werk eine tiefe und konsequente Einheit zwischen einer expressionistischen
Weltanschauung und Poetologie und der Theorie und Praxis der Politik. Diese sind
auch zu seinem Verständnis des Ichs und der Mission des Dichters in der Moderne
in Beziehung zu setzten. Durch die Wichtigkeit des Politischen in Tropen und durch
die Einheit der Erzählungen und Essays Müllers in der Entwicklung und Darstellung
eines und desselben politischen Projekts – des eines deutschen „Imperialismus des
Geistes“ -, die ich in diesem Beitrag leider nur sehr unvollständig andeuten könnte, 3
kann man sehr deutlich feststellen, wie eine neue, gerechtere Einschätzung der Rolle
des Politischen im Expressionismus notwendig ist.

Bibliographischen Angaben:

ADORNO, THEODOR W., “Der Essay als Form”, in: Rohner, Ludwig (Hg),
Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten, München, dtv, 1972, p. 61-83.

ANZ, THOMAS, Literatur des Expressionismus, Stuttgart, Metzler, 2002.

MARTINS, CATARINA, Modernismo, Ensaísmo, Imperialismo. Robert Müller e ‘a


corrente amazónica da alma humana’, Coimbra, FLUC, 2007.

MARTINS, CATARINA, “Imperialismus des Geistes. Fiktionen der Totalität und


des Ichs in der österreichischen Moderne“, in Internetplattform Kakanien Revisited,
2009, http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/CMartins1.pdf v. 09.04.2009.

MARTINS, CATARINA, "Zarathustra in den Tropen. Der Text als Spirale der
Wiederholung in Nietzsche und Robert Müller", Revista de Estudos Alemães, 1
(2010), S. 111-126. http://real.fl.ul.pt/uploads/textos/325_MartinsZarathustra_9.pdf

MÜLLER, ROBERT, „Manhattan“, in R.M., Rassen, Städte, Physiognomien.


Kulturhistorische Aspekte, hgg. v. Stephanie Heckner, Paderborn: Igel, 1992, S.
137-188 (1 1923).

MÜLLER, ROBERT, Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen
Ingenieurs, hgg. v. Günter Helmes, Stuttgart: Reclam, 1993 (1 1915).

MÜLLER, ROBERT, Kritische Schriften II, hgg. v. Ernst Fischer, Paderborn: Igel,
1995.

3
Mehr über dieses Thema ist in Martins, 2007 und Martins, 2009 zu lesen.
MÜLLER, ROBERT, Gesammelte Essays, hgg.v. Michael Matthias Schardt,
Paderborn, Igel, 1995a.

VIETTA, SILVIO / HANS-GEORG KEMPER, Expressionismus, München, Fink,


1975.

Das könnte Ihnen auch gefallen