nutzlos?
LUCA-APP
DEEPMIND
die Medizin
Das Berliner
Zahlenchaos
Teuer, nervig,
IMPFKAMPAGNE
Google revolutioniert
Papa
alleine!
wenn die Mütter sie lassen
Was moderne Väter alles hinkriegen –
kann das schon
DEUTSCHLAND
Nr. 33 | 14.8.2021
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Beispielfoto eines Fahrzeuges der Baureihe. Die Ausstattungsmerkmale des abgebildeten Fahrzeuges sind nicht Bestandteil des Angebotes. 1 Ford Lease ist ein Angebot der ALD AutoLeasing
D GmbH, Nedderfeld 95, 22529 Hamburg, für Gewerbekunden (ausgeschlossen sind Großkunden mit Ford Rahmenabkommen sowie gewerbliche Sonderabnehmer wie z. B. Taxi, Fahrschulen,
Behörden). Das Ford Lease Full-Service-Paket ist optional für € 11,09 netto (€ 13,20 brutto) monatlich erhältlich und in der Ford Lease Full-Service-Rate berücksichtigt. Eingeschlossen sind
Wartungs- und Inspektionsarbeiten sowie anfallende Verschleißreparaturen in vereinbartem Umfang. Bei weiteren Fragen zu Details und Ausschlüssen zu allen Services wenden Sie sich bitte
an Ihren Ford Partner. Nur erhältlich im Rahmen eines Ford Lease-Vertrages. Ist der Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsschluss ein Widerrufsrecht. Z. B. Ford Galaxy Trend,
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S Fur alle Kinder,
die lieber
HAUSMITTEILUNG mitmischen als
Väter | Seiten 40, 46 zugucken wollen!
Werden die Deutschen gefragt, was ihnen
am wichtigsten sei, steht regelmäßig die
Familie weit oben auf ihrer Werteliste. Und
Lena Giovanazzi / DER SPIEGEL
genau dort ist einiges in Bewegung geraten.
Angetrieben vom Feminismus, haben viele
Männer bei der Familienarbeit inzwischen
aufgeholt und versuchen, als moderne Väter
eine größere Rolle im Alltag ihrer Kinder
zu spielen. Doch die progressiven Papas
stoßen dabei zuweilen auf unerwarteten
Widerstand: die Dominanz der Mütter, denen es nicht immer leichtfällt, bei der Sorge
um den Nachwuchs auch tatsächlich loszulassen. Ein SPIEGEL-Team um Redakteur
Markus Deggerich, bestehend aus zwei Müttern und zwei Vätern mit insgesamt zehn
Kindern, hat in Familien reingehorcht, sprach mit Mamas, Papas, Großeltern, Kindern,
Wissenschaftlerinnen, Pädagogen, Coaches und dem Berliner Väterlotsen Selcuk Saydam.
Der begleitet und berät als Pionier in diesem neuen Berufsfeld gezielt Väter und kommt
dabei zu der Erkenntnis: Wer wirklich neue Väter will, braucht auch neue Mütter.
Flutkatastrophe | Seite 34
DEUTSCHLAND
8 | Zu hohe Veteranenzahlen /
Flutschäden behindern Wahl /
Der gesunde Menschenverstand /
So gesehen: G wie gefährlich
16 | SPDSPIEGEL-Gespräch mit
Kanzlerkandidat Olaf Scholz
REPORTER
57 | Kolumne Leitkultur
4 DER SPIEGEL Nr. 33 / 14. 8. 2021 Titelillustration: Mona Eing und Michael Meissner für den SPIEGEL
62 | Mode Früher Dior, jetzt s.Oliver 94 | WM 2006 Das DFB-Geheimnis
um das Sommermärchen
66 | Neues Deutschland (V) Firmen
setzen auf den Kollegen Roboter
WISSEN
68 | Rohstoffe Heiß begehrte Kohle
98 | Irrweg Öko-Landbau? / Analyse
70 | Gerechtigkeit Die Sozialforscher
Carolin und Christoph Butterwegge im 100 | Biotechnologie Revolution
SPIEGEL-Gespräch über Kinderarmut durch künstliche Intelligenz
Marian Lenhard
Warum werden Pferde nach einem 120 | Musik Santiano, ahoi!
Bänderriss eingeschläfert?
123 | Sachbuchkritik Herfried Münk-
88 | Fußball SPIEGEL-Gespräch mit ler über Marx, Wagner und Nietzsche
Nationalspieler Thomas Müller
Paris, New York, Rottendorf
SPIEGEL-TV-Programm | 107 Bestseller | 117 Claus-Dietrich Lahrs soll die fränkische Modefirma s.Oliver
Impressum, Leserservice | 124
92 | Boxen Ist die Verbandsspitze Nachrufe | 125 Personalien | 126 zum Glänzen bringen. Ist der Mann, der globale Luxus-
sportfeindlich? Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 marken wie Louis Vuitton leitete, dafür der Richtige? | 62
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Übertriebene Veteranenzahlen
AFGHANISTAN Mehr als 150 000 Bundeswehrangehörige waren am Hindukusch, sagt Verteidigungsministerin
Annegret Kramp-Karrenbauer. Dabei war die Zahl viel niedriger.
* an Mitgliedstaaten der EU, 79 High-End-Intensiv- An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und
Drittstaaten und internationale
Organisationen Beatmungsgeräte, davon Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Bundesregierung die meisten für Spanien: 60
Bürgerinnen und Bürgern machen. Die Kommunen pla- nicht anbieten sollte, Mehr-
wegen der Verwüstungen keine nen zudem, in der Presse, in so- arbeit bei der Truppe wieder
Wahlbenachrichtigungen zuge- zialen Medien und auf Plakaten einfacher und unbürokrati-
stellt werden können. An eini- auf die Bundestagswahl auf- scher zu bezahlen«, sagt der
gen Orten sind auch Gebäude Aufräumarbeiten im Ahrtal merksam zu machen. NSP, JDA Abgeordnete. MGB
Die Klügeren wissen es längst, »3 G« die Rede ist, wenn es Und warum spricht heute
G wie aber langsam sollte es auch all darum geht, wer künftig trotz niemand mehr von »4 G«,
jenen dämmern, die sich bis- Corona Kinos und Restaurants obwohl die meisten Mobiltele-
gefährlich her kritiklos jeder Coronamaß- besuchen darf? Gemeint sind fone noch mit diesem Stan-
nahme unterworfen haben: Die damit Menschen, die entweder dard betrieben werden? Ganz
SO GESEHEN Die da oben wollen uns für dumm »geimpft oder genesen« (2 G) klar: »4 G« kann für nichts
geheimen Corona- verkaufen. Immer dreister dis- oder »geimpft, genesen oder anderes stehen als »geimpft,
kutieren sie in aller Öffentlich- getestet« (3 G) sind. genesen, getestet und gechipt«.
Codes der Mächtigen keit neue Ideen, das Volk zu Wer hier nicht den Zusam- Denken Sie einmal darüber
unterdrücken. Doch wer genau menhang mit dem Mobilfunk- nach.
hinhört, kann die geheimen standard »5 G« erkennt, hat Richtig gefährlich wird es
Corona-Codes der Mächtigen wohl immer noch kein Tele- aber, wenn die Mächtigen
entschlüsseln. Achten Sie auf gram auf seinem Smartphone um Drosten und Merkel und
den Buchstaben »G« – und installiert. Informierte wissen, Gates den Countdown herun-
seien Sie besonders wachsam, dass wir die verdammte Pan- tergezählt haben. Ihr hinter-
wenn er einer Zahl folgt! demie nur 5 G zu verdanken hältiges Ziel: Wir sollen alle
Ist es etwa nicht bemerkens- haben. Per Handymast sind »1 G« werden, also »gesund«.
wert, dass in letzter Zeit bei wir alle verstrahlt und krank Wie perfide ist das denn?
Politikern so oft von »2 G« und gemacht worden. Stefan Kuzmany
Politik im Ungefähren
PANDEMIE Daten entscheiden in der Coronakrise darüber, wie massiv das Leben der Deutschen eingeschränkt
wird. Doch jetzt zeigt sich: Viele Zahlen sind ungenau oder falsch. Und während sich offenbar
die vierte Infektionswelle aufbaut, streiten Bund und Länder darüber, auf welche Werte sie setzen wollen.
m sächsischen Landkreis Bautzen leben nisterpräsidenten und die Kanzlerin zwar ei- Und das, obwohl mindestens jeder Zweite be-
I scheinbar besonders viele Impfgegner.
Nur 39 Prozent der Einwohner waren
hier nach der offiziellen Statistik am Don-
nig und voller Tatendrang. Schließlich hatten
sie Maßnahmen beschlossen, die den Druck
auf Ungeimpfte deutlich erhöhen sollen: eine
reits durch eine Impfung geschützt ist. Das
deute klar auf die Aggressivität der Delta-
Variante hin, heißt es. Umso wichtiger wären
nerstag vollständig geschützt. Eine Zahl, die Testpflicht für Besuche in Restaurants, Fit- jetzt Maßnahmen, die einen neuerlichen Mas-
weit unter dem Bundesschnitt liegt und weit nessstudios, Kinos. Sie beschlossen auch, dass senausbruch verhindern. Dafür brauchte man
unter der Impfquote des benachbarten Land- Ungeimpfte diese Tests ab 11. Oktober selbst Zahlen, die das derzeitige Infektionsgesche-
kreises Görlitz. Da waren am selben Tag an- zahlen müssen, wenn die Impfung für sie hen und die Impfdichte authentisch abbilden.
geblich schon 55 Prozent der Bürgerinnen empfohlen wird. Schon im Frühjahr wussten Bund und Län-
und Bürger doppelt geimpft. Doch auf wichtige Fragen fanden sie keine der oft nicht, wie viele der besonders gefähr-
Der Landrat muss also ein großes Problem klaren gemeinsamen Antworten. Etwa: Wie deten alten Menschen schon geimpft waren
haben, könnte man annehmen, und der Land- sollen welche Werte künftig über schärfere oder wo gerade wie viele Impfdosen lagerten.
kreis Bautzen hätte dringend eine massive oder laschere Maßnahmen entscheiden? Die Diese Woche nun erklärte das Robert Koch-
Impfkampagne nötig. Allein: Die offiziellen Inzidenz etwa, die Krankenhauseinweisun- Institut (RKI), dass viel mehr Menschen in
Zahlen weichen von der Wirklichkeit ab. gen oder noch weitere? Deutschland geimpft sein könnten als offiziell
Schaut man genauer hin, stellt sich heraus, Die Debatte, ob Getestete auf Dauer die vermeldet. Das RKI macht regelmäßig Um-
dass für viele Menschen in der Bautzener gleichen Freiheiten genießen dürfen wie fragen und stellte dabei fest, dass bis Mitte
Region das Impfzentrum im benachbarten Geimpfte oder Genesene, führte die Runde Juli bereits 79 Prozent der 18- bis 59-jährigen
Görlitzer Landkreis einfacher zu erreichen nur kurz, auch dem wahlkämpfenden Kanz- Deutschen mindestens einmal geimpft gewe-
ist. Also ließen sich viele wohl dort impfen, lerkandidaten und nordrhein-westfälischen sen sein sollten. Offiziell waren es aber nur
wo sie auch in die kreisweite Impfquote ein- Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) 59 Prozent – auch nach RKI-Zahlen.
flossen. Und so entstand mit der Zeit ein zuliebe, der Ungeimpfte wohl nicht allzu sehr Nun sind Umfragen solcher Art naturge-
statistisches Zerrbild zweier Landkreise, in vergrätzen will. »Der entscheidenden Frage, mäß nicht sehr genau, die landesweit erho-
denen das Verhältnis zwischen Geimpften welche Infektionszahlen in den nächsten benen Impfdaten aber wohl auch nicht. Na-
und Ungeimpften anders ist als offiziell be- Wochen politisch vertretbar sind und welche heliegend sei, erklärte das RKI, dass die auf
hauptet. Wie anders, das weiß niemand. nicht, sind alle aus dem Weg gegangen«, sagt Grundlage der Umfrage berechneten Impf-
Das kleine Beispiel aus dem Osten der ein Teilnehmer. »Wir fahren erst mal auf Sicht quoten »eher eine Überschätzung darstellen«,
Republik deutet auf ein großes Defizit der weiter«, stellte der grüne Ministerpräsident während die offiziellen Impfzahlen die Impf-
Coronapolitik von Bund und Ländern hin: Winfried Kretschmann laut Teilnehmern quoten vermutlich unterschätzten. Die wirk-
Sie bewegt sich oftmals im Ungefähren. nach knapp vier Stunden fest, als sich die liche Quote »liegt voraussichtlich zwischen
Seit mehr als einem Jahr ist Deutschland Runde dem Ende zuneigte. Klarer hätte der diesen Werten«. Aber wo? Gute Frage.
ein zahlengetriebenes Land. Ansteckungs- politische Offenbarungseid im 19. Monat der Es ist erstaunlich, dass in einem Land, in
raten, Inzidenzen, Impfquoten sollen den Pandemie kaum klingen können. dem Statistiken bis auf die Stelle hinter dem
Puls der Pandemie messen und der Politik Dass dem Land eine neue Infektionswelle Komma aus fast allen Lebensbereichen erho-
den Weg weisen, was wann zu tun ist. Seit bevorsteht, bezweifelt kaum einer. Die Bun- ben werden, von der Anzahl der Haustiere
einem Jahr werden diese Werte veröffentlicht, desregierung ist alarmiert, weil die Inzidenz- bis zum Umsatz von Maultaschen im Kühl-
bewertet, kommentiert, sie liefern die Recht- zahl bereits dreimal so hoch ist wie zum regal, ausgerechnet in einer so entscheiden-
fertigung der Politik für Freiheitsbeschrän- gleichen Zeitpunkt im vergangenen Sommer. den Frage aufs Ungefähre verwiesen wird. In
kungen im Alltag der Deutschen – oder für der Bundesregierung heißt es, man wisse
Lockerungen dieser Maßnahmen. schon länger von der Unschärfe dieser Zahl,
Seit mehr als einem Jahr allerdings han- Zahlenchaos beim RKI was aber für die Beurteilung der Pandemie-
tiert die Politik oft mit Daten und Zahlen, die lage nicht entscheidend sei. Auch SPD-Ge-
im besten Fall ungenau, intransparent oder Erfassung der Impfquoten durch das RKI im sundheitsexperte Karl Lauterbach warnt da-
falsch verstanden, schlimmstenfalls aber un- Juni/Juli; mindestens einmal geimpfte vor, die Impfquote als Wert zu überhöhen.
18- bis 59-Jährige in Deutschland, in Prozent
vollständig oder schlicht falsch sind. Die Delta-Variante habe da einiges verändert.
Bekannt ist das schon lange, geändert hat RKI-Befragung Bisher habe die Regel gegolten, dass Her-
sich wenig. 79 denimmunität dann einsetzt, wenn 85 Pro-
Nicht nur bei den Daten gibt es Durch- zent der Gesamtbevölkerung geimpft seien,
RKI Digitales Impfquotenmonitoring*
einander, uneinig sind sich die Politikerinnen sagt Lauterbach. Die Pandemie könne dann
59
und Politiker auch, welche dieser Daten über- zu einem Ende kommen. Das gelte aber nur,
haupt entscheidend sind für die Pandemie- * enthält Daten von Impfzentren, Krankenhäusern, mobilen wenn der Impfstoff zu 100 Prozent wirke.
bekämpfung. Nach ihrer jüngsten Konferenz Impfteams, Betriebsmedizinern und niedergelassenen Ärzten Bei der Delta-Variante allerdings sinke der
S Quelle: RKI; Umfrage vom 28. Juni bis 13. Juli,
zeigten sich die Ministerpräsidentinnen, Mi- Impfschutz nach einigen Monaten. »Herden-
immunität ist realistischerweise nicht erreich- das chaotische Meldesystem verantwortlich. Von der KBV erhält das RKI deswegen nur
bar, an den Gedanken müssen wir uns gewöh- Impfzentren etwa übermitteln für jede Person einen Datensatz, in dem die Zahl der Geimpf-
nen«, sagt der Epidemiologe. Die Frage, wie detaillierte Angaben, unter anderem zu Alter, ten bereits aufsummiert wurde, grob in drei
schnell geimpft werde, bleibe aber relevant Geschlecht, verabreichtem Impfstoff und ob Altersgruppen. Details werden zwar erhoben,
dafür, wie vielen Menschen Komplikationen es sich um die Erst- oder Zweitimpfung han- aber nur quartalsweise weitergereicht. Für
bei der Erkrankung erspart bleiben können. delt. Über ein Onlinetool speichern sie die Analysen zum Impfstatus der Deutschen in ei-
Aber: Es ist die Bundesregierung, die das Daten pseudonymisiert in einer Datenbank. ner dynamischen Pandemie ist das viel zu spät.
Ziel von 85 Prozent Impfquote predigt – und Das RKI holt sie dort ab und bereitet sie auf. Innerhalb der Bundesregierung erinnert
mit der vor sich hin dümpelnden Realquote zu- Die Kassenärzte hingegen nutzen ein ei- man daran, dass es der ausdrückliche Wunsch
nehmenden Druck auf die Ungeimpften recht- genes Instrument der Kassenärztlichen Bun- der Ärzte war, möglichst unbürokratisch imp-
fertigt. »Wir sind im europäischen Vergleich desvereinigung (KBV). Ursprünglich sollten fen zu können. Der Preis seien nun teilweise
nicht mehr Spitze«, mahnte Bundeskanzlerin auch die Praxen tagesaktuell umfangreiche rudimentäre Daten und statistische Abwei-
Angela Merkel auf der Pressekonferenz am Impfdaten melden, etwa das genaue Alter chungen. Die KBV weist das zurück. »Die
Dienstag und verwies auf die »55,1 Prozent« oder die Postleitzahl. niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mel-
an Doppelgeimpften. Wie glaubwürdig sind die Die dafür vom RKI bereitgestellte Soft- den korrekt. Die im RKI-Bericht benannten
Appelle der Regierungschefin, wenn man weiß, ware wurde von einem Ärztefunktionär aber Abweichungen sehen wir nicht durch die Pra-
dass ihre Zahlen nicht stimmen? schnell als »Impfhindernis« verteufelt, die xen ausgelöst.« Lukas Fuhrmann, Sprecher
Die bisweilen miserable Datenlage ent- Praxen verwiesen auf den hohen bürokrati- der Bremer Gesundheitsbehörde, ist sich da
steht vor allem durch mangelhafte Organisa- schen Aufwand, schließlich einigte man sich nicht sicher: »Die Impfungen sind ein großer
tion. Eineinhalb Jahre nach Beginn der Co- auf die reduzierte Meldepflicht. organisatorischer Aufwand für die Arztpra-
ronakrise werden viele Daten noch immer xen. Die Meldung der Daten ist der letzte
zerstückelt und eingeschränkt eingesammelt. Schritt am Abend, da kann man nicht aus-
Manche erreichen zentrale Stellen wie das schließen, dass mal einige Impfungen durch
RKI über digitale Systeme der Länder, andere die Lappen gehen.«
über die Krankenkassen, manches wird per
»Da kann man nicht Statistische Probleme macht insbesondere
Excel-Datei verschickt, hier und da mit Stift, ausschließen, dass mal der Impfstoff von Johnson & Johnson. Er ent-
Papier und Faxgerät nachgebessert. faltet seine vollständige Schutzwirkung schon
Für die Diskrepanz zwischen abgefragter
einige Impfungen nach einer Dosis, wird also auch nur einmal
und offizieller Impfquote ist daher teilweise durch die Lappen gehen.« verabreicht. In den KBV-Datenpaketen er-
scheinen diese Impfungen daher nur als Die Politik streitet nicht nur über falsche
Zweitdosis. Der Anteil der mindestens einmal Nichts gelernt? Daten, sondern auch darüber, welche dieser
Geimpften in den Altersgruppen berücksich- Daten überhaupt noch relevant für die Pan-
tigt dagegen nur Impfungen mit den Vakzi- Neu gemeldete Sars-CoV-2-Fälle in sieben Tagen demiebekämpfung sind. Soll der Inzidenz-
je 100.000 Einwohner in Deutschland (Inzidenz)
nen von Biontech, Moderna und AstraZene- wert weiterhin die entscheidende Zahl blei-
ca. Die Folge: Die Quote der Erstgeimpften 2020 2021 ben? Oder muss die Bewertung der Infek-
wird systematisch unterschätzt, um etwa drei tionslage angesichts vieler Geimpfter nicht
Prozentpunkte. 150 ganz anders aufgestellt werden?
Die Fehler in den Statistiken dürften er- Gesundheitsminister Jens Spahn hatte das
12. Aug. 2021: 27,6
heblich zugenommen haben, als im Juni auch 100 12. Aug. 2020: 7,0 RKI bereits vor Wochen gebeten, gemeinsam
die Betriebsärzte in die nationale Impfkam- mit den Ländern ein Papier zu erarbeiten.
pagne mit einbezogen wurden. Sie sollten Auf sechs Seiten hatten die Experten Ende
50
die Impfungen über dasselbe Onlinetool mel- Juli drei Warnstufen von Gelb bis Knallrot
den wie die Impfzentren, nutzen zum Teil (»diffuses Geschehen, Ausbrüche in zahlrei-
aber auch den Meldeweg von Arztpraxen. 0 chen Settings oder flächenhaft«) vorgeschla-
Das RKI schreibt nun aber, dass tatsächlich 1. Jan. 1. Apr. 1. Aug. 1. Dez. gen. Als »Seismograf« soll dabei weiterhin
bislang nur etwa die Hälfte der registrierten die Sieben-Tage-Inzidenz dienen. Allerdings
Betriebsärzte Impfungen über diese Online- Bestätigte Coronatote in Deutschland, sollten zwei weitere Werte relevant werden:
Sieben-Tage-Durchschnitt
anwendung meldet. Gehe man davon aus, Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und
dass alle an die Betriebsärzte ausgelieferten 2020 2021 die Zahl der Covid-Erkrankten unter den In-
Dosen verabreicht wurden, würde sich die tensivfällen.
Impfquote der Erstgeimpften unter den 18- 800
Doch in der Runde der Länderchefs mit
bis 59-Jährigen um weitere vier Prozent- der Kanzlerin gab es Streit über den richtigen
punkte erhöhen. 600 Weg. Auch Manuela Schwesig, Mecklenburg-
Die Regierung müht sich nun, das Problem 12. Aug. 2021: 15 Vorpommerns Ministerpräsidentin, warb für
so klein wie möglich zu reden. Das digitale 400 12. Aug. 2020: 6 neue Kriterien und ein bundesweites Ampel-
Impfquotenmonitoring sei »zuverlässig«, system, sie sagt: »Die Bürger akzeptieren
heißt es im Bundesgesundheitsministerium 200 nicht mehr, dass es nur noch nach der Inzi-
(BMG). Eventuell müssten die Zahlen »leicht denz gehen soll.« Aber Schwesig scheiterte
höher« angesetzt werden. Wie hoch? Da ver- 0 vor allem am Widerstand der Kanzlerin.
weist das BMG aufs RKI. 1. Jan. 1. Apr. 1. Aug. 1. Dez. Der Inzidenzwert sei nach wie vor die bes-
Sicher ist nur, dass das Ressort über An- te Zahl, um die Entwicklung der Pandemie
S Quelle: RKI, Stand: 12. August, Berichtsdatum;
passungen nachdenkt. Vor allem bei den Be- zu beobachten, heißt es aus Merkels Umfeld.
eigene Berechnung
triebsärzten will es nachsteuern. Das RKI wie- Die Grenzwerte 35 und 50 seien nach wie
derum will seine Umfragemethode über- welche sozioökonomischen Faktoren die vor relevant, um die Kontaktnachverfolgung
arbeiten. Im frühen Herbst sollen etwa Impfquote und die Impfbereitschaft be- der Gesundheitsämter zu gewährleisten. Zu-
3000 Menschen zu ihrer Impfbereitschaft einflussen. Über das Digitale Impfquoten- gleich müsse man die Zahl der Krankenhaus-
und Akzeptanz befragt werden. Künftig soll monitoring würden »keine sozioökonomi- einweisungen beobachten, um eine Überlas-
es die telefonische Befragung auch in den schen Faktoren an das Robert Koch-Institut tung des Gesundheitswesens zu verhindern.
»häufigsten Fremdsprachen« geben, etwa Tür- übermittelt«, lautete die Antwort des Bun- Selbst aus der Linken kommt dafür Zu-
kisch oder Arabisch. desgesundheitsministeriums. Das RKI würde stimmung: »Bei aller berechtigter Kritik sind
Die möglicherweise ungenauen Daten bei aber eine Umfrage durchführen. »Ich weiß der Inzidenz- und der R-Wert weiterhin die
der Impfquote seien nur eine der Schwierig- sogar, in welcher Straße FDP-Wählerinnen sinnvolleren Indikatoren für das Infektions-
keiten, sagt dagegen Janosch Dahmen, Arzt und Wähler wohnen, aber die Bundesregie- geschehen«, sagt die Parteivorsitzende Janine
und gesundheitspolitischer Sprecher der Bun- rung kann nicht genau sagen, wer und wie Wissler. »Wer die ›Hospitalisierung‹ zum
destagsfraktion der Grünen. »Wir haben seit viele Menschen bereits gegen Corona geimpft Maßstab macht, ignoriert das Leid derer, die
eineinhalb Jahren an vielen Stellen Probleme sind?«, beklagt sich der Liberale. »Es kann keinen schweren Verlauf haben, aber unter
mit systematischen, nationalen Daten und doch nicht sein, dass die Digitalisierung noch Langzeitfolgen leiden.«
Kennzahlen, anhand derer wir über das Vor- immer sträflich vernachlässigt wird.« In Mecklenburg-Vorpommern hat Schwe-
gehen in der Pandemie entscheiden.« Sollte die Impfquote tatsächlich höher sein sig allerdings längst ein Corona-Ampelsystem
So würde bisher bei PCR-Tests nicht ver- als bislang angenommen, könnten viele Frei- mit weiteren Parametern wie den Corona-
pflichtend abgefragt, ob die Betroffenen ge- heitseinschränkungen wieder zurückgenom- fällen im Krankenhaus installiert. Dadurch
nesen oder geimpft sind. »Dadurch ist es sehr men werden, fordert Ullmann. Das Beispiel kann etwa die Testpflicht für Innenräume wie
schwierig zu erfassen, wie hoch die Durch- Großbritannien zeige, dass die Delta-Variante Restaurants und Schwimmbäder, die laut Be-
bruchquote bei Geimpften tatsächlich ist. Wir die Krankenhäuser weniger belaste als be- schluss der Ministerpräsidentenkonferenz bei
wissen also bisher auch nur sehr ungenau, fürchtet. »Die Menschen dort tragen weiter einer Inzidenz von 35 greift, in Mecklenburg-
wer überhaupt Booster-Impfungen braucht freiwillig Masken. Man kann also auf die Ver- Vorpommern unter Umständen erst bei einer
und wann«, sagt Dahmen. nunft und Eigenverantwortung der Bevölke- Inzidenz von 50 gelten.
Die Regierung weiß auch so gut wie nichts rung zählen«, sagt der FDP-Politiker. Es droht für den Corona-Herbst also mal
darüber, wie viele noch ungeimpfte Men- wieder, was die Deutschen seit Beginn der
schen sich eventuell von einer Impfung noch Pandemie begleitet: ein Flickenteppich und
überzeugen lassen könnten, wie viele wirk- ein Regelchaos – in dem im Zweifel nicht mal
lich harte Gegner sind – und wie viele sich die Zahlen stimmen.
etwa wegen Vorerkrankungen oder Schwan-
»Die Bürger akzeptieren
gerschaft gar nicht impfen können. nicht mehr, dass es nur Holger Dambeck, Sophie Garbe,
Florian Gathmann, Annette Großbongardt,
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Andrew
Ullmann, Professor für Infektiologie in Würz-
noch nach der Inzidenz Claus Hecking, Martin Knobbe, Timo Lehmann,
Marcel Pauly, Cornelia Schmergal,
burg, wollte von der Bundesregierung wissen, gehen soll.« Christoph Schult, Thomas Schulz ■
pen ähnlich aus. Beamtinnen leben alter keine pauschale Lösung für alle
im Schnitt drei Jahre länger als Ar- geben kann.
beiterinnen. »Die Ungleichheit in der Bereits heute ist festgelegt, dass
Lebenserwartung ist groß«, schreiben diese Marke bis 2030 auf 67 Jahre
die DIW-Forscher. steigen wird. Umstritten ist, ob das
tere Jahre hoffen, bei Arbeitern sind kasse einzahlen zu lassen, erheben vor
es lediglich 15,9. Die Differenz zu den allem Grüne, SPD und Linkspartei.
Staatsdienern: mehr als fünf Jahre Mit höheren Renten für die Erwerbs-
Lebenszeit. geminderten können sich dagegen so
Bei den Frauen fallen die Unter- gut wie alle Parteien anfreunden.
schiede zwischen diesen Berufsgrup- Cornelia Schmergal ■
SPIEGEL: Herr Scholz, die Entschuldigung stehen Sie noch ganz anders im Blickpunkt als hundert Jahren anschieben. Die Union ist
beim Wähler – das scheint in diesem Wahl- der Öffentlichkeit. da ein Totalausfall. Um es klar zu sagen: Eine
kampf das große Thema zu sein. Annalena SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass der weitere Regierung unter Führung von CDU
Baerbock hat sich schon mehrfach entschul- Wahlkampf bisher vor allem von Nebensäch- und CSU würde Deutschland Wohlstand und
digt, Armin Laschet musste sich entschuldi- lichkeiten dominiert wird? Die großen Fragen Arbeitsplätze kosten.
gen, wann sind Sie an der Reihe? wie Klimawandel, Rente oder soziale Gerech- SPIEGEL: Das klingt so, als hätten die Sozial-
Scholz: Wofür sollte ich das Ihrer Meinung tigkeit scheinen kaum eine Rolle zu spielen. demokraten in den vergangenen vier Jahren
nach tun? Scholz: Ist das wirklich so? Ich nehme für nicht zusammen mit der Union regiert.
SPIEGEL: Sie könnten sich zum Beispiel für mich in Anspruch, dass ich die wichtigen Din- Scholz: Den Ausbau der erneuerbaren Ener-
den Spot Ihrer Partei entschuldigen, in dem ge, die die Zukunft unseres Landes betreffen, gien, den Ausstieg aus der Nutzung von Atom
der nordrhein-westfälische Staatskanzleichef schon seit mehr als einem Jahr immer wieder und Kohle und das Klimaschutzgesetz hat die
Nathanael Liminski als »erzkatholischer La- anspreche. SPD vorangetrieben. Leider haben sich CDU
schet-Vertrauter« bezeichnet und insinuiert SPIEGEL: Zum Beispiel? und CSU beharrlich geweigert, die Ausbau-
wird, dass für die Laschet-CDU Sex vor der Scholz: Die Frage, wie wir das Miteinander ziele für die Stromerzeugung anzuheben. Sie
Ehe tabu sei. in der Gesellschaft verbessern können. Ich haben sogar behauptet, wir brauchten gar kei-
Scholz: Für mich gelten klare Grundsätze: spreche über Respekt und darüber, dass wir ne höheren Ausbauziele. In der Sommerpause
Wir treten für eine liberale und offene Ge- eine Gesellschaft brauchen, in der wir einan- hat der zuständige Minister dann plötzlich
sellschaft ein. Jeder und jede muss in diesem der auf Augenhöhe begegnen. Wir müssen eingestanden, dass seine bisherige Planung
Land nach seinen Vorstellungen leben kön- für bessere Löhne sorgen, für die Lebensmit- vorne und hinten nicht hinhaut. Allein die
nen. Zu unserem Land gehören natürlich telverkäuferin, den Paketboten, die Alten- Chemieindustrie braucht um das Jahr 2050
auch die christlichen Werte, an denen sich pflegerin und den Krankenpfleger. Das alles herum so viel Strom, wie Deutschland insge-
viele orientieren, ich auch. Der Spot wird ist wichtig, auch wenn wir den Populismus samt heute nutzt, weil wichtige Prozesse auf
nicht mehr genutzt. zurückdrängen wollen. Aber das ist längst Strom umgestellt werden müssen. Und schon
SPIEGEL: Haben Sie das Video vorher noch nicht alles. 2030 brauchen wir viel mehr Strom als bis-
gesehen? SPIEGEL: Damit hatten wir auch nicht lang unterstellt. Jahrelang ist aber die Pla-
Scholz: Der Spot ist im Willy-Brandt-Haus gerechnet. nung neuer Windkraft- und Solaranlagen ver-
entwickelt und einmal gezeigt worden. Scholz: Es geht um die Antwort auf die Frage, zögert worden, weil es hieß, man brauche sie
SPIEGEL: Bei der Präsentation Ihrer Wahl- wie wir unsere wirtschaftliche Zukunft in den nicht. Ein Offenbarungseid, wenn Sie mich
kampagne. Haben Sie ihn abgesegnet? nächsten drei Jahrzehnten sichern. Seit 250 fragen.
Scholz: Wenn ich für solche Freigaben die Jahren basiert unser Wohlstand auf der Nut- SPIEGEL: Und doch spielen diese Themen in
Zeit hätte, würde ich etwas falsch machen. zung von Kohle, Öl und Gas. Nun wollen wir der öffentlichen Auseinandersetzung kaum
Das macht unser Kampagnenmanager, und in nicht mal 25 Jahren komplett klimaneutral eine Rolle. Warum?
er macht das sehr gut. wirtschaften. Schon im ersten Jahr der nächs- Scholz: Ich setze darauf, dass diese Themen
SPIEGEL: Ist es fair, dass die Fehler Ihrer Wett- ten Regierung müssen wir das größte Moder- in der heißen Phase des Wahlkampfs relevant
bewerber Baerbock und Laschet im Wahl- nisierungsprojekt unserer Industrie seit mehr werden. Die wachsenden Zustimmungswerte
kampf eine so große Rolle spielen? zu mir als Person und auch zu meiner Partei
Scholz: Die Frage könnte ich Ihnen zurück- zeigen doch, dass die Bürgerinnen und Bür-
geben. Ich jedenfalls fand manches ein we- Mann im Mittelfeld ger sehen, dass wir klare Vorstellungen für
nig übertrieben, was da öffentlich diskutiert die Zukunft unseres Landes haben.
wurde. Zufriedenheit mit der politischen Arbeit der SPIEGEL: Es stimmt, dass Sie als Kandidat
SPD-Spitzenkandidaten vor den Wahlen
SPIEGEL: Aber? im Vergleich zu Ihren Wettbewerbern in den
Scholz: Da hilft kein Lamentieren. Wer die Schröder, 1998 50 Umfragen vorne liegen. Aber auf die SPD
nächste Bundesregierung führen und die Ver- scheint Ihre Beliebtheit nicht so richtig abzu-
antwortung für das größte Land der Europäi- Schröder, 2002 65 färben.
schen Union übernehmen will, wird auf Herz Schröder, 2005 49 Scholz: Ich bin nicht sicher, ob Ihre Beobach-
und Nieren geprüft, ob er oder sie das Zeug tung stimmt. Schauen Sie ruhig mal auf die
dazu hat. Von den Bürgerinnen und Bürgern, Steinmeier, 2009 71 aktuellen Umfragen. Viele Bürgerinnen und
aber natürlich auch von den Medien. Das ist Steinbrück, 2013 44 Bürger können sich offenbar vorstellen, dass
auch richtig so, denn der Druck im Wahl- ich die nächste Regierung führe. Dieses Ver-
kampf ist doch nur ein Vorspiel zu den He- Schulz, 2017 46 trauen berührt mich sehr, das gebe ich gerne
rausforderungen, denen man im Amt begeg- Scholz, 2021
zu. Wer Scholz will, wählt SPD. Wir spüren
48
net. Da hat man es dann plötzlich mit Flut- ein Momentum, und da geht noch mehr.
katastrophen oder einer Pandemie zu tun, S Quelle: Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend;
2. bis 4. August, 1312 Befragte, frühere Jahre jeweils letzte
SPIEGEL: Ihr Optimismus in allen Ehren – in
die in keinem Wahlprogramm standen. Dann Erhebung vor der Bundestagswahl Wahrheit liegt die SPD selbst nach leichten
gehören zusammen. Die Zusammen- »Offenbar oder die Journalisten in der Haupt- maikakoalition mit Union und Grü-
arbeit mit den Vorsitzenden, dem stadt. Es ist gefährlich, wenn der nen festgelegt. Und er verteilt auch
Fraktionschef und dem Generalsekre- ist es Mode Eindruck entsteht, es handle sich hier schon die Ressorts.
tär ist topp. Selbst wer mich seiner- geworden, im um ein Spiel. Und weil Sie die FDP Scholz: Schön, dass Sie es anspre-
zeit nicht unterstützte, ist sich jetzt ansprechen: Deren Entscheidung ge- chen. Das wollte ich nämlich mal los-
sicher, dass ich der richtige Kanzler
Tagesrhyth- gen Jamaika 2017 war ja nicht nur ein werden: Offenbar ist es Mode gewor-
wäre. Das haben die einstimmigen mus neue Problem der FDP und ihres Vorsit- den, im Tagesrhythmus neue Minis-
Entscheidungen über den Vorschlag Ministerien zenden. terien zu erfinden, statt zu sagen, wo-
der Parteichefs in den Gremien und SPIEGEL: Sondern? rum es inhaltlich eigentlich gehen soll.
das nahezu einstimmige Votum des zu erfinden.« Scholz: Nach meinem Eindruck ha- Und dann gibt es auch schon die Ers-
Parteitags gezeigt. ben Union und Grüne damals zu ten, die sagen, welche Jobs sie dann
SPIEGEL: Saskia Esken und Norbert zweit verhandelt und gedacht, die haben wollen.
Walter-Borjans haben damals die Mit- FDP brauche nur noch zu unterschrei- SPIEGEL: Lindner zum Beispiel will
gliederbefragung gegen Sie gewon- ben. Das war nicht klug und kein Aus- Sie als Finanzminister beerben.
nen. Wie ist Ihr Verhältnis zu den bei- weis besonderer Regierungskunst. Scholz: Und ich will den Job von
den Parteivorsitzenden? SPIEGEL: Wo sehen Sie eine Schnitt- Frau Merkel. Passt also. Aber mal im
Scholz: Eng und vertrauensvoll. Wir menge mit der FDP? Ernst – ich finde, da sollte manch ei-
sprechen uns sehr intensiv ab. Die Scholz: Es gibt eine lange soziallibe- ner mehr Demut zeigen. Die Bürge-
SPD hat auch in schwierigen Zeiten rale Tradition in Deutschland. Meine rinnen und Bürger entscheiden am
gezeigt, dass das geht. Denken Sie an Jugend war geprägt von der Kanzler- 26. September.
die legendäre Zusammenarbeit von schaft Brandts und Schmidts von SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis zu
Willy Brandt, Herbert Wehner und 1969 bis 1982. Beide haben mit der Christian Lindner?
Helmut Schmidt. Die waren sich nun FDP regiert, und diese Zeit hat dem Scholz: Gut. Wir brauchten als
wirklich nicht immer einig, wussten Land gutgetan. Als Regierungschef Regierungskoalition mit einer knap-
aber immer, was ihre Aufgabe ist. müssen Sie politische Kompromisse pen Mehrheit häufig die Zustim-
SPIEGEL: Saskia Esken hat angekün- organisieren, die plausibel, erklärbar mung der Oppositionsparteien,
digt, im Dezember erneut für den und gut für unser Land sind. wenn wir die Verfassung ändern
Parteivorsitz zu kandidieren. Hat Sie SPIEGEL: Fragt sich, wie Sie zum Bei- wollten. Ich habe mehrere solcher
Ihre Unterstützung? spiel beim Thema Steuern einen Änderungen mit Grünen, Linken
Scholz: Absolut. Die Zusammen- Kompromiss mit den Liberalen hin- und der FDP, also auch mit ihm, be-
arbeit ist sehr gut. bekommen könnten. Sie wollen Steu- sprochen. Und das zeigt: Es kommt
SPIEGEL: Ist Frau Esken ministrabel? ern für Großverdiener erhöhen, die immer auf den politischen Gestal-
Scholz: In der SPD sind viele minis- FDP will Steuern grundsätzlich sen- tungswillen an.
trabel, die Führungsaufgaben in der ken. Wie soll das gehen? SPIEGEL: Zu den Grünen ist die alte
Fraktion oder der Partei wahrneh- Scholz: Zerbrechen Sie sich mal Liebe abgekühlt. Annalena Baer-
men, die Vorsitzenden selbstver- nicht meinen Kopf. Wir stehen längst bock und Robert Habeck setzen
ständlich auch. noch nicht in Koalitionsverhandlun- eher auf ein Bündnis mit der Union.
SPIEGEL: Welche Voraussetzungen gen. Aber die Position der SPD ist Aber für eine Dreierkoalition wären
müssen da sein, damit Sie Kanzler klar. Ende 2022 wird der deutsche Sie zwingend auf die Grünen ange-
werden können? Staat wohl mehr als 400 Milliarden wiesen.
Scholz: Ein starkes Votum für die Euro zusätzliche Kredite aufgenom- Scholz: Das sehe ich ganz entspannt.
SPD. Und natürlich eine Koalition. men haben. Die müssen in den nächs- Zum 30. Jubiläum der Grünen habe
Das wird aller Voraussicht nach ein ten 20 Jahren zurückgezahlt werden. ich seinerzeit eine Rede gehalten und
Dreierbündnis sein. Da wäre es unverantwortlich, die zu dieser Frage etwas gesagt, was ich
SPIEGEL: Der Auftrag für eine Regie- Steuern für Leute zu senken, die so hier gerne wiederhole: »Die Grünen
rungsbildung würde zuerst an die viel verdienen wie ich oder sogar sind nicht Fleisch vom Fleische der
stärkste Partei gehen. Und das dürfte noch mehr. Es wäre auch nicht finan- SPD. Und wenn wir mit schlechtem
kaum die SPD sein. zierbar. Gewissen mit der Union koalieren
Scholz: Lassen Sie doch erst einmal Scholz, SPIEGEL- SPIEGEL: FDP-Chef Christian Lind- können, können die Grünen das
die Wählerinnen und Wähler ent- Redakteure* ner hat sich weitgehend auf eine Ja- auch.« Ich glaube, diese Sätze waren
scheiden. Selbst auf Platz zwei kann wichtig und sind dort auch gut ange-
man Kanzler werden. Das hat es in kommen.
der Geschichte der Bundesrepublik SPIEGEL: Das klingt so, als rechneten
schon häufiger gegeben. Sie selbst mit Schwarz-Grün.
SPIEGEL: Um Kanzler zu werden, Scholz: Keineswegs. Im Gegenteil,
brauchen Sie vermutlich die FDP. Wa- ich habe mich immer für Rot-Grün
rum sollten die Liberalen mit Ihnen eingesetzt. In Hamburg habe ich mit
koalieren? den Grünen regiert, auf Bundes -
Scholz: Solche Spekulationen vor ebene war ich Generalsekretär zu
einer Wahl irritieren die meisten Bür- Zeiten von Rot-Grün. Die Grünen
gerinnen und Bürger. Weil sie das Ge- sind eine eigenständige Partei mit
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
der die Macht an sich reißen und ein lige EU-Angestellte heute »noch im-
Kalifat errichten, fließe »kein Cent mer nach einem sicheren Ort für sich
mehr nach Afghanistan«. und ihre Familien suchen«, heißt es
Der rasante Eroberungszug der in einem Schreiben der früheren
Taliban erhöht nun auch den Druck Eupol-Personalchefin Andrea Thies.
auf die Bundesregierung, Hunderte »Die EU-Mitgliedstaaten dürfen
Ortskräfte der Bundeswehr und ihre ihre afghanischen Helfer nicht wegen
Familien sicher nach Deutschland zu Zuständigkeitsfragen im Stich las-
bringen. »Wir haben nur noch ein sen«, sagt der grüne Europaabgeord-
kleines Zeitfenster, um die Menschen nete Sven Giegold. Und es scheint,
aus der lebensgefährlichen Situation dass sich diese Einschätzung allmäh-
zu holen«, sagt die Linken-Flücht- lich auch in Brüssel durchsetzt. Ver-
lingsexpertin Clara Bünger. gangene Woche suchten die zustän-
Dass dabei ausschließlich festan- digen Stellen hektisch nach einer Lö-
gestellte Mitarbeiter der Bundeswehr sung, und Leute aus dem Umfeld des
aufgenommen werden sollen und EU-Außenbeauftragten Josep Borrell
nicht Menschen wie Kabir Popal, fin- gaben sich zuversichtlich, dass eine
den nicht nur Oppositionspolitiker gefunden werde.
schäbig. »Für die Taliban sind das Ob sie allerdings rechtzeitig
alles Kollaborateure und Verräter«, kommt, bevor die Taliban den Men-
sagt der niedersächsische Innenmi- schen nach dem Leben trachten, ist
nister Boris Pistorius (SPD). Er for- eine offene Frage.
dert, dass die Bundesregierung nun Während die Rettung der afghani-
»schnell und unbürokratisch« handelt schen Helfer teilweise nur schleppend
und Chartermaschinen nach Afgha- vorangeht, machen sich manche Poli-
nistan schickt, um die Ortskräfte aus- tiker in Berlin bereits Sorgen, dass
Peter Rigaud
zufliegen – auch Subunternehmer aus Afghanistan eine neue Flücht-
und ihre Angestellten. lingswelle nach Europa schwappen
»Es war uns eigentlich seit Jahren könnte. Bisher spüren vor allem die
klar, dass es so kommen wird«, sagt Innenminister gewesen sein, mit welcher Vehemenz Nachbarländer Afghanistans die Aus-
Thorsten L., ein Hauptmann der Luft- Seehofer: »Ein der Kanzlerkandidat und CDU-Chef wirkungen. Doch ob das noch lange
Flüchtlingsstrom,
waffe. »Umso mehr haben wir jetzt der uns großen Armin Laschet am Montag im Präsi- so bleibt?
die Verpflichtung, den Leuten, die für Kummer macht« dium seiner Partei beim Thema Orts- Bundesinnenminister Horst See-
uns gearbeitet haben, zu helfen.« kräfte auftrat. hofer (CSU) wollte daher abgelehnte
Der Soldat hat die Sache deshalb Man dürfe diese Menschen jetzt Asylbewerber, vor allem Straftäter,
selbst in die Hand genommen. An ei- nicht im Stich lassen, empörte sich weiter nach Afghanistan abschieben,
nem Samstagnachmittag steht er am Laschet laut Teilnehmern der digita- auch als Zeichen der Abschreckung.
Frankfurter Flughafen und nimmt len Runde – sonst würde künftig nie- Am Mittwoch aber musste er einse-
Hanif S. und seine Familie in Emp- mand mehr deutschen Soldaten im hen, dass seine strenge Linie nicht
fang. Der Afghane hatte für Thorsten Ausland helfen. mehr zu halten ist. Er verfügte kur-
L. als Vorarbeiter in einem Bautrupp Laschet wandte sich an Helge zerhand einen Abschiebestopp – der
der Bundeswehr gearbeitet und des- Braun, den zugeschalteten Kanzler- allerdings nur vorläufig gelten soll.
halb ein Visum für Deutschland be- amtschef. »Warum läuft das nicht?«, Man müsse mit den Afghanen weiter
kommen. fragte er seinen dem Vernehmen nach über das Thema Abschiebungen re-
Um die Reise musste er sich aller-
dings selbst kümmern, Hauptmann
L. hat ihm und weiteren Familien da-
360 verdutzten Parteifreund – und verlang-
te sinngemäß: Bitte kümmert euch.
Braun, so wird berichtet, nickte.
den, sagt Seehofer: »Andernfalls wer-
den wir mit einem Flüchtlingsstrom
zu tun haben, der uns noch großen
bei geholfen. Die 800 Euro für einen Auch die Europäische Union hatte Kummer macht.«
angemieteten Kleinbus, Hotels und ehemalige während des westlichen Engage- CDU-Fraktionsvize Thorsten Frei
Bahntickets hat der Soldat erst mal Ortskräfte mit ments viele Afghanen angestellt, an warnt davor, dieselben Fehler wie im
aus der eigenen Tasche bezahlt. 1458 Familien- ihrer Botschaft in Kabul, vor allem Fall Syriens zu machen. »2014 waren
Was den Schutz der Ortskräfte an- aber bei der europäischen Polizeimis- die Flüchtlingscamps in der Region
belangt, agieren selbst die USA in- angehörigen sion Eupol, die den Aufbau der af- dramatisch unterfinanziert, weshalb
zwischen großzügiger als Deutsch- sind bisher in ghanischen Sicherheitskräfte viele sich Hunderttausende auf den Weg
land: Sie haben auch afghanischen Deutschland Jahre unterstützte. Als das Projekt nach Europa machten«, sagt Frei.
Mitarbeitern von amerikanischen vor fünf Jahren endete, wandten sich »Sollten die Taliban die Kontrolle
Hilfsorganisationen und US-Medien eingetroffen. die Verantwortlichen an ihre Vorge- über das Land gewinnen, müssen wir
Visa in Aussicht gestellt. »Die Bun- Insgesamt ha- setzten in Brüssel, um ihre gut 120 alles dafür tun, dass die Nachbarlän-
desregierung hat offensichtlich nicht ben 1300 Orts- Ortskräfte im Fall des Falles vor den der und die internationalen Hilfs-
verstanden, dass durch so einen Aus- Taliban in Sicherheit zu bringen – mit organisationen in die Lage versetzt
landseinsatz auch Verantwortung ent- kräfte seit mäßigem Erfolg. werden, sich um die afghanischen
steht«, kritisiert die flüchtlingspoliti- 2013 in Afgha- Die Kommission befand, das Aus- Flüchtlinge zu kümmern.«
sche Sprecherin der Grünen, Luise nistan für die stellen von Visa sei Sache der Mit- Die Lage in Afghanistan sei »ver-
Amtsberg. gliedstaaten. Die wiederum erklärten heerend«, sagt der CDU-Außenpoli-
In der Union ist vielen bewusst, Bundeswehr sich für unzuständig, weil es sich um tiker Norbert Röttgen: »Es kann pas-
dass die Lage in Afghanistan noch gearbeitet. eine EU-Mission gehandelt habe. sieren, dass sich Millionen auf den
dramatischer werden kann. Aber Quelle: BMVg, Das Problem wurde hin- und her- Weg machen – und zwar beginnend
mancher dürfte dann doch überrascht Stand: 11. August geschoben, sodass Dutzende ehema- in den nächsten Wochen.«
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DEUTSCHLAND
Stille Heldinnen nicht mehr.« Der Puls rase weiter, die Ge-
danken drehten sich im Kreis. Ihre Ärztin
habe gesagt, dass sie auf sich aufpassen müs-
se, sie sehe Anzeichen einer Depression.
ASYLPOLITIK Die Flucht aus Afghanistan nach Deutschland Mariam sitzt auf dem Sofa in ihrer Woh-
gelingt vor allem Männern. Die Frauen, die es nung am Stadtrand Hannovers, in einem
alleine schaffen, müssen auch hierzulande kämpfen. ruhigen Viertel mit hohen Birken. Um den
Kopf hat die Muslimin locker ein braun-
weiß gemustertes Tuch gebunden. Sie lebt
allein.
Im Moment denke sie ununterbrochen
an ihre jüngere Schwester, die noch in Af-
ghanistan sei und Medizin in Masar-i-Scha-
rif studiere, sagt Mariam. »Ich konnte sie
tagelang nicht erreichen, war total in Panik.«
Seitdem die Nato ihre Truppen abgezogen
hat, nehmen die Taliban einen Bezirk nach
dem anderen ein. Mariam befürchtet, dass
die Radikalislamisten bald auch Masar-i-
Scharif, die Großstadt im Norden, in ihre
Gewalt bringen. Und dass ihre Schwester
in Lebensgefahr ist, da deren Mann als
Ingenieur an Projekten der afghanischen
Regierung arbeite.
Auch die Geschichten, die sie im Job hört,
bedrücken Mariam. Sie arbeitet bei einer
Flüchtlingsorganisation. Heute Morgen habe
sie mit einer Afghanin telefoniert, die mit
ihrer Tochter nach Rumänien abgeschoben
werden soll, wo sie nach der Flucht zum ers-
ten Mal in Europa registriert worden war.
»Ich weiß, dass sie dort missbraucht wurde«,
sagt Mariam. »Aber ich kann nichts tun, um
ihr zu helfen.«
Sie sage den anderen Frauen zwar immer:
»Du schaffst das, bleib stark.« Sie zögert eine
Sekunde, bevor sie weiterspricht: »Aber
manchmal, wenn ich allein bin, dann denke
ich, ich kann selbst nicht mehr stark sein.
Wie lange soll ich denn noch kämpfen?«
Seit vier Jahren lebt Mariam in Deutsch-
land. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) hat ihren Asylantrag 2017
abgelehnt, sie hat dagegen geklagt. Seitdem
wartet sie auf einen Gerichtstermin. Solange
das Verfahren läuft, darf sie zwar arbeiten,
aber nicht ins Ausland reisen, etwa um ihre
Eltern zu besuchen, die als Flüchtlinge in
Iran leben. »Ich habe nie erfahren, wie sich
»Ich habe nie echte Freiheit anfühlt«, sagt Mariam, »auch
in Deutschland nicht.«
erfahren, Dabei hatte die Afghanin noch großes
wie sich Glück, sie schaffte es bis nach Europa. Die
echte Freiheit Flucht aus dem Land, das wie kaum ein an-
deres für die Unterdrückung der Frau steht,
anfühlt.«
Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL
zent. Besondere Kontingente für geflüchtete in jeder Situation bewusst war, dass ich viel-
Mädchen und Frauen oder eine Lockerung leicht wegrennen muss, ständig habe ich Aus-
beim Familiennachzug gibt es nicht. schau nach Fluchtwegen gehalten«, erzählt
Bis zu einer Entscheidung für ein sicheres sie. »Diesen Stress hält man irgendwann
Bleiberecht kann es Jahre dauern. Angesichts kaum noch aus.« Noch belastender sei aber
der schlechten Sicherheitslage hat das Bun- gewesen, dass irgendwann zu viele Leute ihr
desinnenministerium am Mittwoch zwar ent- Gesicht gekannt hätten. »Das wurde für die
schieden, die Abschiebungen nach Afgha- gesamte Familie zum Problem.«
nistan zunächst zu stoppen. Migranten und Samiras Asylantrag wurde abgelehnt,
Migrantinnen, die nur eine Duldung zuge- mehr als drei Jahre lang kämpfte sie für ihr
sprochen bekommen, müssen aber mit der Bleiberecht in Deutschland. Inzwischen hat
ständigen Unsicherheit leben, dass sich die sie politisches Asyl bekommen. Wie auch
Behörden irgendwann anders entscheiden Mariam will sie anonym bleiben, weil ihre
könnten. »Das ist ein schlimmes Gefühl«, Angehörigen noch in Afghanistan leben.
sagt Mariam. »Es macht die Menschen Samira kommt aus einer konservativen
krank.« Familie. Als 19-Jährige verließ sie ihr Dorf
Das Gericht habe die Autonomie rang des Unionsrechts eingeräumt Es geht Kommission kann sich so viel Zeit
des EU-Rechts anerkannt und sehe habe. Eine solche Versicherung wür- lassen, wie sie will«, sagt Thiele.
sich an den »Grundsatz der Europa- de die polnische Regierung wohl im Kern um Egal wie die Kommission sich ent-
rechtsfreundlichkeit« gebunden, heißt nicht abgeben. Warschau könnte fort- die Frage, scheidet, der Lösung des eigentlichen
es. Es erkenne zudem an, dass die Ur- an schwerlich auf das Karlsruher Ur- wer über die Problems wird man dadurch keinen
teile des EuGH grundsätzlich als teil verweisen, um seine Justizpolitik Schritt näherkommen. Das liegt in der
verbindliche Auslegung des Unions- zu rechtfertigen. Zukunft der Natur des Konflikts selbst. Er lässt sich
rechts zu beachten seien. Dass der Ein Ende des Verfahrens wäre für europäischen auf juristischem Wege nicht lösen.
Vorrang des Europarechts aus Karls- die Kommission ein halbwegs ge- Der Europäische Gerichtshof ar-
ruher Sicht keineswegs unbeschränkt sichtswahrender Ausweg aus einer
Integration gumentiert, dass er allein darüber ur-
ist, übergeht das Schreiben. Situation, in die sie sich selbst ma- entscheiden teilen kann, wie EU-Verträge ausge-
Stattdessen beteuert die Bundes- növriert hat. Denn wenn Brüssel darf. legt und angewendet werden. Das
regierung, sie werde all ihre Mittel die deutsche Erklärung nicht aus- Unionsrecht müsse Vorrang vor na-
nutzen, um die »vollständige Beach- reicht, müsste es Deutschland förm- tionalem Recht haben, damit in allen
tung der Grundsätze der Autonomie, lich auffordern, zur Achtung des Mitgliedstaaten das gleiche Recht gel-
des Anwendungsvorrangs sowie der EU-Rechts zurückzukehren. Falls te. Das sei nur auf diese Weise sicher-
Wirksamkeit und der einheitlichen die Lage sich nicht ändert – und wie zustellen.
Anwendung des Unionsrechts sicher- sollte sie? –, kann die Kommission Das Bundesverfassungsgericht er-
zustellen«. den Fall vor den Europäischen Ge- kennt im Grundsatz den Vorrang des
Der Brief spiegelt die Haltung der richtshof bringen. Europarechts an. Aber es prüft, wel-
Bundesregierung wider, die sich Das Luxemburger Gericht würde che Kompetenzen die Bundesrepu-
schon oft über Entscheidungen der dann in eigener Sache urteilen. Das blik tatsächlich an die EU übertragen
Verfassungsrichter zum Europarecht verstoße gegen eherne Rechtsgrund- hat und ob die Verfassungsidentität
geärgert hat. In Karlsruhe ist man sätze und wäre für die Rechtsstaat- der Bundesrepublik berührt wird. Ei-
über den Brief nicht amüsiert. Er lässt lichkeit verheerend, warnt der Ber- nen Verstoß gegen das Grundgesetz
sich als Düpierung des höchsten Ge- liner Völkerrechtler Christian To- kann nur ein deutsches Verfassungs-
richts lesen. muschat in einem Beitrag für die gericht feststellen.
Er ist allerdings vor allem als Frie- juristische Website »Verfassungsblog«. Beide Haltungen sind schlüssig,
densangebot an die Kommission ge- Daran ist auch in Brüssel niemandem aber komplett inkompatibel. Was wie
dacht. Die muss nun entscheiden, wie gelegen. juristische Erbsenzählerei erscheint,
Kommissionschefin
es weitergeht. Der »ernst zu nehmen- Falls die Kommission die Sache von der Leyen*:
hat einen hochpolitischen Hinter-
de Präzedenzfall« ist durch die Erklä- nicht für erledigt erklären will, kann Auf kaltem Weg in den grund. Es geht im Kern um die Frage,
rung nicht aus der Welt geschafft. Wie sie das Verfahren verschleppen. »Die Bundesstaat wer über die Zukunft der europäi-
denn auch? Die Bundesregierung schen Integration entscheiden darf.
kann Urteile des Bundesverfassungs- Karlsruhe fürchtet, dass immer
gerichts nicht beeinflussen oder für mehr Macht von den Nationalstaa-
unwirksam erklären. ten nach Europa wandert, ohne dass
Das wusste man in Brüssel schon es dafür eine ausreichende demokra-
vor diesem Verfahren. Es sollte vor tische Legitimation gibt. Besonders
allem ein Signal an andere Länder drastisch hat das der frühere Präsi-
sein. Die Kommission hat die Sorge, dent des Verfassungsgerichts, An-
dass die Entscheidung des Bundesver- dreas Voßkuhle, ausgedrückt. Die
fassungsgerichts Staaten wie Polen als Kommission wolle »auf kaltem We-
Vorwand dient, Urteile des EuGH zu ge« in Europa »den Bundesstaat«
ignorieren und den Rechtsstaat weiter einführen, klagte er auf einer Ver-
abzubauen. Der polnische Regierungs- anstaltung.
chef Mateusz Morawiecki nannte das Das klang ein wenig nach Ver-
Urteil aus Karlsruhe denn auch »eines schwörungstheorie. Aber Voßkuhles
der wichtigsten Urteile in der Ge- Vorwürfe haben einen realen Kern.
schichte der Europäischen Union«. Der Kommission ist daran gelegen,
Überzeugend ist das Brüsseler möglichst viele Dinge europäisch zu
Vorgehen nicht. Das Vertragsverlet- regeln. Die EU dehne »die übertra-
zungsverfahren gegen Deutschland genen Kompetenzen oft extrem weit
sei »nicht ohne Ironie«, findet der aus, sodass der Zuständigkeitsbereich
Göttinger Europarechtler Alexander der Mitgliedstaaten und damit auch
Thiele. »Die Kommission geht gegen das Anwendungsfeld der nationalen
die polnische Regierung vor, um die Verfassung und der nationalen De-
Unabhängigkeit von Polens Justiz zu mokratie ausgehöhlt wird«, sagt der
schützen, und verklagt nun die Bun- frühere Verfassungsrichter Dieter
desregierung mit dem Ziel, auf die Grimm. Dem Europäischen Gerichts-
Justiz einzuwirken.« hof werfen die Kollegen aus Deutsch-
Wie Brüssel reagieren wird, ist of- land vor, er lasse dieses Verhalten
BABIRADPICTURE / ANDYKNOTH
fen. Man gebe keine Auskunft über durchgehen, statt die EU-Organe zu
laufende Verfahren, sagte ein Spre- kontrollieren.
cher. Es spricht dennoch einiges dafür, Das Karlsruher PSPP-Urteil ist
dass das Verfahren eingestellt wird. von vielen Verfassungs- und Europa-
Die Kommission könnte darauf
verweisen, dass Deutschland den Vor- * Bei den Salzburger Festspielen im Juli.
WIE 1945
Richterinnen und Richter haben die Folgen
ihrer Entscheidungen genau im Blick. Und
politisch ergibt das PSPP-Urteil Sinn.
Das Gericht hat im Juni 2016 das so-
BEGANN
leihen aufkaufen kann. EZB-Chef Mario
Draghi hatte damals angekündigt, die Bank
werde alles tun, was nötig sei (»whatever it
takes«), um den Euro zu retten. Allein diese
Worte und ein EZB-Beschluss reichten, um
die Finanzmärkte zu beruhigen, das Pro-
gramm wurde nicht umgesetzt.
Es spricht einiges dafür, dass der Zweite
Senat in Karlsruhe schon damals der Mei-
nung war, Draghi habe die Kompetenzen der
EZB überdehnt. Aber hätte das Gericht so
entschieden, dann hätte das unübersehbare
Folgen gehabt. Nicht nur der Euro, die ge-
samte EU wäre gefährdet gewesen. Also er-
klärte man das Programm trotz »gewichtiger
Bedenken« für rechtens.
Die EU nähert sich nach Auffassung der
Verfassungsrichter immer weiter dem Punkt,
an dem solche Nachsicht nicht mehr möglich
ist. Nämlich dann, wenn der Corona-Ret-
tungsschirm, der offiziell nur die wirtschaft-
lichen Folgen der Pandemie bekämpfen soll,
ohne Änderung der EU-Verträge zu einem
dauerhaften Umverteilungsinstrument wür-
de. Das Urteil ist eine Warnung an die Politik,
es nicht so weit kommen zu lassen.
Dass der Konflikt zwischen dem Bundes-
verfassungsgericht und der EU beim Thema
Euro eskaliert, ist kein Zufall. Die Europäi-
sche Währungsunion hat sich als Fehlkon-
struktion erwiesen. Von Anfang an war klar,
dass es problematisch sein würde, die Wäh-
rungspolitik auf die europäische Ebene zu
7IMXIRQMX%FFKIFYRHIRẠverlagern, die Finanz- und Wirtschaftspolitik
Auch als E-Book erhältlich aber bei den Nationalstaaten zu belassen. In
der Eurokrise wurde die Schwäche des Kon-
strukts deutlich.
Der 9. Mai 1945 war der erste Friedenstag in Deutschland – Es gibt genug Vorschläge, wie der Euro
und der Beginn einer Zeit des Aufbruchs, der Trauer und vor neuen Krisen geschützt werden könnte.
Dazu müssten die Mitgliedstaaten allerdings
der Lebensgier. Aus bewegenden Dokumenten und Erinnerungen die europäischen Verträge ändern und wich-
bekannter und unbekannter Zeitzeugen zeichnen Hauke Goos tige Teile ihrer Finanz- und Wirtschaftspoli-
und Alexander Smoltczyk ein Bild dieses Sommers. tik an die EU übertragen. »Was die deutschen
Richter den europäischen Staats- und Regie-
In ihrem Buch machen sie die ersten Wochen nach Kriegsende rungschefs sagen … ist, dass sie Entscheidun-
noch einmal hautnah erlebbar und zeigen, wie prägend gen, für die sie die Verantwortung überneh-
men sollten, nicht an ein nicht gewähltes
diese Zeit war für all das, was später kam. Gremium delegieren sollten«, schrieb der
französische Ökonom Jean Pisani-Ferry.
Doch zu wirklichen Reformen fehlt den
Aufwändig gestaltet und vierfarbig bebildert. Regierungen der Wille und der Mut.
Solange das so bleibt, sind alle Vorschläge
zur Lösung des Problems müßig. Es ist nur
eine Frage der Zeit, bis der Konflikt wieder
aufbricht.
Markus Becker, Sophie Garbe,
Ralf Neukirch, Christian Reiermann ■
Wähler anzuziehen und ein Stück ostdeut- Kurs Richtung Rot-Rot-Grün auch im Bund
sche Kultur abzubilden.« Das falle nun immer Aufbau West und kombiniert dies im Bundestagswahl-
schwerer. kampf mit einer Wiederbelebung des alten
In der Partei sagen einige, die Bundesspitze Mitgliederzahl der Partei Die Linke Images der Ostpartei. »Der Osten spielt im
müsste sich wieder verstärkt Ostdeutschland Westdeutschland Wahlkampf der demokratischen Parteien
widmen. Die im Frühjahr abgetretenen Par- Ostdeutschland inkl. Berlin
praktisch keine Rolle. Mich wundert das nicht
teivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Rie- wirklich, wenn ich mir etwa den Zuschnitt
xinger hätten das Thema vernachlässigt. Vor 40.000 der Spitzenkandidaten von SPD, Grünen und
allem Riexinger habe den Osten »mit spitzen 35.000 der Union angucke«, sagt sie. »Wir brauchen
Fingern« angefasst und sich desinteressiert 30.394 einen neuen Aufbruch Ost.«
30.000
gezeigt, was eine toxische Wirkung auf Ost- Doch ist die Linke überhaupt regierungs-
29.881
deutsche gehabt haben könnte, analysiert ein 25.000 fähig? Auch das scheint ein Ost-West-Pro-
führender Genosse. 20.000 blem zu sein. Viele der Verbände in den alten
»Nehmt den Wessis das Kommando«, hieß Bundesländern sind chaotisch, tief zerstritten
15.000
es auf einem Plakat der Linken in Sachsen- und unberechenbar, weshalb viele Grüne und
Anhalt im Wahlkampf vor einigen Monaten. Sozialdemokraten einem Bündnis im Bund
2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
Geholfen hat es nicht. skeptisch gegenüberstehen. Selbst wenn es
Besuch bei Klaus Lederer, dem Kultur- S Quelle: Parteivorstand der Linken; Stand: 1. Quartal 2021 zuletzt in Umfragen eine Mehrheit gab und
senator der Hauptstadt und Linken-Spitzen- SPD und Grüne die Option nicht ausschlie-
kandidaten für die Abgeordnetenhauswahl Lederer sieht vor allem einen Grund für ßen, halten sie Distanz.
im September. Er schlägt die Beine über- verlorenes Vertrauen im Osten: die Re- Zuletzt sorgten vor allem Sahra Wagen-
einander und lehnt sich zurück. Im wieder- gierungsfrage. »Du wählst eine Partei immer knecht in Nordrhein-Westfalen und Ehemann
vereinigten Berlin lässt sich die Entwicklung wieder in den Bundestag, und die Löhne Oskar Lafontaine im Saarland durch Kritik
der Linken im Kleinen beobachten. Lederer, werden dennoch nicht angeglichen. Irgend- an der eigenen Partei für so erbitterten Streit
47, kommt aus Frankfurt (Oder) und trat An- wann fragen sich die Leute: Warum soll ich in der Partei, dass die Regierungsoption völlig
fang der Neunzigerjahre der PDS in Berlin die noch wählen?« Er glaubt deshalb, dass unrealistisch erschien. Hennig-Wellsow will
bei, war Landesvorsitzender. »Früher gab es die Linke im Bund unbedingt mitregieren dieses Problem lösen und beide einbinden.
die Kritik aus den kleinen West-Bezirksver- müsse. Ende August soll das Ehepaar in ihrem thü-
bänden, sie würden von den Ostdeutschen Auch die neue Bundesvorsitzende Susan- ringischen Wahlkreis in Weimar auftreten.
untergebuttert«, erinnert er sich. Das sei vor- ne Hennig-Wellsow aus Thüringen sieht das Eine Geste der Versöhnung. Hennig-Wellsow
bei. »Auf beiden Seiten hat sich die Mitglie- so. In Thüringen hat es die Linke geschafft, will ihren Wahlkreis direkt gewinnen, als Ost-
derzahl nivelliert.« Auch im alten Ost-Berlin sich dem Abwärtstrend zu widersetzen. Die deutsche mit Unterstützung aus dem Westen.
hat die Wählerschaft abgenommen. Parteichefin wirbt deshalb für einen klaren Timo Lehmann, Peter Maxwill, Marc Röhlig ■
Jens Oellermann
Luca-Team Michi Beck, Marcus Trojan, Patrick Hennig, Smudo
ketten zu verfolgen. Zur Einordnung: Im sel- Viel zu schnell seien die Gelder für die die Luca zurückweist. »Wir sehen, dass ge-
ben Zeitraum zählten die entsprechenden App freigegeben worden, ohne dass sich je- rade in den letzten drei Wochen immer mehr
Landkreise ungefähr 130 000 Neuinfektio- mand darum gekümmert habe, ob die Ämter Infektionen mit Luca-Daten nachverfolgt
nen; teilweise waren Restaurants und Cafés damit überhaupt gut arbeiten könnten. Be- wurden«, sagt Hennig. Allein in den ver-
noch geschlossen. sonders vom Support der Luca-Betreiber sind gangenen zwei Wochen hätten Gesundheits-
Nur an wenigen Orten wird Luca wohl in- sie in Neukölln enttäuscht. Anrufe seien ins ämter im Zusammenhang mit 474 Infektions-
tensiv genutzt. Die Hamburger Gesundheits- Leere gelaufen, E-Mails nicht beantwortet fällen eine Freigabe der Kontaktdaten von
behörde berichtet, in den vergangenen vier worden. »Von einer App, die viele Millionen 1202 Locations angefragt. So seien 26 680-
Wochen für 109 positiv getestete Luca-Nut- Euro bekommen hat, hätten wir uns ge- mal Luca-Nutzerinnen und -Nutzer gewarnt
zerinnen und -Nutzer abgefragt zu haben, wünscht, dass Luca aktiver und unterstützen- worden.
wo sie sich eingecheckt hatten. 304 Men- der auf uns zugegangen wäre«, sagt Kühl. Jens Pfitzner ist Arzt im Gesundheitsamt
schen seien daraufhin in Hamburg in Qua- Solche Kritik weisen die Luca-Betreiber der nordrhein-westfälischen Stadt Remscheid.
rantäne geschickt worden. zurück. »Dass die Gesundheitsämter nieman- Bisher habe kein einziger Infizierter gegen-
Solche Zahlen könnten demnächst noch den bei uns erreichen, kann man uns wirklich über seinem Amt angegeben, die Luca-App
einmal wichtig werden. Nach einem Jahr nicht vorwerfen«, sagt Nexenio-Chef Hennig. benutzt zu haben. »Wir fragen alle Personen«,
Laufzeit enden im Frühjahr 2022 die Verträge Am Anfang, im März und April, habe man sagt Pfitzner. »Die normale Corona-Warn-
der Bundesländer mit Luca. »Wir haben ein überschaubares Team gehabt. Aber heute App ist immer mal wieder dabei, andere
kein postpandemisches Geschäftsmodell für seien vier bis sechs Techniker unter einer spe- Apps so gut wie nie«, sagt Pfitzner. Er kann
Luca«, sagt Patrick Hennig, Chef der Betrei- ziellen Rufnummer für Rückfragen der Ämter das verschmerzen, denn Luca würde die Ar-
berfirma Nexenio. Ob die Länder weitere erreichbar. Außerhalb der Geschäftszeiten beit aus seiner Sicht nicht erleichtern – im
Luca-Lizenzen kaufen werden, ist noch nicht würden die Anrufe direkt auf sein Handy Gegenteil. »Nimmt man einfach mal an, dass
klar. durchgestellt. Momentan erreichten sein Un- wir nach einem Festival mit 20 000 Besu-
In Mecklenburg-Vorpommern, das als ers- ternehmen täglich drei bis fünf Support-An- chern alle eingebuchten Besucher abarbeiten
tes Bundesland eine Luca-Lizenz kaufte, be- fragen aus Ämtern, so Hennig. müssten, wäre das ein Ding der Unmachbar-
schäftigt sich nach Beschwerden eines Kon- Längst ist der Streit zwischen Luca und keit«, sagt Pfitzner.
kurrenten das Oberlandesgericht inzwischen dem Neuköllner Gesundheitsamt eskaliert. Auch andere Gesundheitsämter berichten
mit der Frage, ob die Vergabe ohne Ausschrei- Savaskan hat seine Kritik auch öffentlich ge- von dem Problem, dass Luca Kontaktdaten
bung rechtens war. In Hessen treibt das In- äußert. Hennig kontert, dass sein Unterneh- von Personen liefere, die den Infizierten in-
nenministerium das Problem der Datensicher- men intensiv geprüft habe, »was verbessert nerhalb einer Luca-Location womöglich nie
heit von Luca um. Es hat vom Bundesamt für werden könnte«, aber »aus unserer Sicht ver- nahe gekommen sind. Das kann beispielswei-
Sicherheit in der Informationstechnik eine folgen die Neuköllner wohl auch eine eigene se passieren, wenn eine Diskothek nur einen
tiefgreifende Prüfung des Systems angefor- Agenda«. einzelnen Luca-Code am Eingang aufhänge.
dert. Immer wieder hatte es Berichte über Er verweist lieber darauf, dass sich 27 Mil- Den scannen dann Hunderte Besucherinnen
Schwachstellen in der App gegeben, die Be- lionen Menschen bei Luca registriert hätten. und Besucher – die sich aber möglicherweise
treiber mussten nachbessern. Wie viele von ihnen die App tatsächlich nut- den ganzen Abend auf unterschiedlichen
Die Erfahrungen der Gesundheitsämter zen, lässt sich nicht sagen. IT-Experten hatten Tanzflächen bewegen.
dürften in die Bewertung einfließen – und nur eine Zahl zwischen 2,2 und 4,5 Millionen Restaurants werden angehalten, an jedem
sind laut der SPIEGEL-Umfrage gemischt. Nutzenden geschätzt, eine Hochrechnung, Tisch einen anderen QR-Code zum Scannen
Einige Behörden berichten von technischen auszuweisen, damit nur die Menschen zusam-
Problemen, während der Betrieb bei einem men erfasst werden, die auch zusammenge-
größeren Teil einwandfrei läuft. Warum die Steuergeld für Luca sessen haben. In der Praxis klappt das aller-
Daten nicht häufiger genutzt werden? Einige dings längst nicht immer, viele Betreiber be-
nennen als Grund das eher niedrige Infek- Ausgaben der Bundesländer* für das Luca- gnügen sich offenbar mit einem Code für alle.
System, in Millionen Euro
tionsgeschehen in ihrer Region, andere ver- Luca führt deshalb gerade mehrere neue
weisen darauf, dass die Daten immer wieder Bayern 4,52 Funktionen ein: Klubbetreiber sollen in der
unbrauchbar seien. Aus dem Main-Taunus- Baden- App Raumgröße und Durchlüftungsart ange-
Kreis heißt es, der Nutzen stehe »in keinem 3,70 ben können und es so den Ämtern erleichtern,
Württemberg
Verhältnis zum Aufwand für Einführung und Niedersachsen 3,00 das Risiko zu ermitteln. Außerdem sollen die
Betrieb der App«. Ämter die Möglichkeit bekommen, nach
In Neukölln scheint die Enttäuschung be- Hessen 2,10 einem Infektionsfall allen Besuchern über die
sonders groß zu sein. »Ich habe mir von Luca Rheinland- App einen passgenaueren Warnhinweis an-
1,70
mehr Entlastung erhofft«, sagt Farina Kühl. Pfalz zuzeigen.
Einen entscheidenden Vorteil im Vergleich Berlin 1,39 Die Funktion erinnert an die Corona-
zur Nachverfolgung mit Stift und Zettel kann Warn-App des Robert Koch-Instituts. Sie gibt
sie nicht erkennen. Sie selbst begann noch Brandenburg 1,18 eine Warnung an alle Smartphones aus, die
während der ersten Welle mit einer Informa- Schleswig- sich in der Nähe des Handys einer infizierten
1,05
tikerin, eine eigene Datenbank für ihr Amt Holstein Person befunden haben, die bereit ist, ihren
zu entwickeln, um Fälle schneller und besser Sachsen- Befund anonym zu teilen. Der Remscheider
1,00
Anhalt
digital zu bearbeiten. Amtsarzt Pfitzner sieht hier einen großen
Ihr Chef, Nicolai Savaskan, zieht eine ne- Hamburg 0,66 Vorteil: Die App messe den Abstand sowie
gative Bilanz: »Bisher hat uns Luca bei der Mecklenburg-
0,44
die Dauer des Kontakts. »Bei Luca geht es
Nachverfolgung von Infektionsketten über- Vorpommern nur um den Ort«, sagt Pfitzner. »Unter Um-
haupt nichts gebracht«, sagt der Leiter des Saarland 0,37 ständen würden wir Leute abtelefonieren, die
Bezirksgesundheitsamts. »Wir sind mitten in sich gar nicht in der Nähe eines Virusträgers
der vierten Welle, es ist für uns als Gesund- Bremen 0,22 aufgehalten haben.« Sein Fazit: »An uns ist
heitsamt misslich, dass wir kein benutzbares * Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen bei dem System wenig gedacht worden.«
haben keine Lizenz für die Luca-App erworben.
datenschutzkonformes digitales System zur S Quelle: SPIEGEL-Umfrage bei den Gesundheits- Patrick Beuth, Katrin Elger, Max Hoppenstedt,
Nachverfolgung haben.«
In der Flutnacht forderte Weitzel Verstär- tern an wesentlich weniger, andere wachsen sie in ihren Betten durchs Wasser, dann ins
kung an, beim THW, bei der Bundeswehr. Und daran, was jedoch alle gemeinsam haben: Sie Freie.
sie habe gebetet, sagt sie. Am Ende konnten müssen mit Hilflosigkeit, Verzweiflung und Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
die Einsatzkräfte in Blessem rund 150 Men- Trauer zurechtkommen. des Krankenhauses helfen beim Aufräumen,
schen aus dem Hochwassergebiet retten. Dut- Als der Kreis Heinsberg im Februar 2020 sie schippen Schlamm. »Wie geht’s?«, fragt
zende wurden zunächst als vermisst gemeldet, zum ersten Corona-Hotspot in Deutschland Weitzel. »Allet jut«, sagt jemand. »Ach, hörn
man suchte sie mit Tauchern und Robotern, wurde, stieg der Landrat Stephan Pusch zu Se upp!«, sagen andere. Eine Ärztin, die eine
mit Sonargeräten, Drohnen und Hunden. einer Art Innenminister auf. Er schloss als Tapete von der Wand kratzt, erzählt, dass in
Weitzel entschied, dass die Menschen aus Erster Schulen und Kitas, nahm regelmäßig der Flutnacht ihr Auto abgeschleppt worden
Blessem vorerst nicht in ihre Häuser zurück- eine Videokolumne auf, legte sich mit Minis- sei, jetzt habe sie eine Rechnung dafür erhal-
kehren dürfen. Geologen waren zu dem terien und dem Robert Koch-Institut an. ten. Ob die Bürgermeisterin da was machen
Schluss gekommen, dass das zu riskant sei, Pusch nutzte seine große Klappe. »Jeder könne?
womöglich gebe es weitere Einstürze. Weitzel Landwirt hätte besser verhandelt«, sagte er Weitzel unterhält sich mit Krankenhaus-
musste den Bürgern, die fast alles verloren über die Impfstoffbeschaffung der EU. angestellten, die Pause machen. Sie hört zu,
hatten, verbieten, ihr letztes Hab und Gut zu Wenn Weitzel Fernsehinterviews oder irgendwann sagt sie: »Wir im Rathaus sind
retten. Es sei die richtige Entscheidung gewe- Statements gibt, spricht sie langsam und kon- auch rund um die Uhr im Einsatz.« Ihr ist es
sen, sagt sie heute. Sie ist stolz darauf, dass trolliert. »Ich will mich in der Krise nicht ver- wichtig, das zu betonen. Weitzel kennt die
es in Erftstadt keinen Todesfall gab, was tat- lieren«, sagt sie, »ich versuche, immer klare Vorbehalte, sie hat zuletzt oft Sätze gehört
sächlich einem Wunder gleicht. Gedanken zu fassen.« Im Vergleich zu Pusch wie: »Was wissen Sie schon? Sie sitzen doch
In normalen Zeiten gehört es zur Job- ist sie eine leise Krisenmanagerin, was ihr im warmen Büro!« Weitzel glaubt, dass zu
beschreibung von Lokalpolitikern, die Ver- den Raum gibt zuzuhören. viele Entscheidungen der Politik im Verbor-
waltung zu digitalisieren oder Start-ups an- Nächster Termin, diesmal im Marien-Hos- genen bleiben. Seit der Flut hat die Stadt
zulocken. Manchmal bringen sie Ehepaaren pital in Erftstadt. Carolin Weitzel geht mit einen Medienberater engagiert, der die Fol-
einen Blumenstrauß zur Diamanthochzeit. dem Verwaltungsdirektor durch zerstörte gen der Katastrophe dokumentiert und Weit-
Doch in den Krisen der vergangenen Monate OP-Säle, Kabel hängen aus der Decke, in zel regelmäßig mit der Kamera begleitet.
mussten einige von ihnen Entscheidungen der Gastroenterologie bildet sich Schimmel »Denken Sie dran, auch mal auszuschla-
von enormer Tragweite treffen, Maßnahmen, an den Wänden. Die Flut hat das Erdge- fen«, sagt Weitzel zum Abschied zu den Kran-
die Grundrechte berühren, bei denen es um schoss des Krankenhauses überschwemmt, kenhausmitarbeitern. »Sie aber auch«, sagt je-
Leben und Tod geht. Manche Politiker schei- 60 Patienten wurden evakuiert, man schob mand zu Weitzel. Gelächter in der Runde. Spä-
chen, Klebeband spielte eine Rolle. Johannas Vater Plakate aufgehängt, burger. »Aber es fühlte sich auch
Der Mann, Rick J., stand bereits im Handzettel verteilt, im Fernsehen um schwer an.«
Fall Bohnacker im Fokus der Ermitt- Hilfe gebeten, dem unbekannten Tä- Thomas Hauburger, Der Fall Johanna Bohnacker habe
ler. Eine Sonderkommission mit rund ter einen offenen Brief geschrieben 40, ist Staatsanwalt ihn gelehrt, dass es sich lohnt, alte
für Kapitalverbrechen.
30 Beamten wurde gegründet. hatte. Eine Frau, die nie aufgehört Er hat sich auf soge- Fälle neu anzupacken. In fast jeder
Monatelang observierten sie Rick hatte, das Verbrechen an ihrer Toch- nannte Cold Cases Akte gebe es Ansätze, aus denen sich
J., einen ehemaligen Studenten. Er ter aufklären zu wollen, auch nicht, spezialisiert und ist neue Hypothesen bilden ließen, sagt
hatte mit Drogen experimentiert, als der Vater 2016 starb. Lehrbeauftragter an er. Wer einen anderen Menschen töte,
der Hochschule für
Sexspielzeug und Kinderpornografie Rick J. hielt sich zum selben Zeit- Polizei und Verwal- begehe das schwerste Verbrechen.
gehortet, war mehrmals strafrechtlich punkt im Gebäude auf und muss sich tung Gießen und beim »Wir sind dazu verpflichtet, es aufzu-
aufgefallen. Die Fahnder werteten gefragt haben: Welche Beweise, wel- Bundeskriminalamt. klären.« Julia Jüttner ■
In anderen Nachrichten würden sagt Hofferbert. Nicht jede Ge- Einem men, so wie wir alle an anderer Stelle
Ausländer sowie »linksgrüne« Politi- schmacklosigkeit dort sei jedoch auch.« Weder die Staatsanwaltschaft
kerinnen als »Dreckaugenschweine« auch ein Gesetzesverstoß, wie das Beamten wird noch das Innenministerium wollen
beschimpft. Nach gewalttätigen De- Verfassungsgericht bereits mehrfach Rassismus dazu Stellung nehmen. Die Auswer-
monstrationen wie dem G-20-Gipfel festgestellt habe. gegen Dunkel- tungen liefen noch, heißt es.
in Hamburg seien »mehr Präzisions- Viele der Beamten, gegen die jetzt Für die beschuldigten Beamten
schützen« empfohlen worden. Es ermittelt wird, sehen es ähnlich. Sie häutige vorge- sind die Konsequenzen jedoch schon
gebe verstörende Kommentare zu fühlten sich unfair behandelt, sagen worfen – nur jetzt spürbar. Diejenigen, gegen die
rassistischen und sexualisierten Wit- Vertrauensleute. Einem Kollegen strafrechtliche Ermittlungen laufen,
zen über Muslime und Schwarze. werde beispielsweise vorgeworfen,
sei er selbst sind seit Juni ihrer Dienstgeschäfte
Entdeckt wurden die Nachrichten dass er einen Bericht über Afghanen, ghanaischer enthoben. Andere wurden versetzt.
zufällig – als Beifang von Ermittlun- die Polizisten mit Messern angegrif- Abstammung. Ein SEK-Mann in Führungsfunktion,
gen wegen Kinderpornografie gegen fen hatten, mit den Worten »ver- seit 25 Jahren im Dienst, sei zur Was-
einen Frankfurter SEK-Polizisten. dammtes Pack« bezeichnet habe. serschutzpolizei versetzt worden, ob-
Auf seinen Telefonen stießen die Das sei aber nicht volksverhetzend wohl er an den strafrechtlich relevan-
Fahnder auch auf sieben WhatsApp- gemeint, sagen Kollegen, die den ten Chats gar nicht teilgenommen
Gruppen unterschiedlicher Größe. SEK-Mann gut kennen. »Der hätte habe, so Insider. Der Vorwurf: Er
Sie hatten Namen wie »Dienststellen- das auch geschrieben, wenn Mitglie- habe Dienstpläne in eine WhatsApp-
nachrichten«, später in »Dienststel- der einer Studentenverbindung auf Gruppe gestellt, um den Tausch von
lensatire« geändert, oder »SEG 2 - Polizisten losgegangen wären.« Schichten organisieren zu können.
Chat«, nach dem Namen einer Dann das abwertende Wort »Na- Außerdem soll er vor einem Einsatz
Einsatzgruppe. Teilnehmer waren fri«, das in verschiedenen Versionen Bilder von Zielpersonen in eine klei-
50 hessische Polizisten, darunter und Bildern in den Chats auftaucht ne Gruppe gepostet haben. Beides
36 Mitglieder des Frankfurter SEK. und als Beleg für eine rassistische Ge- Verstöße gegen Vorschriften, tatsäch-
Nicht alle haben allerdings in die- sinnung herhalten muss. Der Begriff lich aber eine Notlösung, sagen ande-
sen Gruppen geteilt und kommen- sei 2016 in Polizeikreisen eine übliche re Beamte. Mit den veralteten Syste-
tiert. Minister Beuth stellte klar, dass Abkürzung für Intensivtäter aus men der Polizei funktioniere so etwas
manche Beamte sich in den Chats »er- Nordafrika gewesen, verteidigen sich auf die Schnelle kaum.
kennbar von diskriminierenden In- SEK-Männer. Tatsächlich benutzte Drei SEK-Führungskräften warf
halten distanziert« hätten. Einige hät- die Kölner Polizei ihn nach den Aus- die Staatsanwaltschaft »Strafvereite-
ten die Gruppen verlassen. schreitungen der Silvesternacht 2015 lung im Amt« vor. Sie hätten sich
Das Landeskriminalamt geht da- für einige Zeit in ihrer öffentlichen zwar nicht aktiv an den Chats betei-
von aus, dass die Chats »nicht vor- Kommunikation. Auch der damalige ligt, aber davon gewusst und nichts
nehmlich radikal geprägt waren«. Es Bundesminister Alexander Dobrindt dagegen unternommen. In zwei Fäl-
seien größtenteils Foren gewesen, in (CSU) verwendete den Begriff noch len sind die Verfahren inzwischen
denen sich Beamte nach Dienst- 2017 in einem Interview. wieder eingestellt worden.
schluss über Privates und Halbdienst- Einem weiteren SEK-Beamten wird Musste den Polizisten klar sein,
liches ausgetauscht hätten, sagt ein vorgeworfen, rassistische Witze über dass sie Straftaten begehen können,
Ermittler. Klatsch und Tratsch, dazwi- Dunkelhäutige gemacht und das N- wenn sie solchen Chatgruppen ange-
schen scherzhaft gemeinte Bilder, Wort verwendet zu haben. Mitte 2017 hören? Die Lage ist nicht so eindeutig,
nicht immer geschmackssicher, teil- soll er eine Bilddatei mit weißen wie es die markigen Worte des Mi-
weise abstoßend. Strichmännchen verschickt haben, in nisters vermuten lassen. Im Fall eines
In der aktivsten der sieben Whats- der es hieß: »Findest du den Schwar- der Polizisten-Brüder aus Kirtorf fäll-
App-Gruppen seien fast 10 000 Nach- zen im Bild?« Die Antwort lautete: te das Amtsgericht Ende Juni ein Ur-
richten verschickt worden. Drei die- »Der ist natürlich im Knast.« teil, das Fragen aufwirft. Der Beamte,
ser Nachrichten seien vielleicht straf- Was den Rassismus-Vorwurf indes Kunstaktion der auch Hitlerbilder und Nazisym-
rechtlich relevant, so das LKA. In erschwert: Der Beamte sei ghanai- zum Fall »NSU 2.0« bole an Kollegen verschickt hatte,
am Frankfurter
einem anderen Chat mit 9000 Bei- scher Abstammung und habe selbst Polizeipräsidium:
wurde vom Vorwurf des Verbreitens
trägen habe die Staatsanwaltschaft schwarze Haut, sagen seine Kollegen. Der Held wurde strafbarer Inhalte freigesprochen.
24 als problematisch eingestuft. »Er hat sich auf die Schippe genom- zum Beschuldigten »Die Chatgruppen dienten offensicht-
Reicht das, um allen chattenden lich dem Zweck des privaten Aus-
SEK-Beamten pauschal eine rechts- tauschs«, heißt es im Urteil. In diesem
extreme Gesinnung zu unterstellen Rahmen sei das Schutzgut des öffent-
und ihre Einheit zu zerschlagen? Der lichen Friedens nicht gestört.
Frankfurter Anwalt und Beamten- Es ist nur die Auffassung eines
rechtsexperte David Hofferbert hat Amtsrichters, aber die Polizisten fra-
erhebliche Zweifel. Es müssten die gen sich nun, ob sie um eine mögliche
Gesamtumstände jeder Nachricht be- Strafbarkeit ihres Tuns hätten wissen
rücksichtigt werden, sagt er. Ist sie müssen, wenn selbst Gerichte diese
verschickt worden, um eine rechts- nicht immer sehen.
Boris Roessler / picture alliance / dpa
Papa von
Mamas Gnaden
FAMILIE Viele Väter wollen inzwischen besser sein als
ihr Ruf. Doch ausgebremst werden sie oft ausgerechnet
in den eigenen vier Wänden – von Müttern, die nicht
loslassen. Wie können moderne Eltern all die Barrieren
überwinden, die ihnen das Leben schwer machen?
W
le!« Und, genauso wichtig: »Mütter, wollen wir leben? mal wieder ein guter Moment für so
lasst los!« einen Test: Anika musste für ein paar
Viele Männer haben in den ver- Tage nach Hamburg, Jonas blieb mit
gangenen Jahrzehnten aufgeholt in Tochter Thea daheim in Mülheim an
der Familienarbeit. Sie stehen mit im der Ruhr. Zum ersten Mal hatten sie
Kreißsaal, sie bilden sich in Väterkur- ein Papa-Tochter-Wochenende ganz
sen fort, sie kochen und waschen und für sich allein.
wickeln, sie nehmen Elternzeit oder Seine Mutter habe dem Vater frü-
streiten beim Chef für Teilzeit, sie her immer das ganze Wochenende
verbringen mehr Zeit mit ihren Kin- vorbereitet, wenn sie mal wegmusste,
dern als mit den Kumpels. Sie sam- sagt Jonas. Essen für drei Tage einge-
Wenn man auf der Suche nach dem meln lieber Statuspunkte als Daddy kocht, Hosen und Pullis für das Kind
Idealtypus des neuen Papas ist, gibt Cool statt Bonusmeilen. rausgelegt, Wohnung geputzt. All das,
es vermutlich kaum eine bessere und Zugleich erfahren einige, wie ihre was als Mental Load bezeichnet wird:
zugleich klischeehaftere Gegend als Leistung häufig bagatellisiert, igno- die Belastung, die durch die Verant-
Spielplätze im Prenzlauer Berg in riert oder ironisiert wird, nach dem wortung für das Organisieren von All-
Berlin. Jede Menge Daddys, in Eltern- Motto: Ist es nicht süß, wie er sich be- tagsaufgaben entsteht, die gemeinhin
zeit oder mit flexiblen Jobs gesegnet, müht, unser Superdaddy? In gesell- als nicht der Rede wert erachtet wer-
bevölkern in dem Viertel mit ihrem schaftlichen Diskussionen gelten sie den; den Kühlschrank füllen, an Fa-
Nachwuchs die Klettergerüste, Pekip- als diejenigen, die sich ändern, die miliengeburtstage denken, regelmä-
Kurse und Parks. Sie tragen ihre Ver- ihre neue Rolle finden müssen. Und ßig zum Kinderarzt gehen.
antwortung wie eine Trophäe im Baby- zu Hause? Da erleben sie mal subtil, Jonas glaubt, dass es oft Kleinig-
tragegurt oder auf der Schulter, sind mal sehr direkt Bevormundung, Bes- keiten sind, die bei Paaren für Pro-
bestens ausgestattet und abgesichert serwisserei, Benotung. So macht sich bleme sorgen: »Viele haben immer
als Prototypen des progressiven Pa- unter diesen Vätern das ungute Ge- so einen Das-muss-aber-so-Plan und
triarchats: fröhlich, frech und – dann, fühl breit, sie wären gar nicht will- sind dann nicht in der Lage, andere
ja, dann klingelt das Telefon: »Hey, kommen – sie bleiben der Elternteil Wege zuzulassen.«
nee, wir sind spielen, ja sicher, alles zweiter Klasse. Es sei zum Beispiel okay, wenn
gut, ja, mache ich noch, doch, natür- Denn die eigentlich geforderte Anika die Gläser im Geschirrspüler
lich habe ich ihn eingecremt!« Ausweitung der Väterzone stößt an lieber links einsortiere, er aber rechts
Fast täglich erlebt Marc Schulte ein schwer zu überwindendes Hin- – »am Ende sind sie ja genauso sau-
solche Situationen oder bekommt sie dernis: die Macht des Matriarchats ber«. Anika nickt, und schiebt dann
erzählt. Es könnte so entspannt sein in der institutionellen Kinderbetreu- nach: »Manchmal räume ich heimlich
im Vaterland. Aber: Big Mother is ung und in den eigenen vier Wänden. trotzdem noch mal um.« Dann guckt
watching you. Die Normen setzt in ihrer Wahrneh- sie Richtung Geschirrspüler: »Der ist
Die mütterliche Macht, erzählt mung die Mutter. Sie entscheidet, ob übrigens fertig.«
Schulte und muss lächeln, reiche bis ein Vater »gut« oder »schlecht« ist,
in sein Väterzentrum. Der Laden im wie viel und welcher Spielraum ihm Anika ist noch bis Ende des Jahres in
Prenzlauer Berg ist so was wie eine mit den Kindern gelassen wird: Diese Elternzeit. Sie wollte zwei ganze Jah-
Keimzelle der neuen Papas. Seit Männer, so empfinden viele es, sind re für ihre Tochter daheimbleiben, Jo-
2007 betreibt Sozialpädagoge Schul- nur Papa von Mamas Gnaden. nas begnügte sich mit zwei Monaten
te, 54, drei Kinder, hier seine Oase Wie Familien sich organisieren, ist Elternzeit zu Beginn. Er wollte mehr,
für Väter, wo sie sich unter ihres- eine Frage, die in Deutschland Ein- aber sie wollte nicht abgeben – zu-
gleichen austauschen, entspannen, fluss auf das Leben von 10,7 Millio- Pädagogen- dem stand eine Beförderung für ihn
sich fortbilden und professionellen nen Kindern unter 14 Jahren und de- Papa bevor. Anika arbeitet in der Ganz-
Rat finden. Was als Pilotprojekt be- ren Eltern hat. Eigentlich ist es banal: tagsbetreuung einer Grundschule,
gonnen hatte, ist inzwischen eine Säu- Familien sind Systeme – verändert Jonas leitet seit März einen Kinder-
le der Berliner Familienbildungsar- sich einer, verändert sich alles. Auf Nicht nur von garten, zuvor war er sechs Jahre lang
beit mit dem Fokus auf Väter. den berechtigten Ruf nach neuen Vä- Beruf Erzieher: Erzieher.
Doch egal, wie etabliert und er- tern, schwant nun den Frauen, kann Kitaleiter Gerade deshalb weiß er, wie wert-
Victoria Jung / DER SPIEGEL
folgreich die Arbeit für moderne Vä- die Antwort der Mütter nicht sein: Koziorowski voll die ersten Jahre mit dem Kind
ter inzwischen ist, eines hat sich Ich will so bleiben, wie ich bin. »Frau- sind. »Ich hätte gerne mehr Elternzeit
kaum geändert: Es komme immer en leben leider immer noch nach verzichtet für Thea genommen«, sagt er, »am
noch vor, erzählt Schulte, dass drau- der Ideologie von der guten Mutter für seine Frau Ende mussten wir einen Kompromiss
ßen vor der Tür ein Auto halte. Vater und übertragen diese auf den Vater«, auf Elternzeit. schließen.« Der sieht so aus: Anika
und Kind bleiben im Wagen sitzen, sagt die renommierte Schweizer Er- bekam die zwei Jahre, er steckte frei-
willig zurück. Beim zweiten Kind will ein Umdenken schon in der Sprache.
er länger mit daheimbleiben, ein »Wenn wir von Ärzten reden, sollen
Sabbatical nehmen, dafür sparen sie Ärztinnen mitgemeint sein, und wenn
nun Geld an. Klar hätte er mehr wir von Eltern reden, sollen Mütter
einfordern können, sagt Jonas. Aber und Väter gemeint sein.«
was sei er für ein Vater, wenn er der Es sind Sätze, mit denen feminis-
Mutter die Zeit mit dem Kind ab- tische Bewegungen seit Jahrzehnten
schwatzen will? Wirklich ein besse- argumentieren – unter umgekehrten
rer – oder nur ein egoistischerer? »Es Vorzeichen: »Männer fühlen sich oft
ist wichtig, dass wir als Paar glücklich etwas verloren unter Müttern, bei
sind und alles offen ansprechen kön- Krabbel- und Babygruppen starren
nen«, sagt Jonas. sie Löcher in die Luft, weil sich
Gespräche allzu oft um Themen wie
Die Elternzeitmonate nach der Ge- Brustentzündung nach dem Stillen
burt sind seit ihrer Einführung 2007 drehen.« Dass Frauen diesen Raum
so etwas wie der Leitindex für die brauchen, sei unbestritten – dass er
Bewertung von Vätern geworden. den Männern oft fehle, ein Problem.
Inzwischen sind 25 Prozent der El- Der Papa, der anpacken will und
terngeldbeziehenden Männer, die kann, bleibe laut Tunç so »eine unge-
wenigsten beantragen mehr als zwei nutzte Ressource«. Väter müssten
Monate. Die sind gemeinhin als »Vä- sich mehr engagieren, und die Politik
termonate« bekannt, was eine irre- müsse helfen, dass sie wahrgenom-
Unter dem abwertenden Blick. Nicht jeder, In all den Jahren mischte sich in den Alltag
der arbeiten geht, mache das für eine Karrie- Väter von heute immer wieder das Gefühl, »allein auf weiter
re; vielleicht geht er nur arbeiten, um Geld Flur« zu sein, allein unter Müttern, die ein-
zu verdienen für seine Familie. Weil er muss. Bezugsdauer von Elterngeld* fach das taten, was für sie selbstverständlich
in Deutschland, 2020, in Monaten
Wer gibt das schon gern zu, wer geht in den war: Zeit mit ihren Kindern zu verbringen –
Konflikt? Väter fühlen sich zu wenig ge- in großen Teilen ohne den Mann. »Für mich
schätzt für das, was sie für die Familie leis- und meine Frau war dagegen von Anfang an
ten. Mütterliche Sorgearbeit sei dagegen oft klar: Die Kindererziehung teilen wir uns«,
positiv besetzt. 15 sagt Meyer, und zwar fifty-fifty. »Wie sollte
Abends tippt Saydam am Schreibtisch die es sonst gehen?«
Ergebnisse seiner Umfrage in eine Excel- 4 Drei Söhne hat er, mit seiner Frau lebt er
Tabelle. Die Antworten auf Frage Nummer inzwischen in Trennung, doch ein Elternteam
vier überrascht selbst ihn: Mehr als 50 Pro- Mütter Väter sind sie noch immer. Meyer wohnt im angren-
zent der von ihm interviewten Männer * Durchschnitt, Basiselterngeld und Elterngeld Plus
zenden Stadtteil und ist an drei Nachmittagen
bezweifeln demnach, dass für Kinder unter (bis zu 28 Monate), Prognose pro Woche bei den Kindern im Haus der Fa-
drei Jahren die Mutter »wichtiger« sei als S Quelle: Destatis milie, am Wochenende sehen sie sich im
◆
der Vater. Nur spiegelt sich das überhaupt Wechsel. Er bringt seine Söhne zu den Pfad-
nicht in ihrem Leben. Vollzeiterwerbstätige* findern, zum Schauspielunterricht oder spielt
mit Kindern unter 6 Jahren in Deutschland,
2019, in Prozent mit den Jungs American Football im Park.
Gerade die frühkindliche Bindung ist ent- Ein Papa, der seine Vaterschaft nicht erst bei
scheidend und prägend – auch für das Vater- der Trennung entdeckt hat.
Kind-Verhältnis. Saydam rät den Männern: Leicht war Meyers Weg nicht. Sein fester
Sei schon während der Schwangerschaft Papa, Wille, in Teilzeit zu arbeiten, führte zu einer
nimm Kontakt auf zum Kind. Wenn die Män- 93 Odyssee auf dem Arbeitsmarkt, sagt er. Er
ner ihn dann mit zweifelnden Blicken an-
schauen, erzählt er, wie er es selbst gemacht
27 sei schließlich in Jobs gelandet, die ihn un-
terforderten.
hat: »Ich habe dem Baby im Bauch vorgesun- »Ich war zeitweise nah an der Verbitte-
gen, mit ihm gesprochen.« Natürlich wisse er Mütter Väter rung«, sagt Meyer. Er kann nicht verstehen,
nicht, ob das dem Ungeborenen gefallen * zwischen 20 und 49 Jahren
dass die Wirtschaft bestens qualifizierte
habe: »Aber mir hat es etwas bedeutet.« S Quelle: Destatis Arbeitnehmer verprelle, nur weil sie nicht
◆
Papa sein von Anfang an also. »An der 40 Stunden pro Woche arbeiten wollten. Gut
Art, wie Männer ihre Vaterschaft leben, lässt Erwartungen an Väter verbinden lassen sich für ihn Familie und Job
sich sehr viel über Geschlechterverhältnisse dieser Generation und eigentlich erst, seit er sich als IT-Berater
zeigen«, sagt der auf Familien spezialisierte einer Generation zuvor in Deutschland, selbstständig gemacht hat. »Heute verdiene
Soziologe Simon Bohn. Was haben Frauen in Prozent ich dreimal so viel wie früher – und wenn ich
zu leisten und was die Männer, unter welchen mich gerade um die Kinder kümmere, dann
Erwartungen ächzen sie jeweils? Im Prinzip So viel Zeit wie möglich mit interessiert das keinen, ich sag einfach, ich
den Kindern verbringen
seien es immer noch die über Dekaden ver- kann nicht.«
festigten Mutterschaftsideale, die darüber ent- 84 Sind also die Regeln der Arbeitswelt das
scheiden, was in Familien heutzutage geht – 30 Hindernis für Männer, oder sind sie eine will-
und was nicht. kommene Ausrede – für Mutter und Vater?
»Es gibt eingeschliffene Praktiken und Er- Um das Baby kümmern, »Den Kampf um die Teilzeitstellen müssen
z.B. Windeln wechseln
wartungen, die an Mütter gestellt werden und tatsächlich die Väter in die Unternehmen
denen sie irgendwie entsprechen müssen, um 75 tragen«, fordert der Berliner Berater Schul-
als gute Mutter gesellschaftliche Anerken- 14 te. Denn solange Frauen und Männer un-
nung erfahren zu können«, sagt Bohn, 35, terschiedlich bezahlt werden, einigen sich
der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Um die Kinder kümmern, wenn sie krank Paare meistens darauf, am höheren Einkom-
sind, z.B. mit ihnen zum Arzt gehen
Friedrich-Schiller-Universität Jena empiri- men festzuhalten. Noch immer arbeiteten
sche Sozialforschung lehrt. Man denke nur 72 nur 6,4 Prozent der erwerbstätigen Väter
an die sehr verbreitete Vorstellung, dass ge- 20 mit minderjährigen Kindern 2019 in Teilzeit,
sundes Heranwachsen von Babys durch müt- bei den Frauen waren es 66,2 Prozent – gut
terliche Nähe und durch Stillen ermöglicht Im Beruf kürzer treten, um mehr Zeit zehnmal so viele.
für die Kinder zu haben
wird, sagt Bohn. »Schon für diese erste frühe Und wie es so ist mit der Mehrheitsdyna-
Phase gibt es also Räume, die primär von 38 mik: Mütter rühmen sich großer Weisheit,
Müttern besetzt sind.« 6 wenn es um ihre Domäne geht. Sie halten es
Bohn erforscht Erfahrungen, wie sie Mi- nicht aus, wenn der Vater dem Kleinkind den
chael Meyer machte, vor 18 Jahren, als sein Alle wichtigen Entscheidungen gestreiften Pulli zur karierten Hose anzieht.
für die Familie treffen
erster Sohn geboren wurde. Beim Baby- Sie runzeln die Stirn, wenn er vom Einkaufen
schwimmen kam er sich fehl am Platz vor. 21 eine andere Windelmarke mitbringt als sie.
»Die Mütter waren nicht unfreundlich«, sagt 69 Stellen Väter ihren Kindern Fragen, antwor-
Meyer. »Aber sie haben sich für mich nicht ten gern stellvertretend die Mütter.
interessiert.« Keine, die mal gefragt hätte: Für den Unterhalt der Familie sorgen Die Mutterliebe? Für Väter eine fürsorg-
Wie machst du das mit deinem Kind? Die ge- 67 liche Belagerung, eine Festung. Im Vaterland
sagt hätte: Cool, endlich mal ein Vater! Das sprechen alle die Muttersprache. »Maternal
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blieb auch später so, beim Eltern-Kind-Tur- Gatekeeping« heißt das Stichwort, das viele
nen, auf dem Spielplatz, beim Abholen aus S Quelle: IfD-Allensbach-Umfrage unter Frauen als Kampfbegriff empfinden. Sie be-
◆
derte die Erfahrung gemacht haben, Vater. In dieser Konstellation ent- Aber kaum eine Arbeit, auch das
dass im Zweifelsfall doch wieder vie- scheiden sich die meisten Männer gehört zur Wahrheit, gibt einem so
les an ihnen hängen bleibt. Warum wahrscheinlich nicht für eine Redu- viel Anerkennung und Bedeutsam-
also, fragen sie sich, wollen Männer zierung – irgendwer muss ja die keit wie die bedingungslose Liebe
jetzt eigentlich gefeiert werden für Lauflernschuhe, das Playmobil, den eines Kindes.
etwas, was Mütter schon immer ge- Hauskredit bezahlen. »Mütter nehmen diese kindliche
tan haben? Es gibt Mütter, die haben sich Hingabe viel intensiver für sich in
gut eingerichtet in ihrer Hafermilch- Anspruch als Väter«, hat der Vater-
Nicht wenige Männer leben ihr Dad- Cappuccino- und Vierkorn-Milchbrei- coach Carsten Vonnoh, 39, aus
dy-Heldentum gern auf öffentlicher Bubble. Manchmal haben Väter das Weimar beobachtet. Daran müsste
Bühne aus, schwingen sich wie Tar- Gefühl, Mütter nutzten das Kind als sich etwas ändern, damit Väter eine
zan über Spielplätze und hoffen auf Schutzschild, um eine lieb gewonne- neue Rolle finden können, sagt
Bewunderung, melden sich eifrig als ne Zone nicht wieder verlassen zu Vonnoh, und er ist überzeugt, dass
Erster beim Elternabend und beein- müssen – auch dann, wenn der Nach- alle davon profitieren, insbesondere
drucken beim Abgeben in der Kita wuchs schon älter ist und längst allein das Kind: »Es wird sich meist besser
gern die Praktikantin mit übertriebe- nachmittags zum Musikunterricht entwickeln, weil nicht ein Mensch
nen Liebesbeweisen fürs Kind. Am fahren könnte. ihm allein alles geben kann. Wenn
Abend, ohne Publikum, sind sie dann Sie sehe da aber kein Massenphä- es verschiedene enge Bezugsperso-
vom neuen Vatersein so erschöpft, nomen, sagt Claudia Zerle-Elsäßer, nen hat, lernt es, dass es verschie-
dass die Wäsche von der Mutter ge- Soziologin am Deutschen Jugend- dene Möglichkeiten gibt, Situatio-
waschen werden muss. Fulltime- institut in München. Es gebe ja auch nen zu regeln und Probleme zu
Denn es stimmt ja, die Kerle ka- Job-Vater kaum Veranlassung, mehr Engage- lösen.«
men nicht von allein aus dem Knick, ment oder gar eine Arbeitsstunden- In Norwegen beispielsweise kön-
erst der Feminismus hat ihnen Beine reduktion des Mannes abzulehnen – nen Männer zwei Wochen Sonder-
gemacht. Mütter forderten zu Recht Unternehmer erst recht nicht langfristig betrachtet. urlaub für die Zeit direkt nach der
andere Väter. Wenn die sich nun Iwersen sieht Was soll gut sein an ökonomischer Geburt beantragen, zusätzlich zur
wirklich bewegen – auf die Mütter sich trotz Ar- Abhängigkeit, an nicht erfüllten Be- Möglichkeit einer elterngeldfinanzier-
zubewegen, in deren einstige, viel- beitsbelastung rufswünschen gut ausgebildeter Frau- ten Väterzeit. Das Kalkül: Wenn sie
leicht letzte Domäne –, dann wird es im Büro als en? Zerle-Elsäßer nimmt zugleich sofort eingebunden sind in die Ver-
plötzlich eng. die Männer in die Pflicht: »Väter antwortung fürs Kind, wird sich das
Verteilung ist das Stichwort: Alle Vater in der müssen gegenhalten, wenn sich die aufs ganze Leben auswirken – und
haben das Gefühl, zu kurz zu kom- Großfamilie Frau der gleichberechtigten Sorge- langfristig Gleichberechtigung be-
men, obwohl vielleicht alle längst verankert. arbeit versperrt.« günstigen. Obwohl die deutschen El-
sehr viel leisten. Mama und Papa su- terngeldregelungen vergleichsweise
chen Wertschätzung. Warum geben gute Möglichkeiten bieten, hat der
sie sich die nicht gegenseitig? Männer, Vaterschaftsurlaub laut Soziologe
so die Beobachtungen der Expertin- Bohn einen Vorteil: »Das Format ist
nen und Experten, sind zu still und vielleicht niedrigschwelliger als eine
zu wenig wehrhaft. Frauen seien zu längere Elternzeit.« In einer Online-
wertend. Es ist dabei kein Trost für petition fordern vor der Bundestags-
Papas, dass Mütter im Urteil über an- wahl verschiedene Initiativen eine Va-
dere Mütter noch giftiger sein können terschaftsfreistellung mit Lohnfort-
als bei der Bewertung des eigenen zahlung im Umfang von zehn Tagen
Partners. zur Geburt, vergleichbar dem gesetz-
Zeit, Geld und Anerkennung sind lichen Mutterschutz.
die großen Ressourcen, die Mütter Klischees und Zuschreibungen für
und Väter erst mal organisieren müs- Geschlechter sind hartnäckig, weil sie
sen. Wenn es um Zeit und Geld geht, permanent wiederholt werden, in
müssten Männer nur vermehrt ihren Schlagzeilen, als Stoff für Kabarettis-
im Arbeitsrecht verbrieften An- ten, genauso wie in Gesprächen an
spruch auf Teilzeit wahrnehmen – Familientischen: Männer können
und schon sind alle Vereinbarkeits- nicht Wäsche waschen, Frauen nicht
probleme gelöst? einparken? Darüber kichern auch
So einfach ist es nicht. Denn zum dann noch viele, wenn es längst um-
einen ist die Bereitschaft längst nicht gekehrt sein sollte. Rechtsprechung
bei allen Männern da, ihre Anerken- und Gesetzgebung betonieren eben-
nung im Job und einen Teil ihres Ge- falls die Rollenverteilung in »gute
halts, ihrer Macht abzugeben. Zum Mütter« und »Ernährer-Papas«.
anderen gibt es Wechselwirkungen Doch über die Qualität von Vater-
zwischen den Elternteilen. Untersu- schaft, sagt Väterberater Schulte, ent-
chungen legen nahe, dass Mütter für scheidet eben nicht nur die Zahl der
aktive Vaterschaft sorgen können, in- Elternmonate oder der zu Hause
Victoria Jung / DER SPIEGEL
dem sie selbst mit einer hohen Stun- verbrachten Stunden durch Teilzeit.
denzahl in den Beruf zurückkehren. »Elternschaft ist ein Langzeitprojekt
Anders gesagt: Eine Mutter, die nach mit vielen verschiedenen Phasen,
ihrer Elternzeit lediglich 15 Wochen- wichtig für Kinder sind die Verläss-
stunden arbeiten will, schafft schlech- lichkeit und die Qualität der Verbin-
te Voraussetzungen für einen aktiven dung«, sagt Schulte. Keine Mutter
Harald Seehausen, 76, absolvierte eine Franz Funkel, 28, hat drei Kinder und ar- keit und Disziplin. Und er machte mit uns
Ausbildung zum Industriekaufmann, studier- beitet auf einer Teilzeitstelle bei einem Bil- Kindern Sport und verteilte kleine Aufgaben:
te dann Wirtschaftspädagogik, Sport und dungsträger. Als sein erstes Kind zur Welt kam, Wir mussten die Mitgliedsbeiträge des Fuß-
Deutsch sowie Kinderpädagogik und Er - hatte er gerade mit seinem Studium in Public ballvereins einsammeln, die Lederbälle säu-
wachsenenbildung. Er war Grundschullehrer Management begonnen. Damit seine Frau bern und wachsen. Das empfand ich als eine
und 25 Jahre lang Sozialwissenschaftler beim ihre Ausbildung beenden konnte, blieb er ein andere Form der freundlichen Begegnung.
Deutschen Jugendinstitut. Heute leitet er die Jahr lang zu Hause. Beim dritten Kind tat er Panse: Mein Vater war Mathematiklehrer,
private Frankfurter Agentur für Innovation das bewusst noch einmal. Er bloggt unter meine Mutter Deutschlehrerin. Beide waren
und Forschung. Er hat zwei erwachsene @pappa_franz auf Instagram über sein Vater- voll berufstätig, und meine Großeltern unter-
Kinder. sein und lebt mit seiner Familie in einer Klein- stützten sie mit der Betreuung meiner älteren
Michael Panse, 55, war lange als CDU- stadt in Thüringen. Geschwister. Als mein Zwillingsbruder und
Landtagsabgeordneter in Erfurt für Sozial- ich zur Welt kamen, gab meine Mutter ihren
und Familienpolitik zuständig. Von 2010 bis Beruf als Lehrerin auf und stieg erst Jahre
2015 war er Beauftragter der Landesregierung SPIEGEL: Herr Seehausen, Herr Panse, Herr später wieder als Horterzieherin ein. Mein
für das Zusammenleben der Generationen. Er Funkel, wie waren Ihre eigenen Väter? Vater absolvierte damals ein berufsbegleiten-
hat drei Söhne im Alter von 31, 19 und 13 Jah- Seehausen: Für die emotionale Wärme war des Studium, ich erlebte ihn auch später oft
ren, alle drei haben unterschiedliche Mütter. meine Mutter zuständig. Von meinem Vater
Die Trennung erfolgte jedes Mal, als die Kin- erfuhr ich wenig Zärtlichkeit, aber er vermit- Das Gespräch führte die SPIEGEL-Redakteurin Heike Klovert
der drei bis vier Jahre alt waren. telte mir preußische Tugenden wie Pünktlich- in Erfurt. Eine Langfassung finden Sie auf SPIEGEL.de.
am Schreibtisch sitzend, wie er Klassenarbei- meine Vaterrolle erst angenommen, als es für bleibt liegen, Harald!« Ich stand jahrelang
ten korrigierte. Im Urlaub war er für uns da, die Beziehungen zu spät war. jeden Morgen um fünf Uhr auf, um meine
aber er hätte keine Suppe kochen können. Zu SPIEGEL: Herr Funkel, Sie haben ebenfalls Aufgaben im Haushalt zu erledigen und die
Hause führte meine Mutter das Kommando. drei Kinder, für die Sie insgesamt mehr als Kinder zu versorgen. Das fand ich körperlich
SPIEGEL: Herr Funkel, Sie sind etwa so alt zwei Jahre Elternzeit genommen haben. Wie belastend. Doch am Ende hatten wir 36 glück-
wie Herrn Panses ältester Sohn. Wie sind Sie kam das? liche Ehejahre miteinander, bis sie an Krebs
aufgewachsen? Funkel: 2012 wurde meine Freundin unge- verstarb.
Funkel: Mein Vater ging kurz nach der Wen- plant schwanger, ich war damals 20 Jahre alt, SPIEGEL: Herr Funkel, wie war Ihr erstes Jahr
de nach Frankreich, um dort sein Lehramts- sie war in der Ausbildung und ich im Studium. als Vollzeitvater?
studium zu beenden. Ich bin 1992 geboren, Wir beschlossen, dass ich ein Jahr lang zu Funkel: Es war schwierig, weil ich versuchte,
also sozusagen ein Mitbringsel von dort. Ich Hause bleibe, weil wir es für die sinnvollste verschiedene Rollen gleichzeitig einzuneh-
glaube, für meine Eltern war das eine Zeit, Entscheidung hielten. Doch wir bekamen von men. Ich wollte Vater und zugleich ein Mann
in der sie sich mehr verwirklichen konnten allen Seiten Widerstand, von Teilen meiner sein, der am Wochenende seine Kumpels
als vorher in der DDR. Wir wohnten dann Familie, meinen Kommilitonen, von Freun- trifft. Doch dabei verliert man sich ganz
mit meinen Großeltern auf einem Hof, meine den, von der Kinderärztin. Alle sagten: »Das schnell. Ich habe es dann aufgegeben, mit
Mutter arbeitete in Halle und war von früh- geht doch nicht.« Es ging dann doch. meinen Freunden an die Ostsee zu fahren
morgens bis abends weg. Deswegen wurden SPIEGEL: Welche Vorbehalte sind Ihnen be- oder regelmäßig abends mit ihnen Poker zu
wir eigentlich von unseren Großeltern er- gegnet? spielen. Viele ließen durchblicken, dass sie
zogen. Funkel: Bei der Kinderärztin wollte mir die Mitleid mit mir hatten, weil ich zu Hause fest-
Seehausen: Mutter und Vater hatten bei uns Sprechstundenhilfe erklären, wie ich mein gehalten werde. Doch ich selbst fand das
eine starre Rollenaufteilung. Mir ist erst viel Kind auszuziehen habe. Auf Familientreffen nicht schlimm, die Saufgelage fehlten mir
später bewusst geworden, dass dieses klar de- liefen die Omas zu meiner Freundin, wenn nicht. Mein Freundeskreis sortierte sich um.
finierte Zusammenleben für meine eigene unser Sohn die Windel voll hatte. Und ich Als meine Freundin mit unserem zweiten
Identitätsentwicklung sehr positiv war. Es hat saß untätig mit anderen Männern auf dem Kind in Elternzeit ging, genoss ich es aller-
mir Sicherheit gegeben. Sofa herum und fragte mich: Woher kommt dings auch sehr, arbeiten zu können, zum
Funkel: Das habe ich ähnlich erlebt. Die Rol- das nur? Feierabend nicht ständig auf die Uhr schauen
len der Oma und des Opas waren bei uns Seehausen: Immerhin ist es heute möglich, zu müssen und abends auch mal länger weg-
sehr eindeutig. Sie gingen liebevoll miteinan- dass Väter so lange aus ihrem Beruf ausstei- zubleiben.
der um, aber mein Opa hätte niemals für alle gen, vor 20 Jahren wäre das undenkbar ge- Seehausen: Ich habe selbst einige Vätergrup-
Nudeln gekocht, er hat uns stattdessen mit wesen. Vor der Wiedervereinigung gab es in pen gegründet, und dort habe ich es oft erlebt,
in die Werkstatt genommen. Sie hatten ihre DDR und BRD das Recht auf höchstens einen dass Männer damit überfordert waren, sich
Identität gefunden. Ich glaube, meine Eltern Hausarbeitstag pro Monat, und den konnten auf ihre kleinen Kinder einzulassen, mit ih-
hingegen wissen bis heute nicht so richtig, in der Regel nur Frauen nehmen, ebenso wie nen Rollenspiele zu spielen oder so. Das muss
wer sie sind und was von außen von ihnen Babyjahr und Erziehungsurlaub in Ost und man lernen, und dafür braucht es mehr An-
erwartet wurde. West. Die Einführung der Elternzeit im Jahr gebote für Väter.
SPIEGEL: Das klingt so, als wären moderne 2001 war ein ungeheurer Reformschritt. Funkel: Auch mir fällt das bis heute nicht
Väter zu bemitleiden? SPIEGEL: Wären Sie früher auch gern zu Hau- leicht, obwohl ich so viel Zeit mit meinen Kin-
Panse: Was das mit Vätern macht, hängt sehr se geblieben, Herr Seehausen? dern verbringe. Deshalb habe ich zwei Tage
davon ab, ob sie ihre neue Rolle annehmen Seehausen: Ich habe immer Vollzeit gearbei- lang das Seminar eines Coachs besucht. Dort
oder sich dagegen wehren. Ich habe sie über tet, aber ich bekam von meinen Kindern haben wir darüber gesprochen, wie man ein
viele Jahre abgelehnt, und das bedaure ich trotzdem viel mit, weil ich mir als Sozialwis- guter und authentischer Vater sein kann.
sehr. Ich sehe heute den Unterschied bei mei- senschaftler meine Zeiten recht flexibel ein- SPIEGEL: Hätte Ihnen so etwas damals auch
nem Sohn: Meine Enkeltochter ist vier Jahre teilen und oft Homeoffice machen konnte. geholfen, Herr Panse?
alt, für sie ist Papa schon lange eine gleich wich- Ich hatte zu ihnen ein ganz anderes Verhältnis Panse: Ich wäre nicht zugänglich gewesen
tige Bezugsperson. Wenn sie hinfällt und sich als mein Vater zu mir, wir waren und sind für Ratschläge und Seminare. Als sozialpoli-
wehtut, geht sie gleichermaßen zu Papa oder uns viel näher. Bis zu diesem gleichberech- tischer Sprecher der CDU-Fraktion hielt ich
zu Mama, um sich Trost abzuholen. Das wäre tigteren Miteinander, auch mit meiner Frau, schlaue Reden über Familienpolitik, stritt um
bei meinen Söhnen unvorstellbar gewesen. war es allerdings ein langer und harter Aus- Vätermonate und hospitierte zwei Wochen
SPIEGEL: Was hat Sie daran gehindert, als handlungsprozess. lang in einer Kita. Das änderte trotzdem
Vater präsenter zu sein? SPIEGEL: Wie sah der aus? nichts bei mir. Alle Kollegen wussten: Zu Hau-
Panse: Ich stieg in den Neunzigerjahren in die Seehausen: Wir studierten in den Sechziger- se lebt er das, was er predigt, selbst nicht. Ich
Politik ein, saß bald für die CDU im thüringi- jahren in Frankfurt, da ging es hoch her, mei- redete mich heraus, dass mir die Zeit fehle,
schen Landtag. Das war alles neu und span- ne Frau war in der Emanzipationsbewegung dass ich in der Rolle des Ernährers sei. Tat-
nend, ich wollte mich selbst verwirklichen. sehr aktiv. Wenn ich als angehender Wissen- sächlich fehlte mir die Willensstärke, mich
Und meine damalige Frau war Kindergärtne- schaftler am Wochenende auf Bildungsver- von diesem beruflichen Höher-schneller-wei-
rin, sie blieb zunächst gern zu Hause. Doch anstaltungen herumgetanzt war, sagte sie: ter zu verabschieden. Aber jetzt ist es für vie-
als unser Sohn etwa zwei Jahre alt war, wollte »Du machst trotzdem die Wäsche, oder sie les zu spät. Die Phase, in der meine Kinder
sie wieder regelmäßig Sport machen. Und ich aufwachsen, habe ich verpasst, und sie
sagte ihr: »Nein, das geht nicht, ich bin an fünf kommt nicht wieder.
Abenden in der Woche nicht da.« Ich war auf SPIEGEL: Was machen Väter anders?
wichtigen und pseudowichtigen Veranstaltun- Funkel: Mein Stiefvater ist Naturforscher und
gen, um als Politiker präsent zu sein. Wir trenn- »Mütter sollten Ver- klettert mit unserem Sechsjährigen an Steil-
ten uns, ich fand eine neue Partnerin und hängen herum und übernachtet in Höhlen.
machte denselben Fehler noch einmal. Heute antwortung abgeben und Wenn wir ein paar Tage später die Fotos zu-
habe ich drei Söhne von drei Müttern, und den Vater nicht nur geschickt bekommen, möchte meine Freun-
keine war damit einverstanden, dass sich mit din am liebsten sagen: »So etwas bitte nicht
der Geburt des Kindes für sie ganz viel verän- pseudomäßig einbinden.« mehr, da könnte ja so viel passieren.« Darü-
derte und für mich praktisch nichts. Ich habe Franz Funkel ber streiten wir jedes Mal.
Seehausen: Wir haben beim Deut- Viele Mütter machen den Vätern Vor- gescheitert dastehen könnte. Und wir,
schen Jugendinstitut männliche Erzie- schriften und reden ihnen rein. Das Generationen die wir hier am Tisch sitzen, müssten
her über einen längeren Zeitraum führt bei den Vätern oft zu Angst, sie im Konflikt uns darum eigentlich viel weniger Ge-
beobachtet, und dabei zeigte sich: Sie wollen keinen Fehler machen. danken machen als Väter, die wirt-
waren durchweg eher bereit als Erzie- SPIEGEL: Was sind die größten Hür- schaftlich nicht so gut gestellt sind.
herinnen, Risiken einzugehen, um den für moderne Familien? Panse mit Funkel: Diese Angst teile ich nicht,
Kindern zu ermöglichen, sich mit Ge- Seehausen: Drohende Arbeitslosig- meine Freundin steuert mehr Geld
fahren auseinanderzusetzen. keit … Zwillingsbruder bei als ich. Das war aber eine bewuss-
SPIEGEL: Woran liegt das, an den Ge- Panse: … und der hohe Erwartungs- und Vater Karl te Entscheidung: Ich habe meine Kar-
nen oder an der eigenen Erziehung? druck. Mindestens die eigenen Eltern 1967, Seehausen riere erst mal hintangestellt und mir
Funkel: Ich erinnere mich an den erwarten noch, dass sich die Väter mit Sohn und eine Tätigkeit gesucht, die mir Spaß
fünften Geburtstag meines Sohnes, um die wirtschaftliche Absicherung Enkelkindern macht, die aber eben auch familien-
die Jungs kletterten auf dem Hoch- der Familie kümmern. Dieses Rollen- freundlich ist. Geld interessiert mich
bett herum, ein Mädchen stand mit muster ist nicht so leicht wegzukrie- 2011, Funkel wirklich null.
glasigen Augen am Rand und sagte: gen. Ich spüre bis heute die Angst, mit Familie im SPIEGEL: Hat die Coronakrise Män-
»Ich kann da nicht hochklettern, Mäd- dass ich als Ernährer der Familie als Frühjahr ner und Frauen in klassische Rollen
chen sind nicht mutig.« Kindern wird zurückgedrängt, oder hat sie den
oft unterschwellig vermittelt, was sie Wandel beschleunigt?
sich trauen dürfen. Seehausen: Ich erlebe beides. Vieles
Seehausen: Aber die Väter gebären wurde auf dem Rücken der Frauen
die Kinder nicht! Das tun die Frauen. ausgetragen, aber nicht alles. Eine
Und dadurch entsteht ein tiefgreifen- ganze Reihe von Vätern war im
des Schutzbedürfnis gegenüber dem Homeoffice oder in Kurzarbeit und
Kind. Ich wollte lange nicht akzeptie- hatte deshalb mehr Zeit, die Familie
ren, dass es diesen biologischen Zu- zu entlasten. Und ich beobachte, dass
sammenhang gibt, ich dachte, alles eine große Gruppe von Vätern damit
ist anerzogen. Natürlich spielt die So- beginnt, ihren Beruf zu überdenken.
zialisation eine große Rolle. Aber: Ich SPIEGEL: Haben es Väter heute leich-
habe kein Kind geboren. ter als früher?
Panse: Ich war bei der Geburt mei- Seehausen: Mein Vater hatte eine
ner Kinder dabei. 48-Stunden-Woche. Wir haben die
Seehausen: Ich auch, und es war in 35-Stunden-Woche mit der IG Metall
privat
den Siebzigerjahren gar nicht leicht, erkämpft, und jetzt propagiert die
eine Klinik zu finden, die das erlaub- Linke sogar eine Vier-Tage-Woche.
te. Aber Sie und ich, wir haben nur Diese Veränderungen haben die Spiel-
Händchen gehalten. Wir haben nicht räume von Vätern sehr erweitert. Au-
geboren. Das ist ein Unterschied. ßerdem gehe ich davon aus, dass die
SPIEGEL: Wie müssen sich Mütter moderne Arbeitswelt für viele immer
ändern, damit sich Väter stärker en- uninteressanter und technologischer
gagieren? wird, und mehr Männer andere Orte
Seehausen: Sie müssen mit ihren suchen, um etwas Sinnstiftendes zu
Männern aushandeln, wer für was zu- tun. Dazu gehört Väterlichkeit.
ständig ist, und das konsequent ein- Funkel: Bei mir führt das Vatersein
halten. Dazu gehört auch, dass man zwangsläufig dazu, dass ich bestimm-
sich zofft. Meine Frau und ich, wir te Dinge nicht mache, etwa ein Eh-
haben uns zweimal so gestritten, dass renamt bei der Feuerwehr, weil die
meine Frau meine Koffer vor die Tür Familie mir so wichtig ist. Ich ertappe
gestellt hat. Doch dann habe ich mich mich dabei, dass ich ein schlechtes
entschuldigt, und wir haben es noch Gewissen deswegen habe. Was pas-
privat
HO
SCHMECKE DEN
COL A
T
E
CHANGE
Fair & lecker: Mit dem CHOCEUR CHOCO CHANGER
hat man den Wandel in der Hand! ED T C
AL
AR
Gerade beim Thema ALDI
A ME
Schokolade gibt es viele L
verschiedene Meinungen.
Fakt ist aber, dass 98 %*
unserer kakaohaltigen Ei-
genmarkenprodukte zertifiziert nachhalti-
gen Kakao enthalten – zum Beispiel auch
unser CHOCEUR CHOCO CHANGER.
Zudem setzen wir auf langfristige Kooperationen mit unseren Partnern, um diesen Planungs-
und Einkommenssicherheit gewährleisten zu können. Und unser CHOCEUR CHOCO
CHANGER ist weit mehr: Durch die Kooperation mit Tony’s Open Chain weiß ALDI genau,
wo und unter welchen Bedingungen die Kakaobohnen angebaut werden, und zahlt dafür
höhere Abnahmepreise zusätzlich zur Fairtrade-Prämie. Die ermöglichen wiederum ein exis-
tenzsicherndes Einkommen der Bäuerinnen und Bauern. Zudem helfen ihnen verschiedene
Schulungsmaßnahmen dabei, ihre Erträge zu steigern und professioneller zusammenzu-
arbeiten. Denn noch mehr als
außergewöhnlicher Geschmack
zählen die Menschen und
Ressourcen, die hinter unserem
CHOCEUR CHOCO CHAN-
GER stecken – weil wir es nur
gemeinsam erreichen, eine neue
Norm für die Kakaoindustrie zu
schaffen.
Mehr Infos auf: aldi-sued.de/schokolade und aldi-nord.de/meinungsfreiheit Jeden Tag besonders – einfach ALDI.
* Zertifiziert nach den Programmen Rainforest Alliance, UTZ, Fairtrade und Fairtrade Sourced Ingredient cocoa.
BIOME TRIE
REPORTER
»Wie fälscht man
Fingerabdrücke,
Herr Jung?«
SPIEGEL: Seit Anfang August
muss man seine Fingerabdrücke
abgeben, wenn man einen Per-
sonalausweis beantragt. Ist das
eine gute Idee?
Jung: Das hilft, Fälschungen
vorzubeugen. Andererseits
kann man auch Fingerabdrücke
fälschen.
SPIEGEL: Einfach so, zu Hause?
Jung: Dazu braucht man kein
Labor. Silikon, Holzleim und
Lasur sind beliebt, es reicht ein
Laserdrucker, eine Folie, ein
bisschen Bildbearbeitung ...
SPIEGEL: ... also ich nehme
Leim – und dann?
Jung: Ich möchte hier keine
Anleitung geben, wie Sie einen
Fingerabdruck fälschen. Es gibt
alle möglichen Methoden. Man-
che Kriminelle feilen sich die
Papillen ab, Polizisten haben
mir von Hauttransplantationen
auf den Fingerkuppen erzählt.
SPIEGEL: Kann man Fälschun-
gen unmöglich machen?
Jung: Unser Institut arbeitet im
Auftrag des Bundes an einem
3-D-Scanner für Fingerabdrü-
Aufwachen, 1968 cke. Wir erfassen nicht nur die
Linien, wir gucken mit einem
Lichtwellen-Scanner zwei Milli-
FAMILIENALBUM Jens Schröder, 77, aus Hamburg meter tief in die Haut und bilden
das Gewebe ab.
s war ein langer Abend, mit Wein und Bir- len einem Protestzug hinterher. Ich verbrachte an SPIEGEL: Ist das sicher?
E nenschnaps. Die slowakischen Kollegen fuh-
ren mich zurück. Ich schlief im Auto ein.
Ich wohnte in einem Gästezimmer in der Baufir-
dem Tag mehrere Stunden in der Altstadt, ver-
steckte meine Kamera, eine einfache Voigtländer,
in einer Brötchentüte. Wenn geschossen wurde,
Jung: Erst mal ja. Aber nicht
günstig, unser Forschungsscan-
ner kostet aktuell noch mehr als
ma, in der ich mein Praktikum machte, im Nor- warf ich mich mit Hunderten anderen auf den 90 000 Euro. Deswegen wird es
den von Bratislava. Ein milder Sommer, August Boden. Auf den Stufen vor der Universität lagen weiterhin 2-D-Abdrücke geben.
1968, ich fiel aufs Bett. Die Tschechoslowakei ge- schon Blumen, dort war Danka Kosanova erschos- SPIEGEL: Wozu überhaupt noch
fiel mir mehr, als ich erwartet hatte. Ich war da- sen worden, eine Schülerin, 15 Jahre alt. Fingerabdrücke, es gibt doch
mals 24 Jahre alt, studierte in Hamburg Betriebs- Ich höre heute noch, wie Pflastersteine an bereits Gesichtserken-
wirtschaft und hatte mich für ein Praktikum in diesen Panzern abprallten, klick, klick, klick. nung und die Iris-
Amerika beworben. Keine Chance, nun war ich Einen Panzer bewarfen sie mit Benzinflaschen, Scans?
seit acht Wochen in Bratislava. Meine Kollegen er brannte eine Weile. Rechtzeitig vor der Jung: Die Verfah-
sprachen ordentlich Deutsch, sie zeigten mir Bau- Sperrstunde kehrte ich in mein Gästezimmer ren ergänzen
stellen, ich setzte für sie Briefe an Westfirmen auf. zurück. Mein Praktikum war vorbei. Ich blieb sich, es gibt
Ich ging viel spazieren an der Donau und plante noch eine Woche in Bratislava und machte nicht das eine
schon meinen Urlaub in den Karpaten. Fotos. In den Tagen hätte ich gern meine Familie sichere biometri-
Am Morgen des 21. August weckten mich mei- in Hamburg angerufen, aber die Leitungen sche Merkmal.
ne Kollegen mit den Worten: »Sie sind wieder da, waren tot. Ich schrieb ihnen eine Karte und drück- Solange das Land,
es ist aus!« Ich fragte: »Wer?« Mein Kopf brumm- te sie in der Stadt dem Fahrer eines Opel Kadetts das diese Daten erhebt, ein
te. Sie sagten: »Die Russen!« Wir hatten nie über in die Hand, er hatte ein Lüneburger Kenn- demokratischer Rechtsstaat ist,
Peter Dazeley / Getty Images
Politik gesprochen, meist über Mädchen und zeichen. Er warf sie für mich in Österreich ein. mache ich mir da auch keine
Beton. Ich musste erst mal wach werden, am frü- Aufgezeichnet von Timofey Neshitov Sorgen. NES
hen Nachmittag ging auch ich in die Stadt. Dieses
Foto machte ich an der alten Donaubrücke, es ist ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Norbert Jung, 61, leitet das Institut
meine persönliche Erinnerung an den Prager Früh- Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: für Sicherheitsforschung an
ling: Sowjetische T-55-Panzer heulen auf und rol- familienalbum@spiegel.de der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
All das erzählt Jörg Agthe, wäh- Fragen des Lebens, sei er mit allen
rend er sich an sein Stehpult im Bür- uneins gewesen. Was bedeutet Glück,
germeisterbüro lehnt, um ihn herum was bedeutet Liebe, wann sind wir
türmen sich Aktenstapel, unter dem zufrieden, was ist der größte Wunsch,
Schreibtisch stehen Hausschuhe den man im eigenen Leben hat? Wenn
bereit, aber keine Sorge, scherzt Ag- man bei diesen Fragen von Beginn an
the, es befinde sich kein Klappbett Kompromisse machen müsse, sei das
im Schrank. kein gutes Zeichen, sagt Jörg Agthe.
Wenn Agthe spricht, hält er Blick- Der Funke sei einfach nie überge-
kontakt mit seinen hellen, blauen sprungen.
Augen, er redet langsam und bedacht, Gelesen habe er mittlerweile alle
beugt dabei seinen Oberkörper vor, Briefe, mit einigen Frauen sei er noch
als wollte er sagen: Ich gehöre ganz in Kontakt, sagt Jörg Agthe. Doch bei
Ihnen. Er wirkt ruhig, er scheint all den meisten schafft er es einfach nicht
seinen Tätigkeiten Zeit und Aufmerk- zu antworten. Jana Luck ■
noch gewinkt, dann sei er zurückgeflogen, net haben. Was sie mit diesem Landstreifen Sie wird sich, auf ihre Art, vorbereiten auf
Richtung Meer. Am nächsten Morgen fielen vorhaben, haben die Türken nicht gesagt. den Besuch des türkischen Präsidenten Recep
Napalmbomben auf Famagusta. Tasoula Hadjitofi lebt in Den Haag mit Tayyip Erdoğan. Er soll drei Tage nach ihrer
Ihre Mutter habe Tasoula und ihre Schwes- ihrem Mann, einem Shell-Manager, auf ei- Ankunft nach Famagusta kommen.
tern im Keller versteckt, habe eine Steckdose nem 3500 Quadratmeter großen Grundstück Vor allem aber wird sie versuchen, zum
aufgeschraubt und gezeigt, wie man einen neben dem Königspalast. Sie wird vier Tage Haus ihrer Familie zu gelangen. Drei Zimmer
Kurzschluss verursacht. Kein türkischer Soldat in Famagusta verbringen. In dieser Zeit wird waren es nur, unverputzte Wände, Hühner
sollte sie lebendig anfassen. Tasoula war 15. sie kaum schlafen und viel reden mit Men- im Hof. An jenem Morgen vor 47 Jahren, am
An diesem Morgen im Juli 2021 zögert sie schen wie sie, die nach Hause zurückgekehrt 14. August, als die türkische Armee weitere
eine Weile vor dem Drehkreuz am Check- sind. Sie wird imaginäre Gespräche führen Einheiten auf die Insel schickte, ließen sie
point. Funkgeräte knistern, es ist neun Uhr mit denen, die sie verantwortlich macht für ihre Tassen auf dem Küchentisch stehen und
morgens, 38 Grad im Schatten. Sie ist gekom- den ungelösten Zypernkonflikt: mit Politi- stiegen in den Lkw ihres Vaters.
men, weil die Türken Varosha wieder geöff- kern in Ankara, Athen, Nikosia, Washington.
TAG 1
Vertriebene Hadjitofi in Famagusta Tasoula Hadjitofi läuft nur wenige Meter, die
Straße, auf der sie steht, ist frisch asphaltiert,
hinter dem Checkpoint ist ein Kiosk. Es gibt
Kaffee und Chips, man kann sich Mountain-
bikes ausleihen. Sie guckt diesen Kiosk an,
als wäre er ein Meteorit. Ihre Beine zittern.
Ein Bus kommt aus der Richtung, in der
sie als Kind lebte, er hält vor dem Kiosk und
lässt Menschen heraus, Frauen mit Kopftuch,
Kinder mit Schwimmringen. Der Fahrer trägt
Mundschutz am Kinn, er fahre gleich wieder
los, sagt er, zehn türkische Lira.
Er fährt zu schnell für sie. Sie dreht ihren
Kopf von links nach rechts, macht den Mund
auf und zu. Palmen, Akazien, Bougainvilleen
ziehen an ihr vorbei, sie verdecken Laden-
und Straßennamen. Es riecht nach Lorbeer
und Oleander. Als der Bus am Kreisverkehr
nach rechts abbiegt, klatscht sie in die Hände.
Sie erkennt neun rote Buchstaben: Edelweiss.
Der Bus biegt in die Apostel-Andreas-Stra-
ße ab, beschleunigt auf der Kennedy-Avenue,
umfährt eine türkische Kaserne. Vor einem
Kiosk mit Meerblick kommt er zum Stehen.
Endstation, Plastikstühle, türkischer Kaffee,
ein Polizist mit Sonnenbrille.
»Wo sind die Straßen?«, fragt Hadjitofi. Es
ist nicht klar, wen sie das fragt. Von der Ken-
nedy-Avenue, Famagustas Flaniermeile, führ-
ten früher Straßen ab. Tasoula Hadjitofi sieht
nur Bäume und Absperrseile.
Hinter dem Plastikstuhl, auf dem der Poli-
zist sitzt, beginnt ein Weg, er ist zugewuchert,
aber begehbar. »Welche Höhe sind wir?«,
fragt sie den Polizisten. »Mein Haus ist in der
Esperidon-Straße.«
Der Polizist zuckt mit den Achseln.
»Bitte«, sagt sie, »ich muss hier runter, nur
100 Meter, dann rechts rein.«
Der Polizist zeigt auf das rote Warnschild
im Hibiskusbusch: »Achtung, es ist gefährlich,
markierte Wege zu verlassen.«
Das Viertel ist zwar offiziell offen, in Wahr-
heit ist der größte Teil weiterhin Militärgebiet.
Der Polizist erzählt ihr von Schlangen, von
Dächern, die einstürzen könnten.
»Hinter Ihnen war eine Eisdiele«, sagt sie.
»Gehen Sie zum Strand«, sagt er.
Julian Busch / DER SPIEGEL
dert versteckten sich hier griechische len, 14 Theater, zehn Kinos, 14 Kir- schen Welt. Seien Sie doch dankbar,
Fischer vor arabischen Räubern. Im chen, 380 Baustellen. dass man Sie hier reingelassen hat.«
16. Jahrhundert landete hier das Das Zuhause von ehemals 36 000 Nikosia Tasoula Hadjitofi geht zurück zum
osmanische Heer. Türkische Siedler Menschen lag nun direkt an der Uno- Famagusta Kiosk, vor dem Polizisten steht ein
verdrängten die Griechen aus Fama- Pufferzone. Mann in grünen Shorts, er zeigt auf
ZYPERN
gusta, wiesen ihnen einen Land- Varosha wurde zum Spielball in seine Beine.
streifen südlich der Stadtmauern zu, einem größeren Wettlauf: Die Türkei Türkische Republik
Nordzypern (nur von
»Sehen Sie, Gänsehaut?«
sie nannten ihn Varosha. Vorstadt, plante einen eigenen Staat in Nord- der Türkei anerkannt) »Ich darf trotzdem nicht«, sagt der
Getto. zypern; hätten die Weltmächte die- Polizist.
Über Jahrhunderte entwickelte sen Staat anerkannt, wäre die Türkei »Nur 30 Meter von hier, Efesou-
sich Varosha zum lebendigsten Vier- offenbar bereit, Varosha an seine Ein- Straße 18 a, bitte, gleich hinter dem
tel von Famagusta. Hier wuchsen die wohner zurückzugeben. Baum.«
meisten Obstbäume, lebten die bes- Tasoula Hadjitofi erinnert sich an »Ich werde meinen Job verlieren.«
ten Töpfer, die reichsten Kaufleute. die Gerüchte von damals, spätestens »Nur ein Foto, bitte. Mein Groß-
Als Tasoula Hadjitofi hier ge- nach einem Jahr würde man zurück- vater durfte nicht hin, er ist tot. Mein
boren wurde, am 23. Februar 1959, kehren können, vielleicht nach zwei Vater durfte nicht, er ist tot. Ich bin
stand Zypern kurz vor einem Bürger- Jahren. Sie wohnten in einer Unter- 55.«
krieg. Es war eine britische Kolo- kunft in Limassol, einer Stadt an der Der Polizist sieht zu Boden. Ta-
nie, in der griechische und türkische Südküste. soula Hadjitofi und der Mann tau-
Milizen zunehmend das Sagen hat- Der Uno-Sicherheitsrat befasste schen Nummern aus. Er heißt Dimi-
ten. sich mit Zypern. Auf Resolution 353 tris und arbeitet als Bürokraft auf
Vier Tage vor Hadjitofis Geburt folgte Resolution 354, dann Resolu- einer britischen Militärbasis auf Zy-
wurde in London ein Abkommen tionen 355, 357, 358, 359, 360, 361, pern. Er hat sich eine Wohnung im
unterzeichnet, mit dem die Briten 364, 365, 367, 370, 383, 391, 401, 410, Nachbarort gekauft, damit er von
Zypern in die Unabhängigkeit ent- 414, 422, 430, 440, 443, 451, 458, seinem Balkon aus Famagusta sehen
ließen. »Ein schreckliches Abkom- 472, 482, 486, 495, 510, 526, 534. Im kann.
men«, sagt Tasoula Hadjitofi: 30 Pro- November 1983, Tasoula Hadjitofis Das Kreuz, das Hadjitofi um den
zent der Sitze im Parlament fielen Haus in Famagusta stand seit fast Hals trägt, gehörte ihrem Vater. Als
damals den Türken zu, Türken mach- zehn Jahren leer, riefen die Türken sie Zypern verließ, gab er ihr am Flug-
ten aber keine 19 Prozent der Bevöl- die Türkische Republik Nordzypern hafen einen Fünf-Shilling-Schein, da-
kerung aus. aus. Kein Staat außer der Türkei er- rauf stand: »Gute Reise, mein Wild-
Zyperngriechische Nationalisten kannte sie an. Der Stacheldraht um fang – 14. November 1976 – Tue
wollten die Insel an Griechenland an- Varosha blieb. nichts, wofür sich deine Familie schä-
schließen, 1975 stürzten sie ihren Vor dem Kiosk fahren Limousinen men muss.«
eigenen Präsidenten. Die Türkei vor, Männer mit Krawatten steigen Vor acht Jahren trauten sie sich
schickte ihre Armee. In wenigen Wo- aus, gehen zum Strand. nach Famagusta zu reisen, ihr Vater
chen nahm sie fast 40 Prozent der In- »Kommen Sie aus der Türkei?«, wollte die Stadt noch einmal sehen.
sel ein. An dem Tag, an dem Tasoula fragt Hadjitofi. Den Checkpoint mit dem Dreh-
Hadjitofis Familie vor dieser Armee »Nein«, sagt einer der Männer und kreuz gab es noch nicht, man konnte
floh, tötete eine griechische Miliz 126 steckt sich eine Zigarette an, »wir sich aber am Wasser nähern. Sie lie-
Türken in den Dörfern um Famagus- sind eine Delegation aus Aserbai- fen über den Strand auf der türki-
ta. Das jüngste Opfer war 16 Tage alt, dschan.« schen Seite, kamen zum Zaun mit
das älteste 95 Jahre. »Ich komme aus Famagusta. Fünf dem Wachposten. Sie ging ins Wasser,
Hadjitofi entfernt sich keine zehn Minuten von hier.« bauchtief, bis sie Rufe türkischer Sol-
Meter vom Kiosk an der Kennedy- »Gut, gut.« daten hörte.
Avenue, der Polizist ruft sie zurück. »Nichts ist gut. Ich darf mein Haus Im Juli 2021 läuft sie allein über
»Bitte«, sagt er, »bald öffnen wir hier nicht sehen.« diesen Strand und sagt: »Ich habe
Urlauberin
alles. Ich komme dann zu dir nach »Es ist jetzt unser aller Land«, sagt Bardot 1965: einen Flüchtling begraben.« Ihr Vater
Hause, wir trinken Kaffee, okay?« der Mann. »Das ist auch mein Zu- Die Welt kam gern starb vor vier Jahren.
Sie sagt: »Komm jetzt mit.« hause, wir sind Teil der großen türki- nach Famagusta Vor dem Zaun spricht sie zwei
Er zeigt auf das Dach des Hotels Männer in nassen Badehosen an. Sie
La Paloma. »Kameras, überall.« seien Bauarbeiter, sagen sie, aus Ost-
Am Strand baden türkische Teen- anatolien. »Und was machen Sie
ager. Präsident Erdoğan, das hat Ha- hier?«, fragt einer zurück, »Urlaub?«
djitofi in der Zeitung gelesen, hat vor »Sozusagen«, sagt sie.
seinem Besuch in Famagusta »gute Die Arbeiter empfehlen ihr einen
Nachrichten« angekündigt. Strand weiter nördlich, da sei der
Was kann eine gute Nachricht sein Sand noch feiner.
für Famagusta? Auf der Terrasse des Devran-
Nach 1974 brachte die Türkei Beach-Restaurants sitzt ein Mann mit
Zehntausende Siedler aus Anatolien dichten Augenbrauen und isst Fisch.
Sam Levin / CAMERA PRESS / laif
TAG 2
In den Neunzigerjahren war Tasoula Hadji-
tofi öfter in der Zeitung. Zyperns Präsident
stand Pate bei der Taufe ihres Sohnes in Rot-
terdam, der Erzbischof taufte ihre Tochter.
Sie war das Mädchen aus Famagusta, das
nach Europa ging, Computerwissenschaften
studierte und zum richtigen Zeitpunkt das
»türkischen Binnensee« nennt, der im vergan- Sie sucht lange nach den richtigen Worten ist ein rotes Band gespannt, daneben wartet
genen Herbst den Strand von Famagusta öff- für Präsident Erdoğan. Er soll verstehen, was ein Mann in Sakko, er hält eine Schere in der
nen ließ und gleich mit eigenem Beispiel vo- sie will. Hand. Tasoula Hadjitofi sieht Limousinen,
ranging, mit einem Picknick vor dem Argo- Im Juli 1989 reichte eine Vertriebene aus sie fahren die Demokratie-Straße hoch. Sie
lis-Hotel. Heute will er verraten, was er mit Nordzypern eine Klage am Europäischen Ge- läuft ihnen hinterher. Hinter der Nikolai-Kir-
Famagusta vorhat. richtshof für Menschenrechte ein. Sie forderte che sieht sie noch mehr türkische Fahnen.
Tasoula Hadjitofi bringt an diesem Nach- von der Türkei eine Entschädigung für ihr Haus. Im Innenhof hinter einer Ruinenmauer
mittag zwei Kameramänner zu ihrem Paten- Sieben Jahre später sprachen ihr die Straßbur- wird eine kleine Moschee eingeweiht. Tasou-
onkel mit, sie drehen eine Doku über sie. Sie ger Richter fast eine Million US-Dollar zu. Der la Hadjitofi geht zu einem Polizisten und
setzt sich auf die Couch vor dem Fernseher. Fall löste eine Klagewelle aus, der Gerichtshof fragt: »Ist Erdoğan da?«
Das zyperngriechische Staatsfernsehen verfügte, alle weiteren Beschwerden sollen Der Beamte schnalzt mit der Zunge, nein.
zeigt eine Wiederholung der Talkshow »Hap- vor Ort geklärt werden, in Nordzypern. Sie blickt auf die Schuhe vor dem Mo-
py Hour«. Das türkische Fernsehen zeigt, wie Hadjitofi hat nie geklagt. »Es ist«, sagt sie, schee-Eingang, hört die türkische National-
man ein Rind zerlegt. Morgen ist Opferfest, »als würde man eine Vergewaltigte zum Ver- hymne, dreht sich um und geht.
dieses Jahr fällt es zusammen mit dem Jah- gewaltiger schicken.« Vor der Nikolai-Kirche bleibt sie stehen,
restag der Invasion von 1974. In der Türkei Zu den Kunden ihres Unternehmens zäh- neben einer Dienstlimousine. Sie holt ihre
heißt der Tag der Invasion »Fest des Friedens len Europol, Eurojust, die Europäische Welt- Andreas-Ikone heraus. Aus dem Lautspre-
und der Freiheit«. raumorganisation, der mittlerweile aufgelöste cher ertönen Glückwünsche zum Opferfest,
Hadjitofi erzählt ihrem Patenonkel vom Internationale Strafgerichtshof für das ehe- Tasoula Hadjitofi kniet und umklammert ihre
jungen Soldaten, der sie in der Esperidon- malige Jugoslawien. »Warum soll ich«, sagt Ikone mit beiden Händen. Sie betet, fünf Mi-
Straße festnahm. Er habe sie zum Check- sie, »ausgerechnet in einem Staat klagen, den nuten lang.
point gefahren und zum Abschied gesagt, er sonst keiner anerkennt?« Dann geht sie zum Checkpoint. Der Poli-
habe nur noch ein halbes Jahr auf der Insel. Auch in Straßburg hat sie nicht geklagt. zist, der sie vor Dummheiten gewarnt hat,
Der türkische Polizist, der ihre Tasche durch- Sie sagt, sie wolle kein Geld für ihr Haus, son- hält sich sein Handy vors Gesicht. Er hört
suchte, habe sie gewarnt, nichts Dummes dern auf dem Friedhof hinter ihrer Kirche be- Erdoğan zu.
mehr zu machen. Dann habe er gesagt, es graben werden, ohne dass ihre Kinder einen Erdoğan ist in Nikosia, 60 Kilometer von
tue ihm leid für sie, er verstehe sie, auch er Beerdigungsschein auf Türkisch erhalten. Famagusta entfernt, seine Rede wird live
sei ein Vertriebener, fünfmal sei er bereits Sie öffnet ihr Buch und signiert es für den übertragen. Der Präsident rezitiert ein Ge-
nach Limassol gefahren, er habe es nicht »lieben Herrn Erdoğan«: dicht: »Wo früher das türkische Volk in Ket-
lassen können, immer wieder die Brache se- Ich werde für Sie beten, damit Sie die rich- ten geschlagen, wo das türkische Volk abge-
hen, auf der 1974 sein Elternhaus stand. tige Entscheidung treffen und aufhören, uns schlachtet wurde, wehen heute türkische Flag-
Es riecht nach Harz und Olivenblättern wehzutun. Versuchen Sie, Ihre Seele zu retten, gen, wir sind frei.«
an diesem Nachmittag, Hadjitofis Patenonkel denn die Geister Famagustas werden Sie ver- Dann sagt Erdoğan, man werde Varosha
schenkt ihr eine Ikone. Der Heilige Andreas. folgen. Unsere Tränen passen in keine Mo- nun ganz öffnen. »Wir wollen niemandem
Sie stellt sie vor die Schüssel mit dem Weih- schee. Keine Moschee wird groß genug sein, sein Eigentum nehmen«, sagt er, man werde
rauch. um Ihre Seele zu retten. Schenken Sie mir eine dafür sorgen, dass Menschen die Stadt betre-
Sie will nicht mehr auf Erdoğan im Fern- Stunde Ihrer Zeit, egal wo auf diesem Plane- ten können, ohne sich zu gefährden. Erst mal
sehen warten, sie will Katie Famagusta zei- ten. Lassen Sie uns über Wahrheit, Frieden werde man eine Fläche von drei Prozent frei-
gen. Katie ist die Tochter ihres Patenonkels, und Versöhnung sprechen. Herzlich, Tasoula räumen, auf Dauer werde Varosha zu einem
sie war acht Jahre alt, als die Familie floh. Ka- Hadjitofi, ein Geist aus Famagusta. »Symbol für Frieden und Wohlstand«.
tie packt ein gelb kariertes Kinderkleid mit Sie klappt das Buch wieder zu, im Garten Erdoğan sagt nicht, wer hier in Zukunft
Brustknöpfen ein. Das Kleid, das sie auf der vor ihr plätschert ein Wasserbrunnen, vor leben soll. Wer die Stadt regieren soll. Um
Flucht anhatte. zwei Tagen war er noch nicht da. Am Eingang welche drei Prozent Fläche es geht.
Der Polizist am Checkpoint lächelt und
TAG 4 sagt, »alles wird gut, Tasoula«. Sie umarmt
Zwischen Checkpoint 2 und 3 sieht Tasoula ihn, dann gibt sie ihm das Buch, das sie für
Hadjitofi Trauben von Polizisten. Am Vortag Erdoğan signiert hat. »Kannst du dafür sor-
hat Erdoğan vor dem türkischen Parlament gen, dass es ihn erreicht?«
in Nikosia gesprochen, aber er hat kein Wort
über Famagusta gesagt. Offenbar hat er seine Auf einem Hügel im Norden von Limassol,
Botschaft für heute aufgehoben, für den Jah- anderthalb Autostunden von Famagusta ent-
restag der Invasion. fernt, sitzt Tasoula Hadjitofis Mutter in einem
Sie will Erdoğan nach seinem Auftritt in Sessel mit Beinstütze und starrt in einen
Famagusta ansprechen, ihn fragen, ob er mit Swimmingpool. Sie ist 92. Eine philippinische
ihr in ihrer Kirche beten würde. Sollte das Pflegerin reicht ihr einen Teller mit zwei ge-
nicht möglich sein, will sie ihm eine schrift- schälten Mangos.
liche Nachricht zukommen lassen. »Hast du unser Haus gesehen?«
Der Säulenportikus ihrer ehemaligen »Nein, Mama, aber ich war mit dem Heili-
Kunstschule ist mit türkischen Fahnen ver- gen Andreas in unserer Straße.«
hängt. Tasoula Hadjitofi setzt sich auf einen »Ich werde zu ihm beten, er möge uns end-
Stein und legt sich ein Exemplar ihres Buchs lich von den Türken erlösen.«
Julian Busch / DER SPIEGEL
»Die Ikonenjägerin« auf die Knie. Auf dem Tasoula Hadjitofis Anwalt in Athen prüft,
Cover ist ein schwarz-weißes Foto von ihr ab- ob eine Klage gegen Erdoğan persönlich
gebildet, aufgenommen bei einem Poesiewett- Chancen hat.
bewerb in dieser Schule. Sie sei etwa zwölf Für den Herbst plant Hadjitofi einen
Jahre alt auf dem Bild, es ist das einzige Kind- Marsch auf Famagusta. Hunderte Vertriebe-
heitsfoto, das sie hat, alle anderen blieben im ne sollen sich als Geister verkleiden und in
Haus in der Esperidon-Straße zurück. Protestierende Hadjitofi vor Moschee ihre Häuser gehen. ■
juristische Schritte angedroht«, eine »außerordentlich hohe »mit Hochdruck« an einer auto-
so Matthias Spielkamp von Anzahl an Kundenkontakten«, matisierten Verifizierung, zu-
AlgorithmWatch. Auf einen auch seien Buchungsanfragen dem trete das Problem zwischen-
Rechtsstreit mit dem Milliarden- derzeit komplex. Offenbar zeitlich seltener auf. Auch an
konzern habe man es nicht reichen dafür die vorhandenen den Flughäfen kommt es aktuell
ankommen lassen wollen und Kapazitäten nicht aus. Selbst oft zu langen Wartezeiten.
Vielfliegern mit Senator-Status Das Personal ist derzeit knapp,
erging es nicht besser. Aller- zudem nimmt die Prüfung
Mieter und zeigt eine ZEW-Modellrech- dings habe man für diese Kun- von Test- und Impfunterlagen
nung, müsste der CO2-Preis auf dengruppe die durchschnitt- viel Zeit in Anspruch. MUM
Autofahrer sollen Diesel oder Heizöl im nächsten
entlastet werden Jahrzehnt auf über 300 Euro
pro Tonne steigen. Dabei wäre Entschädigung für
ENERGIE Um die Kosten der es viel billiger, den Kohlen-
Klimawende zu verringern, dioxid-Ausstoß in der gewerb- ausbleibende Gäste?
plädiert das ZEW Leibniz- lichen Wirtschaft zu reduzieren, GASTRONOMIE Der Chef der
Zentrum für Europäische Wirt- argumentiert das Institut. Wür- Gastrokette L’Osteria, Mirko
schaftsforschung dafür, Autofah- de das erlaubte CO2-Budget Silz, fürchtet angesichts der
rer und Mieter weniger stark zu dort auf 25 Prozent des Gesamt- jüngsten Coronabeschlüsse
belasten als geplant. Nach den ausstoßes reduziert, stiege der anhaltend weniger Gäste und
derzeitigen Minderungszielen Kohlendioxidpreis im Verkehrs- fordert mehr staatliche Unter-
der EU dürfen 2030 lediglich 61 und Gebäudesektor auf ledig- stützung. »Sollten wir durch die
Prozent des CO2-Ausstoßes aus lich 100 bis 150 Euro pro Tonne. neuen Maßnahmen zum wieder-
dem Verkehrs- und Gebäude- Für Industrie und Stromwirt- holten Mal starke Umsatzein-
sektor kommen, der Rest ent- schaft betrüge er dann der ZEW- bußen erleiden, muss der Staat
Florian Deventer
fiele auf Industrie und Energie- Kalkulation zufolge 70 bis 90 auch wieder hierfür aufkom-
wirtschaft. Bliebe es dabei, so Euro je Tonne. Volkswirtschaft- men«, so der Systemgastronom,
lich würden sich die Kosten der dessen Restaurantmarke an
Klimawende damit von 2,6 Pro- 130 Standorten in acht Ländern Silz
zent des Bruttoinlandsprodukts vertreten ist. Dies könne durch
auf 1,5 Prozent vermindern – eine Verlängerung bestehender lich arbeiten können«, sagt Silz.
eine Ersparnis von mehr als 35 oder mittels neuer Hilfspro- Gäste seien es gerade wieder
Julian Stratenschulte / Picture-Alliance / dpa
Milliarden Euro pro Jahr. Die gramme geschehen. Sein Unter- gewohnt, ohne großen Aufwand
nächste Bundesregierung solle nehmen behalte sich zudem ein Restaurant besuchen zu
sich deshalb dafür einsetzen, vor, Coronaverordnungen der können. Wenn die erste Eupho-
die Gewichte bei der Klima- einzelnen Bundesländer juris- rie über die Wiederöffnung
wende zu verschieben, heißt es tisch prüfen zu lassen. »Natür- verflogen sei und Tests für Un-
in einem ZEW-Papier mit lich steht für uns die Gesundheit geimpfte von Mitte Oktober
»Empfehlungen zur Wirtschafts- unserer Gäste und Mitarbeiter an kostenpflichtig würden, rech-
politik« in der kommenden stets im Fokus, aber wir wol- ne er mit weiteren leichten Um-
Legislaturperiode. MSA len und müssen auch wirtschaft- satzrückgängen. MMQ
nes zwischen den Jahren, wo Leute sich sonst attraktiv schienen, »in Detroiter Verhältnisse Jahr um 20 Prozent geringer aus als in dem
schicke Sachen kaufen für Silvester. Der abrutschen«. Eine Stadt, gezeichnet von Leer- davor, für 2021 rechnet Lahrs noch mal mit
Onlinehandel fange 30 Prozent des entfalle- stand. einem Minus von zehn Prozent.
nen Geschäfts von s.Oliver auf, sagt Lahrs. Der Shutdown zieht sich. Er selbst hingegen dürfte von der Shut-
Die Frage sei, welche Januar- oder Februar- Im April startet s.Oliver eine Werbekam- down-Zeit profitiert haben. Lahrs avancierte
mode man noch im März anbieten könne. pagne. Der neue Claim heißt »Looks, die dein im vergangenen Jahr zu einer Art Branchen-
Nur 20 Prozent der Ware ist zeitlos: blaue Leben schreibt«. Lahrs lässt auch den s.Oli- sprecher. Seine Rhetorik ist geschliffen, seine
Jeans, weiße T-Shirts, schwarze Socken. ver-Schriftzug verändern, der hat jetzt weni- Stimme so sonor, dass er Humphrey Bogart
Lahrs ist zu der Zeit noch zuversichtlich, ger Schnörkel. synchronisieren könnte. In Zeitungs- und
dass es im März wieder losgeht. Wie werden Bis die Geschäfte tatsächlich wieder öffnen Radiointerviews appellierte er an die Regie-
die Kunden reagieren, wenn der Shutdown dürfen, ist es Mai. Um Kunden anzulocken, rung, Hersteller und Händler nicht zu ver-
vorüber ist? »Es wird viel davon abhängen, organisiert s.Oliver kleine Events, die im gessen.
wer alles dabei ist. Falls die Läden aufhaben, Internet übertragen werden, darunter ein Und Corona könnte ihm noch auf andere
aber die Gastronomie geschlossen bleibt, strö- Schaufensterkonzert mit Tim Bendzko in der Weise helfen. Die Pandemie hat ihm Zeit ver-
men die Leute nicht in die City. Innenstädte Stuttgarter Filiale. schafft. Selbst der ungeduldige Patriarch Frei-
funktionieren nur als Ganzes.« Er sehe die Corona hat s.Oliver einen harten Dämpfer er ist in diesen Monaten nachsichtig. Wie es
Gefahr, dass auch Zentren, die bislang noch versetzt. Der Umsatz fiel im vergangenen der Marke wirklich geht, wird sich erst zeigen,
wenn sich die Welt einigermaßen nor- unter 200 Tage, die Kollektion hat er als zu teuer, die Nachfrage der Kun-
malisiert hat. von zwölf auf zehn jährlich reduziert. den wiederum als zu gering.
Schon vor Corona hatten es deut- Zwei andere Maßnahmen hingegen Profitiert haben vor allem zwei
sche Modemarken schwer. Der On- werden skeptisch beäugt, intern wie Akteure. Der damalige Großaktionär,
linehandel setzte ihnen zu, ebenso extern. die Beteiligungsgesellschaft Permira,
Billiglabels wie Primark. Escada, Die erste: Lahrs hat die Preise an- die Lahrs geholt hatte, satten Gewinn
Esprit und Tom Tailor kämpften um gehoben, um bis zu 20 Prozent. »Ris- einstrich und rechtzeitig wieder aus-
die Existenz, Strenesse stellte seinen kant« nennt ein s.Oliver-Manager stieg. Sowie Lahrs selbst, dank einer
Betrieb im vergangenen Jahr ein. Bei das. Die Kunden in den 360 eigenen indirekten Beteiligung.
s.Oliver hatte sich der Gewinn zwi- Filialen würden das vielleicht mit- 2016 schied er im Streit mit dem
schen 2017 und 2019 halbiert, auf machen, in Modehäusern indes griffen Aufsichtsrat. Danach rauschte das Ge-
44 Millionen Euro. sie vermutlich eher zu günstigeren schäft von Hugo Boss ab. Lahrs sagt,
Umso entschiedener tritt Lahrs Textilien, von Tom Tailor oder Esprit. er halte seine damalige Strategie noch
nun auf. Die beiden Entlassungswel- Lahrs sagt, die Preiserhöhung sei immer für richtig, »man hätte sie nur
len im vergangenen Jahr ließ er sich nötig, auch weil Rohstoff- und Trans- konsequent fortsetzen müssen«.
50 Millionen Euro kosten. Bereits portkosten gestiegen seien. In der Modewelt ist sein Image
unter Freier hatte es Pläne für Kün- Die zweite Maßnahme: Er will die seither angekratzt. Trotzdem mel-
digungen gegeben, allerdings war das Zahl der s.Oliver-Filialen erhöhen, dete sich wenig später Branchen-
Herz des Patriarchen zu weich, sie um zehn pro Jahr, in besten Lagen, Urviech Freier, um ihn zu s.Oliver zu
umzusetzen. Denn auch Freier hat beginnend noch 2021. München, lotsen. Freier gilt als Trophäensamm-
zwei Gesichter. Kaufingerstraße; Hamburg, Jungfern- ler, der gern teure Manager einkauft.
Er ist beides: Menschenschinder – stieg; Köln, Hohe Straße. Allein schon, um zu zeigen, dass er
und Menschenfänger. BF, wie er in- Den Preis hochschrauben, Läden sie sich leisten kann.
tern heißt, hielt den Laden auf Trab. in exklusiver Umgebung eröffnen. Es Weil Freier noch nicht bereit war,
Verschickte frühmorgens schon SMS, sind die gleichen Rezepte, die Lahrs sich aus dem Operativen zurückzu-
störte Angestellte im Urlaub und rief seinerzeit bei Hugo Boss anwandte, ziehen, ging Lahrs lieber zu Bottega
auch mal nachts an, wenn er dienst- nicht nur zum Besten der Marke. Veneta. 2018, als Freier abermals
lich in Hongkong war und die Zeit- Zwar explodierte mit jedem neuen ohne CEO dastand, verhandelten die
verschiebung vergessen hatte. Seine Laden der Umsatz, der Aktienkurs beiden erneut. Nach monatelangem
Lunte ist kurz, seine Wortwahl nicht stieg in ungeahnte Dimensionen. Ringen gab der alte Herr klein bei.
Selfmademan
immer fein. Freier 2000: Doch der vermeintliche Erfolg ent- Er verließ den Beirat. Und sein Büro
Freier soll Führungskräfte ange- »Schauen, glotzen, puppte sich als hochgejazzte Börsen- im Hauptgebäude.
herrscht haben, er schlage ihnen die schlaumachen« story. Viele Standorte erwiesen sich Wie schwierig es sein muss, mit
Vorderzähne raus. Dann wieder küm- Bernd Freier zu verhandeln, lässt sich
merte er sich rührend, wenn eine von erahnen, wenn es bloß darum geht,
ihnen erkrankt war. Bei Weihnachts- ein Interview mit ihm zu verabreden.
feiern beschwor er in seinen Reden Ein für Anfang Mai anberaumter
so eindringlich den Zusammenhalt, Termin wird kurzfristig verschoben,
dass die Belegschaft sich erhob und weil jemand aus seiner Familie er-
ihm minutenlang applaudierte. krankt ist.
Freier sei wie ein Bergführer, der Auch in den folgenden Monaten
einen auf dem Weg nach oben derart kommt ihm immer wieder etwas da-
drangsaliere, dass man ihm an die zwischen. Eine Reise nach Slowenien
Gurgel gehen möchte, sagt ein Ex- und Italien. Der Versuch, eine Firma
Mitarbeiter. Auf dem Gipfel danke zu kaufen. Ein Impftermin. Freiers
man es ihm. »Bernd ist ein positiv neun Enkel, für die er seinen Pool
Verrückter, deshalb ist er so weit wärmen muss. Irgendwas mit seinem
gekommen«, sagt Armin Fichtel, Testament. Freunde von ihm erkran-
der s.Oliver zweieinhalb Jahre lang ken schwer. Einer stirbt. Freiers Haus
leitete. am Tegernsee ist von Hochwasser be-
Unter Lahrs hingegen sei die Stim- droht. Schließlich kommt es doch zu
mung nicht sonderlich gut, heißt es einem Treffen.
aus dem Unternehmen. Er dulde Rottendorf, Mitte Juli. Ein Büro-
wenig Widerspruch. L’état c’est moi. gebäude am anderen Ende des s.Oli-
Manche Mitarbeiter resignieren, an- ver-Geländes, 500 Meter entfernt
dere flüchten. »Es gab mal eine herz- von Lahrs’ Büro.
liche Kultur. Jetzt ist sich jeder selbst Freier betritt den Konferenzraum,
der Nächste«, sagt einer. Das liege groß, stämmig, weißes Haar, er hat
daran, dass Lahrs langjährige Füh- kurze Hosen an und stellt einem eine
rungskräfte entlassen und dafür Ver- Flasche Öl hin, angefertigt aus Oliven
bündete von Hugo Boss geholt habe, von seiner Finca auf Mallorca. Ohne
die den Altgedienten als »Jasager« Begrüßung fängt er an, über seine
Van Eick / picture alliance / dpa
tagszeitung« herüber, in dem es um gegen Lahrs ein. Dass der Ergebnisse Mann der Marken sich zugeschnitten hat. Und aus bio-
einen 89 Jahre alten Hedgefonds- liefern müsse. Dass der sich auch et- 1 | Lahrs als Chef von logischen Gründen.
Manager geht. was einfallen lassen müsse zum The- Louis Vuitton bei einer Je älter Freier wird, desto schwie-
Jeden Morgen reißt er irgendwas ma Nachhaltigkeit, was Freier im fort- Eröffnung in Berlin 2000 riger würde es für ihn, im Notfall wie-
2 | als Vorstandsvorsit-
aus der Tagespresse heraus; Freier geschrittenen Alter zunehmend am zender von Hugo Boss der selbst die Firma zu leiten. Zumal
steht meist um vier Uhr auf. Die Ar- Herzen liegt. Nicht nur nebenbei er- in Metzingen 2011 von seinen alten Getreuen, die ihn
tikel verteilt er tagsüber in der Firma, wähnt er, dass er ein besseres Golf- 3 | als CEO von Bottega unterstützen könnten, nach zwei Ent-
manche fotografiert er und verschickt Handicap habe als Lahrs. Veneta auf der Mailän- lassungswellen kaum noch welche
der Fashion Week 2017
sie als SMS, auch Lahrs wird regel- Weggefährten sagen, Freier leide übrig sind.
mäßig bedacht. Alle paar Wochen bis heute unter einem Minderwertig- Wie man sein Lebenswerk ruinie-
mailt Freier ihm einen kleinen Report keitskomplex. Sein Vermögen wird ren kann, hat er an seinem Freund
mit Anregungen, mal geht es um zwar auf mehr als zwei Milliarden Gerd »Gerry« Weber gesehen. Der
Strickmode, mal um Marketing- Euro geschätzt, auf der »manager ma- zog sich zu spät aus seinem Mode-
ideen zur Fußballeuropameister- gazin«-Liste der reichsten Deutschen unternehmen zurück, übergab an
schaft. Dass Lahrs nicht die Zeit hat, belegt seine Familie Platz 113, doch seinen Sohn, der glücklos agierte. Am
das alles zu lesen, ist ihm durchaus die Armut seiner Kindheit und seine Ende geriet die Firma in die Insol-
bewusst. fehlende Bildung hat Freier bis heute venz und arbeitet seither mit tief-
Freier spricht mit starkem fränki- nicht vergessen. roten Zahlen weiter. Weber, zuletzt
schen Idiom. Er denkt schneller, als »Ich bin in einem Bunker ohne geistig nicht mehr auf der Höhe, ver-
er reden kann. Manchmal wechselt Fenster aufgewachsen, zehn Perso- starb voriges Jahr.
er mitten im Satz das Thema. Ver- nen, eine Toilette, keine Badewanne. Freiers drei Töchter zeigen wenig
glichen mit Freier hat eine Hummel 1952 hatten wir die erste richtige Interesse an s.Oliver, Sohn Christian
buddhistische Züge. Wohnung. Da ist das größte Bestre- sitzt zwar im Beirat der Firma, auf
Er sagt, es solle in diesem Gespräch ben, dass du aus dieser Kacke raus- den Chefposten scheint es ihn nicht
nicht so sehr um ihn gehen. Dann geht kommst. Als ich sechs war, wurden zu drängen.
es doch sehr um ihn. Um seine Reisen meine älteste Schwester und ich Inzwischen überlegt Freier sogar,
nach Asien, wo s.Oliver 400 Mitar- nachts um drei geweckt und haben sich ganz von s.Oliver zu trennen.
beiter hat, um die »Hunderten Fabri- Zeitungen ausgetragen.« »Ich denke darüber nach, was meinen
ken«, die er in Indien besucht habe. Freier hat nie Englisch gelernt und Kindern und Enkeln mehr nutzen
Wie er Gerhard Schröder schrieb, er nicht studiert. Er hat nichts Welt- würde. Eine Firma, die sie verwalten
solle Anzüge von s.Oliver tragen, läufiges, anders als Lahrs. Dessen müssten. Oder ein Vermögen, resul-
nicht nur Brioni, und daraufhin ins Vater war Vorstand bei Thyssenkrupp, tierend aus einem Verkauf. Denkbar
Kanzleramt eingeladen worden sei. Lahrs studierte internationales Ma- wäre auch eine strategische Partner-
Und dass er Tag und Nacht im Inter- nagement und erwarb einen Ab- schaft. Oder ein Börsengang. Das
net sei, »schauen, glotzen, schlauma- schluss an einer französischen Elite- werden wir in den kommenden Jah-
chen«, vielleicht 150 000 Bilder von schule. Aus Freiers Sicht der Richtige, ren entscheiden.«
Klamotten habe er auf dem Handy. um seinen alten Traum umzusetzen, Ginge es darum, das Unterneh-
Aber natürlich halte er sich operativ s.Oliver in eine internationale Marke men für einen Verkauf aufzuhüb-
raus. Notgedrungen. umzuwandeln. schen, könnte Lahrs die Idealbeset-
Dass er 2019 seinen Rückzug be- Bislang macht das Unternehmen zung sein. Bis dahin kann Freier seine
siegeln musste, habe er empfunden, nur 15 Prozent seines Umsatzes au- Meinung jedoch noch häufig ändern.
als unterschriebe er das eigene Todes- ßerhalb Deutschlands, Österreichs Seine Wege sind unergründlich.
urteil, heißt es in Freiers Umfeld. Er und der Schweiz. Lahrs peilt das Nach dem Gespräch bietet er an,
winkt ab: Das klingt ihm zu drastisch. Doppelte an, will etwa in Slowenien, einen nach Würzburg zum Bahnhof
»Es war eher wie ein Hurrikan.« Am Tschechien, Polen und Russland an- zu fahren, der liege ja mehr oder
Ende sei ihm das Aufhören gar nicht greifen. Im vergangenen Jahr fing er weniger auf seinem Heimweg. An der
so schwergefallen, sagt er. Wobei in an, Englisch als Konzernsprache ein- Ampel müsste Freier sich in einer der
ihm »noch Saft drin« sei. Die Zusam- zuführen, etwa bei den Townhall- Freier ist beiden Linksabbiegerspuren einord-
menarbeit mit Lahrs sei für beide Meetings. Ob das hilft? Milliardär, nen. Weil ihm die Schlangen zu lang
zunächst nicht einfach gewesen, in- In der Branche wird kolportiert, sind, überholt er rechts und fädelt
zwischen habe man »einen guten Freier müsse, falls er sich ins Tages-
aber er sich kurz vor der Ampel links ein.
Weg gefunden«. geschäft einmische, Lahrs einen zwei- hat nichts »So ist mein Charakter«, sagt er. Sei-
Mehrmals sagt er, Lahrs sei »der stelligen Millionenbetrag bezahlen. Weltläufiges. ne Einfälle seien nicht immer ange-
Beste«. Ein »ganz anderes Kaliber« Lahrs dementiert die Zahl. Doch Frei- nehm für die Leute. Aber manchmal
als seine Vorgänger. »Absolut klar im er ist seinem CEO ohnehin ausgelie- Anders müsse man eben improvisieren.
Kopf.« Zugleich streut er Spitzen fert. Weil Lahrs die Firma ganz auf als Lahrs. Alexander Kühn ■
Neues Deutschland (V) Seit mehr als einem Jahr hält die Coronakrise das Land neuen Maschinen. Roboter schwei-
im Griff, doch allmählich gerät die Zukunft in den Blick: Wie schaffen wir es, ßen Stahlgerüste, schneiden Holz,
dass es besser weitergeht? Der SPIEGEL geht dieser Frage in einer Sommerserie nach Metall oder Kunststoffe zu und helfen
und beschreibt Personen und Projekte, die zeigen, welche Innovationskraft bei der Ernte. Im italienischen Berga-
in der Wirtschaft steckt – und dass es Lust machen kann, an morgen zu denken. mo hat ein Automat gar die Aufgabe
des Gelatiere übernommen. Er formt
perfekte Eiskugeln und drapiert sie
in Waffeln. Zur Freude der staunen-
den Kundschaft.
Julia Arlinghaus, 38, Leiterin des
Fraunhofer-Instituts für Fabrikbe-
den geben die gewünschten Parame- abnehmern der Technik. Mehr als lohnt habe es sich trotzdem. »Wenn
9. USA
ter auf der Website ein, wählen Holz- 220 000 Roboter verrichten hierzu- Sie vor der Wahl stehen, so ein Bau-
228
art, Furnier, Schrägen, Böden, Türen lande ihren Dienst. Auf 10 000 Indus- teil gar nicht zu produzieren oder mit
und Griffe – und schicken den Auf- trieangestellte kommen rund 350 Au- einem teuren Roboter, dann rechnet
...
trag ab, zumeist ohne je einen Schrei- tomaten. Nur in Japan, Singapur und 15. China sich das immer.« All jene, die ihn an-
ner gesehen zu haben. Südkorea sind es mehr. 187 fangs für »völlig verrückt« erklärt hät-
Anfangs vermittelte Cousland die Mittlerweile sind es immer öfter ten, seien inzwischen verstummt.
Daten weiter an eine befreundete mittelständische Unternehmen, die * Roboter je 10.000 Mitarbei-
Keine Probleme also? Doch, gibt
Möbeltischlerei. Doch die wurde sich für Robotik begeistern. In vielen tende in 21 untersuchten Laxhuber zu. Unter den Mitarbeitern
schon bald mit der steigenden Nach- bislang familiär dominierten Bran- Ländern
S International Federation of
habe es Ängste gegeben, ersetzt zu
frage nicht mehr fertig. 2015 mietete chen gibt es erste Versuche mit den Robotics werden, Skepsis gegenüber einer Ma-
stieg aus der Förderung beschlossen. jeweils Wochenmitte Transport zwischen der Kohlepro- Claus Hecking ■
Deutschland leben rund 500 000 minder- Christoph Butterwegge: Wir sollten nicht
jährige Schutzsuchende. Eine Stadt, zwei Welten Kinder ungleich behandeln, sondern ihre
Christoph Butterwegge: Von der Armuts- Eltern bei der Steuer. Das gilt selbstver-
statistik erfasst wird nur, wer in einem Haus- Anteil der Kinder unter 15 Jahren, die in Köln ständlich auch für wohlhabende Mittel-
Hartz IV beziehen*, nach Stadtteilen
halt lebt. Sammellager und Gemeinschafts- schichtler wie die Butterwegges, also nicht
10 % 20 30 40 %
unterkünfte, in denen viele Flüchtlinge leben, nur für Hyperreiche. Ich bin mir sicher, dass
gehören nicht dazu. Aber mit diesem Argu- eine Mehrheit der Betroffenen höhere Steu-
ment, das eine Halbwahrheit darstellt, wird ern akzeptieren würde, wenn es dafür eine
versucht, von dem Armutsproblem abzulen- bessere Infrastruktur gäbe. Warum müssen
ken. Dabei betreibt die Bundesregierung Kinder heute ein U-Bahn-Ticket lösen, wenn
eine Steuerpolitik, die manche Familien arm sie zum Schwimmunterricht fahren? Ein ti-
und andere unvorstellbar reich macht. Es gibt cketloser öffentlicher Nahverkehr würde die
Unternehmerfamilien, deren Kinder noch zu Höhenberg Teilhabemöglichkeiten für arme Kinder
Lebzeiten ihrer Väter mehrere Hundert Mil- enorm verbessern.
lionen Euro übertragen bekommen, ohne SPIEGEL: Die Armutsquote würde sich trotz
nur einen Cent Erbschaft- oder Schenkung- solcher Maßnahmen nicht reduzieren.
steuer zahlen zu müssen. Das Wort »Kinder- Christoph Butterwegge: Sie sprechen da
armut« steht 3-mal im Koalitionsvertrag von einen wunden Punkt an: Eigentlich müsste
CDU, CSU und SPD, das Modewort »digital« die Qualität der örtlichen Infrastruktur bei
beziehungsweise»Digitalisierung« kommt Sülz der Armutsmessung berücksichtigt werden.
hingegen 290-mal vor. Das ist nur statistisch kaum machbar.
SPIEGEL: Selbst das gewerkschaftsnahe For- SPIEGEL: In Ihrem Buch fordern Sie primär
schungsinstitut WSI hat festgestellt, dass ein Meschenich finanzielle Umverteilung. Fehlt es in armen
Teil der aktuellen Armutsquote durch die Familien nicht vor allem an kulturellem
Fluchtmigration zu erklären ist. * Anteil der Leistungsberechtigten an allen Einwohnern Kapital?
unter 15 Jahren, Stand: 2019
Christoph Butterwegge: Ich halte nichts da- Christoph Butterwegge: Folgt man dem
S Quellen: Statistisches Jahrbuch Köln 2020,
von, jetzt mit Statistiken Pingpong zu spielen. Bundesagentur für Arbeit französischen Soziologen Pierre Bourdieu,
Und auch nichts von Dramatisierungen. Aber resultiert das kulturelle aus dem ökonomi-
2019 war die Armutsrisikoquote in Deutsch- SPIEGEL: Wie lässt sich das ändern? schen Kapital, nicht umgekehrt. Letztlich
land mit 15,9 Prozent so hoch wie nie seit der Carolin Butterwegge: Es müsste viel mehr folgt dem Portemonnaie alles: Wohnlage
Jahrtausendwende. Präziser gesagt: 13,2 Mil- öffentliche Angebote für Kinder und Jugend- und Ausstattung der Wohnung, Gesundheits-
lionen Menschen waren einkommensarm, da- liche geben, eine viel bessere soziale Bil- zustand und Bildungsgrad.
runter 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche dungs- und Betreuungsinfrastruktur, kosten- Carolin Butterwegge: Natürlich spielt auch
unter 18 Jahren. Einen Grund zur Beruhigung los für alle. das kulturelle Kapital der Eltern eine Rolle.
kann ich da nicht erkennen. SPIEGEL: Woran denken Sie? Deshalb brauchen wir ein sozial gerechte-
SPIEGEL: Die Große Koalition hat in den ver- Carolin Butterwegge: An fantasievoll ge- res Schulsystem, das es schafft, unterschied-
gangenen Jahren den Kinderzuschlag refor- staltete Spielplätze und gut ausgebaute Ju- liche familiäre Bedingungen auszugleichen:
miert und dadurch Familien aus Hartz IV gendzentren, am besten mit kostenlosem gute Ganztagsschulen für alle, mit vielen
geholt, zudem das Wohngeld, den Unter- WLAN. Vor allem müsste Bildung von der tollen Zusatzangeboten. Zurzeit werden
haltsvorschuss sowie den Kita-Zugang für Kita an vollständig kostenfrei sein, ohne Bei- benachteiligte Kinder viel zu schnell aus-
Bedürftige verbessert. Sehen Sie wirklich kei- träge fürs Mittagessen und ohne Kopiergeld. gesiebt.
nen relevanten Fortschritt? SPIEGEL: Und das alles auch für die Kinder Christoph Butterwegge: Trotzdem wird man
Christoph Butterwegge: Durch den verbes- reicher Eltern? kein Millionär, nur weil man Abitur macht
serten Kinderzuschlag hat eine alleinerzie- Carolin Butterwegge: Berechtigungsscheine und studiert. Mehr als jeder zehnte Akade-
hende Mutter mit ihrem Kind zusammen hätten einen Stigmatisierungseffekt. miker landet im Niedriglohnsektor.
ein paar Euro mehr als früher und fällt aus SPIEGEL: Ihr Buch vermittelt über weite
Hartz IV heraus. Arm ist sie nach EU-Krite- Strecken den Eindruck, außer einer Re-
rien immer noch. Man hat die Statistik be- volution helfe nichts. Im letzten Kapitel
reinigt, und die Kinderarmut scheinbar er- schlagen Sie dann aber eine Reihe prag-
folgreich bekämpft, in Wahrheit jedoch nur matischer, mitunter sehr kleinteiliger Lösun-
wenig gegen sie getan. gen vor.
SPIEGEL: Während der Pandemie hat die Ge- Christoph Butterwegge: Das ist die Dialek-
sellschaft so viel über benachteiligte Kinder tik von Reform und Revolution. Eine Sozial-
diskutiert wie selten zuvor. Kann das einen reform kann den Boden für tiefgreifende
positiven Effekt haben? Veränderungen des Gesellschaftssystems be-
Christoph Butterwegge: In der Finanzkrise reiten, indem sie bewusstseinsverändernd
war auch allen klar: Die Banken müssen wirkt. Warum ist die Körperschaftsteuer für
stärker reguliert werden. Das geriet dann Konzerne heute niedriger als unter Helmut
schnell wieder in Vergessenheit, was kein gu- Kohl? Wieso wurde die Kapitalertragsteuer
tes Omen ist. für Spitzenverdiener gesenkt? Warum wird
Carolin Butterwegge: Einiges wurde immer- die Vermögensteuer nicht mehr erhoben,
hin auf den Weg gebracht, Summerschools obwohl sie im Grundgesetz steht? Wenn das
zum Beispiel, um die Bildungsschere zu mehr Menschen auf die Palme brächte, hätten
schließen. Ob das Erfolg hat? Aus anderen wir bald einen »sozialeren« Kapitalismus und
Insa Hagemann / laif
Ländern weiß man, dass solche Förderange- am Ende womöglich gar einen demokrati-
bote in den Ferien vor allem von denen in schen Sozialismus.
Anspruch genommen werden, die aus besse- Schulkind
SPIEGEL: Frau Butterwegge, Herr Butterweg-
ren Verhältnissen stammen. ge, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. ■
kleine Länder den großen nicht auf die Füße treten sollen, sieht
Fahnenträger der Moral man in Vilnius anders. Litauen hat zwar kaum drei Millionen Ein-
wohner, aber ein großes Selbstbewusstsein. Es versteht sich seit
der Unabhängigkeit von der Sowjetunion als Fahnenträger im
ANALYSE Der baltische Staat Litauen fordert
Kampf gegen Kommunismus und Unfreiheit. Erst kommen Werte,
China heraus – das ist tapfer, kann aber kaum als dann Interessen, wiederholt der junge konservative Außenminis-
Vorbild für die EU dienen. ter des Landes auf Schritt und Tritt. Mut in der Außenpolitik ist zu
begrüßen, und kleine Staaten dürfen auf ihre Würde pochen.
Ein »verrücktes, winziges Land«, das »alberne Sachen anstellt« – In Litauen reagiert man zu Recht allergisch auf die herablas-
so sieht Litauen derzeit aus Pekings Perspektive aus, wenn man sende Behandlung durch China. Aber Litauens Schritt wirft Fra-
dem Propagandablatt »Global Times« glaubt. Den Zorn der gen auf, die ganz Europa angehen – denn der Aufstieg der chine-
chinesischen Führung haben sich die Balten dadurch zugezogen, sischen Diktatur droht Europa kleiner zu machen. Ist es nun
dass sie der Eröffnung eines »Taiwanischen Repräsentationsbü- mutig oder albern, wenn Litauen sich mit dem mächtigen China
ros« in Vilnius zugestimmt haben. In der Namensgebung liegt anlegt und in einer heiklen diplomatischen Frage weiter geht
der Affront: Die Volksrepublik China will jede diplomatische als die EU und sogar die USA? Es ist leicht, als kleine Nation
Aufwertung des Inselstaats verhindern, es sieht ihn als abtrünni- Werte zu bekunden, wenn man sich im Schutz größerer Verbün-
ge Provinz und duldet keine Gegenmeinung. Die inoffiziellen deter bewegt und nicht von China abhängig ist. Moralisch han-
Büros, die Taiwan in EU-Staaten unterhält, heißen deshalb allen- delt, wer die Folgen seines Handelns selbst trägt. Chinas Auf-
falls »Taipeh Vertretung«. stieg wird Europa auch künftig vor schwierige moralische Fragen
Wie kommt es, fragt man sich im großen China, dass ausgerech- stellen – aber sie lassen sich nicht mit jener vermeintlichen Ein-
net eines der kleinsten Länder Europas uns herausfordert? Dass deutigkeit beantworten, die Litauen vorführt. Christian Esch
erneut als Präsident gewählt bedroht: Ihr seid Spione, und de gern weiterhin als Journa-
wird – und der Anwalt die Ver- dass bei euch auch Frauen list arbeiten. Nur wie?« CRE
Cameo-Profil von Giuliani fahren abschütteln kann. CX
gor Tuleya dient dem polnischen Warschau und wurde später ans Be-
I Staat seit einem Vierteljahrhun-
dert. Er hat als Richter in War-
schau Mörder verurteilt, Mafiapaten,
zirksgericht befördert, eine der wich-
tigsten Institutionen des Landes. Er
arbeitete zu viel, wie er sagt, und ver-
Drogenschmuggler. Inzwischen aber diente bestenfalls durchschnittlich.
ist er vor allem damit beschäftigt, sich Doch er war glücklich. Er hatte das
selbst zu verteidigen. Gefühl, Sinnvolles zu tun. Das änder-
Die nationalkonservative Regie- te sich, als Kaczyński 2005 zum ers-
rung unter Jarosław Kaczyński, dem ten Mal die Parlamentswahl gewann.
Chef der Partei PiS, hat Tuleya als Jarosław Kaczyński war zu Sowjet-
Staatsfeind ausgemacht. Die Staats- zeiten in der Opposition aktiv, als
er mit einer parlamentarischen weile ist sie fast nur noch für Wolne Jahren einen rasanten wirtschaftli-
Mehrheit durchregieren kann, ohne Sądy im Einsatz. chen Aufschwung erfuhr.
auf Minderheiten Rücksicht zu Gregorczyk-Abram und ihre Mit- Zugleich ist unter Polen das Ge-
nehmen. streiter haben prominente Schauspie- fühl weitverbreitet, von der EU nicht
Er und Ziobro, so warnen Oppo- lerinnen und Musiker für Rechts- ganz ernst genommen zu werden.
sitionelle, könnten künftig versuchen, staatskampagnen gewonnen. Im Win- Vorgaben aus Brüssel, etwa in der
Andersdenkende – Frauenrechtlerin- ter versammelten sie in Warschau Migrationspolitik, werden oft als
nen oder LGBTIQ-Aktivistinnen Tausende Menschen zu einer De- Bevormundung wahrgenommen.
etwa – mit den Mitteln der Justiz zu monstration gegen die Justizreform Kaczyński und Ziobro haben die
drangsalieren. Sie könnten die der PiS. Wahl nur knapp gewonnen. Diese
Rechtsreform aber auch nutzen, um Die offene Auseinandersetzung Woche haben sie sich nach längerem
sich selbst vor Ermittlungen zu schüt- mit der EU habe viele Bürger in den Streit von ihrem Koalitionspartner
zen. Das zeigt der Fall des österrei- vergangenen Wochen zusätzlich auf- getrennt. Nun sind sie darauf an-
chischen Immobilienunternehmers geschreckt, sagt Gregorczyk-Abram. gewiesen, im Parlament wechselnde
Gerald Birgfellner. Manche fürchten sogar einen schlei- Mehrheiten aus Abgeordneten ver-
Birgfellner gibt an, von Kaczyński chenden »Polexit«. schiedener Fraktionen zu organi-
2017 beauftragt worden zu sein, für Das Verhältnis der Polen zu sieren.
PiS in Warschau einen Zwillingswol- Staatsanwältin Europa ist zwiespältig: Die breite Es ist unklar, wie weit sie im Streit
kenkratzer zu bauen, mit dem der Kwiatkowska, Akti- Mehrheit betrachtete den EU-Beitritt mit der EU bereit sind zu gehen. Wäh-
vistin Gregorczyk-
Politiker unter anderem an seinen Abram: Der Unmut 2004 als Fortschritt. Milliardenhilfen rend Ziobro vergangene Woche be-
Bruder Lech erinnern wollte. Ein gu- über Kaczyńskis aus Brüssel haben dazu beigetragen, tonte, dass man sich nicht von Brüssel
tes Jahr später habe sich Kaczyński Regierungsstil wächst dass das Land in den vergangenen erpressen lasse und notfalls aus
aus dem Projekt zurückgezogen, an- der EU austreten würde, kündigte
geblich ohne Birgfellner Honorar aus- Kaczyński an, die Disziplinarkam-
zubezahlen, was der PiS-Chef bestrei- mer in ihrer »jetzigen Form« abzu-
tet. Es geht um umgerechnet 1,3 Mil- schaffen. Ob sie durch ein neues Gre-
lionen Euro. Zwischen den beiden mium ersetzt wird, sagte er jedoch
hatte es nie einen formalen Vertrag nicht, und auch nicht, ob sich seine
gegeben. Regierung künftig an EuGH-Urteile
Birgfellner heuerte als Anwalt halten werde.
Roman Giertych an – einst Vizepre- Die PiS-Regierung hatte in den
mier unter Kaczyński und mittlerwei- vergangenen Jahren gegenüber Brüs-
le PiS-Kritiker. Giertych forderte, die sel immer wieder Kompromissbe-
sich sowohl Anhänger Ben Youssefs, soge- Frankreich hinter sich. In Dokumenten aus
nannte Youssefisten, als auch Loyalisten dem französischen Außenministerium, die
Bourguibas. Die näheren Umstände der Tat der SPIEGEL einsehen konnte, berichtete
wären wohl im Verborgenen geblieben, wäre der damalige französische Hochkommissar
Bourguibas Nachfolger Zine el-Abidine Ben in Tunesien, Roger Seydoux, er habe Bour-
Ali nicht 2011 von seinem eigenen Volk ge- guiba bei einem Abendessen vor die Wahl
stürzt worden. Das Parlament setzte eine Ben-Youssef-Sohn Lotfi gestellt: Entweder er nehme die Geschicke
privat
unterstützt die Bundesregierung die
des Landes selbst in die Hand oder der bis heute andauert. Tunesien galt, Unabhängigkeits- Wahrheitskommission finanziell. Ein
Frankreich lasse ihn fallen. zumindest bis zu dem Staatsstreich kämpfer Ben Youssef offizielles Gesuch Bensedrines an
(im Wagen l.)
Auch die Bundesregierung hatte im Juli, als Musterbeispiel der Revo- um 1955: Sein Tod die deutschen Behörden, ihrer Kom-
wenig Interesse, den Mord an Tune- lution, weil hier, anders als in den sorgte in Tunesien mission die Ermittlungsakten zur Ver-
siens wichtigstem Oppositionellen Nachbarstaaten, auf den Despoten für Entsetzen fügung zu stellen, blieb jedoch unbe-
aufzuarbeiten. »Abrate dringend von Ben Ali eine demokratisch gewählte antwortet.
Erlass Haftbefehls gegen El Ayoun. Regierung folgte. Deutschland hat bis heute auch
Haftbefehl würde deutsch-tunesi- Die Tunesierinnen und Tunesier keinen Haftbefehl gegen den noch
sche Beziehungen für die Dauer ver- begannen, Fragen an die Herrschen- lebenden mutmaßlichen Attentäter
giften … Weitere Nachforschungen den zu stellen, Hierarchien herauszu- ausgestellt. Die Staatsanwaltschaft
in dieser Angelegenheit kaum mög- fordern. Und auch Lotfi Ben Youssef Frankfurt teilt auf Nachfrage mit,
lich, ohne Aufsehen zu erregen«, teil- setzte sich zunehmend mit der Ge- man könne die Ermittlungen nicht ab-
te die deutsche Botschaft in Tunis der schichte seiner Familie auseinander, schließen, da der Aufenthaltsort der
Zentrale in Bonn mit. In einer damals die verwoben ist mit der Geschichte Verdächtigen nicht bekannt sei. Eine
als geheim eingestuften Aktennotiz Tunesiens. seltsame Antwort, da Bintarbout
des Auswärtigen Amts heißt es: »Der An einem Sommernachmittag, we- noch im Februar vor Gericht in Tunis
Wunsch, den geistigen Urheber die- nige Wochen vor dem Sturz der Re- auftrat.
ses politischen Verbrechens zu ent- gierung, läuft er durch die Altstadt Inzwischen hat der Berliner Men-
larven, führt in bedenkliche Nähe von Tunis. In den Gassen staut sich schenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck
einer Anklage gegen ein fremdes die Hitze, die Märkte sind wegen der den Fall übernommen und im Auf-
Staatsoberhaupt.« Pandemie verwaist. Lotfi Ben Yous- trag der Familie Ben Youssef Einsicht
Soufia Ben Youssef zog nach dem sef bleibt vor einer Moschee stehen. in die Akten der Frankfurter Staats-
Mord an ihrem Ehemann gemeinsam »Hier hielt mein Vater eine Grund- anwaltschaft beantragt. »Deutsch-
mit ihren beiden Söhnen zurück nach satzrede, in der er zum Widerstand land würde der jungen tunesischen
Kairo. Lotfi Ben Youssef war damals gegen die französischen Besatzer auf- Demokratie ein fatales Signal sen-
zehn Jahre alt. Er blendete die Ge- rief«, erzählt er. Kurz darauf zeigt den, wenn dieser politische Mord auf
schichte seiner Familie aus. Später er auf einen mehrstöckigen Beton- »Deutschland deutschem Boden selbst heute nicht
ging er zum Medizinstudium nach bau: »Hier wurden die Anhänger würde der aufgeklärt und sanktioniert wird«,
Frankreich, danach ließ er sich als meines Vaters vom Bourguiba-Re- tunesischen sagt er.
Arzt in den USA nieder. Jahrzehnte- gime gefoltert.« Im Moment ist es vor allem Salah
lang war Tunesien weit weg von sei- Lotfi Ben Youssef lebt mittlerweile Demokratie Ben Youssefs Sohn Lotfi, der weiter
nem Alltag. Und wahrscheinlich, sagt teils in den USA, teils in Tunesien. Er ein fatales um Aufklärung kämpft. Der Fall, sagt
er, wäre das ohne die Aufstände von will, dass sich der Staat für den Mord er, habe nicht nur Relevanz für seine
2011 auch so geblieben. entschuldigt und dass Hmaida Bintar-
Signal sen- Familie, sondern für ganz Tunesien:
Der Arabische Frühling veränder- bout, der einzige der mutmaßlichen den, wenn »Wir können nur dann eine echte
te die Region wie kaum ein Ereignis Attentäter, der noch am Leben ist, dieser Mord Demokratie werden, wenn wir uns
zuvor. In Tunesien, Ägypten, Libyen verurteilt wird. ehrlich mit unserer Geschichte aus-
fegte er die Diktaturen hinweg. In Die Menschenrechtlerin Sihem nicht auf- einandersetzen.«
Syrien löste er einen Bürgerkrieg aus, Bensedrine sagt, die Faktenlage sei geklärt wird.« Sarah Mersch, Maximilian Popp ■
1,5 Grad ansteigt als bislang vermutet. nen und die Umwelt zu verschmut- winne auszubeuten.
Walt, 66, forschte Nehmen wir das Problem so ernst, zen, entgegnen diese nicht ganz zu SPIEGEL: Aber verleiten wirtschaftli-
in Princeton und wie wir sollten? Unrecht: Ihr habt das doch 200 Jahre che Anreize nicht dazu, dass manche
Chicago, seit 2015 Walt: Nein, die weltweite Antwort lang gemacht und seid reich gewor- Länder sagen: Gebt uns Geld, oder
lehrt er an der Har-
vard-Universität auf den menschengemachten Klima- den. All diese Barrieren zu überwin- wir bauen weiter Kohlekraftwerke
Außen- und Sicher- wandel war bislang ungenügend. Die den wird nicht einfach. und brennen Wälder nieder?
heitspolitik. In sei- Ziele, die sich die Staaten gesetzt SPIEGEL: Sie haben vor zwei Jahren Walt: Solche Erpressungsversuche
nem Buch »The Hell haben, sind zu unambitioniert gewe- angesichts brennender Urwälder muss man verhindern, aber da gibt
of Good Intentions«
(2018) beschreibt sen, und selbst diese Ziele haben wir in Brasilien im Magazin »Foreign es Erfahrung in der Entwicklungs-
er die Fehler der oft verfehlt. Dazu kommt, dass es in Policy« die Frage gestellt: Hätte die hilfe. Wenn Sie in der Geschichte
US-Außenpolitik als den Vereinigten Staaten und anders- internationale Gemeinschaft nicht so- zurückblicken, finden Sie etliche Fäl-
wichtigen Faktor wo prominente Politiker gab, die das gar die Pflicht, in jenen Ländern mi- le, in denen sich Staaten zur Lösung
hinter dem Aufstieg
Donald Trumps. Problem geleugnet und sogar Versu- litärisch zu intervenieren, die mutwil- kollektiver Probleme zusammenge-
che unternommen haben, Lösungsan- lig den gesamten Planeten schädigen? schlossen haben – etwa nach dem
sätze zu sabotieren. Inzwischen hat sich die Lage vieler- Krieg im Nahen Osten im Jahr 1973,
SPIEGEL: 2017 verkündete der dama- orts noch verschlimmert. Soll man als der Suezkanal mit Seeminen und
lige US-Präsident Donald Trump, aus Krieg führen gegen Klimasünder? anderen Hindernissen unpassierbar
dem Pariser Klimaabkommen auszu- Walt: Das Gedankenspiel sollte das gemacht worden war. Ägypten selbst
steigen. Trump ist weg – warum rea- Spannungsverhältnis zwischen Natio- hatte nicht die Mittel, die Minen zu
giert die Welt immer noch so langsam nalstaaten verdeutlichen, die einer- beseitigen, also halfen die USA und
auf diese Katastrophe? seits souverän und unabhängig sind, andere Länder. Es war im Interesse
Walt: Na ja, Trumps Vorgänger ha- und andererseits in einer Welt agie- aller, dass wieder Schiffe durch den
ben ebenfalls zu wenig getan, außer- ren, in der Ressourcen wie der Regen- Kanal fahren können.
dem gibt es auch in anderen Ländern wald ungleich verteilt sind. Um es SPIEGEL: Warum fällt es den großen
Politiker, die ähnlich denken. Das klar zu sagen: Militärische Gewalt Staaten dann ausgerechnet in der
Problem ist, dass der Klimawandel soll das absolut letztmögliche Mittel Umwelt- und Klimapolitik so schwer,
die komplexeste Herausforderung für in einem Konflikt bleiben. Jeder Staat schnell zu handeln?
kollektives Handeln ist, der sich die wird sich mit allen Kräften gegen Walt: Auch hier gibt es Gegenbeispie-
Menschheit bislang stellen musste. Gewaltandrohungen von außen weh- le. Denken Sie an die Debatte um die
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? ren – außerdem wäre es absurd, einen Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffe, die
Walt: Erstens gibt es ein gigantisches Krieg im Amazonas zu führen, um die Ozonschicht schädigen. Inzwi-
Problem der Kollektivität: Wenn die den Amazonas zu retten. Es gibt ver- schen sind FCKW in vielen Ländern
USA alles tun, um den Kohlendioxid- mutlich bessere Strategien. verboten, die Ozonschicht erholt sich
ausstoß zu verringern, aber China, In- SPIEGEL: Welche? allmählich. Und auch der Welthandel
dien, Japan und Deutschland untätig Walt: Hin und wieder ringt sich der unterliegt Regeln, denen sich souve-
Republik 21 Vor der
bleiben, wird sich die Krise nicht be- UN-Sicherheitsrat zu Sanktionen räne Staaten unterworfen haben. Das
Bundestagswahl wältigen lassen. Die entscheidenden durch – etwa gegen das Nuklearpro- Problem beim Klimawandel ist, dass
im September widmet Mächte müssen mitmachen, das er- gramm von Iran oder in anderen Fra- es eine ungleich höhere Anstrengung
sich der SPIEGEL fordert ein hohes Maß an Koordina- gen regionaler Sicherheit. Ähnliche erfordert, besonders bei reicheren
den großen gesell- tionsfähigkeit und Vertrauen. Beides Strafmaßnahmen wären gegen Regie- Ländern. Meine Sorge ist, dass wir
schaftlichen Fragen
unserer Zeit. Hier: ist nicht ausreichend vorhanden. rungen denkbar, die aktiv die Umwelt uns etwas vormachen, wenn jetzt
Sind wir noch Zweitens gibt es ein Problem der Ge- zerstören und damit nicht nur sich hier und da behauptet wird, dass sich
zu retten? nerationengerechtigkeit: Es ist äu- selbst, sondern auch anderen Ländern mit etwas Technik die Katastrophe
abwenden lässt. Die Wahrheit ist, Walt: Ich verstehe das Unbehagen, »China wird Walt: Die globalen Emissionen wer-
dass es kostspieliger Anpassungen be- und wir müssen versuchen, diese den sicher nicht von allen 192 UN-Mit-
darf – sei es, dass wir weniger fliegen Branche sicherer zu machen. Aber dramatisch gliedstaaten gleichermaßen verursacht,
oder dass unsere Autos langsamer trotzdem ist es wichtig, eine rationale unter dem sondern von den 10, 15 größten Emit-
fahren. Wir müssen ehrlich mit uns Kosten-Nutzen-Analyse anzustellen. tenten. Wenn sich nur 5 von denen auf
sein: Ohne Verzicht und eine gewal- Ja, die Atomkraft birgt Risiken. Aber
Klimawandel ambitionierte Ziele einigen könnten,
tige Anstrengung geht es nicht. inzwischen sehen wir, dass es auch leiden – unter wäre das ein bedeutender Fortschritt.
SPIEGEL: Sind manche Staaten in die- Risiken mit sich bringt, nicht auf die Wasserman- Die G7 wären vielleicht ein passende-
ser Hinsicht weiter als andere? Atomkraft zurückgreifen zu können. res Forum. Das Problem an giganti-
Walt: Die USA haben weltweit pro SPIEGEL: China baut 18 neue Kern-
gel, Hitze, schen Konferenzen wie Glasgow ist,
Kopf den höchsten Ausstoß von kraftwerke, dazu verkündete Präsi- steigenden dass sie oft Lösungen des kleinsten ge-
Treibhausgasen, zugleich sträubte dent Xi Jinping im vergangenen Jahr, Meeres- meinsamen Nenners hervorbringen.
sich das politische System lange ge- dass spätestens 2030 die C0 -Emis- SPIEGEL: Sollte man Metropolen wie
² spiegeln.«
gen Umweltschutz. Wir haben weder sionen sinken werden. Bis 2060 soll London oder Teilstaaten wie Kalifor-
das Kyoto-Protokoll von 1997 unter- das Land klimaneutral sein. Wird Chi- nien nicht stärker in den Klimaschutz
zeichnet, noch haben wir uns beson- na zum globalen Vorreiter im Klima- einbinden, weil sie sich ehrgeizigere
ders beim Kopenhagener Klimagipfel schutz? Ziele setzen als viele Regierungen?
2009 engagiert. Erst 2015 beim Kli- Walt: So weit würde ich nicht gehen, Walt: Das hängt vom politischen Sys-
maabkommen von Paris war die Re- vor allem weil die Emissionen in den tem ab. Kalifornien kann unabhängig
gierung von Barack Obama entschlos- nächsten zehn Jahren ja noch steigen. von der Regierung in Washington
sener. In Peking erkennt die Führung China ist in absoluten Zahlen inzwi- strengere Kraftstoff- und Verschmut-
zumindest in öffentlichen Äußerun- schen der größte Emittent von Treib- zungsstandards festlegen – das funk-
gen das Problem an – selbst wenn hausgasen. Dennoch: Es ist wertvoll, tioniert nicht in jedem Land. Aber es
China weiter viel Kohle verbrennt. wenn Xi Jinping das Problem aner- ist richtig, dass einige Regionen mehr,
Europa steht gut da in der Klimapoli- kennt, denn der Klimawandel wird andere weniger vom Klimawandel be-
tik, wenn auch nicht perfekt. Eines das Land dramatisch treffen. Manche troffen sein werden. Eine wichtige Fra-
besorgt mich: die Aversion gegen- Regionen leiden schon jetzt unter ge ist, wie wir uns den Folgen anpas-
über Atomkraft, auch in Ländern wie Wassermangel, die Küstenstädte wer- sen, denn der IPCC-Bericht sagt ja
Deutschland. Das wird bei der Strom- den von steigenden Meeresspiegeln deutlich: Egal was wir heute tun, die
erzeugung schaden, denn zusätzliche betroffen sein. Es gibt Modelle, nach globale Mitteltemperatur wird spätes-
Kapazitäten lassen sich nicht über denen Teile des Landes aufgrund von tens bis 2050 um 1,5 Grad gestiegen
Nacht schaffen. Die Überreaktion ge- steigender Hitze und Luftfeuchtigkeit sein. New York muss wohl Deiche ge-
gen Nuklearenergie macht die Lö- unbewohnbar werden könnten. gen das Hochwasser errichten, für
sung der Klimafrage noch schwieriger, SPIEGEL: Sind aufwendige Großkon- Boston, wo ich lebe, gilt dasselbe. An-
als sie ohnehin schon ist. ferenzen wie der UN-Klimagipfel dere Regionen müssen den Brand-
Eisbären auf
SPIEGEL: Aber schaden Atomkata- Ende Oktober in Glasgow mit Tau- schutz ausbauen oder stärkere Strom-
Mülldeponie
strophen wie 2011 in Fukushima dem senden Teilnehmern sinnvoll im in russischer leitungen gegen heftigere Stürme er-
Planeten nicht auch jahrzehntelang? Kampf gegen den Klimawandel? Arktis 2018 richten. Niemand weiß, wie teuer das
wird, weltweit müssen Küstenstädte
mit ähnlichen Problemen zurecht-
kommen. In extremen Fällen müssen
wir einige dieser Städte aufgeben.
SPIEGEL: Hat die Diplomatie beim
Klimaschutz versagt?
Walt: Zum Teil, aber das größere Pro-
blem liegt in den einzelnen Ländern,
bei Politikern und auch vielen Bür-
gern, die die Realität einfach nicht
anerkennen wollen. Es herrschte jahr-
zehntelang das Wunschdenken vor,
dass es schon nicht so schlimm wer-
den wird. Bei der Pandemie ist es ähn-
lich, noch immer lehnen erstaunlich
viele Menschen eine Impfung ab,
trotz des erwiesenen Nutzens.
SPIEGEL: Einigt sich die internatio-
nale Gemeinschaft bald auf eine ehr-
geizigere Strategie zum Klimaschutz?
Walt: Ich bin Optimist, weil ich weiß,
dass Menschen anpassungsfähig sind.
Bei der Klimafrage befürchte ich aber,
dass die Hindernisse weiter bestehen
werden, die den Fortschritt in den ver-
gangenen 20, 30 Jahren gebremst ha-
Alexander Grir / AFP
gis das Manöver Lukaschenkos. Er missbrau- EU-Staaten dad und Istanbul einfliegen ließ. Sollte sich
che Geflüchtete als »politische Waffe«. die Lage an der Grenze zu Litauen nicht be-
LETTLAND RUSSLAND
Dass es Litauen trifft, ist kein Zufall. Die ruhigen, werde er harte Gegenmaßnahmen
Ostsee
Regierung in Vilnius forderte als eine der ers- einleiten, sagte er.
ten härtere Strafen gegen Belarus, nachdem LITAUEN Die EU-Innenminister wollen am kom-
Lukaschenko Ende Mai eine Ryanair-Maschi- menden Mittwoch über die Krise an der Ost-
Vilnius
ne zur Landung gezwungen hatte. Hunderte grenze der Union beraten. Litauen drängt da-
Lukaschenko-Gegner haben in Litauen Zu- Minsk rauf, dass die Flüge gestoppt werden, betont,
flucht gefunden. Die belarussische Präsident- POLEN dass viele der Menschen eigentlich weiter
schaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja BELARUS Richtung Finnland, Deutschland, Österreich
hat ihren Stab in Vilnius, sie spricht von einer wollten. Zumindest Iraqi Airways hat vorüber-
Warschau
»Rache an Litauen«. gehend den Verkehr nach Belarus eingestellt.
In Vilnius schaute man wochenlang zu, Doch für wie lange? Und was ist mit den Flü-
UKRAINE
wie die Zahl der Geflüchteten weiter anstieg: gen aus der Türkei?
Mal waren es 131 Menschen täglich, mal 144, 200 km Menschenrechtler sagen, Lukaschenko
dann 171 Migranten, die Beamte an der Gren- habe sich ein Beispiel am türkischen Staats-
ze stoppten. Als die Behörden Anfang August S Karte: OpenStreetMap chef Recep Tayyip Erdoğan genommen, der
294 Geflüchtete an einem einzigen Tag mel- im Frühjahr 2020 die Grenze zu Griechen-
deten, entschloss sich die Regierung zu han- land vorübergehend für Flüchtlinge geöffnet
deln. Sie weist die Flüchtlinge nun konse- sind, frieren. Sie zünden Kleidungsstücke an, hatte, um die EU unter Druck zu setzen. Die
quent zurück. um sich zu wärmen. Frage ist, wie weit der belarussische Macht-
An der Grenze stehen sich seitdem Beam- Drei Tage harren die Iraker im Niemands- haber gehen wird.
te eines demokratischen und eines repressi- land aus, erzählt Hamza, einer der Männer, Lukaschenko selbst stellt es gern so dar,
ven Staats gegenüber, die Mittel sind ähnlich: später am Telefon. Dann müssen sie zurück als lasse er die Geflüchteten nur passieren. In
Die litauischen Kräfte haben Hunde und nach Belarus, werden dort von einer belarus- Wahrheit hat sein Regime systematisch dafür
Schlagstöcke zur Abschreckung, die Belarus- sischen Einheit geschlagen und gezwungen gesorgt, dass die Zahl der Flüchtlinge nahe
sen Helme, Schilde und Schlagstöcke. Mit- durch Wälder zu marschieren, angeblich Rich- der Ostgrenze der EU gestiegen ist.
tendrin im Niemandsland: die Flüchtlinge. tung Lettland. Irgendwann erreichen sie ein Dokumente der Londoner Chodorkowski-
»Was ist mit den Menschen?«, fragte der Dorf, können per Telefon einen Kontakt- Organisation »Dossier Center«, die dem
Menschenrechtsbeauftragte des litauischen mann um Hilfe bitten. Mittlerweile sind sie SPIEGEL vorliegen, belegen, dass das staat-
Parlaments, Vytautas Valentinavičius, der wieder im Irak. liche belarussische Unternehmen Zentrkurot
selbst vor Ort war und sah, wie belarussische Die Flüchtlinge im Zeltlager bei Rūdninkai im Mai dafür sorgte, dass Dutzende Visa an
Beamte Warnschüsse in die Luft abgaben, um haben die Videos der fünf Männer gesehen. Irakerinnen und Iraker vergeben wurden.
eine Gruppe Flüchtlinge zurückzudrängen. Viele haben nun Angst, abgeschoben zu wer- Zentrkurot untersteht der Präsidialverwal-
»Lukaschenko hat die Menschen mit Tou- den. 280 Geflüchtete wollte die irakische Re- tung Lukaschenkos. Man arbeite nicht mit
ristenvisa eingeladen, dann soll er sich auch gierung noch diese Woche aus Minsk zurück Besuchern aus dem Irak, Syrien, Libyen und
um die Menschen kümmern. Es ist seine Ver- nach Bagdad holen. Afghanistan, behauptet das Unternehmen auf
antwortung«, sagt hingegen der litauische Aber was ist mit den vielen anderen, die Anfrage.
Vizeinnenminister Arnoldas Abramavičius. noch unterwegs sind? Die litauischen Behör- Eine Frau, die bis Mai für Zentrkurot
»Unsere Grenzschützer waren lange so etwas den schätzen, dass es bis zu 5000 Geflüchtete arbeitete und deren Namen in den Papieren
wie eine Hotelrezeption für die Migranten, sein könnten. erwähnt wird, bestätigt jedoch die Echtheit
das muss aufhören.« Es mehren sich die Anzeichen, dass Luka- der Dokumente. Sie sagt, es seien sogar Hun-
Die litauischen Grenzschützer betonen, schenko sie an andere EU-Grenzen schicken derte Touristenvisa gewesen, die Zentrkurot
dass die Flüchtlinge noch vor Betreten Litau- könnte. Gruppen mit Migranten, darunter für Iraker ausstellen ließ. Die Frau organisier-
ens abgewiesen und Ausnahmen für Kranke Kinder, sind weiter westlich an der polnischen te die Visa-Einladungen für die Menschen,
und Kinder gemacht würden. »Wir wenden und nördlich an der lettischen Grenze an- die mit Direktflügen von Iraqi Airways und
keine Gewalt an«, sagt der Sprecher des li- gekommen. Auch in Deutschland griff die Fly Bagdad in Minsk am Flughafen ankamen.
tauischen Grenzschutzes Rokas Pukinskas. Polizei schon vereinzelt Menschen auf. Dort warteten Fahrer eines Transportunter-
Nachprüfen lässt sich das kaum. Fünf ira- Lukaschenko scheint nicht gewillt zu sein, nehmens, das Zentrkurot beauftragt hatte,
kische Flüchtlinge erzählten Mitarbeitern der die Menschen aufzunehmen, die er aus Bag- brachten die Iraker in Hotels im Zentrum von
Hilfsinitiative »Alarm Phone«, dass sie abge- Minsk. »Dass das keine touristischen Reisen
wiesen wurden, obwohl sie in Litauen explizit waren, war mir schnell klar«, sagt sie. »Ich
um Asyl gebeten hätten. habe verstanden, dass das alles illegal ist, und
Ihre Notlage an der Grenze filmten sie habe noch im Mai gekündigt.«
selbst. »Bitte, mein Freund, bitte«, fleht einer In den Dokumenten des »Dossier Center«
der Männer in einem der Videoclips. Er steht taucht ein weiterer Name auf: Es ist jener
im hohen Gras vor vier litauischen Beamten der Firma Oscartur in Minsk. Deren Direktor
in Tarnuniform und Sturmhauben, sie haben wird als Ansprechpartner zusammen mit der
einen Hund bei sich. Einer der Grenzschützer damaligen Mitarbeiterin von Zentrkurot in
hat einen Schlagstock in der Hand, sagt: den Visalisten der Iraker angegeben. Vieles
»Geh zurück nach Belarus. Verstehst du das? deutet darauf hin, dass das Unternehmen da-
Geh zurück.« Der Mann ruft: »Ich will nicht für sorgen sollte, dass mehr Menschen aus
zurück.« Auf der anderen Seite haben bela- dem Irak nach Belarus kommen. In den E-
Andrei Stasevich / AP
russische Sicherheitskräfte Stellung bezogen. Mails ist ein Entwurf eines Kooperationsver-
Die Flüchtlinge kommen nicht vor und nicht trags mit dem Staatsunternehmen Zentrku-
zurück. Stundenlang geht das so, die Männer rot enthalten. Darin geht es um die »Entwick-
sagen, sie hätten kein Wasser und Essen. Bil- lung des internationalen Tourismus mit Län-
der zeigen, wie sie vom Regen durchnässt Despot Lukaschenko dern der arabischen Welt und der Republik
Der Wechsel von Lionel Messi vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain katapultiert den französischen Fußballklub an die Spitze
der europäischen Gehaltstabelle. In der neuen Saison tragen auch Zugänge von Topstars wie Sergio Ramos (von Real Madrid),
Gianluigi Donnarumma (vom AC Mailand), Achraf Hakimi (von Inter Mailand) und Georginio Wijnaldum (vom FC Liverpool) dazu bei,
dass Paris die mit Abstand teuerste Mannschaft Europas stellt.
nen. Die Entscheidung hatte »Die Herausforderung ist, dass den so ausgeprägt seien,
eine große Diskussion in den das Pferd darauf angewiesen dass sie ethisch nicht vertret-
sozialen Medien ausgelöst. ist, seine Gliedmaßen vom bar seien, werde das Tier ein-
Ob »Jet Set« hätte geret- Therapiebeginn an durch sein geschläfert, sagt Geburek:
tet werden können, ist aus Körpergewicht zu belasten«, »Es geht immer darum, das
der Ferne nicht zu beurteilen. sagt Geburek. Leiden des Tieres möglichst
In schweren Fällen gibt es Schwer verletzte Tiere gering und von möglichst
aus tierärztlicher Sicht Grün- müssten manchmal daran »Jet Set« beim Geländeritt in Tokio kurzer Dauer zu halten.« NGO
scheitert.« Das wurde als offene Kri- nen frühen Zwanzigern war. Damals matisch eine Garantie auf Erfolg.
tik an Joachim Löw gelesen. Sollte es habe ich auch schon Tore geschossen Ich habe die Erfahrung gemacht,
das sein? und tolle Spiele geliefert, heute spüre dass Veränderungen für eine Entwick-
Müller: Das wurde sehr auflagenför- ich in meinem Spiel mehr Konstanz. lung oft förderlich sein können. Da-
dernd interpretiert. Ich habe eine Und mit Hansi Flick kommt ein Trai- mit meine ich jetzt gar nicht un-
ner, bei dem ich weiß, dass seine bedingt personelle Veränderungen:
Das Gespräch führten der Redakteur Jörn Meyn Spielphilosophie mit meiner überein- Wer auf Topniveau bleiben will, muss
und der SPIEGEL-Mitarbeiter Florian Kinast. stimmt. jeden Tag nachjustieren und sich
fragen, wie er besser werden kann. will, wo es eigentlich super ist. Beim
Das gilt für uns Spieler wie für Trai- FC Bayern haben wir herausragende
ner. Und für die ist der Job besonders Bedingungen, spielen immer um den
schwierig. nationalen und um internationale
SPIEGEL: Warum? Titel mit. Da muss man erst einmal
Müller: Wenn du als Spieler einen etwas finden, das besser ist. Und Lan-
freien Tag hast, hast du wirklich frei geweile hatte ich hier nie: In einem
und bist daheim bei Frau und Kind, solchen Topklub muss ich mich ja
bei Hund und Katz. Ein Trainer da- jeden Tag neu beweisen.
gegen hat nie frei. Er ist 365 Tage SPIEGEL: Haben Sie nie überlegt, den
24 Stunden im Einsatz, er muss sich Verein zu verlassen?
mit Problemen in der Mannschaft Müller: Doch, zweimal. Zuletzt im
herumschlagen, mit der Verletzten- Herbst 2019. Damals habe ich nicht
liste, mit den Medien, mit dem gan- von Beginn an gespielt. Und es hätte
Lorenz Baader
zen Umfeld. Als Trainer wirst du im sein können, dass die Mannschaft
Lauf der Jahre ganz automatisch auch ohne mich erfolgreich ist. Es
abgeschliffen. braucht ja nicht jedes Team einen
SPIEGEL: Nagelsmanns Vertrag läuft Trainer Nagelsmann: Ära Hoeneß/Rummenigge ist beendet. Thomas Müller, um zu gewinnen.
bis 2026. Ein so langer Kontrakt ist »Ich finde die Wie verändert das den Verein? Wäre es so gekommen, dann hätte
Konstellation höchst
für Bayern-Trainer außergewöhnlich. interessant« Müller: Für die Mitarbeiter, die Ab- ich mich verändern wollen.
Von ihm wird erwartet, Titel zu ho- teilungen und alles, was den Verein SPIEGEL: Und das zweite Mal?
len, eine neue Ära zu prägen. Kann rund um diese Fußballmannschaft Müller: Das war 2015, als Manches-
er das erfüllen? ausmacht, waren jahrzehntelang ter United mich verpflichten wollte.
Müller: Ich finde die Konstellation Hoeneß und Rummenigge prägend. Das hätte ich vielleicht gemacht.
höchst interessant. Zum einen haben Oliver Kahn wird seinen eigenen Aber mein Vertrag galt noch ein paar
wir vor kurzer Zeit mit sechs Titeln Stil entwickeln. Und was die Trans- Jahre, und der FC Bayern hat mir klar
die erfolgreichste Saison der Vereins- fers angeht, kann ich im Moment signalisiert: Wir lassen dich nicht ge-
geschichte erleben dürfen. Zum an- nicht feststellen, dass Uli Hoeneß und hen, nicht einmal für die verrückte
deren kommt jetzt ein Trainer, der Karl-Heinz Rummenigge grundsätz- Summe von 120 Millionen, die da auf-
sehr jung ist und bei seinen bisherigen lich die besseren Spieler geholt hätten gerufen wurde. Dann war die Tür zu,
Stationen in Hoffenheim und Leipzig als Oliver Kahn und Hasan Saliha- und für mich war das okay. Denn wer
die Erwartungen immer übertraf. Ich midžić. hört nicht gern von seinem Klub, dass
habe mit einigen seiner früheren Spie- SPIEGEL: Kahn hat kürzlich gesagt: er voll auf einen setzt? Zumal du hier
ler gesprochen und nur Gutes gehört. »Wir haben einen exzellenten Kader.« etwas aufgibst, das du vielleicht nie
Reizvoll für mich ist, wie detailliert Hat er recht? wieder findest.
Julian Nagelsmann sich mit dem Fuß- Müller: Ja. Wir haben einen sehr gu- SPIEGEL: Ihr Vertrag läuft noch bis
ball auseinandersetzt und was daraus ten Kader. zum Jahr 2023. Haben Sie sich schon
entstehen kann. SPIEGEL: Paris hat Lionel Messi ge- Gedanken gemacht, was nach dem
SPIEGEL: Kann er jemandem wie Ih- holt, den besten Spieler der Welt, Ende Ihrer Karriere kommen soll?
nen noch etwas beibringen? Chelsea hat Romelu Lukaku ver- Müller: Es ist nicht ausgeschlossen,
Müller: Mit Sicherheit, ich bin sehr pflichtet, Manchester United hat Ja- dass ich Trainer oder Funktionär wer-
neugierig darauf. Vielleicht kann ich don Sancho für 85 Millionen Euro de. Was ich hingegen ausschließe:
noch eine Schippe drauflegen und gekauft und Manchester City Jack einen direkten Übergang. Mir fehlt
noch effizienter werden. Vielleicht Grealish für 118 Millionen Euro. Be- ja die Ausbildung dazu. Ich war
kann ich in dem einen oder anderen reitet Ihnen das keine Sorgen? 20 Jahre lang nur Spieler. Natürlich
Detail, das ich seit Jahren falsch ma- Müller: Das ist ein bisschen verrückt habe ich Talente. Aber es wäre
che, nochmals nachkorrigieren. Wo- gerade. Man hätte eigentlich gedacht, eine Illusion zu glauben, dass ich
möglich gilt das auch für meine Mit- dass sich der Markt durch Corona schnell den Trainerschein mache
spieler. etwas beruhigt. Das scheint nicht der und dann Trainer beim FC Bayern
SPIEGEL: Macht es einen Unter- Fall zu sein, und wir müssen sehen, werde. Das Gleiche gilt für das
schied, ob ein Trainer, wie Jupp Heyn- was das für uns bedeutet. Wir in Management.
ckes, über siebzig ist oder Mitte drei- Deutschland haben uns für die 50+1- SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen,
ßig, wie Nagelsmann? Regelung entschieden. Und das hat aus dem Fußball ganz auszusteigen?
Müller: Wenn es allein darum geht: ja auch sein Gutes für die Mitbestim- Müller: Ich möchte den Fußball ei-
Wie spricht ein Mensch mit einer
Gruppe, dann könnte sich Heynckes
vielleicht ein paar mehr Fehler erlau-
106
Länderspiele
mung der Fans, für die Vereinskultur
im Land. Aber dann muss man eben
damit leben, dass nicht unendlich viel
gentlich nicht verlieren. Dafür bedeu-
tet er mir zu viel. Wenn meine Kar-
riere endet, wird das wie ein Entzug.
ben als Nagelsmann. In der Anspra- Geld in die Klubs gepumpt wird, mit Das Adrenalin, das du auf dem Spiel-
che an die Spieler wohlgemerkt, nicht dem sie groß shoppen gehen können. feld ausschüttest, wirst du so nirgends
im taktischen Bereich. Vor Heynckes absolvierte Deshalb können wir derzeit keinen mehr finden. Außer du wirst profes-
hat man grundsätzlich schon Respekt Müller mit weiteren, fertigen, internationalen sioneller Bungeejumper. Mit deinem
aufgrund seiner riesigen Erfahrung. Topstar holen. letzten Spiel als Profi wird dir dieses
Dazu kommt, dass er als Spieler und
der National- SPIEGEL: Sie sind seit 2009 Profi, Adrenalin gestohlen. Dessen bin ich
Trainer alles erreicht hat. elf. Er schoss waren immer beim FC Bayern. Ist mir bewusst. Das macht mich auch
SPIEGEL: Sie haben beim FC Bayern dabei 39 Tore, Ihnen das nicht zu langweilig auf etwas traurig und lässt mich zittern
nicht nur einen neuen Trainer, sondern Dauer? vor dem Ungewissen.
auch eine neue Führung bekommen. wurde einmal Müller: Es ist ja in den seltensten SPIEGEL: Herr Müller, wir danken
Oliver Kahn ist jetzt offiziell CEO. Die Weltmeister. Fällen so, dass man von dort weg Ihnen für dieses Gespräch. ■
Keine
Mindest-
laufzeit
SPORT
GETTY IMAGES
für sie weitere gesundheitliche Fol- krankenhauses Ulm an den Mann-
gen. Bei einem Belastungstest nach schaftsarzt. »So lange wollten die
dem Infekt erlitt sie einen Zusammen- Funktionäre nicht warten«, behaup-
bruch, Anzeichen einer schweren De- Boxerin Nimani im der gehöre sie nicht mehr an. Ihre tet Nimani. Im Dezember habe sie
pression. Im Oktober begab sie sich Halbfinale der »boxerische Entwicklung« stagniere bei der nationalen Olympiaausschei-
Europaspiele 2015:
in eine psychiatrische Klinik. Als sie Gesundheit und Leben seit zwei Jahren, so die Begründung. dung antreten müssen, eine Verschie-
Mitte Dezember entlassen wurde, geopfert Zudem stören Müller die öffentli- bung ihres Kampfes sei abgelehnt
glaubte sie noch immer an ihre Chan- chen Äußerungen Scheurichs, daraus worden.
ce bei Olympia. Doch zu einem Ka- macht er keinen Hehl. Trainer und In der zweiten Runde brach das
derlehrgang Mitte Januar lud sie der Betreuer müssten vor »falschen Be- Nasenbein erneut, sie habe verlet-
Verband erst gar nicht mehr ein. hauptungen und Angriffen« geschützt zungsbedingt aufgeben müssen. Bis
Der DBV hatte inzwischen Christi- werden, schreibt er und erwähnt heute habe sie Probleme mit der
na Hammer gewonnen. Die 30-Jähri- »nicht freigegebenes Bild- und Video- Atmung, so Nimani. »Ich habe dem
ge war eine erfolgreiche Profiboxerin, material«. Sport meine Gesundheit und mein
bei der die Karriere zuletzt stockte. Scheurich ist kein Einzelfall, auch Leben geopfert«, sagt sie.
Sie sollte ins Amateurlager zurück- andere Unterzeichner der Mobbing- »Der Verband stellt den Erfolg
kehren, um in Tokio anzutreten. Erklärung machen die Verbandsspit- über die Gesundheit seiner Athle-
Scheurich drohte mit Klage, um an ze dafür verantwortlich, dass ihre ten«, klagt Kastriot Sopa, der einzige
dem Trainingslager teilnehmen zu sportlichen Ambitionen zerplatzten. männliche Athlet, der die Erklärung
können. Schließlich setzte der DBV Etwa Ramona Graeff. Sie galt noch der Sportler unterzeichnete. Sopa,
einen Ausscheidungskampf zwischen Anfang des Jahres als mögliche Teil- ebenfalls mehrmaliger deutscher Meis-
Hammer und ihr in Belfast an, weil nehmerin für Tokio und als Medail- ter, hat im vergangenen Jahr mit
dort ohnehin ein Boxturnier stattfand. lenkandidatin für Paris. 2019 wurde 27 seine Karriere beendet. Er ist über-
Scheurich hatte erneut Pech, ein Bo- sie Deutsche Meisterin im Federge- zeugt, sich bei der Olympiavorberei-
xer, der mit ihr aus Schwerin anreiste, wicht, ausgezeichnet als beste Kämp- tung des DBV in Kasachstan mit dem
wurde positiv auf Corona getestet. ferin des Turniers. Coronavirus infiziert zu haben, und
Der Kampf wurde abgesagt, Scheu- Top ist die 23-Jährige nicht nur im macht dafür die Funktionäre verant-
rich musste in Quarantäne, während Boxen. In der Schule übersprang sie wortlich. Der DBV bestreitet das.
Hammer normal trainieren konnte. zwei Klassen und begann mit 16 Jah- Unterstützung bekommen die Kri-
Zurück in Schwerin, wurde der Kampf ren in Düsseldorf ein Mathematikstu- tiker hingegen von Athletensprecher
nachgeholt – und Scheurich verlor. dium. Das Angebot des DBV, Sport- Hamza Touba. Bei der Förderung der
Die Bedingungen seien zwar un- soldatin zu werden, nahm sie an un- Sportler würden häufig Dinge ein-
fair gewesen, sagt Scheurich, die Nie- ter der Prämisse, ihr Studium ordent- bezogen, die mit der Leistung nichts
derlage erkenne sie aber an. Statt ihr lich zu beenden. Aber der DBV hatte zu tun hätten. »Dadurch sind gute
fuhr Hammer zum Europa-Qualifika- andere Pläne. Graeff solle zum Bun- Athleten nicht mehr dabei«, sagt Tou-
tionsturnier nach Paris, um das Ticket desstützpunkt nach Heidelberg zie- ba und beklagt, dass auch er als Spre-
für Tokio zu lösen. Daraus wurde hen, wo gerade eine neue Boxhalle cher nicht ernst genommen würde.
nichts, Hammer verlor Anfang Juni gebaut wird. Als sie nicht gleich ein- Für Sarah Scheurich ist es hinge-
schon den ersten Kampf. willigte, unterstellte ihr Müller, der gen keine Option aufzugeben. »Ich
Für Scheurich kam das nicht über- Studienabschluss sei nur »vorgescho- bin nach dem Klinikaufenthalt besser
raschend. In Schwerin hatte sie einen ben«. Graeff sei »nicht führbar«. als je zuvor«, behauptet sie. Ihr Ziel
Trainingskampf gegen Hammer be- Das Boxtalent zog die Konsequen- sei Olympia in Paris. Sie denkt darü-
stritten – und sie dabei mit einer har- zen und beendete seine Karriere im ber nach, den Verband zu verklagen.
ten Rechten trotz des Kopfschutzes DBV. »Ich wollte mich nicht bevor- Sie hat sich dem Boxclub Gifhorn an-
ausgeknockt. Wie üblich wurde das munden lassen«, sagt Graeff. geschlossen.
Sparring aufgezeichnet, es dauerte Müller freilich tritt nach: Sie habe Nun bemüht sie sich, zumindest
nicht lange, bis die Videosequenz in Sportdirektor einen »ungenügenden Leistungszu- am Bundesstützpunkt in Hannover
der Boxszene die Runde machte. Müller stören stand« gehabt und eine bedauerliche trainieren zu können. Der dortige Lei-
Womöglich erschien das den Funk- »technisch-taktische Rückwärtsent- ter Holger Stitz hält von Scheurichs
tionären als willkommene Gelegen- die öffentlichen wicklung« gemacht, schreibt er ihr. Idee mit der Klage wenig . »Ich an ih-
heit, die aufmüpfige Sportlerin loszu- Äußerungen, Einen unfairen Umgang beklagt rer Stelle würde nach Luxemburg, Bel-
werden. Ende Juni teilte der DBV auch Azize Nimani. Die 30-Jährige gien oder in die Niederlande gehen«,
Scheurich offiziell mit, die Sportför-
daraus macht kämpfte bei Welt- und Europameis- sagt er, »dort freuen sie sich über gute
derung werde beendet. Auch dem Ka- er keinen Hehl. terschaften vorne mit und sammelte Leute.« Michael Fröhlingsdorf ■
Fans bei Public Viewing in Berlin 2006: »Stimmverhalten massiv beeinflusst« Dominik Butzmann / laif
den die Beratungsfirma Esecon im Im Rechtsgutachten hatten die An- men: Er war Chef des Bewerbungs-
Auftrag des DFB verfasst hat. Auf 126 wälte ungeschminkt »Stimmenkauf« komitees, Präsident von Bayern Mün-
Seiten gehen die Prüfer noch einmal vermutet und Größen des deutschen chen, Kommentator beim Kirch-Be-
der Frage nach: War das Sommermär- Fußballs Pflichtverstöße angelastet: al- zahlsender Premiere.
»über Beraterverträge oder Freund- Generalsekretär Horst R. Schmidt restlichen Varianten reichen vom
schaftsspiele an Dritte zwecks Stim- mit Beckenbauer und Radmann: Schmiergeld für Bin Hammam und
mensicherung gezahlt worden sein«. »Folgende Verpflichtungen müssen andere Fifa-Finanzfunktionäre bis
Das war für einen Sieg offenbar noch erfüllt werden: Concacaf.« zum Kauf von Sport-Vermarktungs-
nötig, denn »zwei Monate vor der Und noch im Mai 2001, nach ei- rechten durch Beckenbauer.
Abstimmung« am 6. Juli 2000, so nem Treffen von Schmidt, Becken- Esecon kommt zum Schluss: Eine
Esecon, kam Deutschland auf acht bauer, Radmann mit dem damaligen Zahlung an Warner, als Ersatz für den
Stimmen, Konkurrent Südafrika auf DFB-Sprecher Wolfgang Niersbach: geplatzten Concacaf-Vertrag, »er-
zwölf. Ende Mai 2000 drängte Be- die »Angelegenheit Concacaf« werde scheint naheliegend«. Für »besonders
ckenbauer in einer DFB-Präsidiums- geprüft, man werde Vorschläge ein- schlüssig« halten die Ermittler, dass
sitzung, nochmals »die Schlagzahl zu reichen. zwei Szenarien miteinander verzahnt
erhöhen«. Am selben Tag kam Jack Jack-»Wünsch dir was«-Warner sind: Kompensation für Warner und
Warner nach Deutschland. Ein Mann, war nicht das einzige Problem der Wahlkampfhilfe für Blatter.
von dem es hieß, er halte sogar noch Deutschen. Wie Esecon herausarbei- Denn der war 2002 für seine Wie-
im Schlaf die Hand auf, damit man tet, hatten sie in ihrer Bewerbung den derwahl auf jede Hilfe angewiesen.
ihm Geld hineinstecken könne. Er ist Eindruck erweckt, WM-Geld habe Auch auf die Stimmen aus Nord-
heute wegen Korruption lebenslang man genug; von der Fifa brauche man und Mittelamerika, die Jack Warner
von der Fifa gesperrt. keines. In Wahrheit aber klaffte ein hinter sich hatte. Also sorgte Blat-
Warner ließ sich nicht nur mit der 300-Millionen-Mark-Loch in der Kal- ter nach der von Esecon favorisier-
Gemahlin vom DFB hofieren und kulation. Kaum war der Zuschlag da, ten Theorie dafür, dass Warner
chauffieren. Er verhandelte bei sei- bettelte das deutsche WM-Komitee doch noch sein Schmiergeld von den
nem Besuch überdies den berüchtig- die Fifa an, und Vizechef der Fifa-Fi- Deutschen bekam. Der Hebel, den
ten Concacaf-Vertrag aus, den Franz nanzkommission war Warner. der Fifa-Chef ansetzte, war demnach
Beckenbauer nur vier Tage vor der Die Deutschen waren erpressbar. der WM-Zuschuss, den die Deut-
Henning Kretschmer
WM-Entscheidung mit ihm unter- Nachdem der DFB monatelang schen so dringend vom Weltverband
zeichnete. Der Vertrag garantierte nichts gehört hatte, brachte angeblich brauchten.
dem Nord- und Mittelamerika-Ver- ein Vieraugengespräch von Becken- Und den Hebel betätigt hätte Mo-
band Concacaf rund zehn Millionen bauer mit Fifa-Chef Joseph Blatter hamed Bin Hammam, damals Blat-
Mark vom DFB: davon allein Adidas- Günther Netzer die Wende: Blatter soll die Deutschen ters engster Verbündeter. »Es ist da-
Ausrüstung für vier Millionen Dollar. an den Katarer Bin Hammam vermit- von auszugehen, dass die Vorgänge
Concacaf-Chef Warner sollte persön- Als Nutzen telt haben, ebenfalls Mitglied der Fi- zur Zahlungsanforderung zwischen
lich 1000 Premiumtickets für die WM ist allenfalls nanzkommission. Der soll in einem Joseph Blatter und Mohamed Bin
bekommen. Gespräch mit Beckenbauer-Intimus Hammam genau abgestimmt waren«,
Für die Esecon-Prüfer gehört die- eine Beein- Radmann zehn Millionen Franken schreibt Esecon. Folgt man der Theo-
ser Vertrag zu den »dringenden Last- flussung verlangt haben, damit im Gegenzug rie der Ermittler, hätte Bin Hammam
Minute-Aktionen«; als »stimmen- ein Zuschuss für Deutschland fließe, die zehn Millionen Franken in einem
sichernde Maßnahme«. Genauso sah
des Abstimm- 250 Millionen Franken. Gespräch mit Fedor Radmann gefor-
es 2016 Freshfields. In ihrem gehei- verhaltens Nur woher das Schmiergeld neh- dert und zumindest einen Teil an
men Rechtsgutachten urteilte die denkbar. men? Sechs dieser zehn Millionen Warner durchgereicht. Ob es wirklich
Kanzlei: »Die Grenzen der … legalen Franken kamen 2002, also zwei Jahre so war, kann auch Esecon nicht be-
Kontaktpflege waren im Fall des Con- nach dem WM-Zuschlag, von einem weisen; Bin Hammam soll dem Emir
cacaf-Vertrags deutlich überschrit- gemeinsamen Konto, das Beckenbau- von Katar das Versprechen gegeben
ten.« Allein das Adidas-Ausrüstungs- er und sein Manager in der Schweiz haben, vor der WM 2022 im Wüsten-
paket sei mit umgerechnet acht Mil- hielten. Beckenbauer will nichts da- staat nicht darüber zu sprechen.
lionen Mark »mehr als das Zehnfache von gewusst haben. Der französische Die Geschichte der 6,7 Millionen
dessen, was Verträge mit anderen Milliardär und ehemalige Adidas- Euro ging jedoch weiter: 2005 geriet
Konföderationen vorsahen«. Chef Robert Louis-Dreyfus hatte mit der DFB in schwere Not. Louis-Drey-
Für Freshfields war klar: »Als Nut- einem Kredit über die gesamten zehn fus pochte darauf, dass er Beckenbau-
zen des DFB ist daher allenfalls eine Millionen ausgeholfen. er das Geld nur geliehen habe, und
Beeinflussung des Abstimmungsver- Was aber machte Bin Hammam in verlangte es zurück. Beckenbauer
haltens von Jack Warner bei der Ver- Katar mit den zehn Millionen Fran- will davon nie etwas mitbekommen
gabe der WM 2006 zugunsten des ken, umgerechnet 6,7 Millionen haben – Esecon widerspricht. Der
José Giribas
DFB (›Stimmenkauf‹) denkbar.« Euro? Schon Freshfields hatte 2016 Bankberater des Franzosen habe no-
in seinem Geheimgutachten klarge- tiert, dass der 2009 verstorbene Mil-
Das Rätsel der Leo Kirch 2002 stellt: »Wir haben keine hinreichen- liardär nicht nur mit DFB-Chef May-
6,7 Millionen Euro den Anhaltspunkte dafür, dass die er-Vorfelder, sondern auch mit dem
Der Vertrag mit Warner war die Erb- Er hatte die Zahlung von zehn Millionen Schwei- »Kaiser« persönlich über die Rück-
sünde der deutschen WM-Bewer- WM-Rechte zer Franken lauteren Zwecken dien- zahlung gesprochen habe.
bung – und ihre Erbschuld. Denn das te.« Esecon liefert nun mehrere Er- Fifa-Chef Blatter sei eingeweiht
DFB-Präsidium zeichnete ihn nicht gekauft und klärungen, jede davon schmutzig. gewesen. Im Juli 2004 habe er seinen
ab. Beckenbauer blieb Warner daher rechnete mit Die erste: Bin Hammam leitete Generalsekretär Urs Linsi aufgefor-
Millionen schuldig und der Vertrag das Geld an Warner weiter, eine Kom- dert, sich mit Louis-Dreyfus zusam-
ein Problem. In einer Aufgabenliste
250 Millionen pensation für den nicht erfüllten menzusetzen. Wie Linsi später in der
vom 18. Oktober 2000 für Becken- Schweizer Concacaf-Vertrag mit den Deutschen. Schweiz aussagte, kam Louis-Drey-
bauer und Radmann hieß es: »Con- Franken Version zwei: Das Geld floss in den fus auf den Kredit zu sprechen. We-
cacaf Jack Warner – Schreiben anfor- Wahlkampf von Blatter, der 2002 der Beckenbauer noch das deutsche
dern …« Oder am 28. November Mehr- als Fifa-Chef vom Kameruner Issa Organisationskomitee könnten das
2000 nach einem Gespräch von DFB- einnahmen. Hayatou herausgefordert wurde. Die Geld zurückzahlen. Blatter habe an-
Werkzeuge des
Lebens
BIOTECHNOLOGIE Ein Google-Unternehmen
entschlüsselt Millionen Proteinstrukturen und
hat damit in den Biolaboren eine Revolution
ausgelöst. Forscher in aller Welt stürzen
sich auf die Daten, denn darin können sich
die Lösungen Tausender medizinischer
Probleme verbergen.
DeepMind / EMBL-EBI
sie: »Ich liebe Proteine.« Diese seien tanzt und gejubelt«, sagt Garcia-Alai. nologische Anwendungen ist dies ein
die faszinierendsten aller Biomole- AlphaFold heißt das System, auf Durchbruch. Vergleichen lässt er sich
küle. Zu Unrecht stünden sie oft im das sich derzeit das Interesse der allenfalls mit der Entschlüsselung
Schatten der DNA. Zwar mögen die Strukturbiologen in aller Welt richtet. des menschlichen Genoms im Jahr
Gene die Sprache des Lebens verkör- Entwickelt wurde es von DeepMind, 2000 – nur dass dies eine lange
pern. Doch erst die Proteine geben einer Tochter der Google-Holding erwartete und dann mit großem
dieser Sprache einen Sinn. Alphabet. Mithilfe künstlicher Intel- Trommelwirbel verkündete Errun-
Kein Zweifel: Proteine sind die ligenz (KI) kann AlphaFold die drei- genschaft war, während der Alpha-
eigentlichen Akteure des Lebens. Sie dimensionale Gestalt fast jedes belie- Fold-Coup die Forschergemeinde
packen und ziehen, sie befördern und bigen Proteins berechnen, oftmals weitgehend unvorbereitet traf.
bewegen, sie schneiden, kleben und äußerst präzise, und dies viele Jahre Garcia-Alai und ihre Kollegen wer-
löten. Sie wirken als Schleusen oder bevor die meisten Experten so etwas Strukturbiologin den noch lange brauchen, bis sie er-
Pumpen, als Schrauben, Haken oder für möglich gehalten hatten. Garcia-Alai: »Ich habe messen können, was AlphaFold für
Ösen, als Sensoren oder Katalysato- Vorigen Monat hat das AlphaFold- getanzt und gejubelt« ihr Fach bedeutet.
ren. Proteine sind die Werkzeuge, die Team die Strukturen von 365 000 Pro- Ob die Biologie derzeit eine Revo-
Maschinen, aber auch die Fühler der teinen veröffentlicht, darunter den lution erlebe? »Das ist ein großer Be-
Zelle. »Ohne Proteine wäre Leben Großteil aller Proteine des Menschen. griff«, sagt Garcia-Alai. »Aber wenn
nicht möglich«, sagt Garcia-Alai. Schon das verdoppelt auf einen Schlag er irgendwo treffend ist, dann hier.«
Um das Treiben dieser Wunder- die Zahl aller bekannten Proteinstruk- Andrei Lupas vom Tübinger Max-
moleküle verstehen zu können, muss turen, und doch ist es erst der Anfang: Planck-Institut für Entwicklungsbio-
die Biologin deren dreidimensionale Binnen Monaten will DeepMind nach- logie brachte es der Fachzeitschrift
Dorota Badowska / EMBL
Gestalt kennen. Diese zu bestimmen legen und die dreidimensionale Ge- »Nature« gegenüber auf den Punkt:
ist jedoch ein mühsames Geschäft. stalt von mehr als 100 Millionen wei- »AlphaFold ändert alles.«
Jahrelange Forschungsarbeit hat Gar- teren Proteinen präsentieren. Doch die Reaktion auf die Sen-
cia-Alai darauf verwendet, allein die Für das Verständnis von Lebens- sation aus London war keineswegs
Form der Zange ihres Greifermole- prozessen, aber auch für medizini- einhellig euphorisch. Im Gegenteil:
zwischen Mensch und Maschine, halb regte sich unter den Forschern »Wenn jemand das Problem, an dem
machten er und seine Leute sich da- schon früh die Hoffnung, die Gestalt man arbeitet, gelöst hat, aber nicht
ran, ernsthaftere Dinge anzupacken. eines Proteins allein aus der Kenntnis offenlegt, wie er es gemacht hat, wie
Fortan wollten sie Schlüsselfragen der im Erbgut codierten Aminosäu- soll man dann weiter daran arbei-
Ahn Young-joon / AP
diese Geschichten zu entlocken.
Welche Teile eines Proteins sind
beweglich, und wie sieht diese Bewe-
gung aus? Wie interagieren die Pro-
teine miteinander? An welche Signal-
ten?«, grübelte gegenüber der Fach- Übertragung des allesamt im AlphaFold-Katalog nach- stoffe, Peptide, Zucker oder sonstige
zeitschrift »Nature« der Strukturbio- Go-Duells zwischen schlagen. Mithilfe dieser Information Biomoleküle können sie binden?
Lee Se-dol und
loge Baker aus Seattle. AlphaGo in Seoul:
kann er sich dann daranmachen, die Und wie verändert dies ihre Gestalt?
Inzwischen jedoch hat DeepMind Spielen wie Gott vielen Einzelteile zum Komplex der Auf all diese Fragen gibt die Struk-
sein Programm der Forscherwelt kos- Kernpore zusammenzusetzen. tur allein keine Antworten. Sie zu
tenlos zugänglich gemacht. Unter Re- Den Möglichkeiten, die sich dank liefern ist nun Aufgabe der Wissen-
gie des EMBL entstand eine Daten- AlphaFold auftun, seien kaum Gren- schaftler. Googles KI-Programm hat
bank, in die künftig fortwährend zen gesetzt, meint der Tübinger sie also nicht arbeitslos gemacht. Im
neues Wissen über Proteinstrukturen Max-Planck-Forscher und CASP- Gegenteil: AlphaFold hat ein gigan-
eingestellt werden soll. Gleichzeitig Gutachter Lupas. In seiner eigenen tisches Forschungsprogramm ange-
soll jeder AlphaFold nutzen dürfen, Forschung interessiert er sich für die stoßen. »AlphaFold ist nicht der
um die Faltung neuer Moleküle zu Evolution. Er versucht zu verstehen, Durchbruch. Es ist die Voraussetzung
bestimmen. »Proteinstrukturen, die welche Art von Proteinstrukturen für all die Durchbrüche, die erst noch
eben noch eine kostbare Ressource unter welchen Umständen von der kommen werden«, sagt Lupas.
waren, sind zum Allerweltsgut ge- natürlichen Selektion begünstigt wer- Auf die Frage hin, ob sich Deep-
worden«, sagt John Jumper, der wis- den. Und auch dabei greift er nun auf Mind an der Suche nach all den vie-
senschaftliche Leiter des AlphaFold- die Hilfe von AlphaFold zurück. len Antworten beteiligen will, ob es
Projekts. Medizin, Biotechnik, Pharmazie: AlphaFold fortentwickeln wird, um
Noch sei es zu früh, die Folgen ab- Auf vielen Feldern könnte AlphaFold künftig auch die Dynamik, die Inter-
zuschätzen, sagt Jan Kosinski vom neue Entwicklungen anstoßen. »Neh- aktionen oder die Chemie der Pro-
EMBL. Eines aber sei jetzt schon si- »Jedes Protein men Sie zum Beispiel die Lebensmit- teine zu entschlüsseln, gibt sich das
cher: »Die Welt hat sich verändert hat eine telindustrie«, sagt Lupas. Er halte es Team bedeckt. »Wir denken darüber
für uns.« Gerade ist er zurückgekehrt Geschichte zu für gut möglich, dass AlphaFold beim nach«, sagt AlphaFold-Chef Jumper.
von einer Konferenz in Marseille. »Es Design von Wachstumsfaktoren hel- Google ist bekannt dafür, dass es
gab nur ein Thema«, erzählt er. »Je- erzählen. Die fen werde. Das wiederum könne die anderen nicht gern Einblicke in die
der wollte wissen: Hast du schon Kunst besteht Züchtung von Laborfleisch mittels eigenen Labore gewährt.
AlphaFold angezapft? Und: Was hast Zellkultur erleichtern. Eines zumindest lässt Forschungs-
du dabei herausgefunden?«
darin, sie ihm Oder die Entwicklung neuer En- leiter Kahli durchblicken: AlphaFold
Kosinski selbst beschäftigt sich zu entlocken.« zyme, etwa in der Umwelttechnik: ist nur eines von vielen KI-Projekten,
mit einem der größten Proteinkom- die in den DeepMind-Laboren aus-
plexe der Zelle: den sogenannten geheckt werden. Andere Teams be-
Kernporen, die den Verkehr in und fassen sich mit Genomik, mit Quan-
aus dem Zellkern regulieren. Auch tenchemie, mit Hirnforschung oder
viele Erreger, etwa Influenza- oder Robotik. Der Auftrag sei stets der-
HI-Viren, müssen diese Portale pas- selbe: mit den Methoden der künstli-
sieren, um ihr zerstörerisches Werk chen Intelligenz Schlüsselfragen der
vollbringen zu können. Es wäre des- Wissenschaft anzugehen, deren Ant-
halb von großem Interesse, die Ein- wort die Welt verändern wird.
lasskontrolle der Kernporen steuern Zwei Zahlen vermitteln eine Ah-
zu können. nung davon, wie viel Veränderung
Doch um gezielt ins Wirken die- das noch bedeuten könnte: Das Al-
DeepMind / EMBL-EBI
Auch bei ihnen steigt der Anteil der Dicken, te Modell für die jeweilige Krankheit ist«, sagt
viele leiden an Diabetes, Herzkrankheiten Lyons. »Sonst verschwenden wir Unmengen
und Allergien. Und so sind Katzen, meint Studienobjekt Werwolf-Katze von Geld und Leben von Versuchstieren.«
Lyons, für manche Fragestellung das womög- Julia Koch ■
übersetzt werden kann, eigneten sich höchs- delt es allerdings um ein »Kulturgut«, das un-
tens noch für sehr schattige und feuchte gefähr genauso zu Deutschland gehört wie
Standorte, wenn sie nicht mehr regelmäßig Autobahnen ohne Tempolimit.
gegossen würden. Auch Rhododendren und Anruf bei Gabriela Schnotz, der stellver-
Rittersporn seien »Säufer« und hätten es in tretenden Vorsitzenden der Deutschen Ra-
einem Ziergarten, in dem der Schlauch ein- sengesellschaft: Darf man mit Blick auf Kli-
gerollt bleibe, viel zu schwer – vor allem mawandel und regionalen Wasserengpässen
dann, wenn der Standort sehr trocken sei. noch Rasen anlegen? »Ja, natürlich«, sagt die
In Zeiten der Wetterextreme ist es wichti- Agrarwissenschaftlerin. Aber die Einstellung
ger denn je, dass sich Gartenbesitzer erst mit der Menschen zu ihrem Gartenteppich müsse
der Beschaffenheit ihres Untergrunds befass- sich »dringend« ändern. In Zeiten, in denen
ten, bevor sie drauflos pflanzen. Ist der Bo- Wetterextreme häufiger würden, müsse man
den sandig? Lehmig? Stark verdichtet wie in den Rasen »auch mal leiden lassen«: »Der
vielen Neubaugebieten? »85 Prozent meiner erholt sich meist schon wieder«, beruhigt
Kunden wissen nichts über ihren Boden, Schnotz.
wenn sie zu mir kommen«, sagt Janke. Au- Tatsächlich reagiert Rasen sehr schnell auf
ßerdem hielten es viele nicht durch, auf die Wettereinflüsse und kann in einer Krise nicht
Wassergabe zu verzichten. Die Pflanzen nur braun werden, sondern auch unter soge-
müssten nur mal kurz ihre Blätter hängen las- nannten Dollarflecken, Hexenringen, Rotspit-
sen, schon werde gewässert. Das Ergebnis sei, zigkeit und anderen Krankheiten leiden.
dass die Pflanzen zu »Junkies« mit kurzen 1 Allerdings ist Rasen auch extrem robust: Er
Wurzeln würden und nach ihrer täglichen Do- regeneriert sich nach Dürrejahren deutlich
sis H O gierten. Ein späterer Entzug sei mög- besser als viele andere Pflanzen.
²
lich, aber nicht mitten in einem Sommer, in Ebenso wie Ernst ist Schnotz keine Freun-
dem auch noch die Sonne erbarmungslos din der Null-Wasser-Strategie, die Janke in
vom Himmel knalle. seinem Garten verfolgt. Aber auch beim Ra-
»Viele Menschen müssen lernen, richtig zu sen sei eine ausgiebige Wässerung an einem
gießen«, sagt auch Michael Ernst, Leiter der oder zwei Tagen die Woche ausreichend. Ein
Staatsschule für Gartenbau Stuttgart-Hohen- Appell, den sie auch regelmäßig an Kunden
heim. Den radikalen Ansatz von Janke kann richtet, doch er verhallt oft ungehört. Die An-
er nicht ganz nachvollziehen, zumal es in den nahme, dass das Bewusstsein für einen öko-
meisten Regionen Deutschlands noch keine logisch korrekten und insektenfreundlichen
Wassernot gebe. Der Agraringenieur rät al- Garten gestiegen sei, möge vielleicht partiell
lerdings zu einem »maßvollem Umgang« mit zutreffen. Bei Rasenliebhabern gebe es aber
der Ressource Wasser, auch im Interesse der eher Hinweise darauf, dass das Gegenteil der
Pflanzen: Viele Gartenbesitzer neigten zu Fall ist. »Die Akzeptanz dafür, dass zwischen
einer Art Überfürsorge, würden ihren Blu- dem Gras auch mal ein paar Kräutchen wach-
men und Büschen mit Schlauch und Gießkan- sen, sinkt«, sagt Schnotz.
ne eher schaden als helfen. Rasenpflege ist ein Millionengeschäft; et-
Selbst den allermeisten heimischen Arten liche Gartenbesitzer geben viel Geld für Mäh-
genüge es auch in Dürreperioden, wenn sie roboter, Bodenfeuchtesensoren und compu-
zweimal pro Woche ausreichend versorgt tergesteuerte Bewässerungsanlagen aus. Das
würden. Ratsam seien dann aber etwa 20 Li- 2 kann sinnvoll sein, weil ein Computer wo-
ter pro Quadratmeter Blumenbeet und Ge- möglich effizienter die Bewässerung steuert
hölz, allerdings nach und nach, damit das als ein Mensch. Trotzdem bleibt die Frage,
Wasser auch in aller Ruhe versickern könne. ob es sinnvoll ist, in Zeiten des Klimawandels
Das nehme viel Zeit in Anspruch, lohne sich den Großteil eines Gartens mit einer Vegeta-
aber, denn der Boden werde dann auch weiter tionsdecke zu gestalten, die bei exzessiver
unten noch ausreichend durchnässt, und die Pflege im Grunde nur einer einzigen Art ge-
Pflanze könne auch tiefere Wurzeln ausbil- fällt: dem Menschen.
den. Das mache sie fit fürs nächste Dürrejahr; Gartenplaner Janke will auf seinen Rasen
viele hielten es dann sogar aus, wenn sie mal nicht ganz verzichten, zumal Kinder ihn zum
ein, zwei Wochen gar nicht gegossen würden. Spielen brauchten und es schön sei, sich ein-
Um wenig Wasser zu verschwenden, soll- fach mal draufzulegen. Tatsächlich schafften
ten Regentonnen aufgestellt werden. Außer- es die meisten seiner unversorgten Rasenflä-
dem sei es ratsam, die Beete mit Rasenschnitt chen auch durch die Dürreperioden, nur ein
zu mulchen. Das beuge einer vorzeitigen Ver- Areal, das 2019 völlig vertrocknete, löste er
dunstung des Gießwassers vor, sagt Ernst. auf. Dort entstand nun ein 500-Quadratme-
Der Experte hält es für vernünftig, sich zu- ter-Heidegarten, der auch bei Extremhitze
mindest in einigen Regionen von Gewächsen überlebt. Nicht einmal als Janke 2018 und
zu verabschieden, die hierzulande besonders 2019 quasi dabei zusehen konnte, wie seine
häufig zu bewundern sind: »Begonien und Bäume und Büsche braun wurden, gönnte er
Fuchsien brauchen zum Beispiel unverhält- ihnen einen Schluck aus dem Schlauch. Um
nismäßig viel Wasser, wenn sie in der prallen ihnen Linderung zu verschaffen, hängten er
Sonne stehen.« Außerdem gebe es in Zeiten 3 und seine Kollegen lediglich weiße Bettlaken
des Klimawandels und Artenschwunds noch über die Pflanzen. Janke plagte ein wenig die
etwas anderes, das hinterfragt werden müsse: Genügsame Pflanzen: 1 | Bergenie 2 | Fetthenne Angst. Aber seine Lieblinge überlebten.
der dauerbesprengte Zierrasen. Dabei han- 3 | Perückenstrauch Guido Kleinhubbert ■
Fotos: Max Brunnert für den SPIEGEL Nr. 33 / 14. 8. 2021 DER SPIEGEL 105
WISSEN
DKRZ / MPI-M
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SPIEGEL TV
über lokale Eigenheiten ein, sondern auch die
gewaltigen Datenmengen der globalen Mo-
delle – schließlich kann keine Region ohne
Lateinamerikanische Auswanderer am Grenzfluss Rio Grande
die weltweiten Dynamiken wie Winde und
Wolkenbildung isoliert betrachtet werden.
Ende der 1960er Jahre startete die Klima- SPIEGEL GESCHICHTE SPIEGEL TV
wissenschaft mit Klimamodellen, in Hamburg SONNTAG, 15. 8., 23.20–0.10 UHR, SKY MONTAG, 16. 8., 23.25–0.00 UHR, RTL
wurde 1988 erstmals eines »gebaut«, wie sich
Wissenschaftler Marotzke ausdrückt. Damals Im Schatten der Macht: Flüchtlingsdrama am
habe der »Supercomputer« noch genau einen Speed für JFK Rio Grande – die Zahl
Prozessor gehabt. Der Pole Max Jacobson lernt John der illegalen Einreisen in die
Der erste Bericht des Weltklimarats er- F. Kennedy kurz vor dessen Wahl zum USA steigt dramatisch
schien 1990. Zwischen dem »Assessment Re- US-Präsidenten kennen. Zu jenem Im Norden Mexikos warten Zehntau-
port 1« und dem jetzt publizierten »AR6« Zeitpunkt ist Jacobson schon ein erfolg- sende Flüchtlinge darauf, die Grenze zu
liegt ein massiver Techniksprung. »Der we- reicher Arzt in New York City, der die überqueren. Darunter viele Minderjäh-
sentliche Unterschied besteht darin, dass wir Reichen und Schönen vor allem mit Am- rige. Weil diese unter der Regierung Biden
jetzt einfach mehr Prozessoren haben, die phetaminen versorgt. »Dr. Feelgood« nicht ausgewiesen werden, schicken
für uns arbeiten«, sagt Marotzke. Ihn ärgert wird Kennedys persönlicher Arzt. Hinter Eltern ihre Kinder jetzt allein los. Für me-
es deswegen, wenn er manchmal liest, dass verschlossenen Türen wird er Zeuge xikanische Kartelle sind sie ein lukratives
die Klimaprojektionen von einer menschen- vieler privater Lügen des umschwärmten Geschäft, für die USA ein humanitäres
gemachten Erderwärmung mit der Zeit »im- Politikers – und Mitwisser einiger und politisches Problem. SPIEGEL-TV-
mer schlimmer« geworden seien. »Sie wer- Staatsgeheimnisse. Reporter David Walden wurde Zeuge, als
den nur immer genauer«, sagt er. nachts ein dreijähriges Mädchen über
Diese Entwicklung ist ungebrochen. »Bliz- den Fluss kam.
zard«, der Vorgänger von »Mistral« und SPIEGEL TV WISSEN
2009 in Dienst gestellt, erreichte eine Re- FREITAG, 20. 8., 23.10–0.05 UHR, SKY
chenleistung von 158 Teraflops und war da- und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern PLAN B
mit hundertmal leistungsstärker als der Vor- SAMSTAG, 21. 8., 17.35–18.05 UHR, ZDF
gänger »Hurricane«. Der 41 Millionen Euro Gesellschaft im Rausch
teure »Mistral« steigerte die Leistung um den In Deutschland haben Cannabiskonsu- Rücken ohne Schmerzen
Faktor 20 auf rund 3 Petaflops. Das sind drei menten immer häufiger psychische Pro- Rückenschmerzen kennt fast jeder, vor
Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde. bleme. Nicht selten ebnet die Droge im allem seit der Arbeit im Homeoffice
Ein Stockwerk unter dem Supercomputer Erwachsenenalter zudem den Weg zum an einem improvisierten Schreibtisch.
wird gerade an »Levante« geschraubt. Im Kokain. Ein Schwerpunkt über die weiße Was können Betroffene tun? plan b
Oktober soll der Rechner starten – mit knapp Lieblingsdroge der Leistungsgesellschaft stellt unterschiedliche Methoden gegen
400 000 Prozessorkernen. »Levante wird und die heruntergespielte Gefahr. den Schmerz vor.
fünfmal so schnell rechnen können«, prophe-
zeit der Geophysiker Michael Böttinger vom
Deutschen Klim