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Fleischer/Barz
Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache
Wolfgang Fleischer/Irmhild Barz
Wortbildung der
deutschen
Gegenwartssprache
4. Auflage; völlig neu bearbeitet von Irmhild Barz
unter Mitarbeit von Marianne Schröder
De Gruyter
ISBN 978-3-11-025663-5
e-ISBN 978-3-11-025665-9
Die vierte Auflage stellt eine grundlegende Überarbeitung der dritten Auf-
lage von 2007 dar. Sie ist mit dem Ziel entstanden, vielfältige neue Erkennt-
nisse der Wortbildungsforschung so differenziert wie möglich einzuarbeiten
und die Beispiele zu aktualisieren, gleichzeitig jedoch die übersichtliche syn-
chrone Gesamtdarstellung der Wortbildung der deutschen Gegenwarts-
sprache, wie sie Wolfgang Fleischer 1992 konzipiert hat, zu bewahren.
Das grundlegende Prinzip, die Wortbildung wortartspezifisch und folg-
lich morphosyntaktisch ausgerichtet zu beschreiben, wird beibehalten,
einem jüngeren Trend der Forschung entsprechend jedoch konsequenter als
in den Vorauflagen verfolgt. So wird den Besonderheiten der Wortart Verb
durch eine völlig veränderte Gesamtsystematik der verbalen Wortbildungs-
arten Rechnung getragen. Der grammatischen Ausrichtung entspricht des
Weiteren eine stärkere Berücksichtigung morphologischer und syntakti-
scher Bezüge der Bildungsmodelle.
Neu hinzugekommen ist das Kapitel „Wortbildung und andere Bereiche
der Grammatik“, das die Wortbildung als Schnittstellenphänomen inner-
halb der Grammatik charakterisiert.
Ausführlicher als bisher werden textuelle und pragmatische Aspekte in
die Beschreibung einbezogen. In dem neuen Abschnitt „Wortbildung und
Lexikon“ sowie in dem erheblich erweiterten Textkapitel wird Wortbildung
ins Verhältnis gesetzt zu anderen Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung
bzw. in ihrer textkonstitutiven und textdifferenzierenden Funktion erklärt.
Deutlich ausgebaut sind außerdem die Abschnitte Fremdwortbildung und
Kurzwortbildung.
Hinzugekommen ist eine größere Zahl an Übersichten. Sie ermöglichen
nicht nur eine rasche Orientierung über den Affixbestand im Deutschen,
sondern die meisten von ihnen bieten zudem eine funktional-semantische
Zusammenschau der Derivationsmodelle, die die dominante morpholo-
gisch-strukturelle Gliederung des Textes, insbesondere die Gliederung der
Derivation nach den Formativen der Affixe, sinnvoll um eine semantische
Strukturierung ergänzt.
Auf eine Formalisierung der Wortbildungsmodelle wird verzichtet.
VI Vorwort
Das vorliegende Buch ist keine Überarbeitung des 1969 erstmals erschiene-
nen Werkes von W. Fleischer, sondern eine vollständige Neufassung. Ge-
blieben ist das Ziel einer übersichtlichen Gesamtdarstellung der Wortbil-
dungsmodelle in der deutschen Gegenwartssprache, wobei die theoretische
und methodische Grundlegung erweitert und vertieft worden ist. Eine Reihe
von Grundfragen wurde neu entschieden, manches überhaupt neu auf-
genommen (z. B. die onomasiologisch-nominationstheoretische Orientie-
rung, die Beziehung zum Text, die differenzierte Problematik des Wortbil-
dungsparadigmas u. a.). Beträchtlich erweitert ist die Beschreibung der
verbalen Wortbildung; darstellungsmethodisch differenziert wurden die Be-
schreibungen von Substantiv und Adjektiv; vermehrt wurde die Zahl von
Übersichten. Auch in dieser Neufassung werden in angemessener Weise
historische Gesichtspunkte berücksichtigt, auch unproduktive Typen be-
handelt (deutlich abgesetzt von den produktiven Modellen) und diachro-
nische Erläuterungen gegeben. Im Vordergrund steht jedoch das Prinzip
synchronischer Beschreibung des gegenwärtigen Systems. Die Verarbeitung
der Forschung wird verdeutlicht, unterschiedliche Positionen werden ge-
kennzeichnet, vielfach auch ausführlicher begründet.
Die Autoren hoffen, daß die Neufassung wie ihr Vorgänger mit Nutzen im
Hochschulunterricht zu verwenden ist und zugleich die Rolle eines Hand-
buchs spielen kann. Das Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit; Ideen aller drei
Autoren sind in das Ganze eingegangen. Abgefaßt wurden von I. Barz die
Abschnitte 1.5., 1.9.1., und das Kapitel 5, von W. Fleischer die Abschnitte
1.1.–1.4., 1.6.–1.8. sowie die Kapitel 2 (außer 2.8.), 3 und 4, von M. Schröder
die Abschnitte 1.9.2. und 2.8.
1.5 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
1.5.1 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
1.5.2 Phonetisch-phonemische Motivation . . . . . . . . 42
1.5.3 Figurative Motivation . . . . . . . . . . . . . . 43
1.5.4 Morphosemantische Motivation . . . . . . . . . . 44
1.5.4.1 Abstufung der Motivation . . . . . . . . . . . . . 44
1.5.4.2 Wortbildungsbedeutung . . . . . . . . . . . . . 47
1.5.4.3 Motivation und Polysemie . . . . . . . . . . . . . 48
1.5.4.4 Motivation in der Kommunikation . . . . . . . . . 49
1.7 Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.7.1 Ziel der Modellierung . . . . . . . . . . . . . . 67
1.7.1.1 Strukturelle und morphologische Modellierung . . . . 69
1.7.1.2 Semantische Modellierung . . . . . . . . . . . . . 71
1.7.1.3 Modellierungsschritte . . . . . . . . . . . . . . 73
1.7.2 Produktivität und Akzeptabilität . . . . . . . . . . 74
1.7.2.1 Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
1.7.2.2 Bildungsrestriktionen . . . . . . . . . . . . . . . 77
1.7.2.3 Blockierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
1.7.2.4 Akzeptabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
1.7.3 Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
1.8 Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
1.8.1 Wortbildungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Inhaltsverzeichnis XI
1.8.1.1 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
1.8.1.2 Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
1.8.1.3 Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
1.8.1.4 Kurzwortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 91
1.8.1.5 Partikelverbbildung . . . . . . . . . . . . . . . 91
1.8.1.6 Rückbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
1.8.1.7 Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
1.8.1.8 Reduplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
1.8.2 Wortbildungsparadigmen . . . . . . . . . . . . . 96
1.8.2.1 Funktional-semantische Klassen . . . . . . . . . . 96
1.8.2.2 Wortbildungsreihen . . . . . . . . . . . . . . . 98
1.8.2.3 Wortfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
1.8.2.4 Wortbildungssynonymie und -antonymie . . . . . . . 100
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
Formenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
schen wortgebildet“ gelten soll, was also genau als Gegenstand der Fremdwortbildung
aufzufassen ist. Komplexe Fremdwörter sind entweder als Ganzes entlehnt oder aus
fremden Segmenten im Deutschen gebildet. Da synchron normalerweise keine for-
malen Merkmale für die Entscheidung zwischen Entlehnung und Fremdwortbildung
auszumachen sind und bestenfalls Herkunftswörterbücher bzw. Spezialuntersuchun-
gen Auskunft geben können, steht eine synchron ausgerichtete Analyse vor einer
schwierigen, wenn nicht unlösbaren Aufgabe, wollte sie ihre Analyse auf die nachweis-
lich im Deutschen erzeugten Wörter beschränken. Vieles spricht deshalb dafür, alle
motivierten komplexen Fremdwörter wie Fremdwortbildungen zu behandeln (vgl.
dazu eine ausführliche Begründung bei Seiffert 2008a, 71 ff.; ¢ 1.9.1).
stantiv und beim Adjektiv. Die Geschlossenheit der Übersicht über das Bil-
dungssystem einer Wortart sollte gewahrt bleiben.
Die Behandlung der Derivation ist nach den einzelnen Affixen (getrennt
nach Präfixen und Suffixen) angeordnet. Dieses morphologisch-strukturelle
Ordnungsprinzip ist für die rationelle Übersichtlichkeit und Nachschlag-
barkeit die am besten geeignete Darstellungsweise mit den am wenigsten
subjektiven Ordnungskriterien. Sie hat auch den Vorteil, dass die verschie-
denen Wortbildungsreihen (¢ 1.8.2.2), die ein einziges Affix ausbildet und
die untereinander in Beziehung stehen, zusammenhängend behandelt
werden können.
Die Anordnung nach den Formativen der Affixe schließt jedoch die Be-
rücksichtigung semantischer Parameter keineswegs aus. Die Ordnung der
Wortbildungsmodelle in Modifikations- und Transpositionsarten bietet
einen entsprechenden Überblick, zum Substantiv ¢ 2.1.3; zum Adjektiv
¢ 3.1.4; zum Verb ¢ 5.1.3. Durchbrochen wird das strukturell-morphologi-
sche Ordnungsprinzip für bestimmte wortbildungssemantische Klassen,
vgl. Diminuierung (¢ 2.3.2.21), Movierung (¢ 2.3.2.22), Gradation (¢ 3.1.5)
sowie Vergleichsbildungen (¢ 3.1.6), die v.a. deshalb eine zusammenhän-
gende Behandlung erfahren, weil sie für die jeweilige Wortart charakteris-
tisch sind.
Als wichtigstes methodisches Verfahren für die Beschreibung wird die
Paraphrasierung einer Wortbildung durch ein semantisch mehr oder we-
niger äquivalentes Syntagma (gelegentlich auch durch einen Satz) genutzt,
ohne dass damit der theoretische Anspruch auf das Postulat einer gleichar-
tigen Tiefenstruktur von Wortbildung und Syntagma erhoben wird. Die
syntaktische Paraphrase dient dazu, die unmittelbaren Konstituenten der
Wortbildung zu ermitteln (Lackierwerkstatt – Werkstatt für Lackierarbeiten;
Arbeitnehmerinteressenvertretung – Vertretung der Arbeitnehmerinteressen
oder Interessenvertretung der Arbeitnehmer) und die semantischen Bezie-
hungen zwischen den unmittelbaren Konstituenten bzw. bei simplizischen
Wortbildungen zwischen Basis und Wortbildung aufzuhellen und zu expli-
zieren (¢ 1.7.1.2).
Über die Anforderungen an eine Paraphrase vgl. Ortner/Ortner 1984, 127ff.; über
verschiedene Arten und Funktionen von Paraphrasen vgl. Lang 1977; Agricola 1979;
Wunderlich 1991; Bär 2007, 326 ff.; zur explikativen Funktion der Paraphrase vgl.
Eichinger 2000, 53 f.
8 1 Grundsätze und Grundbegriffe
die Benennung der semantischen Relationen wählen wir Termini, die in der
Tradition der wort- und satzsemantischen Forschung entwickelt worden
sind und sich durchgesetzt haben, wie bei Komposita ,kausal‘ (Freudenträne),
,temporal‘ (Vorabend), ,komparativ‘ (blutrot) usw. Diese Termini stehen,
wie die Angaben der lexikalischen Bedeutung auch, in einfachen Anfüh-
rungszeichen. Die Wortbildungsbedeutungen substantivischer Derivate und
Konversionen werden mit den traditionellen Bezeichnungen für die jewei-
ligen semantischen Substantivklassen angegeben: Nomen Agentis (Lehrer),
Nomen Actionis (Deutung) usw. Erläuterungen zur jeweils gewählten Sys-
tematik finden sich in den einschlägigen Abschnitten (¢ 2.1.3).
Zur Systematisierung von Wortbildungsbedeutungen vgl. u.a. Fandrych/Thurmair
1994; Eichinger 2000, 118.
Für die Angabe von Konnotationen werden in der Regel die in der Lexiko-
grafie üblichen Abkürzungen verwendet, z. B. fachspr. (fachsprachlich), geh.
(gehoben), iron. (ironisch), landsch. (landschschaftlich), ugs. (umgangs-
sprachlich).
Wortbildung und Flexion verfügen nicht nur über diffuse Grenzen, sondern
ergänzen und beeinflussen einander auch. Von einem Zusammenwirken
beider Grammatikbereiche lässt sich in folgenden Punkten sprechen:
1) Die Flexionsmorpheme indizieren die Wortart eines ambivalenten
Wortbildungsstammes: steinig- als Adjektiv (steiniger Boden) und als Verb (er
steinigt), besuch- als Substantiv (des Besuches) und als Verb (du besuchst).
2) Aus Flexionsmorphemen können sich Wortbildungsmorpheme ent-
wickeln, vgl. z. B. das adverbbildende Suffix -s (nachts, unterwegs). – Vgl.
auch Zusammenhänge zwischen Flexion und Fugenelement (¢ 2.2.12).
3) Lücken im grammatischen Paradigma können durch Wortbildung ge-
schlossen werden, vgl. den Ersatz fehlender Pluralformen durch Komposita
(Getreidearten, Atemzüge, Ratschläge). Als Ergänzung des Paradigmas pas-
sivischer Verbformen ist das Modell deverbaler Adjektivbildung auf -bar zu
betrachten (¢ 3.3.2.1).
12 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Sowohl indigene als auch entlehnte simplizische und komplexe Lexeme sind
Bestandteile des deutschen Wortschatzes. Insofern stehen sie gleichermaßen
als Input für neue Lexeme zur Verfügung. Sie können sich miteinander und
auch mit indigenen und entlehnten Affixen zu neuen Wortbildungen ver-
binden (Wirtschaftsboom, Komplizenschaft). Während es für die Komposi-
tion so gut wie keine Beschränkungen hinsichtlich der Verbindung indigen
– exogen gibt, ist die Distribution der Affixe je nach Herkunft der Deriva-
tionsbasis und des Affixes deutlich restringiert (¢ 1.9.3.2).
Beziehungen zwischen Wortbildung und Entlehnung zeigen sich noch in
anderer Hinsicht. Eine deutliche Einflussnahme von Entlehnungsprozessen
1.3 Wortbildung und Lexikon 21
Produktivität des Modells nicht nachteilig aus. Nicht die Erweiterung des
Lexikons ist hier primärer Bildungsanlass, sondern bestimmte stilistische
Intentionen. Usuell sind nur einige weniger komplexe Bildungen dieser Art
wie Kopf-an-Kopf-Rennen, Nacht-und-Nebel-Aktion. Hier sind Phraseme
zum Teil gewissermaßen fest an einen Wortkontext gebunden. Umgekehrt
bewahren viele Phraseme auch veraltete Wortbildungen wie Hungertuch in
am Hungertuch nagen, Kirchenmaus in arm wie eine Kirchenmaus sein, Mit-
leidenschaft in jmdn./etw. in Mitleidenschaft ziehen. In wenigen Fällen ver-
selbstständigen sich solche unikalen Komponenten mit einer aus dem Phra-
sem gewonnenen Bedeutung wie Fettnäpfchen ,Faux pas‘ aus bei jmdm. ins
Fettnäpfchen treten ,Missfallen erregen, jmdn. kränken‘.
Die Bildungsverfahren selbst sind deutlich verschieden. Während sich
Wortbildung im Wesentlichen nach strukturell-morphologisch und seman-
tisch bestimmten Modellen vollzieht (¢ 1.7.2), geht es bei der Phraseologi-
sierung im Kernbereich vor allem um idiosynkratische semantische Verän-
derungen vorfindlicher Strukturen, verbunden mit einer Stabilisierung der
jeweiligen Struktur (Fleischer 1997a, 245f.), vgl. metaphorisch das Kind mit
dem Bade ausschütten, metonymisch das Gesicht wahren.
Phraseme und Wortbildungen aus denselben Ausgangseinheiten wie flink
wie ein Wiesel – wieselflink stehen im Allgemeinwortschatz äußerst selten als
usuelle bedeutungsgleiche Bezeichnungen zur Verfügung. Entweder beste-
hen semantische Unterschiede (Großtier ,besonders großes Tier‘ – großes
Tier ,hochgestellte Persönlichkeit‘) oder die Bezeichnung in der jeweils an-
deren Struktur ist in der gleichen Bedeutung nicht üblich (grüner Junge –
*Grünjunge; Flachmann ,kleine flache Schnapsflasche‘ – *flacher Mann). Ein
Nebeneinander paralleler Bildungen findet sich jedoch in Fachsprachen, vgl.
duales System – Dualsystem.
1.3.5 Lexikalisierung
namik des Lexikons von selbst (Paul 1880/1995, 84 f.; Coulmas 1985, 253;
Sauer 2004, 1632ff.).
Dem Lexikalisierungsprozess können theoretisch alle Wortneubildungen
(und andere Arten neuer Bezeichnungen wie Phraseme, Neosemantismen
oder Entlehnungen) unterworfen werden, dennoch geht trotz eines relativ
hohen Anteils von Okkasionalismen in aktuellen Texten – Wellmann (1998,
409) spricht von ca. 30 % der Wortbildungen eines beliebigen Zeitungstex-
tes – nur eine Teilmenge an Textwörtern auf längere Sicht in das Lexikon ein.
Obwohl nicht generell vorhergesagt werden kann, welche Neubildungen das
sind, Lexikalisierung demnach bei keiner Bildung grundsätzlich ausge-
schlossen ist, lassen sich doch bestimmte allgemeingültige Prinzipien für die
Lexikalisierung festhalten (Wildgen 1982, 256; Grosse 1982, 47; Fleischer
1997b, 51ff.; Motsch 2004, 25 ff.). Als dominantes Prinzip erweist sich der
überindividuelle kollektive Bezeichnungsbedarf oder, anders gesagt, der
„kommunikative Nutzen“ (Fritz 1998, 39). Je wichtiger ein Begriff für eine
Sprachgemeinschaft ist, umso eher wird seine Bezeichnung akzeptiert und
umso stärker neigt sie zur Verbreitung und Lexikalisierung (vgl. gegenwärtig
Elterngeld, LKW-Maut, endlagern). Das erklärt, warum Wortbildungsarten
wie die Kontamination (schöner essen mit Essthetik aus essen und Ästhetik,
Werbung für Porzellan 2009) und die Reduplikation (Piep-Piep ,Vogel‘),
deren Bildungsprodukte wegen ihrer Konnotationen meist nur eine mini-
male kommunikative Reichweite aufweisen, ebenso geringe Lexikalisie-
rungschancen haben wie Komposita mit Eigennamen als Erstglied (Rom-
Besuch, Schmidt-Geburtstag); diese wohl v.a. wegen ihres relativ niedrigen
Verallgemeinerungsgrades (aber: Riesterrente; ¢ 1.4.2.2.2).
Für welche Referenten unter welchen Bedingungen eine neue Bezeichnung erforderlich
ist, ergibt sich aus verschiedenen Zusammenhängen. Erben (2006, 22 ff.) unterscheidet
zwischen objektiv und subjektiv bedingten Ausdrucksnotwendigkeiten. Wortneubil-
dungen werden gebraucht, wenn neue Begriffe aufkommen und erstmals sprachlich zu
fixieren sind (Ozonloch, Elchtest, entsorgen), aber auch, wenn die zur Verfügung ste-
henden Bezeichnungen den Ausdrucksbedürfnissen der Sprecher nicht gerecht werden
oder als unmodern und nicht ausdrucksstark genug empfunden werden. Beispiele für
solcherart „Wortersatz“ (v. Polenz 1991, 41) in der Gegenwart sind Verkaufsrepräsentant
für Vertreter, Seniorenheim, -park oder -residenz für Alten- oder Altersheim.
Überlagert wird das pragmatische Prinzip der Lexikalisierung von sprachinternen
Aspekten. Bestimmte Modelleigenschaften begünstigen oder hemmen die Lexikalisie-
rung zusätzlich. Schwach komplexe Wortbildungen werden eher lexikalisiert als hoch-
gradig komplexe, klar motivierte eher als stark kontextabhängige, modellgerecht
gebildete eher als abweichende Bildungen (Erben 1981, 35 ff.; Handler 1993, 300; Ho-
henhaus 1996, 56). Ein okkasionelles Kompositum wie Handballhochzeit in der Bild-
unterschrift eine Spielerin, die auf vielen (Handball-)Hochzeiten tanzt (LVZ 2002) ist nur
1.3 Wortbildung und Lexikon 25
verständlich, wenn man das Phrasem auf allen Hochzeiten tanzen kennt und etwas vom
Spielbetrieb im Handball weiß. Obwohl es sich bei Handball-Hochzeit um ein modell-
gerecht gebildetes Kompositum handelt, ist seine Lexikalisierung v.a. wegen der Kon-
textgebundenheit nicht zu erwarten. Auch Komposita mit Syntagmen und durchge-
koppelten losen Wortreihen als Erstglied verfügen über eine nur geringe Lexikalisie-
rungsaffinität (Gute-Laune-Text, Licht-Schatten-Effekt).
Seit den 1970er-Jahren sind vor allem die kohäsionsbildenden Potenzen der
Wortbildung nachgewiesen worden (Schröder 1978), die im Dienste der
Textverflechtung die Isotopie eines einzelnen Textes mit realisiert (Eichinger
1995; Wolf 1996) und textkonstitutive Funktion ausübt.
Seit Beginn der 1980er-Jahre halten die von de Beaugrande/Dressler
(1981) entwickelten Textualitätsmerkmale Einzug in Beschreibungskonzep-
te für Wortbildung (in der 1. Auflage dieses Buches 1992, 75ff.; Nagel 1997;
Poethe 2000b, 214f.); als besonders relevant erweisen sich Kohäsion, Ak-
zeptabilität (¢ 1.7.2.4), Informativität, Situationalität und Intertextualität.
Ausgehend von der v. Polenz’schen Feststellung, das Vorkommen von
bestimmten Wortbildungstypen sei relativ spezifisch für bestimmte Text-
sorten und funktionale Stile (v. Polenz 1980, 178), gewinnt der Textbezug in
der Wortbildungsforschung der Folgezeit immer mehr an Bedeutung. Den
entsprechenden Untersuchungen liegt die Annahme zugrunde, dass jede
Textsorte charakterisiert ist durch Stilzüge und Stilelemente, die u.a. auch
durch Wortbildungsphänomene realisiert werden. Es wächst das Interesse
an der textdistinktiven Funktion der Wortbildung, die in unmittelbarer Be-
ziehung zur textkonstitutiven Funktion der Wortbildung steht (vgl. Seiffert
2005b, 267 ff.; Elsen/Michel 2007, 8 f.; Handler 2009, 1570ff.).
In den seit 1973 erschienenen fünf Bänden der „Deutschen Wortbildung“ sind „Text-
verflechtung“ und „Textsorten“ Beschreibungsaspekte für alle Wortbildungsarten,
wobei nur dann eine bevorzugte Textsorte ausgewiesen wird, wenn für sie „ein Wort-
bildungstypus [aufgrund seiner Häufigkeit, M. Sch.] charakteristisch ist“ (DWb 4,
XXXVIII f.). Vgl. auch Matussek 1994; Peschel 2002.
1.4 Wortbildung und Text 27
Die Wörter in der Überschrift „Bauend das Leben ordnen“ bieten mit ihren
Grundmorphemen -bau-, -leb-, -ordn- Ansatzpunkte für mehrere Isotopie-
ketten mit den Wörtern, die mindestens eines dieser Grundmorpheme ge-
meinsam haben (Übersicht 1): bauend/Bauhaus/Bauhausidee, Leben/Ge-
1.4 Wortbildung und Text 29
Gleich mehrere stilbildende Funktionen hat Hoffmann (2008, 214f.) für die
Rededarstellungskomposita wie Ihr-dürft-alle-meiner-Meinung-sein-Chef
1.4 Wortbildung und Text 33
nachgewiesen: Danach sind sie vor allem ein „exzellentes Mittel des Verdich-
tens“, aber auch ein Mittel des Kontrastierens von alltäglichem und poeti-
schem Stil (Wir-machen-Fernseh-Ozean), von normalsprachlicher und
salopper bzw. derber Stilebene („Rübe-ab“-Lösung bzw. Verzeih-mir-bitte-
Scheiße). Geeignet sind sie schließlich als Mittel des Veranschaulichens,
mit besonderem Witz in „Ich habe einen Regenwurm gegessen“-Gesicht
(¢ 2.2.9.4).
Stilbildend wirken auch die Remotivation (¢ 1.5.4.1), vor allem jedoch
Wortspiele verschiedener Art (Poethe 2002). Beispielsweise kann die Kon-
stituentenstruktur spielerisch aufgelöst sein: Zur Freude aller Campingfreun-
de findet auf so manchem Zeltplatz so manches Zelt Platz; Leipziger Leben –
Leipzig erleben, oder das Kompositum ist außerordentlich vielgliedrig wie
Panamakanalfrachtlastnachtfahrt (F. Fühmann). Klangähnlichkeit ist ausge-
nutzt, wenn das okkasionelle Kompositum mit Binnenmajuskel ZahnRat in
einer Zahnarzt-Broschüre den Leser an das vertraute Wort Zahnrad denken
lässt; wenn in einer Anrede Liebe Zooschauer die Verbpartikel zu aus Zu-
schauer ersetzt ist durch das klangähnliche Substantiv Zoo (MDR 2008) oder
wenn der OBI-Baumarkt zu Jahresbeginn 2010 den Käufer umwirbt mit dem
Wunschversprechen Frohes neues Spar!, das in homophoner Übereinstim-
mung mit der Wunschformel Frohes neues Jahr für mehr Aufmerksamkeit
beim Rezipienten sorgen soll.
Nichtkonventionelle Stilmittel beruhen auf Wortbildungsphänomenen,
die „erst als Folge ihres Fortführens im Text als Stilmittel beschreibbar
werden […]“ (Sandig 1978, 32). Diese Phänomene sind, wie übliche Wort-
bildungseinheiten und -modelle, ursprünglich stilistisch nicht sonderlich
relevant. Erst aufgrund eines relativ hohen Ausnutzungsgrades oder einer
auffälligen Distribution in einem Text bzw. Textkomplex werden sie zu Stil-
mitteln. Das kann auch für Isotopieketten gelten:
Haftrichter. Solche Wörter lernte man hier. Haft. Haften, abheften, wie ein Heftel-
macher. Das haftet dir an. Dafür wirst du haften. Haftbar machen. Klebstoff. Der
Frosch […]. Bekam einen Klumpen, auf dem er haftete. Entsprang. (U. Tellkamp)
und Kurzwörter (Ami für Amerikaner, Alex für Alexanderplatz) und ihre
Weiterverwendung in Komposita:
„Aber von deinen Jungs kam einer im Sternenbannerhemd zur Arbeit […] im
Ami-Hemd; […] sie machen Fundamente und wieder Fundamente […] gut drei
Meter unter Normal-Alex“. (Berliner Zeitung 1988)
Nachrichten zählen wie Meldungen und Berichte zu den informationsbe-
tonten Texten. Ihre Hauptintention INFORMIEREN ist gekoppelt mit dem
obligatorischen Stilzug ,aktuell‘. Entsprechende sprachliche Mittel sind
Wortneubildungen, die aufgrund ihrer morphosemantischen Motiviertheit
den anderen wichtigen Stilzug ,verständlich‘ begünstigen. Das bedeutet,
dass Wortneubildungen textsortentypisch sind für Nachrichtentexte, unab-
hängig von deren Übertragungsmedium als Zeitungs-, Fernseh- oder Hör-
funknachricht.
Die Hörfunknachricht wurde exemplarisch ausgewählt, da sie unter dem Aspekt der
Wortbildung zum einen in textlinguistischen Untersuchungen bisher eher vernachläs-
sigt worden ist, zum andern in besonders adäquater Weise Möglichkeiten der Wort-
bildung nutzt (vgl. Schröder 2005c).
1.5 Motivation
1.5.1 Grundsätzliches
Sprachen: engl. cuckoo, französ. coucou, russ. kukuška, ungar. kakuk. Die
Motivation hat hier nicht „kompositiv-semantischen, sondern imitativen
Charakter“ (Käge 1980, 4). In diesen Fällen wird auch von „Lautikonismus“
gesprochen (Wurzel 1984, 204; zu lautnachahmender Wortbildung und
Wortschöpfung auch Ronneberger-Sibold 2002, bes. 116–127).
Daneben stehen Erscheinungen, die nicht so eindeutig auf Geräusch-
imitationen zu beschränken sind und die auch eine stärkere einzelsprachli-
che Bindung zeigen können (bzw. sich auf einzelne verwandte Sprachen
erstrecken); vgl. z.B. die im Englischen und Deutschen zu findenden
Lexeme mit s-Kombinationen zum Ausdruck von Feuchtem, Glitschigem:
engl. slobber ,Geifer, geifern‘, slop ,Pfütze, Spülicht‘, sludge ,Schlamm‘, slush
,Matsch‘ u.a. (Ullmann 1962, 84); entsprechende deutsche Lexeme haben
-tsch-, so lutschen, Matsch, Patsche, titschen u.a.; weitere Beispiele für das
Englische vgl. Schmid 2005, 225f.
1.5.4.2 Wortbildungsbedeutung
Mit den Begriffen Motivation und Motivationsbedeutung ist die Frage nach
der Wortbildungsbedeutung verknüpft. Als Wortbildungsbedeutung (aus-
führlicher Kubrjakova 1981, Barz 1988, 80 ff.) bezeichnen wir die verallge-
meinerbare semantische Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstitu-
enten einer binären Wortbildung bzw. – bei nichtbinären Wortbildungen –
zwischen motivierender Basis und Wortbildung.
Die Wortbildungsbedeutung gehört zu den Parametern eines Wortbil-
dungsmodells (¢ 1.7.1.2), d. h., sie ist nicht idiosynkratisch, nicht an ein
bestimmtes einzelnes Formativ gebunden, sondern sie ist eine Klassenbe-
deutung, eine semantische Invariante bei relativ variabler lexikalischer
Auffüllung einer bestimmten morphologischen Struktur; vgl. die Wortbil-
dungsbedeutung ,komparativ‘ in adjektivischen Komposita mit substanti-
vischem Erstglied wie bienenfleißig, himmelblau, steinhart und in adjek-
tivischen Derivaten mit substantivischer Basis wie eisig, schülermäßig, jüng-
lingshaft. Wie die Beispiele zeigen, besteht keine Eins-zu-Eins-Beziehung
zwischen Modellstruktur und Wortbildungsbedeutung.
Die Wortbildungsbedeutung wird mitbestimmt von der Wortbildungsart,
vom morphologischen Status, der Reihenfolge und der lexikalischen Bedeu-
tung der unmittelbaren Konstituenten, besonders bei okkasionellen Wort-
bildungen zusätzlich auch von Text- und Sachinformationen. Weitere In-
terpretationshilfen bieten paradigmatisch verwandte Komposita mit jeweils
einer identischen unmittelbaren Konstituente oder Derivate derselben
Wortbildungsreihe, wie für Umweltschutzverein z.B. Tierschutzverein oder
Umweltschutzorganisation, für steinhart die Komposita knochenhart, eisen-
hart, knüppelhart, für eisig die Derivate teigig, schuftig, riesig. Je nach
Ausprägung der Wortbildungsbedeutung gehören Wortbildungsmodelle zu
den funktional-semantischen Klassen Modifikation oder Transposition
(¢ 1.8.2.1).
48 1 Grundsätze und Grundbegriffe
scheidung Schröder 1988, 168f. mit Blick auf die Bewertung von Wortbil-
dungen; Munske 1993, 511; Stein 2007). Bezogen auf binäre Wortbildungen
zeigt sich das im Einzelnen folgendermaßen.
Aus der Perspektive des Produzenten ist eine binäre Wortbildung zum
Zeitpunkt ihrer Prägung stets in dem Sinn motiviert, dass er eine Zeichen-
kombination bildet, deren Motivationsbedeutung für ihn relevante Merk-
male des Gegenstandes (Open-Air-Konzert) bzw. seines Verhältnisses zu ihm
(Chaosveranstaltung) beinhaltet. Die Prägung einer Bezeichnung geht in der
Regel mit einer begrifflichen Konsolidierung, einer „neuen begrifflichen
Qualität“ (Fleischer 1984, 13) einher, die mit zunehmender Usualisierung
zu Motivationsverlusten führen kann.
Für den Rezipienten stellt sich die Sache etwas anders dar. Da auch in
einer komplexen Wortbildung immer nur wenige Merkmale – von Fall zu
Fall unterschiedlichen Charakters – in den morphemischen Bestandteilen
explizit gemacht werden können und die semantische Beziehung der Be-
standteile untereinander, die Wortbildungsbedeutung (¢ 1.5.4.2), sehr ver-
schiedenartig sein kann (vgl. Bier-, Bleikristall-, Stielglas), ist die lexikalische
Bedeutung einer okkasionellen Wortbildung allein durch die Motivations-
bedeutung nicht immer ohne Weiteres erschließbar. Das gilt auch für lexi-
kalisierte Wortbildungen, selbst dann, wenn die wortinterne Bedeutung der
Bestandteile mit ihrer freien Bedeutung weitgehend identisch ist, vgl. z.B.
Ozonloch ,Loch in der Ozonschicht‘, Erdloch ,Loch in der Erde‘, Wasserloch
,Loch, in dem sich Wasser angesammelt hat‘; Zugvogel ,Vogel, der im
Winter in den Süden zieht‘, Zugtier ,Tier, das Lasten ziehen kann‘. Die
richtige Dekodierung setzt stets zusätzlich zum Sprachwissen auch Sach-
wissen voraus.
Detaillierte Analysen der Verstehensvoraussetzungen haben in jüngerer Zeit zu einer
feineren Differenzierung des Sprach- und Sachwissens geführt. Man unterscheidet
üblicherweise Muster-, Text- und Sachwissen (Letzteres auch: Weltwissen, Framewis-
sen, assoziatives Wissen genannt; ähnlich, aber mit anderer Terminologie Heringer
1984; im Überblick Matussek 1994, 30 f.; Barz/Schröder 2001, 194 f.). Musterwissen
umfasst die Kenntnisse über Wortbildungsmodelle und entsprechende Wortbildungs-
reihen. Textwissen gewinnt der Rezipient aus dem Kontext einer Wortbildung und
Sachwissen ergibt sich aus dem entsprechenden „gesellschaftlich-kommunikativen
Diskursbereich“ (Fandrych 1993, 268).
Je länger Wortbildungen im Gebrauch sind, umso eher verliert die Mo-
tivationsbedeutung an Relevanz für das Wortverständnis, umso stärker
tendieren die Wortbildungen als Bezeichnungseinheiten zu einer ganzheitli-
chen Semantik. Das zeigt sich daran, dass sich Sprachbenutzer die lexikali-
sche Bedeutung bei unreflektiertem Sprachgebrauch nicht über die Moti-
1.6 Einheiten der Wortbildung 51
1.6.1 Wörter
Das Wort ist eine sprachliche Grundeinheit, die je nach spezifischem Er-
kenntnisinteresse unterschiedlich definiert wird (Wurzel 2002, 201). Auf der
lexikalischen Ebene wird das Wort bestimmt als die „einem grammatischen
Paradigma zugrunde liegende lexikalische Einheit“ (Henne 1998, 559). Für
diesen Begriff von Wort wird im Allgemeinen der Terminus Lexem ge-
braucht. Will man den Unterschied zwischen Lexemen und (flektierten)
Wörtern im Text hervorheben, bezeichnet man Letztere genauer als Wort-
formen oder syntaktische Wörter. Da durch Wortbildung nicht syntaktische
Wörter, sondern Lexeme entstehen, könnte Wortbildung folglich auch –
terminologisch präziser – Lexembildung genannt werden. Da aber Wort-
bildung der eingeführte Terminus ist, soll er hier beibehalten werden.
Richtet man seinen Blick auf das Wort als (Ausgangs-)Einheit für die
Bildung von Lexemen, zeigt sich, dass nicht alle grammatischen Formen
eines Wortes als Input fungieren, sondern in der Regel nur der sog. Wort-
stamm. Wir verstehen unter dem Stamm eine Form ohne Flexionsendung.
Stämme können einfach (Wind) oder komplex (windig, Sommerwind) sein.
Sie sind wortfähig, mit Flexionsmorphemen verbindbar und sie kommen
52 1 Grundsätze und Grundbegriffe
bei Flektierbarkeit frei vor; verbale Stämme meist nur zusammen mit Fle-
xionsmorphemen. Stämme der autosemantischen Wortarten sind wortart-
markiert. Bei Substantiven und Adjektiven entspricht der Stamm der Nenn-
form; bei manchen Verben stimmen Stamm und Imperativform im Singular
überein (komm).
Wenn die explizite Unterscheidung von Wort und Stamm in bestimmten
Erklärungszusammenhängen keine Rolle spielt, wird hier terminologisch
darauf verzichtet und allgemeiner von Substantiv, Adjektiv oder Verb als
Konstituente von Wortbildungen gesprochen. Die unmittelbaren Konsti-
tuenten von Papierqualität sind in dieser Redeweise zwei Substantive, prä-
ziser ausgedrückt: zwei Substantivstämme.
Stämme kommen in nur einer (Wind) oder in verschiedenen Stammfor-
men vor, z.B. mit verschiedenen Stammvokalen (rot/röt lich, sing en/sang).
Zum Zweck einer systematischen morphologischen Beschreibung von
Wortbildungen differenzieren wir nach Fuhrhop (1998, 22 ff.) die Stamm-
formen nach ihrer Verwendung in Flexion und Wortbildung. Zu unter-
scheiden sind Flexionsstammform (ist zugleich Grundstammform) sowie
Derivations- und Kompositionsstammform, wobei diese Formen bei einem
Stamm identisch sein können (Wind, Winde, windig, Windrichtung).
Das Paradigma des Verbstammes klag z.B. umfasst die Stammformen
klag- (Flexionsstammform wie in klagst, klagte; Derivationsstammform wie
in klagbar, klaglos; Kompositionsstammform wie in Klaggeschrei), kläg- (De-
rivationsstammform mit Umlaut wie in kläglich, Kläger) und klage- (Kom-
positionsstammform mit Fugenelement -e wie in Klagelied, Klageschrift).
Eine 1:1-Beziehung zwischen Stammform und Wortbildungsart besteht, wie
man sieht, nicht.
Für die Beschreibung der Wortbildung sind die Kompositions- und De-
rivationsstammformen relevant. Sie bilden den Input für Wortbildungen.
1.6.2 Affixe
1.6.2.1 Grundsätzliches
Die Beschreibung des Affixinventars des Deutschen setzt die Bestimmung
des Morphembegriffs voraus. Morpheme sind sprachliche Zeichen, die
nicht weiter in kleinere bedeutungstragende Einheiten zerlegt werden kön-
nen; es sind die „elementaren Einheiten der Wortstruktur“ (Grundzüge
1981, 464).
Nach ihrer Selbstständigkeit unterscheidet man wortfähige (freie) und
gebundene Morpheme. Das entspricht im Wesentlichen der Einteilung in
1.6 Einheiten der Wortbildung 53
1.6.2.2 Affixarten
Die Wortbildungsaffixe des Deutschen lassen sich nach den Merkmalen
Position im komplexen Wort, Wortartmarkierung, morphosemantische
Funktion und Herkunft (indigen, exogen) klassifizieren.
1) Nach ihrer Position sind die Affixarten Präfix, Suffix und Zirkumfix zu
unterscheiden. Sie bilden mit Wortstämmen, Syntagmen oder Konfixen
komplexe Lexeme, vgl. sauber > un sauber, säuber lich; reden > Ge red e; in
Anspruch nehmen > Inanspruchnahm e; polit- > polit isch. Präfixe stehen
links von der Derivationsbasis, Suffixe rechts von ihr. Zirkumfixe um-
schließen die Basis. Aus der Positionsfestigkeit der Affixe ergibt sich, dass sie
deutlich separate Klassen darstellen. Gleichlautende Formative aus jeweils
verschiedenen Klassen sind als Homonyme zu betrachten, wie z. B. -er in
Maler vs. er- in erkämpfen oder -in in Ärztin vs. in- in inakzeptabel. Ho-
monymie tritt auch zwischen exogenen Suffixen auf wie beispielsweise -ant/
-ent bei Substantiv und Adjektiv: Repräsentant, Referent – interessant, evident.
2) Hinsichtlich der Wortartmarkierung unterscheiden sich die Affixklas-
sen deutlich. Indigene Suffixe und Zirkumfixe sind insofern prototypische
Affixe, als sie grundsätzlich die Wortart des komplexen Wortes festlegen,
d. h. die Kopffunktion übernehmen (zum Begriff Kopf vgl. Olsen 1986a, 99).
Daraus folgt, dass sich substantivische, adjektivische (zusammengefasst als
nominale Suffixe), verbale und adverbiale Suffixe unterscheiden lassen;
ebenso Zirkumfixe, die allerdings beim Adverb fehlen. Präfixe verhalten sich
hinsichtlich der Kopffunktion weniger einheitlich. Hier sind nominale von
verbalen Präfixen zu trennen. Die nominalen Präfixe un-, ur-, miss-, erz-
treten gleichermaßen an Substantive und Adjektive (Unwetter, unschön, Ur-
großvater, uralt). Sie können die Wortart ihrer Basis demzufolge nicht fixie-
ren, übernehmen also keine Kopffunktion. Daraus folgt, dass ausschließlich
„fertige Wörter“ präfigiert werden können, nicht aber Syntagmen und Kon-
fixe. Die verbalen Präfixe be-, ent-, er-, ge-, ver-, zer- haben dagegen Kopf-
eigenschaften. Sie leiten Verben aus Substantiven und Adjektiven ab und
treten auch an verbale Basen (versumpfen, verarmen, verbrauchen; ¢ 1.6.2.3).
3) Von ihrer Derivationsbasis sind Derivate durch morphosyntaktische
und semantische Veränderungen, die das jeweilige Affix hervorruft, unter-
schieden. Man erfasst diese Affixleistung mit dem Terminus morphoseman-
tische Funktion.
In morphosyntaktischer Hinsicht sind wortarterhaltende von wortart-
verändernden Affixen zu trennen. Nominale Präfixe verändern die Wortart
ihrer Basen nicht, Zirkumfixe wirken ausschließlich wortartverändernd.
Suffixderivationen können beides: einen Wortartwechsel bewirken (Bürger
1.6 Einheiten der Wortbildung 55
> bürgerlich) oder die Wortart der Ausgangseinheit unverändert lassen (Wirt
> Wirtin, Stadt > Städter). Verbale Präfixe leiten Verben sowohl aus verbalen
als auch aus substantivischen und adjektivischen Basen ab.
Suffixe und Zirkumfixe ordnen die Stämme jeweils in eine bestimmte
allgemeine semantische Klasse ein wie beispielsweise das Suffix -er u. a. in die
Klasse Nomen Agentis (Leser, Schreiber, Maler). Präfixe spezifizieren die
Bedeutung ihrer Basis wie ur- in uralt, urkomisch ,äußerst, sehr‘ (¢ 1.8.2.1).
Die meisten Affixe sind polyfunktional. So leitet z.B. -ig u. a. aus dem
Substantiv Affe das Adjektiv affig ,wie ein Affe‘ ab, aus dem Verb zappeln das
Adjektiv zapp(e)lig ,zum Zappeln neigend‘; -heit aus dem Adjektiv schön das
Substantiv Schönheit mit der Bedeutung ,das Schönsein‘, aus dem Substantiv
Mensch das Kollektivum Menschheit.
Affixen ist das Merkmal Reihenbildung zuzuschreiben (¢ 1.8.2.2). Unter
einer Wortbildungsreihe ist die Gesamtheit der Wortbildungen zu verste-
hen, die nach ein und demselben Modell gebildet sind, vgl. die Reihe de-
verbaler Adjektive auf -bar: ess-, hör-, mach-, waschbar ,kann [Partizip II des
Basisverbs] werden.‘ Wenngleich die Reihenbildung für Derivate insofern
typisch ist, als es viele Derivationsmodelle gibt, nach denen eine große
Anzahl von Wortbildungen entstanden ist bzw. noch entsteht, so ist dieses
Merkmal dennoch nicht auf Derivationsmodelle beschränkt. Auch Kom-
positionsmodelle können Reihen hervorbringen, vgl. Apfel-, Birn-, Kirsch-,
Obst-, Oliven-, Pflaumen-, Zitronenbaum u.a. (zur Diskussion dieses Merk-
mals Donalies 2005b, 24; Stein 2008, 191ff.). Jedoch markiert der Umfang
der Wortbildungsreihen einen Unterschied zwischen Derivations- und
Kompositionsmodellen: Die Reihen produktiver Derivationsmodelle dürf-
ten wesentlich umfangreicher sein. Reihenbildung gilt deshalb als derivati-
onstypisches Phänomen.
Affixe unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Betonung. Nominale
Präfixe werden betont, verbale bleiben unbetont. Typische indigene Suffixe
sind unbetont; die Betonung exogener Suffixe ist dagegen uneinheitlich
(¢ 1.9.3.2).
Für Suffixderivate gilt noch eine weitere phonetische Besonderheit: Vo-
kalisch anlautende Suffixe werden in der Regel mit einem konsonantischen
Basisauslaut zu einer Silbe gebunden, sodass Morphem- und Silbengrenze
einander nicht entsprechen. Bei Kompositionsgliedern stimmen dagegen
auch bei vokalischem Anlaut des Zweitgliedes Morphem- und Silbengrenze
überein, vgl. Mal er – Ma ler gegenüber Hühner ei.
56 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.6.2.3 Affixbestand
Im Folgenden wird eine Übersicht über die indigenen Affixe gegeben, die in
der deutschen Sprache der Gegenwart Derivate bilden, wobei es hier aus-
schließlich um eine Inventarisierung geht; Erläuterungen zu den Affixen
folgen in den Kapiteln 2–5 bei den einzelnen Wortarten.
Die Übersichten (nach Dudenband 4, 2009, 690f., 723, 752) stellen sub-
stantivische, adjektivische, verbale und adverbiale Affixe einschließlich ihrer
Allomorphe (¢ 1.6.2.1) in Auswahl zusammen. Affixe unproduktiver Bil-
dungsmodelle wie Verbstamm + -t oder -de zur Bildung von Substantiven
wie in fahren > Fahrt, freuen > Freude oder dar- + Verb wie in darreichen
bleiben hier unberücksichtigt, werden aber ggf. exemplarisch in den ein-
schlägigen Kapiteln behandelt.
Zu jedem Affix bzw. zu jeder Affixvariante wird ein Beispiel angeführt.
Die Beispielanordnung entspricht der Reihenfolge der jeweils in Spalte 2
genannten Affixe.
b.
durch-, hinter-, über-, durchschreiten, hinterfragen,
um-, unter-, wider- überbrücken, umrunden, unterkellern,
widersprechen
Suffix -el(n)/-l(n),-er(n)/-r(n) lächeln, kriseln, dreckern, blinkern
Zirkum- be-…-ig(en), ver-… begradigen, vereidigen
fix -ig(en)
zwischen Lexem und Affix befinden. Ihre Bedeutung lässt sich in der ge-
bundenen Verwendung zwar durchaus noch auf das entsprechende Lexem
beziehen bzw. aus dessen Bedeutung ableiten, rückt aber aufgrund eines
meist höheren Allgemeinheitsgrades doch in die Nähe der morphoseman-
tischen Funktion von Affixen.
Die diachrone Wortbildungsforschung hat entsprechende Entwicklungen seit dem
Ahd. nachgewiesen, z. B. für -tum (aus ahd. tuom ,Urteil‘), -schaft (aus ahd. scaf ,Be-
schaffenheit‘), -lich (aus ahd. lı̄h ,Körper‘), -haft (aus ahd. haft ,behaftet, gebunden‘),
-sam (aus ahd. sama/samo ,das-, derselbe‘), -heit (aus ahd. heit ,Art und Weise, Be-
schaffenheit‘; zuletzt u.a. Habermann 2002, 46; detailliert zu -heit auch Erben 2006,
145 ff.). Aus ursprünglichen Lexemen mit einer lexikalischen Bedeutung entstanden
die heute üblichen Suffixe. Ihre wortfähigen Pendants sind untergegangen. Die Suffixe
lassen keine semantischen Bezüge zu Lexemen der Gegenwartssprache erkennen.
Diese unstrittigen Suffixe liefern z. T. noch formale Hinweise auf ihre Entstehung
aus Stämmen. Eisenberg/ Sayatz (2002, 151) deuten beispielsweise die Tatsache, dass
die Suffixe -haft, -los, -schaft und -tum ihre Kokonstituente in der Kompositions-
stammform fordern (d. h. mit Fugenelement: lehrlingshaft, ahnungslos, Beamtenschaft,
Beamtentum) als Hinweis auf den noch nicht abgeschlossenen Grammatikalisierungs-
prozess und sprechen von „Kompositionssuffixen“.
Zur Verwertbarkeit von Einsichten der Grammatikalisierungsforschung in der
Wortbildung Munske 2002, 28 f.; Stevens 2005, 73 ff.; Stein 2008, 186; allgemein zur
Grammatikalisierung Diewald 1997.
Die Frage, wie man mit Einheiten zwischen Wortstamm und Affix, die
zudem in sich noch sehr heterogen sind, bei der Modellierung gegenwarts-
sprachlicher Wortbildungen angemessen umgehen soll, wird seit langem
kontrovers diskutiert. Die fraglichen Einheiten werden zum einen als be-
sondere Einheitenkategorie aufgefasst und affixähnliche Elemente, Halbaf-
fixe oder Affixoide genannt. Dabei wird stets betont, dass der Affixoidcha-
rakter „unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann“ (Stein 2008, 205) und
dass die „Endstufe (Affixstatus)“ nicht erreicht sein muss (Habermann
2002, 54; vgl. dazu auch Stepanowa/Fleischer 1985, 141ff.; Tellenbach 1985
sowie die Forschungsberichte bei Schmidt 1987b, 53 ff.; Stein 2008; Elsen
2009).
Als wichtigstes Argument für die Etablierung der Kategorie Affixoid gilt
die bereits erwähnte spezifische Lesart der Einheiten. Sie ist im Vergleich
zum entsprechenden Lexem entkonkretisiert, verallgemeinert. Munske
(2002, 28) konstatiert „semantisches Ausbleichen“, einen „Wandel von au-
tosemantischer zu synsemantischer Bedeutung“.
Außer der semantischen Spezifik werden als weitere, im Einzelnen unterschiedlich
ausgeprägte Merkmale der Affixoide die Reihenbildung, eine charakteristische Distri-
60 1 Grundsätze und Grundbegriffe
es gehöre gerade zu den spezifischen Leistungen der Wortbildung, „ganze Sätze in einer
Kombination zusammenzufassen“ (Schmidt 1987b, 81). Es erweise sich daher als
zweckmäßig und sei den sprachlichen Gegebenheiten angemessen, den Affixoidbegriff
aufzugeben.
Auch andere synchrone Darstellungen der Wortbildung des Deutschen verzichten
auf die Kategorie Affixoid, vgl. Fandrych 1993; Donalies 2005b, 25f.; Eisenberg 2006,
218; Lohde 2006, 15 f. Zu Abgrenzungsproblemen zwischen Affix, Affixoid und Konfix
vgl. Elsen 2005, 134ff.; Schu 2005, 258.
Neben der Grammatikalisierung von Stämmen und der Reanalyse von Wortsegmenten
zu Affixen führen auch Verschiebungen in der Distribution der Affixe zur Vermehrung
der Wortbildungsmöglichkeiten, ohne dass neue Affixe entstehen. Das gilt vor allem für
die „Erweiterungen ihrer Anwendbarkeit“ (Stein 1981, 338; Wellmann 1997, 84 zu -bar,
-haft, -ig, -lich, -sam; Habermann 2002, 53 zu -bar; vgl. auch zum Wandel der „Input-
beschränkung“ bei -er-Derivaten Scherer 2005, 104ff.). So sind heute alle Adjektivsuf-
fixe außer -en, die ursprünglich nur an substantivische Basen angefügt wurden, auch
mit Verben verbindbar (fruchtbar – denkbar, fehlerhaft – schmeichelhaft, blutig – wacklig,
bäurisch – mürrisch, kindlich – sterblich, tugendsam – empfindsam, dazu Stein 1981, 339).
Eine gegenläufige Tendenz zur Vermehrung des Affixbestandes ist das Untergehen von
Affixen, z.B. durch das Verschmelzen von Affix und Derivationsbasis, in dessen Folge
die fraglichen Gebilde teilweise auch synchron noch als Wortbildung zu erkennen sind
wie Gebärde aus mhd. gebāren ,sich benehmen, verfahren‘, Begierde aus begehren mit
Suffix -de oder Bucht aus biegen, Zucht aus ziehen mit Suffix -t. Völlig verschwunden ist
dagegen der Konstruktionscharakter von Wörtern wie Saum zu mhd. siuwen ,nähen‘
oder Zaum zu ziehen, bei denen das idg. Suffix -mo heute zum Grundmorphem gehört
(vgl. Henzen 1965, 119).
1.6.3 Konfixe
Wenngleich dieser Terminus wie eine contradictio in adjecto erscheint, da ein Mor-
phem gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass es in Kombination mit verschiedenen
Morphemen in gleicher Bedeutung wiederkehrt, hat er allgemeine Verbreitung gefun-
den (vgl. Grundzüge 1981, 469; Ortner/Ortner 1984, 30; Erben 2006, 57). Donalies
(2005b, 41) spricht korrigierend von „unikalen Einheiten“.
1.6.6 Fugenelemente
1.7 Modellierung
Eine phonemisch nicht besetzte Stelle im Auslaut einer derivierten Wortbildung gilt
nach dieser Auffassung dann als Nullmorphem, wenn Derivationsbasen derselben
Wortart auch durch Suffigierung in ebendiese semantische Klasse überführt werden,
wenn die Wortbildungen ohne Affix „in Opposition“ (Kastovsky 1981, 319) zu anderen
Derivaten mit der gleichen Wortbildungsbedeutung stehen. So wären Lauf, Erwerb usw.
Ableitungen mit Nullmorphem, da ihnen Nomina Actionis mit Suffixen gegenüber-
stehen: Lauferei, Erwerbung.
1.7 Modellierung 71
Die Annahme eines Nullsuffixes hat sich, wie zahlreiche Diskussionen er-
geben haben, für das Deutsche nicht bewährt (vgl. Bergenholtz/Mugdan
1979a, 67 ff.). Die Argumente gegen die Etablierung eines Nullmorphems als
Konstituente affixloser Wortbildungen fasst Olsen (1986a, 117) in Bezug auf
die deverbalen Substantive zusammen. „Das postulierte Ø-Suffix würde
nicht nur drei Genera erfassen, sondern darüber hinaus innerhalb jedes
einzelnen Genus verschiedene Flexionsklassen“ (der Treff, die Schau, das
Grab). „Dies stellt kein typisches Verhalten eines Nominalsuffixes dar, denn
ein Nominalsuffix bestimmt eindeutig das Genus und die Flexion des Wor-
tes“ (ebd.). Außerdem wäre für die durch Konversion entstehenden Verben
wie reifen, fischen ein weiteres Nullsuffix nötig, das dann in Opposition zu
verbbildenden Affixen stünde. Da jedoch die meisten Stämme der Haupt-
wortarten bereits wortartmarkiert sind, bedarf es bei der Wortbildungsbe-
schreibung keiner Kennzeichnung einer Wortartveränderung durch Kon-
version mithilfe des Nullsuffixes, denn die Konversionsbildungen sind eben
aufgrund der veränderten Wortart als sekundär identifizierbar (Naumann
2000, 15 f.).
Auch neuere Arbeiten zur Wortbildung verzichten bei den Strukturanalysen meist auf
die Annahme eines Nullmorphems, so etwa Eichinger 2000, 48 f. (mit kurzem kriti-
schem Kommentar); Meibauer 2002, 65 ff. (mit ausführlicher Argumentation gegen die
Etablierung von Nullmorphemen); Donalies 2005b. Wellmann (1998, 426) nennt die
Konversion Nullableitung, ohne jedoch ein Nullmorphem anzusetzen. Anders als noch
1986 plädiert Olsen 1990, 205ff. dagegen für die Annahme von Nullmorphemen.
Dabei spielt eine Rolle, welcher Wortart Input und Output der Bildung
angehören und was sie bedeuten; zu Übersichten über Modifikations- und
Transpositionsarten beim Substantiv ¢ 2.1.3.1; ¢ 2.1.3.2; ¢ 2.2.2.3.1; beim Ad-
jektiv ¢ 3.1.4; beim Verb ¢ 5.1.3.
Die Beschreibung der Wortbildungsbedeutung erfolgt informell. In Ab-
hängigkeit von der Wortbildungsart und davon, ob Modifikation oder
Transposition vorliegt, werden z.T. unterschiedliche Formulierungen ge-
wählt. Bei den Modifikationsarten der Derivation wird beispielsweise ange-
geben, wie die jeweilige Derivationsbasis semantisch nuanciert wird (z. B.
Kindchen: Die Basis Kind wird diminuiert; die Wortbildungsbedeutung
lautet ,diminutiv‘). Bei der Transposition durch Suffixe wird in der Bezeich-
nung der Wortbildungsbedeutung beim Substantiv die entstandene Wortart
mit ausgewiesen; zu den Nomina Actionis gehören z.B. die Modelle, nach
denen Substantive mit einer „Geschehensbedeutung“ gebildet werden. In
anderer Redeweise: Zu den Nomina Actionis gehören abgeleitete Substan-
tive mit einer Geschehensbedeutung.
Die Ermittlung der Wortbildungsbedeutung sei exemplarisch an der sub-
stantivischen Komposition erläutert. Das Determinativkompositum Brot-
getreide bedeutet ,Getreide, aus dem Brot gebacken wird, besonders Roggen
und Weizen‘ (GWDS). Durch die Komposition mit Brot wird das Zweitglied
Getreide in Bezug auf einen bestimmten Verwendungszweck des Bezeich-
neten spezifiziert. Ein anderer Verwendungszweck des im Zweitglied Be-
zeichneten wird in Saatgetreide ,Getreide, das für die Aussaat vorgesehen
ist‘ ausgedrückt. Demnach verfügen beide Komposita trotz unterschiedli-
cher lexikalischer Bedeutung über eine semantische Gemeinsamkeit: Bei
beiden besteht zwischen Erstglied und Zweitglied die gleiche Beziehung,
d. h., beide Komposita verfügen über die gleiche Wortbildungsbedeutung
(¢ 1.5.4.2), und zwar ,final‘. Da sie auch strukturell und morphologisch
übereinstimmen (binär; Substantiv + Substantiv), repräsentieren sie das
gleiche Wortbildungsmodell. In Wintergetreide dagegen wird das mit dem
Zweitglied Bezeichnete zeitlich charakterisiert (,temporal‘): ,winterhartes
Getreide, das im Herbst gesät und im Sommer des folgenden Jahres geerntet
wird‘ (GWDS), vgl. auch Sommergetreide. Diese Komposita verkörpern folg-
lich ein anderes Modell.
Da die Wortbildungsbedeutung im Kompositum morphologisch nicht
repräsentiert ist („an der Oberfläche formal nicht gekennzeichnet“, Fan-
drych/Thurmair 1994, 36), sondern aus der lexikalischen Bedeutung und
der Motivationsbedeutung der Wortbildung erschlossen werden muss,
bietet sich als methodisches Hilfsmittel für die Interpretation auch hier die
Paraphrasierung des komplexen Wortes an (¢ 1.1.4). Die Paraphrase expli-
1.7 Modellierung 73
1.7.1.3 Modellierungsschritte
Für die Zuordnung einer Wortbildung zu einem Modell sind ihre struktu-
rellen, morphologischen und semantischen Merkmale (¢ 1.7.1.1; ¢1.7.1.2) in
folgenden Einzelschritten zu gewinnen (zur Analyse der hier nicht berück-
sichtigten Kurzwörter ¢ 2.7 und Fremdwortbildungen ¢ 1.9.2).
1) Ermittlung der Grund- oder Nennform der Wortbildung (Nominativ
Singular des Substantivs, unflektierte Grundform des Adjektivs, Infinitiv des
Verbs);
2) Analyse der Struktur (binär/nichtbinär), ggf. mithilfe einer Paraphrase;
bei binär gegliederten Verben Ermittlung der morphologischen und syntak-
tischen Trennbarkeit;
3) Bestimmung des morphologischen Status der unmittelbaren Konsti-
tuenten einer binären Wortbildung bzw. der motivierenden Einheit bei
einer nichtbinären Wortbildung. Als Konstituenten kommen infrage: Sub-
stantiv-, Adjektiv-, Verb-, Adverbstamm, Syntagma, Konfix, Präfix, Suffix
oder Zirkumfix, Verbpartikel, unikales Morphem.
4) Analyse der Fugengestaltung bei binären Wortbildungen, Bestimmung
der Stammform; außerdem ggf. Feststellung grafischer und morphologi-
74 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.7.2.1 Produktivität
Produktivität ist eine graduierte Eigenschaft von Wortbildungsmodellen
(¢ 1.7.1). In einer gewissen Verkürzung lässt sich auch von produktiven Af-
fixen sprechen, d. h. Affixen, die zu produktiven Modellen gehören (v.
Polenz 1980, 175).
1.7 Modellierung 75
Enthält ein umfangreiches Textkorpus eine große Anzahl von Hapaxlegomena eines
Modells (singulär vorkommende Wortbildungen), zeugt dieser Befund von hoher Pro-
duktivität des Modells. Unproduktive Modelle sind dagegen dadurch gekennzeichnet,
dass die wenigen so gebildeten Wörter meist hochfrequent sind (Olsen 1995, 113 f.).
Das bestätigt beispielsweise im Deutschen das Modell verbaler Präfixbildung mit wider-.
Seine Produktivität in den beiden semantisch differenzierten Submodellen ,Entgegen-
wirkung‘ und ,Rückwirkung‘ ist schwach. Doch entsprechende Wortbildungen wie
widersprechen, -stehen gehören zum Grundwortschatz und kommen demzufolge in den
verschiedensten Textsorten häufig vor.
76 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Andere Kriterien für die Feststellung der Unproduktivität sind schwer bei-
zubringen.
Ein qualitatives Kriterium kann die mangelnde morphologische und se-
mantische Transparenz einer probeweise nach einem als unproduktiv ange-
sehenen Modell vorgenommenen Bildung sein, etwa *Les-t, *Stör-t von
lesen, stören nach Fahr-t. Als ein quantitatives Kriterium gilt die niedrige
Anzahl entsprechender Bildungen im Lexikon, als qualitatives Kriterium
deren fehlende Transparenz. Zu bedenken ist allerdings die Korrelation
beider Kriterien: Eine geringe Frequenz des Modells bedingt wohl auch eine
tendenzielle Undurchschaubarkeit der verbliebenen Wortbildungen (vgl.
Scherer 2005, 34). Für Motsch (2004, 22) kommt als weitere Einflussgröße
die Funktion der Wortbildungen in Betracht. Der Produktivitätsgrad kann
demnach davon abhängen, ob Wortbildungen des Modells vorrangig der
Bezeichnung neuer Begriffe dienen oder eher für die Textkonstitution
(Wortartwechsel, Verdichtung) gebraucht werden. Im zweiten Fall ist die
Produktivität tendenziell stärker ausgeprägt.
Schließlich ist noch die sprachliche Dynamik in Rechnung zu stellen; eine
diachrone Betrachtung vermag Tendenzen sowohl der Produktivitätsmin-
derung als auch der „Produktivitätserweiterung“ zu erkennen (Plank 1981,
95; vgl. Stricker 2000, 610ff.; ausführlich Scherer 2005 am Beispiel der -er-
Derivation). Die Veränderungen können sowohl formale und inhaltliche
Merkmale des Inputs eines Modells als auch dessen Output betreffen (Sche-
rer 2005, 37). Zur Messbarkeit der Produktivität von Bildungsmodellen
anhand historischer Quellen vgl. Klein/Solms/Wegera 2009, 11 ff.
Eine relativierende Feststellung zum Produktivitätsbegriff ist mit der Ein-
sicht verbunden, dass Wortbildung nicht nur – was bisher im Vordergrund
stand – nach Modellen, also „kompositionell-regulär“, erfolgt, sondern auch
„analog-holistisch“ (vgl. Coulmas 1985, 257 in Anknüpfung an Plank 1981).
Werden im ersten Fall die unmittelbaren Konstituenten von Wortbildungen
nach einem Modell kombiniert, so dient im zweiten Fall eine Wortbildung
als Ganzes (daher „holistisch“) als individuelles Vorbild für eine analogische
Neubildung: Wunderjugendliche, Wundererwachsene nach Wunderkinder
(Sonntag 1987), Landlust (Name einer Zeitschrift) nach Landluft ,reine,
gesunde Luft‘, Stehauf-Frau nach Stehaufmännchen (über eine Sportlerin,
die nach einer Niederlage wieder siegte; LVZ 2010), Hinterfrau nach Hinter-
mann (im Boot). Als „korrelative“ Bildungen sind entsorgen (zu versorgen
wie das geläufige enthüllen zu verhüllen), entschleunigen (zu beschleunigen)
und das okkasionelle verflüstern (zu flüstern wie verrufen zu rufen) entstan-
den: „[…] das vieldiskutierte und als formalistisch verflüsterte Stück […]“
(H. Baierl). Es scheint, dass das analog-holistische Prinzip bevorzugt für
1.7 Modellierung 77
1.7.2.2 Bildungsrestriktionen
Die Produktivität von Wortbildungsmodellen unterliegt modellspezifischen
und auch modellübergreifenden systematischen Beschränkungen, deren
Missachtung zu ungrammatischen Bildungen führen kann (Rainer 2000,
881 ff.; Eisenberg 2006, 278). Das betrifft in erster Linie Derivate. Von den
Verben hoffen und meinen fehlt beispielsweise das Derivat auf -er (*Hoffer,
*Meiner; ¢ 1.4.2), obwohl gerade das Derivationsmodell Verb + -er als hoch-
produktiv gilt, vgl. Denker, Träumer; Versöhner (LVZ 2010). Die Kategorie
Wortart als Merkmal des Inputs ist offenbar für dieses Modell zu unspezi-
fisch, als dass ungrammatische Bildungen auszuschließen wären. Oder
anders gesagt, nicht alle Exemplare einer Wortart „passen“ als Input in das
Modell. Man fasst solche Beschränkungen der Reichweite der Modelle als
Bildungsrestriktionen zusammen.
Bildungsrestriktionen sind Limitierungen bestimmter Eigenschaften des
Inputs und/oder des Outputs des einzelnen Modells oder ganzer Modell-
gruppen (Scherer 2005, 88 ff.; vgl. „basis- und resultatsorientierte Beschrän-
kungen“ bei Plank 1981, 92f.). Modellübergreifend restringiert sind im
Deutschen beispielsweise exogene substantivische Suffixe. Sie verbinden
sich im Wesentlichen nur mit exogenen Stämmen und nicht mit indigenen
(Vitalität – *Gesundität; ¢ 1.9.3.2).
Modellspezifische Inputbeschränkungen von Derivationsmodellen, um
die es hier exemplarisch gehen soll, betreffen phonologische, morphologi-
sche, syntaktische oder semantische Eigenschaften der Basis von Derivaten
(Olsen 2000, 111f.; Naumann 2000, 32 ff.).
1) Phonologische Restriktionen können auf bestimmten phonologischen
Eigenschaften der Basis beruhen, und zwar auf dem Stammauslaut, dem
78 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Wortakzent oder auf der Silbenstruktur (¢ 1.2.3). Der Basisauslaut ist z.B.
maßgebend für die Verteilung der Diminutivsuffixe -chen und -lein. Basen
auf -ch nehmen -lein, solche auf -l verbinden sich mit -chen (Tüchlein, Bäll-
chen). Endet die Basis auf eine Schwasilbe, wird diese getilgt, sodass beide
Suffixe (je nach Auslaut der Basisvariante) alternativ angefügt werden
können (Stündchen, -lein).
Für die Basen der Derivation mit -heit sind Wortakzent und Silbenstruk-
tur entscheidend. Das Suffix -heit steht bei einsilbigen oder endbetonten
mehrsilbigen Basen (Klug-, Kühnheit, Gesund-, Obligatheit). Die Varianten
-keit und -igkeit sind in diesen Umgebungen in der Regel ausgeschlossen
(dagegen Überlappungen bei Basen auf -er: Sicherheit, Sauberkeit; ¢ 2.3.2.7).
2) Zu den morphologischen Beschränkungen gehört der Ausschluss prä-
figierter Basen bei der Bildung deverbaler Nomina Actionis auf ge-…-e
(laufen > Gelaufe, aber verlaufen > *Vergelaufe; zur Komplexität der Basen
von -er-Derivaten vgl. Scherer 2005, 91 f.).
3) Als syntaktische Beschränkung gelten syntaktische Eigenschaften von
Basen, die deren Verwendung in bestimmten Modellen ausschließen. So
bilden Verben, die einen Dativ regieren, in der Regel keine Nomina Actionis
auf -ung, vgl. *Helfung, *Dankung, *Misstrauung (Beispiele bei Eisenberg
2006, 278). Allerdings könnte hier auch die Blockierung der -ung-Derivate
durch Hilfe, Dank und Misstrauen wirksam sein (¢ 1.7.2.3).
Die für -bar-Derivate mitunter genannte Restriktion, dass neue Derivate
nur mit transitiven Verben gebildet würden (Meibauer 2002, 46), scheint
nicht zuzutreffen, wie jüngere Belege zeigen: verrottbares Material (Donalies
2005b, 109). Offensichtlich dient hier die Reihe lexikalisierter Derivate von
intransitiven Verben wie brennbar, klagbar, fließbar als Bildungsvorbild (zur
Vorbildrolle einzelner Lexeme für Neubildungen vgl. Becker 1997, 166f.; zu
analog-holistischer Wortbildung ¢ 1.7.2.1).
4) Semantische Beschränkungen liegen dann vor, wenn die lexikalische
Bedeutung der Basen ausschlaggebend ist für die Verbindbarkeit mit be-
stimmten Affixen. Zustandsverben (ähneln, geschehen, leben, liegen, wohnen)
und unpersönliche Witterungsverben (donnern, hageln, schneien, tauen)
können beispielsweise nicht als Basis für Derivate mit -er in der Bedeutung
,Nomen Agentis‘ fungieren (leben > *Leber, geschehen > *Gescheher, hageln >
*Hagler; DWb 2, 342). In anderer Bedeutung von regnen kommt allerdings
Regner ,Bewässerungsgerät‘ vor; abweichend auch Besitzer ,jmd., der etwas
besitzt‘ vom Zustandsverb besitzen.
Eine andere Art semantischer Beschränkung besteht in der Inkompati-
bilität bestimmter Konnotationen. Wenn die Konnotation des Modells und
1.7 Modellierung 79
1.7.2.3 Blockierung
Wortbildungsmodelle unterliegen nicht nur grammatischen und semanti-
schen Beschränkungen, sondern sind auch lexikongebunden (Motsch 2004,
19). Das zeigt sich daran, dass das Lexikon den Gebrauch durchaus modell-
gerecht gebildeter Wortneubildungen verzögern oder verhindern kann. Be-
stimmte mögliche Wortbildungen kommen nicht vor, weil sie „uner-
wünschte formale oder semantische Eigenschaften haben“ (Plank 1981,
148). Für diese Limitierungsrolle des Lexikons hat sich der Terminus Blo-
ckierung eingebürgert.
Das Lexikon (¢ 1.3) blockiert die Anwendung von Wortbildungsmodellen
vor allem dann, wenn die Neubildungen synonym oder homonym zu ge-
läufigen Lexemen sind (zu weiteren Blockierungsgründen Werner 1995,
56 ff.). So ist *Großheit durch Größe blockiert, *Reiser durch Reisender oder
*ungroß durch klein. Die Blockierung gilt zwar nicht durchgängig, denn
Schwäche besteht neben Schwachheit, ungut neben schlecht usw., ist jedoch
nicht grundsätzlich infrage zu stellen (Eisenberg 2006, 278; zur Relativie-
rung einer systematischen Blockierung v. Polenz 1980, 175; Plank 1981,
173 ff.; Werner 1995, 52ff.; Erben 2006, 113).
Es ist vielfach darauf verwiesen worden, dass nur lexikalisierte Einheiten
entsprechende Neubildungen blockieren. Deshalb blockieren sich die nicht-
lexikalisierten deverbalen Substantive auf -erei und ge-…-e meist nicht ge-
genseitig, vgl. Getanze, Tanzerei. Das gilt auch für die meisten Diminuierun-
gen mit -chen und -lein (Fensterchen, Fensterlein).
Das Beispiel Leber verdeutlicht, dass eine lexikalische Lücke mitunter
gleichzeitig als Inputbeschränkung und auch als Blockierung erklärt werden
kann, denn *Leber ,Person, die (gern) lebt‘ kann durch die Verbsemantik
ausgeschlossen, aber auch durch Leber ,inneres Organ‘ und/oder Lebemann
blockiert sein (¢ 1.7.2.2; Erben 2006, 99).
80 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Wie die Blockierung einer Wortneubildung durch das Lexikon ist auch
mangelnde begriffliche Relevanz einer Wortbildung eine gewichtige Out-
putbeschränkung. Wenn für eine neue Bezeichnung in einer Sprachgemein-
schaft kein Bedarf besteht, gilt das entsprechende Lexem meist als unge-
wöhnlich oder gar falsch und kann sich nicht auf Dauer behaupten. Lexi-
kalische „Lücken“, die ohne Weiteres durch eine Wortbildung geschlossen
werden könnten und für die es keine plausible, auf Systemeigenschaften
basierende Erklärung gibt, beruhen meist auf solchen pragmatischen Fak-
toren, vgl. süß > süßen, aber herb > *herben, bitter > *bittern (aber er-,
verbittern in metaphorischer Bedeutung). Vom Substantiv Stirn wird nicht
*stirnig abgeleitet, obwohl es morphologisch möglich wäre und andere Sub-
stantive aus diesem Wortfeld die Verbindung mit -ig eingehen wie in bucklig,
bauchig, weil der Begriff in dauerhafter Fixierung offenbar nicht gebraucht
wird; vgl. auch *Fasanin ,weiblicher Fasan‘, *armig, *äugig u.v.a. (Plank
1981, 99, 115).
Manche Lücken sind aber auch zufällig.
1.7.2.4 Akzeptabilität
Wortbildungen, die modellgerecht und systemkonform gebildet sind,
können mitunter dennoch „Anstoß oder Heiterkeit“ erregen (v. Polenz
1972, 406), d.h., sie werden nicht als akzeptables Lexem der deutschen Spra-
che anerkannt, vgl. kindersprachliche Bildungen wie Luftpumper (Duden-
band 4, 2009, 642).
Entscheidend für die sogenannte Akzeptabilität eines modellgerecht ge-
bildeten Lexems sind unseres Erachtens die möglichen Beziehungen
1) auf das Lexikon und seine Strukturen sowie
2) zur außersprachlichen Realität, die z.B. „kulturell-semantische Restrik-
tionen“ bedingen kann (vgl. v. Polenz 1972, 408; Plank 1981, 110ff. mit
Hinweis z. B. auf *kamelen gegenüber ochsen und hechten).
Es sind demnach meist Blockierungsgründe, die die Akzeptabilität ver-
hindern (¢ 1.7.2.3). Eine wichtige Rolle spielt zudem der Verstehensaufwand,
den die Rezipienten betreiben müssen.
Bleiben 1) und 2) negativ, wird die betreffende Wortbildung erst einmal
der Ablehnung verfallen, wenn sie isoliert genannt wird, etwa bei einer
Informantenbefragung. Derartige Urteile erweisen sich aber als revisions-
fähig, sobald die betreffenden Bildungen in Textzusammenhängen rezipiert
werden, in denen sowohl die sprachlichen als auch die außersprachlichen
Voraussetzungen für die Akzeptanz geschaffen sind (vgl. entsprechende Bei-
spiele bei Fleischer 1979b, 325; Wildgen 1982; Heringer 1984; 2009, 118ff.;
1.7 Modellierung 81
1.7.3 Aktivität
1.8 Klassifizierung
Klassen von Wortbildungen mit gleichen strukturellen und morphologi-
schen Eigenschaften nennen wir Wortbildungsarten (¢ 1.8.1), solche mit
gleichen wortbildungssemantischen Eigenschaften funktional-semantische
Klassen. Mehrere Wortbildungen desselben Modells bilden Wortbildungs-
reihen. Zu Wortfamilien werden schließlich Wortbildungen zusammenge-
fasst, die über ein rekurrentes Grundmorphem verfügen (¢ 1.8.2).
Erfasst man zunächst auf allgemeinster morphologischer Ebene, durch
welche Prozeduren neue Lexeme entstehen, ohne hier schon einzelne Arten
charakterisieren zu wollen, lassen sich die Kombination von Wortbildungs-
einheiten, die Veränderung der Wortart der Ausgangseinheiten und die Til-
gung bzw. Kürzung von Syntagmen, Lexemen und Lexemteilen als typische
Verfahren herausstellen. Eine andere Systematik der „Grundmöglichkeiten“
1.8 Klassifizierung 83
1.8.1 Wortbildungsarten
Verbstämme deshalb, weil sie sich, obwohl in der Regel nicht frei vorkom-
mend, mit Flexionselementen verbinden lassen (¢ 1.6.1). Wortfähige
Stämme der Hauptwortarten sind auch basisfähig, d. h., sie verbinden sich
mit Affixen zu neuen Lexemen. Konfixe sind zwar nicht wort-, dafür aber
meist basisfähig (¢ 1.9.2.2). Affixe sind weder wort- noch basisfähig.
Das dritte Kriterium, die Bestimmung der Wortart von Input und Out-
put, ist ausschlaggebend für die Ermittlung der Wortbildungsart nichtbi-
närer Wortbildungen. Liegt morphosemantische Motivation durch einen
Stamm einer anderen Wortart oder durch ein Syntagma vor, ohne dass ein
Affix hinzugefügt wurde, handelt es sich um das Ergebnis einer Konversion
(essen > Essen; Schrott > schrott) oder einer Rückbildung (Zweckentfremdung
> zweckentfremden). Handelt es sich bei der Wortbildung um die Kürzung
einer längeren Vollform derselben Wortart, liegt Kurzwortbildung vor
(Bankleitzahl > BLZ).
Für Kontamination und Reduplikation gelten spezifische Kriterien
(¢ 1.8.1.7; ¢1.8.1.8).
1.8.1.1 Komposition
Typische Komposita (Zusammensetzungen) sind komplexe Lexeme aus
zwei wortfähigen unmittelbaren Konstituenten. Konfixkomposita bestehen
entweder aus zwei Konfixen oder aus einem Konfix und einer wortfähigen
unmittelbaren Konstituente (¢ 1.9.3.1).
Die beiden unmittelbaren Konstituenten von Komposita werden ent-
sprechend ihrer Abfolge im Wort als Erstglied und Zweitglied unterschie-
den. Während als Zweitglied nur Stämme und Konfixe infrage kommen,
kann die Erstgliedposition ganz unterschiedlich besetzt sein.
Als Erstglied kommen vor:
– Wortstämme, Syntagmen und Wortreihungen, verbunden mit Stämmen
oder Konfixen (Arbeitszimmer, Fremdsprache, UKW-Antenne, bärenstark,
Langstreckenflug, Ost-West-Verhältnis; Spielothek);
– Konfixe, verbunden mit Stämmen oder Konfixen (Biogas, Schwiegervater;
Automat).
Sonderfälle in Bezug auf die Struktur der unmittelbaren Konstituenten
bilden Komposita, deren Erstglied ein Satz oder ein einzelner Buchstabe
ist (Ich-nehme-ab-Programm, Trimm-dich-Pfad, ¢ 1.6.4; A-Jugend, V-Aus-
schnitt). Die Buchstaben kennzeichnen eine Rangfolge oder haben ikonische
Funktion. Sind sie in Erstgliedposition Kürzungen aus längeren Vollformen
wie in S-Bahn, werden die Wortbildungen als partielle Kurzwörter bestimmt
(¢ 2.7.1).
1.8 Klassifizierung 85
1.8.1.2 Derivation
Die beiden unmittelbaren Konstituenten eines Derivats (einer Ableitung)
werden unterschieden als Derivationsbasis und Derivationsaffix (oder De-
rivatem, Erben 2006, 29). Die Derivationsbasis ist ein Wortstamm, ein
Konfix oder ein Syntagma. Das Derivationsaffix kann sein:
– ein Suffix (Ordn ung, fröh lich, krise l n);
– ein Präfix (Un glück, ur alt, ver gießen);
– ein Zirkumfix (Ge sing e, un erschöpf lich, ver unrein ig[en]).
Die Zusammenfassung von Suffixderivation (auch: Suffigierung; Ergeb-
nis: Suffixderivat), Präfixderivation (auch: Präfigierung; Ergebnis: Präfix-
derivat) und Zirkumfixderivation (auch: Zirkumfigierung, kombinatori-
sche Derivation, vgl. z. B. DWb 1, 126ff.; Ergebnis: Zirkumfixderivat) unter
dem Oberbegriff der Derivation macht den Affixcharakter von Präfixen,
Suffixen und Zirkumfixen zum maßgebenden Kriterium. Dass es zwischen
den verschiedenen Affixarten Unterschiede gibt (¢ 1.6.2.3), wird nicht in-
frage gestellt. Die Suffixderivation ist – im Hinblick auf Suffixanzahl und
semantische Vielfalt – die Domäne von Substantiv und Adjektiv, während
beim Verb der Mangel an Suffixen durch intensive Nutzung von Präfigie-
rung, Partikelverbbildung und Konversion ausgeglichen wird. Die Zirkum-
figierung tritt bei allen drei Wortarten selten auf.
Syntagmen als Derivationsbasis sind sowohl freie als auch phrasemische
Verbindungen. Sie haben verbalen oder substantivischen Charakter (in Be-
trieb setzen/nehmen > Inbetriebsetzung, Inbetriebnahme; das Brett bohren, wo
es am dünnsten ist > Dünnbrettbohrer, nach einem Ziel streben > zielstrebig;
breite Schultern > breitschultrig; Näheres bei Fleischer 1997a, 189ff.). Die
Abgrenzung zu den Rektionskomposita ist in manchen Fällen fließend (vgl.
Eichinger 2000, 72; Motsch 2004, 342 zu Olivenpflücker; ¢ 2.2.2.3.1), sodass
sich Doppelmotivation ergibt, wie beispielsweise bei Wasserverdrängung:
1) Derivat aus Wasser verdrängen + -ung
2) Kompositum aus Wasser + Verdrängung.
Voraussetzungen für eine Analyse nach 2) sind die Usualität beider Kon-
stituenten und semantische Stimmigkeit (¢ 2.2.2.3.1).
Unscharfe Grenzen zwischen Derivation und Komposition bestehen bei
Wortbildungen mit reihenbildenden und semantisch veränderten Stämmen
(Höllenkrach, Riesenapplaus; kosten-, bügelfrei; ¢ 1.6.2.4).
Derivate mit Syntagmen als Basis, die auch als Zusammenbildungen be-
zeichnet werden, bestimmen wir als eine Unterart der Derivation.
Zur Zusammenbildung im Einzelnen vgl. Henzen 1965, 234; Motsch 2004, 9; Eisenberg
2006, 230; Erben 2006, 38 ff. u.ö. Eichinger analysiert sie als Inkorporation und ver-
1.8 Klassifizierung 87
weist sie damit in den Peripheriebereich der Wortbildung zur Syntax hin, zu „Bildun-
gen, wo die semanto-syntaktische Nachbarschaft zur allmählichen Univerbierung […]
führt“ (Eichinger 2000, 61). Meibauer (2002, 61 ff.) erklärt die Besonderheit der Zu-
sammenbildung (nach Leser 1990) mit der Annahme einer ternären Struktur. Er glie-
dert z.B. zielstrebig in die Stämme ziel-, streb- und in das Suffix -ig. Da weder zielstreb-
noch -strebig frei vorkommen, ist nach dieser Ansicht die Annahme einer spezifischen
Wortbildungsart Zusammenbildung berechtigt.
(Zur Forschungsgeschichte seit Adelung vgl. Leser 1990, 15 ff.).
1.8.1.3 Konversion
Bei der Konversion (Ergebnis: Konversion oder Konversionsprodukt; „Kon-
vertat“ bei Donalies 2005b, 123) handelt es sich grundsätzlich um Wortart-
wechsel; wenn Lexeme die Ausgangseinheit sind, um einen Wortartwechsel
ohne Affigierung bzw., wenn Syntagmen und Sätze die Ausgangseinheiten
sind, um eine Verschmelzung der einzelnen Glieder zu einem Lexem mit
Wortartfixierung (Univerbierung).
Basis einer Konversion können einfache (laufen > Lauf, hoch > Hoch, weit
> weiten) oder komplexe Lexeme (miteinander > Miteinander, besuchen >
Besuch) sowie freie oder phrasemische Syntagmen (eine Hand voll > Hand-
voll, Dreikäsehoch) oder selten auch Sätze (Tunichtgut, Stelldichein) sein;
nicht jedoch Konfixe.
Die hier als Konversion bestimmte Transposition von Syntagmen und Sätzen zu kom-
plexen Lexemen ohne Affigierung wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt (vgl.
Heinle 1993 mit ausführlichem Forschungsüberblick). Recht verbreitet ist ihre Erklä-
rung als Zusammenrückung (vgl. Fleischer 1983c, 61 ff.). Der Terminus charakterisiert
die spezifische Bildungsweise: Syntaktisch benachbarte Einheiten werden unter Bei-
behaltung ihrer syntagmatischen Abfolge zu einem Lexem verbunden, gewissermaßen
„zusammengerückt“.
88 1 Grundsätze und Grundbegriffe
296), führt mitunter zu der Entscheidung, sie nicht als Wortbildungsphänomen gelten
zu lassen, sondern sie – teilweise oder vollständig – der Syntax zuzuordnen (wie Olsen
1986a, 112), vgl. der neue Mitarbeiter/der Neue, rauchen/Rauchen verboten, der Film
wird/ist ausgezeichnet. Wir folgen dieser Auffassung nicht und begründen dies primär
mit dem Lexemstatus der Konversionen. Sie verfügen über ein jeweils wortartgerechtes
Flexionsparadigma (vgl. die substantivische Flexion des substantivierten Infinitivs)
bzw. übernehmen morphosyntaktische Eigenschaften ihrer Zielwortart. Darüber
hinaus sind sie lexikalisierbar (vgl. Ansehen, Ansinnen, Können; zu Übergangsphäno-
menen beim Wortartwechsel durch Konversion Eichinger 2000, 39 f.).
Der substantivierte Infinitiv ist auch insofern nicht zwingend als syntaktische Er-
scheinung zu qualifizieren, als er in gewisser Weise das verbale Flexionsparadigma
ergänzt, besonders durch die Möglichkeit zum Ausdruck der Aktionsartendifferenzie-
rung in Konstruktionen wie: er kam zum Schreiben/war beim Schreiben/blieb beim
Schreiben/ließ das Schreiben sein. Auch andere deverbale Substantive können diese
Funktion übernehmen (zur Verlesung/bei der Verlesung). Weder die -ung-Derivate noch
die substantivierten Infinitive sind deshalb jedoch „eher Flexionsformen“ (Wurzel
1988, 189). Auch eine „spezifische Kategoriensemantik“ ist ihnen nicht abzusprechen
(so Wurzel 1988, 197). Kategoriell ist das mit dem neutralen Genus zusammenhän-
gende Merkmal ,Nicht-Person‘, wodurch sich ein Unterschied zu anderen deverbalen
Modellen ergibt (der Besuch, die Regierung). Darüber hinaus findet sich auch hier die
Ausbildung unterschiedlicher Wortbildungsreihen.
Das -en des substantivierten Infinitivs wird bisweilen als Wortbildungsaffix zur Bil-
dung von Substantiven interpretiert (vgl. Sandberg 1976; Bzdega 1985, 153 u.ö.; DWb
2, 237 mit ausführlicher Begründung dieser Auffassung; Motsch 2004, 328f.). Dann
wäre Derivation anzunehmen.
Einen „historischen Sonderfall“ (Eichinger 2000, 73) der morphologischen
Konversion stellen deverbale Konversionen dar, die mit einem Wechsel des
Stammvokals verbunden sind, auch implizite Derivate genannt, wie binden
> Band, werfen > Wurf. Bei diesen Bildungen fungieren verschiedene
Stammformen starker Verben (trank, ge trunk en > Trank, Trunk), auch his-
torische Formen wie bei Wurf (mhd. wurfen), als Konversionsbasis. Warum
welche Stammform in früheren Sprachstufen für eine Substantivierung ge-
wählt wurde, ist zwar in der historischen Wortbildungsforschung bisher
nicht genau untersucht worden, man nimmt aber einen Zusammenhang
mit den sog. Ablautreihen der Verben an (Genaueres bei Klein/Solms/
Wegera 2009, 162).
Konvertiert werden einfache oder komplexe Verbstämme (finden > Fund,
entziehen > Entzug, fortschreiten > Fortschritt). Bildungen wie Ab-, An-, Hin-,
Rückflug, die als Konversionen der Verben ab-, an-, hin-, zurückfliegen an-
zusehen sind, machen deutlich, dass in Analogie zu fliegen > Flug durchaus
neue Wortbildungen entstehen können, obwohl das Grundmodell dieser
Konversionsart heute nicht mehr produktiv ist.
90 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Eisenberg (2006, 295) behält die Wortbildungsart implizite Derivation bei, fasst sie aber
weiter, und zwar als Derivation durch Vokalwechsel wie in schießen > Schuss, Raum >
räumen. Auch deverbale Verben mit Stammvokalwechsel ordnet er hier ein (fallen >
fällen). Wie man sieht, ist Wortartwechsel dabei nicht obligatorisch, vgl. auch Hent-
schel/Vogel 2009, 471.
Übersicht 7: Konversionsmodelle
1) Morphologische Konversion
Input Output Beispiele
Verb Substantiv rufen > der Ruf, binden > das/derBand
Substantiv Verb Öl > ölen
Substantiv Adjektiv Klasse > klasse
nichtverbales
Syntagma Substantiv gerne groß > der Gernegroß
Adjektiv Substantiv hoch > das Hoch
Adjektiv Verb gleich > gleichen
Adverb Substantiv heute > das Heute
2) Syntaktische Konversion
Input Output Beispiele
Verb Substantiv schreiben > das Schreiben
verbales Syntagma Substantiv n. Hause gehen > das Nachhausegehen
Adjektiv Substantiv neu > der/die/das Neue
Partizip I Substantiv reisend > der/die Reisende
Partizip II Substantiv angestellt > der/die Angestellte
Partizip I Adjektiv reizend > reizend
Partizip II Adjektiv ausgezeichnet > ausgezeichnet
1.8 Klassifizierung 91
1.8.1.4 Kurzwortbildung
Von den bisher behandelten Wortbildungsarten ist die Kurzwortbildung
deutlich abzuheben (¢ 2.7). Kurzwörter entstehen durch Reduktion einer
längeren Vollform wie z. B. EZB < Europäische Zentralbank, Azubi < Auszu-
bildender oder Demo < Demonstration.
Kurzwörter sind nicht binär gegliedert, sondern sie bestehen aus einzel-
nen Segmenten ihrer Vollform. Nach Art und Anzahl der ausgewählten
Segmente unterscheidet man verschiedene Kurzworttypen (¢ 2.7.1).
Kurzwörter gehören der gleichen Wortart an wie ihre Vollform bzw.,
wenn die Vollform ein Syntagma ist, wie der syntaktische Kopf der Vollform.
Ihre Domäne ist das Substantiv, adjektivische und verbale Kurzwörter gibt
es im Standard kaum; umgangssprachlich werden derzeit allerdings auch
Adjektive und Verben vermehrt gekürzt (ökologisch > öko, funktionieren >
funzen).
1.8.1.5 Partikelverbbildung
Die Partikelverbbildung ist eine verbspezifische Wortbildungsart (¢ 5.3).
Als Basis für Partikelverben dienen vornehmlich simplizische und kom-
plexe Verben, seltener Substantive und Adjektive. Sie werden mit Verbpar-
tikeln (auch Halbpräfixe, Verbzusätze, Präverben, Präfixe genannt) zu
komplexen Verben verbunden: an kleben, auf erstehen, hinüber gehen, hin-
unter befördern, weg rationalisieren, frei sprechen, teil nehmen; aus kern(en),
aus dünn(en). Die Verbpartikeln tragen den Wortakzent.
Im Unterschied zu allen anderen komplexen Wortbildungen sind Parti-
kelverben morphologisch und syntaktisch trennbar. Morphologisch ge-
trennt sind die Konstituenten im Partizip II durch -ge- (aufgefallen; nicht bei
-ieren-Verben) und durch zu beim Infinitiv (um aufzufallen); syntaktisch
getrennt im Verberst- und Verbzweitsatz durch die Klammerbildung: Steht
er früh auf; er steht früh auf.
Welcher Wortbildungsart die trennbaren Verben zugeordnet und ob sie
überhaupt als Wortbildungsphänomen akzeptiert werden, hängt davon ab,
welches Gewicht man ihrer Trennbarkeit als grammatischer Besonderheit
beimisst. Hierbei wird in den einschlägigen Arbeiten sowohl in Bezug auf die
gesamte Klasse von Verben als auch in Bezug auf die einzelnen Subklassen
unterschiedlich verfahren. Donalies (2005b, 30) z. B. fasst alle trennbaren
Verben als „syntaktische Gefüge“ auf und schließt sie demzufolge aus der
Wortbildung aus. Bei Eichinger gehören nur die Verben mit präpositionaler
und die mit adverbialer Verbpartikel zu den Partikel- bzw. „Doppelparti-
kelverben“ (Eichinger 2000, 102ff.; ¢ 5.3).
92 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.8.1.6 Rückbildung
Mit Rückbildung (auch: „Rückableitung“, Fuhrhop 2007b, 55; „retrograde
Ableitung“, Erben 2003b, 93; Tilgungskonversion) wird der Wechsel einer
Ausgangseinheit in eine andere Wortart bei gleichzeitiger Tilgung eines
Wortbildungssuffixes bezeichnet (über „Subtraktion“ in der Wortbildung
vgl. Dressler 1984). Rückbildungen sind nicht binär erklärbar, sondern als
Ganzes auf das motivierende komplexe Ausgangslexem zu beziehen: sanft-
mütig > Sanftmut, Zwangsräumung > zwangsräumen, elastisch > Elast, um-
sichtig > Umsicht (vgl. Erben 2006, 39ff.).
Dass die Wortbildungsart Rückbildung in einer synchronen Wortbil-
dungsanalyse ihren Platz hat, wird heute kaum mehr bestritten (ausführlich
dazu Erben 2003b; noch anders Bergenholtz/Mugdan 1979b, 348f.; Dona-
lies 2001). Sie wird meist nicht als „regelgesteuerter Wortbildungsprozess“
gesehen, sondern eher als „das Wirksamwerden einer ,strukturellen Analo-
gie‘“, v.a. bei der Bildung von Substantiven: „mutig: Mut = sanftmütig: X (>
Sanftmut)“ (Erben 2003b, 95). Das gilt allerdings nicht wortartübergreifend.
Anders als bei Substantiven, bei denen sie auf wenige Einzelfälle beschränkt
bleibt, kann die Rückbildung bei Verben durchaus als modellhaft und pro-
duktiv gelten (Eschenlohr 1999, 144). Verben aus Komposita mit deverba-
lem Zweitglied lassen sich in großer Zahl belegen, sowohl lexikalisierte
(Zwangsversteigerung > zwangsversteigern, Bausparer > bausparen) als auch
okkasionelle (Videoüberwachung > videoüberwachen, Lehnübersetzung >
lehnübersetzen).
Nicht als Rückbildung, sondern als Konversion bestimmen wir dagegen
(anders Tiefenbach 1984) Fälle wie besuchen > Besuch und beißen > Biss,
wenngleich bei komplexen Basen mit einem Verbalabstraktum als Zweit-
1.8 Klassifizierung 93
glied wie bei Wahlkampf > wahlkämpfen (dann Konversion) mitunter Dop-
pelmotivation eingeräumt werden muss. Das Verb könnte auch aus Wahl-
kämpfer (dann Rückbildung) gebildet sein, vgl. auch Schichtarbeit/Schicht-
arbeiter > schichtarbeiten, Erben 2003b, 100).
Ausgeklammert bleiben hier auch die sogenannten „Erleichterungsrück-
bildungen“ (Erben 2006, 39) wie Erweis neben Erweisung. Wir betrachten sie
als nach zwei verschiedenen Wortbildungsarten, Konversion (erweisen >
Erweis) und Derivation (erweisen > Erweisung), gebildete deverbale Sub-
stantive. Es gibt zu viele Paare dieser Art als voneinander unabhängige Pro-
dukte vom gleichen Verb, vgl. Versuchung – Versuch, Erwerbung – Erwerb,
Erhaltung – Erhalt, zwischen denen oft auch semantische Unterschiede be-
stehen. Nur eingehende historische Recherchen könnten in diesem oder
jenem Einzelfall die -ung-Bildung als primär erweisen (was aber immer noch
nicht heißen müsste, dass sie die konkrete Ausgangsform für die kürzere
Bildung gewesen ist).
1.8.1.7 Kontamination
Die Kontamination (Wortkreuzung, Wortverschmelzung) ist eine Ver-
schränkung von (in der Regel zwei) Lexemen: Formularifari aus Formular +
Larifari, Kurlaub aus Kur + Urlaub, wobei meist gleichzeitig eine Kürzung
eines oder beider Lexeme eintritt. Im Allgemeinen werden nach Windisch
(1991) zwei strukturelle Hauptarten der Kontamination unterschieden:
1) Wortkreuzungen (gruscheln aus grüßen und kuscheln, LVZ 2009);
2) Wortüberschneidungen (Formularifari aus Formular und Larifari).
Beide Arten können auch gemischt auftreten (Jochelbeere/Jostabeere aus
Johannisbeere und Stachelbeere).
In 1) werden ein Anfangs- und ein Endsegment zweier Lexeme neu ver-
bunden, in 2) verfügen die Ausgangseinheiten über ein gemeinsames Seg-
ment, das in dem neuen Lexem nur einmal genutzt wird.
Die Bedeutungen der Ausgangseinheiten überlagern einander bei beiden
Arten und prägen eine neue Gesamtbedeutung aus, vgl. Kurlaub ,mit einer
Kur verbundener Ferienaufenthalt‘ (GWDS). Die beiden Ausgangseinheiten
brauchen allerdings keinerlei semantische Beziehungen zueinander aufzu-
weisen, vgl z. B. H. Heines affenteuerlich aus Affe + abenteuerlich; Wetteran
,ein Veteran, der das Wetter beobachtet‘ (Stern 2010), Onleihe ,das Ausleihen
digitaler Medien über das Internet‘ (LVZ 2010). Doch ist die Bildungsweise
nicht völlig willkürlich, sondern durch gewisse Regeln (vor allem phono-
logischer Art) bestimmt (vgl. zusammenfassend Gre"sillon 1984, 134ff.;
Cannon 2000; Windisch 2001; Schmid 2003; Schulz 2004; Ronneberger-
Sibold 2005; Elsen 2008).
94 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.8.1.8 Reduplikation
Die Reduplikation ist eine elementare Art phonologisch-morphologischer
Erzeugung komplexer Lexeme durch „lautassoziative Doppelung“ einer
Konstituente (Hentschel/Vogel 2009, 470; zur Interaktion von Phonologie
und Morphologie bei reduplizierenden Wortbildungen vgl. Wiese 1990).
Drei Arten sind zu unterscheiden:
– einfache Doppelungen (im Klein-Klein des Alltags; etwas aus dem Effeff
können);
– Reimdoppelungen (Schickimicki ,jmd., der sich betont modisch gibt‘,
modischer Kleinkram‘, wohl nach schick ,fein, modisch‘ oder Schickeria
1.8 Klassifizierung 95
Zwar tritt vor zweifach auf, aber funktional anders als bei den obengenann-
ten adjektivischen Reduplikationen mit ur-. Als Erstglied modifiziert vor
jeweils die Bedeutung des Zweitgliedes deutlich in zeitlicher Hinsicht.
Ebenfalls als Komposita zu bestimmen sind Substantive wie Kindeskind
,Enkelkind‘ oder Staatenstaat ,Staat, der aus einem die Oberhoheit inneha-
benden souveränen Staat und einem oder mehreren anderen halbsouverä-
nen Staaten besteht‘ (GWDS). Auch hier ergibt sich zwischen Erst- und
Zweitglied ein Determinationsverhältnis (zur teilweise problematischen
Grenzziehung zwischen Komposition und Reduplikation Wiese 1990, 605).
1.8.2 Wortbildungsparadigmen
1.8.2.1.1 Modifikation
Modifikation liegt dann vor, wenn eine Wortbildung im Vergleich zu ihrem
Input bei gleicher Wortart zusätzliche semantische Merkmale erhält, die eine
Spezifizierung im Rahmen der Ausgangsbedeutung bewirken. Die einzelnen
Modifikationsarten unterscheiden sich hinsichtlich der Wortbildungsbe-
deutung, wie etwa beim Substantiv die Augmentation (Riesenskandal),
Diminuierung (Kindchen), Movierung (Malerin) oder Negation (Unlust,
¢ 2.1.3.1), beim Adjektiv z.B. Gradation (tiefschwarz) oder Negation (unsau-
ber, ¢ 3.4.2.3). Modifikationen ergeben sich bei Substantiv und Adjektiv in
der Regel durch Komposita und Präfixderivate sowie durch einen Teil der
Suffixderivate.
Bei verbalem Input bewirkt die Modifikation eine Spezifizierung des
bezeichneten Prozesses in Bezug auf Ort, Zeit oder Aktionalität, wobei aller-
dings weitere grammatisch bedingte Besonderheiten auftreten können (syn-
taktische Modifikation). Die Grenzen zwischen Modifikation und Trans-
position sind in der verbalen Wortbildung weniger klar (¢ 5.1.3; Erben 2006,
50).
1.8.2.1.2 Transposition
Als Transposition wird die Bildung eines Lexems mit einer – bezogen auf die
Bedeutung der Ausgangseinheit – neuen Bedeutung im Rahmen einer an-
deren semantischen Klasse bezeichnet. Die Wortart der Ausgangseinheit
98 1 Grundsätze und Grundbegriffe
kann sich ändern (lehren > Lehrer, Fett > fettig) oder auch, und zwar aus-
schließlich beim Substantiv, gleich bleiben (Eisenbahn > Eisenbahner). Wie
bei der Modifikation ergeben sich entsprechend der Wortbildungsbedeu-
tung des Outputs verschiedene Transpositionsarten. Man unterscheidet bei
der substantivischen Derivation u.a. Nomina Agentis (Maler), Nomina Acti
(Biegung), Nomina Qualitatis (Weisheit) (¢ 2.1.3.2).
Der Transposition dienen ausnahmslos die Konversion sowie ein Teil der
Modelle der Suffix- und Zirkumfixderivation.
1.8.2.2 Wortbildungsreihen
Eine Wortbildungsreihe ist die Gesamtheit der Wortbildungen, die ein und
dasselbe Modell repräsentieren (¢ 1.7.1). Eine solche Reihe stellen z.B. de-
verbale Substantive auf -er mit der Wortbildungsbedeutung Nomen Agentis
dar (Leser, Maler, Lehrer, Verkäufer), eine andere Nomen Instrumenti (Schal-
ter, Drücker, Summer, Leuchter). Der gegenwartssprachliche Ausbau einer
Wortbildungsreihe wird vom Grad der Produktivität des entsprechenden
Modells bestimmt (¢ 1.7.2; zur Wortbildungsreihe als Stütze für die Bedeu-
tungserschließung von Wortbildungen Eichinger 2000, 14, 55).
Ein Affix kann eine oder mehrere Wortbildungsreihen ausprägen. Die
meisten Affixe sind polyfunktional, d. h., sie sind Konstituenten verschie-
dener Wortbildungsmodelle, vgl. -er (¢ 2.3.2.4). Monofunktional sind nur
wenige, z. B. -in als Movierungssuffix oder das Präfix ex- ,ehemalig‘.
Die Ausprägung von Reihen gilt als spezifisches Merkmal von Derivation
und Konversion. Bei der Komposition tritt Reihenbildung verstärkt nur
dann auf, wenn das Erst- oder das Zweitglied „vermöge ihrer Bedeutung zu
zweiten Gliedern bzw. Suffixen [oder ersten Gliedern bzw. Präfixen, I. B.]
besonders geeignet“ ist (Henzen 1965, 170). Geeignet in dieser Hinsicht sind
naturgemäß relativ wenige, z.B. grund-, -gut, -mittel, -stoff, -zeug. Ergänzt
wird die Gruppe dieser Lexeme mit einer allgemeinen lexikalischen Bedeu-
tung durch Lexeme, bei denen eine der Lesarten erst im komplexen Lexem
zu einer semantischen Verallgemeinerung tendiert und damit von der Be-
deutung im freien Gebrauch teilweise abweicht. Das ist vermehrt bei Adjek-
tiven wie arm, fähig, freundlich zu beobachten. Die Häufigkeit entsprechen-
der Kompositionsreihen mit adjektivischem Zweitglied (fett-, fisch-, fleisch-,
geräusch-, ideen-, kalk-, kalorien-, knitter-, lichtarm) lässt sich mit der se-
mantischen Struktur der Adjektive erklären. Diese fordern bei ihrem Ge-
brauch eine semantische Ergänzung, d.h., sie besitzen eine freie Valenzstelle
(arm an etwas, fähig zu etwas, freundlich zu jmdm./etwas). Die nötige Ergän-
zung wird durch das Erstglied des Kompositums angefügt: arm an Fett –
fettarm, fähig zu gehen – gehfähig, freundlich zu Kindern – kinderfreundlich,
freundlich zur Haut – hautfreundlich.
1.8 Klassifizierung 99
Solange Lexeme wie Mittel, Zeug, Stoff, fähig, arm, freundlich usw. aber
auch frei in einer allgemeinen Bedeutung vorkommen oder in der Kom-
bination zumindest über partiell gleiche Bedeutungsmerkmale wie die
lautgleichen freien Entsprechungen verfügen, sollen sie hier trotz Reihenbil-
dung nicht als Affixe bestimmt werden. Dass bei einer gegenwartssprach-
lich-synchronen Beschreibung solcher Grammatikalisierungsphänomene
dennoch Grenzfälle und somit Zuordnungsprobleme auftreten, spricht
nicht grundsätzlich gegen diese Festlegung (¢ 1.6.2.4).
1.8.2.3 Wortfamilien
Wortfamilien sind Paradigmen aus Wortbildungen, die in ihrer Struktur
über ein etymologisch identisches Grundmorphem (Kernlexem) verfügen,
vgl. zieh(en), Ziehung, ausziehen, Zug, Regionalzug. Zu einer Wortfamilie
gehören, wie an Zug zu sehen ist, auch Lexeme, die in der Gegenwarts-
sprache formal und semantisch nicht mehr ohne Weiteres an das Kernlexem
anzuschließen und auch untereinander nur noch bei diachroner Betrach-
tung als verwandt erkennbar sind, vgl. zu ziehen z. B. auch Zeuge, züchten,
Zaum. Bei der synchronen Beschreibung der Wortbildungsaktivität (¢ 1.7.3)
und der „morphologisch-motivationellen Vernetzung“ des Wortschatzes
(Reichmann 2001, 149) spielen diese verdunkelten Verwandtschaftsbezie-
hungen keine Rolle. Hierbei werden nur solche Familienglieder berücksich-
tigt, deren lexikalische Bedeutung synchron näherungsweise aus der Moti-
vationsbedeutung erschließbar ist, die ein „Motivationssystem“ bilden
(v. Polenz 1980, 171; auch: Wortbildungsnest). Mitunter versteht man unter
einer Wortfamilie auch nur die Derivate des Kernlexems ohne die entspre-
chenden Komposita (Heringer 2009, 111).
Eine Wortfamilie ist grundsätzlich lückenhaft, d. h., das Kernlexem rea-
lisiert nicht alle für seine Wortart möglichen Modelle. Bei den simplizischen
Farbadjektiven fehlen z.B. die Negation mit un- (vgl. unklug, aber nicht
*unblau) und usuelle Determinativkomposita mit verbalem Erstglied (vgl.
bügelfeucht, aber nicht *badeblau[es Wasser]). Auch die Wortfamilien der
einzelnen Kernlexeme ein und desselben Wortfeldes sind nicht gleichmäßig
entfaltet, vgl. tiefrot, tiefblau, aber nicht *tiefgrau; erröten, ergrauen, aber
nicht *erweißen. Einen informativen Überblick über „heutige Wortfamilien“
einschließlich der Fremdwortfamilien bieten Augst 1998; Splett 2009.
Gut ausgebaute Wortfamilien von Entlehnungen im Deutschen zeugen
von fortgeschrittener Integration des Fremdworts, vgl. z.B leasen/Leasing:
verleasen, zurückleasen, Leasingfirma, -gebühr, -geschäft, -rate u. v .a.
100 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.9.1 Gegenstand
Bei Kenntnis der zugrunde liegenden fremdsprachlichen Lexeme ist ein höherer Grad
der Motivation gegeben, sodass diese hier in besonderer Weise soziologisch differen-
ziert ist (¢ 1.5.4.1; dazu auch v. Polenz 1967, 77). Allerdings kann auch ohne Kenntnis
der jeweiligen griechischen bzw. lateinischen Grundlage die strukturelle Gruppenbil-
dung innerhalb des Deutschen mit einem gewissen Semantisierungseffekt verbunden
sein (v. Polenz 1967, 77 f.); vgl. -thek nach älterem Bibliothek in jüngeren Bildungen wie
Mediothek/Mediathek ,Sammlung audiovisueller Medien‘, Phonothek ,Archiv mit Ton-
bändern, Schallplatten u.Ä.‘, Kinemathek ,filmgeschichtliches Archiv‘, Diskothek,
Spielothek ,Salon mit Spielautomaten‘, Hobbythek (Fernsehsendung mit Freizeittipps).
Zur Geschichte des Konfixes -thek vgl. Koch 2010, 114 ff.
1.9.2.1 Grundsätzliches
Die mit der Fremdwortbildung zusammenhängenden spezifischen Proble-
me der Analyse und Klassifikation ergeben sich vor allem aus folgenden
Sachverhalten:
Zum einen ist, wie bereits gesagt (¢ 1.9.1), die Unterscheidung zwischen
Entlehnung und Fremdwortbildung innerhalb des Deutschen in vielen
Fällen – oft auch trotz historischer Studien – nicht klar zu treffen; zum
anderen lässt sich der morphologische Status der exogenen Wortbildungs-
einheiten mitunter nicht eindeutig bestimmen. Die Grenzen zwischen
Stämmen, Konfixen und Affixen erscheinen wesentlich unschärfer als bei
den indigenen Einheiten (¢ 1.6.3).
Gleitende Übergänge zwischen den Einheiten entstehen zum Teil da-
durch, dass es sich bei exogenen Einheiten um genetisch unterschiedliche
morphosyntaktische Klassen handelt, und zwar um griechische bzw. latei-
nische Präfixe (a-, in-) oder um Präpositionen (inter, hyper, super) oder
schließlich um „volle“ Autosemantika wie hydōr ,Wasser‘ (Hydro-), lithos
1.9 Zur Spezifik der Fremdwortbildung 105
1.9.2.2.1 Stämme
Exogene Stämme sind wie indigene wortfähig. Sie können sowohl einfach als
auch komplex sein. In beiden Strukturen werden sie für Wortbildungen
genutzt: human – inhuman – Humanität – Humanitätsideal. Ein und der-
selbe Stamm kann – wie auch in der indigenen Wortbildung – über unter-
schiedliche Kompositions- und Derivationsstammformen verfügen, vgl. Kri-
sen management – Kriso tainment (Michel 2009a, 106), Methoden lehre –
method isch.
1.9.2.2.2 Affixe
Exogene Präfixe und Suffixe verfügen weitgehend über die gleichen Merk-
male wie indigene (Gebundenheit, Positionsfestigkeit, morphosemantische
Funktion, ¢ 1.6.2.2). Auch ihre phonologische Struktur weist sie nicht in
allen Fällen als fremd aus (vgl. in-, an-, ko-). Was sie aber deutlich von
indigenen unterscheidet, sind eine größere Vielfalt an Allomorphen, eine
spezifische Distribution sowie – das betrifft nur die Suffixe – die Besonder-
106 1 Grundsätze und Grundbegriffe
heit, dass sie meist den Wortakzent tragen, vgl. z.B. -and, -ent, -at, -ur, -iv in
Doktorand, Student, Kandidat, Frisur, alternativ (unbetont dagegen: -ik wie
in Motivik oder -or wie in Lektor, aber Plural Lektóren).
Das gleichermaßen betonte Suffix -ei/-erei wird trotz seiner fremden Her-
kunft als indigen bestimmt. Schon im Mhd. sind eigene Bildungen belegt
(Henzen 1965, 185f.). Heute verbindet sich -ei/-erei ohne Restriktionen mit
indigenen Stämmen (Lauferei, Singerei), was für die übrigen entlehnten Suf-
fixe nicht gilt.
Die folgenden Tabellen geben einen Überblick über wichtige allgemein-
sprachliche Affixe. Wenig verbreitete oder primär fachsprachliche Affixe wie
bi- in bipolar, di- in Diglossie, -ice in Direktrice, -arium in Planetarium, -oid in
Kristalloid, -ose in Neurose bleiben unberücksichtigt; doch zu -oid beim
Adjektiv ¢Übersicht 9; ¢ 3.3.3(8); zum Movierungssuffix -ess/-esse/-isse
¢ 2.3.2.22(6).
1.9.2.2.3 Konfixe
Konfixe sind im Unterschied zu Stämmen nicht wortfähig. Wie Stämme
können sie aber auch in mehr als einer Form in komplexe Wörter eingehen
(zu weiteren Unterschieden zwischen den Wortbildungseinheiten Konfix,
Stamm, Affix ¢ 1.6.3).
Zu unterscheiden sind Kompositionskonfixformen (Grammato grafie,
Thermo dynamik) und Derivationskonfixformen (grammat isch, Therm ik,
therm isch). Besonders in Suffixderivaten tritt häufig gebersprachlich be-
dingter Konsonantenwechsel im Auslaut der Basis auf, sodass verschiedene
Derivationskonfixformen vorkommen (revid ieren, Revis ion).
108 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Zwischen Konfixen und Affixen besteht demzufolge ein Übergangsbereich von Wort-
bildungseinheiten, deren Semantik keine eindeutige Zuordnung erlaubt. Als ein ergän-
zendes Unterscheidungsmerkmal könnte möglicherweise die Distribution der Einhei-
ten herangezogen werden. Zu prüfen sind die Kompositionsgliedfähigkeit und die
Basisfähigkeit (Müller 2005, 26 ff.). Konfixe können sich im komplexen Wort mit
einem Konfix als Erst- bzw. Zweitglied verbinden (Velo drom, Geo graf), Präfixe for-
dern dagegen einen Stamm als Zweitglied (Anti these; Anti-Prinzessin [LVZ 2010], an-
ti autoritär, prä natal); aus Präfixen mit Konfixen als Zweitglied entstehen im Nor-
malfall ungrammatische Bildungen (*Anti thek). Wenn keine Gegenbeispiele nachge-
wiesen werden können, ließen sich nach diesem Kriterium Präkonfixe von Präfixen
abheben.
Für Suffixe gilt das allerdings nicht. Suffixe und Postkonfixe treten in der Regel
gleichermaßen an Stämme (Dekan at, Spiel o thek) wie an Konfixe (Dikt at, Media thek),
sodass die Distribution nicht zu ihrer Unterscheidung taugt. Erlaubt auch die Semantik
der Einheit keine eindeutige Aussage, bleibt der Status offen. Das betrifft beispielsweise
die rechtsperiphere Einheit -itis. Sie verbindet sich sowohl mit Konfixen als auch mit
Stämmen, vgl. Hepat itis, Telefon itis. Semantisch steht sie mit den Lesarten ,entzünd-
liche Erkrankung‘ (Medizin) und metaphorisch ,krankhafte, übertriebene Nutzung
von etwas‘ zwischen Konfix und Affix, tendiert v.a. in der zweiten Lesart wegen des
relativ hohen Verallgemeinerungsgrades wohl zum Affix (Nortmeyer 1987; Feine 2003,
442).
Dass eine sichere Zuordnung bestimmter exogener Einheiten zur Klasse Affix bzw.
Konfix kaum möglich ist, zeigen zahlreiche Systematisierungsvorschläge, vgl. Donalies
2005b, 107ff.; Elsen 2005; Müller 2005, 201ff; Michel 2009a). Wellmann (1998, 538)
wählt zur Signalisierung des unklaren Status für entsprechende linksperiphere Einhei-
ten bezeichnenderweise den Terminus „(Halb)präfix“ (z. B. für epi-, extra-, para-,
supra-).
Für den Verzicht auf den Terminus Konfix plädieren Eins 2008, Elsen 2009, wobei
sich optimale Kategorisierungsalternativen bisher nicht ergeben haben.
Als eine vorerst zweckmäßige Lösung für die Klassifizierung exogener Ein-
heiten erweist sich der Vorschlag, ein prototypisches Beschreibungsmodell
zu wählen. Danach geht man von einem Kernbestand aus – das ist eine
Menge prototypischer Vertreter –, der von weiteren, graduell weniger typi-
schen Vertretern der Klasse ergänzt wird (Seiffert 2008a, 86 ff.). Die proto-
typischen Einheiten verfügen über alle Merkmale der Klasse, die weniger
typischen dagegen nur über eine Auswahl aus diesen Merkmalen. Einen
entsprechenden Merkmalskatalog für das Konfix diskutiert Michel (2009a,
93 ff.). „Wesentliche Eigenschaften“ der Konfixe sind danach gebundenes
Vorkommen, Basisfähigkeit und lexikalisch-begriffliche Bedeutung. Da die
von Müller genannten Einheiten (auto-, makro- usw.) nicht basisfähig sind,
gehören sie demnach zu den weniger typischen Konfixen.
110 1 Grundsätze und Grundbegriffe
Eine besondere Rolle spielen exogene Einheiten zwischen Konfix und Affix bei der
Bildung von Produktnamen, vgl. -ol zur Bezeichnung von Flüssigkeiten in Odol (zu
griech. odōn ,Zahn‘, 1892), Lysol (griech. lysis ,Lösung‘), Minol (zu Mineralöl); -tex aus
der Vollform Textil(ien) in Bezeichnungen von Stoffen wie Goretex, Novatex, Sympatex
(nach Ronneberger-Sibold 2009, 165f. unter englischem Einfluss); -lon zur Bezeich-
nung von synthetischen Fasern wie Astralon ,durchsichtiger Kunststoff‘, Dralon, Nylon,
Orlon, Perlon, Trelon.
Zur entsprechenden ausgiebigen Verwendung des Konfixes therm(o)- vgl. Schmidt
1987c; zur Verwendung von -al, -an, -ol, -on in der Fachsprache der Chemie Steinhauer
2000, 105 f; zu „Typen – Geschichte – Funktionen“ von Konfixen in deutschen Pro-
duktnamen vgl. Ronneberger-Sibold 2009, 141 ff.
Auch für andere terminologische Systeme werden derartige Einheiten intensiv ge-
nutzt, vgl. -em in der Linguistik (von Phonem bis Pragmem) und -ose in der Medizin.
1.9.2.3 Fugenelemente
Für die Fremdwortbildung, und zwar für Konfixkomposita, sind die Fugen-
elemente -o- und (selten) -i- charakteristisch. Sie gehen auf Kompositions-
vokale des Griechischen (-o-) bzw. Lateinischen (-i-) zurück; -o- hat diese
Funktion auch in slawischen Sprachen (russ. jazyk o znanie ,Sprachwissen-
schaft‘; ausführlich bereits Grimm 1878, 941ff.). Von den indigenen Fugen-
elementen sind sie genetisch und distributionell abzusetzen.
Das Fugenelement -o- kommt in folgenden kompositionellen Struktur-
typen vor:
1) Konfix + Konfix: Therm o stat
2) Konfix + indigener Stamm: Therm o hose
3) Indigener Stamm + Konfix: Wasch o mat
4) Konfix + exogener Stamm: Elektr o monteur, Chem o therapie
5) Exogener Stamm + Konfix: Film o thek.
Wie 1)–5) nahelegen, bedingen Konfixe griechisch-lateinischen Ursprungs
in Komposita offensichtlich das Fugenelement -o-, und zwar sowohl in Erst-
glied- als auch in Zweitgliedposition. Für Konfixe aus dem Englischen gilt
diese Bedingung nicht, vgl. hard-, low-, high- usw. (Eisenberg 2006, 245).
In einigen Fällen – wenn es kein o-loses Allomorph gibt (Plag 2003, 158) –
gehört -o- zum Stamm des Erstgliedes, ist also nicht als Fugenelement an-
zusehen, hat aber wohl mit zu dessen Ausbreitung beigetragen: bio-, makro-,
mikro-, mono-, proto-, pseudo-, stereo- u. a.
Das Fugen-o- tritt sowohl bei Substantiven als auch bei Adjektiven auf,
bei Adjektiven v. a. in Kopulativkomposita: anglo-amerikanisch, germano-
slawisch. In manchen Fällen erspart der Gebrauch von -o- die als unschön
empfundene Doppelung von Adjektiven auf -isch (magneto-optische Spei-
cher); in anderen Fällen dient er der Konfixverbindung: angl o phil.
1.9 Zur Spezifik der Fremdwortbildung 111
1.9.3 Wortbildungsarten
1.9.3.1 Komposition
Exogene Wortbildungseinheiten können als Erst- wie auch als Zweitglied
mit indigenen Stämmen verbunden werden, ohne dass Beschränkungen, die
sich aus ihrer „Fremdheit“ ergäben, zu systematisieren wären. Bei der Kom-
position unterscheiden wir zwei Gruppen:
1) Komposita aus zwei wortfähigen Konstituenten, von denen beide oder
nur eine exogen sind: Charakterstudie, Chemielaborant, milieustabil; Com-
puteranlage, Weltraumrendezvous, korrosionsfest, gleichgewichtsindifferent;
2) Konfixkomposita aus zwei Konfixen oder aus einem Konfix und einer
wortfähigen Konstituente in folgenden Strukturtypen:
2.1) Konfix + Stamm: Aerobus, -medizin; Bioethik, -gas, -reiniger, Neopo-
sitivismus; bioaktiv, neoliberal, geostrategisch. Auch Zoo- in Zoogeographie,
-technik ist als Konfix hierher zu stellen (dazu Hoppe 1987, 219f.); Zoo
,zoologischer Garten‘ ist als Homonym davon abzusetzen. Zu substantivi-
schen Komposita mit Konfix als Erstglied ¢ 2.2.8.
2.2) Stamm + Konfix: Autodrom, Fotothek. Auch hier gilt das in 2.1) Ge-
sagte: Die wortfähigen formalen Äquivalente sind Homonyme zum jewei-
112 1 Grundsätze und Grundbegriffe
1.9.3.2 Derivation
In der Reihenfolge Suffigierung – Präfigierung werden nachfolgend die
Kombinationsmöglichkeiten zwischen exogenen und indigenen Wortbil-
dungseinheiten im Überblick beschrieben. Entsprechende Wortbildungen
stellen das „Scharnier zwischen Fremdwortbildung und indigener Wortbil-
dung“ dar (Müller 2000, 129).
dem Englischen entlehnt, vgl. Lehnert 1986, 40, 72) sowie Eigenschaftsbe-
zeichnungen auf -heit mit partizipialer Basis (Diszipliniertheit). Derivate auf
-heit mit einer adjektivischen Fremdbasis wirken allerdings eher ungewöhn-
lich (bevorzugt werden Absurdität statt Absurdheit, Akkuratesse statt Akku-
ratheit; jedoch mit semantischem Unterschied: Delikatesse – Delikatheit).
Geläufig sind ferner Derivate auf -ei/-erei (Marschiererei), -schaft (Autor-
schaft) und -tum (Parasitentum) sowie Diminutiva, allerdings nicht mit -lein
(Traktätchen, Animositätchen; weitere Beispiele bei Donalies 2005b, 101)
und mit -in movierte Personenbezeichnungen (Babysitterin, Direktorin,
Kanzlerin, Ministerin); -in ist „praktisch uneingeschränkt“ für Derivate von
exogenen Personenbezeichnungen verwendbar (Munske 2009, 243).
Es fehlen offenbar Derivate mit den Suffixen -e, -el, -nis, -sel. Mit -ling gibt
es deadjektivische Wortbildungen wie Naiv-, Primitivling; Derivate mit sub-
stantivischer und verbaler Basis fehlen fast völlig (vgl. aber Firmling ,jmd.,
der gefirmt wird‘).
Unter den adjektivischen Derivaten dominiert das Suffix -isch (Weiteres
¢ 3.3.2.7[2]): akribisch, chronologisch, nomadisch. In manchen Fällen ist da-
neben die Form ohne -isch als Adjektiv geläufig: antik, synchron neben anti-
kisch, synchronisch.
Verbreitet ist auch -bar, vor allem bei Verben auf -ieren (definier-, kon-
struierbar).
Wortbildungen mit -sam fehlen und andere Modelle treten eher zurück,
vgl. -haft (desubstantivisch: anekdotenhaft, aber nicht deverbal: *diskutier-
haft). Seltener wird -ig genutzt (freakig ,in der Art eines Freaks‘, humorig,
spacig ,abgehoben‘, szenig). Es ist spezialisiert auf die Transposition substan-
tivischer Syntagmen zu Adjektiven (großkalibrig, vielatomig, zweimotorig).
Das Suffix -lich erscheint in einigen Wortbildungen wie appetitlich, kon-
traktlich sowie in einer Reihe von Derivaten mit einer Basis auf -ier, die sich
heute nicht mehr an ein Verb mit -ieren anschließen lässt (despektier-, kon-
tinuierlich); daraus ist wohl auf das Alter dieser Wortbildungen zu schließen.
Gelegentlich konkurriert -lich mit -ig bei der Adjektivierung substantivi-
scher Syntagmen: außertourlich (aber hochtourig), zweitinstanzlich, fein-
nervig (aber nervlich).
Stoffadjektive auf -en/-n sind nicht ungewöhnlich: damasten, papieren,
marmorn.
Suffixe wie -los und -mäßig, nicht zum alten Bestand gehörend, entspre-
chen in der Offenheit ihrer Verbindung mit Fremdbasen eher Wortstäm-
men.
Im Bereich der Adverbien finden sich relativ stark vertreten desubstan-
tivische Derivate auf -weise (portions-, quartals-, segmentweise). Seltener
114 1 Grundsätze und Grundbegriffe
wird wohl die Verbindung mit -wärts genutzt: „stieg er geruhsam caféwärts“
(L. Frank), happyendwärts (PDW 2005).
Was die Verben betrifft, so können Fremdlexeme ohne weitere Affixe
verbalisiert werden (chloren, interviewen); bevorzugt werden allerdings
Präfixderivate (vertrusten, verzinsen). Wortbildungen mit -el(n)/-l(n) und
-er(n)/-r(n) bleiben eher selten. Wohl in Anlehnung an kriseln ist okkasionell
touristeln belegt.
2.1.1 Produktivität
Substantive bilden den Hauptteil des Wortschatzes, etwa 50–60 % (so Erben
1980, 124). Dem entspricht auch ihre dominante Rolle in der Wortbildung,
was allerdings nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bedingt ist. Die
Modelle für die Bildung von Substantiven zeigen eine Vielfalt und Produk-
tivität, die von den anderen Wortarten nicht erreicht wird.
Substantivische Komposita sind unter Verwendung von Einheiten aller
Wortarten als Erstglied bildbar; auch Adverbien, Präpositionen, Konjunk-
tionen und Partikeln können dabei Verwendung finden (¢ 2.2.2 –¢ 2.2.7).
Stark ausgeprägt ist die Determinativkomposition aus zwei Substantiven
(Günther 1981, 278: „uneingeschränkt produktiv“; 77,9 % im Innsbrucker
Korpus), während die kompositionelle Verbindung von Konstituenten der
gleichen Wortart beim Adjektiv etwas schwächer (53,3 % im Innsbrucker
Korpus) und beim Verb kaum entwickelt ist (DWb 5, 18). Dass sowohl
Verben als auch Adjektive nicht so häufig als Erstglieder substantivischer
Komposita fungieren (jeweils unter 7 % im Innsbrucker Korpus; DWb 4,
319), lässt sich auf bestimmte morphologische Eigenschaften dieser Wort-
arten zurückführen. So widersetzen sich z.B. suffigierte Adjektive weitge-
hend der Erstgliedposition (*Sandigboden, stattdessen Sandboden); ebenso
Verben mit adverbialer Verbpartikel. Entsprechende komplexe Substantive
entstehen in der Regel durch Derivation (hereinnehmen > Hereinnahme;
herausfordern > Herausforderer); aber Komposita kommen doch vereinzelt
vor (Wegwerfgesellschaft, -windel). Einzelne lexikalisierte Gegenbeispiele
finden sich auch mit derivierten Adjektiven in Erstgliedposition, vgl. Billig-
flug, Flüssiggas (¢ 2.2.3.1).
Beträchtlich stärker als bei den anderen Wortarten ist beim Substantiv die
polymorphemische Komposition (mit vier und mehr Grundmorphemen)
vertreten (dazu detailliert DWb 4, 13 ff.).
118 2 Wortbildung des Substantivs
2.1.2 Aktivität
2.1.3.1 Modifikationsarten
Die Wortbildung des Substantivs kennt die meisten funktional-semanti-
schen Klassen (¢ 1.8.2.1). Modifizierende Wortbildungen entstehen entwe-
der durch Komposition oder durch Derivation. Besonders reich entfaltet ist
die Modifikation durch Komposition; zur Übersicht über diese Modifika-
tionsarten ¢ 2.2.2.3.1.
Nachfolgend geht es um die Modifikationsarten der Derivation. Diese
Modifikationsarten sind z.T. bei allen drei Hauptwortarten anzutreffen, so
beispielsweise die Diminuierung (Häuschen, kränklich, lächeln). Beim Sub-
120 2 Wortbildung des Substantivs
stantiv ist sie in besonderer Weise ausgebaut. Sie kennt hier die geringsten
Restriktionen und weist wohl auch die höheren Textfrequenzen auf
(¢ 2.3.2.21). Augmentativa werden im Unterschied zu den Diminutiva vor-
wiegend durch Präfixe (Unmasse, Erzschurke) und spezielle kompositionelle
Erstglieder wie Rekord-, Schwerpunkt- gebildet (¢ 2.2.2.3.3). Sie sind auf Sub-
stantive und Adjektive beschränkt.
Bestimmte Arten der Modifikation – wie die Movierung – kommen nur
beim Substantiv vor.
2.1.3.2 Transpositionsarten
Noch deutlicher dominiert das Substantiv gegenüber den anderen Wortar-
ten bei der Transposition; es nutzt alle Möglichkeiten. Die Transposition
innerhalb derselben Wortart (Schule > Schüler) begegnet überhaupt nur
beim Substantiv. Transponierende Wortbildungen entstehen durch Deri-
vation und Konversion.
Folgende Transpositionsarten, hier geordnet nach der Basiswortart,
bilden den Kernbereich: deverbal (bezogen auf die Rolle der Referenten in
dem vom Verb bezeichneten Geschehen): Nomina Actionis, Nomina Acti/
Patientis, Nomina Agentis, Nomina Instrumenti, Nomina Loci; deadjekti-
visch: Nomina Qualitatis, Bezeichnungen für Eigenschaftsträger (Personen,
Tiere, Pflanzen, Dinge); desubstantivisch: Bezeichnungen für Personen (vgl.
Motsch 2004, 324ff.; Erben 2006, 93 ff.; Dudenband 4, 2009, 726ff.; zu wei-
teren Transpositionsarten ¢ 2.3; ¢ 2.5; ¢2.6).
Im Folgenden werden die Transpositionsarten erläutert und die jeweils
dazugehörigen Modelle in Übersichten dargestellt.
Nomina Actionis
Unter Nomina Actionis (auch: Verbalabstrakta) werden Bezeichnungen
eines Geschehens bzw. einer Handlung als Einzelakt/punktuelles Geschehen
(Sprung) oder als Kontinuum (Denken, Gesinge) verstanden. Als Basis für
diese Transpositionsart fungieren Verbstämme und verbale Syntagmen.
Die Wortbildungen sind entweder nur Substantivierungen mit verbnaher
Bedeutung (Deutung) oder sie verfügen über zusätzliche Bedeutungskom-
ponenten (Gesinge ,das Singen‘, iterativ abwertend).
Viele Wortbildungen dieser Transpositionsart sind mehrdeutig. Die ver-
schiedenen Lesarten (meist Nomen Actionis und Nomen Acti) können an je
spezifische morphologische Typen geknüpft sein (das Denken ,Geschehen als
Kontinuum‘) oder auch – abhängig von der Basisbedeutung – durch ein und
dasselbe Modell zum Ausdruck kommen (Forschung ,Geschehen als Kon-
tinuum‘ oder ,Geschehen als Resultat‘).
122 2 Wortbildung des Substantivs
Nomina Acti/Patientis
Nomina Acti/Patientis bezeichnen Referenten, die Resultat oder Betroffene
eines Geschehens sind (Motsch 2004, 346; vgl. Erben 2006, 98: „Themati-
sierung des Objekts“). Referenten sind Personen, Dinge und abstrakte Ge-
genstände.
Nomina Agentis
Die Referenten der Wortbildungen dieser Transpositionsart sind Hand-
lungsträger in einem Geschehen; in der Regel sind es Personen.
124 2 Wortbildung des Substantivs
Nomina Instrumenti
Wortbildungen dieser Transpositionsart bezeichnen Gegenstände nach der
Tätigkeit, die mithilfe dieser Gegenstände ausgeführt werden kann (Entsaf-
ter).
Nomina Loci
Wortbildungen dieser Transpositionsart bezeichnen Orte bzw. Einrichtun-
gen nach dem in ihnen typischerweise ablaufenden Geschehen (Druckerei).
Besonders die Bildungen auf -ei/-erei bewahren neben der Ortsbedeutung
meist auch die Geschehensbedeutung, die jederzeit aktualisiert werden
kann, obwohl sie wohl nur selten lexikalisiert ist (die Druckerei/das Drucken
macht ihm keinen Spaß).
2.1 Allgemeine Charakteristik 125
Nomina Qualitatis
Nomina Qualitatis entstehen aus Adjektiven und Partizipien durch Suffix-
derivation oder Konversion. Es sind sog. Adjektivabstrakta zur Bezeichnung
von Eigenschaften.
Personenbezeichnungen
Diese Derivate bezeichnen Personen nach Gegenständen, mit denen die
Personen umgehen bzw. die sie erzeugen; außerdem bezeichnen sie Perso-
nen, „die etwas besitzen, errungen haben, zur Verfügung haben“ und Per-
sonen, die „einem sozialen Bereich angehören“ (Motsch 2004, 366ff.).
Weitere Transpositionsarten des Substantivs (wie Käse > Käserei) werden bei
den einzelnen Suffixen behandelt (¢ 2.3).
2.2 Komposition
2.2.1 Grundsätzliches
1) ,agentiv‘
,A tut B‘: Ärztetagung, Zugabfahrt.
A bezeichnet den Handlungsträger des Geschehens in B.
2) ,thematisch‘
,A wird von B hervorgebracht bzw. ist von der Handlung in B betrof-
fen‘: Obstverkäufer, Kohleabbau, Friedenssehnsucht
A bezeichnet den vom Geschehen erzeugten oder betroffenen Gegen-
stand, das „Thema“ von B. Syntaktisch entspricht A einem akkusativi-
schen oder präpositionalen Komplement: etwas verkaufen, abbauen;
Sehnsucht nach etwas haben.
3) ,zugehörig‘
A besetzt eine semantische Leerstelle, die B eröffnet: Professorensohn,
Fußballfan.
1) ,lokal‘
1.1) ,B befindet sich in A‘: Bankguthaben, Gartenbeet
1.2) ,B vollzieht sich in A‘: Büroarbeit
1.3) ,B stammt von A‘: Land-, Seewind
1.4) ,B führt zu A‘: Kellertreppe
2) ,temporal‘
,A ist Zeitpunkt/Zeitraum, an dem B stattfindet/für den B gilt‘: Morgen-
frühstück, Monatsplan, Tagesfahrt
3) ,final‘
,A gibt an, wofür B geeignet/bestimmt ist‘: Strandanzug, Fensterglas,
Damenkleid
4) ,kausal‘
4.1) ,B verursacht A‘: Tränengas
4.2) ,A gibt Ursache/Herkunft von B an‘: Schmerzensschrei, Bienenhonig
5) ,komparativ‘ (¢ 2.2.2.3.2)
5.1) ,B gleicht/ist wie A‘: Patchworkfamilie
5.2) ,A gleicht/ist wie B‘: Beifallssturm
6) ,possessiv‘
,A ist Besitzer von B‘: Gemeindewald
142 2 Wortbildung des Substantivs
7) ,partitiv‘/,adhäsiv‘,
7.1) ,A hat B‘: Buchrücken, Vereinsmitglied
7.2) ,B hat A‘: Henkelkorb, Rahmenerzählung
8) ,instrumental‘
,B funktioniert mithilfe von A‘: Handbremse
9) ,material‘
,B besteht aus A‘: Lederschuh
10) ,konstitutional‘ (DWb 4, 128)
,A ist Bestandteil von B‘: Blumenstrauß
11) ,graduierend‘
,A graduiert (vergrößert bzw. verkleinert) B‘: Riesenskandal, Zwerghuhn
12) ,explikativ‘
B bezeichnet den Oberbegriff zu A:
,B ist A‘: Auswertungsverfahren, Erziehungsprozess (¢ 2.2.2.3.4[6]).
Wegen des hohen Abstraktionsgrades von B „nähern sich diese Bildun-
gen in unterschiedlichem Maße der Derivation mittels Suffixen an.“
(Eichinger 2000, 77).
2.2.2.3.2 Metaphern
Komposita mit metaphorischen Erscheinungen, „Komposit(ions)meta-
phern“, sind differenziert zu betrachten (vgl. auch Käge 1980, 39 ff.; DWb 4,
194 ff.). Wir unterscheiden folgende Typen.
1) Komposita wie Augenblick ,Moment‘ und Fuchsschwanz ,Handsäge‘,
Geldsack ,reicher, geiziger Mann‘ sind als Ganzes metaphorisiert („kompa-
rativ-exozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 158ff.) und in dieser Hinsicht me-
taphorischen Simplizia gleichgestellt. Im Unterschied zu diesen bietet die
komplexe Formativstruktur der Wortbildung aber spezielle Möglichkeiten
der Remotivation (¢ 1.5.4.1), vgl. den Titel einer Keramik-Ausstellung Au-
gen-Blick (PDW 2005).
2) In Komposita wie Informationsflut, Kostenlawine, Reisewelle („kompa-
rativ-endozentrisch“, Ortner/Ortner 1984, 58; ¢ 2.2.2.3.1[5]) oder okkasi-
onell Insolvenz-Tsunami (in der Wirtschaft, LVZ 2010), Tomatenzwerge (Wer-
bung 2010) ist das Erstglied der Bildempfänger, das Zweitglied der Bildspen-
der. Das Zweitglied nennt eine Vergleichsgröße, die jedoch nicht die
Bezugsgröße darstellt (deshalb „endozentrisch“). Das Erstglied kann – dann
ohne metaphorisch-expressive Charakteristik – für das Ganze stehen, was für
Determinativkomposita bekanntlich ungewöhnlich ist. Wenn entsprechen-
de Komposita lexikalisiert sind, tendieren die metaphorischen Zweitglieder
zu starker Kompositionsaktivität (Ausgaben-, Brief-, Verpackungsflut; An-
2.2 Komposition 143
2.2.2.3.3 Augmentation
Mit den Metaphern berühren sich Modelle mit Riesen-, Heiden-, Spitzen-
u. a., die verstärkenden Präfixderivaten mit ur-, erz-, hyper- usw. nahekom-
men. Von unserer früheren Auffassung abweichend, ordnen wir diese Mo-
delle nunmehr in die Komposition ein.
Augmentativa charakterisieren ihre Referenten als (in Bezug auf einen
Standard) besonders groß, riesig bzw. wichtig, oft verbunden mit einer po-
144 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.2.5 Kopulativkompositum
Kopulativkomposita (vgl. Paul 1920, § 7; Henzen 1965, 75 ff.) unterscheiden
sich von Determinativkomposita dadurch, dass beide unmittelbaren Kon-
stituenten in einem koordinierenden Verhältnis stehen (¢ 1.8.1.1). Damit
hängen weitere Merkmale zusammen:
Die unmittelbaren Konstituenten sind ohne prinzipielle semantische Ver-
änderung umstellbar, auch wenn das nicht in jedem Fall sprachüblich ist,
weil die Reihenfolge konventionalisiert ist: Pulloverjacke – Jackenpullover,
Strumpfhose – *Hosenstrumpf.
150 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.3.1 Formativstrukturen
Die Kombinationen mit adjektivischem Erstglied sind stärker beschränkt
(nach Wellmann 1998, 488 machen entsprechende Komposita im Innsbru-
cker Korpus weniger als 10 % aus).
1) Üblicherweise wird ein adjektivisches Simplex verwendet: Hochbahn,
Kleinreparatur, Leerkilometer. Adjektive mit fakultativer -e-Endung (blöd/e,
mürb/e, öd/e) bevorzugen meist die Kompositionstammform ohne -e: Blöd-
mann, Mürbfleisch (aber Mürbeteig), Ödland.
Die Kompositionsaktivität der einzelnen Adjektive ist sehr unterschied-
lich. So finden sich im GWDS keine substantivischen Komposita mit adjek-
tivischen Erstgliedern wie albern, barsch, behände, brav, drall, dreist, feil, flink,
flott, forsch, klug, knapp, krank, krass u. v.a. Dies bedeutet allerdings keine
2.2 Komposition 153
Dass Komposita mit heikel, eitel, simpel, düster, finster, hager, heiser, heiter,
lauter, munter, sicher, teuer offensichtlich ungeläufig sind, hat demnach eher
Gründe, die in der Semantik und in mangelnder begrifflicher Relevanz,
nicht dagegen in der prosodischen Struktur liegen.
3) Morphologisch begründet ist wohl die Seltenheit von Komposita mit
adjektivischem Derivat als Erstglied, soweit es sich um Adjektive mit indi-
genem Derivationssuffix (-bar, -ig, -isch, -lich usw.) handelt. Bei der Bildung
einschlägiger substantivischer Komposita wird gewöhnlich auf die substan-
tivische Basis dieser adjektivischen Derivate zurückgegriffen: pflanzliche
Kost – Pflanzenkost, nicht *Pflanzlichkost, menschliches Herz – Menschenherz,
farbiger Druck – Farbdruck, eiserne Truhe – Eisentruhe, schulische Angelegen-
heiten – Schulangelegenheiten; zu Vater – väterlich vgl. Benzing 1968; vgl.
auch Kurzfrist-Analysen (statt kurzfristige Analysen, Der Spiegel 1989). Ent-
sprechend sind Komposita aus Teil- und Nomina Actionis als Zweitglied
meist durch adjektivisches teilweise + Substantiv paraphrasierbar (Teilauto-
matisierung – nach teilweiser Automatisierung; nicht aber Teilaspekt, -menge).
Eine Ausnahme bilden – neben Einzelfällen wie Chemischreinigung – die
Derivate von Volks- bzw. Ländernamen wie Englischhorn, Französischlehrer,
Russischunterricht (vgl. Wilmanns 1899, 514) – wobei allerdings das Erst-
glied meist als substantiviertes Adjektiv aufzufassen ist –, ferner Farbbe-
zeichnungen wie ein schönes Rötlichblond (auch als Konversion interpretier-
bar) und schließlich Fachausdrücke, besonders mit Adjektiven auf -ig:
Billigflug, -produkt, -tarif, -ware; Fertigarzneimittel, -beton, -gericht, -haus,
-produkt; Flüssiggas, -dünger, -gut; Niedriglohnländer, -empfänger, Niedrig-
wasser; vgl. auch Endlosband, -formular, -moräne, -bauweise.
Bei Verwendung des Bindestrichs ist eine großzügigere Koppelung zu
finden: Farbig-Grafik wäre wohl möglich.
Substantivische Konversionen von flektierten Adjektiven auf -ig, -lich
u.Ä. sind als Erstglieder in der Kompositionsstammform auf -n durchaus
üblich, vgl. Freiwilligenarbeit, -jahr, -projekt (Internet 2010), Sachverständi-
gengutachten.
Sehr geläufig sind als Erstglieder adjektivische Derivate mit einigen
Fremdsuffixen wie -al (Kapitalverbrechen, Kolossalgemälde), -ar/-är (Elemen-
tarunterricht, Sekundärrohstoff), -at (Privatbesitz, Separatdruck) und -iv
(Exklusivbeitrag, Intensivkurs). Dies gilt dagegen nicht für Adjektive auf
-abel/-ibel (komfortabel, disponibel), -ant/-ent (amüsant, konsequent), -esk
(grotesk), -os/-ös (rigoros, skandalös). Auch das Adjektiv modern ist als Erst-
glied nicht kompositionsaktiv (wohl aber derivationsaktiv: Modernität, mo-
dernisieren). Mit Adjektiven auf -it gibt es einzelne geläufige Fachwörter wie
Indefinitpronomen, Infinitkonstruktion.
2.2 Komposition 155
2) Ein besonderes Problem stellt die bereits erwähnte enge Berührung von
Substantiv- und Verbstamm dar. Sie besteht zunächst darin, dass in nicht
wenigen Komposita formal wie semantisch sowohl ein substantivisches als
auch ein verbales Erstglied vorliegen kann, in diesem Sinn Doppelmotiva-
tion gegeben ist: Reisezeit – Zeit für Reisen oder Zeit, in der jmd. reist. Die
gleiche Form kann in einem Kompositum als Verbstamm, in einem anderen
als Substantivstamm aufzufassen sein: Mietausfall, -preis (Miete) – Mietauto,
-wagen (mieten), Kochmütze (Koch) – Kochrezept, -salz (kochen). In Kien-
pointners Korpus von 6500 Wortbildungen ist das Verhältnis derartiger
Doppelmotivationen zu den eindeutig verbal motivierten immerhin – je
nach den unterschiedlichen semantischen Modellen – 1 : 3, 1 : 2 oder gar
1 : 1 (Kienpointner 1985, 193).
Die Möglichkeit der Doppelmotivation ist in den folgenden Beispielen
daher nicht immer auszuschließen. Maßgebend bleibt, dass die Beispiele
nach dem allgemeinen Strukturmodell Verbstamm + Substantiv gebildet
werden (bzw. worden sein) können. Die Feststellung der Doppelmotivation
ist eine Sache der Analyse, der Interpretation.
Die Berührung von substantivischem und verbalem Erstglied zeigt sich
auch noch in anderer Weise. Erstglieder der gleichen Wortfamilie können als
deverbaler Substantivstamm wie auch als Verbstamm nebeneinander fun-
gieren: Zugvogel – Ziehkind, Schussfeld – Schießplatz, Bandeisen – Bundpfahl
,verbindender Pfahl‘ – Bindfaden, Griffloch ,Flötenloch‘ – Greifvogel. Die
morphologisch unterschiedlichen Erstglieder können z.T. sogar mit dem
gleichen Zweitglied ohne wesentlichen Bedeutungsunterschied kombiniert
werden: Schiebkarre – Schubkarre, Treibrad – Triebrad, Ziehbrücke – Zug-
brücke.
Die grammatische Differenzierung zwischen Substantiv und Verb ist für
die Erstgliedposition in der Komposition irrelevant; maßgebend ist die se-
mantische Nähe der Stämme (vgl. auch Fundmunition ,gefundene Muniti-
on‘, was semantisch eher an das Verb anzuschließen ist).
In ähnlicher Weise kann der Verbstamm teilweise mit deverbalen -ung-
Derivaten als Erstglied konkurrieren, vgl. Heilprozess – Heilungsprozess, Ab-
schreck(ungs)maßnahme, Misch(ungs)verhältnis, Überhol(ungs)möglichkeit,
Bedien(ungs)komfort, -anleitung. In der Geläufigkeit des einen oder anderen
Typs sind historische Verschiebungen möglich. Bis ins 18. und 19. Jh. begeg-
nen noch Ankleidungszimmer, Bewegungsgrund, Deutungskraft (Paul 1920,
§ 18, Anm. 1).
2.2 Komposition 161
2.2.4.2 Formativstrukturen
Steht die Erweiterung vor dem Verbstamm, liegt als erste unmittelbare Kon-
stituente ein Syntagma vor (¢ 2.2.9.2): Leisesprech telefon, Lasthebe magnet,
Brötchenback linie, Schrotthole dienst, Spritspar- Auto u. a. Steht die Erwei-
terung nach dem Verbstamm, handelt es sich dagegen um ein Kompositum
aus zwei Substantiven: Fahrschein verkauf.
Wortbildungen wie Beton mischmaschine, Qualitäts trinkmilch sind zu er-
klären als Kompositum aus zwei Substantiven; erst die zweite unmittelbare
Konstituente enthält als Erstglied einen Verbstamm.
5) In manchen Fällen ist das simplizische verbale Erstglied auf ein kom-
plexes, meist linkserweitertes Verb mit einer spezifischen (gekürzten) Kom-
positionsstammform zurückzuführen: Lösegeld zu auslösen, Rieselfeld zu be-
rieseln, Flammpunkt zu entflammen, Zerrbild zu verzerren. In ähnlicher
Weise sind wohl manche Wortbildungen mit Schad- an (be)schädigen anzu-
schließen: Schadfraß, -holz.
Menschen gegeben ist, der das „Instrument“ handhabt, bedient, ohne ex-
plizit genannt zu sein (zur Differenzierung und möglichen „Überlappun-
gen“ vgl. auch Kienpointner 1985, 56 f).
3) ,passivisch‘
3.1) ,A wird mit B getan‘, meist ,habituell‘: Ausbringmenge, Ein-
schreib(e)brief, Leihverpackung, Umhäng(e)tasche. – Der Unterschied zu 1)
besteht darin, dass B nicht das Mittel der Handlung bezeichnet, sondern das
affizierte (von der Handlung betroffene) Objekt.
3.2) ,A ist mit B getan worden‘ (,präterital-passivisch‘): Bratapfel, -hering,
-kartoffeln, Mischgemüse, Räucheraal, Setzei, Spritzkuchen, Strickmütze, Well-
fleisch (wellen ,zum Wallen bringen, aufkochen‘), Spargeld; sowohl 3.1) als
auch 3.2) Reibekäse, Schlagsahne.
4) ,referenziell‘ (DWb 4, 132)
,A ist thematischer Bezugspunkt von B‘: Bohrkapazität, Durchhaltefilm, Er-
zähl-, Maltalent, Sehvermögen.
5) ,lokal‘
,B ist Ort/Raum für A‘: Anlegeplatz, Bastelraum, Impfstelle, Kochecke, Plansch-
becken, Schaltzentrale, Verladestation. Eine „direktionale“ Komponente er-
scheint in seltenen Fällen wie Fliehburg (Kienpointner 1985, 116).
6) ,explikativ‘ (Kienpointner 1985, 160ff.; auch: ,verdeutlichend‘, DWb 4,
174)
,A expliziert B‘: Ausweichmanöver (,Manöver, das darin besteht, dass jmd.
ausweicht‘), Absperrmaßnahme, Kletterpartie, Lesewut, Nachholbedarf, Ra-
tespiel, Schießübung, Schmelzprozess, Suchaktion. – Es bestehen Berührungen
mit 4), z. B. bei Dichtkunst und auch mit explikativen Substantiv-Substantiv-
Komposita wie Bildungsprozess (¢ 2.2.2.3.1).
7) ,temporal‘
,B gibt Zeitpunkt/-raum für A an‘: Backtag, Bedenkzeit, Sendetermin, Ver-
weildauer, Sterbestunde.
8) ,kausal‘
8.1) ,A erzeugt/verursacht B‘: Auffahrunfall, Denkfalte, Kratzwunde, Spritz-
eisbahn, Weinkrampf; doppelmotiviert: Schussverletzung.
8.2) ,B verursacht A‘: Lachreiz, Niespulver.
Als „Negationsform“ von ,kausal‘ bezeichnet Kienpointner (1985, 135) den
Typ Beißkorb ,B ist Ursache für Nicht-A‘, wozu auch Gleitschutz, Scheuklappe
(bei Ortner/Ortner 1984, 146 als „prohibitiv“ gesondert gestellt); mit Erwei-
terung durch Anti-: Antiklopfmittel, Antirutschmaterial, Antitropfautomatik.
9) ,modal‘
,B hat A als Modus‘: Laufschritt, Polterabend, Stehbankett.
164 2 Wortbildung des Substantivs
Dass sich nicht alle Wortbildungen ohne Weiteres den genannten Modell-
bedeutungen zuordnen lassen, muss ebenso in Kauf genommen werden wie
das Auftreten potenzieller Mehrfachzuordnungen.
2.2.7.1 Grundsätzliches
Im Vordergrund stehen hier die Wortbildungen mit präpositionalem Erst-
glied, die „systematisch ausgebaut“ sind (Wellmann 1998, 493), insbeson-
dere in antonymischen Paaren lokaler bzw. temporaler Bedeutung (vgl.
Henzen 1969). Angeschlossen werden Komposita mit adverbialem Erst-
glied. Unberücksichtigt bleiben solche mit Konjunktion (Dass-Satz), Inter-
jektion (Aha-Erlebnis, Pfuiruf) und Satzäquivalent (Jawort).
Zu Buchstaben als Erstglied ¢ 1.8.1.1.
2.2 Komposition 167
Zum Begriff ,Konfix‘ ¢ 1.6.3; zur Bestimmung der Konfixbildungen als Kom-
posita ¢ 1.8.1.1; zu Strukturtypen der Konfixkomposita ¢ 1.9.3.1. – Das Bild
ist hier nach mehreren Richtungen zu vervollständigen.
1) Einige exogene Konfixe treten reihenweise als positionsfeste Erstglieder
komplexer Substantive auf, vielfach auch mit indigenem Zweitglied. Es sind
vorwiegend solche aus lateinischem oder griechischem Material, z.T. über
das Englische ins Deutsche übernommen.
Das gilt beispielsweise für mikro- und makro- (,klein‘, ,groß‘). Erstge-
nanntes ist vor allem in Verbindung mit exogenen Substantiven, aber in-
zwischen auch mit indigenen weit verbreitet: Mikrochemie, -computer, -elek-
tronik, -film, -klima, -kosmos, -organismus; Mikroanlageplan (Finanzwesen),
-kühlanwendungen; Mikroschlaf (bei Autofahrern), -schaltung, -sender,
-welle. Das Gegenstück makro- begegnet seltener: Makrobereich, -ebene,
-klima, -kultur, -molekül.
Ein antonymisches Paar bilden auch mono- ,einzig, allein‘ und poly- ,viel,
mehr‘; mono- nicht nur in Verbindung mit Fremdwörtern (Monokultur,
-theismus) oder Konfixen (Monolog neben Dialog, Monopol), sondern auch
mit indigenen Wörtern wie in Monoempfänger (gegenüber Stereo-), -sen-
dung, -zelle. Poly- scheint dagegen auf die Verbindung mit fremden Zweit-
gliedern beschränkt zu sein: Polykultur, -phonie, -technikum; das GWDS ver-
zeichnet keine Komposita mit indigenem Zweitglied.
Mit poly- konkurriert lat. multi- ,viel, mehrfach‘: Multimillionär, -Effekt,
-Musikant.
Pseudo- ,scheinbar, vorgetäuscht‘ verbindet sich nicht nur mit Fremd-
wörtern (Pseudosouveränität, -synonymie, -kritik), sondern auch mit indi-
genen Wörtern (Pseudosinnlichkeit, -wissenschaft). Demgegenüber wird mit
proto- (griech. ,der Erste, Höchste‘) das Echte, Vorbildliche bezeichnet (Pro-
totyp); stets in Verbindung mit exogenem Zweitglied.
Auf die Verbindung mit Fremdwörtern weitgehend beschränkt (in Fach-
terminologie allerdings z.T. sehr verbreitet) sind auto- ,selbst, eigen‘ (Auto-
biografie, -pilot, -suggestion, -didakt gegenüber selbstständigem Didaktiker),
2.2 Komposition 173
Das GWDS kodifiziert die Form mini auch als freies Substantiv (der/das
Mini) in den Bedeutungen ,Mode, Kleid, Rock‘. Als Substantiv fungiert Mini
außerdem noch als Markenname für Autos (Mini Cooper) und Computer
(Mac Mini). Die antonymische Entsprechung maxi (daneben noch seltener
midi-) ist in etwas geringerem Maße kompositionsaktiv geworden (Maxi-CD,
-kleid, -mode, -rock); auch diese Form wird im GWDS als Adjektiv (nur in
Bezug auf Bekleidung: der Mantel ist maxi) und Substantiv (der/die/das
Maxi) verzeichnet, sodass auch hier Lexematisierung zu konstatieren ist.
Ebenfalls nicht als Konfix zu behandeln ist extra (in Extraangebot, -aus-
gabe, -klasse, -tour, -wurst, konkurrierend mit Sonder-), denn es ist als frei
gebrauchtes Adverb üblich (extra bezahlen, extra starker Kaffee) und begeg-
net außerdem als Substantiv das Extra. In der Bedeutung der lat. Präposition
,außer(halb)‘ erscheint extra nur in Fachwortschätzen (Extraordinarius
u.a.).
Quasi ist ebenfalls als freies Adverb kodifziert (,sozusagen, gewisserma-
ßen, so gut wie‘), sodass Wortbildungen wie Quasisouveränität als Kompo-
sita mit adverbialem Erstglied zu betrachten sind.
Die in der vorherigen Auflage in diesem Abschnitt genannten Beispiele Toplessbedie-
nung, -nachtklub, Openend-Klavierabend können ebenfalls nicht mehr als Konfixkom-
posita angeführt werden, da inzwischen sowohl topless als Adjektiv in der Bedeutung
,mit unbedecktem Busen, busenfrei‘ (GWDS) als auch open end ,das Ende (der ange-
kündigten Veranstaltung) ist nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festgesetzt‘
(GWDS) frei vorkommen; vgl. auch die Entwicklung des Präfixes ex- zum Lexem der/die
Ex in der Bedeutung ,ehemalige/r Partner/in‘ (¢ 1.4.2.1).
Ein Syntagma als Erstglied liegt dann vor, wenn die erste unmittelbare Kon-
stituente nicht an einen Wortstamm außerhalb des Kompositums anzu-
schließen ist, sondern an eine syntaktische Wortverbindung (auch: Phrase;
2.2 Komposition 175
2.2.9.4 Sätze
Am geläufigsten und am ehesten lexikalisiert sind Komposita mit dem Im-
perativ eines komplexen oder reflexiven Verbs als Erstglied: Stehaufmänn-
chen, Trimm-dich-Pfad.
Andere erweiterte Imperative sind Rühr-mich-nicht-an-Lächeln, Sei-mein-
guter-Sohn-Blick, „Verbessern-Sie-Ihre-Rente“-Idee (diese und die folgenden
Beispiele bei Lawrenz 2006a, 155ff.); mit fremdsprachlichem Erstglied Do-
it-yourself-Methode.
Auch Aussage-, Frage- und Ausrufesätze kommen als Erstglieder vor:
Wir-sind-für-Sie-da-Kundendienst, Wie-werde-ich-noch-schöner-Software,
Es-gibt-ihn-also-wirklich-Miene.
Derartige Komposita können prinzipiell gebildet werden, sind aber in
ihrer Verwendung weitgehend auf belletristische, publizistische und kon-
ventionell werbende Texte beschränkt. Sie wirken mehr oder weniger stark
expressiv und bleiben textgebunden. Die einzelnen Wörter des satzwertigen
Erstgliedes behalten ihre Selbstständigkeit in Flexion und Differenzierung
von Groß- und Kleinschreibung, werden aber mit Durchkopplungsbinde-
strich verbunden. Bis auf – gelegentlich verwendete – Anführungs-, Ausrufe-
und eventuell Fragezeichen fehlen weitere Interpunktionselemente (verein-
zelt Belege mit Komma: Ortner/Ortner 1984, 113; mit Anführungszeichen:
Hoffmann 2008; zu orthografischen Besonderheiten phrasaler Wortbildung
insgesamt Lawrenz 2006a, 167ff.).
178 2 Wortbildung des Substantivs
Wie eine materialreiche Untersuchung Schmidts zeigt, sind es nicht beliebige freie
Syntagmen, die in hochkomplexe Komposita eingehen, sondern vorzugweise „stabile
funktionale Syntagmen, Allgemeinplätze, Trivialerfahrungen, Lebensweisheiten und
tradierte Zitate“, vgl. Wir-packen-es-an-Stimmung, Ach-das-wäre-doch-wirklich-nicht-
nötig-gewesen-Effekt, Wer-gut-schmiert-der-gut-fährt-Affäre (Schmidt 2000, 151ff.),
Rund-um-die-Uhr-Bewachung, Kaum-zu-glauben-Preise (Werbung 2000); vgl. auch
Hoffmann (2008, 208) über rededarstellende Sätze als Erstglied wie „Bestell-mich-so-
fort!“-Katalog.
Insbesondere Determinativkomposita mit solchen Erstgliedern, aber auch Konver-
sionen (das In-den-April-Schicken), nehmen nach diesen Erhebungen gegenwärtig
nicht nur in der Sprache der Medien, sondern auch im Alltag als eine modische Er-
scheinung deutlich zu. Eine plausible Erklärung für die Beliebtheit der unhandlichen
Bildungen scheint zu sein, dass die eingesetzten „Formulierungsstereotype“ […] „das
schnelle Verständnis hochkomplexer Bildungen sehr erleichtern“ (Schmidt 2000, 151).
Auch der meist „salopp-umgangssprachliche […] Stilwert“ der Bildungen (DWb 4,
400) mag dazu beitragen. Erheblicher Einfluss wird außerdem dem Englischen zuge-
sprochen (Lawrenz 2006b).
2.2.10 Possessivkompositum
Possessivkomposita (auch Bahuvrihi: Paul 1920 §§ 25 f.; Žepic" 1970, 116ff.)
sind Komposita mit determinativem (nicht kopulativem) Verhältnis der
unmittelbaren Konstituenten, doch bezeichnet das Zweitglied keinen Ober-
begriff, unter den sich das Denotat einordnen lässt: Langbein ist nicht
,Bein‘ wie Holzhaus ein ,Haus‘, sondern eine Person, die lange Beine „be-
sitzt“; die Bezeichnung für ,Person‘ ist nicht unmittelbar innerhalb des
Kompositums gegeben, sondern „außerhalb“ zu ergänzen, daher der Ter-
minus exozentrisches (gegenüber endozentrischem) Kompositum (vgl. z.B.
Morciniec 1964, 110ff.; dagegen Coseriu 1977, 50). Die determinative Bezie-
hung zwischen den unmittelbaren Konstituenten kann auch figurativ zu
deuten sein: Dickkopf.
Es handelt sich vorwiegend um Personen-, Pflanzen- und Tierbezeich-
nungen, wobei das Zweitglied meist einen Körperteil bezeichnet: Graukopf,
Lästerzunge, Grünschnabel, Spitzbauch; Hahnenfuß, Löwenzahn; Blauschwanz,
Neunauge, Rotkehlchen, Silbermund ,Schnecke‘. – Nicht in diese Gruppen
gehören vor allem einige Wortbildungen mit einem Numerale als Erstglied
(¢ 2.2.6) wie Dreizack ,Gerät mit drei Zacken‘, Achtzylinder ,Motor mit acht
Zylindern‘.
Manche Possessivkomposita sind heute durch Derivate auf -er bzw. -ler
ersetzt: Dickhäuter, -schnäbler, Tausendfüßler. Doch kann das Modell kaum
als unproduktiv bezeichnet werden.
2.2 Komposition 179
2.2.11.1 Grundsätzliches
Im Folgenden werden kompositionelle Strukturen behandelt, an denen Ei-
gennamen beteiligt sind, und zwar vorzugsweise Personennamen und geo-
grafische Namen. Onymische Komposita sind Eigennamen; deonymische
Komposita sind Appellativa mit einem Eigennamen als unmittelbarer Kon-
stituente. Die onymische und deonymische Derivation wird gesondert be-
handelt (¢ 2.3.4; vgl. auch Harnisch/Nübling 2004, 1906ff.). Wir können hier
keine onomastische Spezialdarstellung vorlegen, sondern konzentrieren uns
auf einige geläufige Modelle. Es soll deutlich werden, dass der Eigenname
innerhalb des Wortschatzes eine Sonderstellung einnimmt und sich daraus
auch Spezifika für die Wortbildung ergeben. Beschreibende semantische
Elemente können einen komplexen Namen stärker einem Appellativum
annähern; vgl. Erzgebirge gegenüber dem Simplex Alpen. Ein großer Teil der
formalen Besonderheiten des Namenschatzes erklärt sich durch das Be-
streben, die störende Homonymie zwischen Eigennamen und Appellativum
zu mindern.
Eigennamen sind an das System einer Einzelsprache durch gegebenenfalls
vorhandene semantische Elemente gebunden, ferner durch onymische De-
rivations- und Kompositionsmodelle sowie durch morphosyntaktische und
morphonologische Phänomene. Eine besondere Rolle spielen dabei die
Wechselprozesse der Onymisierung und Deonymisierung, der Verflechtung
von Eigennamen und Appellativa auch in der Wortbildung.
180 2 Wortbildung des Substantivs
2.2.12.1 Grundsätzliches
2.2.12.2.3 Funktionen
Forschungen zum Gebrauch der Fugenelemente im Deutschen haben in den
letzten Jahren zwar zu wichtigen Entdeckungen geführt (DWb 4; Fuhrhop
1996, 1998; Gallmann 1998, Wellmann 1998; Wegener 2003; Eisenberg 2006;
Nübling/Szczepaniak 2009); noch immer gilt jedoch, dass nicht alle Er-
scheinungsweisen regelhaft erklärbar sind. Die Ursachen dafür liegen v.a.
darin, dass sich die verschiedenen Fugenelemente distributionell und funk-
tional unterschiedlich verhalten, und auch darin, dass die historische Ent-
wicklung des Auftretens von Fugenelementen bislang nur unzureichend
untersucht ist (zur Geschichte des Fugenelements zuletzt Demske 2001,
37 ff.). Nicht in jedem Fall ist eine eindeutige Voraussagbarkeit der Fugen-
gestaltung gegeben, was aber nicht bedeutet, dass Fugenelemente willkürlich
gesetzt werden können.
Wenngleich keine auf alle Fugenelemente gleichermaßen zutreffende
Funktion feststellbar ist, was besonders angesichts des hohen Anteils an
unverfugten Komposita plausibel erscheint, besteht weitgehend Konsens in
Bezug auf die folgenden Funktionen 1) bis 4), die entweder interagieren
oder sich auch separat nachweisen lassen.
1) Fugenelemente dienen in Komposita der „rhythmischen Optimierung
des Erstglieds“ (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
Für die Erklärung der Optimierungsthese ist zu unterscheiden zwischen
silbischen und unsilbischen Fugenelementen (Fuhrhop 1998, 188f.; Wege-
ner 2003, 446). Die silbischen Fugenelemente -en-, -er-, -es-, -ens- sorgen
dafür, dass ein einsilbiges Erstglied eine trochäische Struktur bekommt und
damit über die im Deutschen bevorzugte phonologische Struktur verfügt:
Bett en zahl, Kind er fest, Land es haushalt, Herz ens lust. „Unsilbische Ele-
mente [-n-, -ns-] bewahren bereits bestehende Trochäen“, vgl. Blume n topf,
Wille ns bekundung (Nübling/Szczepaniak 2009, 203).
2) Fugenelemente können eine morphologische Gliederungsfunktion
übernehmen. Sie kennzeichnen in mehrgliedrigen Komposita die Haupt-
fuge.
190 2 Wortbildung des Substantivs
Kienpointner 1985, 23 ff. auf der Grundlage von ca. 6500 Stichwörtern).
Allerdings ist hier ebenfalls mit der für die Fugenelemente charakteristi-
schen Streuung zu rechnen. Nach Kienpointner fassen wir die Verteilung
folgendermaßen zusammen.
1) Das Fugenelement wird nicht gesetzt nach vokalischem Auslaut sowie
nach [p], [pf], [s], [r]; das gilt auch mit nur wenigen Ausnahmen für [m]
(Räumkommando, aber: Aufräumefrau), für [l] (Malkasten, aber: Einhol(e)ta-
sche), [x] (Lachmuskel, aber: Reinemach(e)frau), [ts] (Reizhusten, aber: Pres-
tige-Anheize-Kampagne), [∫] (Naschkatze, aber: Haschespiel), [k] (Lenkrad,
aber: Hinkebein). Auch verbale Erstglieder, deren Stämme auf -el, -er und -ier
enden, schließen ohne Fugenelement an das Zweitglied an (Bastelbuch, Kle-
ckerbetrag, Rangierbahnhof).
2) -e- begegnet demnach fast nur nach den stimmhaften Verschlusslauten
b, d, g, nach [z] sowie [t]; Komposita ohne Fugenelement sind jedoch ebenso
belegt. Am stärksten überwiegt -e- nach -d (Badestrand – schweiz. Badzim-
mer); es folgen -g (Vorbeugehaft – Schlagader), -ng (Hängelampe – Sing-
vogel), -s (Lösegeld – Blasinstrument), -b (Reib(e)käse – Reibfläche) und -t
(Ratespiel – Leithammel).
3) Die Verbstämme von rechnen, trocknen, zeichnen erscheinen als Erst-
glieder in den Formen Rechen-, Trocken-, Zeichen-. Ähnlich strukturierte
Verben wie ebnen, leugnen, ordnen, regnen, segnen, eignen lassen sich als
Erstglieder an homonyme Substantive anschließen (Regen-, Segen-) oder es
wird das deverbale -ung-Derivat als Kompositionsstammform verwendet
(Eignungstest, Ordnungsdienst).
4) In einer Reihe von Fällen sind verbales und substantivisches Erstglied
desselben Grundmorphems durch die Fugengestaltung zu unterscheiden:
Badeanzug – Badfenster, Rollschuh, -treppe – Rollenfach, Pfeifkonzert – Pfei-
fenkopf, Blasmusik – Blasenbildung, Pressluft, -stroh – Pressekonferenz (noch
Bismarck 1878: Preßthätigkeit); ¢ 2.2.12.2.3(3); vgl. auch Wellmann/Reindl/
Fahrmaier 1974, 371.
2.2.12.5.1 Bindestrich
Diese Schreibungen sind nicht neu. Seit der zweiten Hälfte des 16. und dann v.a. im 17.
Jh. werden Komposita zwar immer öfter zusammengeschrieben, aber daneben auch
noch getrennt (Rechts Sachen, Beispiel bei Demske 2001, 311) bzw. mit doppeltem
Bindestrich oder mit Binnenmajuskel (Rechts=Anmerckungen, HaubtSprache), um si-
multan „Einheit und Gegliedertheit“ der Komposita zu signalisieren (Pavlov 1995, 119;
vgl. auch Erben 2007). Noch bis ins 18. Jh. kommt die Binnenmajuskel gelegentlich vor;
möglicherweise eher für Ad-hoc-Bildungen als für lexikalisierte: IdeenMaße, TotalEin-
druck, ZwitterArt (Schiller 1794 in Briefen an Goethe).
Als Ursache für die zunehmende Verwendung von „Gliederungs- und Ver-
ständnishilfen“ im Kompositum seit dem 18. Jh. (einschließlich der Binde-
strichschreibung) macht Erben (2007, 118) unter diachronem Blickwinkel
u.a. „die Tendenz, umfangreiche, polymorphemische Wörter als komplexe
Nominationseinheiten aufzubauen,“ geltend. Als Ursachen für die deutliche
Ausbreitung dieser Schreibweisen in der Gegenwart werden die seit den
1980er-Jahren belegte Schreibung von Personenbezeichnungen mit dem
Großbuchstaben I im Wortinnern (LeserInnen) sowie der Einfluss des Eng-
lischen, insbesondere durch originalsprachlich getrennt geschriebene Ent-
lehnungen (Soft Drug), genannt (Stein 1999, 264f.).
Ein weiterer Grund könnte sein, dass der Bindestrich als Mittel der Her-
vorhebung von Konstituenten heute an Wirkung verloren hat und deshalb,
vor allem in der Werbung, durch auffälligere grafische Abweichungen er-
setzt wird. Er wird unter Beibehaltung des Spatiums getilgt oder auf beides –
Bindestrich und Spatium – wird verzichtet. Stattdessen schreibt man die
Komposita zusammen und wählt die Majuskel für das Zweitglied; zu wei-
teren möglichen Ursachen vgl. Dürscheid 2000.
Die abweichenden Schreibweisen stehen vornehmlich im Dienst von
Werbefunktionen: Aufmerksamkeit hervorrufen, Originalität signalisieren
und Einprägsamkeit unterstützen; ausführlich dazu Stein 1999.
2.3 Suffixderivation 195
2.3 Suffixderivation
2.3.1 Grundsätzliches
2.3.2.1 Suffix -e
Fraglich ist, ob das -e in Fällen wie Katze, Kerze, Linde, Pfütze, Steppe, Wiese als Mor-
phem zu segmentieren ist oder ob die betreffenden Wörter als monomorphemisch
anzusehen sind. Für unsere Behandlung des Derivationssuffixes -e ist diese Frage al-
lerdings von untergeordneter Bedeutung, denn die genannten Lexeme können nicht als
Derivate interpretiert werden; zur Diskussion dieses Phänomens vgl. Eisenberg 2006,
217, der die Kategorie „mophologischer Rest“ einführt.
1.3) Aus Wortbildungen wie in 1.2) ist vereinzelt -elei als Suffixvariante
zur Bildung desubstantivischer Derivate mit pejorativer Konnotation re-
analysiert worden: Eifersüchtelei, Eigenbrötelei, Fremdwörtelei. Es bestehen
assoziative Beziehungen zu pejorativem -ler (Eigenbrötler, daher auch die
Variante Eigenbrötlerei) und zu den Verben mit -el(n)/-l(n) wie basteln, grü-
beln, werkeln.
1.4) Aus Derivaten wie in 1) hat sich auch die Suffixvariante -erei (zur
Geschichte Öhmann 1973) entwickelt, ebenfalls vorwiegend mit pejorativer
Konnotation: Dieberei, Lumperei, Schlafmützerei, Vielweiberei. Sie ist aller-
dings wesentlich produktiver als -elei.
Die pejorative Konnotation der Modelle 1.3) und 1.4) wird z.B. von
Campe (1813) genutzt zur Differenzierung indigener Äquivalente für die
entsprechenden Fremdwörter: Patriotismus – Vaterlandsliebe/Vaterländerei
(vgl. Dieckmann 1964, 138).
Nicht pejorativ, sondern an Derivate mit lokaler Bedeutung anzuschlie-
ßen sind Käserei, Mosterei, Molkerei (seit dem 19. Jh. zu Molke ,Käsewas-
ser‘). Anders Kokerei, wozu auch koken ,Koks herstellen‘ (so noch Fachwort
1984, 170) und Koker ,Koksarbeiter‘ geläufig waren.
2) Verbale Basis, in der Regel pejorative Nomina Actionis; bei Basen auf
-el(n), -er(n) erscheint -ei (Meckerei), sonst -erei: Brüllerei, Heulerei, Esserei;
neben pejorativem Bügelei steht als neutrales Nomen Loci Büglerei; gelegent-
lich im Plural: gliederschlenkernde Tanzereien (B. Reimann).
Neben simplizischer auch komplexe Basis (Aufschneiderei, Nachäfferei)
und – z.T. phrasemische – Syntagmen: Augenauswischerei/Augenwischerei,
Rechthaberei, Schaumschlägerei. – Bisweilen ist jedoch von einer komplexen
substantivischen Basis auszugehen: Drückebergerei.
2.1) Verbale Basis auf -el(n)/-l(n); ebenfalls pejorative Nomina Actionis,
z.T. mit sekundärer Prägung als Nomina Acti: Blödelei, Faselei, Liebäugelei
(PDW 2005), Liebelei, Heuchelei, Witzelei; Menschendünstelei (P. Süskind);
weniger pejorativ, sondern eher salopp-scherzhaft: die Rätselei um das Ge-
baren von H. Sch.… (PDW 2005).
Die deverbalen Substantive auf -ei/-erei konkurrieren mit den Deverba-
tiva auf ge-…-e (¢ 2.5).
2.2) Konkrete Sachbezeichnungen als sekundäre Prägungen sind z. B. Hä-
kelei, Stickerei, (Holz-)Schnitzerei; vielfach sind beide Lesarten (,Prozess‘ und
,durch den Prozess entstandene Sache‘) aktualisierbar, vgl. z.B. noch Rei-
merei, Schmiererei, Schreiberei (Ähnliches auch bei ge-…-e und -ung
¢ 2.3.2.18; ¢2.5).
Der Unterschied zwischen Nomina Loci und Nomina Actionis kann bis-
weilen durch Umlautdifferenzierung gekennzeichnet werden: Bäckerei (auf
Bäcker bezogen) – Backerei (auf backen bezogen), Wäscherei – Wascherei.
200 2 Wortbildung des Substantivs
in den seltensten Fällen hat das konvertierte Partizip I einen ähnlichen se-
mantischen Charakter: der Vorsitzende (woneben auch Vorsitzer), Reisende,
Streikende (woneben keine -er-Derivate).
Die Bildung der -er-Derivate unterliegt stärkeren Beschränkungen als die universal
bildbaren Konversionen zum Partizip I. Von bestimmten verbalen Basen werden im
Allgemeinen keine -er-Derivate erzeugt. Das betrifft nullwertige Verben wie schneien,
dämmern, dunkeln, tauen, ziehen ,als Luftzug zu verspüren‘; DWb 2, 342), Modalverben
(aber Könner), Zustandsverben wie sich befinden, liegen, stehen, umgeben, wohnen (aber
Steher – im Radsport), zahlreiche Verben der Wahrnehmung und des Wissens wie
empfinden, sich freuen, glauben, vermissen, verstehen, wissen (aber Kenner, Denker); zur
Diskussion weiterer Beschränkungen, auch hinsichtlich des Outputs der Modelle vgl.
Scherer 2005, 91 ff.
Doch sind auch okkasionelle -er-Derivate zu beachten wie die Bestimmer (bezogen
auf Eltern und Lehrer gegenüber Jugendlichen, Sonntag 1988), die Sitzer (über Leute,
die das Sitzen in Sitzungen wirklich verstehen, Weltbühne 1980); (¢ 1.4.2).
Fachsprachlich sind noch Wortbildungen üblich, die in der Allgemeinsprache selten
oder ganz unüblich geworden sind, z. B. Geber, Nehmer, Schenker als juristische Ter-
mini; vgl. auch Geber- und Nehmersprache in der Linguistik.
Drückt die Semantik des Verbs eine nur auf Menschen beziehbare
Verhaltensweise aus, ist eindeutig eine Personenbezeichnung gegeben: Flun-
kerer, Stolperer, Stotterer.
Im Unterschied zur Personenbezeichnung ist die Geräte- bzw. Sachbe-
zeichnung nicht selten passivisch zu verstehen. Diese Bedeutung rechtfertigt
die Zuordnung der Bildungen zu den Nomina Acti (¢ 2.1.3.2): Untersetzer
,wird untergesetzt‘ – Übersetzer ,übersetzt‘, ferner Aufkleber ,aufklebbarer
Papierstreifen‘, Aufsteller ,aufstellbares Werbeelement‘, Senker ,abgetrenn-
ter Trieb von Pflanzen‘, Hefter.
1.4) Nahe stehen Bezeichnungen von Tieren, vorzugsweise Vögeln:
Laubsänger, Seetaucher, Strandläufer, Würger, Zaunschlüpfer. Zu Puter,
Tauber ¢ 2.3.2.22(7).
1.5) Basis wie 1.1); in der Regel simplizisch. Wortbildungsbedeutung:
Nomina Actionis, in einer Wortbildungsreihe ,menschliche Äußerung‘: Äch-
zer, Jauchzer, Jodler, Rülpser, Schluchzer, Schnarcher (Th. Storm; vgl. Paul
1920, 60), Nieser (H. Jobst).
Im Unterschied zu Gejodle, Jodlerei bezeichnet -er die Einzeläußerung.
Mündliche Äußerung als Tadel bezeichnen umgangssprachlich Anran-
zer/Anraunzer, Ansauser, Anschnauzer.
Manche Bildungen lassen daneben auch die Beziehung auf eine Person
zu, z.B. Lacher ,ein kurzes Lachen‘oder Ich bin Lacher (H. Böll).
Bewegungsformen, vor allem Tänze, bezeichnen Hopser, Plumpser, Dre-
her, Walzer, fehlerhafte Handlungen Abrutscher, Aufsitzer ,Reinfall‘, Fehler,
Patzer, Versager; vgl. ferner Abstecher, Stupser, Tupfer (im bunten Festpro-
gramm); Rempler; Strauchler (U. Saeger).
2) Substantivische Basis
Die desubstantivische -er-Derivation wird bisweilen als nicht mehr pro-
duktiv angesehen (vgl. Wilmanns 1899, 289; Henzen 1965, 161); doch diese
Annahmen sind inzwischen widerlegt (Scherer 2005, 151).
2.1) Hochproduktiv sind Personenbezeichnungen von exogenen Substan-
tiven auf -ik. Wortbildungsbedeutung: ,Zugehörigkeit‘ in einem weiten Sinn
– Anhänger bzw. Vertreter einer Richtung, Wissenschaftsdisziplin, z. T. auch
Berufsbezeichnung – vgl. Ethiker, Komiker, Musiker, Kritiker.
Aus solchen Derivaten hat sich die Suffixvariante -iker entwickelt, die an
Stämme (Alkoholiker, Asthmatiker, Phlegmatiker – mit den Derivations-
stammformen asthmat-, phlegmat-) und auch an Konfixe (Fanatiker, Zyni-
ker) tritt.
2.2) In diesen Zusammenhang sind heute die von Orts- und Länderna-
men, teilweise auch anderen geografischen Namen, abgeleiteten Bewohner-
bezeichnungen auf -er zu stellen. Hier liegt etymologisch allerdings nicht lat.
2.3 Suffixderivation 205
neuere getreten wie Grenzer, Metaller, eventuell Texter (hier auch Derivation
von texten möglich, beides 20. Jh.), okkasionell Textiler (,am Textilstrand
Badender‘ im Gegensatz zu FKKler ,Anhänger der Freikörperkultur‘).
Aus dem Englischen kommen gegenwärtig zahlreiche Derivate von Sim-
plizia wie Surfer, Skater, Jobber, die entweder entlehnt oder – wenn das
entsprechende Verb bereits übernommen wurde – im Deutschen gebildet
sein können.
In wenigen Fällen stehen semantisch differenzierte Derivate mit Konver-
sionen wie Ritt, Schnitt, Schloss als Derivationsbasis neben denen mit Infi-
nitivstamm als Basis: Reiter – Ritter, Schneider – Schnitter, Schließer – Schlos-
ser.
Das Prinzip sekundärer Motivation („Verdeutlichung“; ¢ 1.5.4.1) liegt zu-
grunde, wenn teilweise noch bis ins 19. Jh -er an Fremdwörter angefügt
wird, die bereits als fertige Personenbezeichnungen ins Deutsche entlehnt
wurden (Belege nach Paul 1920, 62): Juwelierer, Officirer (Grimmelshausen),
Barbierer, Rentenirer (Nicolai), Rebeller (Hebel), Jesuiter.
Sachbezeichnungen erscheinen – bisweilen umgangssprachlich mar-
kiert – als eine Art Kurzform vor allem von Bezeichnungen für Fahrzeuge
u.Ä. (vgl. Lehnert 1986, 71ff.): Dampfschiff > Dampfer, Bomber, Frachter,
Laster; vgl. auch Münzer ,Münzfernsprecher‘ (nicht Fortsetzung von mhd.
münzer ,Münzarbeiter‘).
2.5) Stärker produktiv ist das Modell mit einem substantivischen Syntag-
ma als Basis. Wortbildungsbedeutung: ,Bezeichnung von Personen und
Tieren nach äußeren Merkmalen‘, vgl. Links-, Rechtshänder, Paarhufer,
Zehn-, Zwölfender.
An einen Teil der unter 2.4) genannten Fälle anzuschließen sind Bezeich-
nungen für Fahrzeuge wie Einachser, Zweimaster, Vier-, Fünfsitzer, Sechston-
ner.
Semantisch-onomasiologisch vereinzelt bleiben Ein-, Zweireiher (An-
zug), Vierzeiler (Gedicht), Zwölf-, Sechzehngeschosser (Wohnhochhaus).
3) Numerale als Basis
Die Basis bilden ausschließlich Kardinalzahlen. Die Wortbildungsbedeu-
tung ist unterschiedlich.
3.1) Einer, Zweier, Fünfer usw. können in bestimmten Kontexten für die
jeweilige Zahl stehen, meist mit umgangssprachlicher Markierung: ein
Fünfer im Zahlenlotto ,fünf Zahlen richtig‘, ein Zweier ,eine Zwei‘ auf dem
Zeugnis (besonders obd.).
Münzen und Geldscheine werden gekürzt nach der ihrem Wert entspre-
chenden Zahl benannt: Fünfer (in Berlin Sechser), Zehner, Zwanziger.
2.3 Suffixderivation 207
Vierer, Achter usw. sind Kurzformen für Vier-, Achtriemer, die ihrerseits
schon Kurzformen für ,Boot mit vier bzw. acht Riemen (Ruderern)‘ sind,
vgl. oben 2.5).
3.2) Die höheren Zahlen bezeichnen einen Menschen nach seinem unge-
fähren Alter: ein Dreißiger; mit Syntagma als Basis: eine Endzwanzigerin, ein
Mittvierziger.
4) Adjektivische Basis
Das Modell ist heute unproduktiv. Üblich ist allenfalls noch Gläubiger (seit
dem 15. Jh.); anders der Gläubige – ein Gläubiger (¢ 2.6.2.2).
vgl. die Konnotationen durch das Element -l- in der Verbindung -elei
(¢ 2.3.2.2[1.4]) und teilweise ironisierend bei den Verben auf -el(n)/-l(n)
(¢ 5.4.2). Der pejorative Charakter zeigt sich nicht nur in Fällen, in denen er
bereits der Bedeutung der Basis eigen ist (Halb-, Hinterwäldler), sondern
auch dort, wo er der Basis fehlt: vgl. Versöhnler unter 2).
1.5) In einzelnen Fällen steht -er neben -ler bei gleicher Basis mit semanti-
scher oder regionaler Differenzierung: Wirtschafterin – Wirtschaftlerin, Wis-
senschafter (österr., schweiz.) – Wissenschaftler. Variation ohne semantische
Differenzierung zeigen Zelter (Basis wohl zelten) – Zeltler (Basis Zelt).
1.6) Die Entfaltung des Suffixes -ler hat ihre Ursache zunächst sicherlich
nicht in dem Bestreben, von -er zu differenzieren. Es liegen andere Gründe
vor: Von Bedeutung ist, dass die substantivische Basis bei Verwendung von
-ler als Sprechsilbe erhalten bleibt, vgl. Sport ler, während bei Gebrauch von
-er abzuteilen wäre *Spor-ter. Auffällig ist ferner, dass die meisten Derivate
auf -ler eine Basis haben, die auf dentalen Verschlusslaut (-d, -t) auslautet.
Schließlich spielt natürlich auch die größere Eindeutigkeit gegenüber dem
stark polyfunktionalen -er (dies z.B. auch als Pluralsuffix) eine Rolle (vgl.
Müller 1953, 199).
2) Verbale Basis
Im Unterschied zu der dominierenden Rolle verbaler Basen bei -er tritt bei
-ler die verbale Basis, d. h. ohne -l- des Verbstamms, weitgehend zurück; nur
wenige Bildungen sind belegt, vgl. Abweichler, Ausweichler (Ch. Wolf), Ver-
söhnler. Eher auf substantivische als auf verbale Basis ist wohl zu beziehen
Umstürzler. Dieses Modell zeigt durchgehend pejorative Konnotation.
Das Suffix -ner wird in manchen Arbeiten als Allomorph von -er bestimmt. Es lasse
„weder eine Spezialisierung noch Neubildungen erkennen, sodass es nicht als eigen-
ständiges Morphem betrachtet werden“ könne (Scherer 2005, 53 mit Bezug auf Eisen-
berg 1992 und Fuhrhop 1998).
Unter diachronem Aspekt nennt Erben (2006, 152) -ler und -ner „Erweiterungsfor-
men“ von -er. Er weist darauf hin, dass beide Einheiten im Unterschied zu -er fast
ausschließlich mit substantivischen Basen vorkommen. Bei Motsch (2004, 363 f.) ist
-ner einerseits Suffix an substantivischen Basiswörtern, die „einen Gegenstand“ be-
zeichnen, „mit dem sich Personen befassen“ oder über den sie verfügen (Pförtner,
Rentner), andererseits ein Allomorph zu -er an Basen auf -a, die „eine Gruppe oder
spezieller eine regionale Einheit“ bezeichnen (Primaner, Amerikaner).
keit), viuhtec ,feucht‘, niuwec ,neu‘. Obrigkeit ist im 16. Jh. aus älterem ober-
keit (so bei Luther; vgl. auch mhd. innerkeit ,Innerlichkeit‘, ūzerkeit ,Äu-
ßerlichkeit‘) entstanden (Wilmanns 1899, 387).
1.2) Die Distribution der drei Varianten zeigt – bei gewissen Überlappun-
gen – doch recht klare Verhältnisse; sie wird durch die Formativstruktur der
Basis in Verbindung mit verschiedenen Akzentmustern bestimmt (detail-
liert dazu Kolb 1985).
Am deutlichsten zeigt dies -keit; zu dessen „Wesen gehörig“ sei es (so
schon Wilmanns 1899, 386), „dass ihm eine unbetonte Silbe voranging“.
Daher steht -keit in Verbindung mit suffigierten Basen auf -bar (Unaustilg-
barkeit), -ig (Schäbigkeit), -lich (Erblichkeit), -sam (Betriebsamkeit).
Das Modell mit einer Basis auf -isch wird – entgegen unserer früheren
Annahme – gegenwärtig wohl nicht ausgebaut. Mater (1970) verzeichnet
lediglich Bäurisch-, Linkischkeit; doch vgl. weiter Selbstisch-, Herrisch-, Welt-
männischkeit (Schlaefer 1977, 82), Spielerischkeit (Kann 1972, 290), Jüdisch-
keit (Sonntag 1988); ferner die von Kolb (1985, 162) genannten Bildungen
Mürrisch-, Störrischkeit sowie: „jene Wildheit, Unvernunft, Tierischkeit“
(Ch. Wolf); Läppischkeiten (F. Fühmann). Statt Kindischheit (W. v. Hum-
boldt) ist heute Kindischkeit zu erwarten (vgl. Eichinger 1982, 173).
Oberle (1990, 137f.) begründet die schwache Aktivität der Adjektive auf -isch in diesem
Modell mit deren syntaktischen Eigenschaften. Nur zu prädikativ verwendbaren wer-
tenden Adjektiven werden Nomina Qualitatis gebildet, nicht aber zu Zugehörigkeits-
adjektiven (wie etwa städtisch ,zur Stadt gehörend‘ in städtische Bäder). Fuhrhop (1998,
219) nennt allerdings Städtischkeit als Übersetzung von Urbanität.
seltenen Wortpaare mit der Konkurrenz von -heit und -igkeit bei gleicher
Basis, z. T. ohne stärkere semantische Differenzierung (Mattheit/Mattigkeit,
Seichtheit/Seichtigkeit), z.T. aber mit deutlicher semantischer Differenzie-
rung (Kleinheit – Kleinigkeit, Neuheit –Neuigkeit).
Nicht hierher gehören Paare wie Einheit (Basis ein) und Einigkeit (Basis
einig). Zu differenzieren sind auch Paare wie Reinheit – Reinlichkeit, Vertraut-
heit – Vertraulichkeit: hier wird Vertrautheit zu sehr durch demonstrative Ver-
traulichkeiten ersetzt (Sonntag 1987).
Doppelbildungen mit -heit/-keit bei gleicher Basis existieren dagegen so
gut wie nicht (Ausnahme: Düsterheit/-keit; Kolb 1985, 160).
Am kompliziertesten zeigt sich die Distribution der Variante -heit. Diese
Derivate können dem einen wie auch dem anderen Akzentmuster folgen
(vgl. Kolb 1985, 160ff.).
a. Die Silbenfolge betont – unbetont gilt für zahlreiche Derivate mit ein-
silbiger Basis: Barsch-, Derb-, Feig-, Frech-, Hohl-, Klar-, Schlau-, Zartheit.
Das gilt auch für präfixale und kompositionale Weiterbildungen mit
diesen Adjektiven (wobei sich ja die Akzentverhältnisse verschieben): Su-
perklug-, Ungleichheit; Taubstumm-, Tollkühnheit; Schreibfaulheit; Lebens-
fremd-, Mannstoll-, Nachtblindheit.
b. Dem genannten Akzentmuster folgen auch die Derivate mit mehrsil-
biger Basis, aber Endbetonung (indigene wie exogene): Gesamt-, Gesund-,
Gewissheit; Adäquat-, Affektiert-, Borniert-, Exakt-, Korrekt-, Grandios-, Gro-
tesk-, Porös-, Saloppheit.
Mit Ausnahme der Basen auf -t werden die entsprechenden Substantive
von exogener Basis allerdings vorwiegend mit -ität gebildet (Universalität;
¢ 2.3.3.1[13]). Ob zwischen -heit/-keit/-igkeit und -ität Allomorphie ange-
nommen werden kann (so Fuhrhop 1998, 17), ist distributionell und se-
mantisch noch zu prüfen.
c. Mehrsilbige simplizische Basen, die auf Schwasilben enden, verbinden
sich hauptsächlich mit -heit: vorwiegend solche auf -en (Eigen-, Offen-, Sel-
ten-, Trockenheit), -ern (Albern-, Lüstern-, Nüchtern-, Schüchternheit), einige
auf -el (Einzel-, Dunkelheit; zur sprachgeschichtlichen Erklärung dieser „Ir-
regularität“ Kolb 1985, 161, Fn. 6) und -er (Locker-, Sicherheit). An solchen
Basen kommt aber auch -keit vor, s.o. (Sauberkeit, Eitelkeit).
Derivate von adjektivischen Basen mit den Suffixen -en/-ern/-n und -icht
werden relativ selten verwendet. Ganz ausgeschlossen von der Derivation
mit -heit, wie Oberle (1990, 277) vermutet (sie nennt als einziges Beispiel
Gläsernheit, ebd.), sind sie nicht, vgl. buddenbrookhafte Bleiernheit der Möbel
(sueddeutsche.de 2009), die Pracht funkelnder Silbernheit (Internet 2010).
Zum Adjektiv töricht findet sich gelegentlich Törichtheit.
212 2 Wortbildung des Substantivs
2) Substantivische Basis
2.1) Die Variante -keit entfällt hier; es kommt fast ausschließlich -heit
infrage. Das Modell ist nur schwach produktiv und im Wortschatz mit we-
nigen Einheiten vertreten; zur historischen Entwicklung vgl. Wells 1964;
Oberle 1990, 314 ff.
Wortbildungsbedeutung: ,Kollektivum, bezogen auf Menschen‘ – Chris-
ten-, Juden-, Menschheit; Hexenheit (Goethe). Stärker produktiv ist in dieser
Bedeutung -schaft.
Daneben stehen einzelne semantisch abweichende Derivate wie Gott-,
Kind-, Narr-, Torheit. Wie Gottheit ,göttliches Wesen‘ war Menschheit im
18. Jh. noch als ,menschliches Wesen‘ üblich. Während sich hier nur die
kollektive Bedeutung erhalten hat, ist bei Gemeinheit – wohl im Zusam-
menhang mit der Bedeutungsveränderung des Adjektivs gemein (worauf die
Bildung bezogen wurde statt auf Gemeine) – die Bedeutung ,Gemeinde,
Rechtsverband‘ aufgegeben worden (vgl. Paul 1920, 85).
2.2) In wenigen Fällen sind synchron auch Derivate mit -igkeit auf ein
Substantiv beziehbar: Streit – Streitigkeit (mhd. strı̄tec ,streitsüchtig‘), Zwist
– Zwistigkeit, wobei die Derivate vor allem für den Plural zur Verfügung
stehen.
2.3) Auf andere Weise kommen Paare zustande wie Biss – Bissigkeit. Die
adjektivische Basis des substantivischen Derivats ist ihrerseits ein desub-
stantivisches Derivat: Geist > geistig > Geistigkeit. Die semantischen Bezie-
hungen zwischen den beiden Substantivtypen sind unterschiedlich.
a. Das primäre Substantiv (z.T. Konversion) bezeichnet eine einmalige
Handlung, einen bestimmten Vorgang, während das Derivat auf -keit/-
igkeit die Wiederholung oder das Potenzielle, die Anlage, Fähigkeit be-
zeichnet: Biss – Bissigkeit, Anfall – Anfälligkeit, Straffall – Straffälligkeit, Tat
– Tätigkeit.
b. Das primäre Substantiv steht als Sachbezeichnung (soweit nicht meta-
phorischer Gebrauch vorliegt) dem -keit-Derivat gegenüber: Farbe – Far-
bigkeit, Zopf – Zopfigkeit, Gift – Giftigkeit, Saft – Saftigkeit.
c. Nur geringer semantischer Unterschied besteht bei Paaren wie Eifer –
Eifrigkeit, Zufall – Zufälligkeit, Anmut – Anmutigkeit, Allmacht – Allmäch-
tigkeit. Bei mangelnder semantischer Differenzierung haben sich die
-keit-Derivate in der neuhochdeutschen Norm vielfach nicht gehalten:
Mutigkeit (Goethe, Arndt) nicht neben Mut, Neugierigkeit (Lessing, Wie-
land) nicht neben Neugier (und Neugierde) u. a. (vgl. Paul 1920, 87 f.).
3) Numerale als Basis erscheint nur in vereinzelten Fällen, die immerhin
analogische Neubildungen zulassen: Ein-, Zwei-, Dreiheit; daneben das In-
definitpronomen viel in Vielheit.
214 2 Wortbildung des Substantivs
2.3.2.8 Suffix -i
Derivationsmodelle mit dem Suffix -i zur Bildung von Personenbezeich-
nungen (Gruft > Grufti) sind derzeit hochproduktiv, v.a. in Substandard-
schichten, seltener werden Sachbezeichnungen wie Kuli, Brummi, Trabi/
Trabbi gebildet (zur Produktivität der -i-Derivation ausführlich Glück/Sauer
1997, 69 ff.). Das seit dem Ahd. nachweisbare Suffix (zur Geschichte Henzen
1965, 143 ff.) diente zunächst bevorzugt zur Bildung hypokoristischer
2.3 Suffixderivation 215
Ein Fachwort ist deverbales Feilicht ,Abfall beim Feilen, Feilspäne‘ (im
GWDS veraltet). Außerdem begegnen expressive Okkasionalismen wie Wort-
spülicht (A. Ehrenstein), Wurmicht (F. Nietzsche).
Die Modelle sind nur noch schwach produktiv, aber die lexikalisierten
Bildungen analysierbar.
Historisch liegt ahd. -ahi, mhd. -ach, -ech vor, das sich seit dem 16. Jh. mit
dem -i-Vokal auch anderer Suffixe (-in, -ig, -isch) und mit euphonischem -t
(wie Axt, Obst) durchgesetzt hat. Das heute homonyme Adjektivsuffix -icht
(nur noch in töricht) hat andere historische Ausgangsformen.
2.3.2.12 Suffix -s
Über die Produktivität der Modelle mit -s lassen sich nur schwer Aussagen
machen, doch ist es mit Blick auf die Verbreitung in einzelnen Dialektge-
bieten (vgl. z. B. Werner 1963/64) und die semantische Durchschaubarkeit
lexikalisierter Wortbildungen wohl nicht angebracht, den Modellen eine –
wenn auch im Standard nur schwach ausgeprägte – Produktivität gänzlich
abzusprechen. Ein Teil der Derivate ist allerdings deutlich umgangssprach-
lich markiert.
1) Es handelt sich in erster Linie um deverbale Maskulina. Substantive wie
Klecks und Taps neben den Verben klecken – klecksen und tappen – tapsen
sind entweder als Konversionen von dem durch -s- suffigierten Verb (nur so,
wo das Verb ohne -s- fehlt: fipsen ,mit Daumen und Zeigefinger schnippen‘
> Fips ,kleiner unscheinbarer Mensch‘, vgl. GWDS) oder als -s-Derivate von
dem -s-losen Verb zu erklären (z.T. anders interpretiert bei Simmler 1998,
508 f.). Beide Modelle sind produktiv.
Die Bildungen sind in der Regel Nomina Actionis oder Nomina Acti:
knacken > Knacks, knicken > Knicks, merken > Merks ,Gedächtnis‘ (nach
GWDS landschaftl., besonders ostmitteldt.), mucken > Mucks, klappen >
Klaps, piepen > Pieps, schnieben (landschaftliche Nebenform zu schnauben)
> Schniebs, mitteldt. schuppen ,(an)stoßen‘ > Schubs, mundartl. schwippen
,wippen, schwappen‘ (GWDS) > Schwips ,leichter Rausch‘, mitteldt. stuppen
,stoßen‘ > Stups, vgl. Stupsnase.
Die Verben sind vielfach Schallnachahmungen; in manchen Fällen kann
daher auch von einer Interjektion bzw. dem entsprechenden Substantiv
auszugehen sein: Plumps > plumpsen, Pup/Pups ,Blähung‘ > pup(s)en.
Vereinzelt ist die Personenbezeichnung Taps ,unbeholfener Mensch‘.
Semantische Weiterentwicklung zur Sachbezeichnung zeigen mitteldt.
kloppen ,klopfen‘ > Klops, niederdt. mopen ,den Mund aufreißen‘ > Mops,
schnappen > Schnaps.
2) Vereinzelte Derivate von substantivischer Basis sind Dings (in allen drei
Genera verwendbar) ,unbestimmte Person bzw. unbestimmter Gegen-
stand‘ und das Neutrum Zeugs, ugs. abwertend für Gegenstände und Ge-
schwätz (GWDS). Ähnlich wohl auch nicht kodifiziertes Schriebs zu Schrieb
(dies als ,Schreiben, Brief‘ nach GWDS ugs., oft abwertend) und Flaps ,un-
geschliffener junger Mensch‘, wohl zu niederdt. Flappe ,schiefer, verzerrter
Mund‘ (so GWDS).
2.3 Suffixderivation 221
Die sich mit der Bedeutung des Nomen Acti ergebende Beziehung zwi-
schen -ung-Derivat und Partizip II (die gute Übersetzung des Romans – der
Roman ist gut übersetzt) ermöglicht Synonymie zwischen -ung-Derivat und
departizipialem -heit-Derivat: Aufregung – Aufgeregtheit, Verstimmung –
Verstimmtheit. Diese Tendenz ist umso stärker, je mehr die als Basis der
-heit-Derivate dienenden Partizipien adjektivischen Charakter haben (des-
halb nicht: *Übersetztheit u. Ä.; vgl. Schäublin 1972, 49ff.). Hier bietet sich
auch ein Ausweg aus der starken Polysemie der -ung-Derivate.
Weitere Möglichkeiten der Differenzierung liegen in der substantivieren-
den Konversion infinitivischer Syntagmen: statt Auslieferung – das vollkom-
mene Ausgeliefertsein bzw. das Ausgeliefertwerden.
d. Nomina Acti: eine Sammlung von Briefmarken, verwertbare Erfindung,
Erfrischung, Lenkung ,Lenkvorrichtung‘, Kupplung u. v.a.
In Abhängigkeit von der Semantik des Basisverbs (insbesondere bei ver-
balen Ornativa) hat sich ein Modell der Bildung von Kollektiva entwickelt
(vgl. DWb 2, 181f., dort Hinweis auf Fachwortschätze): Bekleidung ,Ge-
samtheit der Kleidungsstücke‘, Dielung ,Gesamtheit der Dielen‘, ähnlich
Bebilderung, Bestuhlung, Bewölkung, Bezifferung ,Gesamtheit der Ziffern‘,
Schaltung, Täfelung, Takelung u. a.
Das -ung-Derivat tritt hier auch als verdeckte Personenbezeichnung auf,
meist ebenfalls als Kollektivum, z.T. aber auch auf Einzelpersonen bezogen,
vgl. Abteilung, Bedienung, Führung, Leitung, Regierung, Vereinigung, Vermitt-
lung, Vertretung, Begleitung. Ein Teil dieser Derivate hat eine lokale seman-
tische Komponente: Die Abteilung (,Stelle‘) ist heute geschlossen; vgl. auch
Ansiedlung ,Ort‘, Niederlassung, Wohnung, Mündung.
Angesichts der großen Zahl der polysemen Bildungen lässt sich u.E. nicht
von mehr oder weniger gelegentlichen Bezeichnungsübertragungen der fer-
tigen Derivate sprechen, sondern es liegen jeweils spezifische Bildungsmo-
delle der -ung-Derivation vor. In Fällen wie Kupplung und Täfelung ist der
Weg über eine Vorgangs- bzw. Handlungsbezeichnung zudem zweifelhaft.
2) Substantivische Basis begegnet in einem allenfalls noch schwach pro-
duktiven Modell als Kollektivum, vgl. Holzung, Satzung, Stallung, Waldung,
Wandung. Demotiviert ist Zeitung. Die Basis bilden ausschließlich Simplizia.
3) Adjektivische Basis – ein unproduktives Modell – ist in synchroner
Sicht anzusetzen bei Dickung, Niederung, vielleicht auch Wüstung (wüst statt
Wüste ?).
4) Nicht wenige -ung-Bildungen sind heute völlig demotiviert und die
Herstellung der Motivationsbeziehungen des Grundmorphems macht
Schwierigkeiten. Entweder ist das als Basis dienende Wort (meist ein Verb)
230 2 Wortbildung des Substantivs
im freien Gebrauch nicht mehr üblich oder es handelt sich um eine jüngere
Entlehnung. Vgl. Innung zu mhd. innen ,in einen Verband aufnehmen‘,
Losung ,Erkennungswort‘ zu mhd. lōzen ,ein Los ziehen‘, Schöpfung zu mhd.
schepfen ,(er)schaffen‘ (wozu Schöpfer, schöpferisch), Böschung zu aleman-
nisch Bosch ,Strauch‘, Dünung ,Seegang nach Sturm‘ zu niederdt. dūnen
,auf und nieder wogen‘ (vgl. Dudenband 7, 2007, 364, 494, 736, 107, 161).
ierendes -el („potenziert“) wie Buch > Büchel > Büchelchen, erscheint
schließlich auch in anderen Fällen: Blümelchen, Sächelchen (Goethe), Schlän-
gelchen (A. Seghers), Fenstervorhängelchen (M. W. Schulz), Schlägelchen
,leichter Schlaganfall‘, Löchel-, Wägelchen u. a. Dieses Modell ist für Mittel-
deutschland schon im 14./15. Jh. nachweisbar (Kluge 1925, 30).
-erchen (wie in Prösterchen) entstand in Anlehnung an
a. Fälle wie Äckerchen, Hämmerchen (-er = Basisauslaut);
b. Derivate von Pluralformen wie Dinger-, Kinderchen (Wörterchen bei Her-
der);
c. deverbale Derivate auf -er (Rülpserchen).
Damit ist die Möglichkeit diminuierender Derivation von verbaler Basis
geschaffen (Schmeckerchen, s.u.).
4) Zum meist hypokoristischen Suffix -i ¢ 2.3.2.8.
5) Die übrigen Diminutivsuffixe spielen – wie angedeutet – in der Stan-
dardsprache nur eine geringe Rolle; sie sind an bestimmte Lexeme gebun-
den.
So erscheint -el in Bündel, Büschel (Gras-, Haar-), Krümel, Ränzel (< Ran-
zen), Stadtsäckel (vereinzeltes Maskulinum; ebenso landschaftlich der Han-
sel); nur in Komposita z.B. Bänkelsänger (,der von einer Bank aus seine
Moritaten vortrug‘), Heinzelmännchen (zum Personennamen Heinz), Rös-
selsprung.
Okkasionell werden expressivitätssteigernd einzelne oberdeutsche Bil-
dungen auf -le in Publizistik und Belletristik verwendet: Heimat. Zuhause-
sein […] Häusle und Ländle (Sonntag 1989); usuell geworden sind Häusl-
bauer/Häuslebauer. Ländle verzeichnet Dudenband 1 (2009, 670) als
„landsch[aftliche] Bez[eichnung] für Baden-Württemberg od[er] Vorarl-
berg“.
Niederdeutschen Ursprungs ist -ke (vgl. Familiennamen wie Hartke), z. T.
diminuierend in Appellativa wie Steppke (¢ 2.3.4.4).
Von den Fremdsuffixen haben z.T. diminuierende Funktion (nur in Ver-
bindung mit Fremdwörtern, meist Feminina) -ine (Sonate – Sonatine, Viola
– Violine), -ette (Oper – Operette, Zigarre – Zigarette, Statue – Statuette),
vereinzelt -it (Meteor-it, Maskulinum). Die Basis von Bildungen auf -elle ist
im Deutschen synchron unanalysierbar, doch ist diminuierende Bedeutung
erkennbar in Fällen wie Novelle ,kleine Erzählung‘ (seit 1523), Bagatelle
,Kleinigkeit‘ (1688), Frikadelle ,kleiner Fleischkloß‘ (1692) u.a.
6) Wie bereits erwähnt, können substantivierende Diminutivsuffixe bis-
weilen auch an eine Basis anderer Wortart treten, vor allem an Adjektive:
Frühchen ,Frühgeborenes‘, Dumm(er)chen, Grauchen ,Esel‘, Bräunchen
2.3 Suffixderivation 235
,Mädchen mit braunem Haar‘ (Goethe), so ein Kleinchen (Th. Mann), Groß-
chen ,Großmutter‘ (regional in Hessen), vgl. auch den Märchentitel „Schnee-
weißchen und Rosenrot“ (niederdt. Schneewittchen); ferner über substanti-
viertes Adjektiv Alterchen, Dickerchen, mein Besterchen (M. W. Schulz).
Deverbale Diminutivbildung ermöglicht -erchen: Nickerchen (zu ein-
nicken ,einschlafen‘), Schmeckerchen ,Leckerbissen‘.
Substantiviertes Pronomen als Basis: Ichlein (Erben 1976a, 230).
7) Die Wortbildungsbedeutung der Diminutiva ist nicht nur ,Verkleine-
rung‘, sondern die Derivate (und zwar nicht nur Personenbezeichnungen
und sonstige Konkreta, sondern auch Abstrakta) erhalten in Verbindung
damit eine emotionale Konnotation, vgl. Städtchen gegenüber kleine Stadt,
Kleinstadt (Dressler/Barbaresi 1994). Unter diesem Gesichtspunkt sind auch
Rieslein und Zwerglein möglich (vgl. Plank 1981, 94). Die Konnotation kann
emotional-positiv (Mütterchen, Küsschen, Händchen, Kätzchen, ein Wein-
chen!) oder emotional-negativ, pejorativ sein: Muttersöhnchen (dazu Vater-
söhnchen, Th. Mann), Bürschchen, Freundchen, Jüngelchen, du Kavalierlein
(E. Strittmatter), sein persönliches Rühmlein (L. Feuchtwanger). Welcher Art
die ausgedrückte Konnotation in der Verwendung ist, hängt ganz wesentlich
vom Kontext ab (Wolf 1997, 395f.).
Die emotionale Konnotation behalten die Diminutiva auch bei adjekti-
vischer und verbaler Basis, nicht jedoch als Termini wie Elementarteilchen,
Blutkörperchen.
Hervorhebenswert ist die besondere Rolle des Diminutivsuffixes (in der
Regel -chen) bei Stoffbezeichnungen; es bewirkt hier eine Abgrenzung, Ver-
einzelung: Stäubchen ,Einzelteil von Staub‘, Lüftchen ,kleiner Luftzug‘, Zu-
ckerchen ,kleines Stück Zucker‘. Sie werden damit auch pluralfähig. In Hölz-
chen ,kleines Stück Holz‘, Gläschen ,kleines Trinkgefäß aus Glas‘ hat bereits
die polyseme Basis entsprechende Bedeutung.
Wie die meisten Diminutiva auf -el (s.o.) ist auch ein Teil derjenigen auf
-chen und -lein demotiviert: Veilchen und andere Pflanzenbezeichnungen,
Eichhörnchen, Frettchen und andere Tierbezeichnungen, Ohrläppchen, Kaf-
feekränzchen, Ständchen, Flittchen ,leichtlebiges Mädchen‘, Zipperlein (zu
mhd. zipfen ,trippeln‘) ,Gicht‘, Tötlein ,Totgeburt‘ (M. W. Schulz), Tödlein
(G. Keller), schon mittelniederdt. dödeken.
Nicht selten bilden Diminutiva eine stabile Komponente von Phrasemen;
-chen und -lein sind dann nicht austauschbar: aus dem Häuschen sein, sich ins
Fäustchen lachen, jmdm. ein Schnippchen schlagen.
236 2 Wortbildung des Substantivs
2.3.2.22 Movierung
2.3.3.1 Feminina
9) -ie (lat. -ia, französ. -ie) bildet mit exogenen Basen Kollektiva (Aristo-
kratie, Bourgeoisie, Bürokratie), Bezeichnungen für Wissenschaftszweige
(Ökonomie, Philosophie) und für Regierungs- bzw. Staatsformen (Demokra-
tie, Monarchie). In Bezeichnungen mit -log- (Geolog-, Philolog-) ist von einer
Konfixkombination auszugehen, von der die Personenbezeichnung mit -e,
die Wissenschaftsbezeichnung mit -ie und das entsprechende Adjektiv auf
-isch gebildet werden. – Nebeneinander stehen auch auf ein Konfix zu be-
ziehendes Substantiv auf -ie und Adjektiv auf -isch in Bildungen wie Apathie
– apathisch, Ironie, Hierarchie, Dynastie, Empirie u.a.; ohne Adjektiv neben
sich, aber mit Verb: (Müll-)Deponie, deponieren.
Zur Bildung von Personenbezeichnungen zu Substantiven auf -ie Fuhr-
hop 1998, 124 ff.
10) -iere (französ. -ière): Die Bildungen lassen sich semantisch nicht zu-
sammenfassen. Motiviert sind Garderobiere durch Garderobe, Sauciere
durch Sauce; die übrigen Bildungen sind unanalysierbar. Portiere lässt sich
nicht auf Portier, Premiere (frz. premier ,erster‘) nicht auf Premier(minister)
beziehen.
11) -ik (griech.-lat. -ica, französ. -ique): Derivate von abstrakten Substan-
tivstämmen bzw. Konfixen sind Kollektiva: Motivik, Symbolik; z.T. mit
besonderen Derivationsstammformen: Gestik, Methodik, Rhythmik, Meta-
phorik; Problematik Programmatik, Thematik, Dramatik; zu Personenbe-
zeichnungen auf -ist: Germanistik, Publizistik, Realistik (konkurriert mit Re-
alismus). – Nebeneinander stehen, auf ein Konfix zu beziehen, Substantiv
auf -ik und Adjektiv auf -isch: Drastik – drastisch, Logik, Politik, Hektik,
Polemik, Spezifik, Kritik, Komik (vgl. DWb 2, 271ff.; Plank 1981, 217).
12) -ion (lat. -iō)/-tion/-ation bildet vorwiegend Verbalsubstantive zu
Verben auf -ieren; die Basis verfügt nicht selten über zwei Derivations-
stammformen: Explos ion – explod ieren, ferner Kollision, Division, Dekla-
mation, Delegation, Demonstration, Gestikulation, Variation, Kombination,
Konzentration.
Einige Wortbildungen sind den genannten Beispielen mit Beziehung auf
eine Verbalbasis anzuschließen, doch steht daneben auch noch ein Substan-
tiv oder Adjektiv: produzieren – Produktion – Produkt, abstrahieren – Ab-
straktion – abstrakt.
Die Überschneidung von -ion/-tion/-ation mit -ung (¢ 2.3.2.18[1.3]) – as-
similieren – Assimilation – Assimilierung – ist nur partiell; es gibt Verben auf
-ieren ohne Derivat auf -ion (nuancieren, plombieren u. a.), andererseits
solche ohne Derivat auf -ierung (vorwiegend intransitive Verben wie appel-
lieren, desertieren), und schließlich steht nicht neben allen Substantiven auf
2.3 Suffixderivation 243
-ion ein Verb auf -ieren (z. B. Resolution, Translation). Derivate auf -ion zu
Verben auf -ieren fehlen vor allem dann, wenn eine andere Ableitung ge-
bräuchlich ist: assistieren – Assistenz, bombardieren – Bombardement, kolpor-
tieren – Kolportage.
Mit den semantischen Unterschieden von -ion und -ung hängen syntak-
tische zusammen: Präzision des Ausdrucks (Genitivus subjectivus als Attri-
but) – aber Präzisierung der Aufgabe (die Aufgabe präzisieren – Genitivus
objectivus als Attribut); vgl. dazu Schäublin 1972, 81 f.
Eine Sondergruppe stellen -ion-Bildungen dar, die sich synchron nicht
auf ein Verb zurückführen lassen, ihrerseits aber zur Basis für Verben auf
-ieren (mit weiterer Derivation auf -ierung) geworden sind: Fusion – fusi-
onieren – Fusionierung, weiter Revolution, Subvention u. a.
Desubstantivische Derivate (selten) bezeichnen Vorgänge (Exkursion, Se-
kretion), z.T. einen höheren Grad der Abstraktheit als die Basis: Institut –
Institution.
Deadjektivische Derivate bezeichnen Eigenschaften bzw. Zustände von
Menschen: diskret – Diskretion, Desparation, Devotion; sie konkurrieren mit
Derivaten auf -heit ähnlich wie die Derivate auf -esse, vgl. Diskretheit. Die
Reihe ist nur schwach ausgebaut.
13) -ität (lat. -itās, -itātis, französ. -ité) ist nach -ion und -ie am stärksten
an der Bildung femininer Substantive beteiligt (zur Entwicklung der Lautge-
stalt von -teit über -tet zu -tät vgl. Öhmann 1967). Deadjektivische Wortbil-
dungen, meist Bezeichnungen von Eigenschaften und Zuständen, bilden die
größte Gruppe; bevorzugt werden (zum Folgenden DWb 2, 275f.) Adjektive
auf -abel/-ibel (Respektabilität, Disponibilität), auf -al und -il (Banalität,
Stabilität), -ell (aber mit Ersatz von -ell durch -al: individuell – Individualität,
ferner Aktualität, Provinzialität, Sexualität; ¢3.3.3[5]), -os (Burschikosität,
Grandiosität), -iv (Naivität, Objektivität); Basen anderer Lautstruktur haben
Absurdität, Humanität, Frivolität, Solidität. Basisvariation zeigen u.a. antik
> Antiquität, integer > Integrität, nervös > Nervosität, porös > Porosität (re-
gelmäßiger Wechsel von -ös zu -os bei Derivaten auf -ität). Konfixbasis
haben Substantive auf -izität (vgl. lat. simplicitas), dazu Adjektive auf -isch
Authentizität – authentisch, Elastizität – elastisch; Elektrizität – elektrisch;
Klassizität – klassizistisch und wenige andere.
Eine Wortbildungsreihe von Sachbezeichnungen ist etwas schwächer aus-
gebildet: Extremität, Lokalität, Rarität, Spezialität u.a.
Desubstantivische Bildungen bleiben vereinzelt: Moralität, Quantität (zu
Quantum).
Zu -ität mit indigener Basis ¢ 1.9.3.2.2.
244 2 Wortbildung des Substantivs
Das Suffix -ität konkurriert mit -heit/-keit/-igkeit, allerdings selten bei der
gleichen Basis (Absurdität, -heit, Naivität, -heit), andererseits mit entspre-
chender Fremdbasis gegenüber indigener Basis von -heit (Illegalität – Unge-
setzlichkeit, Stabilität – Festigkeit, Effektivität – Wirksamkeit). Wie beim Ne-
beneinander von -ion und -ung ist auch hier zu bemerken, dass die Distri-
bution des exogenen Suffixes stärker eingeschränkt ist als die des indigenen.
Die Form -tät ohne -i- findet sich fast ausschließlich in Bildungen, die im
Deutschen unanalysierbar sind: Fakultät, Majestät, Pietät, Pubertät.
14) -itis (griech. Adjektivsuffix zur Bezeichnung der Zugehörigkeit) bildet
medizinische Termini mit den Merkmalen ,krankhaft‘, ,entzündlich‘,
,akut‘ (Nortmeyer 1987, 395), vgl. Bronchie ,gegabelter Teil der Luftröhre in
der Lunge‘ – Bronchitis. In nichtterminologischer Verwendung bedeuten
-itis-Derivate ,etwas, was als zu oft, zu viel benutzt, getan angesehen wird‘
(GWDS), vgl. ugs. scherzhaft Telefonitis, Rederitis ,Sucht, dauernd zu tele-
fonieren, zu reden‘; zu Weiterem, insbesondere zur steigenden Produktiviät
des Modells vgl. DWb 2, 241; Feine 2003; Müller 2005, 35 f.
15) -ose (griech. -iōsis) bildet ebenfalls medizinische Termini als Krank-
heitsbezeichnung, im Unterschied zu -itis aber mit den Merkmalen ,dege-
nerativ, chronisch‘ bzw. ,Vergiftung‘ (vgl. Nortmeyer 1987, 394). Die Bil-
dungen sind teilweise weiter verbreitet; vgl. desubstantivisch: Furunkel –
Furunkulose, Tuberkel – Tuberkulose; Psyche – Psychose. Auf eine Konfixbasis
sind Verb und Substantiv zu beziehen in: Diagnose – diagnostizieren, Hypnose
– hypnotisieren. Von nicht dem medizinischen Sachbereich zugehörigen Bil-
dungen ist geläufiger Zellulose, daneben Zellstoff.
16) -ur (lat. ūra), -üre (französ. -ure), z.T. mit Allomorph -atur, bildet
Verbalsubstantive, vielfach zur Sachbezeichnung weiterentwickelt: broschie-
ren – Broschur, Broschüre; frisieren – Frisur, ferner Glasur, Lasur, Reparatur.
Desubstantivische Wortbildungen sind z.T. Kollektiva (Klaviatur, Line-
atur, Muskulatur, Tabulatur, Tastatur), z.T. zeigen sie eine breitere seman-
tische Fächerung: Agentur, Architektur, Kommandantur, Literatur.
2.3.3.2 Maskulina
2.3.3.5 Neutra
Suffixe, die ausschließlich Neutra bilden, sind außerordentlich selten. Wir
nennen die folgenden.
1) -ament (lat. -mentum) mit der Lautform [ment] wie in Fundament bzw.
-ement (französ. -ment) mit der Lautform [mã:] wie in Bombardement.
Beide Varianten bilden Verbalsubstantive zu Verben auf -ieren. Die erste
Variante ist seltener, die Derivate haben sich zur Sachbezeichnung entwi-
ckelt: Fundament < fundieren), Postament, Traktament. Die – häufigeren –
mit der zweiten Variante gebildeten Derivate sind teilweise Nomina Actio-
nis, teilweise beziehen sie sich mit auf das Ergebnis der Handlung: Abonne-
ment < abonnieren, Avancement, Arrangement, Bombardement, Engagement,
Räsonnement. – Raffinement ist durch die adjektivische Partizipialform raf-
finiert motiviert, die sich semantisch vom Verb raffinieren gelöst hat.
2) -arium (lat.) bildet desubstantivische Nomina Loci, vorwiegend für
künstlich geschaffene Anlagen: Delphinarium, Insektarium (auch Insekten-
garten), Planetarium, Rosarium, Troparium (Warmhaus für Tropenpflan-
zen).
3) -ing kommt zunehmend mit englischen Wörtern ins Deutsche, die all-
mählich einzelne analysierbare Wortfamilien konstituieren: Camping –
Camp – Camper – campen, Leasing – leasen, Shopping – shoppen – Shop,
Trekking/Trecking zu Treck, trekken/trecken. An indigenen Basen ist -ing im
Standard noch selten (Mieting), in Substandardschichten dagegen wird es
für scherzhafte Bildungen (Nomina Actionis) relativ unrestringiert verwen-
det (kitchen hin und her laufing; Titel eines Amateurvideos, Internet 2010;
¢ 2.3.2.10).
2.3 Suffixderivation 249
slawischen Ortsnamen stammenden Elemente -in, -itz und -ow; sie finden
sich auch in sekundären (detoponymischen) Personennamen. Entspre-
chend der fremdsprachlichen Herkunft dieser Elemente lässt sich die Basis
nur in einem Teil der Fälle mit einem deutschen Appellativum oder Perso-
nennamen in Verbindung bringen (unabhängig davon, wie die heutigen
Formen historisch entstanden sind): Albertitz, Bahnitz, Bornitz, in der mit
-w- erweiterten Form: Bellwitz, Bockwitz, Kalkwitz, Ihlewitz; zu -ow, Laut-
form [o:]: Bornow, Lindow, Ihlow.
Eine umfangreiche Liste mit „Bezeichnungen für Länder und ihre Einwohner“ mit den
dazugehörigen Adjektiven hat Fuhrhop (1998, 233ff.) zusammengestellt (Karelien –
Karelier – karelisch; Sizilien – Sizilianer – sizilianisch).
Das Element -en begegnet nur noch selten. Es wird als Flexionssuffix im
appellativischen Wortschatz stark beansprucht, auch in der Verbalflexion,
dient als Derivationssuffix der Stoffadjektive und ist deshalb meist durch das
weniger belastete und eindeutigere -ien ersetzt worden. Man vgl. etwa noch
Norwegen, Polen, Schweden, Jemen, Libyen; ferner Hessen, Sachsen, Preußen.
Hierbei wird deutlich, dass es sich ursprünglich um die Bezeichnung der
Stämme handelte, die auf deren Territorium übertragen wurde.
2.3 Suffixderivation 253
Es kann nicht Aufgabe dieser Darstellung sein, auf die unproduktiven Suf-
fixe in aller Ausführlichkeit einzugehen. Doch entsprechend dem unter 1.1.3
und 1.7.1 Gesagten können sie nicht völlig ausgeschlossen werden. Wir
werden die Problematik am Suffix -t näher erörtern und danach einige
weitere Wortbildungsmodelle kurz skizzieren.
1) Paare wie fahren – Fahrt, nähen – Naht lassen den Motivationszusam-
menhang zwischen verbaler Basis und Verbalsubstantiv formal und seman-
tisch deutlich erkennen. Weniger deutlich, aber doch nachvollziehbar ist er
in tragen – Tracht, schlagen – Schlacht, fliehen – Flucht, ziehen – Zucht, schrei-
ben – Schrift, treiben – Trift und wohl auch in sehen – Sicht. Die formal gering
differenzierten Basen von Verb und Substantiv sind Stammvarianten. Die
Variante mit auslautendem Reibelaut tritt nur in Verbindung mit dem Sub-
stantivsuffix -t auf. Wortbildungen wie Abfahrt, Einsicht sind also deverbale
Derivate komplexer Verben, keine Komposita.
In Paaren wie pflegen – Pflicht, biegen – Bucht, drehen – Draht ist der
semantische Zusammenhang verdunkelt, sodass auf synchroner Ebene die
Substantive nicht mehr auf die Verben bezogen werden können, sondern als
Simplizia zu betrachten sind. Grenzfälle dürften vorliegen in graben – Gruft,
siechen – Sucht; doch liegt u.E. ihre Auffassung als Simplex näher.
Etwas anders sind die nicht seltenen Bildungen mit -kunft zu beurteilen,
vgl. An-, Ein-, Unter-, Zukunft. Sie lassen einen deutlichen semantischen
Zusammenhang mit den Partikelverben ankommen usw. erkennen, vgl. die
okkasionelle Kontamination Vergegenkunft („eine vierte Zeit“, G. Grass), die
durchaus verständlich ist. Im Unterschied zu -sicht, -sucht usw. existiert
-kunft nicht als freies Substantiv, jedenfalls nicht im allgemeinen Gebrauch.
Die Wortbildungen sind also wie das Modell abschreiben > Abschrif t zu
erklären: ankommen > ankunf t, wobei ankunf eine Variante von ankomm in
Verbindung mit -t darstellt. – In einigen Fällen stehen daneben deutlicher
motivierte Derivate mit -ung, teilweise semantisch differenziert: Abschrift –
Abschreibung, Vorsicht – Vorsehung.
2.4 Präfixderivation 255
2) Prinzipiell auf gleiche Weise sind die Wortbildungen auf -de zu behan-
deln (zur Geschichte vgl. Wilmanns 1899, 339ff.). Allerdings ist ihre Zahl
heute kleiner, und sie sind auch weniger frequentiert. Motivationsbeziehung
zu einem Verb ist noch erkennbar in sich beschweren – Beschwerde, sich
freuen – Freude, zieren – Zierde, ferner bei einigen Zirkumfixen mit ge-…-e
(¢ 2.5). Isoliert sind dagegen Fehde (mhd. vēhen ,feindlich behandeln‘), Be-
hörde (mhd. behœren ,zugehören, zukommen‘) u.a. Teilweise konkurrieren
Wörter ohne -de wie Zier/de, Neugier/de, Begier/de (so nicht selten schon
mhd.: Wilmanns 1899, § 260 Anm. 1).
Mit adjektivischer Basis waren die -de-Derivate besonders zahlreich
(mhd. ermede ,Armut‘, dünnede ,Dünnheit‘); davon sind heute nur mund-
artliche Wortbildungen wie Dickde ,Dicke‘, Längde, Wärmde erhalten.
3) Repräsentanten weiterer, heute unproduktiver Wortbildungsmodelle
im nhd. Wortschatz sind u.a.: arm – Armut, Heim – Heimat, Zierrat (ahd.
-ōti), freien – Freite ,Brautschau‘, vorwiegend im Phrasem auf die Freite
gehen (vgl. Wilmanns 1899, 348), blühen – Blüte, jagen – Jagd, mähen – Mahd.
2.4 Präfixderivation
2.4.1 Grundsätzliches
Es bedeutet ,von Grund auf in Bezug auf das in der Basis Genannte; das
Genannte ganz und gar verkörpernd‘ (Dudenband 10, 2002, 343) und wirkt
emotional verstärkend (Erzmusikant, Erzrivale).
Die Basissubstantive sind hauptsächlich entweder pejorative Personen-
bezeichnungen (Erzbösewicht, -feind, -gauner, -halunke, -lügner, -lump,
-schurke, -spitzbube) oder Bezeichnungen für Personen nach ihrer religiösen
oder politischen Überzeugung (Erzdemokrat, -faschist, -kapitalist, -katholik,
-kommunist, -protestant). Okkasionelle Bildungen kommen vor, bleiben
allerdings selten: rechte Erzlustigmacher (J. J. Bodmer), Erz-Ästheten
(Th. Mann), Erz-Gegner, Erz-Islamist, Erz-Konkurrent, Erz-Mime, Erz-Non-
konformist (alle PDW 2005; in nicht regelgerechter Bindestrichschreibung
belegt).
Unproduktiv ist das Präfix heute in der ursprünglichen Bedeutung mit
Wörtern wie Erzkanzler, -herzog u. Ä.
In Verbindung mit Sachbezeichnungen tritt das Präfix nicht auf; mit Ab-
strakta nur vereinzelt: Erzdummheit, -feindschaft, -übel.
Zu gelegentlicher Konkurrenz mit ur- ¢ 2.4.2.6.
hebt das Wesentliche hervor, das einer Sache „zugrunde“ liegt (daher pa-
raphrasierbar durch Syntagmen mit zugrunde liegend, grundsätzlich), haupt-
hebt hervor, was als wichtig angesehen wird (daher paraphrasierbar durch
Syntagmen mit hauptsächlich). So kommt es zu semantischen Differenzen:
Grundbegriff – Hauptbegriff, Grundkenntnisse – Hauptkenntnisse.
In Ansätzen konkurrieren noch andere kompositionelle Erstglieder, z.B.
Kern- (Kern-, Haupt-, Grundproblem), Schwerpunkt- (Haupt-, Schwerpunkt-
aufgabe).
Nahe stehen sich un- und miss- in Un-, Missmut, Un-, Missbehagen, Un-,
Missetat; Fehl-/Missgriff; antonymisch z.T. Wohl- (¢ 2.6.2.3.1).
Das Präfix wird mit simplizischem (Unart, -dank, -fall) oder komplexem
Substantiv (Untiefe, -dichte) sowie mit Präfixbildungen (Unursprünglichkeit)
verbunden. Die nicht seltenen Wortbildungen Unabhängigkeit, Unbeschei-
denheit, Unsicherheit u.Ä. können als Präfixbildung mit Substantiv als Basis
(Un abhängigkeit) oder als -heit/-keit-Derivat mit Adjektiv als Basis (Unab-
hängig keit) aufgefasst werden. Zahlreiche un-Substantive lassen sich nur als
Derivate mit dem Suffix -keit interpretieren: Unbändigkeit, -begreiflichkeit,
-nahbarkeit, -wirtlichkeit u. a.
Die Wortbildungsbedeutung zeigt auch hier – wie bei miss- – eine Ver-
flechtung von Negation und Wertungsumkehrung, vgl. z.B. „Da ich zwar
kein Widerkrist, kein Unkrist, aber doch ein dezidierter Nichtkrist bin …“
(Goethe an Lavater, zit. nach Weiß 1960, 336f.). Daher tendiert un- zur
Verbindung mit Substantiven, die sich auf positiv bewertete Begriffe bezie-
hen, deren Negation zugleich negative Wertung impliziert: Unaufrichtigkeit,
-anständigkeit, -geduld, -gehorsam, -ordnung, -ruhe u.v.a. Die umgekehrten
Fälle, Verbindung mit Wörtern für negativ bewertete Begriffe, ist viel selte-
ner: Unschuld, -missverständlichkeit; Letzteres allerdings auch als Suffixde-
rivat interpretierbar.
In einigen Fällen unterscheiden sich negierende un-Bildungen grammatisch von ihren
Basen, und zwar hinsichtlich des Zulassens von Komplementen: Dank für die Hilfe –
*Undank für die Hilfe; Lust zu einem Ausflug – *Unlust zu einem Ausflug; vgl. hierzu
detailliert Lenz 1995, 80 ff.
,wenn das nicht der Fall ist‘, Meusebach an J. Grimm), Unkraut, Unsitte,
Untempus (Bezeichnung für das deutsche Präsens), Untier, Unwetter,
Unwort, zur Unzeit; „das Unbild dieser unausführbaren Gefräßigkeit“
(Th. Mann); hierher auch schweizerdeutsche abwertende Wortbildungen
wie Unkuh, -schaf. Zu den Motivationsbeziehungen in Wortbildungen wie
Unstern zu Stern ,glücklicher Zufall, Umstand‘, Unmensch zu Mensch ,be-
stimmte moralische Normen beachtende Person‘ vgl. Schnerrer (1982, 49).
Abgesehen von den genannten Unmensch sowie Unperson (nach engl.
unperson), werden Personenbezeichnungen selten durch un- präfigiert; vgl.
etwa noch: „Scher dich in die Küche, Unweib…“ (H. Baierl); Helden und
Unhelden (E. Strittmatter); Unsportler (PDW 2006), Unfrau, Untochter
(belegt bei Lenz 1995, 18 f.) Eine scheinbare Ausnahme machen zahlreiche
substantivierte Adjektive bzw. Partizipien: der Untätige, Unwissende, Unbe-
kannte. Hier sind jedoch in der Regel eher Konversionen adjektivischer bzw.
partizipialer Präfixbildungen anzunehmen (untätig > ein Untätiger).
In der Verflechtung von Negation und Wertungsumkehrung kann Letz-
tere auch zurücktreten, sodass zwischen Nicht- und un- kaum noch ein
Unterschied besteht. Das ist besonders in Texten der Wissenschaft der Fall,
vgl. z.B. Unparallelität – Nichtparallelität, Unschuld – Nichtschuld (Rechts-
sprache); ferner: bei der Nichterkennbarkeit und Unveränderbarkeit der Welt
(Weltbühne 1981). Dennoch bleibt die Konkurrenz selten.
In einer weiteren Wortbildungsreihe ist die Negation bei Zahlbegriffen als
,nicht bis zu Ende zählbar, nicht überschaubar‘ aufzufassen, woraus sich un-
bei Mengenbezeichnungen als Verstärkungs-, Steigerungspräfix entwickelt
hat: Unmasse ,ungeheuer große Masse‘, Unmenge, -summe, -zahl. Auch Un-
kosten als ,unvorhergesehene, neben den normalen Ausgaben entstehende
Kosten, zusätzlich‘ (vgl. auch älteres Ungeld ,Abgabe‘) ließen sich hierher-
stellen und die Doppeldeutigkeit von Untiefe, eigentlich ,nicht tiefe Stelle‘,
aber schon seit dem 18. Jh. auch als ,besonders tiefe Stelle‘ aufgefasst, rührt
hierher.
In einer Reihe von Un-Präfigierungen kommt die Basis als freies Simplex
nicht mehr vor (vgl. Schnerrer 1982, 49; Lenz 1995, 97 ff.; ¢ 1.6.5): Unflat
(mhd. vlāt ,Zierlichkeit, Schönheit‘); Ungeziefer (ahd. zebar ,Opfertier‘); z.T.
sind es unikale Komponenten von Phrasemen (mit Fug und Recht, dazu
Unfug).
1) Die Negationspräfixe sind bei den Adjektiven stärker entwickelt als bei
den Substantiven. Hier begegnen selten a-, vor Vokalen an- (Analphabet),
ferner in- (Invariante), bisweilen auch in einer durch Assimilation an den
folgenden Konsonanten entstandenen Variante (Illegalität, Irregularität, hier
2.4 Präfixderivation 263
Rothstein (2009, 455) fasst ex-, alt-, noch- und jetzt- als „Wortbildungselemente mit
zeitlicher Bedeutung“ zusammen, die Basissubstantive temporal modifizieren, vgl.
unser Ex-Rentenstaatssekretär, Ex-IWF-Direktor und Jetzt-Bundespräsident (PDW 2006).
4) Das Präfix ko- (kon-, kol-, auch co-, lat. ,zusammen mit‘) entspricht
indigenem bei- oder mit-, vorwiegend bei Personenbezeichnungen wie Ko-
pilot/Copilot, Kollaborateur, Koregisseur, Kovorsitzender, Koautor. Ist die
Basis keine Personenbezeichnung, sind im Allgemeinen andere indigene
Entsprechungen üblich: Koexistenz ,(friedliches) Nebeneinanderleben‘, Ko-
edukation ,Gemeinschaftserziehung‘; Kontext ,Textzusammenhang‘, Koope-
ration ,Zusammenarbeit‘. Indigene Basen haben stattdessen bevorzugt mit-:
Miterbe, -häftling, -mensch (aber gelegentlich auch mit- an Fremdbasis: Mit-
autor). Okkasionell finden sich zahlreiche Belege für Wortbildungen mit co-
an indigener bzw. „gemischter“ Basis: Co-Besetzung, -Verwaltung, Co-Bun-
destrainer, Co-Aufsichtsratschef (PDW 2006); meist mit Bindestrich.
5) Das Präfix prä- (lat. ,vor‘) ist in analysierbaren Wortbildungen des All-
gemeinwortschatzes nur gering vertreten; es handelt sich meist um einzelne
2.4 Präfixderivation 265
1) Das Präfix mhd. aber- ,wieder, entgegen‘ (vgl. Wilmanns 1899, 575)
entwickelte die Bedeutung der Verstärkung, nhd. noch in Aberhundert(e),
-tausend(e), sowie die Bedeutung des Verkehrten, Falschen, nhd. noch in
Aberglaube, -witz ,Unsinnigkeit‘.
2) Das Präfix after-, homonym mit dem Substantiv der After und auch
etymologisch identisch damit, ist nhd. vertreten in analysierbaren Wortbil-
dungen wie Afterglaube ,Irrglaube‘, -lehre, -rede, -weisheit, vom GWDS als
veraltend kodifiziert, jedoch – im Unterschied zu den obengenannten Wort-
bildungen mit aber- – im Sprachgebrauch nicht mehr lebendig. Das ältere
Neuhochdeutsche kennt eine weit größere Zahl entsprechender Bildungen
(vgl. Kluge 1925, § 74); sie sind wegen des störenden semantischen Einflus-
ses von After durch andere ersetzt worden.
266 2 Wortbildung des Substantivs
2.5 Zirkumfixderivation
Die Zirkumfixderivation (¢ 1.8.1.2) ist im Bereich des Substantivs auf Kom-
binationen von ge-…-e mit verbaler Basis beschränkt (anders beim Verb;
¢ 5.4.6): fragen – Ge frag e, singen – Ge sing e, wobei das -e entfallen kann
(außer nach stimmhaftem Obstruenten im Basisauslaut; vgl. Olsen 1991,
349): quasseln – Ge quassel, stöbern – Ge stöber. Es fehlt meist bei Verben auf
-eln und -ern, kann aber stehen (Ge murmel e, Ge plauder e). Gebildet
werden Substantive mit neutralem Genus.
Als Basis dienen transitive und intransitive Verben; es scheiden aus: re-
flexive Verben (*Geschäme), Präfixverben (*Gebesuche), Verben mit dem
Suffix -ier(en) (*Gestudiere) und standardsprachlich auch modale Hilfsver-
ben (*Gekönne). Dagegen sind Bildungen mit Partikelverben als Basis nicht
eingeschränkt; ge- tritt dann allerdings zwischen Verbpartikel und Verb-
stamm: das Abgelese, Vorgesage, Fortgerenne, Hinausgelaufe.
Das Modell ist produktiv, und zwar mit der vollen Zirkumfixform (ohne
Apokope), auch mit entlehnten Verben als Basis: Gemaile, Gesurfe. Die be-
vorzugte Derivationsstammform ist der Infinitivstamm, in einigen Fällen
mit Umlaut (Gebläse); bei starken Verben tritt mehrfach der Präterital-
stamm auf, vgl. Gebot, Gelage, Geschoss, Getriebe. Zu phonologischen, mor-
phologischen, semantischen und stilistischen Bildungsrestriktionen vgl.
Olsen 1991, 353.
Es haben sich mehrere Wortbildungsreihen entwickelt. Dominierend ist
die Wortbildungsbedeutung Nomen Actionis („Vorgangskollektiva“, Erben
2006, 51): Gebrüll, Geheul, Geplapper, Gequassel, Gezänk; Geklopfe, Gepfeife,
Geprahle, Gesinge. Verbunden damit ist eine pejorative Konnotation, der
Ausdruck des Überdrüssigen, Lästigen, hervorgerufen „durch das Iterativ-
moment der Grundbedeutung“ (Olsen 1991, 352). Auch wenn apokopierte
Zirkumfixderivate z.T. ebenfalls als abwertend gelten (vgl. z. B. Gelaber
,dauerndes Labern, törichtes Geschwätz‘; meist abw., GWDS), wobei die
Basisbedeutung hierfür eine wichtige Rolle spielt, tritt bei der Gegenüber-
stellung von apokopierter und nichtapokopierter Form die Konnotation der
Letzeren deutlich stärker in Erscheinung: Gebelle – Gebell, Geschreie – Ge-
schrei. In vielen Fällen ist allerdings jeweils nur eine Form üblich: Gefluche,
Gehüpfe, Gerenne; Gehör, Geschwätz; zur historischen Erklärung diese Phä-
nomens vgl. Olsen 1991, 347ff.
Als Nomen Acti zu bestimmen sind Gebet, Gedanke, Gemenge, Gemisch,
Gefüge.
In Abhängigkeit von der Semantik der Basis ergeben sich schließlich auch
Nomina Instrumenti: Gebläse, Gesuch, Getriebe, Gewürz.
2.6 Konversion 267
2.6 Konversion
Grundsätzlich zum Begriff und zu den Arten der Konversion ¢ 1.8.3.1. Wir
unterscheiden zwischen morphologischer und syntaktischer Konversion
und gliedern innerhalb dieser Konversionsarten weiter nach dem mor-
phosyntaktischen Status der Konversionsbasen.
vereinzelt neutralem oder femininem) Genus: fallen > der Fall, greifen > der
Griff. Der Konversion unterliegen
– starke simplizische Verben: Bruch, Fang, Flug, Halt, Rat, Schein, Schluss,
Schrei, Sitz, Steig, Streich, Stoß, Treff;
– starke Präfixverben: Befehl, Befund, Beginn, Behelf, Bescheid, Betrag, Entgelt
(Neutrum!), Entscheid, Entwurf, Erhalt, Erlass, Ertrag, Erwerb, Gedeih
(nur in: auf Gedeih und Verderb), Verbleib, Verbot, Vetrieb, Verderb, Verfall,
Vergleich, Verlass, Zerfall;
– starke Partikelverben: Abbruch, Ablass, Abstoß, Abwurf, Anlass, Anstoß,
Antrag, Aufstieg, Auftrag, Beitrag, Einlass, Unterlass, Vortrag, Rückfall,
-lauf, -stoß (zu rück- in Verben ¢ 5.3.2.2[2.3]), Auseinander-, Zusammenfall,
Zusammenprall, Reinfall (*Hereinfall), Einblick (*Hineinblick) u. a.;
– schwache simplizische Verben: Blick, Hauch, Knall, Rutsch, Schwatz,
Schwenk, Schwindel, Trott;
– schwache Präfixverben: Begehr, Belang, Beleg, Besuch, Erfolg, Erlös, Ver-
brauch, Verhör (Neutrum), Verkehr, Vermerk, Verputz, Versteck, Verzehr;
– schwache Partikelverben: Abkehr, Abzweig, Ausguck.
Insgesamt ist ein Übergewicht der starken Verben als Basis offensichtlich,
ebenso die große Zahl von ver- und danach be-Verben. Nicht selten fehlen
die Konversionsprodukte entsprechender Simplizia: Be-, Er-, Vertrag, aber
nicht *Trag, ebenso wenig *Scheid, *Treib usw.; dafür z. T. Derivate auf -e,
-ung. Manche Konversionen sind nur in Komposita gebräuchlich: Sachver-
halt (Verhalt nach GWDS veraltet), Augenmerk (Neutrum), Pflanzenbezeich-
nungen wie Bein-, Steinbrech, Beinwell (vgl. GWDS).
Die Konversionsrichtung im Fall der Verbstammkonversion festzustellen
ist schwierig und nicht immer eindeutig möglich. Ein Paar wie Ruf – rufen
kann sowohl als Konversion von Substantiv > Verb als auch von Verbstamm
> Substantiv verstanden werden. Die synchrone Interpretation muss in sol-
chen Fällen davon ausgehen, dass beide Modelle zugrunde liegen können. In
der Gegenwartssprache ist die Produktivität beider Modelle unterschiedlich:
Substantiv > Verb ist hochproduktiv, Verbstamm > Substantiv dagegen (im
Unterschied zu Infinitiv > Substantiv) nur schwach. Die Beobachtung, dass
die vorhandenen Substantive dieser Art eine hohe Textfrequenz haben
(DWb 2, 230), sagt nichts über die Produktivität aus.
Außerdem gibt es einige Kriterien, die es erlauben, die Feststellung der
Konversionsrichtung in einer Reihe von Fällen zu präzisieren (vgl. Mar-
chand 1964b; Olsen 1986a, 122f.).
1) Ein formales Kriterium ist das Vorhandensein von Präfixen, die auf
Verbmodelle beschränkt sind (be-, ent-, er-, ver-, zer-). Substantiven mit
einem derartigen Präfix muss also ein Verb zugrunde liegen.
2.6 Konversion 269
2) Ein semantisches Kriterium bietet der Vergleich der Lesarten von Verb
und Substantiv. Verben wie fischen und sägen sind semantisch durch die
Substantive Fisch und Säge motiviert: fischen heißt ,Fische fangen‘, aber um-
gekehrt ist das Hauptmerkmal von Fisch nicht, das man ihn fischt; Gleiches
gilt für sägen ,mit der Säge hantieren‘. Anders Schau und schauen: Die Be-
deutung von schauen lässt sich nicht durch das Substantiv Schau bestimmen,
denn schauen heißt nicht ,sich mit einer Schau beschäftigen‘; hier muss also
das Verb als motivierende Basis angesehen werden.
Damit im Zusammenhang stehen u. U. Unterschiede in der Anzahl der
Lesarten; eine größere Zahl von Lesarten entweder beim Verb oder beim
Substantiv spräche dann dafür, dies als motivierend aufzufassen.
3) Schließlich könnte die Gebrauchshäufigkeit ein Kriterium sein: das
häufigere Wort wäre die Konversionsbasis. Doch dürfte dies nicht leicht zu
ermitteln sein.
Wo die Kriterien nicht greifen, was durchaus einzuräumen ist, muss die
Entscheidung offenbleiben, wenngleich im Hinblick auf die gegenwärtig
stärkere Produktivität von Substantiv > Verb (s.o.) am ehesten von diesem
Modell auszugehen ist (¢ 5.5.2).
Die Wortbildungsbedeutung der Konversion zeigt eine breite semanti-
sche Fächerung von Nomina Actionis (Verlauf) über Nomina Acti (Befehl,
Ruf) zu konkreten Sach- (Vertrag, Verschlag) und Personenbezeichnungen
(Besuch); vgl. die ausführliche Darstellung bei den -ung-Derivaten
(¢ 2.3.2.18[1.3]). – Nicht selten sind die Derivate mehr oder weniger stark
demotiviert und auch stark polysem (Schneid, Steig, Verkehr, Zug).
Wie manche neuere der oben genannten Beispiele zeigen, ist das Modell
noch produktiv; vgl. die Benennung des Spiels Mensch ärgere dich nicht,
auch als Erstglied in Komposita: Mensch-ärgere-dich-nicht-Turnier. – Die
Verbform kann vielfach imperativisch erklärt werden (vgl. Schützeichel
1982, 108), z. T. aber auch als 1. Pers. Präs.: Schlagetot ,einer, der ständig
droht: Ich schlage tot!‘. – Zu Satznamen ohne Verbform ¢ 2.6.1.2.
gut das Gute der, die Gute das Gut – die Güte
hoch das Hohe der, die Hohe das Hoch – die Höhe
tief das Tiefe der, die Tiefe das Tief – die Tiefe
übel das Üble der, die Üble das Übel – –
dunkel das Dunkle der, die Dunkle das Dunkel – –
leid – – das Leid – –
stolz das Stolze der, die Stolze – der Stolz –
blass das Blasse der, die Blasse das Blass – die Blässe
laut das Laute der, die Laute – der Laut –
lieb das Liebe der, die Liebe – – die Liebe
gemein das Gemei- der, die Gemeine – – –
ne
jung das Junge der, die Junge – der Junge –
elend das Elende der, die Elende das Elend – –
blau das Blaue der, die Blaue das Blau – die Bläue
schwarz das Schwar- der, die Schwarze das Schwarz – die Schwär-
ze ze
deutsch das Deut- der, die Deutsche das Deutsch – –
sche
2.7 Kurzwortbildung 277
2.7 Kurzwortbildung
2.7.1 Kurzworttypen
Die Kurzworttypen unterscheiden sich sowohl nach Anzahl und Art der
beibehaltenen Segmente als auch nach deren Position in der Vollform. Die
Vollformen sind vielgliedrige, meist lexikalisierte Wortbildungen, aber auch
syntaktische Fügungen, selten ganze Sätze.
Entsprechend der Anzahl ihrer Segmente gibt es Kurzwörter, die entwe-
der aus mehreren Segmenten der Vollform bestehen – diese Kurzwörter sind
multisegmental (Kripo < Kriminalpolizei), oder die aus einem einzigen Seg-
ment der Vollform bestehen – diese Kurzwörter sind unisegmental (Krimi <
Kriminalroman/-film) (Bellmann 1977; Fleischer 2000, 894). Eine dritte
Gruppe bilden partielle Kurzwörter (Bellmann 1980, 372), die unter quan-
titativ-strukturellem Aspekt aus einem – nur in dieser Kombination – ge-
kürzten und einem unveränderten Teil der Vollform bestehen (H-Milch <
haltbare Milch, K-Frage < Kanzlerfrage).
278 2 Wortbildung des Substantivs
Schreibabkürzungen wie usw., dt. sowie genormte Kürzel wie m (Meter) oder l (Liter)
bleiben hier außer Betracht. Sie werden nur verkürzt geschrieben, aber in vollem Wort-
laut gesprochen, sie besitzen keinen Wortstatus (¢ 2.7.2). Einen Überblick über „Ab-
kürzungen“ gibt Römer (1996). In „Das Wörterbuch der Abkürzungen“ (Steinhauer
2005) sind Schreibabkürzungen inventarisiert, zusammen mit Kurz- und Kunstwör-
tern, Buchstaben-, Silben- und Mischkurzwörtern. Zur terminologischen Uneinheit-
lichkeit bezüglich Abkürzung, Akronym, Kurzform, Kurzwort vgl. Schröder 2005b,
207.
Kurzwörter mit fremdsprachlichen Vollformen sind meist schon als Kurzwort ent-
lehnt und werden nicht gesondert beschrieben (in Übereinstimmung mit Nübling/
Duke 2007, 228; ¢ 1.3.2), was aber nicht ausschließt, sie als Beispiele für die Beschrei-
bung der Kurzwortbildung mit heranzuziehen (vgl. Bellmann 1980, 369; Kobler-Trill
1994, 14; Greule 1996, 195), und zwar sowohl als Wörter (CD) wie auch als Konstitu-
enten in Wortbildungen (CD-Vertrieb); zu Kombinationen aus exogenen und indige-
nen Einheiten ¢ 1.9.1. Obligatorischer Bestandteil sind entlehnte Kurzwörter in Kor-
pora für Untersuchungen zum Kurzwortgebrauch in der Fachkommunikation, in der
sie in Wirtschaft, Medizin und Technik mehr als 30 % ausmachen (im Überblick vgl.
Steinhauer 2000, 259).
2.7.2 Wortstatus
Freiräume – obligatorisch ist lediglich das Plural-s bei Kurzwörtern, die auf
einen Vollvokal enden: die Zivis, die UFOs, die Jusos. Die Tendenz zur Fle-
xionslosigkeit zeigt sich im gebräuchlichen Einsparen des Genitiv-s: des Lkw
gegenüber des Lkws (Steinhauer 2005, 12; zu Plural und Genitiv Dudenband
4, 2009, 190 bzw. 205f.).
Die erschwerte Genuszuweisung, besonders für fremdsprachliche, aber
auch für deutsche Buchstabenkurzwörter, kann erleichtert sein, wenn einer
der Buchstaben – meistens der letzte – in seiner ungekürzten Form Zweit-
glied eines Kompositums ist: In dem Kompositum DM-Markt steht Markt
tautologisch für M aus dem Kurzwort DM (< Drogeriemarkt). Das Zweit-
glied sichert nicht nur das Genus, sondern schafft Verständnis für die Be-
deutung des Kurzwortes DM. Tautologien dieser Art (ARD-Anstalt, ABM-
Maßnahme, BMW Werke, Castor-Transport, DIN-Norm, HIV-Virus, ISDN-,
PIN-Nummer) sind auch Ausdruck der „ganzheitlichen Bedeutung“ der
Kurzwörter“ und fallen „eher Sprachkritikern als naiven Sprechern“ auf
(vgl. Weber 2002, 458; ¢ 2.2.3.4[1]). Nach Donalies (2008) sind „Zusam-
mensetzungen mit einem solchen Buchstabenwort und einem Wort, das
dem letzten Bestandteil dieses Buchstabenwortes entspricht“ durchaus ak-
zeptabel, nicht zuletzt aufgrund ihrer hohen Frequenz (für ABM-Maßnahme
gab es im Juli 2008 im IDS-Korpus 365 Belege), darunter auch in „stilistisch
hoch angesehenen Zeitungen“, und ihres Gebrauchs (HIV-Virus) durch
„Fachleute, die die Langform natürlich kennen“.
Phonetisch merkmalhaft ist für Kurzwörter aus und mit Initialen die
Aussprache (¢ 2.7.1), und zwar entweder in Buchstabierweise (Kfz, ADAC;
HNO-Arzt) oder phonetisch gebunden (TÜV, Bafög), auch kombiniert in
CD-ROM, vereinzelt schwankend wie in FAZ (gebunden eher „umgangs-
sprachlich“ – vgl. Kobler-Trill 2002a, 456; nur gebunden üblich taz < tages-
zeitung). In seltenen Fällen werden die Buchstabennamen ausgeschrieben,
z.B. Edeka (< Einkaufsgenossenschaften deutscher Kolonialwaren- und Le-
bensmitteleinzelhändler, früher E. d.K.; vgl. Debus 2009, 178). Vermutlich
spielt die Sprechbarkeit für die „Segmentierung der Vollform und die Aus-
wahl der Segmente […] eine wichtige Rolle“ (Greule 1996, 197).
Phonologisch merkmalhaft ist, dass nicht wenige Silben- (Kripo) und
silbenähnliche (Schiri) Kurzwörter sowie Anfangssegmente (Demo) auf
einen vollen Vokal enden und damit, vom Standard abweichend, am Wort-
ende weder eine geschlossene Silbe noch den reduzierten e-Vokal, das
Schwa, haben (vgl. Eroms 2002a, 28 f.). Voller Vokal im Auslaut ist auch
typisch für gekürzte weibliche Vornamen (Lisa, Laura) nach dem Bildungs-
muster kvkv, wohingegen männliche Vornamen (Alex, Max) eher dem
Schema (v)kvk folgen. Zur phonologisch gesteuerten trochäischen Struktur
282 2 Wortbildung des Substantivs
2.7.4 Wortschatzerweiterung
indem man diese per ,Kurzwort-Button‘ einfach ,anklickt‘ und sich gar nicht
mehr vergegenwärtigt, dass […] ver.di die Vereinigte Dienstleistungsge-
werkschaft ist. […] Man sieht, wie die Kurzwörter, kaum sind sie da, ein
Eigenleben gewinnen.“ Um dieses „Eigenleben“ für den Sprachbenutzer
nutzbar – oder zumindest durchschaubarer – zu machen, werden Kurz-
wörter in vielfältiger Weise lexikografisch inventarisiert, auch online
(¢ 2.7.4.2).
2.7.4.1 Kurzwort-Neubildungen
Die Wortschatzerweiterung durch Kurzwort-Neubildungen lässt sich an
Neuaufnahmen in Wörterbüchern ablesen, was im Folgenden geschieht.
Diese Neuaufnahmen schließen auch Kurzwort-Neubedeutungen ein.
Die Auswahl der Beispiele beschränkt sich auf Neuaufnahmen in der 21. Auflage des
Dudenbandes 1, 1996; dazu Barz/Neudeck 1997; in der Neubearbeitung des LWB 1998;
dazu Schröder 2005a; in den „Lexikalischen Innovationen“ des IDS-Projekts; dazu
Steffens 2009.
1) Appellativa im Allgemeinwortschatz:
AG < Aktiengesellschaft, AKW < Atomkraftwerk, Alg I < Arbeitslosengeld I, AU <
Abgasuntersuchung, BLZ < Bankleitzahl, DAX < Deutscher Aktienindex, FH < Fach-
hochschule, Fon < Telefon, ICE < Intercityexpress, KG < Kommanditgesellschaft, PLZ <
Postleitzahl, PS < Postskript, TH < Technische Hochschule, TU < Technische Universität,
VHS < Volkshochschule.
3) Fachwörter
Die meisten fachsprachlichen Kurzwörter sind Buchstabenkurzwörter. Ein
großer Teil geht auf fremdsprachliche Vollformen zurück (vgl. Steinhauer
2000, 257 f.):
ADS < Aufmerksamkeitsdefizitstörung, BSE < bovine spongiform enzephalopathy, DNS
< Desoxyribonukleinsäure, ISDN < Integrated Services Digital Network, KB < Kilobyte,
Makro < Makrobefehl, MB < Megabyte, PDA < Periduralanästhesie.
2.7.4.2 Inventarisierung
Die Inventarisierung von Wortbildungen ist sichtbarer Ausdruck ihrer wort-
schatzerweiternden Funktion. Das Besondere in der Inventarisierung von
Kurzwortbildungen ist, dass sie eigens in Spezialwörterbüchern und -ver-
zeichnissen erfasst werden, was für Wortbildungen anderer Wortbildungs-
arten nicht üblich ist. In den meisten Verzeichnissen sind sie mit Schreibab-
kürzungen gemischt.
2.7 Kurzwortbildung 287
Im Titel für die Berliner Lesebühne „LSD – Liebe Statt Drogen“ (LVZ 2009) ist das
geläufige Kurzwort LSD (< Lysergsäurediäthylamid ,ein Rauschgift‘) okkasionell zu
einem Homonym umgedeutet, wobei die usuelle Bedeutung von LSD assoziiert wird.
Wege, und zwar als Wort (PIN) oder auch als Bestandteil von komplexeren
Wortbildungen wie in Mobilteil-PIN, Telefon-PIN.
Ein wiederholter Wechsel zwischen Vollform und Kurzwort im weiteren
Textverlauf ist eher selten (anders noch Schröder 1985a).
Im folgenden Pressetext wird für das geläufige Kurzwort (DNA) nicht die
dem Laien kaum bekannte Vollform (deoxyribonucleic acid) angeführt. Das
weniger bekannte Kurzwort (Eva) jedoch kann sich der Leser über die un-
mittelbar vorangestellte Vollform (evolutionäre Anthropologie) erschließen:
Erbgut aus grauer Vorzeit rekonstruiert
Planck-Forscher offenbaren 30 000 Jahre alte DNA
Die 1956 […] geborgenen Überreste eines Homo sapiens […] sind jetzt von For-
schern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (Eva) erfolgreich für
eine Erbgut-Rekonstruktion verwendet worden. […] Noch vor einem Jahr hätten es
Eva-Professor S. P. und seine Kollegen vom Eva nicht für möglich gehalten, aus dem
fossilen Material der DNA […]. (LVZ 2010)
Häufig wird aber auch auf die Fähigkeit des Lesers gesetzt, trotz Distanz-
stellung von Kurzwort und Vollform beide einander zuzuordnen:
Studierende bereiten Schüler auf Studium vor. Hilfe beim Einstieg in die Studien-
gänge Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik
Im Dezember startet ein neues Projekt der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw).
Der Titel des Projekts: „MINToring“. An den beiden Standorten werden etwa 60
Gymnasiasten auf den Übergang in ein Studium in den MINT-Fächern vorbereitet
[…]. Zu diesen Fächern gehören Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und
Technik. (LVZ 2009)
Eine Umstellung in der Vollform Bund für Umwelt- und Naturschutz
Deutschland (Bund aus Erst- in Letztposition) mit gleichzeitiger Verkürzung
(um Deutschland) dient als Lesehilfe:
Tierreport Wildkatzen
Eine Wildkatze – keine wilde Katze – bekommt man vielleicht nie zu Gesicht. […]
Der Umwelt- und Naturschutz-Bund (BUND) forstet deshalb Verbindungsschneisen
auf. (PRISMA 2010)
In Überschriften sind Kurzwörter gut geeignet, die angestrebte Knappheit in
der Formulierung zu realisieren und die gewünschte Aufmerksamkeit beim
Rezipienten hervorzurufen (¢ 1.4.2.2.2). Im Bezugstext kann die Vollform
stehen und es kann zur partiellen Rekurrenz kommen (¢ 2.7.5.1):
BioFach 2008
Frische, Internationalität und Innovationskraft zeichnen die BioFach als Weltleit-
messe für Bio-Produkte aus. Sie führt jedes Jahr […] über 45 000 Fachbesucher […] in
Nürnberg zusammen. (natur+kosmos 2008)
292 2 Wortbildung des Substantivs
Komposita mit einem Kurzwort als Erstglied wie HTWK-Projekt sind wegen
ihrer doppelten Verdichtung (Kürzung + Komposition) typischer Bestand-
teil von Überschriften:
HTWK-Projekt. Online-Portal zu Büchereien verbessert
Studenten der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig präsentieren das
Internet-Portal „Bibliotheken in Leipzig“ jetzt im überarbeiteten Design. (LVZ 2009)
2.7.5.3.2 Hörfunknachrichten
Im Hörfunk gehört ein Wechsel zwischen Kurzwort und dessen Vollform zu
den journalistischen Grundregeln: „Abkürzungen mindestens einmal voll-
ständig aussprechen, in Zweifelsfällen erklären“ (Wachtel 2000, 75; Zehrt
1996, 77). Diese Empfehlung wird in Hörfunknachrichten (¢ 1.4.2.2.2) weit-
gehend eingehalten, es sei denn, dass sich allgemein bekannte Kurzwörter
wie ARD, MDR, Lkw gegenüber ihrer Vollform verselbstständigt haben. Bei
einem Wechsel geht die Vollform dem Kurzwort zugunsten des linearen
Hörverstehens voraus, beispielsweise bei LIREX, DFB, BKA, SSS:
Der verbotenen Neonazi-Gruppe „Skinheads Sächsische Schweiz“ wird heute vor
dem Landgericht erneut der Prozess gemacht. … – Die sogenannte „SSS“ gilt mit
etwa 125 Mitgliedern als zahlenmäßig stärkste Neonazi-Gruppe in Sachsen. (MDR
info 2002)
Hier, wie auch in anderen Nachrichten, wird auf die fremdsprachliche Voll-
form Strategic Arms Reduction Treaty verzichtet, denn – nur einmal in der
Nachricht gehört – trägt sie kaum zum Verständnis des Kurzwortes START
bei und könnte den Hörer auch akustisch überfordern. In einigen Sendun-
gen hat der Sprecher START als Kurzwort verdeutlicht durch englische Lau-
tung (sta:t); in anderen Nachrichtentexten wird hörerfreundlich formuliert:
der Kernpunkt von Start […]; das Abkommen mit dem Namen Start […].
2.7 Kurzwortbildung 293
2.7.5.3.3 Werbetexte
Für die Gestaltung von Werbetexten stellen sich „ökonomische Grundsatz-
fragen […] bereits, wenn es um Herstellung, Umfang, Präsenz und Format
bzw. Länge von Werbung geht“ (Janich 2007, 435). In Abhängigkeit davon
erfolgt der Einsatz sprachlicher Mittel einschließlich der Kurzwörter. Sie
sind – im Einzelnen und in der Kombination – nicht nur kürzer und hand-
licher als ihre Vollformen, sondern sie bieten auch die Möglichkeit, „wer-
bewirksam remotiviert zu werden“ (Janich 2007, 454). So wirbt die AEG <
Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft umdeutend mit Aus Erfahrung gut (Stein-
hauer 2007, 150). „Abweichungen, Verstöße und Verfremdungen“ (Janich
2007, 455) können die Wirksamkeit der möglichst kurzen Werbebotschaft
verstärken. (Zur Dominanz entlehnter Kurzwörter, wie in HP-Drucker,
DSL-Flatrate, in der Anzeigenwerbung für technische Produkte Meliss 2008,
255).
Darüber hinaus werden nach Meliss (2008, 249) Kurzwörter in zuneh-
mender Anzahl eingesetzt, „um den Eindruck von einem hohen Grad an
technischer Qualität, Technologie und Modernität zu geben“, nachgewie-
senermaßen besonders in der Produktwerbung der Automobilbranche und
der Multimedia-Kommunikation. Sie dienen „nicht der möglichst verständ-
lichen Vermittlung von Fachinhalten, sondern sollen effektiv für das Pro-
dukt werben und Kaufinteresse wecken“ (ebd., 254). Wenn es um die
Werbung von Sponsoren geht, werden gehäuft onymische Kurzwörter ver-
wendet: Ihr Gebrauch rückt die potenziellen Sponsoren in die Rolle der
Insider und bestärkt sie in dem Gefühl, dass das beworbene Objekt solide,
zuverlässig sei:
2.7.5.3.4 Plauder-Chat
Mit der Einführung der Digitaltechnik haben sich neue Formen der Kom-
munikation entwickelt „mit Einfluss auf soziale Interaktionen und auf das
Sprachverhalten. Letzteres ist dadurch gekennzeichnet, dass die Nutzer […]
in der Regel die schnelle direkte Kommunikation bevorzugen und wenig
Wert auf sprachliche Feinheiten legen.“ (Abel 2009, 228). Diese Haltung
zeigt sich sowohl in SMS-Texten, deren Umfang stark begrenzt ist, wie auch
in Chat-Beiträgen. Beide erweitern in spezifischer Weise das bisherige Text-
spektrum und sind wegen ihrer Aktualität und Differenziertheit zunehmend
zum linguistischen Forschungsgegenstand geworden.
Terminologisch gibt es für diese jüngeren Texte die Bezeichnungen Textart, -form,
-sorte. Wir ordnen den Plauder-Chat den Textsorten zu, allerdings ohne dafür den
textlinguistischen Nachweis zu führen.
Ich DAU hab probs mit der Farbe, kann mir wer helfen?
Hihi… lolt
Ich bin Florian GuK
Nen Streuwasserwurf gemacht hab… lol
(Satzbeispiele aus einem Chat-Beitrag 2001)
3.1.1 Produktivität
3.1.2 Aktivität
Die Wortart Adjektiv ist als Derivations- und Konversionsbasis an der Bil-
dung aller Hauptwortarten beteiligt. Außerdem gibt die vorliegende Dar-
stellung unmittelbar Aufschluss über die Rolle des Adjektivs als Erstglied
substantivischer (¢ 2.2.3), adjektivischer (¢ 3.2.3) und adverbialer (¢ 4.2)
Komposita und die Behandlung der Derivationssuffixe ist ebenfalls nach der
Wortart der jeweiligen Derivationsbasis gegliedert, sodass eine Gesamt-
übersicht über die Aktivität des Adjektivs zu erlangen ist.
Gekürzt werden Adjektive nur in Einzelfällen, die gekürzten Formen blei-
ben meist auf die gesprochene Sprache und Texte konzeptueller Mündlich-
keit beschränkt (biologisch > bio), kommen aber auch in Werbetexten vor
(¢ 2.7.1).
Kompositionsinaktiv verhält sich das Adjektiv – wie das Substantiv – zu
den verschiedenen Subklassen des Situierungsadverbs (Lokal-, Temporal-,
Modal-, Kausaladverbien; ¢ 4.1). Die Komposition mit einer Reihe von Prä-
positionen ist – wie beim Substantiv – üblich zur Bildung von Adverbien wie
frischauf, rundum. An der Adverbbildung ist das Adjektiv auch durch die
Komposition mit Richtungsadverbien wie -her, -hin, -heraus u. Ä. beteiligt
(späterhin, weither, rundheraus) sowie durch Konstruktionen wie insbeson-
dere und – mit dem Superlativ – zunächst.
Deadjektivische Transpositionsmodelle dienen vorwiegend der Bildung
von Substantiven; hierfür stehen die meisten Suffixe zur Verfügung (Traurig-
keit, Rohling). Auch die Konversion ist – ohne wesentliche Einschränkungen
– in erster Linie substantivisch gerichtet (der Neue, das Grün). Der Adverb-
bildung dient neben dem adverbialen Superlativ (am frühesten – frühestens)
vor allem das Suffix -weise/-erweise (erklärlicherweise). Deadjektivische
Verbbildung funktioniert hauptsächlich als Konversion (lahmen), als Prä-
fixderivation (erblinden) sowie – seltener – als Partikelverbbildung (aufhei-
tern).
Modifikationsmodelle mit adjektivischer Basis sind vor allem Präfixde-
rivate (unschön, uralt). Als Suffix spielt für die Modifikation nur graduie-
300 3 Wortbildung des Adjektivs
rendes -lich (weißlich) eine gewisse Rolle, andere bleiben vereinzelt (krank-
haft). – Zu den verschiedenen Modellen der Gradation ¢ 3.1.5.
Die substantivgerichteten Transpositionsmodelle bilden in erster Linie
Nomina Qualitatis (Schönheit, Blau) oder dienen der Bezeichnung von Per-
sonen als Trägern einer Eigenschaft (Feigling), wobei auch sekundäre Prä-
gungen auftreten (Schönheit ,schöne Frau‘, Gemeinheit ,gemeine Äußerung,
Handlung‘).
Die verbgerichteten Transpositionsmodelle sind gekennzeichnet durch
die Wortbildungsbedeutungen ,stativ‘ (wachen), ,kausativ‘ (härten, stärken),
,ingressiv‘ (erstarken, verarmen, reifen) und – seltener – ,agentiv‘ (sündigen).
1.2) Sofern sich in den komplexen Wortbildungen neue Lesarten der sim-
plizischen oder komplexen Zweitglieder herausgebildet haben, die man im
freien Gebrauch nicht kennt, sind gebundene Stämme anzunehmen
(¢ 1.6.2.4), wie sich an -fähig gut veranschaulichen lässt. Das Zweitglied -fähig
(ausführlich dazu Wilss 1986, 137ff.) ist mit den Bedeutungen ,zu dem im
Bestimmungswort Genannten in der Lage‘ (agensorientiert: aufnahmefähige
Schüler), ,für das im Bestimmungswort Genannte geeignet‘ (patiensorien-
tiert: sendefähige Musik; auch komplexer: steuerabzugsfähige Kosten) und
,über die entsprechenden Eigenschaften verfügen‘ (mehrheitsfähig) im
GWDS gesondert lemmatisiert. Die Bedeutungsangaben zum freien Adjektiv
fähig dagegen (1. ,begabt, tüchtig, geschickt und daher gestellten Aufgaben
gewachsen‘; 2. ,zu etwas in der Lage, imstande sein‘, GWDS) lassen für dieses
nur die Beziehung auf Personen zu. An Wortbildungen wie explosionsfähige
Gaskonzentration, verkaufsfähige Produkte (PDW 2006), eintragungsfähiger
Vorname (Sprachpflege 1978) werden die semantischen Unterschiede zwi-
schen freiem und gebundenem Vorkommen recht deutlich, sodass neben
fähig als freiem Stamm -fähig als gebundener Stamm zu stellen ist. Das gilt
auch für -trächtig ,in beträchtlichem Maße von etw. erfüllt sein oder etw. in
sich tragen‘ (erfolgs-, profit-, kostenträchtig; unfallträchtige Situationen,
klatsch- und skandalträchtig, Bues 1997, 120ff.) neben trächtig in der Lesart
,Junge tragend‘. Zwar verfügt auch das freie Adjektiv trächtig lt. GWDS über
eine zweite Lesart ,von etwas erfüllt, mit etwas angefüllt sein‘ (dazu als
Beispiel ein von/mit Gedanken trächtiges Werk), doch gilt diese als gehoben
und ist wohl eher an den Kompositionskontext gebunden (vgl. auch
-schwanger in unheilschwanger).
Eine ähnliche Entwicklung ist zu beobachten bei -lustig (schau-, reiselustig)
mit Anschluss an Phraseme wie Lust haben, zu etwas lustig sein (nach GWDS
ugs.), bei -süchtig: telefoniersüchtig, glücksspielsüchtig, bildersüchtig (PDW
2005; 2006), menschensüchtig (Ch. Wolf) und auch bei -technisch. Letzteres
ist mit substantivischem Erstglied besonders stark reihenbildend. Adjektive
auf -technisch sind einerseits Derivate zu komplexen Substantiven (Gentech-
nik > gentechn isch), andererseits aber Bildungen, zu denen kein entspre-
chendes Substantiv üblich ist (aktien-, bikini-, wettertechnisch ,in Bezug auf
Aktien‘ usw.) und deren Bedeutung auch nicht durch Technik motiviert ist.
Ruge (2004, 31) konstatiert mit dem Verweis auf die verblasste Bedeutung
„funktionalen Wandel“.
Wie -trächtig sind auch andere kompositionelle Zweitglieder metapho-
risch erklärbar, vgl. -freundlich (benutzerfreundlich ,dem Benutzer entgegen-
kommend‘, hautfreundlich ,die Haut schonend‘), -feindlich (kinderfeindliche
Umwelt, ein System ist fehlerfeindlich, Weltbühne 1988), -freudig (ein litera-
302 3 Wortbildung des Adjektivs
Der folgende Abschnitt gibt eine Übersicht über die wichtigsten adjektivi-
schen Modifikations- und Transpositionsarten der Derivation. Wir folgen
hier im Wesentlichen der Darstellung in Dudenband 4 (2009, 754ff.). Zur
Wortbildungsbedeutung in Komposita ¢ 3.2.2.2; ¢ 3.2.3.2; ¢ 3.2.4.
Gradations- und Vergleichsbildungen werden anschließend (¢ 3.1.5;
¢ 3.1.6) im Zusammenhang dargestellt, da sie für die Wortbildung des Ad-
jektivs typisch sind.
3.1.4.1 Modifikationsarten
An der Adjektivmodifikation sind die Komposition (hellblau) und die De-
rivation beteiligt, Letztere mit Präfixen und mit dem Suffix -lich an adjek-
tivischen Basen. Die folgende Tabelle erfasst die wichtigsten Modifikations-
arten der Derivation mit nativen Affixen (Erben 2006, 111; Dudenband 4,
2009, 758).
Für die Negation stehen außerdem zahlreiche exogene Präfixe (mit Vari-
anten) zur Verfügung (vgl. Klosa 1996): atypisch, anorganisch, inakzeptabel,
illegal, irrational, immobil, außerdem die Komposition mit nicht wie in nicht-
öffentlich. Eine Quantifizierung drücken v.a. exogene Konfixe aus: mono-
kausal (vgl. hierzu Seiffert 2008a, 191ff.), bipolar, polymorph, multimedial.
Dem Ausdruck einer Normüberschreitung (,normativ-transgressiv‘) dient
das Präfix hyper-, vgl. hyperehrgeizig (spiegel.de 2006), -sensibel, -nervös.
306 3 Wortbildung des Adjektivs
3.1.4.2 Transpositionsarten
Für das Adjektiv ist charakteristisch, dass die Transpositionsarten der De-
rivation nahezu systematisch mit der Wortart der Derivationsbasen korre-
spondieren, d. h., deverbale und desubstantivische Derivate prägen jeweils
spezifische Transpositionsarten aus. Eine Transpositionsart, bei der die
Wortart der Basis unverändert bleibt und sich nur die Bezeichnungsklasse
ändert (wie substantivisch Stadt – Städter), kennt das Adjektiv nicht.
1) Deverbale Adjektivderivate haben in der Regel entweder 1.1) eine akti-
visch-modale oder 1.2) eine passivisch-modale Wortbildungsbedeutung.
1.1) Die aktivisch-modalen Derivate drücken aus, dass der im Bezugswort
bezeichnete Referent (Person oder Sache) zu einem bestimmten Tun neigt
bzw. dazu fähig oder veranlagt ist: eine schwatzhafte Schülerin – die Schülerin
neigt zum Schwatzen, verderbliche Lebensmittel – die Lebensmittel verderben
leicht/können verderben.
3.1.5 Gradation
3.3) Das Erstglied halb- kann einerseits ohne Abwertung (bisweilen dafür
auch teil-) die Nicht-Vollständigkeit ausdrücken: halb-, teilautomatisch,
halbhoch, -lang, andererseits aber auch abwertend das Unvollständige als
Mangel akzentuieren: halbgebildet, -herzig (dephrasal), -stark. Farbadjektive
werden mit hell-, blass- (-blau, -rot), zart- (-rosa) nuanciert.
3.4) Das Unechte, nur Vorgetäuschte – und damit eine Abschwächung des
durch ein Adjektiv benannten Begriffs – drücken die kompositionellen Erst-
glieder schein- (-revolutionär, -vornehm), pseudo- (-wissenschaftlich; mit Bin-
destrich pseudo-aggressiv, -dokumentarisch, -autobiographisch, PDW 2005)
und quasi- (-automatisch, -legal) aus.
3.1.6 Vergleichsbildungen
kindisch, männisch, weibisch die pejorative Abschattung erhalten (seit 18. Jh.;
Maurer/Stroh 1959, 231), die besonders deutlich wird, wenn man herrlich,
kindlich, männlich, weiblich danebenhält; vgl. auch dörflich – dörfisch, bäu-
erlich – bäurisch, launig – launisch.
Basen auf -er (blutsaugerisch, großsprecherisch, kriecherisch) zeigen z. T.
auch weniger pejorative Konnotation (dichterisch, erfinderisch).
Die Ähnlichkeits- und Vergleichsbezeichnungen berühren sich hier mit
relationalen Adjektiven: darstellerisch ,was die Darstellung betrifft‘
(¢ 3.1.4.2[2.1]).
Synonymisch auch hier -haft: knabenhaft – mein knäbischer Schwur, kon-
firmandenhaft – konfirmandisch (beide -isch bei H. Kant).
3.4) Das Suffix -lich ist nur in geringem Umfang beteiligt (freund-, feind-,
mensch-, schulmeisterlich); zudem begegnet hier auch Polysemie: väterliches
Erbe – väterlicher (,wie ein Vater‘) Freund.
3.5) Das Suffix -mäßig erscheint ebenfalls vorwiegend mit Personen- oder
Tierbezeichnungen als Basis: helden-, knaben-, schüler-, polizeimäßig; bären-,
giraffen-, löwenmäßig; seltener mit Sachbezeichnungen oder Abstrakta: ge-
schäftsmäßig, maschinen-, lehrbuchmäßig. Synonymisch konkurrieren -haft
und -artig mit -mäßig: das artikelartig angehängte Pronomen – des artikelhaft
gebrauchten Pronomens – der artikelmäßige Gebrauch des Pronomens
(W. Hodler); vom laienhaften zum berufsmäßigen Schreiben (Ch. Wolf).
3.6) Von Fremdsuffixen kommen infrage -al (kolossal ,wie ein Koloss‘,
genial, monumental), -esk (clownesk) und -ös (skandalös).
Dass die Sonderstellung des Eigennamens, die die Wortbildung des Sub-
stantivs kennzeichnet (¢ 2.2.11; ¢ 2.3.4), sich auch in der adjektivischen
Wortbildung auswirkt, ist zu erwarten. Wir behandeln im Folgenden zu-
nächst Eigennamen als Erstglied adjektivischer und partizipialer Komposita
und anschließend deonymische Derivation und Konversion.
2.1) Suffix -haft ,in der Art von‘ – in lessinghaften Polemiken (W. Harich);
2.2) Suffix -mäßig ,in der Art von‘ – „labanmäßig […] im Alten verharrt“
(Th. Mann);
2.3) Suffix -esk ,in der Art von‘ mit einer grundsätzlichen Bedeutungsab-
schattung, die durch grotesk beeinflusst ist – danteske Szenen (M. Walser), ein
wenig hoffmannesk-romantisch (Sonntag 1971), chaplinesk, kafkaesk.
2.4) Ganz vereinzelt und ungewöhnlich sind Derivate mit -en („braun und
barlachen, das ging nicht zusammen“, F. Fühmann) und -ös (ugs.-salopp
kilimandscharös ,vorzüglich‘, DWb 3, 337f.).
3.2 Komposition
3.2.1 Grundsätzliches
3.2.2.1 Formativstrukturen
Als Erst- wie als Zweitglied können (wie beim Substantiv, ¢ 2.2.2.1) einfache
und komplexe Wörter verwendet werden.
1) Die unmittelbaren Konstituenten sind Simplizia: fuß kalt, wesens fremd,
arten reich.
2) Das Erstglied ist ein Kompositum: kornblumen blau, zigarrenkisten groß;
fledermausflügel feine Ohren (M. Mosebach). Kompositionelles Zweitglied
sowie die Kombination zweier Komposita treten nur selten auf (tau-
ben graublau, bierflaschen dunkelgrün, DWb 5, 12). Diese komplexen Bil-
dungen bleiben meist okkasionell (Donalies 2005b, 76).
3) Das Erst- oder das Zweitglied ist ein Suffixderivat, das jeweils andere ein
Simplex: preis ehrlich, stellungs fest.
4) Das Erstglied ist ein Kompositum, das Zweitglied ein Suffixderivat:
rüstungskontroll politisch(e Verhandlungen).
5) Beide Konstituenten sind Suffixderivate: bildungs feindlich, fische-
rei schädlich. Erstglieder als Diminutiva oder Movierungen sind offensicht-
lich selten, aber wohl nicht modellwidrig (schwesterchen gleich, lehrerin-
nen ähnlich).
3.2 Komposition 323
3.2.3.1 Determinativkompositum
1) Die unmittelbaren Konstituenten sind Simplizia oder Derivate:
schwer krank, früh reif, alt klug, salzig -feuchte Erinnerung, knusprig -braunes
Spanferkel, dünn flüssig, schwer verdaulich, objektiv -wissenschaftliche Grund-
lagen, wissenschaftlich -technischer Fortschritt; „nicht grandios-dämonisch,
sondern clownhaft-dämonisch“ (W. Hildesheimer). Kompositionelle Kon-
stituenten kommen kaum vor. Im Material von DWb 5 (12ff.) finden sich
u. a. hellbraun gesund, dunkel graubraun. Die Bezeichnungen der Himmels-
richtungen werden als Kompositionsglieder – wie beim Substantiv – in den
„Kurzformen“ verwendet, vgl. nord-, süddeutsch usw.
Für die Partizipialkomposita gelten ähnliche Strukturen: klein denkend,
neu geboren, reich geschmückt, schwer verletzt; kräftig-schmeidigende Spiele
(Th. Mann). Auch hier treten komplexere Strukturen äußerst selten in Er-
scheinung (DWb 5, 12 nennt nur ein Beispiel: bedrohlich -unglücksbereitend)
2) Das Erstglied ist in der Regel attributive Bestimmung des Zweitgliedes;
die Wortbildung entspricht damit semantisch meistens dem alternativen
Syntagma (schwerkrank – schwer krank). Doch werden beide durch einen
deutlichen Akzentunterschied auseinandergehalten: frǘhreı̀f – frǘh reı"f. Bei
komplexeren Bildungen wie schwerverdaulich ist dieser Akzentunterschied
weniger ausgeprägt.
Demotivationen sind relativ selten (altklug, neureich); hier fehlt dann das
Syntagma. Besonders vielfältig entwickelt sind die Modelle zum Ausdruck
der Gradation (¢ 3.1.5).
3) Bei Bindestrichkomposita wie mathematisch-naturwissenschaftliche Ge-
sichtspunkte, wissenschaftlich-technischer Fortschritt lassen sich z.T. entweder
das Erst- oder das Zweitglied – oder beide – in Substantive umsetzen: Fort-
schritt in Wissenschaft und Technik. Eine derartige Umsetzung ist möglich
wegen der engen semantischen Beziehungen, die zwischen den adjektivi-
schen Derivaten und ihrer substantivischen Basis bestehen. Kaum möglich
ist diese Paraphrasierung in Fällen wie freundschaftlich-kameradschaftlicher
Händedruck. Hierbei ergänzen oder verstärken die Konstituenten einander,
ohne dass von Koordination gesprochen werden könnte (¢ 3.2.3.2).
4) In Verbindung mit Partizip II tritt stark reihenbildend z.B. alt- ,seit
Langem‘ auf: altangesehen, -bekannt, -berühmt, -bewährt, -eingesessen, -ein-
gewurzelt, -erprobt, -gewohnt u.v. a.
5) Gesondert zu erwähnen sind die Bildungen mit einem Superlativ als
Erstglied. Am geläufigsten sind die Kombinationen mit möglich: kleinstmög-
326 3 Wortbildung des Adjektivs
3.2.3.2 Kopulativkompositum
Adjektivische Kopulativkomposita sind – wie substantivische – durch ein
Syntagma mit und paraphrasierbar („er war taub und blind, wollte taubblind
sein“, Pümpel-Mader 1985, 283; ein fröhlich-chefiger Auftritt, Der Spiegel
2005), werden jedoch, anders als diese, relativ häufig gebraucht. Im Inns-
brucker Korpus machen die „additiv“-Bildungen etwa 1/4 des Gesamtkor-
pus aus (DWb 5, 43).
Wie beim Substantiv (¢ 1.8.1.1; ¢2.2.2.5) sind Erst- und Zweitglied, der
gleichen Wortart angehörend, in den meisten Fällen ohne wesentliche se-
mantische Differenzierung vertauschbar: im gleichen Text z.B. metaphorisch-
assoziativ und assoziativ-metaphorisch (Pümpel-Mader 1985, 283); im glei-
chen Satz orientalisch-asiatisch und asiatisch-orientalisch (M. Mosebach).
Auch für die Adjektive dieses Modells gilt das für das Substantiv Gesagte:
„Bei einem Großteil der Bildungen sind verschiedene Interpretationen [sub-
oder koordinativ] möglich“ (DWb 5, 40).
1) Wortbildungen wie dummdreist, -stolz, -faul; blöd-robust (J. R. Becher),
taubstumm benennen jeweils zwei Eigenschaften einer Person; vgl. schon
mhd. edelarm ,edel und arm‘, „Lear, der […] edelschwache Greis“ (J. G.
Herder); ferner nasskalt, süßsauer; schelmisch-schroffe Videos (Der Spiegel
2010).
2) Eine weitere Gruppe bilden Koppelungen mit relativen Adjektiven,
die bei der Paraphrasierung in ein semantisch äquivalentes Syntagma in
Substantive transformiert werden (so auch Determinativkomposita;
¢ 3.2.3.1[1]): polnisch-französische Verhandlungen – Verhandlungen zwischen
Polen und Frankreich (nach Kluge 1925, § 88 seit dem 19. Jh.). Anders dage-
3.2 Komposition 327
1.3) -(e)n- bei Feminina mit -en-Plural: brille n ähnlich, frau en freundlich,
hymne n artig, maschine n genau, seite n richtig. – Singulariatantum haben
dagegen in der Regel kein -n: rache durstig.
Wie stark die Schwankungen sein können, zeigen im gleichen Text die
Formen einheiten-/kombinationenbezogene Beschreibungsimplikationen und
morphem- und kombinationsorientierte Etymologie (Nortmeyer 1987, 333).
Darüber hinaus sind für die Partizipialkomposita einige Sonderregelun-
gen zu beachten. Komposita mit Partizip I verdeutlichen in der Fuge nicht
selten die pluralische Beziehung des Erstgliedes: händereibend (¢ 3.2.1[2]), die
nestersuchenden Schwalben (Ch. Wolf). Einige Feminina auf -e tilgen dies:
Friede > friedliebend, strafmildernd, sprachvergleichend (aber: hilferufend, ge-
werbetreibend). Maskuline und neutrale Erstglieder haben in Verbindung
mit Partizip II vielfach -s-: bezugsberechtigt, aufbruchsgestimmt, bewusstseins-
getrübt; z.T. auch feminine Erstglieder: zukunftsverpflichtet.
2) Bei verbalem Erstglied entspricht die Verteilung von unverfugter Ver-
bindung und Fugenelement -e- den Verhältnissen beim Substantiv insofern
prinzipiell, als sich auch hier der Stammauslaut des Verbs als ausschlagge-
bend herausstellt. Auf entsprechende regionale Varianten verweist Fuhrhop
(1996, 546): heil(e)froh, knall(e)rot, stink(e)sauer. Weiteres beim Substantiv
¢ 2.2.12.3.
3) Der Bindestrich findet sich nur selten bei substantivischem Erstglied,
außer wenn es ein Eigenname ist (¢ 3.1.7.1). Er wird dagegen stets verwendet
bei Buchstabenkurzwörtern als Erstglied (Tbc-krank). Bevorzugt wird er
bei Komposita aus komplexen (affigierten) adjektivischen unmittelbaren
Konstituenten: gotisch-spitzbogiger Eingang, wissenschaftlich-theoretische Er-
kenntnisse (dazu vgl. Rosengren 1972, 342f.). Verfügen die so verbundenen
Adjektive im Erstglied über eine fremdsprachliche Basis, wird gelegentlich
(besonders fachsprachlich) das erste Suffix -isch getilgt und durch das Fu-
genelement -o- ersetzt: lexiko-grammatische Mittel, syntakto-semantisches
Doppelgesicht (Eichinger 2000, 85f.), dagegen ohne Bindestrich krypto-
religiöse Rhetorik (LVZ 2010), auch bei stärkerer Lexikalisierung: morphoge-
netisch, morphophonologisch.
Das Fugenelement -o- tritt in der Regel auch in Konfixkomposita aus zwei
Konfixen auf: german o phob, frank o phon.
332 3 Wortbildung des Adjektivs
3.3 Suffixderivation
3.3.1 Grundsätzliches
1) Verbale Basis
1.1) Infinitivstamm; starke und schwache Verben, simplizische wie kom-
plexe Basis: brauch-, dreh-, trink-, waschbar; bezweifel-, entzünd-, zerleg-,
auffindbar; auseinanderschieb-, zusammendrück-, wiederverwertbar.
Verben mit dem Präfix ge- bilden nur vereinzelt Derivate mit -bar (genieß-,
gewinnbar; zu gebrauchen gehört brauchbar (nicht *gebrauchbar, aber ge-
bräuchlich), zu gestatten gehört statthaft, zu gewahren stellt sich wahrnehmbar.
Es fehlen -bar-Derivate zu den intransitiven Verben gebühren, gedenken,
gelingen u.a. (aber 1.3).
Als Basis sind -ier-Verben sehr verbreitet: abstrahier-, konstruier-, techni-
sierbar, z.T. neben -abel/-ibel: deklinierbar – deklinabel, passierbar – passabel.
Verben auf -(e)l(n) (sofern das -el- nicht zur Basis gehört wie in verriegeln)
fehlen nahezu (aber: fädelbar). Verben auf -ig- tilgen z. T. -ig-: kündbar <
kündigen; entschuldbar, aber bewältigbar, beschleunigbar; vgl. ferner ab-, aus-,
berechenbar (< ab-, aus-, berechnen).
Neben dem Infinitivstamm bei gehen (begehbar) erscheint auch noch die
ältere Nebenform gang- in gangbar; vgl. auch sichtbar neben voraus-, einseh-
bar.
1.2) Die Masse der Basisverben ist transitiv und passivfähig; Wortbil-
dungsbedeutung: ,passivisch-modal‘: essbare Früchte, heilbare Krankheit;
vgl. ferner anfecht-, ausführ-, entzifferbar, heute noch übbare Musikkritik
(F. Fühmann), Ausdruck tastbarer Körperlichkeit (Kunstkalender 1980).
In manchen Fällen tritt dazu noch eine Bewertung ,leicht‘ oder ,gut‘:
(leicht) beeinflussbarer Mensch, (gut) lesbares Buch, biegbares Material. Bei
einem Nebeneinander von -bar- und -lich-Derivat hat die wertende Nuance
,leicht‘ eher das -lich-Derivat: erklärbar – (leicht) erklärlich.
1.3) Weniger stark ausgebaut ist das Modell der Derivation von intransi-
tiven Verben. Wortbildungsbedeutung: ,aktivisch-modal‘. Hier ist keine
passivische Paraphrase möglich: brennbarer Stoff, gerinnbare Flüssigkeit, vor-
wiegend oder ausschließlich mit Negation durch un-: unsinkbares Schiff,
unversiegbarer Strom. In einigen Fällen wird nicht die Möglichkeit, sondern
die Notwendigkeit ausgedrückt: X ist haftbar ,muss haften‘. Anders zu pa-
raphrasieren sind: un entrinn bares Schicksal – Schicksal, dem man nicht ent-
rinnen kann, un nah bare Person – Person, der man sich nicht nähern kann. –
1.4) Derivate von echten Reflexiva (sich schämen) und intransitiven Du-
rativa (liegen, blühen) sind nicht modellgerecht – und dementsprechend
auffällig –, kommen aber vereinzelt vor: schlafbare Bodenkammer, Nacht
(Internet 2010); „maximales Gaming zu einem leistbaren Preis“ (Werbung
für Laptops 2010). Auch Verben mit präpositionaler Rektion wie verfügen
über, verzichten auf lassen die Bildung eines -bar-Derivats mit passivisch-
334 3 Wortbildung des Adjektivs
1) Das Suffix -en, mhd. -ı̄n, und seine Varianten verbinden sich aus-
schließlich mit substantivischer Basis, und zwar vorwiegend mit Stoff- und
Pflanzenbezeichnungen. Die Umlautformen sind heute fast ganz veraltet:
gülden; isoliert ist hanebüchen, mhd. hagenbüechı̄n ,aus dem Holz der Ha-
gebuche‘, heute ,empörend, skandalös‘.
Wortbildungsbedeutung: ,material‘ (Stoffadjektiv): graniten, wollen, gol-
den, metallen, papieren, samten, seiden, eichen, tannen, buchen. Das Modell
ist schwach produktiv: eine plastene Murmelmulde (L. Scherzer); auch von
Substantiven auf -in wie in rubinene Glut (S. Hermlin). Komposita als Basis
sind selten; in schwarzholzene Lehnstühle (E. Strittmatter) liegt wohl ein Syn-
tagma zugrunde.
2) Bei Basisauslaut -er tritt nur -n an (kupfer n, leder n); nach eiser n (mhd.
ı̄serı̄n, zu ı̄ser als Nebenform von ı̄sen) die Suffixvariante -ern auch an Basen
ohne -er: blech ern, stähl ern, stein ern; in der Regel mit Umlaut (abgesehen
etwa von stroh ern neben ströh ern, auch flächs en/flächs ern, porzellan en/
porzellän ern; Paul 1920, § 66).
Die Formen mit -ern haben z. T. ältere mit -en verdrängt (noch bis ins 17.
Jh. hölzen, hülzen; ebd.); so konnte Homonymie zu Verbformen beseitigt
werden: stählen – stählern, tönen – tönern.
Die Basis ist ein substantivisches Kompositum in schmiedeeisern.
3) Dem Modell mit -en/-ern/-n ,aus dem betreffenden Stoff‘ steht ein
Modell mit -ig ,wie der betreffende Stoff‘ (,komparativ‘, dazu ¢ 3.1.6[3.2])
336 3 Wortbildung des Adjektivs
gegenüber: seidenes Kleid – seidiges Haar, silberner Löffel – silbriger Tau. Die
Funktion des -en-Derivats, das nicht von allen Stoffbezeichnungen ge-
bräuchlich ist, kann auch ein Substantiv als Erstglied eines Kompositums
übernehmen: *eisen – Eisblock ,Block aus Eis‘ – Eiseskälte, eisige Kälte ,Kälte
wie Eis‘. Auch wenn ein -en-Derivat existiert, wird bisweilen das Kompo-
situm vorgezogen: Goldschmuck, Papiertüte (vgl. detailliert hierzu Inghult
1997).
3.3.2.3 Suffix -er
Das Suffix -er bildet Adjektive von Kardinalzahlen: die zwanziger, dreißiger
Jahre; zur Doppelmotivation entsprechender Komposita (Zwanzigerjahre)
vgl. Scherer 2005, 72f.
Synonymisch dazu -voll und -reich: grauenhaft, -voll, prunkhaft, -voll, sieg-
haft, -reich. – Antonymisch -los, -leer, -frei.
Doppeldeutig nach 1.2) wie nach 1.3) sind z.B. flitter-, mythen-, zauber-
haft. Demotiviert sind erd-, fabel-, gewissen-, teilhaft; statthaft, mhd. statehaft
,mit Mitteln versehen‘ zu mhd. state ,gute Gelegenheit, Hilfe‘.
2) Verbale Basis ist seltener; Wortbildungsbedeutung ,aktivisch-modal‘,
vgl. flunker-, nasch-, schwatz-, wehr-, zaghaft. Passivisch aufzufassen ist
schreckhaft (oder zu intransitivem erschrecken). Demotiviert ist lebhaft; in
geringerem Maße lachhaft (nicht auf Personen bezogen: lachhafte Ausrede),
wohnhaft.
3) Adjektivische Basis ist noch seltener; vgl. bos-, krank-, wahrhaft; Wort-
bildungsbedeutung: ,zu der durch das Adjektiv bezeichneten Eigenschaft
geneigt‘. Historisch liegen Substantive zugrunde: mhd. mitteldt. bōs ,Bos-
heit‘, mhd. kranc ,Krankheit‘, mhd. wār ,Wahrheit‘ (vgl. Wilmanns 1899,
503). – Ernsthaft ist auf Substantiv wie Adjektiv als Basis beziehbar.
4) Wortbildungen wie leib-, teil-, wahrhaftig sind Relikte einer besonders
seit dem 14. Jh. zunehmenden Erweiterung von -haft durch -ig; vgl. sige-,
tiuvel-, tugendhaftic (Paul 1920, § 73; Kluge 1925, § 61). Einfaches -haft hat
sich heute wieder durchgesetzt, doch alle substantivischen Derivate haben
die Variante -igkeit (Tugendhaftigkeit).
Basisauslaute -e und -en werden getilgt: Flocke > flockig, Striemen > strie-
mig. Bei Basisauslauten -el, -er wird -e z.T. bewahrt, z.T. getilgt: Hügel >
hügelig/hüglig, Wasser > wässerig/wässrig, Winkel > winkelig/winklig, Trauer
> traurig. Basisauslaut mit betontem Langvokal oder Diphthong ist selten:
böig, geleeig, schneeig, reuig.
Die Umlautverhältnisse sind sehr differenziert. Bei simplizischer Basis
meist kein Umlaut, bei komplexer Basis häufig (vgl. DWb 3, 56). Meist steht
Umlaut entsprechend dem Pluralumlaut der Basis: bärtig, körnig, mächtig;
leichtfüßig, vierhändig u. v.a.; doch vgl. andererseits duftig, buschig, glasig,
spaßig. Schwankungen bei einem Derivat sind relativ selten (ca. 15 % nach
DWb 3, 55): aderig/äderig, pausbackig, -bäckig. Semantisch differenziert:
zugig – zügig.
Die unterschiedlichen Formen erklären sich durch ältere Umlauthem-
mungen vor bestimmten Konsonantenverbindungen, z.T. auch durch das
Nebeneinander von -ag und -ig im Althochdeutschen sowie durch jüngere
Neubildungen. Über historische Verschiebungen im Umlaut vgl. Paul 1920,
§ 68.
1.2) Basis ist Nicht-Personenbezeichnung; Wortbildungsbedeutung: ,or-
nativ‘, vgl. narbige Haut, waldig, wolkig, kantig, rostig, bucklig; schokoladige
Creme (DWDS); dickwandig, zweireihig, stockfleckig. – Synonymisch konkur-
rieren Bildungen mit partizipialem Zweitglied: dunkellockig – dunkelgelockt.
Bei Abstraktum als Basis: auf Menschen bezogene Eigenschaften wie flei-
ßig, geizig, gierig, stumpfsinnig, trotzig.
1.3) Basis sind Personen- und Nicht-Personenbezeichnungen; Wortbil-
dungsbedeutung: ,komparativ‘, vgl. schuftig, fischig; ¢ 3.1.6(3.2).
1.4) Demotiviert sind Wortbildungen wie kernig, lumpig, pfundig, willig,
zeitig u. a.; unikale Morpheme als Basis haben drollig (niederdt. drol
,Knirps, Possenreißer‘), patzig (zu Batzen, eigentlich ,klumpig, dick‘), hurtig
(mhd. hurt ,Lanzenstoß‘), schwierig (mhd. swer ,leiblicher Schmerz, Ge-
schwür‘), sämig (mhd. seim ,Wabenhonig‘).
2) Verbale Basis; Wortbildungsbedeutung: ,aktivisch-modal‘, auf Perso-
nen beziehbar: findig, faselig, protzig, taumelig, zappelig, wendig (< sich wen-
den); ,passivisch-modal‘ dagegen kitzlig ,leicht empfindlich gegen Kitzeln‘.
Auf Sachen beziehbar: flackerig, holp(e)rig, rutschig, wacklig, ergiebig;
lärmig (A. Seghers); nur noch schwach motiviert ist schneidig ,forsch, drauf-
gängerisch‘ (nach GWDS).
Verbale Syntagmen als Basis: lang-, leicht-, zählebig, zielstrebig; dazu in
Konkurrenz Wortbildungen mit Partizip I: feinfühlig – feinfühlend.
Die Verbindung von -ig mit verbaler Basis ist offensichtlich rückläufig.
Bevorzugt sind Verbstämme auf -el und -er; auch als alternative Derivati-
3.3 Suffixderivation 339
sicht steht es mit seiner relativen Fixierung auf den substantivisch gefassten
Begriff in einem komplementären Verhältnis zu -bar mit seiner Fixierung
auf verbal gefasste Begriffe.
1) Substantivische Basis dominiert (kriegs-, etat-, turnus-, behelfs-, gesetz-
mäßig); dabei – wie bei -los – keine Strukturbeschränkung der Basis, sondern
Kombinationsfähigkeit mit den verschiedensten Suffixderivaten: schüler-,
frühlings-, verfassungs-, verhältnis-, gewohnheits-, bergwerksordnungs-
(1795), kaufmannsmäßig.
Basisauslaut -e wird in der Regel zu -en erweitert: akten-, bühnen-, klassen-,
mengenmäßig; nur vereinzelt parade-, routinemäßig. – Im Übrigen ent-
spricht der Gebrauch der Fugenelemente dem bei -haft und -los.
Präpositionale Syntagmen als Basis: übersatzmäßige sprachliche Einheit
(D. Viehweger).
2) Nach der Wortbildungsbedeutung sind auf der Grundlage einer allge-
meinen Beziehung zu der durch das Basissubstantiv bezeichneten Größe
mehrere Submodelle zu unterscheiden. Inghult (1975, 35 ff.) kommt zu
einer weitgehenden Differenzierung von sieben Bedeutungsgruppen, die
sich u. E. im Wesentlichen zu drei Gruppen zusammenfassen lassen (dazu
auch Seibicke 1963).
2.1) ,komparativ‘, vorwiegend bei Personen- und Tierbezeichnungen als
Basis, vgl. derwisch-, jünglings-, schiffsmannmäßig (Th. Mann); ¢ 3.1.6 (3.5).
2.2) ,Obligatorische Entsprechung, wie es … verlangt‘; vgl. fahrplan-, ka-
lender-, luftschutz-, vorschrifts-, partei-, rechtmäßig. Hier stehen nebeneinan-
der Bildungen mit -gemäß, -gerecht und -mäßig: plangemäß, -gerecht, -mäßig,
bühnengemäß, -gerecht, -mäßig. Das gilt jedoch nicht für alle Wortbildungs-
reihen von -mäßig; differenziert sind befehlsmäßiger Ton ,in der Art eines
Befehls‘ – befehlsgemäß handeln ,wie es der Befehl verlangt‘.
2.3) ,Einschränkung‘, ,limitativ‘, ,in Bezug auf, was … betrifft‘, vgl. alters-
mäßige Entwicklung, gefühlsmäßig zustimmen, überlieferungsmäßige Schwie-
rigkeiten, wettbewerbsmäßige Benachteiligung, wohnraummäßige Ausdeh-
nung u.v.a.
3) Nichtsubstantivische Basis bleibt selten: denkmäßig, liefermäßig ,was
das Denken, Liefern betrifft‘, schreib-, sitzmäßig. Das Modell ist weniger
produktiv und hat salopp-umgangssprachlichen Charakter (vgl. Seibicke
1963, 41). Im GWDS ist nur das doppelmotivierte (deverbal oder desubstan-
tivisch) lehrmäßig verzeichnet.
348 3 Wortbildung des Adjektivs
3.4 Präfixderivation
3.4.1 Grundsätzliches
Die im Deutschen ohnehin kleine Zahl indigener nominaler Präfixe ist beim
Adjektiv noch geringer als beim Substantiv, da hier ge- und haupt- nicht an
produktiven Modellen beteiligt sind. Auch die Gradation (¢ 3.1.5) kennt nur
relativ wenige Präfixe. Wortbildungen mit über-, vor- werden wie beim Sub-
stantiv als Komposita behandelt (¢ 3.2.5).
352 3 Wortbildung des Adjektivs
2) Das Präfix ex- ,aus – heraus‘ ist beim Adjektiv selten: exhaustiv ,er-
schöpfend‘, exterritorial ,außerhalb des Territoriums‘, ,den Gesetzen des
Aufenthaltslandes nicht unterworfen‘, exotherm ,unter Freiwerden von
Wärme ablaufend‘. Nach Hoppe (1999, 92) tritt es möglicherweise zuneh-
mend auf, v.a. in Adjektiven für „ethnische Charakterisierungen“: exdeutsch,
-jugoslawisch, -sowjetisch, aber auch in weiteren Fällen wie exkommunistisch,
-konsularisch, -radikal.
3) Das Präfix ko- (kon-, kor-) findet sich in kongenial, -form, korrelativ.
4) Das Präfix para- (griech. ,neben‘) begegnet vorwiegend in Fachwort-
schätzen (paralingual ,sprachbegleitend‘, -normal ,nicht auf normale Weise
erklärbar‘, -psychisch ,übersinnlich‘), doch vgl. auch paramilitärisch ,halb-
militärisch‘.
5) Das Präfix post- (lat. ,nach‘) steht, vorwiegend in Fachwortschätzen,
antonymisch zu prä- (s.d.), aber nicht zwingend: postgradual ,nach dem
Erwerb eines akademischen Grades‘ (*prägradual), -natal ,nach der Ge-
burt‘, -glazial ,nach der Eiszeit‘, -kommunistisch, -operativ ,nach der Ope-
ration‘, -traumatisch ,nach einer Verletzung auftretend‘.
6) Das Präfix prä- (lat. ,vor‘) antonymisch zu post- (s.d.) in pränatal,
-glazial, -operativ.
7) Das Präfix pro- (lat. ,für‘) antonymisch zu anti- (s.d.) in prodemo-
kratisch, -englisch usw.
Zu den Präfixen hyper- (hyperaktiv) und ultra- (ultraweich) ¢ 3.1.5(2.3), zu
super als Kompositionsglied (superfein) ¢ 3.1.5(1.8), zu inter- und trans- (in-
terozeanisch, transsibirisch) ¢ 3.5(3); ¢ 3.5.(4).
1) Das Präfix ge- ist beim Adjektiv – anders als beim Substantiv (¢ 2.4.2.2)
– nicht mehr mit einem produktiven Modell vertreten, doch sind etliche
entsprechende Bildungen noch im Wortschatz repräsentiert.
Desubstantivisch sind z.B. geheim (ursprünglich ,zum Haus gehörig‘,
dann ,vertraut‘), geraum (nur attributiv: geraume Zeit), getrost (ahd. gitrōst
,mit Vertrauen erfüllt‘), ferner -gemut in froh-, wohlgemut (mhd. gemuot
,gesinnt‘, geherze ,beherzt‘; vgl. Wilmanns 1899, 422 f.; Kluge 1925, § 75).
Deadjektivisch sind u.a. gelind, gestreng, getreu, gewahr (jmdn., etw.
gewahr werden ,bemerken‘); die erstgenannten mit Verstärkung gegenüber
dem Simplex und der Markierung veraltend. Zu ge-…-ig (gehässig) ¢ 3.5(1).
3.5 Zirkumfixderivation 357
3.5 Zirkumfixderivation
Die Zirkumfixderivation ist – anders als beim Substantiv (¢ 2.5) – nicht auf
Kombinationen mit ge- beschränkt, wenngleich diese auch hier noch die
bedeutendsten Wortbildungsreihen aufweisen.
1) Deverbal sind Zirkumfixderivate mit ge-…-ig, Wortbildungsbedeutung
,Neigung‘ oder ,Eignung‘, vgl. ge fräß ig, ge häss ig, ge läuf ig, ge lehr ig. –
Nicht hierher gelenk ig (-ig-Derivat von Gelenk), gespräch ig (von Gespräch)
sowie ge räum ig (zum Substantiv Raum).
2) Weitere deverbale Bildungen sind vereinzelte – heute demotivierte –
Fälle wie aufsässig (zu aufsitzen in der älteren Bedeutung ,sich widerset-
zen‘), ansässig.
3) Die exogene Einheit inter- hat das Zirkumfixmodell stark ausgebaut;
wie bei in 4) folgendem trans- ist die Wortbildung semantisch wohl öfter
auch dann auf substantivische Basis zu beziehen, wenn ein desubstantivi-
sches Adjektiv existiert: interkontinental ,zwischen den Kontinenten‘ (nicht
inter + kontinental), ähnlich interozeanisch, -parlamentarisch, -konfessionell,
-planetar; mit heimischer Basis: interbegriffliche Beziehungen (D. Viehwe-
ger), dem interfachlichen Gebrauch (H. E. Wiegand). Eher als Präfixderivat
zu bestimmen sind intersubjektiv, -textuell, -kulturell.
4) Das exogene trans- (beim Substantiv ¢ 2.4.3.2[8]) beschränkt sich auf
Fremdbasen mit indigenem -isch: transatlantisch ,über den Atlantik hin-
weg‘, -kontinental, -sibirisch; transisthmische Eisenbahn (Die Zeit 1980).
5) Als Zirkumfixderivation sind schließlich auch Modelle anzusehen, die
nach der partizipialen Struktur aufgebaut sind, ohne dass die Formen als
Partizip einem Verbparadigma zuzuordnen wären (¢ 3.2.5[2.2]). Soweit es
sich um Kombinationen mit ge-, be- und einer substantivischen Basis han-
delt, liegt die Wortbildungsbedeutung ,ornativ‘ vor: geblumtes/geblümtes
Kleid, gebuchtete Küste, ferner gehörnt, genarbt, gerippt, gestiefelt; z. T. syno-
nymisch zu -ig (blumig, narbig); bebrillt, behelmt, beherzt, bejahrt, benachbart,
bestrumpft, bereits Wieland: bemaulkorbte Bären (Itkonen 1971, 101).
358 3 Wortbildung des Adjektivs
3.6 Konversion
Die adjektivgerichtete Konversion ist weit weniger entwickelt als die sub-
stantivgerichtete (¢ 2.6), abgesehen von dem hochproduktiven Modell der
departizipialen Konversion.
3.6.2.1 Infinitivstammkonversion
Die Infinitivstammkonversion ist kaum produktiv und nur historisch klar
nachweisbar; vgl. z. B. rege < sich regen, starr < starren, wach < wachen, wirr <
wirren. Sie wird gelegentlich als Rückbildung aufgefasst (Erben 2003b,
93 ff.).
4.1.1 Produktivität
Die Wortbildungsmöglichkeiten der Adverbien sind im Vergleich zu Sub-
stantiv, Adjektiv und Verb erheblich eingeschränkt; das Bedürfnis nach
Neubildungen ist relativ gering. Die allgemeinen Beziehungen innerhalb
einer Sachverhaltsdarstellung (temporal, lokal, modal, kausal) und in der
Kommunikationssituation werden durch außersprachliche Entwicklungen
nicht so beeinflusst wie das Benennungspotenzial.
Von den Wortbildungsarten fehlen die Kurzwortbildung sowie die Präfix-
und Zirkumfixderivation fast ganz. Die Relationsbedeutungen der Adver-
bien sind mit den Gradations- und Wertungselementen, auf die sich die
Präfixfunktionen außerhalb des Verbalbereichs im Großen und Ganzen be-
schränken, wenig kompatibel. Komposition und Suffixderivation sind aus-
geprägt, allerdings formativstrukturell und semantisch weniger differenziert
als bei Substantiv und Adjektiv. Exogene Suffixe fehlen; -lei (aus dem Frz.)
ist synchron als ein indigenes Suffix anzusehen. Es verbindet sich ausschließ-
lich mit indigenen Stämmen. Von besonderer Relevanz ist die Konversion
von Syntagmen (früher der „Zusammenrückung“ zugeordnet; vgl. Fleischer
1983c, 297; ¢ 1.8.1.3).
An der Erweiterung des Adverbbestandes durch Komposition und Kon-
version sind neben Adverbien selbst und Präpositionen auch Substantive
und Adjektive beteiligt, das Verb nur vereinzelt mit dem Infinitivstamm,
etwas mehr durch Partizipialformen.
Es gibt heute im Deutschen kein grammatisches Adverbialsuffix (wie z.B.
im Englischen, Französischen, Russischen) für Adjektive in adverbialer
Funktion (¢ 4.3.1.1), aber es gibt Modelle, nach denen Adjektive (bzw. Par-
tizipien) wortbildungsmorphologisch adverbialisiert werden (Komposita
mit -hin, -hinaus, -auf, -um u. a.; Derivate mit -ens, -maßen, -weg, -weise).
Andererseits werden Adverbien vor allem durch -ig adjektiviert (heute >
heutig; ¢ 3.3.2.6[4]).
4.1.2 Aktivität
Aus der in 4.1 skizzierten Charakteristik der Wortart Adverb ergibt sich auch
ihre Wortbildungsaktivität. Das Adverb ist wenig kompositionsaktiv mit
einem Substantiv (Soforthilfe; ¢ 2.2.7.3) und noch weniger mit einem Adjek-
tiv (linksextrem; ¢ 3.2.5[2.1]). Starke Reihenbildung zeigt sich dagegen in der
Komposition von Adverbien untereinander (dorthinab, untenherum; ¢ 4.2.1)
sowie bei der Verwendung der Adverbien als Verbpartikeln (herüberfliegen;
¢ 5.3.2).
362 4 Wortbildung des Adverbs
4.2 Komposition
4.2.1 Grundsätzliches
Die Präpositionen ab, an, auf usw. wegen ihres Doppelcharakters (Präposition und
zugleich Adverb) als Präpositionaladverb zu bezeichnen (so noch in der vorherigen
Auflage dieses Buches) erscheint nicht zweckmäßig, da der Terminus heute meist
anders besetzt ist. Bezeichnet werden damit gemeinhin komplexe Adverbien aus da-/
dar-, hier- und wo-/wor- als Erstglied und -ab, -an, -auf usw. als Zweitglied (vgl. Du-
denband 4, 2009, 579).
Zur Diskussion anderer Klassifizierungen adverbieller Wortbildungen vgl. Altmann/
Kemmerling 2005, 155 ff. Die Autoren ordnen die meisten der hier als Komposita
klassifizierten Bildungen der Zusammenrückung zu, wobei sie einräumen, dass es nicht
in jedem Fall gelingt, „eine geeignete syntaktische Basisstruktur für die Einordnung als
Zusammenrückung zu finden“ (ebd., 157).
4, 2009, 579) wie daneben, darauf, hierauf, hierüber, wobei, woran. Sie stellen
eine geschlossene Gruppe ohne Neubildungen dar, dafür mit zahlreichen
Archaismen (darob, darwider), vgl. dazu die Liste in Dudenband 4, 2009,
580. Wortbildungsaktiv sind sie kaum, als Erstglied gehen sie komplexe Ver-
bindungen mit -hin ein (daraufhin, woraufhin), als Zweitglied kommen dar-
Adverbien in Kombination mit Lageadverbien vor; meist in gesprochener
Sprache in kontrahierter Form ohne den Vokal a: hintendran, obendrauf,
obendrüber, untendrunter.
Bildungen mit anderen Adverbien sind motivierte Richtungs- bzw. La-
geangaben: heimzu, hint-/hinten-, oben-, vorn-/vornean.
2) Präpositionen als Erstglied
Die Wortbildungen sind fast alle demotiviert, vgl. durchaus, inzwischen, mit-
unter, nebenan, voran, vorbei, überaus. Es gibt unsystematische Beschrän-
kungen, so fehlen z.B. *aufaus, *ausauf, *nebenauf. Die Adverbien gegen-
über, zuwider fungieren auch als Präposition.
3) Adjektive als Erstglied
Es handelt sich um Einzelbildungen wie kurzum, frisch-, hell-, vollauf, weit-
aus, rundum, schrägüber (,schräg gegenüber‘), querdurch.
4) Substantive als Erstglied
Die Bildungen sind weitgehend motiviert und entsprechen meist Syntag-
men mit komplexen Richtungsangaben, vgl. bergan – den Berg hinan, bergab,
landauf, -ab, flussauf, -ab, straßauf, -ab, tagsüber, reihum, kopfüber. Unsys-
tematische Beschränkungen treten auch hier auf; es fehlen Elemente wie -bis,
-mit, -nach, -von, -vor, -zwischen in diesen Verbindungen. Ein Sonderfall
(Kompositum mit einem Adverb als Zweitglied) ist kieloben.
4.3 Derivation
4.3.1 Suffixderivation
4.3.1.1 Grundsätzliches
Aus erstarrten substantivischen Flexionsformen haben sich die Adverbial-
suffixe -s (Genitiv Singular) und -en (Dativ Plural) entwickelt (vgl. Wil-
manns 1899, 617ff.; ausführlich Heinle 2004). Während -s sich stark ausge-
breitet hat, auch in Verbindungen wie -dings, -lings, die zu eigenen Suffixen
geworden sind, ist -en heute nur noch relikthaft vertreten (einstweilen).
Auch Suffixe wie -halben, -malen sind kaum noch produktiv. Lediglich in
der Verbindung mit -s zu -ens (Wilmanns 1899, 630f.) ist -en noch an einem
produktiven Modell beteiligt.
Ein genetisch anderes -en ist zudem älteres Adverbialsuffix (heute un-
produktiv) und scheidet noch heute einen Typ von Adverbien und Adjek-
tiven: außen – äußer(e), hinten – hinter(e), oben – ober(e) (Wilmanns 1899,
649 f.). Auch „das im Frnhd. produktivste Adverbsuffix -(ig)lich“ ist heute
unproduktiv und nur noch in wenigen demotivierten Adverbien erhalten
(ewiglich, neulich, schwerlich, wahrlich, hoffentlich; Heinle 2000, 1915).
4.3.1.9 Suffix -s
1) In vielen Fällen ist neben einem desubstantivischen Adverb auf -s noch
heute eine substantivische Genitivform gebräuchlich, vgl. abends, anfangs,
eingangs, flugs, mittags, namens, rings, sommers, teils; vortags (G. Grass) u. a.
Ähnliches gilt für Syntagmen wie des heutigen Tags – heutigentags, anderen-
falls, erforderlichenfalls, großenteils (aber mancherorts – manchen Orts).
2) Dass die Adverbien mit -s nicht die bei einem Teil der Substantive
mögliche Variation von -es/-s zulassen und dass ein Femininum wie Nacht
in der adverbialen Form nachts (schon ahd., Wilmanns 1899, 628) erscheint,
zeigt bereits die Verselbstständigung des Adverbialsuffixes -s. Sie prägt sich
weiter aus in Bildungen, neben denen keine homonymen substantivischen
Kasusformen mehr stehen. Die Basen sind dabei:
4.3 Derivation 369
– Pronomina (anders);
– Adjektive (bereits, besonders, stets, eigens, links, auch Komparative wie
öfters, weiters, ferners [vgl. Paul 1920, § 93, Anm. 2]);
– Partizipien (eilends, zusehends, durchgehends; mhd. vergebene ,ge-
schenkt‘, Adverb zum Partizip II vergeben > vergebens ,vergeblich‘);
– substantivische Syntagmen (allerorts, hinterrücks, deutscher-, kirchlicher-
seits; zur Produktivität Ronca 1975, 111ff.).
4.3.2 Präfixderivation
Präfixderivation kennt das Adverb so gut wie nicht. Am ehesten lässt sich die
Adverbialisierung der Superlativformen mithilfe von zu- als Präfigierung
qualifizieren (vgl. auch zu- als Verbpartikel, ¢ 5.3.1.17): zuäußerst, -frühst,
-höchst, -innerst, -meist, -nächst, -oberst, -tiefst. Es handelt sich dabei fast
ausschließlich um Superlativformen von Lokaladjektiven. Teilweise kon-
kurrieren synonymisch Konstruktionen mit am + Superlativ (die jedoch
genereller verwendbar sind): Am nächsten/zunächst liegt A-Dorf. – Ein Teil
der zu-Konstruktionen wird bevorzugt metaphorisch verwendet: zutiefst
empört.
Vgl. auch die Adverbialisierung von Superlativformen durch -ens
(¢ 4.3.1.3).
4.4 Konversion
5.1.1 Wortbildungsarten
Die abgeleiteten Verben drücken „ein Bewirken der im Grundwort genannten Tätig-
keit“ aus (Henzen 1965, 212; vgl. dazu v. Polenz 1968b, 140 f.), z. B. fallen – etw. fällen
,veranlassen, dass etw. (ein Baum) fällt‘. Meist ist ein schwaches Verb als Kausativum
376 5 Wortbildung des Verbs
von einer Ablautform eines starken Verbs abgeleitet, vgl. saugen – säugen, liegen – legen,
sitzen – setzen, fahren – führen.
Schon in dem letztgenannten Paar ist der Zusammenhang nicht mehr so deutlich
wie in den anderen Fällen. Lautliche Veränderungen und semantische Entwicklungen
haben nicht selten dazu geführt, dass die Motivationsbeziehungen heute verdunkelt
sind. Bisweilen ist auch eines der ursprünglich zusammengehörigen Verben unterge-
gangen. So kann nur noch etymologische Forschung aufhellen, dass die folgenden
Verben einmal in einem ähnlichen Verhältnis wie die oben genannten Paare gestanden
haben: essen – ätzen, rinnen – rennen, springen – sprengen, reißen – reizen, winden –
wenden, beißen – beizen, biegen – beugen, dringen – drängen, genesen – nähren u. a.
Manche Paare sind nur noch mit bestimmten Präfixen in Gebrauch, so z.B. vergessen –
ergötzen (mhd. ergetzen), schwinden – verschwenden u. a.
Es sind auch noch Relikte einer Gruppe von Verben erkennbar, die mit inlautendem
-pf-, -tz-, -ck- (zurückgehend auf eine alte Doppelung -bb-, -dd-, -gg-, -pp-, -tt-, -kk-)
neben Verben mit inlautendem -f(f)-, -ss-, -ch- (zurückgehend auf die alten einfachen
Konsonanten -b-, -d-, -g-, -p-, -t-, -k-) stehen und sich als eine Bedeutungsgruppe mit
dem Ausdruck des Intensiven, Iterativen zusammenfassen lassen. Allerdings sind die
semantischen Beziehungen nicht mehr in jedem Falle klar und deutlich: biegen –
bücken, neigen – nicken, schmiegen – schmücken (mhd. smücken ,in etwas eng Umschlie-
ßendes drücken, an sich drücken‘, danach erst nhd. Schmuck); triefen – tropfen,
schnieben, schnauben – schnupfen; stechen – sticken, ziehen – zücken, zucken; gleißen –
glitze(r)n, reißen – ritzen, schleißen – schlitzen, sprießen – spritzen (älter sprützen),
(ge)nießen – nützen, schneiden – schnitzen (vgl. dazu ausführlich Wilmanns 1899, 86 ff.;
Paul 1920, § 91).
5.1.2 Affixbestand
2) Die verbalen Präfixe sind stets unbetont. Sie bilden nur untrennbare,
„nicht distanzierbare“ (Šimečkova 1984, 133), „feste“ (Henzen 1965, 87)
Verben. Außer miss- und ge- sind sie auf das Verb beschränkt. Komplexe
Substantive mit den Präfixen be-, ent-, er-, ver-, zer- wie Besuch, Vertrag u. a.
sind folglich deverbal zu deuten. Substantivische Bildungen mit miss-
müssen unterschiedlich bewertet werden: Missernte als Präfixderivation,
Missbrauch als Konversion.
Zu unterscheiden sind Präfixe ohne homonyme Verbpartikel (be-, ent-,
er-, miss-, ver-, zer-) von denen mit homonymer Verbpartikel (durch-, hinter-,
über-, um-, unter-, wider-). Zu Letzteren existieren eine gleichlautende Prä-
position und ein Funktionswort, vgl. das Kind umsórgen, den Stuhl úmwer-
fen, um den See gehen.
Zur Interpretation präpositionaler Erstglieder beim Substantiv ¢ 2.2.7.1.
Präfixderivat und Partikelverb unterscheiden sich durch die Betonung und
die Trennbarkeit (¢ 1.8.1.5).
Wie die nominalen Präfixe treten auch die verbalen ausschließlich an
Wörter (¢ 1.6.2.2); Syntagmen und Konfixe sind als Basis ausgeschlossen,
ebenso syntaktisch trennbare Verben.
Nicht alle der genannten Präfixe sind produktiv. So finden sich beispiels-
weise keine neueren Bildungen mit hinter- (Ausnahme: hinterfragen), unter-
und wider-. Zudem sind viele usuelle Verben mit diesen Präfixen kaum noch
motiviert, vgl. z.B. hinterbringen, hinterlassen, unterbieten, unterschlagen,
untertreiben, widerrufen, widersetzen.
3) Die älteren Präfixe dar-, ge- und ob- bleiben in unserer Darstellung
außer Betracht, da sie fast nur noch in demotivierten Wortbildungen vor-
kommen: darlegen, -bieten, -tun; gebieten, -fallen, -hören, -loben, -währen;
obliegen, -siegen, -walten. (Zur Entwicklung der Präfixderivate mit dar- und
ob- seit dem Althochdeutschen bis zur Gegenwart vgl. Kiesewetter 1988.)
Nur bei einigen ge-Verben lässt der Motivationsgrad die Ermittlung einer
Wortbildungsbedeutung noch zu. Das betrifft die Wortbildungsbedeutung
,egressiv‘ bei gefrieren, -rinnen, -brauchen (detailliert Fleischer 1980, 56 f.).
Wenn gegenwärtig sonst sowohl das ge-Verb als auch das gleichlautende
Simplex geläufig sind, ist das Präfixderivat meist als gehoben oder veraltet
markiert, vgl. gedenken, sich -haben, -loben, -mahnen, -reichen, -reuen,
-ruhen. Bei einem Teil dieser Verben kann ge- „als semantisch redundant
angesehen werden“ (Fleischer 1980, 57), vgl. (ge)mahnen, (ge)reuen, (ge)zie-
men.
In den meisten Paaren aus Präfixderivat und Simplex lässt sich jedoch keine semanti-
sche Beziehung mehr nachweisen (geloben – loben, gehören – hören), sodass die Derivate
378 5 Wortbildung des Verbs
synchron nicht analysiert werden können. Auch demotivierte Präfixderivate mit an-
deren Präfixen wie besuchen, entsprechen, verstehen, sich vertragen werden nicht in die
Analyse einbezogen. Das betrifft ebenso Derivate mit unikalen Basen wie ergötzen,
vergeuden und isolierte Partizipien, zu denen kein Verbalparadigma existiert, wie an-
geboren, entlegen, zerknirscht.
Baum) „eingespart“ wird; auch dabei geht die Bedeutung des Komplements
partiell in das Verb ein, nach Eroms (2010, 32) liegt hier eine „mikrovalen-
zielle Leerstellenbesetzung“ vor.
Zu Übersichten über die Arten der semantischen Modifikation (Bezeich-
nung von Phasen bzw. Verlaufsweisen des Geschehens) ¢ 5.2.1; ¢ 5.3.1.
dung vor: den Termin festlegen vs. etwas wohin legen; sich gesundschlafen vs.
schlafen (Fuhrhop 2005, 74). Hinzu kommt meist „eine neue, als solche
verfestigte Gesamtbedeutung“ (Dudenband 1, 2009, 52), die den Wortstatus
stützt. Fehlen entsprechende Merkmale, kann ein und dieselbe Verbindung
als Wort oder als Syntagma aufgefasst werden: die Arbeit fertigmachen oder
fertig machen. Möglichkeiten der Doppelinterpretation bestehen in erster
Linie bei solchen Verbindungen, bei denen syntaktisch eine Resultativkon-
struktion vorliegt, d. h., bei denen das Adjektiv das Resultat der vom Verb
bezeichneten Handlung angibt (Dudenband 4, 2009, 790).
Zu Substantiv-Verb-Verbindungen ¢ 1.2.2; ¢ 5.4.3; Fuhrhop 2005, 70 ff.;
Munske 2005a, 98 ff.
5.2 Präfixderivation
5.2.1 Grundsätzliches
2) Substantivische Basis
Desubstantivische be-Verben prägen im Kernbereich zwei Wortbildungs-
reihen aus.
2.1) Wortbildungsbedeutung ,agentiv‘: Von Personenbezeichnungen ab-
geleitet sind jmdn. befeinden, sich mit jmdm. befreunden, jmdn. bemuttern,
-spitzeln, -vormunden, -wirten.
2.2) Wortbildungsbedeutung ,ornativ‘: Die Basen sind Konkreta, vgl. etw.
bebildern, -dachen, -flaggen, -schottern, -solden, -wässern, und auch Abstrak-
ta (Wortbildungsbedeutung dann eher ,zufügend‘): jmdn. beauftragen, -glü-
cken, -glückwünschen, -mitleiden, -neiden, -noten, -rauschen, -seelen, -urlau-
ben, -vorzugen, -zuschussen. Bisweilen ergeben sich Doppelmotivationen wie
bei beneiden, motiviert durch Neid oder neiden.
3) Adjektivische Basis
Die Wortbildungsbedeutungen deadjektivischer Verben sind ,ingressiv‘: sich
befleißigen, bereichern, bemächtigen und ,kausativ‘: jmdn. befähigen, -günsti-
gen, -richtigen, -ruhigen, -sänftigen; etw. bekräftigen.
reiche oder -punkte der Bewegung gedeutet werden: dem Feuer entkommen
,vom Feuer wegkommen‘. In Verben wie entfallen, -fliehen, -reißen, -schwin-
den, -senden, -weichen, deren Basen schon ein ,Entfernen‘ bezeichnen, er-
gänzt ent- die Wortbildungsbedeutung ,intensiv‘. In entsprießen, -springen,
-stammen, -strömen ist die Wortbildungsbedeutung vergleichbar mit der
von aus-Verben (¢ 5.3.1.5). Synonymisch sind in dieser Subreihe ent-, aus-
strömen; vergleichbar damit die Paare ent-, ausladen, -leihen, -senden, wobei
die ent-Verben wegen ihrer stilistischen Markierung ,gehoben‘ stärkeren
Verwendungsbeschränkungen unterliegen. Das trifft auch auf Paare wie ent-,
losreißen, ent-, loskommen, ent-, verschwinden zu; antonymisch sind ent-,
versorgen, ent-, verhaften.
1.2) Den „aufhebenden Gegensatz“ (Henzen 1965, 106) bezeichnen ent-
binden, -ehren, -erben, -fesseln, -fetten, -färben, -flechten, -hemmen, -kleiden,
-kuppeln (synonymisch ab-), -laden (Batterie), -loben. Antonymisch ver- bei
-flechten, -loben, ein- bei -fetten, auf- bei -laden.
1.3) Ingressive Verben (mit historisch anderem Präfix: ahd. in-) werden
als gehoben empfunden, vgl. auch 1.1). Sie haben in der Regel eine nicht-
markierte synonymische Entsprechung mit einer Verbpartikel; vgl. mit an-:
entbrennen, -fachen, -zünden; mit ein-: entschlafen, -schlummern; aber wegen
sich ausschließender Konnotation nicht *entpennen, *-dösen. Sie machen
nur einen kleinen Teil der ent-Verben aus.
2) Substantivische Basis
Desubstantivische ent-Verben sind ,privativ‘: entgiften, -gräten, -haupten,
-keimen, -kernen, -korken, -kräften, -larven, -motten, -schlammen, -steinen.
Sie können in antonymischen Beziehungen zu ver- und be-Verben stehen:
ent-, beschleunigen (veraltete Basis schleunig ,schnell‘), ent-, verschlüsseln,
ent-, versiegeln; ent-, bevölkern.
3) Adjektivische Basis
Deadjektivische ent-Verben bezeichnen das Aufheben eines Zustands: ent-
fremden, entmündigen, entmutigen, entstofflichen oder das Bewirken eines
Zustands: entblößen. Doppelmotiviert sind entleeren (deadjektivisch oder
deverbal), „ein Gesicht beim Zeichnen entschönen“ (A. Mueller-Stahl).
Bei einem Teil der Verben ist die semantische Modifikation mit einer
syntaktischen verbunden. Die Basisverben werden durch Transitivierung
bzw. Inkorporation syntaktisch verändert: auf etw./jmdn. blicken –
etw./jmdn. erblicken, des Weiteren erbetteln, -forschen, -lauschen, -ringen,
-streiten, -hoffen, -streben, -zwingen; jmdn. um etw. bitten – etw. von jmdm.
erbitten.
Transitiv wie ihre Basis bleiben erdichten, -dulden, -erben, -finden, -lernen,
-raten, -rechnen, -retten, -schaffen.
Demotiviert sind sich ereignen, etw. -fahren, -halten, sich -holen, etw.
-obern, -zählen; mit unikaler Basis jmdn. ergötzen, jmdn./sich -innern, etw.
-lauben.
1) Verbale Basis
1.1) Die Hauptfunktion der Präfigierung von Simplizia mit er- besteht in
der Bildung egressiver Verben. Sie bezeichnen das Anstreben bzw. Erreichen
eines Resultats des vom Basisverb bezeichneten Geschehens oder nur das
Ende des Geschehens; sie „führen zu einem Zustand hin“ (Eichinger 2000,
226). Impliziert ist dabei häufig die Wortbildungsbedeutung ,intensiv‘. Fast
die Hälfte aller er-Verben gehört zu dieser Wortbildungsreihe (vgl. DWb 1,
342; Eroms 1980, 61 ff.): etw. erarbeiten, etw. -fassen, etw. -greifen, etw. -kau-
fen, -messen, jmdn. -pressen, etw. -rechnen, etw. -schwindeln. Die sehr zahl-
reich auftretenden Okkasionalismen können in der Mehrzahl auch dieser
Reihe zugeordnet werden, vgl. etw. erbäckern, -büffeln, -ramschen, -reden,
-spaßen, -züchten (E. Strittmatter), -googeln.
Synonymie mit anderen Präfixen und mit Verbpartikeln besteht z. B. bei
arbeiten, denken, rechnen mit aus-, bei löschen mit ver-, bei streben mit an-.
Zu den egressiven Verben gehören auch solche, die das ,Sterben‘ oder
,Töten‘ bezeichnen. Die Semantik der Basis verweist auf die Art und Weise
des Todes. Transitiv sind jmdn. erdrosseln, jmdn./sich -schießen, jmdn. -schla-
gen, -stechen, -tränken, -würgen; intransitiv erfrieren, -trinken.
Die Komponente ,intensiv‘ dominiert bei Zustandsverben: erahnen, -dul-
den, -freuen, -leiden, -strecken.
Schließlich sind auch Verben hierher zu stellen, die nach Kühnhold (DWb
1, 171) eine Aufwärtsbewegung bezeichnen wie etw. erbauen, -heben, jmdn.
-regen, -ziehen. Die Wortbildungsbedeutung ,lokativ‘ lässt sich in diesen
Verben allerdings kaum (noch) nachweisen (vgl. Hundsnurscher 1968, 226).
Konkurrierende Bildungen mit auf- sind deutlicher räumlich orientierend
(aufbauen, -heben). Auch Partikelverben wie auferstehen, anerziehen mit lo-
kativer Wortbildungsbedeutung zeigen, dass bei er- die räumliche Kompo-
nente in den Hintergrund tritt.
388 5 Wortbildung des Verbs
2) Substantivische Basis
Desubstantivische Präfixverben mit ver- haben die Wortbildungsbedeutun-
gen ,ingressiv‘ (verbauern, -greisen, -harschen, -schilfen, -städtern, -sumpfen,
-trotteln), ,kausativ‘ (jmdn./etw. verfilmen, -göttern, -ketzern, -kitschen,
-koken, -mosten, -saften, -schulen, -schrotten, -sklaven, -trusten), ,ornativ‘
(verchromen, -golden, -krusten, -minen, -rohren ,Rohre verlegen‘, -siegeln,
-silbern, -zinnen). Weniger motiviert sind sich verausgaben, etw. verauslagen
,auslegen‘. Okkasionelle Neubildungen zeugen von hoher Produktivität des
Modells: vergewerkschaften, -mauten, -stichworten (Poethe 2007, 216); wer
Raps verdieselt und Wein versprittet (Der Spiegel 2006).
3) Adjektivische Basis
Deadjektivische Verben sind ,ingressiv‘ (verarmen, -blassen, -flachen) oder
,kausativ‘ (veralltäglichen, -anschaulichen, -billigen, -einfachen, -einseitigen,
-feinern, -harmlosen, -unmöglichen). Die Basisadjektive sind, wie die Bei-
spiele zeigen, einfach oder komplex.
2) Substantivische Basis
Kausativ sind zerbröseln, -fleischen, -krümeln, -pulvern (,pulverisieren‘),
-spanen, -stäuben, -trümmern; instrumentativ ist zerbomben.
3) Adjektivische Basis
Die deadjektivischen Verben – nur wenige sind belegt – haben die Wort-
bildungsbedeutung ,kausativ‘: zerkleinern, -mürben.
5.2.3.1 Grundsätzliches
Zu den Präfixen durch-, hinter-, über-, um-, unter-, wider- existieren formal
gleiche Verbpartikeln (und auch Präpositionen; ¢ 5.1.2; ¢5.3). In vielen
Fällen konkurrieren sie an demselben Basisverb, besonders häufig v.a. bei
durch- und um-Verben: er wandert durch (das Tal) – er durchwandert das Tal;
er fährt um das Hindernis – er umfährt das Hindernis. Šimečkova" (1984, 135)
betrachtet diese Konkurrenz (Trennbar-/Untrennbarkeit der formal glei-
chen Verben) als den Normalfall. Verben, die entweder nur untrennbar
(unterbréchen) oder nur trennbar (dúrchhalten) vorkommen, stellen danach
die Peripherie der Gruppe dar (Šimečkova" 1984, 136). Präfix- und Partikel-
verben unterscheiden sich durch den Wortakzent (¢ 1.8.1.5).
Die Formenbildung kann „mit größter Sicherheit aufgrund der Valenz
des komplexen Verbs vorausgesagt werden“ (Šimečkova" 1984, 140). Un-
trennbarkeit korreliert in der Regel mit Transitivität; trennbare Verben sind
syntaktisch weniger einheitlich (Eroms 1982, 36).
Formal identische Präfix- und Partikelverben können semantische und
weitere syntaktische Unterschiede aufweisen: eine Jacke únterziehen – sich
einer Operation unterzı́ehen, eine Jacke ǘberziehen – die Zeit überzı́ehen. Bei
Fällen wie únterziehen – unterzı́ehen usw. grundsätzlich von Homonymie
auszugehen, wie das Horlitz für durch-Verben vorschlägt, scheint uns ange-
sichts vielfältiger semantischer Beziehungen zwischen den Varianten (vgl.
durchkreuzen, -leuchten) nicht gerechtfertigt zu sein (vgl. Horlitz 1982, 261).
Als allgemeine semantisch differenzierende Tendenz zeigt sich, dass un-
trennbare Verben zur Ausprägung abstrakterer Bedeutungen neigen (vgl.
Eroms 1982, 38).
Insgesamt ist seit frühmhd. Zeit eine Zunahme der trennbaren Verben zu
verzeichnen (vgl. zu durch- Horlitz 1982, 259; zu über- Henzen 1969, 191).
5.2 Präfixderivation 393
5.3 Partikelverbbildung
Zur morphologischen und syntaktischen Trennbarkeit der Partikelverben
sowie zur Klassifizierung der Verbpartikeln ¢ 1.8.1.5; zur semantischen und
syntaktischen Modifikation ¢ 5.1.3.
Die meisten Verbpartikeln verbinden sich ausschließlich mit verbalen
Basen; einige wie ab-, an-, auf-, aus-, ein-, über-, unter- leiten Verben auch
aus nominalen Basen ab (abflauen, eintakten).
Die Semantik der Partikelverben gestaltet sich wegen der vielen verschie-
denen Arten der Verbpartikeln außerordentlich heterogen, sodass hier nur
die zentralen Modifikations- und Transpositionsarten beschrieben werden
können, und diese auch nur in ihren typischen Ausprägungen.
5.3.1.1 Grundsätzliches
kommen als Basen vor: etw. durchgeben, sich -finden, -regnen, -schimmern.
Das Modell ist hochproduktiv.
Zur Valenzreduktion bei fachsprachlich gebrauchten Verben vgl. Horlitz
1982, 265 ff.
2) Wortbildungsbedeutung ,egressiv‘
Die Verben bezeichnen die Durchführung der Handlung bis zu einem Ab-
schluss, auch ,gründliches Handeln‘: durchatmen, etw. -braten, -diskutieren;
jmdn. durchhauen, -prügeln (so auch die Präfixverben mit durch- ¢ 5.2.3.2)
mit der Nuance ,ohne Unterbrechung‘, ,intensiv‘: die Nacht durcharbeiten,
-feiern, -schlafen.
5.3.2.1 Grundsätzliches
Die Verbbildung mit adverbialen Verbpartikeln ist im Deutschen reich ent-
faltet. Die meisten Verbpartikeln entsprechen Lokaladverbien wie z.B. da,
darauf, her, hier, hin, herüber, hinüber, empor, entgegen. Dazu kommen sol-
che, die sowohl lokale als auch temporale Bedeutung haben wie z.B. voran,
voraus, vorbei, vorüber, zurück; außerdem noch mit jeweils spezifischen Be-
deutungen los-, mit-, wieder, zusammen, zurecht. Besonders häufig treten
direktionale Verbpartikeln als Erstglieder auf (¢ 5.3.2.2). Sie verbinden sich
mit Verben unterschiedlichster semantischer Klassen (vgl. Henzen 1969;
Hinderling 1982, 97), Neubildungen fallen kaum als neu auf: deren Wasser
verführerisch blau zu uns hinaufstrahlte; dass sich eine Eigendynamik nicht
herbeibefehlen lässt (PDW 2006).
Ihrer Struktur nach sind die Verbpartikeln Simplizia wie in dalassen, fort-
fahren, hierlassen, heimkommen, weggehen, wiederbringen, wohltun; Kom-
posita wie in beiseite legen, dabei sitzen, drauflos reden, daraufhin arbeiten,
dazwischen fallen, herbei rufen, gegenüber liegen, hintan halten, hinterher-,
hinterdrein laufen, hintenüber fallen, vorüber gehen, zwischendrein schlagen,
zwischendrin liegen, zwischendurch fallen (ugs. für dazwischen hindurchfal-
len) oder Derivate auf -wärts wie in aufwärts gehen, vorwärts entwickeln.
Adverbien mit hier- (hieran) und wo- (woran) werden nicht als Verbpar-
tikeln gebraucht, ebensowenig adverbiale Derivate auf -s (nachts), -lich (frei-
lich), -lings, -maßen, -weise, -mal.
Die entstehenden Verben sind stets trennbar, die Verbpartikeln tragen
den Ton. Bei zweisilbigen Erstgliedern (außer bei wieder) liegt der Akzent
auf der zweiten Silbe der Verbpartikel. Ein zusätzlicher Akzent auf dem
Verbstamm kennzeichnet das Syntagma: davór stéllen, nicht setzen. Verben
mit komplexen Verbpartikeln wie da + hin oder da + hinaus usw. erscheinen
ohne greifbaren Bedeutungsunterschied in zwei grafischen Varianten: dahin-
gehen, dahinausgehen oder da hingehen, da hinausgehen.
1) Besonders aktiv sind her und hin sowie die entsprechenden Komposita
mit Präpositionen wie herauf, hinunter (¢ 4.2.2). Sie verbinden sich nahezu
unbeschränkt mit Verben der Fortbewegung, dabei okkasionell auch mit
solchen, die eine relativ spezifische Bedeutung haben und sonst kaum wort-
bildungsaktiv sind: herbeitrippeln, hinüberwatscheln, hinauskutschen. Auch
Verben anderer semantischer Klassen gehen in großer Zahl Verbindungen
420 5 Wortbildung des Verbs
Demotiviert, aber noch schwach lokativ deutbar sind sich lossagen ,eine
Beziehung für gelöst erklären‘ und jmdn. lossprechen ,jmdn. von etw., das
ihn belastet, freisprechen‘. Los- bildet außerdem Verben mit ingressiver Be-
deutung. Vornehmlich bei Verben der Fortbewegung und der Lautäußerung
bezeichnet los- den (plötzlichen) Beginn eines Geschehens: losfahren, -gehen,
-laufen, -marschieren, -rennen, -ziehen; losbrüllen, -heulen, -lachen, -platzen,
-prusten. Entsprechende Synonyme mit auf- (aufheulen, -lachen) betonen
stärker das punktuelle Geschehen. Synonyme zu den Fortbewegungsverben
entstehen durch ab- oder weg-, wobei die Verben mit los- die Bewegung
deutlicher als zielorientiert erfassen.
Die umgangssprachlichen Verben mit drauflos wie drauflosfahren, -gehen,
-laufen, -reden, -wirtschaften haben die zusätzliche Nuance ,die Tätigkeit
unbesonnen, schnell beginnen‘, meist mit pejorativer Komponente.
2.3) Zurück realisiert neben den räumlichen Lesarten ,nach hinten‘ oder
,an den Ausgangspunkt‘ (zurückfahren, -legen; Spieleinsätze zurückverlangen
[Der Spiegel 2006]) auch eine zeitliche (zurückdenken, sich zurückversetzen).
Seit dem 16. Jh. konkurriert mit zurück als Kompositionsglied die Vari-
ante rück- (vgl. Henzen 1969, 110). Sie kann grundsätzlich immer für zurück
stehen, begegnet in der Gegenwartssprache jedoch bevorzugt bei zusam-
mengesetzten oder von Verben abgeleiteten Substantiven: Rückweg, -seite,
-schritt, -zug. Verben mit rück- sind vor allem in den Fachsprachen üblich:
rückspulen, -koppeln, -blenden, in beschränktem Umfang aber auch im All-
gemeinwortschatz: rückfragen, -übersetzen. Generell dominiert im Verbal-
bereich jedoch die Form zurück als Erstglied. Die Ursache für diese Domi-
nanz liegt in der Tendenz der komplexen Verben zur Trennbarkeit in den
finiten Formen. Im Unterschied zu rück- kann zurück vom Basisverb ge-
trennt stehen. Verben mit rück- werden meist nur in den infiniten Formen
oder in Verbletztsätzen (während er rückfragt) gebraucht (dazu Henzen
1969, 110). Bei gleichzeitiger Existenz deverbaler Substantive mit rück- und
entsprechender Verben wie Rücksendung – rücksenden, Rückfrage – rückfra-
gen, Rückübersetzung – rückübersetzen können die Verben sowohl als Parti-
kelverb (Variante zu zurücksenden usw.) wie auch als desubstantivische
Rückbildung aufgefasst werden.
2.4) Fort und weg bilden Verben mit der Lesart ,von einem Punkt weg; an
einer bestimmten Stelle nicht mehr sein‘. Sie sind in motivierten Bildungen
oft ohne semantische Veränderung des Verbs austauschbar: fort-/wegziehen,
fort-/wegfahren, fort-/wegreißen; nicht in den Neubildungen wegklicken,
-zappen (Herberg/Kinne/Steffens 2004, 373 f.), die Reibereien [in einem
Sportclub, I. B.] einfach wegsiegen (Stern 2010). Mitunter lassen sich noch
Synonyme mit davon- und ab- ergänzen: davonziehen, -fahren, abfahren. Fort
5.3 Partikelverbbildung 423
mung, des Sprechens (aber: ugs. sich festquasseln), Verben zur Bezeichnung
von Witterungserscheinungen (aber: festfrieren). Mit Verben der Fortbe-
wegung kommen sich festfahren, -rennen, fachspr. auch festlaufen vor, fest-
rennen in übertragener Bedeutung ,sich in etw. verrennen, festbeißen‘. Be-
vorzugte Vereinbarkeitspartner von fest- sind Verben, die das ,Verbinden von
Teilen‘ sowie ein ,Befestigen‘ bezeichnen, vgl. festbinden, -haken, -keilen,
-klammern, -klemmen, -nageln, -schrauben.
4) Die Wortbildungsbedeutungen der Partikelverben mit adjektivischer
Verbpartikel ergeben sich aus den potenziellen syntaktischen Beziehungen
eines Adjektivs im Satz. Es kann einem prädikativen Attribut zum Subjekt
(I) oder Objekt (II) des Satzes entsprechen (krankfeiern, gesundpflegen) oder
sich als Adverbial direkt auf das Prädikat (III) beziehen (hochbinden). In-
nerhalb dieser drei Gruppen lassen sich weitere Untergliederungen vorneh-
men (vgl. Schröder 1976, 103), z.B. nach ,Resultat‘ (I: festfahren, II: gesund-
pflegen), ,Zustand‘ (II: gutheißen), ,modal‘ (III: leichtfallen). Entsprechend
den syntaktischen Gegebenheiten (der zweiseitigen syntaktischen Bezogen-
heit des prädikativen Attributs auf Subjekt oder Objekt einerseits und Prä-
dikat andererseits) vereinen zahlreiche Verben in sich Bedeutungsmerkmale
sowohl von Gruppe I und II als auch solche von Gruppe III, z. B. den Tisch
hochklappen impliziert ,der Tisch ist hoch/oben‘ (II) und ,das Klappen ge-
schieht nach oben‘ (III).
Bei demotivierten Verben wie kurzhalten ,streng behandeln‘, krummneh-
men ,verübeln‘ muss auf die Bestimmung der Wortbildungsbedeutung ver-
zichtet werden. Bei noch durchschaubarer Metaphorisierung wie in hoch-
halten ,schätzen‘, geradebiegen ,regeln, in Ordnung bringen‘ kann die Ana-
lyse der Wortbildungsbedeutung des Verbs in der wörtlichen Bedeutung das
Nachvollziehen der Metaphorisierung erleichtern.
5) Verben wie fehlgehen, feilbieten, kehrtmachen, kundtun und wettmachen
vertreten eine Sondergruppe. Die jeweiligen Erstglieder begegnen in der
Gegenwartssprache nur noch in teilweise veralteten Wortbildungen oder
Phrasemen: fehl am Platz(e) sein, wohlfeil, kund und zu wissen tun, wobei das
GWDS feil und kund noch als veraltete Adjektive lemmatisiert. Kehrt lässt
sich auf den Imperativ von kehren beziehen. Lediglich fehl- und kund- haben
ansatzweise Reihen ausgebildet: fehlgehen, -greifen, -leiten, -schießen, -schla-
gen, -treten, kundgeben, -machen, -tun, -werden (¢ 2.2.4.3.2).
Differenziert zu beurteilen sind die Verben mit wett- als Erstglied. In
wettmachen ist wett noch adjektivisch mit der Bedeutung ,frei von Verbind-
lichkeiten‘ gebraucht (vgl. wett sein ,quitt sein‘). Wettmachen hat ein voll-
ständiges Paradigma und ist trennbar: er macht wett, wettgemacht, wettzu-
5.3 Partikelverbbildung 427
5.4.1 Grundsätzliches
Neben Substantiv, Adjektiv und Verb treten andere Wortarten nur verein-
zelt als Basen für verbale Suffixderivate auf: Interjektionen wie ach sind die
Basen für die lautmalenden Verben ächzen, juchzen/jauchzen, dazu weiter
– mitunter mit Konfix als Basis – grunzen, maunzen, raunzen, krächzen,
piepsen, tirilieren, wiehern; auf Pronomen zu beziehen sind jmdn. duzen,
siezen.
2) Die Zirkumfixderivation kennt nur nominale, nicht verbale Basen. Ihre
unmittelbaren Konstituenten sind Substantiv bzw. Adjektiv sowie diskon-
tinuierliches Zirkumfix: bevollmächtigen ist demnach zu segmentieren in
Vollmacht + be-…-ig(en).
Quantitativ gesehen spielt diese Wortbildungsart wie auch die Suffixde-
rivation für die Verbbildung in der Gegenwart nur eine untergeordnete
Rolle. Von Unproduktivität kann aber nicht generell gesprochen werden.
Zwar wird z.B. bei einigen ver-Verben das Suffix -ig in der Gegenwart getilgt,
so finden sich noch im Grimmschen Wörterbuch vergiftigen, -hehligen, -nich-
tigen, in anderen Fällen aber erscheinen ursprünglich suffixlose Verben erst
in jüngerer Zeit mit -ig: Goethe verwendet z.B. noch verängsten (weitere
Beispiele bei Henzen 1956, 179). Gelegentlich stehen heute beide Formen
nebeneinander, meist mit deutlichen Distributions- und Bedeutungsunter-
schieden, vgl. befrieden – befriedigen, erkunden – erkundigen, verkünden –
verkündigen.
Verben, bei denen die suffigierte Form auch ohne Präfix geläufig ist (ver-
ängstigen – ängstigen, entschädigen – schädigen, zerstückeln – stückeln)
werden als deverbale Präfigierungen betrachtet. Auch Suffixderivate von
deverbalen Substantiven wie verdächt igen von Verdacht, verständ igen von
Verstand gehören nicht hierher.
1) Verbale Basis
Das Suffix -(e)l(n) realisiert die Wortbildungsbedeutung ,diminutiv-itera-
tiv‘, vgl. lachen – lächeln, ebenso brummeln, deuteln, drängeln, hüsteln, liebeln,
spötteln, schnitzeln, streicheln, tappeln, trotteln, tänzeln, zischeln, zuckeln. Bei
umlautfähigem Stammvokal des Verbs tritt in der Mehrzahl der Fälle
Umlaut ein.
Semantisch nicht aufeinander zu beziehen sind in synchroner Sicht Paare
wie betten – betteln, funken – funkeln, gründen – gründeln ,auf dem Grund
von Gewässern nach Nahrung suchen‘, heften – hefteln, stoppen – stoppeln,
tippen – tippeln u. a.
430 5 Wortbildung des Verbs
Eine erhebliche Anzahl von Verben gehört in den Bereich der Schallnach-
ahmungen und ähnlicher mehr oder weniger expressiver, nicht mehr seg-
mentierbarer Bildungen: babbeln, bimmeln, buddeln, gammeln, krabbeln,
kribbeln, hätscheln, lispeln, muddeln, munkeln, nuscheln, quabbeln, quasseln,
quakeln, prickeln, pinkeln, rappeln, sabbeln, schwappeln, schunkeln, tätscheln,
torkeln, watscheln, wimmeln, zappeln.
2) Substantivische Basis
Die Zahl desubstantivischer Derivate mit -(e)l(n) ist relativ klein. Bis auf
eifersüchteln haben sie simplizische Basen.
Semantisch lassen sich die Derivate in zwei Wortbildungsreihen gliedern,
wobei innerhalb von b. zahlreiche Spezialisierungen auftreten: a. etw. fälteln,
häufeln, stückeln ,etw. in eine bestimmte Form bringen‘ und b. die Reihe mit
diminutiv-iterativer Bedeutung: etw. fädeln (synonymisch auf-, einfädeln),
süddt., österr. fensterln, frösteln (dagegen fachspr. frosten), herbsteln, kriseln,
pejorativ kritteln, ugs. radeln, sich schlängeln, ugs. scherzh. sporteln, süffeln,
landsch. werkeln, witzeln; mit Personenbezeichnungen als Basen französeln,
sächseln, schwäbeln ,ein wenig/in der Art eines Franzosen usw. sprechen‘;
ugs. menscheln ,menschliche Schwächen deutlich werden lasssen‘ (Duden-
band 1, 2009, 727).
Demotiviert sind jmdn. hänseln ,necken‘, landsch. salopp scherbeln ,tan-
zen gehen‘, salopp wursteln ,langsam arbeiten‘ (auch rum-, dahinwursteln).
3) Adjektivische Basis
Von adjektivischen Basen werden nur wenige Verben mit -(e)l(n) abgeleitet:
frömmeln, blödeln, klügeln, kränkeln (wobei kränkeln auch deverbal erklärbar
ist), schwächeln. Sie haben die Bedeutungen ,fromm, blöd sein‘ oder ,sich so
benehmen, als sei man fromm, blöd‘ usw. und werden – außer kränkeln –
meist ironisierend gebraucht. Nicht als Derivat auf -(e)l(n) ist ähneln zu
bestimmen. Das Verb gilt als unregelmäßige Kürzung (17. Jh.) aus älterem
ähnlichen (Kluge 1999, 20).
1) Verbale Basis
Verben auf -(e)r(n) haben die Wortbildungsbedeutung ,iterativ‘ ohne die
diminutive Komponente: blinkern, schleckern. Stärker demotiviert sind z.B.
folgern, schlingern, steigern. Die Wortbildungsbedeutung ,kausativ‘ hat jmdn.
einschläfern (von intransitivem einschlafen).
5.4 Suffix- und Zirkumfixderivation 431
5.4.6 Zirkumfixe
5.5 Konversion
5.5.1 Grundsätzliches
1) Die Basen sind bei der Konversion meist Simplizia im Positiv (weiten)
und vereinzelt im Komparativ (bessern), nur selten Derivate (kräftigen).
Adjektivische Derivate aus Syntagmen wie blauäugig und Komposita wie
hell-, himmelblau werden nicht konvertiert. Auch nicht von allen Simplizia
sind verbale Konversionsprodukte üblich; sie fehlen z.B. bei fad(e), fahl,
herb, klamm, schal, schlank, schwül, zäh (zu potenziellen Ursachen Motsch
1977, 184).
2) Adjektive werden durch die Konversion in vielen Fällen formal unver-
ändert in die Wortart Verb transponiert (Anfügen von Infinitivmorphem
-en, bei Basisendung -e nur -n), vgl. kranken, trüben, Sonderfall ist albern.
Hier sind Adjektiv und Verb formal identisch (vgl. auch die Partikelverben
nüchtern > ausnüchtern, schüchtern > einschüchtern).
Von formalen Veränderungen können Basisendung und Stammvokal be-
troffen sein. Wenn die Basis auf -en endet, entfällt bei der Konversion das
schwachtonige -e-: trocken > trocknen. Bei Adjektiven mit umlautfähigem
Stammvokal tritt sehr oft Umlaut ein, und zwar vor allem bei transitiven
Verben (zu etwa 80 %; DWb 1, 25), wie bei kürzen. Bei den meisten intran-
sitiven Verben ändert sich der Stammvokal nicht: dunkeln.
438 5 Wortbildung des Verbs
5.6 Rückbildung
5.7 Komposition
belletristischen Texten begegnet das Modell hin und wieder. Wegen dessen
Seltenheit wirken diese Komposita stark expressiv, vgl. grinskeuchen, stöhn-
schnappen, zuckschlingern, schnaufwittern (A. Holz), rollrasseln (A. Kerr),
schwatzlachen (J. Ponten); fluchbeten (M. v.d. Grün); Belege bei Schneider
(1959, 205); weitere Belege bei Erben (1980, 65).
Im Unterschied zum meist autorspezifischen Vorkommen in der Belle-
tristik gilt die Komposition aus Verbstamm und Verb in Fachsprachen „als
systematisch ausgeprägt“ (Kienpointner 1985, 268). Die entsprechenden
Bildungen sind nicht expressiv, vgl. brennhärten, presspolieren, spülbohren.
Reinhardt (1966, 186) registriert für die erste Hälfte des 20. Jh. eine zuneh-
mende Produktivität des Modells in technischen Fachsprachen, die sich
sowohl an der Vielzahl der Belege als auch an einer in Ansätzen zu verzeich-
nenden Reihenbildung zeigt, vgl. gleit-, polier-, reib-, schwing-, trenn-, zieh-
schleifen. Nach Reinhardt (1966, 191) ist die „normale Anwendungsform“
dieser Komposita der substantivierte Infinitiv wie das Spritzpressen, Streck-
walzen, Spülbohren, Schälfräsen (¢ 2.6.2.1), vgl. ebenso das Drohstarren, Hör-
verstehen. Sie kommen auch häufig als Partizipien vor (presspoliert, press-
geschweißt). Die entsprechenden Infinitive sind jederzeit bildbar. Wenn sie
aus diesen Nominalformen abgeleitet und nicht direkt aus Verbstamm und
Verb zusammengesetzt werden, sind sie als Rückbildungen zu bestimmen.
Im Einzelfall ist der Bildungsweg jedoch kaum sicher nachzuvollziehen
(¢ 1.8.1.6). Mit den durch Rückbildung entstandenen „Pseudokomposita“
(Åsdahl-Holmberg 1976, 19) aus substantivischem Erstglied und Verb
(zwangsversteigern) haben sie gemeinsam, dass sie nur in Ausnahmefällen in
den finiten Formen gebraucht werden, und zwar untrennbar: man fließpresst
[…] Formteile (Beleg bei Reinhardt 1966, 191).
Je nach der Bedeutung der komplexen Verben kann das Verhältnis zwi-
schen ihren unmittelbaren Konstituenten als Subordination oder Koordi-
nation aufgefasst werden (¢ 5.1.1). Für die fachsprachlichen Verben scheint
die Annahme eines determinierenden Verhältnisses näherliegend zu sein, da
das Erstglied in der Regel als modale Spezifizierung des Zweitgliedes ver-
standen wird und eine Vertauschung der Reihenfolge der Konstituenten mit
einer Bedeutungsänderung verbunden ist, vgl. spülbohren – ,spülend boh-
ren‘ oder ,bohren, indem dabei gleichzeitig gespült wird‘, aber nicht bohr-
spülen (vgl. Kienpointner 1985, 267). Die in der Belletristik belegten Verben
lassen eher beide Interpretationen zu: grinskeuchen – ,grinsend keuchen‘
oder ,grinsen und keuchen‘. Die Umkehrung der Reihenfolge der unmit-
telbaren Konstituenten bewirkt keine fassbare Bedeutungsveränderung:
keuchgrinsen, vgl. auch sprechsingen vs. singsprechen.
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Abkürzung 280 Bindestrich 193, 282, 331 Distribution 20, 33, 59,
Adverbialsuffix 361 Binnenmajuskel 194, 282 109, 171, 187, 210, 214,
Affix 20, 32, 52ff., 78, 84, Blockierung 179 304, 318, 345
86, 98, 105ff. s. auch Bildungsbe- Doppelmotivation 69,
produktives 75 schränkung 159f., 304, 375, 379f.,
Affix- Buchstabenkurzwort 439
-art 54ff. 278, 280ff., 286, 288 Doppelpräfigierung 388
-bestand 56ff., 106f., s. auch Kurzwort, mul- Eigenname 179
376ff. tisegmentales s. auch Onym
-entstehung 59 Demotivation 45 Einheit 51
Affixoid 59 Deonymisierung 183f. exogene 102, 104f.,
Akkusativsyntagma 436 Derivat 86f. 108ff.
Akzentmuster 128, 210 deonymisches 224 indigene 102
Akzeptabilität 30, 80 dephrasales 309 Entlehnung 20f., 102
Allomorph 209, 256 konkurrierendes 228 Erstglied, onymisches
Alternativkonstruktion implizites 89 316f.
332 Derivation 86f. Fachwort 286
analog-holistisch 76 deonymische 317ff. Familienname 180, 181,
Arbitrarität 42 dephrasale 62, 189 183, 253
Augmentation 143ff., derivationsaktiv 226 Flexions-
263 Derivationsbasis 86 -morphem 11, 53
Bedeutungs- exogene/fremdsprach- -morphologie 9ff.
-bildung 21 liche 112ff., 115f., -suffix 10
-wandel 21 340f., 432f. Formativstruktur 136,
Beziehung indigene/heimische 152ff., 161f.
konstruktionsexterne 114f., 116, 431 Formenparadigma 412,
129 Derivations- 417, 374
konstruktionsinterne -modell 77 Fremd-
129 -stammform 52, 240 -basis 113
syntaktische 426 Destruktion 128 -element 112, 128,
Bildung, verdeutlichen- Determinativkompositum 137, 323
de 112, 146, 312, 72, 85, 139, 150, 323f., -präfix 116, 425
390 325f. -suffix 114f.
Bildungs- diachron 4 Fremdwortbildung
-beschränkung 148f., Diminutivum 136, 232 102ff.
202, 236f., 353 Diminuierung 231ff. Fuge 185
-restriktion 77, 148f. Diminutivsuffix 136, Fugenelement 66f., 110f.,
s. auch Blockierung 232ff. 186, 187f., 189f., 190f.,
binär 69, 83 Distanzstellung 374 191f., 330f., 336, 366
Binarität 69 s. auch Trennbarkeit Gegensatzrelation 101
Sachregister 479
Genus 71, 85, 89, 151, verbale 374, 440f. Kürzung 82f.
215, 218, 274 Kompositionsaktivität Kurzwort 91
Gradation 310ff. 133f., 135, 152f., 170ff. multisegmentales
s. auch Verstärkung Kompositionsstammform 277
Grammatikalisierung 52, 186 s. auch Buchstaben-
61ff. Kompositum 84f. kurzwort
Grundmorphem 27, 53 deonymisches 183f. partielles 277
appellativisches 251 eigentliches 185 unisegmentales 277
rekurrentes 27 onymisches 181f. verbales 91
Grundstammform 52, polymorphemisches Kurzwort-
240 128, 138f. -aussprache 281
Handlungsbezeichnung uneigentliches 185 -bedeutung 277
229 verdeutlichendes Kurzwortbildung 91, 277
s. auch Nomen Actio- 146ff., 327 stilbildende 289f.
nis Komprimierung 41, textkonstitutive 288
hochproduktiv 75, 144, 346f. textsortentypische
171, 202, 214, 307, 346, Konfix 63f., 107f. 290ff.
389 exogenes 172f. Kurzwort-
Homonym 54, 58, 111f., indigenes 174 -flexion 280f.
134, 289, 359 Konfixkompositum 84, -kompositum 283f.
Homonymie 179, 251 110f., 278 -neubildung 285f.
Hörfunknachricht 38f., Konnotation 9, 24, 32, -schreibung 282
292f. 78f., 124, 134, 184, 199, -typ 277
Hybridbildung 102 207f., 215, 235, 253, Ländername 180, 197,
Idiomatisierung 47 266, 289, 316, 420 204f., 252f., 318
Infigierung 320 Konstituente, unmittelba- Lautäußerung 438
Infinitivkonversion 89, re 69, 83 Lexem 51
270ff. Kontamination 93f. primäres 2, 21
Inflektiv 11, 36, 295 Konversion 87, 428, sekundäres 2, 21
Initialwort 278 434ff., 437ff. Lexikalisierung 23
Inkorporation 378, 387 adverbgerichtete Lexikalisierungsaffinität
Inventarisierung 286 370ff. 25
Isotopie 27 deadjektivische 272ff. Lexikon 17f.
Isotopiekette 27, 33, 38 deonymische 319 Modellierung 67ff.
Kernlexem 99 departizipiale 272ff., Modellierungsschritte
Klammerform 157 359 73f.
Klasse, funktional-seman- morphologische 88, Modifikation 97, 119f.
tische 47f., 96, 97f., 267ff., 358 semantische 378, 397
119f., 121ff., 305, syntaktische 88, 267, syntaktische 378, 381,
306ff. 270ff., 359 387, 398
kohäsionsbildend 26 Konversions- Morphem 52f.
Kombination 82f. -basis 87 Morphem, unikales 65f.,
Komposit(ions)metapher -richtung 88, 268f. 217
142f. Kopulativkompositum Morphematisierung 53,
Komposition 84f., 111f. 85, 149ff., 326f. 104
substantivische 127f. endozentrisches 150 Morpheminventar 53
adjektivische 320ff. exozentrisches 150 Motivation 42
adverbiale 362f. Kurzschreibung 295 figurative 43f.
480 Sachregister