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HAUSMITTEILUNG
Titel | Seite 8
DEUTSCHLAND
29 | Nebeneinkünfte Annalena
Baerbocks Boni-Probleme
30 | Auslandseinsätze Militär-
Von allen guten Geistern verlassen historiker Neitzel über das
Versagen der deutschen Außen-
politik
RELIGION Immer mehr Katholiken in Deutschland kehren ihrer Kirche den Rücken.
Inzwischen treten auch die Engagierten, Überzeugten und Tiefreligiösen aus. 32 | Internet Digitalstaats-
Sie flüchten aus einer Institution, die sie als starrsinnig, verknöchert und zutiefst ministerin Dorothee Bär twittert
viel, schafft sonst aber wenig
unmodern wahrnehmen. »Es ist eine Kernschmelze im Gang«, sagt ein hoch-
rangiger Theologe. Doch der Vatikan und Papst Franziskus tun nichts dagegen. | 8 36 | Antisemitismus Junge
Muslime hetzen in Deutschland
gegen Juden
SERIE: REPUBLIK 21
42 | Gerechtigkeit Ostdeutsche
müssen länger arbeiten, ver-
dienen aber weniger als Wessis
Jens Gyarmaty / VISUM
REPORTER
Dietmar Hopp Dorothee Bär Sebastian Kurz
Der Mitgründer intervenierte Sie ist »always on«, bei allem Vom Wunderwuzzi zum Alpen- 50 | Familienalbum / Warum
bei SAP zugunsten eines dabei. Doch was hat die Digital- Orbán? Österreichs Bundeskanz- tragen Männer die Maske häufig
fragwürdigen Geschäfts. | 68 staatsministerin bewirkt? | 32 ler steht vor einer Anklage. | 81 unter der Nase?
Floskeln im Minenfeld
LEITARTIKEL Der Streit um den Nahostkonflikt ist zurück – im Gewand einer neuen Identitätspolitik und des
alten Antisemitismus. Es wird Zeit, dass Deutschland sich für eine langfristige Lösung einsetzt.
TI S S OT WATC H E S .CO M
TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION
TITEL
Giorgio Onorati / dpa
NICHT
VON
DIESER
W E LT
RELIGION
Skandale zerreißen die katholische Kirche, der Muff von
Jahrhunderten vertreibt mehr Gläubige als je zuvor.
Doch die alten Männer an der Spitze halten fest an dem,
was immer so war. Wie soll das gut gehen?
E
ine Stadt, einst Hort des Katholizis- Das Seminar ist so weitläufig, dass St. Bo-
mus. Eine Immobilie, 10 000 Quadrat- nifatius mit seinen rund 70 Wohneinheiten,
meter groß. Eine Institution, 453 Jahre den zwei Kapellen und dem riesigen Speise-
alt. Doch die Zukunft des Priesterseminars saal hoffnungslos überdimensioniert ist.
St. Bonifatius inmitten der Altstadt des Bi- Schon seit Längerem wohnen dort auch
schofssitzes Mainz ist ungewiss. Studierende der Katholischen Hochschule
Tausende Priester haben hier, hinter der sowie Freiwillige, die ein Jahr lang in Kitas
Barockfassade aus rotem Sandstein, ihren und Pfarrgemeinden aushelfen, quasi zur Un-
akademischen Schliff bekommen. Im Erd- termiete.
geschoss hängen die vergilbten Gruppenfotos Priester ist ein Mangelberuf. Und die Zah-
der Anwärter vergangener Jahrzehnte. Je jün- len werden von Jahr zu Jahr dramatischer.
ger die Bilder, desto kleiner die Grüppchen. 2020 erhielten in den 27 deutschen Bistümern
1965 studierten 139 Seminaristen, aktuell sind 67 Männer die Priesterweihe. Vor 20 Jahren
es 9. Die Zahl der Priesterweihen sank im sel- waren es 154, vor 30 Jahren 295. Noch leisten
ben Zeitraum von 19 auf 2. sich die Bistümer ihre eigenen Nachwuchs-
Alexander Deick, 21, ist im fünften Semes- programme, doch damit wird es bald vorbei
ter dabei. Spricht er außerhalb der Mauern sein. Die Bischofskonferenz will die Aus-
von St. Bonifatius über seinen Berufswunsch, bildung auf drei, vier Orte konzentrieren.
stößt er häufig auf Unverständnis: »Ich habe Und Mainz hofft, eines dieser Reservate zu
schon das Gefühl, mich rechtfertigen zu müs- werden.
sen.« Wenn er dann erkläre, Priester zu wer- Gut 150 Kilometer rheinabwärts, die Tür-
den sei seine »Bestimmung«, lenkten die me des Kölner Doms in Sichtweite, ein ganz
meisten zwar ein. Doch Deick blickt der anderes Bild. Hier geben sich Gläubige in
Realität ins Auge: »Die Kirche hat ein großes einem neobarocken Kuppelbau buchstäblich
Imageproblem.« die Klinke in die Hand: Amtsgericht Köln,
Zimmer 37. In dem Sitzungssaal fin- ren wollen, die auch im 21. Jahrhun-
den sonst Zwangsversteigerungen dert noch an der Struktur einer abso-
statt. lutistischen Monarchie festhält.
Petra, 54, Angestellte einer Bank, Für manchen ist das ein schwerer
ist pünktlich um 10.40 Uhr an der Rei- Schritt. Bevor Heinz-Jürgen, 54, Ter-
he. »Katholisch?«, fragt die Rechts- min um 10 Uhr, das Amtszimmer be-
pflegerin hinter der riesigen Plexiglas- tritt, bekennt er: »Mir geht es nicht
scheibe. »Ja«, antwortet Petra. Einen gut. Ich habe Angst, dass ich in die
Augenblick später brummt der Dru- Hölle komme.« Das sei kein Scherz,
cker, ein Papier fällt in den Ausgabe- schiebt er hinterher und verschwin-
schacht. Eine Unterschrift, ein kurzes det hinter der dunklen Holztür.
»Auf Wiedersehen«. Zu wenig sei passiert, seit 2010 der
30 Euro Gebühr und ein nicht mal Missbrauchsskandal in der katholi-
fünfminütiger Verwaltungsakt been- schen Kirche ruchbar wurde, das sa-
den, was Petra ein Leben lang wichtig gen fast alle. Und Gründe, die Insti-
war: die Mitgliedschaft in der katho- tution für abgehoben oder ignorant
lischen Kirche. zu halten, bietet sie seitdem reichlich:
Sie denkt immer noch gern zurück Etwa wenn, wie in Limburg, ein Bi-
an die alten Zeiten, an die Morgen- schof sich in seine Residenz bronzene
andachten um 5.30 Uhr und das ge- Fensterrahmen für 1,7 Millionen Euro
meinsame Frühstück, bevor es in die einbauen lässt, die Modernisierung
Schule ging. An die Kinderfreizeiten des Baus weit über 30 Millionen Euro
an der Ostsee, die sie als Betreuerin verschlingt. Wenn andererseits, wie
begleitete. An ihr Engagement in der in Hamburg oder Mainz, angesehene
katholischen Hochschulgemeinde katholische Schulen aus wirtschaft-
während des Jurastudiums. lichen Gründen aufgegeben werden.
Doch mit der Kirche in ihrem ak- Wenn, wie aktuell in Speyer, gegen
tuellen Zustand kann sich Petra nicht Ordensschwestern eines Kinder-
sei »das Ergebnis jahrzehntelang ausgesesse- ßerdem fragte Civey genauso viele ehemalige brauchsskandal zu ziehen und Reformen ein-
ner Strukturreformen«. Katholiken – von ihnen haben 91,5 Prozent zuleiten: den »Synodalen Weg«.
Und diese Welle werde von den Kirchen- wenig oder gar kein Vertrauen mehr in die Nachdem Ende 2018 eine DBK-Studie
oberen unterschätzt: »Es sind nicht mehr nur Kirche, aus der sie ausgetreten sind. zum Missbrauch durch Geistliche 1670 Be-
die Randkatholiken, die davonlaufen«, sagt Ihr Bedeutungsverlust spiegelt sich auch schuldigte und 3677 minderjährige Opfer zwi-
der promovierte Theologe. »Es sind die Treu- in den Antworten auf die Frage wider, welche schen 1946 und 2014 identifiziert hatte, sah
esten der Treuen.« Jene Gläubigen also, die Rolle »die Institution der katholischen Kirche Marx die Notwendigkeit, die Debatte zu öff-
die Kirche am Leben und am Laufen halten, in ihrem Leben« spiele: Für 52 Prozent spielt nen. Im Synodalen Weg tauschen sich die 68
oft unentgeltlich, im Ehrenamt. Meier: »Es sie eine eher kleine oder gar keine Rolle. Bei Bischöfe nun mit normalen Gläubigen aus,
ist eine Kernschmelze in Gang.« den Ex-Katholiken sind das 95,6 Prozent. mit Vereinen, Initiativen oder, wie man im
Die Sprachlosigkeit der Kirchenoberen ist Kirchendeutsch zu sagen pflegt: mit Laien.
Der Befund: Nicht vertrauenswürdig offenbar von vielen Mitgliedern bemerkt Bätzing, der sich selbst als »kirchlich bis
Deutschland ohne die katholische Kirche, das worden. Mehr als die Hälfte beklagt, die Kir- in die Knochen« bezeichnet, sieht sich als
ist nicht nur spirituell schwer vorstellbar, es che sei »ihrer gesellschaftlichen Verant- Vermittler zwischen den Fortschrittlichen und
wäre auch praktisch schwierig. Allein im Erz- wortung während der Coronapandemie« den Konservativen in der Bischofskonferenz.
bistum Köln betreibt sie 664 Kitas und Kin- nicht gerecht geworden. Nur etwa jedes vier- Welchem Lager er zuneigt, bewies er einmal
dergärten, 282 Heime, 366 Büchereien und te Mitglied sieht die Verantwortung wahrge- mehr vor dem Ökumenischen Kirchentag
43 Krankenhäuser. Vieles von dem, was an nommen. vorige Woche. Einwänden aus dem Vatikan
sich zur Daseinsvorsorge des Staates gehört, Bei fast allen Antworten fällt auf, dass das zum Trotz warb er für eine ökumenische
leisten die Kirchen, die katholische wie die Urteil über die Kirche keine Altersfrage ist. Mahlgemeinschaft: »Ich verwehre einem Pro-
evangelische. Zum Teil jahrhundertealte Ver- Kritik üben junge Menschen in beinahe glei- testanten nicht die heilige Kommunion.«
träge garantieren beiden Institutionen Macht, chem Maße wie Katholiken mittleren Alters Auf vier Themen haben sich die Bischöfe
Autonomie – und per annum mehr als eine oder Senioren. Leichte Unterschiede gibt es und die im Zentralkomitee der deutschen Ka-
halbe Milliarde Euro aus der Bundeskasse. hingegen beim Geschlecht: Frauen sind noch tholiken organisierten Laien für den Synoda-
Diakonie und Caritas sind nach dem Staat unzufriedener als Männer. len Weg verständigt: Macht, Sexualmoral, Zö-
die größten Arbeitgeber im Land. Bevor sich libat und, nach langer Debatte, die Frauen-
mancher Bürgermeister mit der Kirche anlegt, Die Reaktion: Grätsche vom Papst frage. Denn Bätzing hält die Mitwirkungs-
überlegt er also erst einmal, welche Verant- Georg Bätzing, 60, der oberste Vertreter der möglichkeiten der Frauen für »entscheidend«.
wortung sie ihm abnimmt, von der Kinder- katholischen Kirche in Deutschland, weiß, Das wiederum sehen die Bewahrer der rei-
krippe bis zum Seniorenstift. dass sich Dinge ändern müssen. »Jeder Kir- nen Lehre ganz anders. Ein Bischof wandte
Andererseits hat die Coronakrise gezeigt, chenaustritt tut weh«, sagte er im Februar. Es gleich in der ersten Versammlung ein, dass
welche Rolle der Klerus im gesellschaftlichen sei eine »Reaktion auf ein skandalöses Bild es doch eigentlich kaum Frauen gebe, die zum
Diskurs aktuell spielt: nahezu keine. Er ist der Kirche, das wir derzeit abgeben«. Deut- Priestertum berufen seien. Ein anderer zog
fast unsichtbar und unbedeutend. Und das licher kann Selbstkritik kaum sein. Seit gut sich aus dem Gesprächskreis zu »Sexualität
im größten Menschheitsdrama seit Ende des 14 Monaten ist der Bischof von Limburg auch und Partnerschaft« zurück, weil die überwie-
Zweiten Weltkriegs. Die Pandemie geriet zur Vorsitzender der Deutschen Bischofskonfe- gend liberale Haltung der Diskutanten nicht
Stunde der Virologen, der Intensivmediziner, renz (DBK). Von seinem Vorgänger Reinhard seiner entspreche. Und der Kölner Kardinal
der Psychologen und Ethiker – nur nicht zur Marx erbte Bätzing ein Gesprächsformat, das Woelki brandmarkte den Synodalen Weg als
Stunde der Geistlichen, des Fachpersonals dabei helfen soll, Lehren aus dem Miss- »quasiprotestantisches Kirchenparlament«.
für Leben, Leiden und den Tod. Reformideen ventilieren und dann außer
Die deutschen Bischöfe mussten sich vor- heißer Luft nichts produzieren – darin hat
werfen lassen, sie hätten Sterbenden in Pfle- Selig, die doch glauben die katholische Kirche viel Erfahrung. Schon
geheimen und Krankenhäusern die Sakra- vor einem halben Jahrhundert, bei der Würz-
mente verwehrt. Begehrten sie auf, als 2020 Anteil der Befragten, die . . . burger Synode, stand alles auf der Agenda,
Gottesdienste ausfallen sollten? Sie nahmen . . . die katholische Kirche für nicht vertrauens- vom Herrschaftssystem des Klerus bis zur
würdig halten, Angaben in Prozent
es hin, als wäre der Kirchgang ein Freizeit- Enthaltsamkeit der Priester. Allein, es blieb
vergnügen wie der Besuch eines Kinos oder Katholiken 57 bei großen Worten. Und wenn einer wie der
Fußballstadions. Im Shutdown war der Kle- ehemalige Katholiken 92 Saarbrücker Theologe Gotthold Hasenhüttl
rus stummer als Friseure oder Hoteliers. tatsächlich neue Fakten schuf und in einem
Man muss ja nicht gleich dem Philosophen . . . die Aufarbeitung der sexuellen Miss- seiner Gottesdienste Protestanten die Hostie
Peter Sloterdijk folgen, für den sich in Coro- brauchsfälle durch die katholische Kirche reichte, wurde er abgestraft. Sein vorgesetzter
nazeiten eine zunehmende Nutz- und Funk- als negativ bewerten Bischof entzog ihm 2006 die Lehrerlaubnis.
tionslosigkeit der Kirche offenbart hat. Es 78 Auch der jüngste Versuch eines Aufbruchs
reicht schon festzustellen, dass kaum ein 91
scheint zum Scheitern verurteilt. Kaum hat-
Oberhirte mit Verve, Charisma oder Autori- ten sich die Gremien des Synodalen Wegs
tät im Wettstreit der Meinungen und Interes- . . . der Aufhebung des Zölibats zustimmen
verabredet, räumte Papst Franziskus zwei der
sen durchdrang. Der Grund scheint simpel: vier Themen de facto schon wieder ab: In sei-
Wer die Restbestände an Glaubwürdigkeit 84 nem Schreiben »Querida Amazonia« gab er
verspielt hat, dem wird nicht mehr geglaubt. 87 zu verstehen, dass Frauen niemals zu Pries-
Dem wird nicht einmal mehr zugehört. terinnen geweiht werden dürften und dass es
Anders lässt sich eine Onlineumfrage von . . . sich mehr Rechte und Ämter für Frauen zum Zölibat keine Alternative gebe.
Civey kaum interpretieren. Im Auftrag des (etwa als Pfarrerin) in der katholischen Kirche Der extreme Priestermangel in weiten
SPIEGEL befragten die Meinungsforscher rund wünschen. Teilen Brasiliens hatte die dortige Kirche zu
1000 Katholiken, für »wie vertrauenswürdig« 77 einem Hilferuf Richtung Rom veranlasst: In
sie ihre Kirche halten. 56,5 Prozent von ihnen 76 manchen Gemeinden am Amazonas könnten
hielten sie für »weniger« oder »gar nicht ver- Gottesdienste nur dreimal im Jahr stattfinden.
trauenswürdig«. Nur 30 Prozent sehen sie als S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL vom 4. bis 8. Mai; Weiheämter für verheiratete Männer und
1995
168.244 2010
181.193
2014
Sexueller Missbrauch 217.716
am Canisius-Kolleg
in Berlin wird publik.
Himmel hilf! Umstellung beim Kirchensteuereinzug
auf Kapitalerträge und Skandal um 2019
Katholizismus in Deutschland
Tebartz-van Elsts teuren Bischofssitz 272.771
2000
185 Anteil Katholiken an der Gesamtbevölkerung
in Prozent, nach Bistümern, 2019
2020 unter 20
67 20 bis unter 40
40 bis unter 65
Priesterweihen (Neupriester)*
65 bis 90
2000
Hamburg
261
2020 Berlin
Osna- Hildes-
70 brück heim
neu aufgenommene Priesterkandidaten*
Görlitz
Münster Pader- Magdeburg
2000
born
1304 Essen
Dresden-
Fulda Erfurt Meißen
2020 Aachen Köln
411
Lim-
burg
Priesterkandidaten insgesamt* Würzburg
* jeweils mit Ordenspriestern Trier Bam-
Mainz
berg
2000 2000
232.920 13.214 Speyer
2019 Eich- Regens-
2019
stätt burg
159.043 9936 Rottenburg- Pas-
Stuttgart sau
Augs-
Pfarreien und burg
All Mauritius Images
frage, postulierte Franziskus. Damit In der Tat sind auch bei den The-
ist gewiss: Selbst wenn es Bätzing ge- men Zölibat und Frauenfragen die Er-
länge, die Hardliner unter seinen Kol- gebnisse der SPIEGEL-Umfrage ein-
legen auf eine gemeinsame Linie ein- deutig: 77 Prozent der befragten Ka-
zuschwören, folgte das Veto aus Rom. tholiken und Katholikinnen sprechen
Es bleibe also die alte Masche, ana- sich für Frauen in Weiheämtern wie
lysierte Michael Seewald, Professor dem des Priesters aus. Noch klarer
für katholische Dogmatik und Dog- ist das Votum bei der Frage nach Ehe-
mengeschichte an der Uni Münster, losigkeit und sexueller Enthaltsam-
die Papst-Grätsche: »Man versucht, keit für Geistliche. Fünf von sechs Be-
die Menschen tatkräftig an Zukunfts- fragten plädieren für die Abschaffung
visionen mitarbeiten zu lassen, damit des Pflichtzölibats; selbst jene über
sie das Gefühl bekommen, etwas be- 65 Jahre.
wirken zu können.« Bis die Gläubigen Die Zahlen decken sich frappie-
merkten, dass sie einer Illusion aufsit- rend genau mit dem, was der Bremer
zen, so Seewald, seien schon wieder Banker Carl Kau an der Basis ermit-
ein paar Jahre ins Land gegangen. telt hat. Kau, der sich selbst als »Kern-
Auch Bätzing hat erlebt, wie es ist, katholiken« bezeichnet, hat dieses
gegen römische Gummiwände zu ren- Jahr mit anderen die Initiative »Ka-
nen. Im vorigen Herbst wollte er zu- tholischer Klartext« gegründet. 8000
sammen mit führenden Laienvertre- Menschen haben auf der Onlineplatt-
tern – also Kirchenprofis wie Theo- form bislang ihre Meinung zu Fragen
logen, Pastoralreferentinnen oder priesterlicher Lebensform, Mitbe-
Diakonen – im Vatikan über deren stimmung und Gleichberechtigung
Mitwirkung an der Leitung von Pfar- geäußert. Im Herbst will Kau die
reien reden. Der Heilige Stuhl lehnte Resultate der Bischofskonferenz über-
den Besuch ab. geben, sein Ziel: »Den Ewiggestrigen
Top-down, also von oben nach un- zeigen, dass sie mit ihren überholten
ten, ist keine Veränderung zu erwar- Haltungen alleine sind.«
ten. Papst Franziskus, dem anfangs Der Widerstand sammelt sich al-
und sogar welche, die einen Deal mit Lesben Egal ob geweihte Priester oder Pastoralre- nig, sagt der Kölner Pfarrvikar Hinzen: »Rom
eingegangen sind, um Kinder zu bekommen. ferentinnen: Offene Stellen gibt es zuhauf, in hat Angst vor der Kirchenspaltung.«
Papst Franziskus, so sehen es manche Kir- allen Bistümern. In Trier hat man deshalb be-
chenhistoriker, könnte sagen: »Na und?« Und schlossen, die 887 bestehenden Pfarreien in Die Aussichten: »Auch cool sein«
mit einem Federstrich Verlogenheit und Dop- 172 Großpfarreien zu verwandeln – mit je- Der Spielraum für Georg Bätzing ist also
pelmoral beenden. Denn ein so ehernes Gesetz weils einem Priester als Leiter. In Mainz, wo klein. Vorigen Samstag, beim Ökumenischen
ist der Zölibat gar nicht. Vor zwei Jahren stellte in den vergangenen Jahrzehnten bereits Kirchentag, den viele Hardliner als Teufels-
der Münsteraner Professor für Kirchengeschich- mächtig fusioniert wurde, sollen aus 134 Seel- zeug betrachten, war der Vorsitzende der Bi-
te Hubert Wolf in einem Buch 16 Thesen auf, sorgeeinheiten 50 Großpfarreien werden. Bi- schofskonferenz dabei, als katholische und
in denen er die Unabdingbarkeit dieser Vor- schof Kohlgraf setzt dabei verstärkt auf Laien evangelische Gläubige gemeinsam die heilige
schrift widerlegt. »Es gibt weder einen Auftrag in der Betreuung der Gläubigen. Kommunion empfingen. Bätzing ist Refor-
Christi noch ein göttliches Gebot noch eine Gern hätten manche Bistümer ihren Pas- mer und Realist gleichermaßen: »Wir merken,
apostolische Anordnung, die den Zölibat für toralreferenten auch die Leitung einer Pfarrei dass die alten Bilder von Seelsorge in der Kir-
Priester verbindlich vorschreibt«, sagt Wolf, übergeben. Kaum war die Idee ausgespro- che nicht mehr tragen, aber wir haben noch
der 1985 selbst die Priesterweihe empfing. chen, kam aus Rom das Nein. keine neuen Bilder.« Nur noch etwas über
Selbst das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis Noch leichter fiele die Stellenbesetzung, die Hälfte der Bundesbürger ist Mitglied in
1965) erachte die Enthaltsamkeit als »angemes- wenn weibliche Diakone zugelassen würden. einer der beiden großen Kirchen. »Wir befin-
sen«, aber nicht als wesentlich für den Dienst. Aber auch diese Lösung steht nicht im Raum. den uns in einem epochalen Umbruch von
Wolf weist nach, dass es keine einzige ein- Wegen Papst Franziskus. Kirche und Christsein«, weiß Bätzing.
heitliche, über die Jahrhunderte geltende Be- Aus mitteleuropäischer Sicht ist dieser Er hat dafür gesorgt, dass im Juli erstmals
gründung für den Zölibat gibt. Argumentiert Starrsinn schwer nachzuvollziehen. Im Vati- eine Frau und erstmals eine Nichtgeistliche
wurde nach Mode oder Opportunität, nicht kan jedoch hat man das große Ganze im Blick, das Generalsekretariat der Bischofskonferenz
selten regional unterschiedlich. So wurde im mithin die Befindlichkeit und den tiefen Glau- übernimmt: Die Theologin Beate Gilles, 51,
Münsterland im 17. und 18. Jahrhundert das ben von Abermillionen Katholiken in ande- war zuletzt Dezernentin für Kinder, Jugend
Priesteramt vom Vater auf den Sohn über- ren Erdteilen. Würde man sie zwangsläufig und Familie in Bätzings Limburger Bistum.
tragen. In den sogenannten Ostkirchen – also verlieren, wenn man zu große Zugeständnisse Er hat sich vorgenommen, die kirchliche
den Kirchen im östlichen Christentum – sind an die Reformer etwa in Deutschland mach- Strafprozessordnung zu ändern und die Ver-
verheiratete Priester die Regel. te? Wäre ihnen die Segnung gleichgeschlecht- waltungsgerichtsbarkeit zu reformieren – da-
Andererseits: Was gewänne die katholi- licher Partnerschaften zu vermitteln? mit die Bischöfe de facto nicht länger Gesetz-
sche Kirche, schüfe sie den Pflichtzölibat ab, Der Mainzer Priesteranwärter Deick be- geber, Kläger und Richter in Personalunion
ließe den Frauendiakonat zu und erlaubte die richtet von Gaststudenten in seinem Seminar, sind. Er weiß zudem, dass es viel Aufmerk-
Segnung gleichgeschlechtlicher Ehen – und etwa aus Nigeria, denen die Debatten um Mo- samkeit braucht in der Frage, wer für den
was riskierte sie? Hilft es, wenn Katholiken dernität völlig fremd seien. »Katholikentags- Priesterberuf geeignet ist.
immer protestantischer werden? Selbst libe- diskussionen«, meint Erzbischof Marx, »kennt Die DBK hat die Auswahlverfahren deut-
rale Kräfte sehen die Gefahr, den Markenkern man in anderen Ländern so nicht.« lich verschärft. »Die Auslese ist ziemlich
der katholischen Kirche damit aufzuweichen. Fraglos sind die Erdteile gesellschaftspoli- streng geworden«, sagt Tonke Dennebaum,
Die evangelische Kirche ist da kein gutes tisch in verschiedenen Geschwindigkeiten un- Regens am Mainzer Priesterseminar. »Wir
Vorbild. In einer Zeit, in der die großen Fra- terwegs. Doch Rom versucht nicht einmal, nehmen bei Weitem nicht alle.« Externe Gut-
gen des Daseins auch von Coaches, Thera- diese Unterschiedlichkeit auszutarieren und achter befragen die Bewerber und schätzen
peuten oder anderen Lebensoptimierern be- das Dilemma aufzulösen. Über eine Reform deren psychosexuellen Reifegrad ein. Sollte
antwortet werden, ist die Selbstsäkularisie- nur zu reden gilt im Vatikan schon als Verrat retardierende Adoleszenz festgestellt werden,
rung des Protestantismus so weit fortgeschrit- an von Gott gewollten Gesetzen. also Unreife, scheidet der Kandidat aus.
ten, dass dieser von vielen für irrelevant und So hat den Heiligen Stuhl eine tiefe Furcht So weit die Theorie. In der Praxis scheinen
entbehrlich gehalten wird. Anders sind die ergriffen: dass es die Einheit der Weltkirche aber nicht alle Bistümer die gleichen Kriterien
ähnlich hohen Austrittszahlen aus der evan- zerreißt. Progressive Geistliche seien sich ei- anzuwenden. Anders ist das Schicksal des
gelischen Kirche kaum zu erklären.
Wichtiger scheint deshalb der Aspekt der
Personalgewinnung. Denn schneller noch als
Gläubige gehen der katholischen Kirche die
Geistlichen aus. Vielerorts müssen Pfarreien
zu XXL-Seelsorgeeinheiten zusammengelegt
werden.
Ulrich Hund, 57, Pfarrer aus Markdorf am
Bodensee, ist dafür ein gutes Beispiel. Er ist
inzwischen für sechs Gemeinden mit mehr
als 10 000 Katholiken zuständig. »Die kann
ich natürlich nicht mehr alle persönlich ken-
nen«, bedauert Hund. Sein Alltag ist von Eile
geprägt, läuft es normal, bekommen ihn die
Gläubigen im Gottesdienst alle zwei Wochen
zu sehen. Ohne sein Team, sagt Hund, könne
er die Arbeit nicht bewältigen: ein Vikar, eine
Peter Jülich / DER SPIEGEL
Andreas Schoelzel
2010 machte er publik, von Jesuitenpatern
1977 sexuell misshandelt worden zu sein. Er
gründete die Betroffeneninitiative »Eckiger
Tisch«. »Die perfide Argumentation des Nicht-
Kardinäle mit Politikern im Berliner Olympiastadion*: »Rom hat Angst vor der Kirchenspaltung«
veröffentlichens«, sagt Katsch, zeige doch,
Priesteranwärters Henry Frömmichen kaum das anders an: Frömmichen propagiere Ho- dass man die Aufarbeitung nicht der Täter-
zu interpretieren. mosexualität und sei daher nicht tragbar für organisation überlassen dürfe.
Seit seiner Erstkommunion, sagt der 21- die Diözese, so der Vorwurf. Frömmichen Das Problem: Alles, was vor 1990 war, ist
Jährige aus Allmendingen, sei er fasziniert vermutet eher, seine dreijährige Beziehung fast immer verjährt. Und damit dem Zugriff
gewesen von »der Atmosphäre, der Liturgie, zu einem Mann habe die entscheidende Rolle einer Staatsanwaltschaft entzogen.
dem ganzen Drum und Dran in der Kirche«. gespielt. Weder der Leiter des Priestersemi- »Ist es akzeptabel für einen Rechtsstaat,
Er wurde Messdiener, die Kirche zu seiner nars noch das Erzbistum München und Frei- dass ein systemisches Versagen einer Institu-
Heimat. Nach seinem Coming-out als Homo- sing wollten sich auf Anfrage dazu äußern. tion nicht aufgearbeitet wird?«, fragt Katsch
sexueller 2015 befürchtete er vor allem eins: Es ist die Bigotterie der Kirche, die Fröm- und gibt die Antwort gleich selbst: »Es geht
dass er kein Priester mehr werden könne. michen wütend macht. Wer sich offen homo- ja nicht um eine endlose Kette von Einzel-
Erst zehn Jahre zuvor hatte Papst Bene- sexuell zeigt, werde bestraft, während die Se- fällen, sondern um das Zusammenwirken bi-
dikt XVI. verfügt, dass Priesteramtskandida- minare bedenkenlos Schwule aufnähmen, die schöflicher Verwaltungen mit staatlichen Stel-
ten mit »tiefsitzenden homosexuellen Ten- ihre Identität versteckten und heimlich aus- len, um Dinge unter der Decke zu halten.«
denzen« oder Unterstützer einer »sogenann- lebten. »Es kann auch unter Seminaristen Spätestens jetzt, da ihre Glaubwür-
ten homosexuellen Kultur« nicht geweiht Männerbesuche, Sex und Beziehungen ge- digkeitskrise die Kirche jedes Jahr Hundert-
werden dürften. Sie seien nicht in der Lage, ben, all das ist ja nur menschlich.« Das mache tausende Gläubige kostet, brauche es, so
»korrekte Beziehungen zu Männern und Frau- sie nicht zu schlechteren Seelsorgern. Katsch, eine unabhängige Instanz, die Zugriff
en aufzubauen«. Frömmichen denkt nicht daran, aus der auf alle kirchlichen Personalakten erhält:
Frömmichen wollte es trotzdem versu- Kirche auszutreten. Er will für eine Kirche eine vom Parlament eingesetzte Wahrheits-
chen. Nach einer Ausbildung zum Bestatter kämpfen, »in der sich niemand verstecken kommission. Nach dem Vorbild der Royal
bewarb er sich am Münchner Priesterseminar und verstellen muss«. Er fände es schade, Commission, die in Australien, Kanada und
St. Johannes der Täufer. Im folgenden Ge- »wenn nur aufgrund des blinden und arrogan- Großbritannien die dortigen Verfehlungen
spräch fragte ihn der örtliche Regens nach ten Handelns der Institution die Botschaft von Geistlichen untersucht habe. Dazu seien
Liebesbeziehungen. »Ich habe Erfahrungen verloren ginge«, sagt er. politischer Wille nötig und eine gesetzliche
bejaht, aber mich nicht als schwul geoutet«, Die Kirche stehe nicht vor einem Schisma, Grundlage, ähnlich der Aufarbeitung der Sta-
so Frömmichen. »Aber denen war sowieso »sie ist längst gespalten«, meint Frömmichen. si-Machenschaften von 1991 an. »Der Staat
klar, dass ich homosexuell bin.« Nördlich der Alpen könne kaum jemand die ist den Opfern schuldig zu klären, was war«,
Das Seminar nahm ihn im September Verbote des Vatikans nachvollziehen. »Die sagt Katsch.
2020 zum Propädeutikum auf. Er möge prü- Kirche, wie sie heute ist, hat verdient zu ster- Doch ist die Politik dazu bereit? Bischof
fen, ob das Priesteramt für ihn das Richtige ben. Ich wünsche ihr, dass sie ihren alten Leib Bätzing hat signalisiert, dass man sich eine
sei. Zunächst sei er gelobt worden für sein wie Jesus abstreift und ein neuer entsteht.« solche Kommission vorstellen könne. In Kir-
Engagement, sein Orgelspiel, seine fröhliche chenkreisen wird die Chance gesehen, mit
Art, sagt Frömmichen. Doch nachdem er ein Die Forderung: Raus mit der Wahrheit der Arbeit einer neutralen Instanz verlorenes
Foto von sich und dem schwulen Protagonis- »Die katholische Kirche ist weder Museum Vertrauen zurückzugewinnen. »Es ist der ein-
ten der TV-Dating-Show »Prince Charming« noch Weltkulturerbe.« Ein schöner, wahrer zige Weg«, sagt Pfarrvikar Hinzen.
auf Instagram gepostet hatte, kam das Aus: Satz. Bischof Reinhard Marx hat ihn gesagt. Fraglich bleibt, ob der Papst diesen Weg
Am 30. November teilte die Seminarleitung Doch weil die Kirche von einem Papst regiert mitgeht. Viele Personalakten liegen im Ge-
mit, Frömmichens Umgang mit sozialen Me- wird, dem seit 1870 in Lehrentscheidungen heimarchiv des Vatikans. Mehr als einmal hat
dien lasse erkennen, dass er derzeit nicht für ex cathedra Unfehlbarkeit unterstellt wird, Franziskus deutschen Bischöfen gesagt: »Die
eine Ausbildung zum Priester geeignet sei. bleiben Gewissheiten gewiss, unantastbar. Welt schaut auf euch!«
Frömmichen erklärt, er habe den TV-Pro- Die Bischofskonferenz hat sich 2002 erste Ob das eine Ermutigung oder eine Dro-
mi zufällig getroffen: »Ich wollte meinen Fol- »Leitlinien« im Umgang mit Missbrauch ge- hung war, das weiß man nicht. Wie so oft bei
lowern zeigen, dass ich ein fortschrittlicher diesem Pontifex.
Mensch bin und dass angehende Priester * Bei der Messe mit Papst Benedikt XVI. am 22. Septem- Felix Bohr, Annette Langer, Christian Parth,
auch cool sein können.« In der Kirche kam ber 2011. Alfred Weinzierl ■
LÄUFT.
Selber checken auf: VogelCheckt.de
DEUTSCHLAND
153
Unfälle ereigneten sich 2005
gehen. Dann lässt sich danach
noch schärfer richten. Oder
kein Interesse an einem modi-
fizierten Mietendeckel zeigt,
auch nicht. finde ich ebenfalls wenig
an solchen Bahnübergängen.
Ich bin mir auch nicht attraktiv. Ob seltsame Positio-
sicher, was Menschen nen mit oder ohne Doktor-
51
Unfälle waren es 2020,
antreibt, die Wochen oder
Monate ihrer Freizeit opfern,
titel vertreten werden, ist mir
ziemlich schnuppe.
infolge verbesserter Sicherheit.
Insgesamt starben von An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
2005 bis 2020 236 Menschen und Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Bundesregierung, Ende April bei diesen Unfällen.
Mit einer als Missgeschick Parteivorsitzende Annalena profitieren.« Allzu lange seien
Bonibock getarnten PR-Aktion haben Baerbock in den vergangenen die Grünen als wirtschafts-
sich die Grünen auf ihrem Jahren Weihnachtsgelder und feindliche Moralapostel ver-
SO GESEHEN Das Weg ins Kanzleramt wohl end- Bonuszahlungen in erheblicher schrien gewesen, vor der Wahl
neue finanzfreundliche gültig unaufhaltsam gemacht. Höhe von der Partei erhalten müsse sich das ändern: »Wenn
»Die Maßnahme mag zunächst und diese angeblich versehent- wir nun nicht nur signalisieren,
Image der Grünen nicht sehr grün wirken, aber lich erst verspätet als Neben- dass es bei den Grünen fette
gerade deshalb versprechen einkünfte an die Bundestags- Boni zu holen gibt, sondern
wir uns davon durchschlagen- verwaltung gemeldet habe. Was dass wir es dazu mit den Re-
den Erfolg«, heißt es in einem nicht in den Berichten steht: geln nicht allzu genau nehmen,
vorab angeblich diskutierten All das war kein Versehen, son- können wir ganz neue Mit-
Strategiepapier des Parteivor- dern Absicht. glieder- und Wählerpotenziale
stands: »Das Wichtigste an Das Geheimpapier enthüllt erschließen: die finanzaffinen
Operation ›Big Money‹: Sie angeblich den Sinn dieser Hedonisten.« Gezielt werde
muss wie ein Unfall aussehen.« Inszenierung: »Einen kurzfris- vor allem auf bisherige An-
Gab es diesen Plan wirklich, tigen Ansehensverlust nehmen hänger der FDP, aber die Bot-
scheint er aufgegangen zu wir bewusst in Kauf, um im schaft richte sich »an alle«:
sein. Mehrere Medien berich- Nachgang von der veränderten »Die Grünen können Geld.«
teten diese Woche, dass die Wahrnehmung der Partei zu Stefan Kuzmany
DIGAS_B2B-Divibib-sp2121
Vorjahr trafen diese Kriterien
Rechte unter Waffen nur auf 89 Personen zu. In der
INNERE SICHERHEIT Mehr sogenannten Reichsbürgerszene
als hundert Rechtsextremisten sind 19 Personen im Besitz
in Bayern dürfen legal Waffen einer Waffenerlaubnis. Darüber
besitzen. Das ergab eine Anfra- hinaus wurden in Bayern meh-
ge der grünen Fraktionschefin rere illegale Waffendepots ent-
im bayerischen Landtag, Katha- deckt und Waffenhändlerringe
rina Schulze, an das Münchner enttarnt. Dennoch gab das CSU-
Innenministerium. Demnach geführte Innenministerium
zählten die Sicherheitsbehörden an, für 2020 keine Erkenntnisse
Tarnfirma eingefädelt haben. montieren die Mitarbeiter Traum wäre, eine ganze Herde
Hintermann soll ein russischer die einzelnen Teile an einem dieser Gattung zeigen zu
Geheimdienstoffizier gewesen Metallgerüst. können – aber das ist so gut
sein, der in abgehörten Gesprä- Ich überlege mit, wenn es wie ausgeschlossen, weil
chen »Lui« genannt wurde. darum geht: In welcher Posi- die Skelette so selten sind.«
Russisches Raketensystem Der Augsburger Firmenchef hat tion soll das Skelett aufgebaut Aufgezeichnet von Birte Bredow
Revision eingelegt. FIS, WOW
Feindliche Übernahme
UNION In der CDU kommt etwas ins Rutschen. Vielerorts werden liberale Christdemokraten
von der Basis abgestraft und durch konservative Nobodys ersetzt. In der Partei geht jetzt die Angst
vor einer deutschen Tea-Party-Bewegung um.
Nikita Teryoshin
Ex-Verfassungsschutz-
präsident Maaßen
uf Heribert Hirte konnte die gung großen Einfluss auf die Republi- desverfassung aufgenommen werden
A Kanzlerin sich immer verlas-
sen. Seit 2013 sitzt der Rechts-
professor aus Köln im Bundestag, in
kaner.
Über die CDU sagt Zimmer, es
würden nun »Leute nach vorne ge-
solle.
Fischer hat selbst schon eine Nie-
derlage gegen die AfD einstecken
Kölner Express
land bekommen, das Ganze werde Meißen in Sachsen, Dienstag- Sie hat auch mal versucht, die AfD
»als riesiges Alarmsignal« gesehen. abend, Sebastian Fischer, 39, spaziert zu übertönen, sie rechts zu überho-
Im September endet die Ära Mer- am Ufer der Elbe entlang und gibt len. Markus Söder ist mit dieser Me-
kel, schon jetzt geht es darum, was Einblicke in seine politische Gedan- Sandra von Möller thode im bayerischen Landtagswahl-
Die Unternehmerin
von ihr bleiben wird. Ob die Partei kenwelt. besiegte Hirte und will
kampf gescheitert, bevor er das Ex-
den Kurs behält, den Merkel einge- »Der Rechtsstaat muss auch mal den »Staub« der letz- periment abbrach. Seither gibt er den
schlagen hat. Derzeit spricht einiges Zähne zeigen«, sagt Fischer, wenn es ten Jahre beseitigen. Verteidiger der bürgerlichen Mitte.
dagegen. Hirte ist nicht der einzige um die Kriminalität von Flüchtlingen Und es gab den zynischen, rein
Fall. gehe. »2015 war ein Fehler«, sagt er – machtstrategischen Blick auf die AfD:
Das fällt auf den ersten Blick kaum und meint damit Merkels Entschei- Solange die Rechtsausleger auch der
auf, weil die Partei Armin Laschet dung, die Grenzen offen zu halten, SPD Wähler wegnähmen, müsse man
zum Vorsitzenden gewählt, zum die Arme auszubreiten. sich keine allzu großen Sorgen ma-
Kanzlerkandidaten gemacht hat, er Nächstes Thema: die Ehe für alle. chen. So wurde eine Zeit lang tatsäch-
gilt als Fortsetzung Merkels mit an- Damit, sagt Fischer, könne er ja noch lich gedacht, im Kanzleramt, in der
deren Mitteln. Doch unterhalb der leben – wenn die traditionelle Fa- Parteizentrale. Auch wenn das nie-
Spitzenebene wird gerade darüber milie weiterhin in den Mittelpunkt mand laut sagen mochte.
entschieden, wie die nächste Bundes- der Politik gerückt werde. Und den Die AfD ist immer noch da. Wenn
tagsfraktion aussehen wird. Und da Mindestlohn? Den habe er immer sich in der CDU zunehmend konser-
Geisler-Fotopress / picture alliance
verschiebt sich einiges. für falsch gehalten. Fischer spaziert vative Kandidaten durchsetzen, ist
In Thüringen tritt Hans-Georg weiter. das auch eine Reaktion auf die ge-
Maaßen für den Bundestag an, ehe- Vor einer Kirche bleibt er stehen scheiterte Suche nach einer Strategie,
maliger Verfassungsschutzchef und und zeigt auf das Dach. »Das da oben einer Idee. An Maaßens Nominie-
neue Galionsfigur des rechten Partei- ist ein Kreuz, das ist landschaftsprä- rung knüpft sich auch die Hoffnung,
flügels. Und in mehreren Wahlkrei- gend für uns in Deutschland«, sagt dass er den Kandidaten der AfD be-
sen wurden zuletzt liberale Abgeord- Fischer. »Ich achte jede Religion, aber siegen kann.
nete von konservativen Herausfor- ich erwarte auch, dass mein christ- Matthias Zimmer Ein Rundblick in die Partei: Im
derern verdrängt, zum Beispiel der licher Glaube akzeptiert wird.« Der Sozialpolitiker Herbst wurde Landwirt Kees de
Sozialpolitiker Matthias Zimmer, 60, Fischer, gelernter Koch, steht stell- verlor in Frankfurt und Vries, liberaler Bundestagsabgeord-
Mitglied des Bundestags seit 2009. vertretend für das, was in der CDU warnt die CDU vor neter aus Sachsen-Anhalt, von einem
einer rechten Welle.
Als er sich im Februar in Frankfurt gerade passiert. Im Wahlkreis 155 34-jährigen Nobody überrascht. Im
am Main wieder um die Direktkan- folgt er als Kandidat auf Thomas de Brandenburger Wahlkreis Märkisch-
didatur bewarb, verlor er gegen den Maizière. Der frühere Bundesminis- Oderland-Barnim II verlor der Agrar-
Wirtschaftspolitiker Axel Kaufmann, ter, einer der wichtigsten Akteure der politiker Hans-Georg von der Mar-
bislang Ortsvorsteher. Der warb in Ära Merkel, hat hier dreimal das Di- witz gegen eine 36-jährige Tierärztin.
der »Frankfurter Allgemeinen« so rektmandat geholt – 2017 allerdings In Bielefeld wurde statt Michael We-
für sich: Nach 16 Jahren Angela Mer- nur noch mit knapp sechs Prozent- ber vom Arbeitnehmerflügel eine Un-
kel sei »ein Punkt erreicht, an dem punkten Vorsprung vor dem AfD- ternehmerin aufgestellt – alle konser-
neue Schwerpunkte gesetzt werden Kandidaten. Bei den Zweitstimmen vative, wirtschaftsnahe Kandidaten.
müssen«. deklassierte die AfD in Meißen die Und in Berlin-Mitte kandidiert
Anders gesagt: Zimmer war sei- CDU, mit 33 zu 26 Prozent. Ottilie Klein, der eine Nähe zur
CDU
nen Gegnern zu weich, zu liberal, zu Die Folge daraus ist nun Fischers WerteUnion nachgesagt wird – jener
links. Nun warnt er: »Die Tea-Party- Kandidatur. Er hat mal auf einem Axel Kaufmann Gruppe, die sich einst gründete, um
Der Volkswirtschaftler
Bewegung schwappt in die CDU. Das Landesparteitag per Kampfabstim- gewann gegen Zimmer innerparteilich Widerstand gegen
macht mir große Sorge.« In den USA mung die Forderung durchgesetzt, und will nun »neue Merkel und ihre Politik zu leisten.
hat diese rechtskonservative Bewe- dass eine Sachsenhymne in die Lan- Schwerpunkte« setzen. Kleins Konkurrent, der schwarze Mu-
sikmanager Joe Chialo, musste in den Anfang des Jahres traten seine Geg- tion könnte ihm das Leben schwer
Wahlkreis Spandau-Charlottenburg ner aus der Anonymität. In internen machen. Vor allem in der Klimapoli-
Nord ausweichen. Mailinglisten riefen sie offen zu Hirtes tik, dem zentralen Thema der kom-
Viele dieser Fälle spielen in Groß- Abwahl auf. Im Stadtverband sei »die menden Jahre, könnte es zermürben-
städten: Frankfurt am Main, Köln, Wut groß«, schrieb einer seiner Geg- de Auseinandersetzungen geben.
Berlin. Hier hat die CDU es immer ner an die Mitglieder: »Die Kölner Schon jetzt wenden sich die wert-
schwerer, deshalb ist sie von innen CDU wird regiert, wie Erdoğan die konservativen Kandidaten dagegen,
tetes Spiel, eine Operation, die über Wähler setzen.« Das klingt wie eine ten, der WerteUnion.
Jahre vorbereitet wurde. Zuletzt, sagt ganz normale Kandidatin aus der Mit- Bei der Bundestagung des Evan-
er, habe ein ganzes Netzwerk gegen te der Partei, die Erfolg hatte, weil gelischen Arbeitskreises der Union
ihn gearbeitet, eine Seilschaft aus wü- die Basis sich mal einen Wechsel sagte Laschet dessen Mitgliedern, sie
tenden Mitgliedern der Kölner CDU Joe Chialo wünschte. Was stimmt nun? seien »die einzige und eigentliche
und Anhängern der konservativen Der Manager wollte in Wahrscheinlich von beidem etwas. Werteunion«. Hier werde nach dem
WerteUnion. Berlin-Mitte antreten, In der CDU passiert gerade schlicht christlichen Menschenbild gehandelt.
Schon 2018, erzählt Hirte, habe musste aber nach das, was in Parteien, in Demokratien »Suspekt«, sagte der CDU-Chef, sei-
Spandau ausweichen.
der Druck auf ihn zugenommen. Par- immer wieder geschieht, wenn eine en ihm hingegen Leute, die sich selbst
teifreunde warnten ihn demnach be- Ära endet. Es brechen sich Tenden- so nennen würden.
reits damals, er müsse konservativer zen Bahn, die vorher keine Chance Bei der WerteUnion haben sie den
auftreten, wenn er sich halten wolle. hatten. Auf den liberalen Barack Oba- Angriff registriert – und sich darüber
Dann habe sich die Lage rasch zuge- ma folgte der Reaktionär Donald gefreut, schließlich wertete Laschet
spitzt. Hirte bekam Drohbriefe, die Trump. Und auf Merkels Regierungs- die vergleichsweise kleine Gruppe
Reifen seines Autos wurden aufge- zeit folgt nun ein Rollback. »Wir müs- damit auf. Die Parteirechten wollen
Sven Darmer / DAVIDS
schlitzt. Bis heute sind diese Attacken sen den Staub der letzten Jahre ab- Ende des Monats eine neue Führung
nicht aufgeklärt. schütteln«, sagt von Möller. wählen. Einer hat bereits seine Kan-
Und es ging weiter. In der Kölner Für Laschet kann die Verschie- didatur angemeldet: der Ökonom
CDU wurden Untreuevorwürfe ge- bung zum Problem werden. Sollte es Max Otte. In einem Bewerbungs-
gen Hirte gestreut, es kursierten nach der Wahl für ein Bündnis mit video sprach er von »diktaturähn-
Hotelbuchungen auf seinem Namen, Ottilie Klein den Grünen reichen, müsste er in lichen Zuständen« in Deutschland.
Die 37-Jährige ver-
gegen die er sich juristisch zur Wehr drängte Chialo, in Koalitionsverhandlungen wohl viele So klingt normalerweise die AfD.
setzen musste. Die Handynummern Berlins CDU gilt sie Zugeständnisse machen. Ein starker Christoph Hickmann, Timo Lehmann,
seiner Kinder wurden veröffentlicht. als sehr konservativ. rechter Flügel in der Bundestagsfrak- Veit Medick ■
Kraftstoff verbrauch (in l/100 km nach § 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung):
1,2 (kombiniert), innerorts: entfällt, außerorts: entfällt; CO2-Emissionen 26 g/km (kombiniert); Stromverbrauch:
15,8 kWh/100 km (kombiniert).
Beispielfoto eines Fahrzeuges der Baureihe. Die Ausstattungsmerkmale des abgebildeten Fahrzeuges sind nicht Bestandteil des Angebotes. * Ein Leasingangebot der Ford
Bank GmbH, Josef-Lammerting-Allee 24–34, 50933 Köln, für Gewerbekunden (ausgeschlossen sind Großkunden mit Ford Rahmenabkommen sowie gewerbliche
Sonderabnehmer wie z. B. Taxi, Fahrschulen, Behörden). Zum Beispiel Ford Kuga Cool & Connect, 2,5-l-Duratec Plug-in-Hybrid-Motor mit Systemleistung gesamt 165 kW
(225 PS), CVT-Automatikgetriebe, auf Basis einer unverbindlichen Preisempfehlung der Ford-Werke GmbH von € 33.403,36 netto (€ 39.750,- brutto), zzgl.
Überführungs- und Zulassungskosten, Leasing mit km-Abrechnung, Laufzeit 48 Monate, Gesamtlaufleistung 40.000 km, Leasing-Sonderzahlung € 4.500,- netto
(€ 5.355,- brutto), 48 monatliche Leasingraten je € 199,- netto (€ 236,81 brutto). Details bei allen teilnehmenden Ford Partnern. Ist der Leasingnehmer Verbraucher, besteht
nach Vertragsschluss ein Widerrufsrecht.
DEUTSCHLAND
an den eigenen Grundsätzen. »Es Doch je stärker die Grünen wer- gegen Autokratien nicht auf Panzer,
gibt eine Angst, dass die Grünen zu den, desto mehr wächst die Rechtfer- Grüne sondern auf Wirtschaft als Waffe und
Kieselsteinen geschliffen, dass sie un- tigungsnot gegenüber der Basis, des- Schwäche nennen das Geoökonomie. Deutsch-
unterscheidbar werden«, sagt Ellen to weniger können sie ihre Anhänger land und die EU, so die Idee, müssten
Ueberschär, Leiterin der grünen- damit trösten, dass man sich eben in »Welche Partei ihre Wirtschaftsmacht nutzen, um
nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Nach- den Koalitionsverhandlungen nicht hat Ihrer Meinung anderswo auf der Welt Demokratie
nach die größte
folgerin von Fücks in dieser Position. durchsetzen konnte. »Solange wir bei Kompetenz in der und Menschenrechte zu fördern. Bei-
Einig ist man sich, dass Klima- 8 Prozent lagen, war das kein Pro- Außenpolitik?«, spielsweise in Russland und China.
schutz und Menschenrechte künftig blem«, sagt ein grüner Abgeordneter, Angaben in Prozent Dafür müssten die Deutschen be-
auch in der Außenpolitik eine viel »bei 20 geht das nicht mehr.« reit sein, Wohlstandseinbußen hinzu-
CDU/CSU
größere Rolle spielen sollen. Aber Einen ersten Wirklichkeitstest nehmen. »Wer so tut, als hätte eine
43
wie lässt sich eine stärker moralisch brachte die Eskalation des Nahost- Menschenrechtspolitik gegenüber
begründete Politik umsetzen? Wel- konflikts. Am Montag, nachdem die SPD China keinen Preis, ist nicht ehrlich«,
chen Preis ist man dafür bereit zu zah- Hamas Tausende Raketen auf Israel 15 sagt Franziska Brantner, europapoli-
len? »Eine grüne Außenpolitik kann gefeuert und Israel Häuser in Gaza tische Sprecherin der Grünen. »Na-
AfD
sich nicht auf Maximalpositionen in Schutt und Asche gelegt hat, be- türlich können wir uns wirtschaftlich
8
stützen«, warnt Ueberschär. Ein an- tont Baerbock auf einer Pressekonfe- von China nicht vollständig abkop-
derer Grüner sagt: »Wir werden da renz Israels Recht auf Selbstverteidi- FDP peln«, schränkt Baerbock ein, »dazu
einen Clash mit der Realität erleben.« gung und fordert zu einer diplomati- 8 ist es viel zu wichtig.« Aber auch sie
Fast 16 Jahre auf der Oppositions- schen Initiative auf. »Das langfristige Grüne plädiert für eine »härtere Gangart«.
bank haben es den Grünen leicht Ziel«, beginnt einer ihrer Sätze, und 7
Nicht nur, wenn es um den eige-
gemacht, harten außenpolitischen man rechnet damit, sie werde jetzt nen Wohlstand geht, ist Europas größ-
Entscheidungen auszuweichen. Von über die Zweistaatenlösung sprechen Linke te Exportnation von China abhängig.
dort ließ sich gut mehr Moral fordern. oder eine andere Vision für eine Be- 3 Auch das wichtigste Ziel grüner Poli-
»Aus der Opposition in die Regierung friedung dieses Konflikts. Doch statt- tik, der Klimaschutz, ist ohne die
heißt ein Prozess der Re-Realpoli- dessen sagt sie: »Das langfristige Ziel S Quelle: Civey-Umfrage Volksrepublik zum Scheitern verur-
für den SPIEGEL vom
tisierung«, sagt der grüne Außenpoli- des Ausgleichs, des Dialogs und des 18. Februar bis 19. Mai; teilt. Einige Grüne hoffen, dass China
tiker Jürgen Trittin. Friedens dürfen wir auch weiterhin Befragte: 5000; Stichproben- selbst ein Interesse an Klimaschutz
Denn wer das Kanzleramt bean- vor dieser schwierigen Situation nicht fehler: +/- 2,5 Prozentpunkte;
an 100 Prozent fehlende: hat, sich also beides vereinen ließe:
sprucht, wird Antworten auf diese aus den Augen verlieren.« »eine andere Partei«, »weiß Partnerschaft beim Klima und Druck
Fragen geben müssen: Unter welchen Eine diplomatische Floskel, mit nicht« bei den Menschenrechten. »Klima-
Bedingungen soll sich Deutschland der sich Baerbock unangreifbar und Umweltschutz schützt Men-
an Auslandseinsätzen beteiligen? macht, aber sie sagt nichts. Reicht das schenrechte«, steht im Entwurf für
Können unter grüner Führung die für eine Partei, die Menschenrechte das Wahlprogramm. Aber das könnte
Verteidigungsausgaben steigen, wie ins Zentrum ihrer Außenpolitik zu eher ein frommer Wunsch sein.
es die Zielvorgaben der Nato ver- stellen verspricht? Noch schwieriger könnte es für die
langen? Hält man an gemeinsamen Die Grünen sehen die Welt in ei- Ökopartei in der Sicherheitspolitik
europäischen Rüstungsprojekten fest, nem Wettbewerb der Systeme zwi- werden. Grüne Verteidigungsexper-
auch wenn dann am Ende Kampf- schen liberalen Demokratien und Au- ten sehen vor allem drei problemati-
flugzeuge nach Saudi-Arabien expor- tokratien, einer Schlacht zwischen sche Themen: die Anschaffung be-
tiert werden? Wie passt das Bekennt- Gut und Böse. Manche haben sie des- waffneter Drohnen für die Bundes-
nis zur Nato zu dem Wunsch, aus halb schon mit den amerikanischen wehr, die in Deutschland stationierten
der atomaren Abschreckung auszu- Neokonservativen verglichen, die un- US-Atomwaffen und den Wehretat,
steigen? Und was ist gegenüber Chi- ter George W. Bush die Außenpolitik »das anachronistische Zweiprozent-
na wichtiger: die Uiguren oder das bestimmten. Damals zogen die USA ziel«, wie Trittin es nennt; Deutsch-
Klima? in den Krieg gegen den Irak, um den land hat versprochen, bis 2024 eine
»Wir stellen uns den außenpoliti- Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Steigerung seiner Verteidigungsaus-
schen Dilemmata intensiv«, sagt Par- Den Vergleich mit den Neokonser- gaben auf zwei Prozent des Brutto-
teichefin Baerbock. Das Problem ist, vativen würden die Grünen natürlich inlandsprodukts anzustreben.
dass sie oft nicht gelöst werden. Der von sich weisen. Sie setzen im Kampf Einigkeit herrscht bei den Grünen,
Programmentwurf spiegelt die Span- dass die Europäer und damit Deutsch-
nungen in der Partei wider, auf viele land in Zukunft mehr Verantwortung
Fragen gibt es am Ende keine Ant- für die Sicherheit des eigenen Konti-
worten, man verschiebt sie in die Zu- nents übernehmen sollen. Und den
kunft. Man müsse das klären, aber Pragmatikern in der Partei ist klar,
nicht jetzt, heißt es. dass das nicht ohne einen höheren
»In der Außenpolitik enthält das Wehretat möglich sein wird. Gleich-
Programm der Grünen viele Wider- zeitig hat man Angst vor dem Vor-
sprüche«, meint Claudia Major von wurf, die Partei, die einst auch aus
der Stiftung Wissenschaft und Poli- der Friedensbewegung gegen den
tik. Andere sprechen von Hintertür- Nato-Doppelbeschluss hervorging,
chen oder Gummi. Und für den Fall, sei zur Aufrüstungspartei geworden.
dass ein Interviewer versucht, sie Was tun? Baerbock hat sich auf
festzulegen, hat Kanzlerkandidatin einen etwas sophistischen Trick ver-
Baerbock einen forschen Vielsprech legt: Sie lehnt den Indikator von zwei
entwickelt, mit dem sie den Ge- Prozent ab, lässt aber im Unklaren,
DPA
den. »Auch wenn der Indikator zwei Und das ist ein Problem. Denn dass Brugger, Trittin und Özdemir. Aber
Prozent Unsinn ist, ist die dahinter- unter dem Druck der Regierungsver- wollen das die Grünen überhaupt?
stehende Debatte über eine faire Las- antwortung plötzlich strikte Fraktions- Sollte Baerbock das Kanzleramt er-
tenteilung im Bündnis nachvollzieh- disziplin ausbrechen wird, ist höchst obern, würden sie von dort aus die
bar«, sagt der grüne Verteidigungs- unwahrscheinlich. Deshalb halten die Außenpolitik bestimmen. Und wenn
experte Tobias Lindner. Pragmatiker ein Prinzip hoch: Die nicht? Dann würden sie sich womög-
Er rechnet damit, dass eine von Mehrheit muss so groß sein, dass man lich ganz auf die Ökologie und das
Baerbock geführte Bundesregierung sich Ausfälle leisten kann. So funktio- Innere konzentrieren.
mehr für Verteidigung ausgeben wür- nierte es auch während der rot-grünen Baerbock muss aber auf jeden Fall
de: »Allein schon durch Inflation und Koalition. 2001 stimmten vier Grüne zeigen, dass sie genug von Außen-
jährliche Tarifrunden wird der Wehr- gegen den Afghanistaneinsatz, unter politik versteht, um für das Kanzler-
etat steigen, ob wir das wollen oder ihnen Bayrams Vorgänger Ströbele. amt infrage zu kommen. Ihr Credo:
nicht.« Die Bundeswehr müsse ver- Ein Bündnis mit SPD und Linken »Die Debatten und das Ringen inner-
nünftig ausgerüstet werden. »Ersatz- könnten die Grünen dann aber nicht halb der Grünen spiegeln das starke
teile für den Schützenpanzer ›Puma‹ eingehen. Denn auch in der Linken- Bewusstsein innerhalb der Gesell-
zu kaufen ist keine Aufrüstung.« fraktion würde es Abweichler geben. schaft um unsere Geschichte und um
Früher hat die Frage nach Krieg Trotz aller Widersprüche haben die globale Verantwortung wider.«
und Frieden die Grünen an den Rand die Grünen in der Außenpolitik ein Um diesem Anspruch gerecht zu
der Spaltung getrieben. Auch Lind- beachtliches Selbstbewusstsein ent- werden, müssten die Grünen sich al-
ner war kurz davor, aus der Partei wickelt. Neben Kanzlerkandidatin lerdings trauen, Debatten auch in der
auszutreten, als Joschka Fischer sei- Baerbock, die sich mit Europapolitik Öffentlichkeit auszutragen. Tatsäch-
ner Partei die Zustimmung zum Ein- befasst und einen Master in Völker- lich aber haben sie Angst vor offenem
satz in Afghanistan abrang. Heute hat recht hat, gibt es eine Reihe profilier- Streit. Das bekam zuletzt Anfang des
sich der große Teil der Ökopartei mit ter Außenpolitikerinnen und Außen- Jahres Ueberschär von der Böll-Stif-
Militäreinsätzen abgefunden. Der politiker von beiden Parteiflügeln: tung zu spüren. Sie hatte ein »Trans-
Marsch der Grünen in die außenpoli- Agnieszka Brugger und Jürgen Trit- atlantisches Manifest« mitverfasst,
tische Mitte fand maßgeblich über die tin vom linken Flügel, Omid Nouri- das sich für einen Neubeginn der
Akzeptanz von Auslandseinsätzen pour, Cem Özdemir, Tobias Lindner Beziehungen zu den USA nach Joe
der Bundeswehr statt. Aber Vorbe- und die Europapolitikerin Franziska Bidens Wahlsieg ausspricht. Der Auf-
Bundeswehrsoldat in
halte gibt es noch immer. Die Frage, Mali, Grünenpolitiker
Brantner bei den Realos. ruf enthält ein klares Bekenntnis zur
welcher Einsatz gerechtfertigt ist und Trittin: »Prozess der Als Kandidaten für das Auswärti- nuklearen Teilhabe, Deutschlands
welcher nicht, könnte deshalb in der Re-Realpolitisierung« ge Amt sehen sich aus diesem Kreis Beitrag zur atomaren Abschreckung.
Regierung heikel werden. Hier steht eine Entscheidung über die
In der Opposition war das leichter, Nachfolge der »Tornado«-Kampfflug-
da leisteten sich die Grünen weitge- zeuge an, die im Ernstfall US-Atom-
hende Gewissensfreiheit. Wenn im bomben transportieren würden – ein
Bundestag Auslandseinsätze zur weiteres heikles Thema für die Grü-
Abstimmung standen, kam aus der nen, die eigentlich wollen, dass die
Grünenfraktion regelmäßig eine Bundesrepublik dem Kernwaffenver-
Kakofonie: Zustimmung, Ablehnung, botsvertrag beitritt.
Enthaltung, alles ist möglich. Als es »Böll für Bombe«, dichtete die
zuletzt um die Verlängerung des Bun- »taz« mit Blick auf Ueberschär. Trit-
Michael Kappeler / PICTURE ALLIANCE / DPA
deswehreinsatzes »Atalanta« vor der tin wetterte: »Wer von einer Neube-
Küste Somalias ging, stimmten 7 Grü- stimmung des transatlantischen Ver-
ne dafür, 6 dagegen, und 40 enthiel- hältnisses redet, sollte mehr liefern
ten sich. Bei der Verlängerung des als Rezepte der Achtzigerjahre.« Es
Afghanistaneinsatzes im März sah klang, als schlüge er auf Ueberschär
das Ergebnis so aus: 14-mal ja, 32-mal ein, weil er die eigene Parteiführung
nein und 14 Enthaltungen. nicht angreifen darf. Ueberschär ru-
Eine Neinstimme kommt fast im- dert inzwischen zurück. »Nicht alles,
mer von Canan Bayram, manchmal ist was in dem Papier steht, wird von
sie die einzige. Bayram, 55, hat bei allen Unterzeichnerinnen geteilt«,
der vergangenen Bundestagswahl das sagt sie. »In der Frage der nuklearen
Direktmandat in Berlin geholt, das vor Teilhabe denke ich anders.« Doch die
ihr Hans-Christian Ströbele gewann. Schärfe der Reaktion empfanden
Sie steht am linken Rand der Fraktion. manche Grüne als erschreckend, von
»Ich muss mich zuerst vor meinem Ge- »Debattenkontrolle« und einem »kol-
wissen und dann vor meinen Wähle- lektiven Strafgericht« ist die Rede.
rinnen und Wählern in Friedrichshain- Als Joschka Fischer die Grünen in
Kreuzberg verantworten«, sagt sie. Auslandseinsätze der Bundeswehr
»Ich kann und werde niemals ein Man- führte, wurde leidenschaftlich gestrit-
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
dat mittragen, das ich für falsch halte.« ten, die Schmerzen, die der Clash mit
Bayram ist so etwas wie der letzte der Realität der Partei bereitete, wur-
Glutkern der einst pazifistischen Par- den für alle sichtbar. Ihr Ringen strahl-
tei. In einer Fraktion, die sich nach te tatsächlich weit in die Gesellschaft.
aktuellen Umfragen nach der Wahl Heute dagegen herrscht vor allem
verdreifachen könnte, dürfte sie aller- Parteidisziplin.
dings Unterstützung bekommen. Christiane Hoffmann, Jonas Schaible ■
Christian Werner
Russische Soldaten in Aleppo: »Menschenrechte spielen keine Rolle«
Da war selbst die Kanzlerin nicht mehr abge- liegt an der Versäulung der Sicherheitspolitik. SPIEGEL: Aber die grundsätzliche Entschei-
neigt, militärisch zu reagieren. Da konkurrieren Minister von drei Parteien, dung, Waffen und Soldaten in den Irak zu
Neitzel: Anders als noch 2017 wollten die die sich alle profilieren wollen, und das Kanz- schicken, müsste doch in Ihrem Sinne sein?
Amerikaner damals die Verbündeten beteili- leramt lässt es geschehen. Einen Bundes- Neitzel: Ja, die Waffenlieferungen waren
gen. Und so wurde auch Berlin gefragt. Mer- sicherheitsrat, der den Namen verdient, haben wichtig. Dennoch: Unser militärisches Engage-
kel versammelte daraufhin die Inspekteure bisher alle Kanzler abgelehnt, weil ein solches ment fällt sogar hinter kleine Länder wie
der Teilstreitkräfte und ließ sich berichten, Gremium sie zu sehr binden würde. Und dann Dänemark und die Niederlande zurück. Die
welche Möglichkeiten die Bundeswehr habe. gibt es ein grundsätzliches Problem. Holländer haben sich mit F-16-Kampfjets an
Bei der Marine war eine Korvette vor der SPIEGEL: Und zwar? Luftschlägen beteiligt, während wir unsere
libanesischen Küste im Einsatz, die vier Neitzel: Eine Politik, die vorausschaut, zahlt Tornados geschickt haben, die aber keine
schwere Flugkörper an Bord hatte. sich politisch nicht aus. Politiker verweisen Kampfeinsätze geflogen sind.
SPIEGEL: Aber? gern auf die aktuellen Schlagzeilen. Das ist SPIEGEL: Sie haben für Ihr Buch mit Soldaten
Neitzel: Die Marine war sich nicht sicher, wo meine Realität, sagen sie. Und nicht irgend- der US-Marines gesprochen. Wie sahen die
diese Raketen wirklich landen würden. Man eine Krise, die uns womöglich in zwei, drei auf die Deutschen?
hatte sie noch nie so richtig ausprobiert. Die Jahren treffen könnte. Neitzel: Positiv. Keiner habe im Feldlager so
Luftwaffe wiederum hätte den Marschflug- SPIEGEL: Im Dezember 2015 beschloss der gute Würstchen gegrillt wie die Deutschen.
körper »Taurus« einsetzen können, aber der Bundestag den Einsatz deutscher Soldaten Aber im Ernst – natürlich werden deutsche
ist mit seinen 1,4 Tonnen so wuchtig, dass die gegen den »Islamischen Staat«. Zum ersten Soldaten in Krisengebiete geschickt. Doch im
Kanzlerin lieber verzichtete. Mal abgesehen Mal lieferte Deutschland Waffen und Ausbil- Dreck liegen meist andere. Das ist die strate-
davon, dass die Eurofighter in ihrer Rolle als der in ein Kriegsgebiet, an die kurdischen gische Kultur in unserem Land.
Jagdbomber noch nicht einsatzbereit waren. Peschmerga. In Ihrem Buch kritisieren Sie SPIEGEL: Ist es inzwischen zu spät, in Syrien
SPIEGEL: Wie reagierte die Kanzlerin? auch das als halbherzig. Ihnen kann man es noch einzugreifen?
Neitzel: Sie erklärte öffentlich, Deutschland wohl gar nicht recht machen. Neitzel: Ja, das hätte man machen müssen,
werde »sich an eventuellen – es gibt ja noch Neitzel: Jaja, der großartige Anti-IS-Einsatz. bevor die Russen Assad zu Hilfe kamen. Da
keine Entscheidung, ich will das noch mal »Wir« haben den IS besiegt – ich habe Anne- hätte man vielleicht eine Flugverbotszone
deutlich machen – militärischen Aktionen gret Kramp-Karrenbauer noch im Ohr. In einrichten können. Assad wäre es schwerer
nicht beteiligen«. Am Ende machten nur Wahrheit haben wir 100 bis 150 Ausbilder gefallen, die eigene Bevölkerung zu bombar-
Frankreich und Großbritannien mit. in den Norden des Irak geschickt. Das dieren. Diese Chance wurde verpasst. Nein,
SPIEGEL: Warum wird Berlin in der Außen-, war wenig sinnvoll, sagen mir Offiziere, nach zehn Jahren Syrienkrieg bleibt nur ein
Sicherheits- und Entwicklungspolitik dem die dort waren. 150 Mann, um eine irakisch- einziger Schluss: Wir Deutschen sind hilflose
eigenen Anspruch so wenig gerecht? nationale Armee aufzubauen. Die Italiener Zuschauer, während andere Länder gerade
Neitzel: Vor Ort funktioniert dieser vernetzte haben 1000 Soldaten geschickt, dazu noch die Machtachsen auf Dauer verschieben.
Ansatz ja manchmal durchaus, in Afghanistan vier Transport- und vier Kampfhubschrauber Interview: Konstantin von Hammerstein,
oder im Irak. Aber eben nicht zu Hause. Das und außerdem Spezialkräfte. Christoph Schult ■
chendeckenden Breitbandausbau bis zum di- ßes Budget. Es galt nicht, ein wichtiges Amt sie hätte mit den digitalen Zuständen im Land
gitalen Bürgeramt. an die Frau zu bringen, sondern umgekehrt nichts zu tun. Als hätte sie nicht schon in der
Doch wer mit Dorothee Bär spricht, ihre eine Frau ins Amt, in irgendeines. Die CSU vorherigen Legislatur als Parlamentarische
öffentlichen Auftritte verfolgt, gewinnt den hatte ihre drei Ministerposten allesamt männ- Staatssekretärin den schleppenden Ausbau
Eindruck, sie blicke aus ihrem Büro im sechs- lich besetzt, das schien selbst Horst Seehofer der digitalen Infrastruktur mitverantwortet.
ten Stock des Bundeskanzleramts auf ein damals nicht mehr vermittelbar. Bär sagt nun tatsächlich, die Bürgerinnen
ganz anderes Deutschland: digitalisiert, mo- Auch Bärs Kritiker räumen ein, dass sie es und Bürger hätten in der Pandemie »ganz in-
dern, unkompliziert, fröhlich. Die Bundes- in ihrem Amt nicht leicht hat. Alle 14 Bun- tensiv erlebt, was in Deutschland funktio-
Influencerin scheint sich in eine virtuelle Rea- desministerien machen irgendwas mit Digi- niert«. Und: »Ich finde es ganz wichtig, im-
lität zu träumen, während die Deutschen in talisierung, nicht mal im Kanzleramt ist Bär mer rauszustellen, wo es wirklich gut läuft«,
ihren Funklöchern weiterwurschteln. unangefochten. Hier trat Helge Braun als denn es laufe »ganz, ganz viel gut«.
Dabei ist Bär eine erfahrene Digitalpoliti- Chefdigitalisierer an, was er früh deutlich Alle sollten bei dem Update mitmachen.
kerin. Seit 19 Jahren sitzt sie im Bundestag, machte: »Wenn’s schwierig wird, bin ich da.« Nur bitte nicht die »Besitzstandswahrer, Be-
seit rund sieben Jahren hat sie Regierungs- Eva Christiansen, Angela Merkels Vertraute, denkenträger und Nörgler«.
ämter inne, seit gut drei Jahren ist sie Beauf- führt die neue Digitalabteilung im Kanzleramt. Auch das gehört zur Methode Bär. Wer kri-
tragte für Digitalisierung. Die 43-Jährige ist Damit ist klar: Diese beiden haben die Ge- tisch nachfragt, steht schnell als Nörgler da.
Vizechefin ihrer Partei, wird als CSU-Spit- staltungsmacht und im Zweifel Merkels Ohr. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen
zenkandidatin für die Bundestagswahl gehan- Um die Corona-Warn-App etwa hat Braun 2018 berief die CSU-Frau einen »Innovation
delt. Sollte die Union weiter regieren, wäre sich gekümmert, mit Gesundheitsminister Council« ein, mit ihr und Frank Thelen an
ihr ein Ministeramt sicher, heißt es. Wie passt Jens Spahn; die offizielle Vorstellung im Juni der Spitze, dem Start-up-Unternehmer und
all das zusammen? durfte Bär immerhin moderieren, im Stehen, Investor, bekannt aus der TV-Show »Die
Bärs Wirken lässt sich auf Twitter, Insta- während vier Kabinettsmitglieder und die Höhle der Löwen«. Seither hörte man davon
gram oder Facebook lückenlos verfolgen: Bär Entwickler auf dem Podium saßen. Als die nicht mehr viel.
auf der Regierungsbank, im Talk mit Schülern Kanzlerin diese Woche mit Peter Altmaier Das gilt auch für die »Bundeszentrale für
über digitale Bildung, im Studio für ihren Pod- die Ergebnisse ihres 15. Digitalgipfels präsen- digitale Aufklärung«, die Bär im Juli 2020
cast »Bär on Air«. Hier beim digitalen Emp- tierte, fehlte die Digitalstaatsministerin. Im- ankündigte. Ihr dürftiger Eintrag im Internet-
fang für CSU-Neumitglieder, dort mit ihrem merhin durfte sie an den Beratungen zu ihrem auftritt der Regierung ist ganz verschwunden,
Liebsten auf der neuen Gartenbank. Thema teilnehmen. parlamentarische Anfragen von FDP und Lin-
Doch diese unermüdlichen Aktivitäten, all Wenn ein Landesdigitalminister wie An- ken ergaben: Das Projekt, dessen Name an
die Podien, Fachgespräche, Grundsatzreden dreas Pinkwart (FDP) aus NRW nach Berlin die Bundeszentrale für politische Bildung er-
hinterlassen keine messbar gute oder nachhal- komme, um über seine Projekte zu 5G, zur innert, hat weder ein eigenes Budget noch
tige Bilanz. Bärs politische Existenz hat etwas digitalen Bildung oder zur Digitalisierung Personal, noch nennenswerte Aktivitäten vor-
Rätselhaftes: Was macht diese Frau den ganzen der Verwaltung zu reden, müsse er drei ver- zuweisen.
Tag über, was kann sie wirklich, wer ist sie? schiedene Ministerien kontaktieren, sagt Markus Beckedahl ist einer der wichtigs-
Wer es so weit nach oben schafft in der Pinkwart – die Digitalbeauftragte aber nicht. ten netzpolitischen Aktivisten und Mitgrün-
männerdominierten CSU, noch dazu als Was bleibt Bär? Ihre »besondere Aufgabe« der des Blogs Netzpolitik.org. In den vergan-
Mutter von drei Kindern, kann keine Quoten- sei die Kommunikation über Digitalisierung, genen Jahren, sagt Beckedahl, habe er durch-
frau sein, muss mehr draufhaben als die Kunst hieß es mal in einer Antwort der Bundesregie- aus Fortschritte bei Digitalthemen im Kanz-
der Inszenierung, muss beharrlich und stra- rung auf eine Anfrage der Grünen. Und nie- leramt beobachtet. »Ich glaube aber, dass die
tegisch sein. Man wüsste gern mehr über mand kann bestreiten, dass Bär diese Aufgabe Rolle von Bär dabei weit überschätzt wird.«
@DoroBaer, würde gern hinter diese Insta- erfüllt. Hier ein »Hackathon«, dort ein »Match- Er nehme sie vor allem über »simple Hal-
gram-Fassade blicken, mit ihr ein langes Ge- athon« oder ein »Barcamp« zur digitalen Bil- tungen« wahr, wie »Der Datenschutz ist
spräch führen, ohne Unterbrechung durch dung. Die Mode-Anglizismen der Techbran- schuld«. An wichtigen Debatten etwa über
Presseleute oder Twitter-Updates. che sprudeln nur so aus der Fränkin heraus. die Regulierung der sozialen Netzwerke zeige
Leider hat die Staatsministerin wenig Zeit. Ende Februar steht die Digitalstaatsminis- sie weniger Interesse, findet Beckedahl, der
Sie länger zu begleiten und zu beobachten terin in schwarzem Blazer an einem Stehpult Deutschlands größte Digitalkonferenz mitge-
für ein großes Porträt, das ließ ihr Kalender vor der Videolinse. Sie versucht, Aufbruch- gründet hat, die re:publica.
schon vor Jahren nicht zu, als noch kein Virus stimmung für ein neues Innovationspro- Digitalstaatsministerin Bär trat dort im
persönliche Begegnungen schwierig machte. gramm unter Schirmherrschaft des Kanzler- neuen Amt 2019 nicht auf, und wer nach den
Aber ein Telefonat über Digitalpolitik war amts zu erzeugen. »Update Deutschland« Gründen sucht, stößt auf einen Twitter-Dia-
nun möglich, 30 Minuten, die Themen wur- heißt die Initiative diverser Organisationen log von Beckedahl und einer nicht so netten
den angemeldet, die Zitate nachher autori- und Stiftungen. Sie werben für einen Moder- Dorothee Bär. Sie sei nicht eingeladen wor-
siert. Dann bleiben solche Sätze: nisierungsschub, aus der Mitte der Gesell- den, klagt die CSU-Frau da. Aber: »Ich laufe
Um mehr als nur Anstöße für die
schaft. Dem Staat trauen sie die Schubkraft niemandem hinterher.« Und überhaupt: »Die
Digitalisierung geben zu können, müsste
allein offenbar nicht mehr zu. besten von der re:publica treffe ich danach
mein Amt bei Kompetenzen, Personal
Wie so oft setzt sich Bär an die Spitze einer in Berlin.« Da half der Hinweis von Becke-
und Budget ganz anders ausgestattet sein.
Bewegung. Wer ihr zuhört, könnte denken, dahl wenig, dass er bis auf den Bundespräsi-
Momentan ist all das dezentral auf
denten niemanden offiziell eingeladen habe.
die federführenden Ministerien verteilt.
Für die aktuelle virtuelle Ausgabe der Konfe-
renz in dieser Woche war Bär in einem Panel
Die Position von Dorothee Gisela Renate Ma- zur Bildung angekündigt, immerhin.
ria Bär als Beauftragte der Bundesregierung In der Bilanz der Digitalbeauftragten fin-
für Digitalisierung wurde 2018 neu geschaffen. det sich letztlich nichts, was Deutschland we-
In den Jamaikakoalitionsverhandlungen hatte Methode Bär: sentlich weitergebracht hätte im Versuch, das
die FDP noch ein Digitalministerium durch- Wer kritisch nachfragt, Papier- und Faxzeitalter zu verlassen. »Die
setzen wollen, in der Großen Koalition blieb Position hat einfach zu wenig bewirkt«, kriti-
letztlich die Position der Staatsministerin im
steht schnell siert die grüne Digitalexpertin Anna Christ-
Kanzleramt, ohne großen Apparat oder gro- als Nörgler da. mann. Doro Bär habe eher als Botschafterin
agiert, hier und da »kleine Leuchtfeu- Videos zum Girls’ Day, den Inter-
er« gezündet. Das reiche nicht aus. views über Politik in High Heels oder
Als ich im Bundestag angefangen
dem Auftritt im freizügigen Latex-
habe, hieß es noch Netzpolitik
kleid beim Computerspielpreis. Die-
und war für viele in der Politik noch
ser Feminismus erfreut auch die CSU,
so ein spinnertes Zeug im Unter-
er nervt nicht, er ist gut fürs Image.
ausschuss für Neue Medien. Meine In Deutschland ist eine positive
Überzeugungsarbeit für die Grundeinstellung per se gleich ver-
Digitalisierung war Pionier- und dächtig – und für manche sogar
Kärrnerarbeit: Es hat mich viel schon ein freundlicher Gesichtaus-
Mühe gekostet, bis das Thema druck auf einem Foto. Als wenn
endlich den Stellenwert erhalten schlechte Laune irgendetwas besser
hat, den es verdient. machen würde.
Die Tochter, Enkelin und Urenkelin Dorothee Bär plädiert auch für die
einer Dynastie von Bürgermeistern Quote, für mehr Chancen für Mütter
im fränkischen Ebelsbach hat eine in der Politik. Sie prangert Sexismus
konservative Musterkarriere hinge- an, ermahnt ihre CSU und verlässt
legt. Mit 14 trat Bär in die Junge mit einem Knall die Ludwig-Erhard-
Fotos: Instagram
Union ein, mit 16 in die CSU. Sie en- Stiftung, weil deren damaliger Vor-
gagierte sich im Studierendenver- sitzender sexistische Angriffe auf eine
band RCDS, wurde dessen Landes- SPD-Politikerin in seinem Magazin
chefin – und zog mit diesem Amt ins zuließ.
Machtzentrum der CSU ein, in den CSU-Vize Bär auf Milliardär längst kritischen Fragen im Die CSU-Politikerin Bär tritt gern
Parteivorstand, wo Männer wie Ed- Instagram: US-Kongress stellen. demonstrativ weiblich auf, auch wenn
»Spinnertes Zeug im
mund Stoiber oder Günther Beck- Unterausschuss« Neulich wechselte Bärs Büroleite- sie fordert, dass das Geschlecht für
stein das Regiment führten. rin zu Facebook, als Zuständige für die Karrierechancen kein Thema
Bär beobachtete, knüpfte Kontak- Regierungskontakte in Zentraleuropa. mehr sein sollte. Damit hat sie die
te und kam mit 24 Jahren erstmals Die Wege sind kurz. Männerpartei CSU entwaffnet, jeden-
in den Bundestag – damals waren Als die App Clubhouse zu Jahres- falls was ihr Fortkommen angeht.
Facebook oder Twitter noch gar beginn einen Hype erlebte, tummelte Jede Zurückweisung oder Nichtnomi-
nicht gegründet. Sie begann mit der Bär sich dort oft. Clubhouse ist ein eli- nierung wäre eine Zurückweisung
Familienpolitik, entdeckte dann die tärer Zirkel. Beitreten konnten damals der Frau und Mutter Dorothee Bär.
Netzpolitik, ein Nischenthema für nur Nutzer mit iPhone und nur auf Gefühlt meldet sie sich zur Gleich-
die CSU, das aber gesellschaftliche Einladung. Wer andere dazu bitten berechtigung fast so viel zu Wort wie
Streitfragen berührte: Datenschutz, will, soll seine Kontakte teilen. Als zur Digitalisierung. Es könnte auch
Jugendschutz, Meinungsfreiheit. Bär auf Clubhouse die Datenstrategie daran liegen, dass sie langsam ihre
Vor einer Dekade gründete Bär der Regierung präsentieren wollte, ha- Alleinstellung in der Union verliert.
»CSUnet« mit, einen Arbeitskreis für gelte es Kritik auf Twitter. Bär spöt- Andere holen auf, überholen sogar.
Digitalpolitik. Der Zirkel vertrat pro- telte über die Entrüstung. Es gebe So war es nicht Bär, sondern die
gressive Positionen, die oft konträr zur doch zuvor eine Pressekonferenz: Vizechefin der Unionsfraktion, Na-
Parteilinie und deren Altvorderen ver- »Live. In Farbe. Und bunt.« dine Schön, die das Buch »Neustaat«
liefen. So wandte sich CSUnet gegen »Digital first. Bedenken second« – mitherausbrachte, ein Kompendium
die Vorratsdatenspeicherung. Als Vor- niemand in der Union lebt das alte voller Vorschläge für ein Staats-
sitzende von CSUnet kritisierte Bär FDP-Motto so unbeschwert wie sie. Update, mitsamt einem »ganz neu
auch das Acta-Digitalabkommen der Es gibt aber ein hässliches Thema gedachten Digitalministerium«. 64
EU, gegen das in Deutschland Zehn- der Netzwelt, zu dem Bär immer klar Abgeordnete, Expertinnen und Ex-
tausende auf die Straßen gingen. und hart Position bezieht: Hass- perten kommen darin zu Wort – aber
Aber mit den Jahren haben sich die attacken vor allem auf Frauen seien nicht die Digitalstaatsministerin.
Dinge verschoben. Früher passte Bärs »ein Riesenproblem, das ich auf das Viel spricht dafür, dass dieses Amt
digitalaffine Art oft nicht zu ihrer Par- Schärfste bekämpfe«. in keiner neuen Regierung weiter-
tei. Jetzt passt die Unbeschwertheit, Als ihre Regierung diese häss- leben wird. Für Bär muss das nichts
mit der sie durch die Netzwelt lichen Seite von Social Media in den Schlechtes bedeuten. Ihre Loyalität
schwebt, nicht mehr zu den Zuständen Griff kriegen wollte, stand Bär al- zu Parteichef Markus Söder und
dort. Zu Hacks und Leaks persön- lerdings im Lager der Skeptiker. dessen »übermenschlicher« Leistung
licher Daten, zu Desinformation und Deutschland führte 2017 das Netz- hat sie oft genug bewiesen. Und
politischen Manipulationsversuchen, werkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) die Methode Bär reüssiert in jedem
zur ungezügelten Wirtschaftsmacht ein, das Social-Media-Riesen zwingt, Ressort.
der Internetkonzerne – zu all dem ist strenger gegen Hassrede vorzugehen. Vielleicht läuft aber alles auch ganz
von Bär auffallend wenig zu hören. Viel spricht Dieses Regelwerk verstoße gegen die anders. Wenn die Union nicht mehr
Sie nutzt ihre Strahlkraft eher in dafür, dass Verfassung, verkündete sie damals. regiert, will auch Bär nicht mehr Poli-
die andere Richtung. Als Mark Zu- Heute sagt Bär, sie habe bloß einzel- tik machen, sagte sie 2014 der »taz«:
ckerberg vor zwei Jahren in Berlin
dieses Amt in ne Teile des Gesetzes kritisiert und »Da würde ich sagen: ›No Way!‹«
vorbeischaute, postete die Digitalbe- keiner neuen nur davor gewarnt, dass Facebook & In der Opposition arbeite man
auftragte ein Foto vom gemeinsamen Regierung Co. voreilig zu viele Inhalte löschen sehr viel für den Papierkorb. »Dann
Dinner auf Instagram, mit den Stich- könnten. ist Politik nur noch Arbeit ohne Er-
worten #Vertrauen und #Gegenseiti- überleben Ansonsten hat ihr Feminismus vor gebnis. Das will ich nicht.«
gesVerständnis. Da musste sich der wird. allem eine fröhliche Seite, die mit den Melanie Amann, Marcel Rosenbach ■
Inszenierung der Macht Geschichte. Erst in jüngerer Zeit richtet sich der Blick stärker auf
Wer erfolgreich herrschen will, braucht Status und Kompetenz – Elizabeths Strategien der Macht und der Inszenierung – und auf
und muss seine Rolle geschickt darstellen. Das gilt für Frauen, die die Schattenseiten ihrer Regierung. An Faszination verliert die
sich stets mehr für die Ausübung von Macht rechtfertigen muss- Königin dabei nicht, im Gegenteil: Erst durch den Mythos hindurch
ten, noch weitaus stärker als für Männer. Die englische Königin zeigt sich die wahre Staatskunst Elizabeths.
Elizabeth I. (1533 bis 1603) war eine Meisterin dieser Inszenierung. Vor ihrer ersten großen Aufgabe steht sie, seit sie lebt: Sie muss
Öffentliche Selbstdarstellung gehört zu den Kernkompetenzen beweisen, dass sie eine rechtmäßige Königin ist – weil sie eine Frau
eines Herrschers schon in der frühen Neuzeit. Zwar glauben alle, ist. Zwar gilt in England nicht wie auf dem Kontinent das salische
dass Gott bei der Wahl eines Monarchen seinen Willen walten Recht, das Frauen von der Erbfolge ausschließt. Doch eine Thron-
lässt, doch er muss sich vor den Untertanen auch bewähren; Kö- erbin ist nicht erwünscht – Elizabeths Vater, König Heinrich VIII.,
nigsherrschaft ist keine Diktatur, sondern auf Konsens zwischen tut alles, um einen Sohn zu bekommen. Frauen gelten als das
Herrscher und Beherrschten ausgerichtet; für Gesetze braucht der schwache Geschlecht, sie sollen sich dem Mann unterordnen und
englische König das Parlament. Rebellionen, so sieht es die politi- nicht regieren. Weiberherrschaft verstößt gegen das Naturrecht
sche Philosophie der Tudor-Zeit, gründen daher weniger im Unge- und damit gegen die göttliche Ordnung, so sehen es die meisten.
horsam der Untertanen als in königlicher Torheit: Der Monarch Elizabeth selbst zweifelt offenbar nicht an ihrer Regierungstaug-
ist selbst schuld, wenn sein Volk sich erhebt. Es gilt deshalb, den lichkeit. Durch ihre hervorragende Ausbildung – sie spricht Franzö-
Verstand und die Herzen der Menschen zu gewinnen. sisch, Italienisch und Spanisch fließend und hat die Schriften
Elizabeth, gekrönt mit 25 Jahren am 15. Januar 1559, perfektio- wichtiger lateinischer und griechischer Autoren und Philosophen
niert die royale PR. Die 45 Jahre ihrer Herrschaft galten auch im Original gelesen – und durch ihre strategische Klugheit kann sie
unter Historikern lange als das »Goldene Zeitalter« der englischen ihren Beratern und Höflingen locker das Wasser reichen.
Die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL EDITION widmet sich großen Frauen der Weltgeschichte
• Antike: Kleopatra, Königin von Ägypten, war die Die Magazinreihe SPIEGEL EDITION erscheint zweimal
wohl mächtigste Herrscherin ihrer Zeit im Jahr und fasst die besten Texte aus der SPIEGEL-
• Medizin: Florence Nightingale begründete im Redaktion zu einem wichtigen historischen oder gesell-
19. Jahrhundert die moderne Krankenpflege schaftlichen Thema zusammen.
• Werdegang: Madeleine Albright, einst US-Außenminis-
terin, über ihr Leben und die politische Prägung durch ERHÄLTLICH IM ZEITSCHRIFTENHANDEL, AUF AMAZON.DE/SPIEGEL
ihre Familie UND IN DER SPIEGEL-KIOSK-APP. 154 SEITEN; 12,90 EURO.
DEUTSCHLAND
Es ist bei Weitem nicht die erste als schlecht angesehen und beleidigt debüro angerufen und gedroht, die
Welle aggressiven Antisemitismus, wird, weil er Jude ist.
»Euch hat Synagoge anzuzünden.
die sich in der Bundesrepublik über Die Monitoringstelle Rias orien- Hitler Seitdem sorgt sich die Vorsitzende
Juden ergießt. Zuletzt hatte die Co- tiert sich auch an den »drei Ds«, um zu wenig mehr als sonst. »Nach dem Anschlag
ronapandemie antisemitische Ver- Judenhass von Israelkritik abzugren- von Halle wurden uns vom Kultus-
schwörungstheorien angeheizt. Die zen. Antisemitisch ist es dann, wenn gefickt« – ministerium extra Gelder für Sicher-
Zahl antisemitischer Straftaten ist Israel dämonisiert wird, es delegiti- Nachricht heitsmaßnahmen zugesagt.« Nun sol-
laut Kriminalstatistik seit 2015 Jahr miert wird, indem ihm das Existenz- le es dafür aber keine zusätzlichen
für Jahr gestiegen – von damals 1366 recht abgesprochen wird, und dop- an einen Mittel geben.
Fällen auf heute 2351, ein Anstieg um pelte Standards angelegt werden: Ge- jüdischen Gemeindemitglieder würden am
mehr als zwei Drittel. Fast 95 Prozent walt der Palästinenser wird als legitim Arbeitsplatz, in der Schule, auf der
rechnet die Polizei Rechtsextremisten dargestellt, von Israel aber nicht. Berliner auf Straße beschimpft, sagt Seidler. »Was
zu – was auch daran liegt, dass Vor- Levi Israel Ufferfilge, 32, leitet Instagram ihr in Gaza macht, ist genauso
fälle mit unbekannten Tätern in der eine jüdische Grundschule in Berlin, schlimm wie das, was die Nazis mit
Erfassung oft dem Rechtsextremis- vor den propalästinensischen De- den Juden gemacht haben.« Oder:
mus zugeschlagen werden. monstrationen vergangenes Wochen- »Wenn es Israel nicht gäbe, hätten wir
Eine Befragung für den Experten- ende flüchtete er für einige Tage aufs Frieden auf der Welt.«
kreis Antisemitismus des Bundestags Land. »Ich wollte nicht zu Hause sit- »Wir sind jüdische Deutsche, aber
vor fünf Jahren machte deutlich, dass zen und Angst haben, auf die Straße werden zu Stellvertretern Israels ge-
Juden in größerem Ausmaß Muslime zu gehen.« Er habe 2014 nicht ver- macht«, so Seidler, die als Unterneh-
für Übergriffe verantwortlich ma- gessen, als sieben Wochen lang ein mensberaterin arbeitet. »Ich finde
chen, als es die amtliche Statistik Krieg zwischen Israel und der Hamas Kritik an Israel zulässig, aber das hier
offenbart. Rias, die bundesweite tobte. Drei Palästinenser verübten da- ist purer Antisemitismus.« Sie nennt
Antisemitismus-Meldestelle, spricht mals einen Brandanschlag auf eine es »erschreckend«, aus wie vielen Be-
von einer »deutlich schnelleren Dy- Synagoge in Wuppertal. Jetzt fühlt völkerungsgruppen inzwischen Hass
namik« antisemitischer Vorfälle seit sich der Pädagoge wieder bedroht. gegen Juden komme. Seit einiger Zeit
dem neuerlichen Ausbruch des Nah- Zum Schulbeginn am Mittwoch setz- falle ihr bei Protesten auf, »wie viele
ostkonflikts mit Raketenangriffen te er vorsichtshalber einen Hut über türkische Fahnen da auch geschwun-
der radikalislamischen Hamas und die Kippa, wie er erzählt. »Ich will gen werden«. Seidler: »Der Antise-
Gegenschlägen des israelischen Mi- niemanden zur Schule locken, ich mitismus ist offenbar ein Verbin-
litärs. muss an die Sicherheit der Schüler dungstück, auf das man sich leicht
Deutlich wird nun jedenfalls, wie denken.« verständigen kann.«
tief der Antisemitismus auch in man- Sonst zeigt er seine Kippa selbst- Mehr als 3000 Kilometer Luftlinie
chen muslimischen Milieus verwur- bewusst als stärksten »Teil meiner entfernt liegt die Jerusalemer Aksa-
zelt ist. Und zwar nicht nur unter den Identität«, obwohl er weiß, dass sie Moschee, in deren Nähe der Konflikt
neu Zugewanderten, sondern – und ihn auch in Gefahr bringt. Er hat aufflammte. Er belastet in diesen Ta-
das ist besonders erschreckend – teil- schon viel Antisemitismus erlebt und gen nicht nur Juden in Deutschland,
weise auch unter jenen, die schon lan- gerade ein Buch darüber geschrieben. sondern auch Palästinenser. Seit dem
ge hier leben. »Nicht ohne meine Kippa!«, heißt es Ausbruch der Kämpfe gab es mehr
und erzählt davon, »was es bedeutet, als 1000 Verletzte und Hunderte
Deutschland sieht sich wegen des mit einer Zielscheibe auf dem Hinter- Tote, die meisten von ihnen auf pa-
Holocaust in einer besonderen Ver- kopf zu leben«. lästinensischer Seite.
antwortung gegenüber Israel. Bun- Überall sei er schon beschimpft wor- Manchmal blieb Nidal Bulbul die
deskanzlerin Angela Merkel definier- den, meist als »Scheißjude«, im Super- ganze Nacht am Telefon in Kontakt
te die Sicherheit des jüdischen Staates markt, in der Bahn, an der Haltestelle. mit seiner Familie in Gaza. Er wan-
als Teil der deutschen Staatsräson. Arabischstämmige Jugendliche hätten derte dann rastlos durch seine Woh-
Die Nationalsozialisten ermordeten ihn verfolgt und Glasflaschen nach ihm nung in Berlin-Schöneberg, vom
sechs Millionen Menschen jüdischen geworfen, als er vom Kino nach Hause Wohnzimmer ins Schlafzimmer und
Glaubens. Antisemitische Proteste ging. Fast noch mehr irritiert habe ihn wieder zurück. Er hörte, wie die
werde »unsere Demokratie nicht dul- die Polizei, die ihn später fragte, ob er Bomben in den Nachbarvierteln ein-
den«, ließ Kanzlerin Angela Merkel »den Jungs Anlass gegeben« habe, ihn schlugen, sagt Bulbul, die Schreie der
(CDU) verlauten. zu attackieren, sagt er. Kinder in seinem Elternhaus. Mutter,
Wo aber fängt Antisemitismus an? Doch es sind keineswegs nur Mus- Vater, Schwestern, Brüder, Neffen,
Wann ist es nicht mehr legitime Kritik liminnen und Muslime, die ihn anti- Nichte: 15 Personen hätten die Luft-
an Israels Regierung? Manch einer ist semitisch beleidigten, auch Deutsche angriffe in einem Raum verbracht,
verunsichert. Dabei gibt es eine klare in Lederhosen oder Lodenjacken sei- die Fenster seien durch die Druckwel-
Grenze: Wenn deutsche Juden ver- en darunter. Ufferfilge hat die vergan- len der Bomben zerstört worden.
dammt werden für israelische Mili- genen Jahre in München gelebt, da- »Ich habe meiner Mutter gesagt,
tärschläge in Gaza, wenn überhaupt vor in Nordrhein-Westfalen. sie sollen sich verteilen, nicht alle in
»die Juden« angeblich schuld sind. Rebecca Seidler, 40, ist Vorsitzen- einen Raum«, sagt Bulbul. »Aber sie
Wenn sie mit Nazis gleichgesetzt wer- de der liberalen Jüdischen Gemeinde sagte: ›Wenn wir sterben, dann alle
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den oder ihnen gleich ein neuer Ho- in Hannover. Sie bekam unmittelbar lesen Sie in der aktu-
zusammen.‹«
locaust gewünscht wird. Wenn nicht zu spüren, wie sich die Wut auf Israel ellen Ausgabe von Seit elf Jahren lebt der 37-Jährige
die israelische Politik verantwortlich derzeit in Hass auf Juden in Deutsch- SPIEGEL GESCHICHTE: in Deutschland. Er betreibt ein be-
gemacht wird, sondern ein vermeint- land entlädt. Drei Tage nach Beginn Antisemitismus liebtes Café in Kreuzberg. Bulbul
Erhältlich am Kiosk, im
lich grundböses jüdisches Kollektiv, der gewaltsamen Auseinandersetzun- Buchhandel oder im
trägt eine Beinprothese, er weiß, wie
dann ist das Antisemitismus. Der Ju- gen im Nahen Osten habe ein Mann SPIEGEL SHOP unter sich Krieg anfühlt. Im Jahr 2007 ar-
denhass beginnt dort, wo ein Mensch mit arabischem Akzent im Gemein- spiegel.de/shop beitete er als Videojournalist für die
Andreas Chudowski
irgendetwas zur Rechenschaft gezo-
gen. Es geht immer nur um die Rake-
ten der Hamas«, sagt Bulbul.
twitter
Bulbuls Freund.
Jene, die die Geschichten von Bul-
bul hören, können vermutlich besser
nachvollziehen, warum er auf die
Straße geht.
Unter den Demonstranten waren
aber nicht nur Palästinenser, die um
das Leben ihrer Familien in Gaza
fürchten. Einige derer, die ihrem Hass
auf Israel freien Lauf lassen, leben be-
reits in der zweiten oder dritten Ge- Berliner Cafébetreiber Bulbul, Fußballstar Özil, Antisemitismusbeauftragter Klein, Diyanet-Chef Erbaş:
neration in Deutschland und haben Wann ist es nicht mehr legitime Kritik an Israel?
keinerlei Verbindung nach Palästina. Was Problem, denn was Erdoğan tut und sagt,
läuft schief, wenn diese jungen Menschen sich strahlt auch auf seine Anhänger hierzulande
so wenig mit deutschen Werten identifizieren, ab. Wie hoch deren Zahl ist, lässt sich nicht
dass sie in den sozialen Netzwerken Sätze genau sagen, die Gruppe der Türkeistämmi-
posten wie: »Ihr Hurensöhne, ihr Schmocks, gen ist sehr heterogen. Sicher ist nur: Bei der
Das Wissen
euch hat Hitler zu wenig gefickt!« letzten Präsidentschaftswahl in der Türkei
Der Pädagoge Derviş Hızarcı, 37, war als gab rund die Hälfte der 1,4 Millionen Wahl-
Beobachter auf der Demonstration in Neu- berechtigten in Deutschland ihre Stimme ab,
der Besten
kölln, auf der judenfeindliche Parolen gerufen davon stimmten 65 Prozent für Erdoğan.
wurden. Ein Ohr auf der Straße zu haben ge- Integrationsexpertinnen- und experten
hört zu seinem Job. Der Berliner war viele bemängeln die Abhängigkeit der Moscheen-
Jahre lang Lehrer an Kreuzberger Schulen. organisation Ditib von der türkischen Regie-
Heute arbeitet er für eine Stiftung, die sich rung. Die meisten Imame, die in den rund
unter anderem gegen Verschwörungsideolo- 900 Ditib-Moscheen in Deutschland predi-
gien engagiert, und leitet außerdem die Kiga, gen, wurden von der staatlichen Religions-
die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitis- behörde Diyanet in der Türkei ausgebildet.
mus. Es ist die wichtigste migrantische Initia- Von dort bekommen sie auch ihr Gehalt.
tive gegen den Judenhass in Deutschland. Hı- Zwar rief etwa der Landesgeschäftsführer
zarcı sah bei den Ausschreitungen viele Jungs der hessischen Ditib dazu auf, »sich von hass-
wie die, mit denen er in seinen Workshops erfüllten Menschenansammlungen fernzuhal-
zu tun hat – Jungs mit wenig Perspektiven, ten«. Doch wenig später meldete sich auch
aber vermeintlich großem Selbstbewusstsein. Ali Erbaş, der Chef der Diyanet, in Ankara
»Es waren mehr als in den vergangenen Jah- zu Wort: »Die Tyrannei von Israel, dem Baby-
ren bei ähnlichen Gelegenheiten, und die Wut mörder, der Gotteshäuser gnadenlos zerstört
war größer«, sagt Hızarcı. und vernichtet, muss so schnell wie möglich
Auch Burak Yilmaz, 33, ist Pädagoge. Er gestoppt werden.« Wenige Tage zuvor war
arbeitet seit Jahren mit Jugendlichen in Duis- er mit einem Schwert in der Hand zur Predigt
burg und Umgebung in Workshops zu The- in der Hagia Sophia erschienen. Jetzt
men wie Antisemitismus, Männlichkeit und Es überrascht deshalb kaum, dass die Di-
Ehre. Bei jenen, die auf der Straße ausfällig tib-Gemeinde aus dem baden-württember- neu im
würden, spiele häufig auch Islamismus eine gischen Aalen in einem Facebook-Post
Rolle, sagt er. »Da geht es um den Gedanken schreibt: »Befreie Jerusalem von der Belage- Handel
einer muslimischen Weltgemeinschaft: Brü- rung der Tyrannen, mein Allah!« Besonders
der und Schwestern werden beschossen, und in Rage postete sich die Ditib im oberschwä-
wir müssen zusammenhalten.« Zudem kur- bischen Biberach: Die Ummah, also die Ge-
sierten Verschwörungserzählungen im Netz. meinschaft, von »Kommandant Muham- Kooperation
»Gerade fundamentale Prediger haben in den med« werde sich niemals unterwerfen. Oder: Wie Rivalen zu Partnern werden –
sozialen Medien viele Follower und rufen »Allah möge Unheil über die Ungläubigen
dort zu Hass auf. Es gibt Imame, deren In- bringen!« Im bayerischen Unterschleißheim und dabei alle gewinnen
halte tausendfach geteilt werden.« In man- veröffentlichte die Ditib auf Facebook Bilder
chen türkischen Serien sei immer der Jude vom Felsendom und der Aksa-Moschee, die
der Feind. »Das sind Dinge, die prägen.« Kinder gemalt haben, daneben jeweils die
türkische und die palästinensische Flagge. Weitere Themen:
Viele Männer mit türkischen Wurzeln sind Ein Junge hat auf sein Werk in krakeliger
Fußballfans, verfolgen gespannt die Spiele in Schrift das Wort »Freiheit« auf Türkisch ge- Exklusive Studie
der Süper Lig. Vor ein paar Tagen wärmte schrieben.
sich das Team von Fenerbahçe in T-Shirts mit Selbst wenn sich die Lage im Nahen Osten Wie deutsche Manager
dem Schriftzug »Özgür Filistin« auf, das heißt beruhigt, kann Deutschland das Problem digital verhandeln
»Freies Palästina«. Unter ihnen Mesut Özil, nicht länger ausblenden. Die judenfeindli-
ehemaliger deutscher Nationalspieler, gebo- chen Parolen mögen vielleicht von den Stra-
ren in Gelsenkirchen, Erdoğan-Anhänger. Un- ßen verschwinden – in den Köpfen bleiben Karriere
ter jungen Migranten in Deutschland hat er sie. Wie soll es jetzt weitergehen?
viele Fans. Mit ihm identifizieren sie sich – Der jüdische Lehrer und Buchautor Levi Die feine Kunst
und nicht mit Armin Laschet (CDU) oder Ufferfilge fordert eine bessere Aufklärung des Prahlens
Annalena Baerbock (Grüne). und Angebote auch in Migrantenmilieus. »Da
Dass ein Fußballstar den deutschen Politi- sind Leute, die in schlechten Vierteln wohnen,
kern die Show stehlen kann, verwundert die nicht am großen Tisch unserer Gesell-
nicht. Bitterer ist, dass es auch ein ausländi- schaft sitzen, nur in ihrem arabischen oder Teamführung
scher Autokrat wie Recep Tayyip Erdoğan türkischen Kontext leben, nur diese Medien Was tun, wenn
tut, der gerade erst die österreichische Regie- wahrnehmen und sehr leicht für Antisemitis- Mitarbeiter weinen?
rung »verflucht« hat, weil sie israelische Flag- mus empfänglich werden.« Es gebe aber auch
gen als Zeichen der Solidarität auf Regie- viele junge Menschen, die sensibler gegen-
rungsgebäuden hisste. »Sie sind Mörder, sie über Antisemitismus seien, das mache ihm
töten Kinder, die fünf oder sechs Jahre alt Hoffnung.
sind. Sie sind erst zufrieden, wenn sie ihr Blut Auch Experten, die vor Ort mit Jugendli- manager-
aussaugen«, hetzte Erdoğan gegen Israel. chen arbeiten, resignieren nicht. Derviş Hı- Nachrichten
Der blanke Judenhass in der türkischen zarcı von der Berliner Kiga sagt: »Mit der Jetzt App
Regierung ist für Deutschland ein gewaltiges richtigen Ansprache lässt sich ihr Antisemi- downloaden
© Cineflix
und Schüler gewesen. Aber diese Arbeit ist
mühsam und hört nie auf. Und sie setzt vo-
Gelände einer Kupfermine in Kasachstan
raus, den Antisemitismus unter Muslimen
klar zu benennen und ihn trotzdem nicht für
SPIEGEL GESCHICHTE SPIEGEL TV WISSEN unausweichlich zu halten – und die Jugendli-
SONNTAG, 23. 5., 17.45 – 18.30 UHR, SKY DIENSTAG, 25. 5., 21.45 – 22.40 UHR, SKY chen nicht von Anfang an in eine bestimmte
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern Ecke zu drängen.
Englands Goldenes Zeitalter Felix Klein, der Antisemitismusbeauftrag-
in Farbe High-Tech-Mega-Minen te der Bundesregierung, warnt davor, »jetzt
Großbritannien unter Edward VII. ist ge- Ob Laptops, Handys oder E-Autos – auf die Muslime zu zeigen, um vom Anti-
prägt von Frieden und Wohlstand. Die ohne Kupfer kommen sie nicht aus. Das semitismus der Mehrheitsgesellschaft abzu-
Industrialisierung hat die Lebensweisen Buntmetall wird in gigantischen Berg- lenken«. Es gehe auch nicht um »importier-
der Menschen verändert. Reformen ver- werken abgebaut. Zwei der weltweit ten Antisemitismus«. Die, die da jetzt gegen
schaffen den Arbeitern Rechte und Frei- größten Kupferminen liegen in Kasach- Juden hetzten, seien vielfach deutsche Staats-
zeit und verschieben die Rolle der Frau – stan. Tausende Bergleute und Ingenieure bürger. Klein hat aber selbst feststellen müs-
bis der Erste Weltkrieg alles verändert. arbeiten hier. sen, wie schwer es ist, den richtigen Ton in
Seltenes Filmmaterial, erstmals restau- der Debatte zu treffen. Als er in einem Inter-
riert und koloriert, gibt einen intimen view forderte, »Jugendlichen mit Migrations-
Einblick in das Leben der Edwardianer. SPIEGEL TV REPORTAGE hintergrund« müsse klargemacht werden,
DIENSTAG, 25. 5., 23.10 – 0.10 UHR, SAT.1 dass Antisemitismus in Deutschland nicht ak-
zeptiert werde, warf ihm der jüdische Pianist
DIENSTAG, 25. 5., 20.15 – 22.15 UHR, SAT.1 Feuerwache Berlin-Neukölln – Igor Levit vor, er stelle Jugendliche mit
Die Hauptstadtretter, Folge 1 Migrationshintergrund »unter Generalver-
112 Notruf Deutschland – Feuerwehrmann im Problembezirk dacht«. Das habe er nicht beabsichtigt, sagt
HeldInnen im Einsatz Berlin-Neukölln – das ist kein Job für Klein auf Nachfrage, es müsse »jede Form
Die Notfallsanitäter Christoph Grüne und schwache Nerven. Die Einsätze sind ge- von Antisemitismus benannt werden: Juden-
Markus Seiler retten eine verunglückte nauso vielfältig wie Berlins heißester hass kommt von links, von rechts, von Mus-
Rollerfahrerin, einen abgestürzten Roll- Kiez. Nur eines ist immer gleich: Lang- limen und geht auch von der Mitte der Ge-
treppenbenutzer und andere Frankfurter weilig wird es nie. Beate Schwarz hat die sellschaft aus«.
und Frankfurterinnen, die aus dem Tritt Feuerwehrleute Tag und Nacht begleitet. Bundeskanzlerin Merkel soll Teilnehmern
gekommen sind. In der Uniklinik Essen Start einer dreiteiligen Serie über die All- zufolge in einer Sitzung der CDU/CSU-Bun-
kommt es zu dramatischen Fällen im tagshelden von Neukölln. destagsfraktion angekündigt haben, man wer-
Schockraum. Die Oberärztinnen Yvonne de keinerlei Toleranz zeigen, wenn jemand
Böger und Pouneh Engelmeyer haben israelische Fahnen verbrenne und Synagogen
alle Hände voll zu tun. angreife. Das klingt entschlossen, aber welche
Konsequenzen sollen daraus erwachsen?
Der bayerische Innenminister Joachim
Herrmann (CSU) schlug vor, man müsse prü-
fen, ob jemand, »der so intolerant ist«, des
Landes verwiesen werden könne. Das klingt
noch entschlossener. Doch eines weiß auch
Herrmann: Deutsche Staatsbürger kann man
nicht abschieben – und auch nicht das Anti-
semitismusproblem.
SPIEGEL TV
SPIEGEL TV
dpa
hausen hatten darin 55 Pistolen und Ware sich in den Plastiktonnen be-
Revolver, 9 halbautomatische Geweh- Beschlagnahmtes sich spanischen Ermittlern zufolge in fand, sagte Patrick Gerberding, Vor-
re, eine Granate, explosionsfähiges Arsenal in Spanien: Andalusien eine Werkstatt ein, in der sitzender der 18. Strafkammer. Die
Schnellfeuergewehre,
Material, Teile einer Maschinenpis- Maschinenpistolen, er funktionsunfähige Schnellfeuer- Laube in Barsinghausen sei ein Lager
tole, einen Schalldämpfer und mehr fast 10 000 Schuss gewehre aus Ex-Jugoslawien wieder gewesen, so Gerberding.
als 1500 Schuss Munition versteckt. Munition schussbereit gemacht und sie auf dem Warum aber hatte das Paar das
Alles fein säuberlich in Plastikfolien Schwarzmarkt zum Verkauf angebo- Versteck nicht längst aufgelöst, die
verpackt. Mit dem Verkauf der Waf- ten habe. Ein lukratives Geschäft für Waffen verkauft, vergraben oder ent-
fen wollte das Ehepaar offenbar seine zweifelhafte Kundschaft. sorgt?
Rente aufbessern. Warum aber behielten die Aus- Eveline W. schwieg im Prozess. Sa-
Denn nachdem Eveline W. einen wanderer das Versteck in Barsinghau- scha Gramm, ihr Verteidiger, plä-
Schlaganfall erlitten hatte, war sie mit sen? Warum horteten sie dort illegale dierte auf Freispruch. Seine Mandan-
ihrem Mann vor acht Jahren nach An- Waffen in zwei einbetonierten Regen- tin habe von dem Inhalt der Fässer
dalusien ausgewandert, an die Costa tonnen? Das sollte sich als verhäng- keine Ahnung gehabt. Die Staatsan-
del Sol, eine der sonnigsten Regionen nisvoller Fehler erweisen. waltschaft forderte eine Freiheitsstra-
Spaniens. Dort verwirklichten die Ermittler kamen Winfried W. auf fe von dreieinhalb Jahren wegen ille-
Eheleute ihren Traum eines leichte- die Spur, als er im Internet erlaubnis- galen Waffenhandels.
ren Lebens, als sie es lange Zeit in pflichtige Sprengkapseln kaufen woll- Dass die Rentnerin mit Waffen ge-
Deutschland geführt hatten; er als ge- te. Fahnder durchsuchten daraufhin handelt habe, sah die Kammer je-
lernter Maschinenbautechniker, sie drei Tage lang das Grundstück des doch als nicht erwiesen an. Ihre Vor-
als Friseurmeisterin. Paares und stießen auf die Plastikfäs- geschichte allerdings spreche gegen
Schon Ende der Neunzigerjahre ser. Von da an wurden die Eheleute eine Bewährungsstrafe, so Richter
hatte die Polizei in Erddepots in Bar- W. mit Haftbefehl gesucht. Gerberding. Eine »positive Sozial-
singhausen und in Eveline W.s Fri- Als Eveline W. im September ver- prognose« sehe das Gericht nicht.
seursalon Waffen gefunden, die das gangenen Jahres am Hamburger Flug- Vielmehr sei zu befürchten, dass Eve-
Paar nicht besitzen durfte. 2004 wur- hafen landete, nahmen Beamte sie line W. mit ihrem Mann »so weiter-
de es wegen illegalen Waffenbesitzes fest. Spanische und deutsche Ermitt- machen« würde wie bisher. Ihr An-
Manuel Behrens / HAZ
und Waffenverkaufs verurteilt. Win- ler durchsuchten ihr Haus in Andalu- walt will nun prüfen, ob Eveline W.
fried W. kam für dreieinhalb Jahre in sien und beschlagnahmten weitere Revision einlegt.
Haft, seine Frau erhielt wegen Beihil- 121 Pistolen, 22 Schnellfeuergewehre, Auf ihrem Handy hatte die Rent-
fe eine Bewährungsstrafe. 8 Maschinenpistolen, fast 10 000 nerin auch einen Leitfaden des Bun-
In Freiheit muss die Sehnsucht Schuss Munition, eine Granate mit deskriminalamts gespeichert. Thema:
Angeklagte W.:
nach einem Lebensabend am Meer Hakenkreuzbild
anderthalb Kilo Sprengstoff, 8 Schall- wie sich legale von illegalen Waffen
und einer profitablen Einnahmequel- und Hitler-Smiley dämpfer und 273 Magazine. Seither unterscheiden lassen.
le gereift sein. Winfried W. richtete auf dem Handy sitzt auch Winfried W. im Gefängnis. Julia Jüttner ■
Republik 21 (3) Klimawandel, Pandemiefolgen, ge- Serie aus, wie das Deutschland der Zukunft aussehen
sellschaftliche Spaltung – die Bundestagswahl im könnte. Die Leitfragen lauten: Wie wollen wir miteinander
September wird so entscheidend sein wie kaum eine reden? Sind wir noch zu retten? Wie wird Deutschland
zuvor. Der SPIEGEL lotet deshalb in einer vierteiligen gerechter? Und wie viel Staat brauchen wir?
Aber die Menschen haben meist ein un- blem endlich in den Koalitionsvertrag auf- schädigung »verhindert die soziale Wieder-
trügliches Gespür dafür, was gerecht ist. Gibt genommen. Im Gespräch war früher ein »Ge- vereinigung Deutschlands«. Der Kampf wird
es Zweifel an einer gerechten Behandlung, rechtigkeitsfonds«. auch nach mehr als 30 Jahren weitergehen.
dann kann dies rasch zum Gefühl von Ent- Das Wort war Polster wichtig. Kurz vor Immer weiter.
wertung führen. Mögliche Folgen davon be- Ende der Legislaturperiode in Berlin wurde Die wahlkämpfende Linke in Sachsen-An-
schreibt die 30-Jahre-Einheit-Kommission nun der Entwurf eines »Härtefallfonds« vor- halt hat das Problem der mangelnden Wert-
der Regierung so: Es könnten sich »Verbitte- gelegt. Die Gerechtigkeit fiel mal wieder un- schätzung ostdeutscher Biografien treffsicher
rung, Wut und Trotz Bahn brechen«. ter den Tisch. erkannt. Denn nicht nur soziale Ungerechtig-
Es gibt eine Gruppe von Menschen, die Es ist ein kleiner Wurf. Es geht um 250 Mil- keiten wie Rentenrecht und Lohngefälle
sich buchstäblich seit 30 Jahren mit dem Ge- lionen bis 300 Millionen Euro. Leistungssport- beschweren die ostdeutsche Seele, auch die
fühl der Entwertung herumschlägt. Der 70- ler, bildende Künstler und die sogenannte mangelnden Aufstiegschancen sorgen für Un-
jährige Dietmar Polster ist einer von ihnen. Technische Intelligenz sind draußen. Dafür mut. »Nehmt den Wessis das Kommando«
Polster ist Sprecher eines runden Tisches, der werden auch Spätaussiedler und Zuwanderer steht auf einem umstrittenen Plakat, das die
Rentenlücken für einstige DDR-Bürger schlie- aus der ehemaligen Sowjetunion bedacht. Es Partei gerade entworfen hat. Und sie meint
ßen will. Es geht um ehemalige Reichsbahner gibt so viele Hürden bei der Beantragung, dass es durchaus ernst.
wie ihn, um Bergleute, Leistungssportler, Polster von »einem Affront für die Betroffe- Mit einem Thesenpapier haben die Mag-
Künstler, Balletttänzerinnen, Krankenschwes- nen« spricht, von einem Minimalprogramm. deburger Fraktionsvorsitzende Eva von An-
tern und in der DDR geschiedene Frauen. So können nur jene Ostdeutschen auf Geld gern und Sachsen-Anhalts Parteichef Stefan
Nach eigenen Angaben vertritt die Gruppe hoffen, die mit einer Rente »in der Nähe der Gebhardt in der Debatte nachgelegt. Über-
500 000 Betroffene. Sie eint, dass sie zu Ho- Grundsicherung« auskommen müssen. Für schrift: »Der Wessi ist immer der Chef«. Be-
neckers Zeiten in Zusatzrenten eingezahlt ha- Polster ein Unding. »Wir wollen ja nicht mehr, klagt wird eine »organisierte Verantwortungs-
ben, die dann nicht in bundesdeutsches Recht als uns zusteht.« Konkret sei das eine durch- losigkeit« der Regierenden, »das Fortbeste-
übernommen wurden. Polster spricht von schnittliche Abfindung in Höhe von 20 000 hen ungleichwertiger Lebensverhältnisse ist
vier Milliarden Euro an Betriebsrenten, um Euro. Unabhängig von Bedürftigkeit. kein Betriebsunfall der Deutschen Einheit,
die er mit seinen Helfern kämpft. Die Koalitionsfraktionen wussten genau, sondern politisch gewollt«.
Es ist ein Kampf, in dem die Gegenseite was auf dem Spiel steht. Im Entwurf ist zu In die gesamtdeutsche Elite haben es die
seit Jahrzehnten auf Zeit spielt. »Die Hälfte lesen, die versäumte Übernahme von Teilen Ostdeutschen tatsächlich kaum geschafft. Die
der Betroffenen lebt inzwischen nicht mehr«, des DDR-Rentenrechts werde von den Be- Einheitskommission schätzt, dass drei bis
sagt Polster. Von 250 000 Reichsbahnern sei- troffenen »als nicht hinreichende Anerken- acht Prozent der Führungspositionen in
en noch 98 000 übrig. Letztendlich gehe es nung ihrer Lebensleistung und dauerhafte Be- Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft und
um die Anerkennung von Lebensleistung. Im- nachteiligung wahrgenommen«. In einer Stel- Wissenschaft mit Ostdeutschen besetzt sind –
mer wieder wird mit dem Bund verhandelt, lungnahme des runden Tisches heißt es nun, bei einem Bevölkerungsanteil von etwa
die aktuelle Bundesregierung hatte das Pro- die Verweigerung einer angemessenen Ent- 17 Prozent. Im Osten selbst ist es ein Viertel,
Fotos: Dominik Asbach / DER SPIEGEL Nr. 21 / 22. 5. 2021 DER SPIEGEL 47
DEUTSCHLAND
Einfach
für Bildungsgerechtigkeit ist dieses Bezahlan-
gebot nicht. »Aber wir nehmen in jedem Jahr-
gang ein Kind als ›Stipendiat‹ auf, also gratis.«
mehr wissen
Ein-Euro-Läden, Handyshops, dazwischen
immer wieder abgeklebte Schaufensterschei-
ben: Die Fußgängerzone in der Hertener In-
nenstadt wirkt trist, der Niedergang des Berg-
baus hat in der einst stolzen Zechenstadt Spu-
ren hinterlassen, viele Menschen haben nur
wenig. Corona sei da nur noch eine weitere
Herausforderung, sagt Stephanie Lehmann
in der Mittagspause.
Zusammen mit Susanne Schäfer zeigt sie
dem SPIEGEL bei einem Spaziergang das Um-
feld der Schule. Und erzählt. Von Wohnun-
gen mit Schimmel an den Wänden, die sie se-
hen. Von Vätern und manchmal Müttern, die
ihre Familie verlassen. Von Kindern, die vom
Ordnungsamt zum Unterricht vorgeführt wer-
den, weil die Eltern sie nicht zur Schule schi-
cken – und die dann sagen: »Frau Schäfer,
schickst du morgen wieder die Polizei? Damit
ich wieder in die Schule gehen darf?«
Mehr Unterstützung durch Stadt und an-
dere staatliche Stellen, sagen Lehmann und
Schäfer, würde da schon guttun. Wie die aus-
sehen könnte?
Zum Beispiel so, dass Anträge auf sonder-
pädagogische Hilfe für Kinder nicht voreilig
abgeschmettert würden – diesen Eindruck
hätten sie zumindest manchmal. Oder so,
dass farbige Tafelkreide nicht abgelehnt wür-
Jetzt
de, wenn die Schulleitung sie schriftlich be- am
antragen müsse, wie weitere Büroausgaben
vom Klebestreifen bis zum Tonpapier.
Kiosk
Schäfer und Lehmann ist dieser »Bürokra-
tiewahnsinn« oft zu nervig. Weil der Staat zu
wenig in die Förderung von Bildungsgerech-
tigkeit investiere, zahlen sie Kleber, Kreide,
aber auch fast all das, was die Schule optisch
zu einem »Wohlfühlort« macht, oft aus eige-
ner Tasche: Wandschmuck, Möbel und na-
türlich Kuscheltiere wie Addi oder das Troll-
haus. Sogar um das WLAN hätten sie sich
selbst gekümmert und bezahlten es privat,
sagen die Schulleiterinnen.
CORONA-E TIKE T TE vileg. Die Maske symbolisiert standen haben, dass Masken anderen wahrzunehmen und
Einschränkung. Manche Männer schützen. in das eigene Verhaltens-
»Warum tragen haben daher wohl das Gefühl, Hark: Da dominiert oft die repertoire einzubeziehen. Über-
Männer die Maske sie werden entmännlicht, wenn Selbstvorstellung, dass Männer spitzt gesagt: Es gehört nicht
sie eine Maske korrekt tragen. unverletzlich sind. Viele denken zum Konzept Männlichkeit, im
häufig unter der SPIEGEL: Studien, in verschie- nach wie vor: Mir kann nichts Sozialverhalten Rücksicht auf
Nase, Frau Hark?« denen Ländern durchgeführt, passieren, weil ich die Situation andere zu nehmen.
zeigen, dass Frauen sich häu- beherrschen kann. SPIEGEL: Was also tun?
SPIEGEL: Es fällt auf, dass Män- figer an die Vorschriften zur SPIEGEL: Und was ist mit Rück- Hark: Ich habe eine Weile OP-
ner nachlässiger sind, wenn Pandemiebekämpfung halten. sichtnahme? Masken dabeigehabt und an-
es darum geht, sich und andere Hark: Die befragten Männer Hark: Nicht nur an mich denken, geboten. Es fällt schwerer, das
gegen das Virus zu schützen. empfanden Masken als Zei- sondern auch an die Gefähr- abzulehnen, weil es ein Ge-
Warum ist das so? chen von Schwäche. Für man- dung der anderen, das scheint schenk ist. FIE
Hark: Es gehört zur Sozialisa- che sind Masken eine Form eine komplexe Anforderung
tion von Männlichkeit, dass von Angriff und eine Bedro- zu sein, die aus Sozialisations- Sabine Hark, 58, ist Soziologin
Männer sich ungehindert in der hung ihres Sozialstatus. gründen Frauen leichter fällt. mit dem Schwerpunkt
Öffentlichkeit bewegen können. SPIEGEL: Trotzdem sollte Frauen werden stärker dazu Geschlechterforschung an der
Das ist ein rein männliches Pri- doch inzwischen jeder ver- erzogen, die Bedürfnisse von TU Berlin.
Nummer drei, einer Minderheit, der den Hügel im Herbst wieder zu be-
es nicht ums schnelle Geld geht. gehen. Die Spitze des Schwertes fehlt
Struckmeyer fühlt sich zu Höherem noch. Struckmeyer will sie finden. Er
berufen, der Boden ist für ihn nicht ist erst 46 Jahre alt. Er hat noch Zeit.
einfach Boden, er ist ein Denkmal. Uwe Buse ■
VÖ L K E R,
HÖ RT
D I E
S I GNAL E
Michel Bulcourt,
Partei- und Gewerkschaftssekretär
TRADITION D e m o k r a t i e l e b t v o m W e c h s e l . W a s a b e r, w e n n d i e
Wähler gar keinen Wechsel wollen? Besuch in der französischen Gemeinde
Le Martinet, wo seit 100 Jahren die Kommunisten regieren –
w e i l d a s i m m e r s c h o n s o w a r. Von Alexander Smoltczyk und Maurice Weiss (Fotos)
ür gut 1420 Meter ändert die Departe- Ergebnis gewesen wären. In Le Martinet hat ihm die Reden, zitiert aus der Parteizeitung
F mentstraße 59 ihren Namen und heißt
»Rue de l’Humanité«, Menschheitsstra-
ße. Das mag etwas hoch gegriffen sein, selbst
die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) und ist zuständig für den korrekten Ablauf
das Rathaus nie verloren, seit es Wahlen gibt. der Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum.
Hat sie hier die Formel für ewigen Wahlerfolg Gemeindeverwaltung und Politik, sagt
wenn gerade die Bürgersteige erneuert wur- gefunden? Mercier, seien eins. »Man sagt, dass es in ei-
den. Aber ganz falsch ist es auch nicht, und Le Martinet ist ein Lehrstück, für Frank- nem Dorf keine Politik gebe. Wir denken das
irgendjemand muss die Fahne ja hochhalten. reich, für andere Länder, sogar für die kom- Gegenteil.« Er erzählt, wie der Gemeinderat
»Wir sind in Frankreich die Einzigen«, sagt mende Bundestagswahl. Demokratie ist Herr- auf Sondersitzungen immer zur Weltpolitik
Michel Mercier, der Bürgermeister von Le schaft auf Zeit. Sie lebt vom Wechsel. Davon, Stellung genommen hat. Für Nelson Mandela,
Martinet, einer 778-Einwohner-Gemeinde im dass es Alternativen gibt; davon, dass die den südafrikanischen Freiheitshelden; gegen
Süden Frankreichs. Das Rathaus ist die Num- Menschen Alternativen wollen. Was aber, den Schuman-Plan, der die Zusammenlegung
mer 737 in der Rue de l’Humanité, bei den wenn die Wähler und Wählerinnen möchten, der deutschen und der französischen Kohle-
letzten Wahlen zum Gemeinderat hat eine dass alles einfach immer so weitergeht? und Stahlproduktion vorsah. Und natürlich
Liste der Kommunisten hier 92,13 Prozent Als sich im Oktober 1921 der Parti Com- gegen die Verurteilung des Ehepaars Rosen-
der Stimmen bekommen. muniste Français für gegründet erklärte, hielt berg in den USA, dem Rüstungsspionage für
92,13 Prozent. in der gerade eben gebildeten Gemeinde die Sowjetunion vorgeworfen wurde. Das
»Wir sind die Letzten«, das sagt, in der Le Martinet der Rat seine erste Sitzung ab: war 1953. Im selben Jahr erging aus Le Mar-
Hausnummer 936, die pensionierte Kunstleh- 16 klassenbewusste Gewerkschaftler, Berg- tinet auch eine Grußbotschaft an »das Sow-
rerin Thérèse Roualet. Sie malt jetzt selbst. leute allesamt, die wussten, wo ihr politischer jetvolk«, zum Tode Stalins, in Schönschrift.
»Das ist doch hier eine Folkloreveranstal- Platz war. So kam es, dass Le Martinet die Thérèse Roualet, die pensionierte Lehrerin,
tung.« Es klingt, als bedauerte sie, dass aus- Geschichte betrat als die erste frei gewählte sitzt in dem Zimmer, wo sie vor 70 Jahren ge-
gerechnet in Le Martinet die Kommunisten kommunistische Gemeinde Frankreichs. Ein boren wurde, als Tochter des damaligen Dorf-
so stark geblieben sind. Bei den letzten Par- Dorf, in dem noch heute auch zu Weihnach- lehrers. Sie gehört zu denen, die nach einem
lamentswahlen kamen sie in ganz Frankreich ten keine Kirchenglocke läutet und wo im Leben im Norden zurückgekehrt sind. Die
auf gerade mal 2,7 Prozent. Rathaus kein Porträt des Staatspräsidenten Roualets haben sich das Familienhaus zu einer
Roualet zeichnet eine Landkarte vor sich zu finden ist. Kunstkammer ausgebaut, einer Schatulle, in
auf den Tisch, in die Krümel zwischen Wild- »Hat hier noch nie gehangen«, sagt Michel der jede Fliese, jeder Winkel eine Bedeutung
schweinwurst und Ziegenkäse: »Da ist der Mercier, der Bürgermeister. Er ist ein wenig hat. Es ist das schönste Haus im Dorf.
Pont du Gard. Hier am Käse beginnen die nervös, mit der Auslandspresse in seinem Sie erzählt, wie eine Kollegin, damals in
Cevennen. Und das ist die Chauvet-Grotte. Büro, erzählt von universellen Werten und Paris, bei der zufälligen Erwähnung von Le
Alles als Unesco-Kulturerbe geschützt.« dem Haushaltsposten III.B.1, »Ausbau des Martinet bleich geworden sei. »Als Schul-
Dann tippt sie in die Mitte des Dreiecks. Festsaals«. inspektorin hat man sie hier einmal einge-
»Und wir sind hier. Le Martinet. Die einzige Woran sich im Stadtbild erkennen lasse, mauert. Die Eltern wollten so die Schließung
Gemeinde mit makellosem Parteistamm- dass Le Martinet diese ruhmreiche Geschich- der Mittelstufe verhindern.« Ihre Kollegin sei
baum.« Kleine Pause. »Die Unesco sollte uns te hat? »Da stellen Sie mir aber eine Frage.« bis zuletzt überzeugt gewesen, dass auch die
vielleicht auch …« Mercier überlegt eine Weile. Natürlich gebe damalige Schulleiterin mitgemauert habe.
Frankreich 2021: Der eine redet vom Über- es keine Arbeiterfresken wie in Russland. Nur Das Collège mit den höheren Klassen gibt es
leben, die andere von Überlebtem. Beide mö- diesen Stern vielleicht, am Stadion. heute noch in Le Martinet.
gen einander nicht besonders. Aber beide le- Aber die Volkserziehung, der Zugang zur Als Bürgermeister Mercier von dieser Ge-
ben im selben Dorf, einer Form des Sozialen, Kultur – all das habe die Partei immer betrie- schichte hört, reagiert er wie ein stolzer Vater:
wo man voneinander mehr weiß, als manch- ben, weswegen es auch eine Bibliothek gebe »Sehen Sie? Und was meinen Sie, wie wir
mal gut ist, und auch weiß, wann es besser und viele Arbeiterkinder keine Arbeiter ge- unsere Postfiliale behalten haben? Wir haben
ist zu schweigen. worden seien – »ich zum Beispiel«. die Leiterin der Postfiliale einen Tag lang ein-
Ihr Dorf Le Martinet hat keine Dichterin Mercier ist Architekt. Seine Schwester gesperrt. Das ist Teil der lutte, des Kampfs.«
hervorgebracht, keinen Trash-TV-Star und Line, eine hagere Apothekerin, gilt als die Der Kommunismus kam mit der Kohle ins
als Fußballer nur Robert Siatka, genannt »das Chefideologin der Kommune, sie schreibt Dorf. Die lag so offen zutage, dass die Bauern
Pferd«, seines Laufstils wegen. Der stand mit sie im 19. Jahrhundert mit dem Spaten aus-
Reims 1956 im Finale der Landesmeister und gruben, um ihre Steuern damit zu bezahlen.
verlor. Die Gemeinde, eine von Frankreichs Denn Geld gab es wenig in den Cevennen,
34 965 Communes, liegt in einer Mulde des die meisten lebten nahezu autark. Um die
Cevennen-Gebirges, in Südfrankreich, weit Jahrhundertwende wurden überall Schächte
ab von Lavendel und Instagram-tauglichen Paris und Stollen in die Hügel getrieben und die
Stadtkernen. FRANKREICH Kastanienwälder für die Streben abgeholzt.
Der Ort wäre kaum jemandem der Rede Die Kohlefirmen warben Bergleute an aus
wert, wenn nicht im übrigen Departement Le Martinet dem Norden, aus Polen, Italien und aus den
die extreme Rechte von Marine Le Pen stark nordafrikanischen Kolonien.
an Zulauf gewinnen würde. Und wenn nicht Es gab nur zwei Orte, wo Herkunft nichts
92,13 Prozent in Le Martinet das erwartete Marseille S zählte. Zwei streng hierarchische Organisa-
tionen, die den Blick auf ein besseres Ein contrat social, der das Nachkriegs-
Morgen richteten: die Kirche und die frankreich zusammengehalten hat,
Kommunistische Partei. Als Le Mar- weil ihn Kommunisten und Gaullis-
tinet im September 1921 zum ersten ten gleichermaßen unterschreiben
Mal seinen Gemeinderat wählte, war konnten.
es nicht der Pfarrer, auf den man ge- Dann machte die Mine zu, Le Mar-
hört hatte. tinet verlor zwei Drittel seiner Ein-
Die Zeche hat die Gebäude geformt wohner, aber Bombarde hatte sein
wie ihre Bewohner. Ein Lokschuppen, Häuschen und seine Rente, und den
der Übungsraum der Bergwerkskapel- Parteiausweis behielt er auch – »ob-
le »Harmonie«, die Häuser der Inge- wohl jetzt schon lange keiner mehr
nieure und die der Kumpel, alles so ge- gekommen ist, um zu kassieren«.
mauert, dass es überdauern konnte. Aus dem Container hat er eine Tri-
Der Putz am Altenheim ist schwarz kolore geholt. Die sei, sagt er, noch
angelaufen, aber die Bänke stehen, von 1944, von der Befreiung. Es habe
unbeschmiert, in Sichtweite des Ska- zwei Widerstandsgruppen gegeben.
teparks. Alles ist ein wenig schäbig, In den Bergen oberhalb des Friedhofs
wie es eben wird, wenn das Budget kämpften die Gaullisten, gegenüber
überschaubar ist. Nicht immer schön, die Kommunisten. »Die Unsrigen
aber es versieht seinen Zweck. erschossen die Nazi-Kollaborateure
Einer der drei übrig gebliebenen gleich oder warfen sie in den Schacht.
Bergleute ist der 87-jährige François Die Gaullisten machten es genauso,
Czernecki, genannt Bombarde. Nach aber ließen vorher noch den Priester
der bretonischen Tröte, dabei stammt kommen.«
seine Familie aus Kattowitz. Mit 14 Später seien Deutsche zur Zwangs-
Jahren ist er zum ersten Mal einge- arbeit in der Mine gekommen, und
fahren. Sitzt jetzt unter einem Kasta- manche seien auch geblieben. Einer
nienbaum und erklärt einem Enkel hat den Sturm auf die Bastille gemalt,
die Grundlagen des Nutzgärtnerns: »In Le Martinet wird man drüben im Rathaus, und ein Fresko
»Ein Glas Diesel auf einen Liter Was- im Café, um dort seine Schulden zu
ser und dann rauf auf die Karotten. Kommunist durch Geburt.« bezahlen.
Das vertreibt die Schnecken.« Michel Mercier, Bürgermeister, All das erzählt Bombarde mit har-
Der Container neben ihm dient als Rue de l’Humanité Nr. 737 tem Südfrankreich-Akzent und ohne
Altentreff. Die Halbstarken, drüben Pausen zwischen den Sätzen, und ein-
auf den Treppenstufen, sagen: place mal seien sie für eine Woche nach
des râleurs, Platz der Meckerer. Deutschland gefahren mit der Kapel-
Froh, endlich einmal wieder da- le »Harmonie«, hätten Bier getrun-
nach gefragt zu werden, erzählt Bom- ken, und die jungen Deutschen moch-
barde, nebenbei nach Fotos kramend, ten die Franzosen nicht. »Das sind
von der Zeit, als Le Martinet noch die Erinnerungen«, sagt Bombarde,
nicht von vorgestern war: »Man das sei das Leben.
machte zwei Schichten, je vier Mann, »Die Neuen«, er zeigt auf die Grup-
die Compagnie zahlte uns nach Lo- pe Jungs am Ende der Straße, die auf
ren. Oder nach Metern.« den Autos ihrer Eltern hocken, die sei-
Sie hätten gemeinsam Lämmer ge- en anders. »Keine Ahnung, wovon die
grillt. Fast alle hatten die Karten der leben. Gehen ins Rathaus mit irgend-
linken Gewerkschaft CGT und der welchen Papieren. Dabei sind die be-
Partei. Entlang der Rue de l’Huma- stimmt nicht in der Partei. Und wir
nité standen einmal 20 Bars, ein öf- mit unserer Arbeit müssen immer für
fentliches Badehaus, zwei Tanzcafés, alles bezahlen. Jedes Medikament.«
ein Bordell (etwas abseits) und zwei Man merkt, wie groß die Angst vor
Filmtheater. Und eine Brauerei. In Veränderung ist. Die Sehnsucht nach
den Hinterstuben wurde Karten ge- dem Vertrauten. Und man spürt, dass
spielt, weil es zu Hause eng war und es jetzt nur noch ein kleiner Schritt
die Kinder quengelten. Es gab ein wäre ans andere Ende des Spektrums.
Volkshaus, in das aber nur die Män- Dass Le Martinet und Marine Le Pen
ner gingen. nicht nur einige Buchstaben gemein
Czernecki erzählt von dem großen haben.
Streik 1963 und davon, wie die So- Bürgermeister Michel Mercier hat-
zialisten mit ihrem Mitterrand dann te erzählt, wie sie während der
alles verraten hätten. 1985 wurde der Flüchtlingskrise eine Wohnung her-
letzte Schacht gesprengt. gerichtet hätten, für eine syrische Fa-
»Ich habe meine 30 Jahre gemacht. milie. Die ist dann aber nicht gekom-
Dafür bekam ich ein Haus und meine »Das ist hier eine men. »Man hätte bei der Unterprä-
Rente.« Das war der Vertrag mit der fektur nachhaken können. Aber das
Kohlegesellschaft und letztlich mit Folkloreveranstaltung.« ist nicht passiert. Wir haben auch un-
der Republik: Die Leute arbeiteten Bertrand und Thérèse Roualet, Lehrer im Ruhestand, sere Schwächen. Darf man sich nichts
und hatten dafür ein Auskommen. Rue de l’Humanité Nr. 936 vormachen.«
tert. Dreimal hat Jean-Louis Roques seinen fe. Kleiderständer stehen an der Straße, Alt- »Er wird es besser machen«, sagt Aurélie
Parteiausweis zerrissen und »denen« vor die möbel, Kartons mit Plastikspielzeug, alles an- Cusset. Und beiläufig, dass ihr leiblicher Sohn
Füße geworfen, den Weichgespülten, Oppor- gestoßen, unansehnlich, gebraucht, aber zu jetzt genauso alt sein müsste, wäre er nicht
tunisten, Pöstchengeilen. schade, um nutzlos herumzustehen. Wie sich beim Krabbeln aus dem Fenster gestürzt. Sie
Dreimal ist er wieder eingetreten. auch Aurélie Cusset gesagt hat, dass sie ge- wolle, sagt sie, aufrecht leben. Mehr nicht. Sie
Er war Busfahrer in der Pariser Banlieue, braucht wird. »Die Leute sind dankbar da- nennt es »Glücksbärchi-Welt«, aber das Haus
gründete eine autonome Gewerkschaft, weil für«, sagt Cusset. Sie ist 38 Jahre alt und Nummer 455 ist das, was einem Urkommu-
ihm die CGT zu weich war, und ging mit 50 schiebt in dem Einkaufswagen vor sich ein nismus in Le Martinet am nächsten kommt.
Jahren wutentbrannt in Rente. Baby – »meine Enkelin«. Vielleicht ist das die Lehre von Le Martinet:
Jetzt ist er wie ein alter Lachs in seinen Mithilfe von Rathaus und Jean-Louis Ro- Menschen brauchen Brauchtum, auch wenn
Geburtsort zurückgekommen. »Kommunist ques’ Dorfladen verteilt die Volkshilfe Le- es als Kommunismus daherkommt. Sie brau-
sein heißt, anderen etwas zu geben. Das ma- bensmittelpakete, organisiert Trödelsamm- chen Bäcker, Laden, Kneipe und Räume für
che ich. Ich habe diesen Laden vor acht Jah- lungen. »Keiner von uns wird bezahlt. Ich be- kuriose Selbstorganisation, von Country-
ren aufgemacht und das Restaurant. Jetzt ge- komme Arbeitslosengeld. Was ich tue, tue Dance bis Häkelkreis. Ohne das ist alles nichts.
schlossen wegen Covid, okay. Sind sowieso ich für andere. Damit wir keine Nummern Für den 46-jährigen Thierry Bouschet vom
beide nicht rentabel. Mir egal.« sind.« Von den Feierlichkeiten zu 100 Jahren geretteten Dorfpostamt ist Kommunismus
Da hilft es, eine Erbtante zu haben, die in Kommunismus im Dorf hat sie gehört, meint Heimat. Er sagt: »Ich bin Kommunist, weil
Paris, gleich gegenüber vom späteren Centre aber: »Kommunismus …? Alle Parteien wol- das hier mein Land ist. Die Wurzeln, die Bäu-
Pompidou, eine Schanklizenz erwischt hatte len nur Macht. Wissen Sie, wovon ich träume? me, die Erde. Europa sagt mir nichts.«
und nach kurzer Zeit sehr reich und sehr Von einer Welt ohne Grenzen, wo sich die Leu- Es ist etwas Anrührendes, weil Trauriges
reaktionär wurde. Ihr Neffe verwendet die te helfen, ohne Geld und Macht. So wie frü- an diesem Dorf. Denn irgendwann wird man
Erbschaft jetzt im Sinne des Volkes und ver- her im Fernsehen, die ›Bisounours‹.« »Glücks- sich auch in Le Martinet wundern, dass Jahr
schenkt Tantchens Flaschen an die Durstigen bärchis« hieß die Serie in Deutschland. für Jahr am 1. Mai eine rote Fahne die Rue
und Beladenen. Für sie ist dieses Dorf auch ein Abkling- de l’Humanité entlanggetragen wird. Irgend-
»Mein Vater«, sagt Roques, »ist für die Par- becken, nach dem Leben in den Vorstädten. wann wird es nicht mehr reichen, Funktio-
tei ins Gefängnis gegangen. Er war dusselig »Mein Adoptivsohn kam zu Besuch und ist näre einzusperren, um Post und Schule zu
genug, sich mit Flugblättern erwischen zu las- geblieben. In der Pariser Region war er bei behalten. Und dann droht etwas, was der
sen. Ich wollte in der Linie bleiben. Aber glau- den falschen Leuten.« Der Gemeinte steht Schriftsteller Michel Houellebecq für weite
ben Sie nicht, dass mich jemand im Rathaus breitbeinig neben ihr. »Zu viele schlechte Er- Teile der französischen Provinz beschrieben
grüßt. Obwohl ich Teil ihrer Liste bin.« innerungen«, meint er nur, zieht den Kopf hat: »Die einheimischen Bewohner der länd-
Trotz ist ein wichtiges Motiv, Tradition. tief zwischen die Schultern beim Anzünden lichen Gebiete waren fast alle verschwunden.
Und Treue: zu einer Überzeugung, zu einer der selbst gedrehten Zigarette. Dann schultert Neuankömmlinge aus der Stadt mit ausge-
Utopie. Seit 100 Jahren ist dieses Cevennen- er einen Nähmaschinenschrank und trägt ihn prägtem Unternehmungsgeist und bisweilen
dorf ein Praxistest für den kommunistischen jemandem nach Hause. auch gemäßigten ökologischen Überzeugun-
Traum. Bis heute hält es die Erinnerung daran gen, die sich mitunter vermarkten ließen, hat-
wach, was die Menschen in Europa einmal ten sie abgelöst.«
unter Gerechtigkeit verstanden haben. Es ist Bertrand, der Mann von Thérèse
Das gilt selbst dann, wenn in der Umset- Roualet, der Künstlerin, dem schließlich ein
zung aus Internationalismus, Gerechtigkeit, Bild einfällt für dieses Dorf: »Der Kommu-
Gleichheit am Ende ein Häuschen mit Garten nismus in Le Martinet ist wie ein altes Schiff,
geworden ist, erschwinglich für jeden Kumpel, das von allein weitertreibt«, sagt er. »Eines
und auch für den mit einem polnischen Nach- Tages wird es stehen bleiben. Aber dann wird
namen. es nichts anderes mehr geben.« Es ist wie in
Zugleich hat auch in Le Martinet der Kom- den »Bugs Bunny«-Filmen: Jemand rast über
munismus seine eigene Grundlage zerstört. eine Klippe ins Leere, rennt und rennt – und
Denn die Kinder der Arbeiter wurden keine stürzt erst in dem Moment, als er unter sich
Arbeiter, sie studierten Architektur wie Mi- schaut, in den Abgrund.
chel Mercier, der Bürgermeister, und tragen Für die 100-Jahr-Feierlichkeiten im August
die Proletarierfahne nur noch aus Respekt hat das Komitee im Rathaus Vorbereitungen
durchs Dorf. Aus einer Sozialutopie ist getroffen, unter der Leitung von Line Mercier,
Brauchtum geworden. der Schwester des Bürgermeisters. Es wird
Hier wählt man die Liste der Kommunisten alte Filme geben und ein Feuerwerk. Eine
nicht, um etwas zu verändern, sondern damit Parade von Ford Mustangs und Motorrädern
alles so bleibt, wie es ist. Selbst die Jugend- und eine Vorstellung der Country-Tanzgruppe.
lichen am Bouleplatz antworten, gefragt, wes- »Persönlichkeiten aus dem politischen Le-
halb sie geblieben seien, seniorenhaft mit: ben« werden erwartet, womit der Parteichef
»Wegen der Ruhe«. Fabien Roussel gemeint ist. Am Sonntag das
Wie auch immer, ob durch Erbtanten oder Defilee mit der alten Fahne und der Interna-
Einsperrung von Führungskräften – ausge- tionale. Der Weg am Sportplatz wird umge-
rechnet diese rote Kommune hat es geschafft, tauft zu Ehren von Robert Siatka, den sie
das alte Frankreich, la douce France, etwas »das Pferd« nannten, es wird Graffiti geben
länger am Leben zu erhalten und ein funk-
»Ich habe meine und die Einweihung eines Kunstwerks, das
tionierendes Dorf zu bleiben. Mit Boulange- 30 Jahre gemacht. sich der ersten Gemeinderatssitzung von 1921
rie, Café, Post, Festsaal und Schule. Notfalls Keine Ahnung, wovon annimmt. Vielleicht auch ein Dîner des Cito-
auch ohne Priester. yens, ein Bürgermahl für alle. Aber alles ent-
An Werktagen ist der belebteste Ort an die Neuen leben.« lang dieser ziemlich genau 1420 Meter
der Rue de l’Humanité die Hausnummer 455, François Czernecki, Humanité, was Menschheit bedeutet, und
Quartier des Secours Populaire, der Volkshil- Bergarbeiter und Kommunist auch Menschlichkeit. ■
126.000 Euro – das ist die Summe, die wir laut Studie „Konsumausgaben von
Familien für Kinder“ des Statistischen Bundesamts 2018 bis zum 18. Lebensjahr
für unsere Kinder ausgeben. Und dann? Dann braucht Ihr Nachwuchs noch
Geld, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Für den Führerschein, die erste
Wohnung, das Studium. Aber wie gelingt diese finanzielle Fürsorge?
Risikohinweise: Die Vermögensanlage in Kapitalmärkte ist mit Risiken verbunden. Der Wert Ihrer Vermögensanlage kann fallen oder steigen. Es kann zum Verlust
des eingesetzten Vermögens kommen. Bitte beachten Sie hierzu die Risikohinweise auf unserer Website unter www.fidelity.de/risikohinweise. Herausgeber:
FIL Fondsbank GmbH, Kastanienhöhe 1, 61476 Kronberg im Taunus, Telefon: 06173 509-1923. Stand: April 2021. MK12267
WIRTSCHAFT
350 Insider im Anfrage der FDP-Fraktion im wissen. Im nächsten Schritt sol- Skandalkonzerns Wirecard
Bundestag hervor. Das Ministe- len auch Beschäftigte, die nur gehandelt hatten. Nun müssen
Finanzministerium rium gibt vor, dass Beschäftigte punktuell sensible Informatio- auch Ministeriumsmitarbeiter
AKTIENGESCHÄFTE Das Bun- »mit besonderer Vertrauens- nen erhalten, neuen Regeln Börsengeschäfte melden. Da dies
desfinanzministerium (BMF) stellung und Zugang zu besonde- unterworfen werden. Das BMF nicht rückwirkend gilt, ist unbe-
will künftig seine Mitarbeiterin- ren Informationen« nicht privat hat ein neues Compliance- kannt, ob und welche Finanz-
nen und Mitarbeiter genauer mit Aktien und Derivaten System eingeführt, nachdem geschäfte im BMF getätigt wur-
kontrollieren, wenn sie Börsen- bestimmter Firmen handeln dür- bekannt geworden war, dass den. In allen anderen Minis-
geschäfte machen. Das geht fen. Zunächst gilt die Regel für Beschäftigte der Finanzaufsicht terien fehlen bislang jegliche
aus der Antwort auf eine Kleine gut 350 Mitarbeiter mit Insider- Bafin mit Wertpapieren des Regeln zu Insidergeschäften. MHS
waren 45 weiß, männlich und Kundenbindungsprogramm reif war. Gläubiger haben beim
über 50 Jahre alt. Meinetwegen Miles & More neu erfinden – Insolvenzverwalter mehr als
musste es erstmals auf Englisch indem sie nicht nur fürs Fliegen 40 000 Forderungen angemel-
abgehalten werden. Manche Prämienpunkte gutschreibt, son- det, die Jaffé teils bestreitet. Die
taten sich schwer damit, andere dern auch für andere Formen Klärung der Ansprüche werde
lästerten über mich. Gillani des Konsums. DID, MUM Jahre dauern. BAZ, DAB, MHS
Klimakiller
Gesamt-CO2-Emissionen von Ölkonzernen
2019, in Mio. Tonnen CO2-Äquivalente
ExxonMobil 730
Shell 694
Total 416
Chevron 413
BP 357
ENI 255
S Quelle: Bloomberg
ar-Lon Chang erinnert sich Konzern, man habe bei Bohrungen mente auf seiner Seite, sondern auch
D genau an den Moment, in dem
er beschloss, sein altes Leben
aufzugeben. Er kündigte seinen Inge-
vor Guyana ein neues Ölfeld entdeckt
– mit Potenzial für bis zu zehn Bohr-
plattformen.
Erodierendes
Geschäft
prominente Unterstützer, darunter
große amerikanische Pensionskassen
und Vermögensverwalter.
nieursjob, verkaufte das Haus in Su- Aber braucht die Welt wirklich Marktkapitalisierung Ein Interview lehnt Engine No.1
gar Land vor den Toren von Houston, immer mehr Öl? Experten der Inter- von ExxonMobil, ab. Der Fonds verweist auf seine we-
in Mrd. Dollar*
Texas, und ließ alles hinter sich. Gut nationalen Energieagentur (IEA) for- nig schmeichelhafte Analyse: Exxon
zwei Jahre ist das her. dern inzwischen einen sofortigen 512 habe »dramatisch schlechter abge-
Seine Tochter war an jenem Tag Ausbaustopp der Förderung, um den schnitten« als andere Rivalen. Die Te-
völlig aufgelöst aus der Schule gekom- Klimawandel wenigstens abzubrem- 19. Mai xaner hätten versäumt, ihre langfris-
250
men. »Sie sagte, dass ihre Lehrerin sen. Die Produkte, die Exxon aus den 400 tige Strategie anzupassen. Auf der
ihr etwas über den Klimawandel bei- Tiefen der Erde holt, leisten zur Erd- Suche nach kurzfristigem Wachstum
bringen wollte«, erinnert sich Chang. erwärmung einen größeren Beitrag habe Exxon »eine Dekade der Wert-
»Aber die Schule hat es verboten.« als manche Staaten. Wenn man die vernichtung« hinter sich – und dabei
Das ist üblich in Texas. Wie das Ver- Verbrennung der verkauften Ware einen Schuldenberg angehäuft.
200
feuern des Öls, das sie dort seit 1901 einrechnet, ging im Jahr 2019 das Exxon weist das zurück: Man
aus dem Boden holen, die Atmosphä- Äquivalent von 730 Millionen CO2 habe in den vergangenen Jahren an
re des Planeten aufheizt, wird in den auf das Konto des Konzerns. Das ist die Aktionäre sogar mehr Geld aus-
Lehrplänen bis heute nur am Rande fast so viel, wie ganz Deutschland in geschüttet als die Konkurrenz. Man
behandelt. Zu mächtig ist die Erzäh- einem Jahr verursacht hat. 0 habe den Abwärtszyklus am Ölmarkt
lung vom schwarzen Gold, das Wohl- Exxon sei »eines der am wenigs- 2007 2021 ausgenutzt, um neue Projekte aus-
stand schafft. ten gut vorbereiteten Unternehmen« Verschuldung, zubauen – »für das langfristige Wohl
Auch Chang lebte vom Öl. Der für das Geschäft mit erneuerbaren in Mrd. Dollar unserer Aktionäre«. Zudem seien
Ingenieur hatte fast seine gesamte Energien, urteilt die Denkfabrik 68 sich Experten einig, dass Öl und Gas
Karriere beim Energiekonzern Exxon- Carbon Tracker. Peter Krull, Chef der auch in den kommenden Jahrzehnten
Mobil verbracht. Er arbeitete dort an auf Nachhaltigkeitsthemen speziali- eine essenzielle Rolle beim Energie-
einem System, das er ein »GPS für sierten Investmentberatung Earth mix spielten.
Bohrer« nennt. Die Technik hätte Equity Advisors, wird gegenüber der 10 Die Argumente sind ausgetauscht,
man ebenso für erneuerbare Ener- »New York Times« noch deutlicher: nun folgt der Showdown. Auf der
2007 2020
gien einsetzen können, etwa für Geo- »Woods und Exxon Mobil leben wei- Hauptversammlung am kommenden
* jeweils 31. Dez.
thermieprojekte, sagt Chang. Doch ter in einer Märchenwelt des Nichts- S Quelle:
Mittwoch will Engine No.1 vier neue
sein Arbeitgeber habe kein Interesse tuns, während Kalifornien brennt Manager in den Verwaltungsrat von
Refinitiv Datastream
gezeigt. »Stattdessen wollte man und Texas friert.« Exxon wählen lassen. Gewinnen
die Öl- und Gasförderung ausbauen, Der Konzern weist die Kritik zu- James und seine Mitstreiter die Ab-
solange es noch geht.« rück: Wind und Solarkraft allein könn- stimmung, könnte es für Exxon-Chef
Das hatte für Chang keinen Reiz ten den Energiebedarf von Schlüssel- Woods eng werden.
mehr. Er wollte seiner Tochter bewei- sektoren niemals decken. »Es braucht Zugeständnisse hat er bereits ge-
sen, dass ein Leben ohne fossile Ener- neue Technologien, und das ist unser macht. Die Texaner haben den Ver-
gie möglich ist. Er gab seinen Job auf Schwerpunkt«, verteidigt sich Exxon. waltungsrat umgebaut und wollen bis
und zog mit Frau und Kind in eine Dabei setze man auf Carbon Capture 2025 drei Milliarden Dollar in die
klimaneutrale Siedlung nach Colora- and Storage, eine Technik, bei der Carbon-Capture-Technik investieren.
do. »Man muss selbst der Wandel Kohlenstoff mit technischen Mitteln Verglichen mit den Kosten für Er-
sein, den man in der Welt sehen will.« aufgefangen wird, bevor er in die schließung neuer Öl- und Gasfelder
Die Hoffnung, dass sich Exxon refor- Atmosphäre gelangt. Der Konzern be- sind das Peanuts. Zumal die Wirksam-
mieren kann, hat er fast aufgegeben. stätigt, dass Dar-Lon Chang bei Exxon keit der Technologie umstritten ist.
Noch vor acht Jahren war Exxon- gearbeitet hat, im Öl- und Gasbereich. Finanzmanagerin Aeisha Mastagni
Mobil das wertvollste Unternehmen An klimafreundlichen Technologien hat sich auf die Seite von Engine No.1
auf dem Globus. Seit die Welt den werde vor allem in anderen Abteilun- geschlagen. Mastagni arbeitet für den
Klimakillern Öl und Gas den Kampf gen geforscht. kalifornischen Lehrerpensionsfonds
angesagt hat, geht es indes bergab. Doch nicht nur Ingenieur Chang CalSTRS. Der Fonds verwaltet fast
Die Führungsriege leugnete den Kli- hat den Glauben an einen Sinneswan- 300 Milliarden Dollar, die den Lehre-
mawandel jahrelang und hält immer del bei Exxon verloren. Auch Aktio-
»Wir wollen rinnen und Lehrern des Bundesstaats
noch am alten Geschäftsmodell fest. näre fordern seit Jahren, dass der nicht in einen die Pensionen sichern – und das in
Bis 2040 werde Öl die größte Ener- Konzern die Abkehr von fossilen Schönheits- einer Gegend, die stark unter dem
giequelle des Planeten bleiben, so das Brennstoffen forcieren solle. Aus- Klimawandel leidet. »Die Welt ändert
erklärte Kalkül. Die Texaner haben gerechnet ein winziger Hedgefonds wettbewerb.« sich«, sagt Mastagni, »und Exxon
in den vergangenen Jahren Milliarden könnte nun schaffen, was bislang nie- muss sich mit ihr ändern.« Deshalb
Dollar in neue Förderprojekte inves- mandem gelungen ist: den Ölgigan- unterstütze ihr Fonds die Kandidaten
Justin Chin / Bloomberg / Getty Images
tiert – Exxon, das letzte Fossil. ten tatsächlich ernsthaft grüner zu von Engine No.1. Es gehe nicht da-
Während die europäischen Kon- machen. rum, aus Exxon eine Solar- und Wind-
kurrenten Shell und BP geloben, bis Die kleine Firma heißt Engine No.1 kraftfirma zu machen, sagt Mastagni.
2050 oder sogar früher klimaneutral und verspricht, den Konzern zu Aber der Konzern müsse alle Optio-
zu werden, hat sich der Konzern trotz »re-energetisieren«. Der aktivistische nen prüfen, und »er muss sein Geld
Drucks von Aktionären bis heute kein Fonds, der vom Technologieinvestor gezielter einsetzen«.
Null-Emissions-Ziel verordnet. »Wir Chris James gegründet wurde, hält an Exxons schlechte Zahlen verschaf-
wollen nicht in einen Schönheits- dem 250-Milliarden-Dollar-Konzern fen Engine No.1 Gehör: Im vergange-
bewerb« sagt Exxon-Chef Darren ein winziges Aktienpaket. Allerdings Darren Woods, nen Jahr machte Exxon ein Minus von
Woods. Gerade erst brüstete sich der hat James nicht nur gewichtige Argu- Exxon-Chef 22 Milliarden Dollar, weil der Ölpreis
Bruch: Neben dem schnellen Ausbau SPIEGEL: Sie fordern öffentlich-recht- Bruch: Ich sehe eine große Bereit-
der Regenerativen und von Speicher-
kapazitäten werden wir weiter Erd-
gas brauchen. Das gefällt nicht jedem,
7800 liche Gaskraftwerke?
Bruch: Das habe ich nicht gesagt.
Fakt ist: Wir lähmen uns mit der
schaft der Industrie, den Umbau vo-
ranzutreiben. Doch solange Verbrau-
cher weltweit nicht bereit sind, mehr
aber ohne wird es schlicht und ergrei- Arbeitsplätze ewigen Diskussion darüber, was sich Geld für den ökologisch hergestellten
fend nicht gehen. Nach wie vor steu- will Bruch rechnet und was nicht. Wir haben Kühlschrank oder das sauberere Auto
ert Kohle weltweit 35 bis 40 Prozent diese Zeit nicht. Wir müssen handeln zu bezahlen, braucht Deutschland als
zur Stromproduktion bei, würden
abbauen, und in Kauf nehmen, dass Gaskraft- Exportnation ein ökonomisch trag-
wir diesen Anteil stattdessen aus Gas obwohl die werke nur zehn Jahre laufen und fähiges Modell. Nur so werden wir
speisen, wäre dies ein sinnvoller Bei- Nachfrage Energie so teurer wird. Und wir müs- den ökologischen Ausbau schaffen.
trag zur Reduktion von CO2. sen neue Technologien fördern. Wir SPIEGEL: Wäre es nicht ökonomi-
SPIEGEL: Sie plädieren ernsthaft für nach grünen entwickeln gerade wasserstofffähige scher, man macht einen harten
die stärkere Nutzung eines fossilen Energiesyste- Gasturbinen, einige Modelle schaf- Schnitt und siedelt die energieinten-
Brennstoffs? fen heute schon respektable Werte. sive Industrie dort an, wo Energie bil-
Bruch: Ja, wenn wir dadurch CO2
men boomt. SPIEGEL: Die Industrie lamentiert lig und heute bereits grün ist?
sparen? Es macht mich wahnsinnig, Quelle: Siemens Energy seit Wochen darüber, dass sie sich die Bruch: Das passiert ja schon. In Sau-
wenn ich sehe, wie viel wertvolle Zeit Kosten für Energie und Klimaschutz di-Arabien oder den Emiraten findet
wir gerade verschenken. Es gibt kei- nicht mehr leisten kann. Jetzt kom- man wegen der niedrigen Energie-
nen Schalter, den wir umlegen und men Sie und sagen, eigentlich ist alles kosten Betriebe wie Aluminiumhütten.
der ab 2025 alles klimaneutral macht. noch viel zu billig. Wie passt das zu- Noch haben wir allerdings den Vor-
Alles, was sofort CO2 spart, ist gut. sammen? teil, dass unsere Industrie hier eine
SPIEGEL: Erwarten Sie Engpässe, Bruch: Was die Industrie beklagt, ist bessere Infrastruktur vorfindet.
wenn wir 2022 den letzten Atommei- die Tatsache, dass wir kein verläss- SPIEGEL: Erlebt Siemens Energy ge-
ler abschalten? liches Modell haben, in dem sich der rade die beste aller Welten? Sie ver-
Bruch: Ich befürchte keinen Blackout. Umbau rechnet. Jemand muss dem dienen an neuen Geschäften wie in-
Wir werden uns auf das europäische Hersteller den Mehrpreis für sein telligenten Stromnetzen und Wind-
Versorgungsnetz verlassen können. nachhaltig produziertes Produkt zah- energie und verfügen zugleich über
Unsere Nachbarn werden den hiesi- len. Die Unternehmen können nicht Standbeine in der fossilen Technolo-
gen Bedarf mit Exporten decken. höhere Kosten schultern, ohne höhe- gie, etwa dem Bau von Gasturbinen.
Aber das Netz wird an Belastungs- re Preise zu verlangen. Es braucht Bruch: Wir sind mit unserer Ausrich-
grenzen kommen. einen Ausgleichsmechanismus. tung auf mehr Nachhaltigkeit auf
SPIEGEL: Im Sinne der Energiewen- SPIEGEL: Geht es der Industrie nicht einem richtigen Weg. Aber auch wir
de wäre das nicht. Wir schalten unse- um viel mehr? Die Stahlbranche durchlaufen schmerzhafte Anpas-
re Atom- und Kohlemeiler ab und im- fordert neben einem dauerhaften sungsprozesse. In schrumpfenden Be-
portieren Atomstrom aus Frankreich RWE-Offshore- Ausgleich auch noch zweistellige reichen wie dem konventionellen
Windpark Arkona:
und Kohlestrom aus Polen. »Bei den Kapazitäts- Milliardenhilfen, um ihre Produktion Kraftwerksbereich müssen wir welt-
Bruch: Nein, das ist keine dauerhafte planungen bis 2025 auf Wasserstoff umzustellen. Soll der weit 7800 Arbeitsplätze abbauen.
Lösung. Das Beispiel zeigt, dass CO2- sieht es mau aus« Steuerzahler das alles finanzieren? Das ist nicht einfach.
Reduktion ein internationales Pro- SPIEGEL: Können boomende Ge-
blem ist. Weltweit wächst der Ener- schäftsbereiche wie die Windturbi-
giebedarf, vor allem in Entwicklungs- nen oder Netze den Wegfall von Jobs
ländern und in Asien. Dort geht es in der Kohle nicht ausgleichen?
heute noch in erster Linie um Verfüg- Bruch: Die Requalifizierung von Fach-
barkeit von Energie und erst dann um kräften gelingt nicht immer, wie man
die Emissionen. Wir müssen uns dort sich das im Idealfall vorstellt. Außer-
als Industrienationen einbringen und dem achten Länder, die erneuerbare
helfen, so wie es im Pariser Klima- Energien aufbauen, streng darauf, dass
abkommen vorgesehen ist. Ansonsten ein großer Teil der Produkte im eige-
steigen die CO2-Emissionen weiter. nen Land hergestellt wird. Wenn man
SPIEGEL: Sie schlagen Gas als Brücken- als deutsches Unternehmen in den
technologie vor. Wie lang soll diese USA keine Fertigung für Windanlagen
Brücke sein? Gaskraftwerke laufen in oder für Stromnetze hat, wird man bei
der Regel 40 Jahre oder noch länger. den Ausschreibungen nicht erfolgreich
Bruch: Wenn wir die Ziele ernst mei- sein. Viele unserer Fabriken für fossi-
nen, müssen wir bereit sein, nur für le Anlagen stehen aber hierzulande.
10 oder 15 Jahre auf diese Technolo- SPIEGEL: Deutschland geht beim
gie zu setzen und die Anlagen danach Wachstum leer aus?
abzuschreiben oder auf Wasserstoff Bruch: Nein, wenn alles so kommt,
umzurüsten. Wir müssen lernen, un- wie wir uns das wünschen, dann
konventionell zu denken. reden wir bei dem Klimaprojekt über
SPIEGEL: Für Siemens Energy wäre das größte Investitionsprogramm seit
das ein prima Geschäft. Bloß welcher der Industrialisierung. Das ist ein ra-
Energieversorger soll Geld für eine dikaler Umbau und auch eine gewal-
so aberwitzige Investition ausgeben? tige Chance für ein Land, das in den
Bruch: Das wird ein Wirtschaftsun- maßgeblichen Technologien so weit
Paul Langrock
eine gemeinsame Linie. Die Konzer- Lobbyistin Müller muss die zer-
ne tun sich schwer, einen gemeinsa- strittene Autoindustrie jetzt einen.
men Masterplan gegen Klimakrise Der VDA, so hätte sie das gern, soll
und neue Rivalen wie Tesla zu ent- die Debatte um die CO2-Zielerfüllung
wickeln, stattdessen streiten sie hef- prägen statt, wie früher, den Wandel
tig über Abgasgesetze und die rich- bloß zu blockieren. Man bekenne sich
tige Antriebsart. geschlossen zu den Pariser Klima-
Zulieferer wie Bosch oder Conti- zielen, sagt sie. Ihr Problem: Jedes
nental drängen darauf, nicht allein Mitgliedsunternehmen weiß besser,
auf Elektroautos zu setzen. Auch wie es da hinkommt.
alternative Antriebsarten wie Brenn- BMW-Chef Oliver Zipse etwa hat-
stoffzellen oder synthetische Kraft- te schon vor der Sitzung am Donners-
stoffe (E-Fuels) sollten eine Chance tag den Kontakt zu Grünenchefin
bekommen. »Wer die Klimaziele ver- Baerbock gesucht. Er soll ihr klar-
schärfen und schneller erreichen will, gemacht haben, dass er nichts von
darf nicht zugleich die Optionen ein- einem festen Enddatum für Benzin-
schränken«, heißt es bei Bosch. und Dieselmotoren halte. Denn auf
Ausgerechnet Europas größter Au- anderen Kontinenten wie Asien wür-
tohersteller Volkswagen lehnt eine den diese Motoren weiter benötigt.
solche Technologieoffenheit ab. Kon- Notfalls fertige er sie eben dort.
Peter Rigaud
zernboss Herbert Diess lieferte sich Der VDA entspringt einer konser-
Cheflobbyistin Müller Mitte der Woche in dieser Frage ein öf- vativen Gesinnung. Jahrelang verfolg-
fentliches Scharmützel mit dem Bun- te er das Ziel, dem Diesel in aller Welt
desverkehrsminister. »Das Wasser- zum Erfolg zu verhelfen. Die Kehrt-
stoff-Auto ist nachgewiesen NICHT wende zum klimafreundlichen Auto-
die Klimalösung«, twitterte Diess. klub setzt da eine kleine Gehirn-
aum ein deutscher Unternehmer ge- operierte Crossgate mit SAP, 2008 wurden Im Februar 2011, so steht es im Memoran-
K nießt so viel Ansehen wie Dietmar
Hopp. Der 13,2 Milliarden Euro schwe-
re SAP-Mitgründer kämpft mit seinem Geld
die Bande enger: Der Dax-Konzern beteiligte dum, informierte SAP-Chef Snabe einige Kol-
sich an Crossgate, erst mit 5,4 Prozent, später legen, darunter Brandt und seinen Co-CEO
erhöhte er auf 6,4 Prozent. Der damalige Bill McDermott, darüber, dass »die Hopp-Fa-
gegen Klimawandel, das Coronavirus, Kin- SAP-Chef Jim Hagemann Snabe saß zeitwei- milie« angefragt habe, ob der Konzern Cross-
derkrebs, hat seiner kurpfälzischen Heimat se sogar in Crossgates Aufsichtsrat. gate kaufen wolle. Die Kooperation mit SAP
einen Golfplatz sowie einen Fußballbundes- Doch die Geschäfte stockten, Minderheits- stocke, dem Unternehmen gehe das Geld aus,
ligisten spendiert und ist zigfacher Würden- aktionär SAP musste sogar Überbrückungs- so Snabe, der als Crossgate-Aufsichtsrat Ein-
träger; vom Business-Bambi bis zum Bundes- kredite geben. Crossgate, an dem die DAH blick in die Bücher hatte. In seiner Eigen-
verdienstkreuz ist alles dabei, was sich an von Hopp junior nun 35 Prozent hielt, geriet schaft als SAP-Chef fasste er die miserable
Wand oder Revers heften lässt. Mehr Vorbild in Liquiditätsnot. Statt Crossgate mit eigenem Zusammenarbeit so zusammen: »Die meis-
geht fast nicht. Geld zu sanieren, gelang es dem Sprössling, ten Vertriebsleute haben noch nie von Cross-
Sogar ein Asteroid ist nach ihm benannt: die Firma wie eine heiße Kartoffel weiter- gate gehört.«
Der »Dietmarhopp«, Mitglied der Ursula-Fa- zureichen: an SAP. 2011 kaufte der Konzern Im Vorstand gab es heftige Bedenken ge-
milie, trägt seinen Namen. Nur mit den Fans den siechen Partner, der im selben Jahr mehr gen eine Übernahme. McDermott zweifelte
des Traditionsvereins Borussia Dortmund hat Verlust als Umsatz erwirtschaftete, für einen an Crossgates Kundennutzen, ein anderer
der gute Mann aus Sinsheim regelmäßig Zo- dreistelligen Millionenbetrag. Vorstand wollte abwarten, ob die Koopera-
res. Sie verübeln ihm das Sponsoring des Wie und warum die Übernahme zustande tion vielleicht doch noch Früchte trage. James
Kunstgebildes TSG Hoffenheim; sobald die kam, geht aus vertraulichen Mails und Do- Mackey, der damals für die Übernahme zu-
Teams aufeinandertreffen, hagelt es Proteste. kumenten hervor, vor allem dem Memoran- ständige SAP-Manager, fasste Crossgates Zu-
Dafür kann sich Hopp auf die Bosse des FC dum »Acquisition Review«. Das 34-seitige stand bündig so zusammen: »Die haben ein
Bayern verlassen. Karl-Heinz Rummenigge, Papier wurde 2013 unter anderem für den da- schlechtes Geschäft und völlig unangemesse-
Klubchef des Klassenprimus und vorbestraf- maligen SAP-Finanzvorstand Werner Brandt ne Bilanzierungsmethoden, um zu verschlei-
ter Zollbetrüger, adelte ihn als »Ehrenmann«. erstellt, heute Aufsichtsrat bei RWE, ProSie- ern, dass sie tonnenweise Geld verlieren …«
Bei SAP kennen sie auch die andere Seite ben und Siemens. Es zeigt die bizarre Ret- Snabe machte trotzdem Tempo und stellte
des Dietmar Hopp. Die des Geschäftsmannes, tungsaktion eines Großkonzerns für einen klar, wessen Interessen Vorrang hatten. Hopp
der mit den anderen Gründern elf Prozent winzigen Wettbewerber, die für SAP wirt- wolle Crossgate schnellstmöglich loswerden,
der SAP-Aktien hält und die Interessen seiner schaftlich keinen praktischen Nutzen hatte eine Übernahme erst im zweiten Quartal sei
Familie offenbar mit Macht und auf Kosten und offenkundig nur dazu diente, den Be- zu spät und könne ihn auf die Palme treiben
anderer Aktionäre durchsetzt – auch weil er triebsfrieden mit seinem Gründer und Groß- – und das wäre, so Snabe, »not a good thing«.
auf willfährige Manager trifft. Diesen Schluss aktionär zu wahren. Als die Verhandlungen stockten, meldete
lassen Recherchen des SPIEGEL und des sich Dietmar Hopp persönlich bei Snabe, um
ARD-Magazins »Fakt« zur Übernahme des Dampf zu machen. Der CEO parierte und
IT-Unternehmens Crossgate durch SAP zu, trieb seine Vorstandskollegen an, die Dinge
von der vor allem Hopps Sohn Daniel pro- zu beschleunigen, um »eine sehr peinliche
fitiert hat. Situation gegenüber Herrn Hopp zu vermei-
Der Fall ist ein Lehrstück verfehlter Cor- den«, wie er in einer weiteren Mail mahnte.
porate Governance, jener Prinzipien guter Ein schneller Deal, so Snabe, sei auch im
Unternehmensführung, über deren Einhal- Interesse von SAP, so könne man einen ver-
tung eine Regierungskommission wacht. Und nünftigen Preis für Crossgate erzielen. Ob
er zeigt den enormen Einfluss von Vater und diese Logik tatsächlich zutraf?
Sohn Hopp bei SAP, obwohl sie keinerlei Was jedenfalls verblüfft, ist die Servilität
Funktion im Konzern haben: Dietmar Hopp des damaligen SAP-Chefs gegenüber den
trat 2005 als Aufsichtsrat zurück, sein Sohn Wünschen der Hopp-Familie: Chefs von Ak-
war dort nie direkt beschäftigt. Daniel sanier- tiengesellschaften haben allen Anteilseignern
te mit Starthilfe des Vaters den Eishockeyklub zu dienen, nicht ausgewählten.
Adler Mannheim und betätigt sich mit seiner Mackey, der skeptische Fusionsbeauf-
DAH Beteiligungs GmbH als Investor. tragte, warnte: Hasso Plattner, damals wie
Über diese DAH, an der Dietmar Hopp heute SAP-Aufsichtsratschef, müsse vom Vor-
nicht beteiligt ist, hatte sich Daniel 2006 bei stand rasch über die Lage informiert werden,
Crossgate mit 28 Prozent eingekauft, einem bevor ihm Hopp-Sprössling Daniel zuvor-
Markus Hintzen
Münchner Spezialisten, der Firmen, ihre Kun- komme und sich bei Plattner über schleppen-
den und Zulieferer digital vernetzte – ein Patriarch Hopp de Verhandlungen beschwere. Der junge
Facebook für die Wirtschaft. Von 2007 an ko- Hopp habe bereits klargemacht, dass die
Crossgate-Übernahme oberste Priorität bei schnell wie möglich vom Fleck kommen oder hier los? Wer hat die Akquisition initiiert?
SAP haben müsse. Eine äußerst selbstbe- … die Beziehung ist kaputt«, sorgte sich der Welche Konsequenzen gibt es? Hat der Ver-
wusste Ansage für jemanden, der überhaupt SAP-Chef in einer internen Mail. käufer das Unternehmen falsch dargestellt?
keine Funktion im Konzern bekleidete, aber Letztlich zahlte SAP 115 Millionen Euro Gab es keine ordentliche Prüfung? Gab es
offenbar nicht warten wollte, bis sich irgend- für die 93,6 Prozent, die dem Konzern nicht Insidergeschäfte? Wenn ich die Zusammen-
jemand aus dem Vorstand an Plattner wen- schon gehörten – weniger als von Hopp fassung richtig verstehe, müssen wir das Un-
det, wie es dem normalen Geschäftsgebaren erhofft, aber deutlich mehr als von EY ver- ternehmen schon nach einem Jahr komplett
entsprochen hätte. anschlagt und viel Cash für eine Firma, die abschreiben. Das muss ernsthafte Konsequen-
Daniel Hopps Drängelei hatte Erfolg. Mit- sich nach der Übernahme als das entpuppte, zen haben.«
te März 2011 schrieb ein SAP-Mitarbeiter an was Mackey und andere frühzeitig geahnt Konsequenzen hatte der Deal nur für
Mackey, der junge Hopp habe von Plattner hatten: ein Flop. Denn bereits 2012 kaufte Crossgate. Die Produkte der Firma wurden
grünes Licht bekommen. Mackey, eigentlich SAP Ariba, einen Anbieter ähnlicher Lösun- nicht mehr weiterentwickelt, Standorte ge-
zuständig für die Abwicklung des Deals, re- gen, Crossgate hatte keinen Wert mehr für schlossen. Die Crossgate-Aktionäre, vor al-
agierte perplex. »Interessant … Woher wissen den Konzern. lem Daniel Hopps DAH, waren da längst fein
wir, dass er grünes Licht bekommen hat?« Auch Plattner dünkte bald, was sich der raus, auch dank der Intervention von Diet-
Wie groß offenbar die Angst war, die Hopps Konzern da ans Bein gebunden hatte. Nach mar Hopp.
zu verprellen, verdeutlichen auch Debatten Durchsicht eines Reports (»Crossgate Trans- Und bei SAP sind sie weiter von dem Deal
im Vorstand über den Kaufpreis. Crossgate, action Audit«) ließ der wortgewaltige SAP- überzeugt. Der Konzern halte sich an die Re-
also letztlich Hopp, erwarte netto 140 bis Übervater Ende 2012 seinen Frust über den geln guter Unternehmensführung, heißt es;
160 Millionen Euro, heißt es im Memorandum. Deal freien Lauf, den auch er, offenbar en Voraussetzung für Zukäufe seien strategische
SAP kalkuliere mit 120 bis 130 Millionen Euro passant, abgesegnet hatte. Gründe und gründliche Prüfung durch Fach-
– eine übliche Preisdifferenz zu Verhandlungs- In einer Mail an Snabe, McDermott und experten und Entscheidungsträger. »Das war
start. Die Wirtschaftsprüfer von EY kamen Technikchef Vishal Sikka zürnte er: »Was ist auch bei der Crossgate-Akquisition der Fall.«
nach Durchsicht der Crossgate-Bücher indes Brandt und Snabe äußerten sich ähnlich, die
zu einem deutlich geringeren Näherungswert: Hopps wollten nicht Stellung nehmen. Tittel
96 Millionen Euro seien angemessen. reagierte nicht auf Anfrage.
Das überzeugte auch Snabe – aber nur Dietmar Hopp beschrieb sein Verhältnis
kurz. Nach einer patzigen Beschwerdemail »Die haben völlig unan- zu Sohn Daniel einmal so: »Bei uns lief im-
von Crossgate-Chef Stefan Tittel über den mer alles an der losen Leine. Und wenn Da-
renitenten Mackey (»Wir sind fassungslos«)
gemessene Bilanzierungs- niel glaubte, einen Rat zu brauchen, hat er
drehte der SAP-Chef bei. »Ich habe gerade methoden, um zu ver- ihn auch bekommen.«
mit Herrn Hopp gesprochen. Er ist stinksauer Manchmal, so scheint es, durfte es sogar
darüber, wie wir mit Crossgate umgehen, wie
schleiern, dass sie tonnen- ein bisschen mehr sein.
ich es vorhergesagt habe. Wir müssen so weise Geld verlieren.« Tim Bartz, Christian Bergmann ■
wagen, ist Binance so etwas wie das fer hat mehr als 13 000 Zahlungsvor-
Eintrittstor. Die Plattform vereint gänge im Wert von insgesamt 767,6
Onlinebanking und Anlagemanage- Bitcoins nachverfolgt, die von Crime-
ment mit der simplen Funktion einer network an Händler ausgezahlt wur-
digitalen Wechselstube: Euro lassen den. Zum Zeitpunkt der jeweiligen
sich mit wenigen Klicks in Bitcoin Überweisungen entsprach das umge-
rechnet 5,3 Millionen Euro. Ein Teil davon Milliarde Dollar. Damit wäre Binance größer für Geldwäsche- und Terrorfinanzierung miss-
wurde demnach zurück in die Dark- als der amerikanische Rivale Coinbase, der braucht werden könnten – und riet, Krypto-
netplattform investiert, für 22,1 Bitcoins konn- an der Börse derzeit mit rund 50 Milliarden börsen den Geldwäscheregeln zu unterwerfen.
te Schäfer eindeutig nachvollziehen, dass sie Dollar bewertet ist. Für sich selbst hat Zhao Erst seit 2020 gelten in Deutschland stren-
auf Onlinekonten flossen, die bei Binance re- einen Börsengang bislang ausgeschlossen. gere Regeln für sogenannte Kryptoverwahrer.
gistriert sind. »Wir haben keinen Geldmangel, wir kommen Ob sich ein Portal wie Binance damit ein-
Auch die Analysefirma Chainalysis hat in gut durch«, sagte er einem Branchenportal. hegen lässt, muss sich zeigen. Aus Tübingen
einem Bericht festgestellt, wie wichtig Kryp- Das »Forbes«-Magazin führt Zhao auf heißt es, man halte die Regeln von Kreditwe-
tobörsen für Kriminelle sind: Zwar hatten il- Platz fünf der reichsten Menschen der Kryp- sen- und Geldwäschegesetz vollständig ein,
legale Gelder im vergangenen Jahr nur einen towelt und schreibt ihm ein Vermögen von könne aber nur für die eigenen Kunden in
Anteil von 0,3 Prozent an allen Krypto- 1,9 Milliarden Dollar zu. Er selbst sei oft wo- Deutschland sprechen und nicht für Binan-
transaktionen, doch für das Jahr 2019 konnten chenlang unterwegs, berichtet er dem SPIE- ce.com. Das sei ein »völlig unabhängiges Un-
die Analysten Bitcoin im Wert von 770 Mil- GEL in einem Videoanruf, und lebe mit dem, ternehmen«.
lionen Dollar nachvollziehen, die aus illegalen was in zwei Koffer passe. »Ich mag physi- Eine eigene Banklizenz hat die Kryptobör-
Geschäften auf Binance-Konten flossen. schen Besitz nicht, solche Güter können nie se hierzulande nicht. Sie tritt als sogenannter
Was Binance womöglich so attraktiv so schnell an Wert gewinnen wie Kryptowäh- vertraglich gebundener Vermittler unter dem
macht: Lange Zeit war dort eine relativ ano- rungen.« Er besitze daher weder ein Haus Dach eines Münchner Finanzdienstleisters
nyme Anmeldung möglich. Reporter des noch ein Auto. »Ich habe noch nicht mal ei- auf. Damit unterliege Binance Deutschland
NDR konnten noch im Februar 2021 ein On- nen Führerschein.« In Deutschland habe er nicht der unmittelbaren Aufsicht durch die
linekonto nur mit einer E-Mail-Adresse und sich mithilfe der Taxi-App Freenow fortbe- Bafin, heißt es dort. Die Behörde bestätigt
einer Telefonnummer eröffnen und sofort wegt. aber zu überprüfen, ob Binance Deutschland
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Geld von Bitcoin in die anonyme Kryptowäh- Rivalen beobachten den kometenhaften über seinen »eng abgesteckten Tätigkeits-
rung Monero tauschen – ein bei Kriminellen Aufstieg von Binance mit Argwohn. Coinbase bereich« hinausgehe.
beliebter Weg, um digitale Geldflüsse zu ver- beklagt die »unterschiedliche Einhaltung von In den Fokus der Behörde geriet Binance
schleiern. Inzwischen müssen ein Foto des Vorschriften« – ausländische Wettbewerber kürzlich trotzdem wegen sogenannter Aktien-
Ausweises und ein Selfie für einen Abgleich könnten ihre Dienste grenzüberschreitend an- Token – virtuelle Anlagen, die den Kurs von
hochgeladen werden. Eine echte Videoiden- bieten, ohne Strafen durch Aufseher zu ris- realen Aktien nachbilden. Anleger können so
tifizierung im Sinne der Bafin sieht indes an- kieren. auf begehrte Unternehmen wie Tesla wetten.
ders aus. Gary Gensler, neuer Chef der US-Wertpa- Steigt oder fällt der Aktienkurs, gilt das auch
Seine Firma unternehme viel im Kampf pieraufsicht SEC, warnt in einem Interview für den Wert der Token. Allerdings hat Binance
gegen Kriminalität, behauptet Binance-Chef vor einer »Lücke im System«. In den USA Deutschland das Produkt ohne einen
Zhao. Binance nutze rund 30 Programme, gebe es »keine bundesstaatliche Autorität, Wertpapierprospekt angeboten, und der hätte
um illegale Zahlungen zu erkennen, und hel- Kryptobörsen zu regulieren«. Immerhin, das der Bafin vorgelegt werden müssen. Bei sol-
fe Betrugsopfern, ihr Geld zurückzubekom- US-Justizministerium und die Steuerbehörde chen Verstößen droht eine Geldbuße von bis
men. Natürlich passiere es, dass Gelder aus wollen Binance künftig genauer beobachten. zu fünf Millionen Euro.
kriminellen Quellen an Binance fließen, Von Binance heißt es, dass man rechtliche Seit einigen Tagen führt die Spur von Bi-
räumt er ein. In den meisten Fällen gelinge Vorgaben, überall wo man operiert, sehr nance Deutschland übrigens nicht mehr nach
es jedoch, die Gelder einzufrieren. Man habe ernst nehme und ein robustes Compliance- Tübingen. Das Unternehmen gibt nun eine
in den vergangenen Jahren zahlreiche Ermitt- Programm aufgebaut habe. Adresse in Greven an, die zu einem Adress-
ler weltweit unterstützt. Auch in Deutschland sind Bitcoin und Co. schutzanbieter gehört. Der wirbt im Netz mit
Der Chef gibt sich pflicht- und selbstbe- noch weitgehend unreguliert. Dabei warnte dem Slogan: »Kümmere dich um dein Projekt.
wusst. Laut Zhao rechnet das Unternehmen die europäische Bankenaufsicht EBA schon Wir kümmern uns um deine Privatsphäre.«
für 2020 mit einem Gewinn von bis zu einer im Jahr 2014 davor, dass virtuelle Anlagen Michael Brächer, Max Hoppenstedt ■
sagt Porsche-Marketingchef Robert Ader. Frauen hingegen ist das Design wichtig, »Qua-
»Rennmaschinen und Steve McQueen, das lität, Zuverlässigkeit, Haptik«, so Ader. Diese
gehört zu unserer Historie, hat unsere Marke Aspekte will Porsche zukünftig noch stärker
sehr stark geprägt.« in den Vordergrund stellen: »Mittlerweile
Mit der Zeit zog das Image allerdings auch bieten wir 700 Optionen an, um das Wagen-
immer mehr kleine, dicke und nerdige Reiche Musikerin Joplin mit Cabrio um 1969 innere an persönliche Wünsche anzupassen.«
Alles eigentlich ganz vernünftig. Doch in der Ob das Kaffeepäuschen im citynahen Por- suchen, ihre Würde zu bewahren, wenn sie
aufgeladenen Genderdebatte genügt derzeit sche-Café zum erhofften Erfolg führt? Viel- auf dem Parkplatz daneben aus ihrem Golf
ein Funke – und die Hütte brennt. leicht wären die Männer aus Zuffenhausen Kombi krabbeln. Dieser Spaß ist eigentlich
Als Porsche-Vorstand Detlev von Platen besser beraten, Frauen einfach mal ans Steuer nur noch durch die Mitnahme eines männli-
im »Handelsblatt« ausplauderte, dass man zu lassen. Nichts korrumpiert vernunftbegab- chen Beifahrers zu toppen. Denn egal, wie
beim Elektromodell Taycan den Frauenwün- te Wesen schneller. eisern er sich vorgenommen hat, stark, cool
schen zuliebe auf Sprachsteuerung und ein Kaum sitzt man in so einer Rakete, fliegen und unbeeindruckt zu bleiben: Nach spätes-
intuitives Display setze, statt Echtleder vega- alle Nachhaltigkeitsbekenntnisse, Sicherheits- tens 20 Kilometern bettelt er wie bei einer
ne Bezüge bereitstelle und den Wagen außer- bedenken, Wirtschaftlichkeitsüberlegungen Domina, endlich selbst fahren zu dürfen.
dem im Rosa-Ton »Frozen Berry« anbiete, und all das, was man bei den Umfragen Klu- Na klar, das alles ist total unvernünftig. Da
brach ein Stürmchen der Entrüstung los. ges von sich gibt, zügig über Bord. Ungefähr hatte Ferdinand Porsche schon recht: Kein
Als ob bei der Weltfirma Porsche ein paar vier Sekunden dauert diese Metamorphose, Mensch braucht so ein Auto. Doch wer be-
ewiggestrige Klotzköpfe herumsäßen, die so lange braucht der Elektro-Porsche Taycan stimmt, dass Frauen immer vernünftig sein
glauben, es genüge, ihre Autos rosa zu strei- 4S, um aus dem Stand auf 100 Stundenkilo- müssen? So eine Karre fährt man nicht, um
chen, um Frauen zu ködern. In der allgemei- meter zu beschleunigen. Das zieht nicht nur den Mutter-Teresa-Preis zu gewinnen. Außer-
nen Erregung über die vermeintlich frauen- Walter Röhrls Tränen senkrecht nach hinten, dem genügt ein Blick in den Schuhschrank,
feindliche Stereotypisierung ging vollkommen sondern auch die Tränensäcke. Das 530 PS- um das Argument vom vernünftigen Weib
unter, dass der Farbton in China extrem ge- starke Viech ist Botox auf Rädern. Fast scha- ins Wanken zu bringen.
fragt ist. Und fast jeder zweite Frozen-Berry- de, dass man meist nur von hinten gesehen In Umfragen wird diese Wahrheit nie ans
Porsche dort von einem Mann gekauft wird. wird. Also abbremsen, warten, bis ein auf- Licht kommen. Schlauer wäre, mehr Frauen
Aus gutem Grund, denn – das darf an dieser gemotzter BMW auf der Überholspur hinter bei Porsche mitreden zu lassen. Erst 2012,
Stelle nur noch ganz leise geraunt werden – einem blinkt und drängelt, und dann: tschüs. nachdem Wendelin Wiedeking und seine
das Graurosa ist einfach superchic. Bis zur nächsten Kreuzung, an der sich ein Garde abgetreten waren, hat der traditionelle
Um neue Kunden anzuziehen, wollen die Nissan-Fahrer devot entschuldigt, weil er sei- Männerladen das Thema Chancengleichheit
Stuttgarter nun Porsche-Studios in den Innen- ne Vorfahrt wahrgenommen hat. Was für ein für sich entdeckt und sogleich die Boni an
städten errichten. Auch die Verkaufszentren Vergnügen. eine faire Frauenförderung gebunden. Im
sollen architektonisch aufgehübscht werden, Kein Zweifel: Eine Ausfahrt im hellblauen Juni steigt Barbara Frenkel als erste Frau in
um den ästhetischen Ansprüchen weiterer Taycan am Vatertag entschädigt jede Frau we- den Vorstand auf. Insgesamt ist der Frauen-
Zielgruppen gerecht zu werden. Zudem wur- nigstens ein bisschen für so manch erlittene anteil im Unternehmen von 13 auf knapp
de der 35-jährige Olivier Rousteing, Kreativ- Demütigung. Nicht nur, dass über 40-jährige 16 Prozent angestiegen. Gerade mal 3 Pro-
direktor des Pariser Mode-Labels Balmain, Fahrerinnen plötzlich wieder sichtbar wer- zentpunkte. In neun Jahren. Man arbeite da-
als Testimonial verpflichtet. »Wir wollen in den, dass sich Männerköpfe verdrehen und ran, sagt Porsche. Liebe Stuttgarter, arbeitet
der Lebenswelt von Frauen präsenter wer- begehrliche Blicke geworfen werden. Das härter. Ihr müsst mehr Gas geben. Und:
den«, formuliert Ader. Schönste ist, wie verzweifelt die Herren ver- tschüs! ■
Verantwortlichen für »polizei- fünf Jahren hat daran offenbar die Biden-Regie- Österreich, Frankreich …
liche Brutalität« vor Gericht zur nichts geändert. JGL rung verzichtet vor- Jaki: Deshalb haben mehrere
erst auf scharfe Länder ein Interesse daran,
Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu vollenden. Es
Scheiden auf bruch: Seit dem 1. Januar müs- den Betreiber fielen große Worte, dass die EU
sen sich trennungswillige Paare der Nord-Stream-2-Pipeline. auf dem Prinzip der Solidarität
Chinesisch einer 30-tägigen »Bedenkzeit« Zu Recht? gebaut sein müsse – aber dann
CHINA Nachdem sie über Jahre unterziehen, bevor sie ihre Jaki: Ich bin enttäuscht. Die US- wurde gerade auf dem Gebiet
stetig angestiegen war, ist die Scheidung formal einreichen Regierung hat die aggressive Poli- der Energiesicherheit dagegen
Scheidungsrate im bevölke- dürfen. Zweck der Abkühlungs- tik Russlands in der Ukraine kri- verstoßen. Das ist Heuchelei.
rungsreichsten Land der Welt maßnahme, so berichtet die tisiert und die versuchten Morde SPIEGEL: Wird Nord Stream 2
um mehr als 70 Prozent gesun- Pekinger »Global Times«, sei es, an Sergej Skripal und Alexej das deutsch-polnische Verhält-
ken, so zumindest verkünden es »impulsive Scheidungen« zu Nawalny. Statt Sanktionen zu nis verschlechtern?
die amtlichen Statistiken. Nur verhindern. »Manche Paare verhängen, stimmt sie dem Bau Jaki: Das ist schon passiert.
296 000 chinesische Ehepaare streiten sich am Morgen und las- zu. Nord Stream 2 stärkt Mos- Polen wird sich in Kürze aus der
trennten sich demnach von sen sich am Nachmittag schei- kau. Die Pipeline ist ein gefähr- Abhängigkeit von russischem
Januar bis März 2021 – ein den«, hatte die Zeitung »Legal liches Werkzeug zur Erpressung, Gas befreit haben. Wir haben
deutlicher Rückgang. Im ersten Daily« einen Experten zitiert. vor allem der Ukraine. ein Flüssiggasterminal errichtet,
Quartal 2020 waren es noch Der wahre Grund der Gesetzes- SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die Pipeline Baltic Pipe von
über eine Million gewesen. Ein novelle dürfte ein demografi- den Sinneswandel in den USA? Polen nach Dänemark ist im
Grund für den drastischen Ein- scher sein: Nicht nur Chinas Jaki: Die Demokraten haben Bau. Die schwächeren Länder,
Scheidungsrate war zuletzt traditionell einen eher milden wie eben die Ukraine, werden
gestiegen, sondern auch die Kurs gegenüber Russland gefah- die Opfer der skandalösen deut-
Zahl der Eheschließungen und ren. Möglicherweise gibt es schen Politik sein. Auf der einen
der Geburten war gesunken. auch irgendeine Verständigung Seite spricht sich Berlin dafür
Zugleich nimmt der Anteil der mit Moskau, die wir noch nicht aus, die EU nach Osten zu
über 65-Jährigen zu, von kennen. Oder vielleicht nimmt erweitern, auf der anderen Seite
8,87 Prozent 2010 auf derzeit man Rücksicht auf Deutschland. treibt es die Länder dort in die
13,5 Prozent. Die Gesellschaft SPIEGEL: Auch mehrere EU- Abhängigkeit Russlands.
wird immer älter. In Zukunft Staaten und das Europaparla- SPIEGEL: Die Bundesregierung
könnten sich daraus erhebliche ment haben sich gegen die Pipe- sagt, Nord Stream 2 sei ein wirt-
Probleme unter anderem für line ausgesprochen – aber ver- schaftliches Projekt.
Alex Plavevski / epa-EFE / Shutterstock
den Arbeitsmarkt ergeben. hindert wurde sie nicht. Jaki: Es war immer ein politi-
Einem Bericht der Nachrichten- Jaki: Auch darüber bin ich ent- sches. Deutschland hat sich ent-
agentur Reuters zufolge denkt täuscht, allerdings weniger als schieden, Putin ein Mittel zur
Peking nun offenbar darüber über die USA. Europa sagt gern, Erpressung an die Hand zu
nach, die Ende der Siebziger- wie gefährlich Russland ist – geben. Wenn Moskau es nutzt,
jahre eingeführte Geburtenkon- aber es passiert in der Regel trägt Deutschland dafür die Ver-
trolle vollständig abzuschaffen. nichts. Am Projekt Nord Stream antwortung. Das ist ein großes
Seit 2016 gilt eine offizielle 2 sind zudem Konzerne aus moralisches Problem für die
Hochzeitspaar in Guangzhou Zweikindpolitik. ZND mehreren EU-Ländern beteiligt. Bundesrepublik. JPU
W enn Pini Kafri joggen geht, kann er Hände schüttelten und versprachen, den jahr- Auffassung sind Siedlungen wie Neria illegal,
auf seinem Weg die Reste der Zwei- zehntelangen Konflikt zu beenden. Der Ort weil sie nicht auf israelischem Gebiet liegen.
staatenlösung betrachten. Vom Aus- wirbt im Internet mit Naturnähe und einer Wer von Tel Aviv nach Neria fährt, merkt
sichtspunkt der benachbarten Siedlung blickt »herzlichen Gemeinschaft«. Darüber prangt das kaum: Es gibt keine Grenze, keinen Zaun –
Kafri auf die palästinensische Stadt Ramallah: eine Karte der Region. Sie zeigt die Orte Beit kaum einen Hinweis darauf, dass man sich
Hochhäuser ragen dort in den Himmel, Neu- El und Ariel, Ofra und Mitzpe Jericho – is- eigentlich nicht mehr in Israel befindet. Kein
bauten dehnen den Ortsrand. Einst sollte raelische Siedlungen im Umkreis. Was sie Wunder, dass Kafri nicht versteht, warum die
auch der Platz, auf dem Kafri steht, an die nicht zeigt: Ramallah und Deir Ammar, die Weltgemeinschaft verlangt, das Westjordan-
Palästinenser fallen: Die Zweistaatenlösung palästinensischen Städte in der Gegend. Auf land an die Palästinenser zurückzugeben.
sah es so vor. Heute stehen hier israelische der Zeichnung sieht es so aus, als gäbe es die »Was wollt ihr nur dauernd von uns?«, fragt
Häuser, bewacht vom Militär. drei Millionen Palästinenser nicht, die in der er. »Es ist doch unser Land.«
»Die Araber wollen keinen Frieden mit Region leben. Seit knapp zwei Wochen dominiert der be-
uns, egal wie viel Land wir aufgeben«, sagt Das ist kein Zufall: In vielen Schulbüchern waffnete Konflikt um Gaza zwischen der isla-
der 37-jährige Siedler und nickt in Richtung sind palästinensische Orte auf der Karte nicht mistischen Hamas und der israelischen Armee
Ramallah. »Wir müssen hier präsent und abgebildet, ganz so, als zöge sich Israel bis die internationalen Schlagzeilen. Am Don-
stark sein. Sonst bringen sie uns um.« zum Jordan. Man kann hier leicht vergessen – nerstag stimmte das israelische Kabinett einer
Kafri lebt tief im Westjordanland: Seine oder ignorieren –, dass das Westjordanland Waffenruhe mit den Islamisten zu. Aber die
Siedlung Neria entstand 1991, noch bevor offiziell nicht zum jüdischen Staat gehört, son- Raketen in Richtung Tel Aviv und die toten
Yitzhak Rabin und Jassir Arafat einander die dern 1967 besetzt wurde. Nach internationaler Zivilisten, vor allem in Gaza, haben der Welt
den schon fast vergessenen Nahost- von der Palästinensischen Autono- Das Neue Und so wächst im ganzen Land, in
konflikt in Erinnerung gerufen. miebehörde. »Das ist doch quasi ein Jerusalem, Haifa, aber auch in den
Das kleine Gaza mit seinem isla- eigener Staat«, fragt Kafri, »was wol- ist die Solida- besetzten Gebieten, seit Monaten die
mistischen Hamas-Regime ist aller- len sie denn noch?« risierung neue palästinensische Protestbewe-
dings ein Spezialfall. Die entscheiden- Kafri hat sechs Kinder, er ist ein palästinensi- gung heran. Sie umfasst – und das ist
den Schauplätze des Konflikts zwi- freundlicher Mann, der viel lacht und das Überraschende – auch sogenann-
schen Israel und den Palästinensern in seiner Freizeit fotografiert. Er hat scher Israelis te arabische Israeli: Palästinenser mit
liegen im besetzten Westjordanland, zwei Jobs: Die Hälfte der Woche un- mit dem israelischer Staatsbürgerschaft, die
in Ostjerusalem und neuerdings in Is- terrichtet er Heimatkunde an einer sich mit Palästinensern in den besetz-
rael selbst. Es geht in diesem Konflikt Mädchenschule, die andere Hälfte ver-
Westjordanland ten Gebieten verbrüdern.
längst nicht nur um Luftangriffe und kauft er über Amazon Servietten und und mit Gaza. Diese neue Bewegung organisiert
Raketen, sondern darum, wie der Pappteller mit Geburtstagsgrüßen. sich auch in sozialen Medien und
Raum für eine friedliche Lösung seit Er hat die zweistöckige Wohnung funktioniert über die Grenzen der pa-
Jahren kleiner und die Idee einer in Neria gekauft, weil sie günstiger lästinensischen Gesellschaft hinweg.
Zweistaatenlösung zunehmend un- ist als im Kernland Israels: Umgerech- Sie trägt dazu bei, dass die palästi-
realistisch wird – auch, weil Israel mit net einige Hunderttausend Euro kos- nensische Frage in die israelische Öf-
Siedlungen Fakten schafft. Und es tet in Neria eine Immobilie, einen fentlichkeit zurückkehrt.
geht um eine überraschende neue Bruchteil dessen, was man in Tel Aviv Israels Regierungen haben vier
Entwicklung: die Entstehung einer bezahlt. Aber Kafri wohnt auch hier, verschiedene Kategorien von Paläs-
einigen palästinensischen Bewegung weil er es für sein gottgegebenes tinensern geschaffen: die Bewohner
vom Westjordanland bis nach Israel, Recht hält. »Das ist unser Land, seit des Gazastreifens, die Palästinenser
die sich mit neuartigen Protesten Tausenden von Jahren«, sagt er. im Westjordanland, jene in Ostjeru-
wehrt. Für Kafri und viele Siedler ist die- salem und schließlich die rund 20 Pro-
Der Siedler Kafri gehört zu jenem se Sicht der Dinge bequem. Sie kön- zent Bürgerinnen und Bürger Israels
Großteil der israelischen Gesellschaft, nen im Westjordanland günstig leben, mit palästinensischen Wurzeln. Jede
der die Existenz der Palästinenser im gesichert von einer enormen Militär- Kategorie hat unterschiedliche Rech-
Alltag seit Jahren ausblendet. Viele präsenz. Während Kafri den Preis der te, und sie leben mehrheitlich vonei-
Israelis leben so, als gäbe es die Mil- Besatzung selten spürt, tragen die Pa- nander getrennt. Doch in den vergan-
lionen palästinensischen Menschen lästinenser die Konsequenzen. genen Wochen und Monaten haben
im Westjordanland nicht. Oder, wie Doch viele Palästinenser begehren Palästinensische sich viele von ihnen im Protest zu-
Steinewerfer bei
in Kafris Fall, als müsste es reichen, zunehmend auf gegen ihre gefühlte Protesten in Nablus:
sammengeschlossen – an manchen
dass sie in einigen Städten wie Jeri- Verdrängung. Sie wollen, dass man »Die Älteren nannten Orten friedlich, an anderen gewalt-
cho oder Ramallah leben, verwaltet sie nicht so einfach vergessen kann. uns TikTok-Generation« tätig: In Lod zwischen Tel Aviv und
Jerusalem wurde eine Thoraschule »Die Araber nensische Protestbewegungen. Auch Videoanruf, eine junge Frau mit dunk-
niedergebrannt, in Akko im Norden in Jaffa und in Israel gab es immer lem Kopftuch und weichen Gesichts-
ein jüdisches Restaurant und ein Ho- wollen keinen wieder Proteste. Die Aktivisten radi- zügen. Hinter ihr prangt ein Poster,
tel. Siedler und jüdische Extremisten Frieden mit kalisierten sich irgendwann, wurden das ein Panorama von Jerusalem
wiederum machten an einigen Orten uns, egal wie getötet oder kamen ins Gefängnis, zeigt. Ihren Nachnamen möchte sie
geradezu Jagd auf israelische Palästi- viele hörten irgendwann frustriert auf. nicht nennen.
nenser. Einer wurde – ebenfalls in Jaf- viel Land Das Neue ist nun aber die Solida- Sie ist auf den sozialen Medien
fa – vor laufender Kamera kranken- wir aufgeben. risierung palästinensischer Israelis sehr aktiv, sie sagt: »Als die neue App
hausreif geprügelt. mit dem Westjordanland und mit Clubhouse kam, entstanden intensive
Am Anfang dieser neuen Proteste
Wir müssen Gaza. Die politischen Entwicklungen Debatten zwischen Palästinensern in
stehen geplante Zwangsräumungen stark sein.« der vergangenen Jahre nährten ihren Israel, im Westjordanland, in Gaza
in Ostjerusalem, im Stadtteil Scheich Frust: die zunehmende gesetzliche und hier in Jerusalem und auch in
Dscharrah. Mehrere palästinensische Diskriminierung von Arabern, der den Flüchtlingslagern in den Nach-
Familien sollen ihre Wohnungen hier politische Rechtsrutsch in der israeli- barländern. Wir begannen, einander
räumen. Der Hintergrund: Siedler- schen Gesellschaft und die Vernach- besser zu verstehen«, erzählt sie.
organisationen machen Rechtsan- lässigung arabischer Städte in Israel. Wie viele junge Menschen ihrer
Jordan
der Gründung Israels 1948 ISRAEL
»New York Times« einen Meinungs- nicht geflohen sind, und setzten Westjordanland an Raum und
beitrag, der mit den Worten endete: deren Nachkommen Bedeutung, sondern auch in Israel
»Palestinian lives matter«. selbst. Abu Shehadeh beschreibt es,
… in Ostjerusalem:
Am Dienstag kam es zum ersten temporäres Aufenthaltsrecht, als würde den Palästinensern der Bo-
Mal seit Jahrzehnten zu einem Protest, West- den unter den Füßen weggezogen.
das bei längerer Abwesenheit
jordanland
der das ganze Land umfasste: Palästi- entzogen werden kann Und mit dem Boden die Identität.
nensische Israelis hatten zum Gene- Nablus Er scheint selbst erstaunt von dem
… im Westjordanland:
ralstreik aufgerufen, die Palästinenser unter Verwaltung der Ausbruch. »Vor einem Monat wären
in den besetzten Gebieten zogen mit. Palästinensischen Tel Aviv- diese Menschen noch nicht auf die
Von Haifa über Jaffa, Nablus und Ra- Autonomiebehörde Jaffa Straße gegangen«, sagt er und nickt
mallah bis nach Jerusalem und selbst und der israelischen in Richtung der Demonstranten.
Armee
in Gaza wurden Läden geschlossen. Doch die Ereignisse der vergangenen
Tausende gingen auf die Straße und … im Gazastreifen: Neria Wochen – Räumungsklagen in Ostje-
schwenkten die palästinensische Flag- unter Hamas-Kontrolle Ramallah Jericho rusalem, Ausschreitungen rund um
ge. Eine klare politische Agenda hat und israelisch- die Aksa-Moschee, der Krieg mit der
ägyptischer Blockade
die Bewegung nicht, die Forderungen Jerusalem Hamas – hätten viele Palästinenser
sind dennoch eindeutig: umfassende im Eiltempo politisiert.
Rechte, Würde, Sicherheit. Viele von Barrieren Palästinensische Politiker in Israel
ihnen haben den Glauben an die Zwei- Scheich haben für die Proteste wenig Bedeu-
(teilweise Dscharrah
staatenlösung verloren und wünschen noch in Bau tung: »Die haben keine Ahnung, was
Gaza- oder in
sich einen einzigen Staat, der ihnen streifen hier auf den Straßen passiert, die Pro-
Planung)
gleiche Rechte zuspräche – aber nicht Totes teste, die Verhaftungen«, sagt Majd
mehr jüdisch wäre. Meer Kayyal, ein palästinensischer Schrift-
So deutlich sagt Abed Abu Sheha- steller und prominenter Aktivist aus
deh aus Jaffa das nicht, auch wenn er Haifa. Er sagt: »Die Demonstratio-
es meint. »Mir ist egal, ob wir zwei 20 km
nen der letzten Wochen fanden ohne
Staaten haben oder fünf. Es muss nur Anführer statt. Die Jungen gehen von
ein Staat für alle Bürger sein. Ich glau- S Quelle: B’Tselem sich aus auf die Straße.«
◆
gend wohnten hauptsächlich Nach- Man könnte das als normale Gen- Abbas, der seit 15 Jahren im Amt
kommen von Menschen, die vor Is- trifizierung abtun: Mieten steigen, är- Asil Sadik sitzt, wird von Beobachtern als zu-
mit, beim Gespräch am Dienstag Israel vor Angriffen palästinensischer hen die Härte der Besatzung der Un-
wünscht sie sich einen Waffenstill- Attentäter zu schützen. sicherheit eines palästinensischen
stand: Es sei unerträglich, dem Ster- Der Siedler Pini Kafri aus Neria Staats vor.
ben zuzuschauen, sie schlafe kaum. glaubt, das gehe nur, wenn Israels Ar- »Die Menschen haben Angst vor
Gaza ist zwar durch die Blockade mee Stärke zeige. Wenn der jüdische Veränderung«, sagt Ayalon. »Aber es
von der Außenwelt abgeschnitten. Staat die Palästinenser möglichst muss sich etwas ändern. Sonst sind
Aber Livevideos in den sozialen Me- kleinhalte. Ayalon behauptet genau wir verdammt.«
dien überwinden auch diese Grenze, Ami Ayalon das Gegenteil. Monika Bolliger, Alexandra Rojkov ■
scheint so, als wären die Mächtigen Schatten Sie beschatten sie uns mithilfe der Kameras und Ge-
Chinas der Ansicht, jeden Wider- Aus Peking kommend, sind wir gera- sichtserkennungstechnologie wieder
stand gebrochen zu haben und ein de in Ürümqi gelandet, da entdecken uns, aber aufgespürt haben, können wir nur
wenig Entspannung zulassen zu kön- wir noch im Flughafengebäude unse- greifen nicht vermuten.
nen. Vorbei ist die Unterdrückung ren ersten Bewacher. Die Männer Sie beschatten uns, aber greifen
der Muslime in Xinjiang damit nicht, von der Staatssicherheit sehen immer
ein. Im nicht ein, im Vergleich zu früheren
sie ist nur in eine neue Phase über- gleich aus: zwischen Mitte zwanzig Vergleich zu Jahren ist das ein zurückhaltendes
gegangen. und Mitte vierzig, sportlich genug, früheren Auftreten. Dennoch ist unter diesen
Schon immer mischten sich die um der Zielperson ein paar Stunden Bedingungen keine normale Recher-
Völker in diesem zentralasiatischen zu Fuß zu folgen, Baseballkappe, Jahren ist das che möglich. Normalerweise würden
Landstrich, den Kaiser Qianlong Mund-Nasen-Schutz und Sonnenbril- zurückhaltend. wir Gemeindeführer, Geistliche oder
erst Mitte des 18. Jahrhunderts end- le, beliebtes Accessoire: eine Herren- Intellektuelle für Interviews anfragen.
gültig unter die Kontrolle des Qing- handtasche. Doch aus einem internen Regierungs-
Reiches zwang: Xinjiang bedeutet Als wir aus der Ankunftshalle tre- dokument, der sogenannten Kara-
»neue Grenze«. Gezielt angesiedelte ten, fixiert der Mann im weinroten kax-Liste, geht hervor, dass Uiguren
Han-Chinesen stellen mittlerweile T-Shirt mich ein paar Sekunden lang, für weit geringere Vergehen interniert
die zweitgrößte Bevölkerungsgrup- dann wendet er sich ab und hebt das wurden: etwa dafür, dass sie mit Ver-
pe nach den Uiguren. Doch auch Smartphone ans Ohr. Am Taxistand wandten im Ausland telefonierten,
Kasachen, Mongolen oder Russen steht er zwei Plätze hinter uns. Als Bart trugen oder den Behörden als
leben dort. Nach Unruhen und Ter- wir nach einer Viertelstunde Warte- »unzuverlässig« galten. Wir wollen
roranschlägen, an denen uigurische zeit einen Wagen bekommen, löst er niemanden in Gefahr bringen. Un-
Extremisten beteiligt waren, intensi- sich aus der Schlange und geht tele- sere Gespräche bleiben auf Zufalls-
vierte Peking ab 2017 eine Kampa- fonierend davon. Jede Wette, dass er begegnungen beschränkt, unsere Ein-
gne gegen Muslime. Schätzungen zu- gerade das Kennzeichen unseres Ta- drücke zwangsläufig unvollständig.
folge wurden bis zu eine Million xis durchgibt. Am Nachmittag wer-
Menschen in Lagern interniert, de- den wir den Mann wiedersehen: Wie Unter Patrioten
ren Existenz Peking erst leugnete, zufällig taucht er im Zentrum der Die Weingärten leuchten hellgrün,
bevor es sie als »Ausbildungszen- Dreieinhalbmillionenstadt auf und unterbrochen von Reihen dunkler
tren« deklarierte. Es gibt Berichte läuft uns mit 20, 30 Meter Abstand Pappeln, hinter dem letzten Bewäs-
über Zwangsarbeit und Zwangsste- hinterher. Es ist ziemlich offensicht- serungsgraben beginnt unmittelbar
rilisationen, laut dem chinesischen lich, wir sollen wissen, dass wir unter die Wüste. 39 Grad Celsius, Sand-
Statistikamt hat sich Xinjiangs Ge- Beobachtung stehen. dünen und karge Berge, in einer Ebe-
burtenrate allein zwischen 2017 und Die Schatten werden in Xinjiang ne fördern Pumpen Erdöl. Eine atem-
2019 beinahe halbiert. zu unseren ständigen Begleitern. In beraubende Landschaft erstreckt sich
Die Parlamente Kanadas, der Nie- Ürümqi folgen sie uns in einem me- um Shanshan, eine Landgemeinde
derlande und Großbritanniens sowie tallicbraunen SUV. In Shanshan ist es im Osten Xinjiangs. Unser uiguri-
der US-Außenminister Antony Blin- ein weißer VW. In Yarkant identifi- scher Fahrer Ayni lässt türkische Pop-
ken haben das chinesische Vorgehen zieren wir fünf Männer, die uns zu musik laufen. Er ist ein selbstbewuss-
als »Genozid« bezeichnet, ein Vor- Fuß und per Motorroller verfolgen, ter 31-Jähriger, der gern redet.
wurf, den Peking empört zurück- einer davon eindeutig kein Han-Chi- Das Leben hier sei entspannter ge-
weist. Auch in Deutschland ist das nese, wir tippen auf einen Uiguren. worden in den vergangenen Jahren,
Schicksal der Uiguren ein Thema. Zwar gelingt es uns mitunter, sie ab- sagt er. Früher habe die Polizei ihn
Erst am Montag hat der Menschen- zuschütteln – in Ürümqi etwa schlän- ständig angehalten, überall habe es
rechtsausschuss des Bundestags drei geln wir uns kurz entschlossen durch Kontrollen geben, zum Glück sei das
Stunden lang darüber beraten, wie zäh fließenden Verkehr, huschen auf vorbei. Tatsächlich haben wir freie
die Lage in Xinjiang völkerrechtlich der anderen Straßenseite in ein Kauf- Fahrt, bis wir tanken müssen.
zu bewerten sei. Der Bundestag sollte haus und verdrücken uns durch den Vor der Tankstelle ist eine Schran-
Straflager in Xinjiang:
am Donnerstag über den Regierungs- Hintereingang. Nach jeder Ecke dre- Es gibt Berichte über
ke heruntergelassen, daneben sitzen
entwurf für ein neues Lieferkettenge- hen wir uns um: niemand. Doch spä- Zwangsarbeit und zwei Uniformierte. Einer davon öff-
setz abstimmen: Es sieht Sanktionen ter sind sie plötzlich wieder da. Dass Zwangssterilisationen net alle Türen, den Kofferraum und
gegen Unternehmen vor, deren Zu- die Motorhaube. Der andere notiert
lieferer Zwangsarbeit einsetzen. Die Aynis Führerscheinnummer. Alle Pas-
Abstimmung wurde vertagt, doch sagiere müssen aussteigen, und Ayni
falls das Gesetz kommt, wird es Aus- muss seinen Personalausweis einle-
wirkungen auf deutsche Firmen wie sen lassen, bevor sich die Schranke
VW haben – der Autokonzern be- öffnet und er einfahren kann, allein
treibt in Xinjiang ein Werk. im Auto. Er scheint dieses Prozedere
Unlängst befand der Wissenschaft- als selbstverständlichen Bestandteil
liche Dienst des Bundestags in einem seines Alltags zu akzeptieren.
Gutachten, Chinas Kampagne erfülle Überhaupt zeigt er viel Verständ-
den Tatbestand des Völkermords. Soll- nis. Die Polizisten, die bei seinem Ur-
Roman Pilipey / epa / DER SPIEGEL
te sich diese Sicht in der deutschen laub in Peking 2019 plötzlich vor sei-
Politik durchsetzen, etwa nach dem ner Hoteltür standen, um seine Per-
Abgang der Peking zugeneigten Bun- sonalien festzustellen: Ausgesucht
deskanzlerin Angela Merkel, wird höflich seien die gewesen. Der Um-
das gravierende Konsequenzen für stand, dass er 2009 nicht zu einer
Deutschlands Beziehungen zu seinem nationalen Boxmeisterschaft habe rei-
wichtigsten Handelspartner haben. sen können, weil kurz zuvor in Ürüm-
Uiguren unaufgefordert ihre Loyalität zur traditionelle Kopfbedeckung der Uiguren. Of-
Partei bekunden. Vielleicht entspringt das ei- phoren befestigt haben. Touristen wandeln fensichtlich ist er gut gebrieft, denn er zuckt
nem authentischen Gefühl. Vielleicht ist es jetzt durch Tore mit Spitzbögen wie in Bag- auch bei heiklen Fragen nicht.
aber auch eine Präventivmaßnahme, um kei- dad, auf die Lehmklippen hat man eine Stadt- Laut einem aktuellen Report der NGO
nen Verdacht zu erregen. mauer aus Beton gebaut und auf den höchsten Uyghur Human Rights Project aus Washing-
Im Zug nach Yarkant zeigt ein alter Mann Punkt der Altstadt einen chinesischen Tempel ton hat China seit 2014 mindestens 1046 Ima-
Fotos einer Holzarbeit, die er angefertigt mit geschwungenen Dächern. Vor einem Res- me und religiöse Führer in Xinjiang verhaftet.
hat, offenbar sein Hobby. Er hat keine Mo- taurant wirbt ein Koberer um Gäste, er hat »Das waren keine echten islamischen Geist-
schee gebastelt, sondern das Tor des Himm- sich als Affenkönig aus »Die Reise nach Wes- lichen, sondern Heuchler«, übersetzt ein Dol-
lischen Friedens, Symbol von Pekings Macht. ten« verkleidet, einem chinesischen Klassiker. metscher den Standpunkt von Muhammat,
Maos Porträt hängt daran, es ziert zudem das »Ich bin wegen des Spektakels gekommen, der auf Uigurisch spricht. »Diese Imame ha-
Staatswappen. Auf sein Modell hat der Alte ich find’s super«, sagt ein Chinese, als die Ui- ben Extremismus verbreitet und unseren Ruf
fünf Holzfiguren gesetzt, sie sollen die bishe- guren gerade den Sema tanzen. Er stellt sich beschmutzt. Sie haben die Menschen in die
rigen Staatslenker der Volksrepublik darstel- als Yann vor und erzählt, dass er Philosophie Irre geführt.«
len: »Mao Zedong, Deng Xiaoping, Jiang Ze- in Frankreich studiere. Wegen der Pandemie Ja, auch einen seiner Vorgänger in der Id-
min, Hu Jintao«, zählt er eilfertig auf. »Und habe er aber ein Jahr Auszeit genommen, das Kah-Moschee, einen Mann namens Abdul
das hier ist Xi Jinping.« er nun zum Reisen nutze. Übrigens, fügt er Kadeer, hätten die Behörden festgenommen
In Kashgar freuen wir uns, dass die Stadt hinzu: »In der Altstadt gibt es später noch und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ja, auch ein-
so viel belebter ist als noch 2018. Damals wa- ein Spektakel mit einer Prinzessin.« Wie sich fache Mitglieder seiner Gemeinde seien in-
ren in der Altstadt viele Geschäfte zugesperrt, herausstellt, sind es sogar fünf Prinzessinnen. terniert worden. »Einige Leute folgten diesem
auf Nachfrage hieß es oft: »Die Inhaber sind In bunten Kostümen kommen sie auf Kame- Imam nach, sie waren sozusagen seine Opfer.
zum Lernen in der Schule«, ein gängiger len angeschaukelt, bevor sie eine Tanzdarbie- Es gab also ein paar solcher Vorfälle.«
Euphemismus für die Umerziehungslager. tung hinlegen, wie jeden Tag. Dass seine Moschee so leer ist, ficht Mu-
»Da musst du dich verhört haben«, sagt Uiguren als brave Komparsen ihres eige- hammat nicht an. »Es ist ein globaler Trend,
ein junger Uigure. nen Lebens, eine Religion ohne Eifer und Ju- dass die jungen Leute sich mehr und mehr
Offenbar haben hier alle eine Botschaft zu gend, eine Kultur, zu disneyhafter Exotik re- aufs Geldverdienen konzentrieren. Für sie
beherzigen gelernt, die an mehreren Mo- duziert, tauglich für den Massenkonsum. Die- hat der Job Priorität«, sagt er. »Aber wenn
scheen in Yarkant auf einem roten Banner zu se Version uigurischen Daseins scheint Chinas sie ein wenig Zeit übrig haben, können sie
lesen ist. Da steht in chinesischen Schriftzei- Führung vorzuschweben. hierherkommen. Restriktionen, die der jun-
chen: Ai dang, ai guo – »Liebe die Partei, lie- Hinter einem Torbogen mit den stämmi- gen Generation das Beten untersagen, exis-
be das Vaterland«. gen Minaretten öffnet sich die Id-Kah-Mo- tieren nicht.« Man solle zur Gebetszeit wie-
schee, ein weitläufiges, von Pappeln beschat- derkommen, dann werde man schon sehen.
Uigurische Kultur – im Peking-Stil tetes Gelände. Der Wind rauscht durch die Auch der Ruf des Muezzins erklinge dann.
Die Stadt Kashgar liegt zwischen der Wüste Blätter. Ein paar alte Männer fegen abgefal- Einige Behauptungen des Predigers de-
Taklamakan und dem schneebedeckten Pa- lenes Laub zusammen, sie sind die einzigen cken sich nicht mit unseren Beobachtungen.
mirgebirge. Jahrhundertelang war Kashgar hier, bis auf den kleinen Pulk am Eingang. Wir hören auf unserer Reise kein einziges
ein wichtiger Knotenpunkt der alten Seiden- Mal den Gebetsruf, auch nicht an Id al-Fitr.
straße, ein Ort der Basare und Karawanserei- Zum morgendlichen Id-Gebet strömen Tau-
en. Ihre Bewohner haben sie aus Lehm er- sende in die Moschee, das stimmt. Doch an-
richtet, ein verschachteltes Durcheinander ders als überall sonst auf der Welt begleitet
aus Gassen, Innenhöfen, Durchgängen, Trep- kein einziges Kind, kein einziger Jugendlicher
pen und Plätzen. 2006 drehte der Regisseur seinen Vater. Unter all den gläubigen Musli-
Marc Forster hier seinen Film »Drachenläu- men tragen nur ein paar vereinzelte Greise
fer«, weil Kashgar damals aussah wie Kabul einen Vollbart.
vor dem Krieg. »In Chinas Verfassung steht, dass jeder chi-
Nun, wo Xinjiang in den Augen der chine- nesische Bürger das Recht genießt, an eine
Roman Pilipey / epa / DER SPIEGEL
sischen Behörden weitgehend befriedet ist, Religion zu glauben oder auch nicht. Die Ge-
wollen sie dieses Potenzial heben. Kashgar setze werden hier sehr gut umgesetzt«, sagt
wird zur Tourismusdestination ausgebaut, zu Muhammat. »So etwas wie Diskriminierung
einem Reiseziel mit orientalischem Flair. findet nicht statt.«
»Ganz toll, wie Marokko«, sagt ein Besucher Das Straßenbild spricht eine andere Spra-
aus dem südwestchinesischen Guiyang. Die che. Laut Muhammat gibt es mindestens 150
alte Bausubstanz verschwand hinter einheit- Moscheen in Kashgar, doch an vielen der klei-
lichem Putz, auf dem sie Wagenräder und Am- Prediger Muhammat in Kashgar nen Nachbarschaftsmoscheen hängen Vor-
Angst
Ausgerechnet an dem Morgen, an
dem wir uns auf die Suche nach den
Lagern machen, folgen uns die Schat-
ten nicht. Die letzten Tage waren wir
vor allem zu Fuß unterwegs – viel-
ein X ersetzt. Journalisten, die Vor- der Elitehochschule Sciences Po’ tritt
abexemplare erhielten, mussten kom- zurück. Auch er wusste seit zwei Jah-
plizierte Stillschweigevereinbarungen ren von den Inzestvorwürfen und
unterschreiben. ging ihnen nicht nach.
Das Inzestvergehen, das Kouchner Ab Mitte Januar berichten unter
enthüllt, spielt in einem glamourösen dem Hashtag »#MeTooInceste« Tau-
Milieu innerhalb einer kleinen, linken sende Inzestopfer auf Twitter über ihre
Pariser Elite. Die »Gauche caviar« bitteren Erfahrungen. Andere promi-
denkt und wählt zwar sozialistisch, ist nente Fälle werden bekannt: Die ältes-
den schönen Dingen des Lebens aber te Tochter des Schauspielers Richard
nicht abgeneigt. Jeden Sommer fährt Berry beschuldigt ihren Vater, sie als
der Clan in Olivier Duhamels Villa an Minderjährige vergewaltigt zu haben,
der Côte d’Azur. Kouchner schildert, was dieser bestreitet. 164 Prominente,
wie ihr Stiefvater hier über Jahre ih- darunter die Schauspielerin Juliette Bi-
ren Zwillingsbruder missbrauchte, noche, fordern in einer Petition die Ein-
Abend für Abend in dessen Zimmer führung eines gesetzlichen Schutzal-
geschlichen sei und vorsichtig die Tür ters. Mitte April verabschiedet die Na-
hinter sich schloss. Sie hörte nur die tionalversammlung ein neues Gesetz
Schritte auf dem Flur. zum Schutz von Minderjährigen.
Begonnen habe es, als der Bruder
Marc Chaumeil
Una Litkius
schritt, auch wenn ich finde, dass man das
Schutzalter nicht auf 18 Jahre hätte begren-
Kubanischer Regierungschef Castro mit Kouchners Mutter Pisier 1964: Eine entschiedene Feministin
zen müssen. Inzest mit einer oder einem
19-Jährigen ist auch Inzest. Aber die Frage,
Jahrzehnte später haben Sie Ihr Schweigen Mann zu verlassen. Dann erzählte sie 2008 ob das Kind mit der sexuellen Handlung ein-
gebrochen, warum erst jetzt? allen Pariser Freunden, was geschehen war. verstanden war oder nicht, entfällt endlich.
Kouchner: Im Laufe der Jahre ist alles in sich Kouchner: Sie wollte, dass es alle wissen. Das Das ist gut, sie war schon immer absurd.
zusammengestürzt. Mein Stiefvater war für ist ihr gelungen. Der gesamte Mikrokosmos SPIEGEL: Ihr Stiefvater kann strafrechtlich
mich wie mein Vater, ich habe ihn geliebt, ich von Menschen mit Macht in Saint-Germain- nicht mehr belangt werden, weil die Verjäh-
hatte bis dahin eine glückliche Kindheit. Das des-Près war informiert. Aber es geschah rungsfrist überschritten ist. Wie ist das für
galt auf einmal nicht mehr. Diese Geschichte nichts. Rein gar nichts. Viele hatten davon Sie?
hat mein Vertrauen in die Welt zerstört, aber schon irgendwie gehört. Andere taten so, als Kouchner: Repariert man etwas, wenn man
auch die Beziehung zu meinem älteren Bru- ob nichts weiter dabei wäre. Dabei hätten sie jemanden 30 Jahre später ins Gefängnis
der, zu meiner Mutter. Beide wussten ja nicht, es verurteilen, ihn zur Rede stellen oder den steckt? Ich weiß es nicht, ich bin mir da unsi-
was da vorging, und ich musste es für mich Kontakt abbrechen können. Das hätte ich er- cher. Auf der anderen Seite brauchen die Op-
behalten. Ich habe begonnen, mit der Lüge wartet von den Menschen, die ich liebe. fer oft Jahrzehnte, bis sie imstande sind, ihr
zu leben, ich wollte nicht noch mehr kaputt- SPIEGEL: Niemand hat das getan? Schweigen zu brechen. Der Staatsanwalt hat
machen. Das ist das Fatale beim Inzest: Die Kouchner: Einige wenige haben sich von ihm nun trotzdem Ermittlungen angeordnet, um
Täter sind die Menschen, die Sie lieben, die distanziert, aber die meisten machten weiter zu überprüfen, ob es weitere Opfer gab.
Sie nicht verlieren wollen. Ich war gefangen wie bisher. Ihr Schweigen war erbärmlich, SPIEGEL: Ihr leiblicher Vater, der frühere
in diesem Schweigen. aber es hat mich nicht sehr überrascht. Ich Außenminister Bernard Kouchner, ließ über
SPIEGEL: Irgendwann, Jahre später, hat Ihr kannte dieses Milieu gut. Sie schwiegen, weil seine Anwältin mitteilen, er sei sehr stolz auf
Bruder es seiner Frau erzählt. Und ausgerech- mein Stiefvater Macht hatte, wichtig und ein- Sie, »ein bleiernes Geheimnis, das viel zu lan-
net Ihre Mutter, die Feministin, schützte ihren flussreich war. Es geht immer um Machtstruk- ge auf uns lastete, wurde nun glücklicherwei-
Mann, den Täter. Haben Sie das verstanden? turen. Das gilt beim Inzest übrigens auch für se gelüftet«. Er wusste seit 2011 davon, wa-
Kouchner: Wenn ich dafür eine Erklärung andere Milieus: In jeder Familie gibt es eine rum hat er es nicht selbst öffentlich gemacht?
hätte, könnte ich heute besser schlafen. Viel- hierarchische Struktur. Ich bekomme gerade Kouchner: Er war sehr wütend, als er es er-
leicht war sie schon zu erschöpft damals, viele Briefe von Opfern, die dieselben Me- fuhr, und wollte meinem Stiefvater, so sagte
zu müde. Vielleicht hat sie alles durcheinan- chanismen beschreiben, egal in welcher so- er, sofort die Fresse einschlagen. Wir haben
dergebracht und nicht wahrhaben wollen, zialen Klasse. Die Cousins, die Onkel, die ihn gebeten, nichts zu unternehmen. Das hät-
was mein Stiefvater ihrem Sohn angetan Freunde im Dorf sagen nichts, weil sie Angst te zu viel Aufsehen erregt. Ich weiß nicht, ob
hat. vor dem Patriarchen haben. das richtig war. Heute würde ich das wahr-
SPIEGEL: Sie hat ihn sogar verteidigt, er habe SPIEGEL: Und auch mit Ihnen oder Ihrem scheinlich anders sehen.
ihn nicht zum Geschlechtsverkehr gezwun- Bruder hat keiner dieser Freunde, die Sie oft SPIEGEL: Was hat Ihr Bruder zu Ihrem Buch
gen, sondern nur zur oralen Befriedigung. Au- von klein auf kannten, gesprochen? gesagt?
ßerdem sei er schon 15 Jahre alt gewesen. Kouchner: Sehr wenige, aber das kann ich Kouchner: Er war natürlich informiert, ich
Kouchner: Das war ihre Art der Verteidigung. ihnen nicht wirklich vorwerfen. Meine Mut- hatte ihm die erste wie die zweite Fassung zu
Aber was macht es schon für einen Unter- ter sagte allen: Die Kinder wollen damit in lesen gegeben. Für ihn ist es sehr schwer, das
schied, ob man mit 14 oder 15 vom Stiefvater Ruhe gelassen werden, sprecht mit ihnen alles noch einmal zu durchleben. Er hätte
missbraucht wird? Sie sagte mir auch: Wie selbst ein solches Buch wohl nicht geschrie-
hast du mich so täuschen können? Wenn du ben, aber er erkennt mein Recht auf meine
eher etwas erzählt hättest, dann wäre das al- eigene Erzählung an. Für mich war das Schrei-
les nicht passiert. Auch das gehört beim In- ben ein Akt der Befreiung. Ein Inzest raubt
zest oft dazu: die Kinder verantwortlich zu
»Sie hätten ihn zur Rede einem die eigene Kindheit, selbst die glückli-
machen für das Vergehen. stellen oder den Kontakt chen Momente. Diese zu erzählen war übri-
SPIEGEL: Ihre Tante, die Schauspielerin gens am schwierigsten.
Marie-France Pisier, war die Einzige, die sich
abbrechen können. SPIEGEL: Madame Kouchner, wir danken
aufbäumte. Sie bekniete Ihre Mutter, ihren Aber es geschah nichts.« Ihnen für dieses Gespräch. ■
Altersklasse French-Open-Gewinnerin
Iga Świątek
50 Titel gingen
nach der Zulassung von
Profis bei den Grand-
Flavia Pennetta, mit 33 Jahren
die beim ersten Grand-Slam-
Titelgewinn älteste Spielerin
Slam-Turnieren im Jahr 30
Kerry Jana
Clive Brunskill /
1968 an Spielerinnen, die
Getty Images
Reid Novotná
davor noch keines der
vier prestigeträchtigsten
Tennisturniere gewonnen 25
hatten. Wir zeigen die
Titeldebütantinnen nach Virginia
Alter, Turnieren und Wade
dem Jahr ihres ersten
Titelgewinns. 20
Steffi
US Open Tracy Graf Monica Iga Świątek
Wimbledon Austin Seles
French Open
15
Alter
Australian Open Martina Hingis, mit 16 Jahren Serena Williams gewann bis heute
und 3 Monaten die jüngste 23 Grand-Slam-Titel, mehr als jede
der Gewinnerinnen andere Spielerin seit 1968.
Mit 19 Jahren gewann Iga Świątek die French Open 2020. Die Polin war eine der jüngsten Siegerinnen in der Grand-Slam-Geschichte.
In den Achtziger- und Neunzigerjahren gab es mit Martina Hingis, Monica Seles oder Steffi Graf noch jüngere Gewinnerinnen. Nach
2000 siegten viele erfahrene Spielerinnen. 2019 holte mit Bianca Andreescu bei den US Open erstmals seit 2004 wieder eine Teenagerin
ihren ersten Grand-Slam-Titel. Świątek gehört bei den am Sonntag kommender Woche beginnenden French Open zu den Favoritinnen.
Dominik Sommerfeld
Geldgeber Ponomarev: »Ich habe noch nie so ein Monster in der Kabine gesehen«
einer Gesellschaft auf Zypern war – hinter war eine ungewohnte Vorstellung«, sagt zichten. Doch Ponomarev holte den nächsten
der Ponomarev steckte. Das stimme so nicht, Maroh heute, aber die Verantwortlichen hät- Star: Jan Kirchhoff, heute Gläubiger mit
gehe aber auch niemanden etwas an, teilte ten schnelle Aufstiege versprochen. ausstehenden Forderungen in Höhe von
der Geschäftsmann dem SPIEGEL dazu mit. Zudem stimmte das Geld. Maroh sagte zu. 65 000 Euro.
Ponomarev wollte »alles selbst steuern«, Gleich beim ersten Training folgte die Ernüch- Kirchhoff, 30, hat bei Bayern und Schalke,
wie er einmal sagte. Wie bedeutungs- und terung: »Ist das hier wirklich unsere Umklei- in der Champions League und der Premier
machtlos sein Geschäftsführer Nikolas Wein- dekabine?« Die Duschen hätten ausgesehen, League gespielt. Als das Angebot aus Uerdin-
hart neben ihm gewesen sein muss, offenbart als hätte dort schon Friedhelm Funkel, Uer- gen kam, lief sein Vertrag beim Zweitliga-
der Spitzname, den ihm die eigene Mann- dinger Leistungsträger in den Achtzigerjah- absteiger Magdeburg aus. Ihn reizte das
schaft gab: »der Fahrer«. Auf eine Anfrage ren, gebraust. An manchen Tagen fiel die Hei- Geld. Obwohl ihm ein befreundeter KFC-
des SPIEGEL reagierte Weinhart nicht. Statt- zung aus, das Wasser blieb kalt. Maroh wun- Spieler davon abriet, unterschrieb er den Ver-
dessen antwortete Ponomarev auch in seinem derte sich, dass Ponomarev hohe Gehälter trag. »Ich habe gedacht, dass die Qualität im
Namen; sie hätten schließlich immer alles versprach und alles andere verkommen ließ. Kader hoch genug ist und man mit dem neu-
gemeinsam entschieden. Der Platz im Grotenburg-Stadion? »Ein en Trainerteam eine Wagenburgmentalität
Zum Uerdinger Team gehörten Fußballer Acker«, so Maroh. »Irgendwann haben wir entwickeln könnte, um trotzdem erfolgreich
mit großen Namen, die auf den letzten Me- auf den Dörfern trainiert.« Die kleinen Verei- zu sein«, sagt Kirchhoff.
tern ihrer Karriere mit ungewöhnlich hohen ne freuten sich, für den vermeintlich großen Aber daraus wurde nichts. Klubchef Pono-
Drittligagehältern geködert wurden. Selbst KFC die Pforten zu öffnen. Sie präparierten marev ließ regelmäßig Trainer feuern und
den Weltmeister Kevin Großkreutz und den den Platz und kochten den Spielern Kaffee. Spieler suspendieren. Zuweilen soll er bei sei-
Champions-League-Sieger Stefan Effenberg, Ein Hauch von Kreisliga für Profis mit nen energischen Auftritten angetrunken ge-
der ab Oktober 2019 für 227 Tage als Sport- 30 000 Euro Monatsgehalt. Immer wieder wesen sein. Eine Frage des SPIEGEL zu sei-
direktor beim KFC Uerdingen tätig war, zog wich das Team in eine Soccerhalle aus. »Links nem Alkoholkonsum nennt er »dumm und
es nach Krefeld. war ein Kindergeburtstag, rechts war ein Jung- unethisch«. In einer Sprachnachricht, die im
Auch für Dominic Maroh schien die Aus- gesellenabschied oder eine Firmenfeier, in der September 2019 an die Öffentlichkeit geriet
sicht auf einen letzten lukrativen Vertrag ver- Mitte hatten wir unser Feld«, sagt Maroh. und für Aufregung sorgte, erzählte der KFC-
lockend. Jetzt ist er laut Insolvenzplan ein Im Team rumorte es. Die Fußballer stellten Spieler Manuel Konrad von einem Kabinen-
Gläubiger mit ausstehenden Forderungen, die zunehmend fest, dass ihre Gehälter nicht ausraster nach einem Spiel. Ponomarev habe
sich auf rund 340 000 Euro summieren. Der überwiesen wurden oder verspätet auf dem gewütet, geschimpft, Spieler und Trainer be-
Innenverteidiger hat sechs Jahre lang beim Konto eingingen. »›Bei mir ist noch nichts leidigt. »Ich habe noch nie so ein Monster in
1. FC Köln gespielt, galt bei den Fans als »Fuß- drauf‹, dieser Satz fiel immer häufiger in der der Kabine gesehen«, sagt Konrad in der
ballgott«, war slowenischer Nationalspieler. Kabine«, sagt Maroh. Die ersten Großver- Nachricht, »hätte der ein Messer gehabt, der
Dann lief sein Vertrag aus, und Uerdingen diener unter den Spielern wurden zur Klub- hätte uns gemetzelt.« Profifußball sei »kein
rief an. Von der ersten in die dritte Liga? »Das führung beordert, sie sollten auf Gehalt ver- Kindergarten«, sagt Ponomarev dazu auf
Anfrage. Konrads Nachricht nennt er »wenig Geld gerichtlich hinterherrennen«, sagt er.
erfreulich«, aber »ich habe ihm vergeben«.
Ponomarevs Der Jurist kennt die Fußballwelt seit Jahr-
Irgendwann erkannte Ponomarev wohl, Niederlagen vor dem zehnten, »aber ein solch krasses Verhalten«
dass es im Verein weder Prestige noch Geld wie das von Ponomarevs Klubführung habe
zu holen gab. 2019 sagte er noch, er plane
Arbeitsgericht er selten erlebt. »Die Verantwortlichen wer-
langfristig. 2020 bereitete er seinen Ausstieg sind gut dokumentiert. den sich intensiven rechtlichen Überprüfun-
vor. Dank nachsichtiger Sonderregeln des gen stellen müssen.« Die Krefelder Staatsan-
Deutschen Fußball-Bundes drohte insolven- waltschaft teilt mit, sie prüfe die Vorgänge
ten Vereinen in Coronazeiten kein Zwangs- rund um die Insolvenz des KFC Uerdingen.
abstieg, statt neun gab es zudem nur drei 500 Euro, dann geht das an die Substanz«, Die Berichte ehemaliger Spieler zeigen,
Punkte Abzug. Die Zahlungsunfähigkeit sagt ein Ex-Profi. Aus dem Spielerkreis heißt dass dem Verein offenbar jedes Mittel recht
wurde für den Verein zum Problemlöser: es, die Fußballer hätten Angst gehabt, »weil war, um an Geld zu gelangen. Besonders pro-
Uerdingen musste keine Schulden mehr be- Herr Ponomarev einfach den Daumen sen- blematisch ist eine Episode zu Beginn der
dienen und konnte neu starten. ken konnte, und dann war man raus oder be- Pandemie. Dominic Maroh und Jan Kirchhoff
In einem Schreiben vom 25. August 2020 kam kein Geld mehr«. zufolge habe die Chefetage vom Staat Kurz-
wies die Geschäftsführung Maroh auf die Tatsächlich lässt Ponomarev auf Anfrage arbeitergeld beantragt und die Spieler an-
Pandemie hin und erklärte, sein Gehalt wer- durchblicken, dass er Verträge nicht als feste gehalten, auf Stundenzetteln 100 Prozent
de halbiert. »Wir bitten um Ihr Verständnis«. Vereinbarung ansah, sondern eher als leis- Kurzarbeit anzugeben, also null Stunden
Maroh klagte. Ein Arbeitsgericht urteilte spä- tungsabhängige Verhandlungsmasse. Wenn Arbeitszeit. Derweil hätten sie Laufpläne und
ter, die einseitig verkündete Gehaltsreduzie- ein Spieler ein »klares Ungleichgewicht zwi- Trainingsaufgaben nach Hause geschickt be-
rung um 50 Prozent sei »rechtlich ohne Be- schen Qualität und Gehalt« offenbart habe, kommen und schließlich auch wieder das
deutung«. seien Vertragsänderungen diskutiert worden. Mannschaftstraining fortgesetzt.
Insolvenzverwalter Claus-Peter Kruth »Was ist daran ungewöhnlich?«, fragt er in sei- Ponomarev weist diese Darstellung zurück
gelangt in seiner Analyse zu dem Urteil, ner Stellungnahme gegenüber dem SPIEGEL, und beschuldigt seinerseits Spieler, sich
Uerdingen sei »schon seit geraumer Zeit in der er ehemalige Spieler der Lüge bezich- Sozialleistungen erschlichen haben zu wollen.
nicht ausreichend finanziert« gewesen, die tigt. Viele Zahlen in der Analyse des Insol- Ex-Profis erzählen, dass sie damals Anwälte
Insolvenz sei »nicht maßgeblich« durch die venzverwalters, darunter auch der Gesamt- angeheuert hätten, um sich beraten zu lassen.
Pandemie verursacht. Trotzdem beantrag- schuldenstand, seien nicht korrekt, teilt Pono- »Die Stundenzettel haben wir dann mit der
te der Verein, demnach wohl zu Unrecht, marev mit. Genauer begründet er das nicht: korrekten Stundenzahl ausgefüllt«, sagt
Coronahilfen vom Bund und erhielt rund »Das ist doch sinnlos.« Kirchhoff.
770 000 Euro. Ponomarev teilt mit, zum Seine vielen Niederlagen vor dem Arbeits- Dem noch amtierenden Geschäftsführer
Zeitpunkt des Antrags habe noch keine In- gericht gegen geprellte Spieler und Trainer Weinhart und seinem ehemaligen Kollegen
solvenz gedroht. Trotzdem fordert das Bun- sind gut dokumentiert. Trotzdem behauptet Frank Strüver droht nun wie ihrem Ex-Boss
desverwaltungsamt die Summe mittlerweile Ponomarev, es habe vor der aktuellen Saison ein juristisches Nachspiel. Weil sie die von
zurück. Der Großteil der Steuergelder dürfte »nie auch nur eine einzige Verzögerung bei Ponomarevs Patronatserklärung abhängige
verloren sein. den Gehaltsauszahlungen gegeben«. Dabei KFC Uerdingen 05 Fußball GmbH verant-
Es ist indes schwer zu sagen, wann der weigerte sich selbst das Krefelder Mannschafts- worteten, hätten sie ausstehende Zahlungen
Verein selbst zuletzt zahlungsfähig war. hotel mitunter, Uerdinger Spielern ein Zimmer vor Gericht bringen müssen, erklärt Kletke.
Denn jahrelang war der KFC über eine Pa- zu geben, weil noch Zahlungen des Vereins »Wenn sie das nicht getan haben, setzen sie
tronatserklärung von Ponomarev abhängig. ausstanden. Ein Busunternehmen wollte die sich dem Verdacht aus, Vermögensbetreu-
In einem Papier mit der Überschrift »Com- Mannschaft mal wegen offener Rechnungen ungsinteressen der GmbH verletzt zu haben.«
fort Letter« erklärte Ponomarev, etwaige nicht zum Auswärtsspiel fahren. Weder Strüver noch Weinhart äußerten sich
Schulden des Vereins stets auszugleichen. Der Frankfurter Anwalt Horst Kletke hat zu den Vorwürfen.
Kruth konstatierte dem Drittligisten Gesamt- zahlreiche Mandanten gegen den KFC ver- Dominic Maroh hat bereits im März Straf-
verbindlichkeiten in Höhe von fast zehn Mil- treten. »In vielen Fällen musste man seinem anzeige gegen die Ex-Geschäftsführung
lionen Euro. Eigene Vermögenswerte, so bi- wegen Insolvenzverschleppung gestellt. Der
lanziert er in seinem Insolvenzplan, besitze Spieler leidet unter dem emotionalen Knacks,
der KFC nicht. Die Geschäftsausstattung den das Krefelder Chaos seiner Fußballer-
habe bei einer Liquidation einen Gegenwert karriere zugefügt habe. »Ich habe mich oft
von 1500 Euro. Auf einem PayPal-Konto für die Außendarstellung und Wahrnehmung
seien noch 2585,94 Euro zu finden. des Vereins sowie für die Verantwortlichen
Die mangelhafte Zahlungsmoral zeigt geschämt«, sagt der Innenverteidiger.
sich bei den von Kruth zusammengestell- Marohs Anzeige werde nicht das einzige
ten Gläubigern. Finanzamt: 374 000 Euro; Verfahren bleiben, prognostiziert Kletke: »Es
Kevin Großkreutz: 470 000 Euro; ausste- wird Schadensersatzklagen gegen die frühere
hende Sozialabgaben: 2,4 Millionen Euro. Geschäftsführung sowie Herrn Ponomarev
»Die Insolvenzschuldnerin führte Sozialab- geben.« Vom SPIEGEL darauf angesprochen,
gaben häufig verspätet und teils lediglich antwortet Ponomarev: »Das ist mir egal. Ich
auf Vollstreckungsdruck bzw. im Wege der weiß, dass das kompletter Unsinn ist.«
Zwangsvollstreckung über das Hauptzoll- Ponomarev hat seine Anteile inzwischen
amt ab«, berichtet Kruth. an eine Investorengruppe aus Armenien ver-
UNITED ARCHIVES / SZ Photo
Wenig überraschend also, dass die Uer- kauft, die den Spielbetrieb mit einem Darle-
dinger hinter den Erwartungen ihres Patrons hen aufrechterhält. Sie stieg schon bei Verei-
zurückblieben und nicht in die Zweite Bun- nen in Armenien, Lettland und Italien ein.
desliga aufstiegen. »Wenn du auf einmal ein Einer der Klubs hat zwischenzeitlich seine
Schreiben bekommst, dass der Arbeitgeber Lizenz verloren.
dich von der Krankenkasse abgemeldet hat, Malte Born, Rafael Buschmann,
und du bekommst einen Gehaltszettel über Profi Maroh bei Niederrheinpokal-Finale 2019 Christoph Winterbach, Michael Wulzinger ■
w
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
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Kolbert, 59, ist Sachbuchautorin und Notizbuch und Ihr Aufnahmegerät Kolbert: Ja, aber auch Monsterkarp-
schreibt für das US-Magazin »The waren voller Blut und Schleim, und fen sind zu Beginn ihres Lebens win-
New Yorker«. Als Expertin für Um- Sie hatten das Gefühl, Hunderte an zig, sie passen überall durch, und so
weltthemen wurde sie vor allem durch Bord sterbende asiatische Karpfen entkamen bald einige von ihnen aus
ihren Bestseller »Das sechste Sterben« würden Sie vorwurfsvoll anschauen. den Fischfarmen. Sie haben hier kei-
bekannt, in dem sie den drohenden Wie kam es dazu? ne natürlichen Feinde. Jetzt leben sie
Niedergang der biologischen Vielfalt Kolbert: Die Tiere sind ein Beispiel zu Tausenden im Mississippi und sei-
auf der Erde beschreibt. 2015 gewann dafür, wie ein gut gemeinter Eingriff nen Nebenflüssen, sie fressen heimi-
sie dafür den Pulitzerpreis. Ihr neues von Menschen in die Natur fürchter- schen Arten die Nahrung weg und
Buch erscheint im August in deutscher lich schiefgeht. Die Karpfen wurden vertilgen vom Aussterben bedrohte
Übersetzung*. Kolbert lebt in Wil- in den 1960er-Jahren aus China in die Muscheln. Und sie könnten in die
liamstown, Massachusetts.
M. Scott Brauer / Guardian / eyevine / laif
USA importiert. Damals begann sich Großen Seen vordringen, die größte
die Erkenntnis durchzusetzen, dass Süßwasserfläche der Erde. Das wäre
SPIEGEL: Frau Kolbert, während der wir die Umwelt nicht mit Chemie ver- verheerend.
Recherche für Ihr neues Buch saßen seuchen sollten, etwa mit den Pesti- SPIEGEL: Und deswegen versucht
Sie in einem Fischerboot auf einem ziden, die in Aquakulturen gegen man, sie vorher zu töten?
See bei Chicago. Ihre Kleidung, Ihr Algen zum Einsatz kamen. Asiatische Kolbert: Es gibt regelmäßig Fang-
Karpfen sind sehr gefräßig, sie sollten aktionen wie jene, an der ich teilge-
* Elizabeth Kolbert: »Wir Klimawandler. Wie der
Mensch die Natur der Zukunft erschafft«. Suhr-
als biologische Schädlingsbekämpfer nommen habe. Außerdem wurden in
kamp/Insel; 250 Seiten; 25 Euro. das Plankton in Schach halten. Teilen des Chicago River elektrische
Das Gespräch führte die Redakteurin Julia Koch. SPIEGEL: Das klingt vernünftig. Autorin Kolbert Barrieren eingerichtet – jetzt ist der
Fluss dort für Menschen lebensge- timeter lang und von irisierendem sind das Back-up für den Fall, dass
fährlich. Solche Abwehrmaßnahmen Blau. Er hat einen Riesenkopf im ihre Artgenossen ganz aus ihrem na-
kosten Hunderte Millionen Dollar. Verhältnis zum Körper und große türlichen Lebensraum verschwinden.
Die Karpfen selbst können zudem schwarze Augen. Wären diese Fische Sie sind aber auch eine Stockholm-
Menschen schwer verletzen: Sie ha- größer, wären sie wirklich spektaku- Spezies.
ben die Angewohnheit, hoch aus dem lär. Außerdem sind Wüstenkärpflinge SPIEGEL: Was ist das?
Wasser zu springen, wenn sie aufge- die wohl seltensten Fische der Welt. Kolbert: So nenne ich Tierarten, die
schreckt werden. Ein Exemplar wiegt Sie leben im Devils Hole, einem komplett abhängig von Menschen
bis zu 40 Kilogramm. In so einem Teich am Grund einer Höhle am Ran- sind, angelehnt an das Stockholm-
Karpfensturm, der wirklich beeindru- de des Death Valley in der Mojave- Syndrom bei Entführungen. Devils
ckend ist, können sich Menschen die Wüste in Nevada – und sonst nir- Hole ist sehr beeindruckend, während
Knochen brechen. An den Karpfen gends auf der Welt. Die Höhle bildet seine Betonversion ziemlich hässlich
sehen wir, wie biologische Kontrolle den Eingang zu einem Grundwasser- ist. Dort herrscht die totale Kontrol-
ihrerseits außer Kontrolle gerät. leiter, der weit unter die Erdoberflä- le. Temperatur, Salz- und Sauerstoff-
SPIEGEL: In China gehen die Karp- che reicht, und der Teich ist wahr- gehalt und pH-Wert des Wassers kön-
fenbestände zurück … scheinlich das weltweit kleinste Ver- nen genauestens justiert werden, ins-
Kolbert: Das ist noch so eine Ironie breitungsgebiet eines Wirbeltiers. gesamt 80 verschiedene Parameter,
dabei. In Chinas Fischfarmen gibt es SPIEGEL: Haben Sie die Fische selbst damit es den Fischen gut geht. Die
massenweise asiatische Karpfen, da gesehen? Indoor-Population muss außerdem
sie dort – anders als in den USA – Kolbert: Ja, aber ihr Bassin ist regelmäßig von Hand von bestimm-
gern gegessen werden. In freier Natur strengstens geschützt, außer den Wis- ten Käfern befreit werden, weil diese
aber sinkt ihre Zahl, weil Staudämme senschaftlern, die mich freundlicher- sonst die Larven der Fische fressen.
jene Wanderrouten versperren, die weise mitgenommen haben, kommt Ihren natürlichen Lebensraum wer-
sie im Laufe ihrer Fortpflanzung nut- niemand in die Nähe. In den 1970er- den diese Wüstenkärpflinge wohl nie-
zen. Die Karpfen sind Werkzeuge Jahren wurde Wasser aus dem Teich mals erleben.
menschlicher Eingriffe in Ökosyste- abgepumpt, und die sinkenden Pegel SPIEGEL: Dass Arten aussterben, ist
me und zugleich deren Opfer. sind den Fischen nicht gut bekom- ein natürlicher Prozess in der Erd-
SPIEGEL: Die »Kontrolle der Kontrol- men. Es wurden immer weniger. Seit geschichte. Warum akzeptiert man
le«, wie Sie es nennen, ist der rote 2013 leben deshalb auch Wüsten- angesichts solchen Aufwands nicht,
Faden in Ihrem Buch: ein Muster, das kärpflinge in der Ash Meadows Fish Bedrohte Art dass der Wüstenkärpfling ausstirbt?
Sie überall im Zusammenspiel von Conservation Facility: einem künst- Beutelmarder, Import- Kolbert: Es gibt Gesetze, die Erhal-
tier Agakröte: »Sie
Mensch und Umwelt erkennen. Was lichen Devils Hole wenige Kilometer beißen in alles hinein, tungspläne für bedrohte Arten ver-
verstehen Sie darunter? entfernt vom echten. Diese Fische was ihnen begegnet« langen. Die Behörden können sie
Kolbert: Wir dominieren den Plane- nicht einfach aufgeben. Deshalb wird
ten in nie gekanntem Ausmaß. Wenn in besonders gefährdete Arten oft
man nur die Biomasse betrachtet, ma- besonders viel Geld investiert. Noch
chen Menschen achtmal so viel aus entscheidender ist aber eine sehr
wie wilde Säugetiere. Nimmt man menschliche Schwäche: Wenn wir
noch unsere Nutztiere dazu, vor al- Bilder vor Augen haben von den
lem Rinder und Schweine, ist das Ver- wirklich letzten drei Exemplaren ei-
hältnis sogar 21:1. Unsere Eingriffe in ner bestimmten Art, bauen wir eine
die Natur haben grundlegende geo- emotionale Verbindung zu diesen In-
chemische Kreisläufe wie Kohlen- dividuen auf. Die Menschheit möchte
Sean Crane / Minden Pictures / ddp
stoff- und Stickstoffzyklus dauerhaft einfach nicht der Asteroid sein, der
verändert und sehr viele Tier- und das Leben auf der Erde auslöscht wie
Pflanzenarten den Lebensraum ge- bei den Dinosauriern.
kostet. Viele Konsequenzen unseres SPIEGEL: Stattdessen will der Mensch
Einflusses gefallen uns nicht, also sogar über evolutionäre Prozesse
beschließen wir, noch mehr zu inter- herrschen, wie Sie an einem weiteren
venieren, um sie abzumildern. Beispiel beschreiben. Was ist assis-
SPIEGEL: Wäre es besser, wir ließen tierte Evolution?
die Natur in Ruhe? Kolbert: Lebewesen passen sich ver-
Kolbert: Das ist ein Luxus, den wir änderten Bedingungen an, Trocken-
uns nicht mehr leisten können. Wir heit oder der Anwesenheit von Fress-
können moderne Technologien zum feinden. Nur dauert das eben sehr
Schutz bedrohter Arten ablehnen, lange, und wir verändern die Welt
aber davon kriegen wir die Natur, sehr schnell. Was, wenn wir solche
wie sie einst war, auch nicht zurück. Prozesse beschleunigen könnten,
Wir erleben jetzt ein neues Kapitel um bestimmte Arten vor dem Unter-
Stephen Bridger / Alamy / mauritius images
Reef in Australien gemacht. Diese schen die Möglichkeit, sehr gezielt nicht schnell genug ausreichend
hitzefesten Superkorallen könnten ins Erbgut einzugreifen. Sie können In Gefahr Kohlendioxid aus der Atmosphäre
die Riffe vor dem Untergang be- bestimmte Abschnitte einfach heraus- verschwinden, um die Erderwär-
wahren. schneiden oder andere einsetzen. Bei bekannte Arten mung zu stoppen. Manche Forscher
SPIEGEL: Und, funktioniert es? der Agakröte geht es um eine abge- davon bedroht glauben deshalb, dass wir die Erde
Kolbert: Das weiß man noch nicht ge- schwächte Version der Amphibien: abkühlen müssen – mittels solaren
Reptilien,
nau, die ersten Freisetzungsversuche Die Wissenschaftler wollen mittels Amphibien,
Geoengineerings. Dabei würden win-
laufen. Die Wissenschaftlerinnen, mit Genschere eine weniger giftige Ver- Fische zige Partikel in die Stratosphäre ge-
denen ich gesprochen habe, etwa sion der Kröte erschaffen. Sie würde 37.709 bracht, die das Sonnenlicht reflektie-
Madeleine van Oppen vom Austra- Beutelmarder und andere Raubtiere 7110
ren. Es würde kühler auf der Erde
lian Institute of Marine Science, ha- immer noch krank machen, wenn sie werden, aber der Himmel würde
ben die Hoffnung, dass wir mit der sie äßen, wäre aber nicht mehr töd- Vögel dann auch an klaren Tagen milchig
Technologie wenigstens Zeit gewin- lich. Fortan, so die Hoffnung, würden 11.158 aussehen – nicht mehr blau.
nen. Noch wachsen die meisten wi- immer mehr Tiere einen Bogen um 1481 SPIEGEL: Halten Sie das für eine gute
derständigen Korallen im größten diese Beute machen. Idee?
Säugetiere
Testaquarium der Welt, dem »Natio- SPIEGEL: Dennoch wären die Kröten Kolbert: Das ist ja die große Frage
5940
nal Sea Simulator« im australischen noch da … meines Buchs: Können neue Techno-
Townsville. Kolbert: Ja, aber viele andere Metho- 1323 logien die Welt besser machen, oder
SPIEGEL: Noch schneller könnte es den, sie loszuwerden, sind bereits S Quelle: IUNC; Stand: 2021 machen wir weiterhin damit alles
mit der gesteuerten Evolution gehen, fehlgeschlagen. Es gibt auch Überle- noch schlimmer? Wir könnten in eine
wenn wir das Erbgut bestimmter gungen, Gene zu verändern, die für Situation geraten, wo wir keine an-
Lebewesen gezielt veränderten. Auch die Fortpflanzung maßgeblich sind, dere Möglichkeit haben, als die Son-
dazu hat der Mensch Werkzeuge ent- sodass die Kröten unfruchtbar wür- ne zu verdunkeln. Deshalb argumen-
wickelt – und will sie unter anderem den. Es gibt Projekte, die auf diese tieren einige Wissenschaftler damit,
einsetzen, um sich selbst gemachte Weise die Mäuse auf manchen Inseln dass diese Option zumindest so weit
Probleme vom Hals zu schaffen. ausrotten wollen, wo sie viel Schaden erforscht sein sollte, dass wir in der
Kolbert: Richtig. Eine dieser Ge- anrichten. Im Prinzip kann der Lage sind, gegebenenfalls eine Ent-
schichten beginnt wieder mit dem Mensch mit dieser Technologie jede scheidung darüber zu treffen. Kritiker
Versuch einer biologischen Schäd- Spezies gezielt aussterben lassen. halten die Idee andererseits für sehr
lingskontrolle, die verheerende Fol- SPIEGEL: Das tut er ja sowieso gefährlich.
gen hatte. Vor fast 100 Jahren im- schon, wenn auch weniger zielgenau. SPIEGEL: Würden Sie dem Eindruck
portierte Australien Agakröten aus Ist es auf diese Weise nicht noch zustimmen, dass die Kernbotschaft
Südamerika. Sie sollten einen Käfer gruseliger? Ihres Buchs ist, dass die Erde einfach
beseitigen, der Zuckerrohrpflanzen Kolbert: Natürlich kann dabei auch besser dran wäre ohne uns Men-
wegfraß. Seither haben sich die Am- viel schiefgehen. Theoretisch könnte schen?
phibien in Australien ausgebreitet, eine solche genetische Manipulation Kolbert: Aus der Perspektive vieler
es gibt viele Millionen von ihnen. die Maus komplett von der Erde ver- Tierarten – natürlich. Im vergan-
Eine einzelne Kröte kann 30 000 schwinden lassen. Viele Menschen genen Frühjahr haben wir ja zu Be-
Eier legen. finden das zu Recht furchterregend. ginn der Pandemie gesehen, was es
SPIEGEL: Warum ist das ein Pro- Aber diese Technologien sind da, und bedeuten kann, wenn die Menschen
blem? mögliche Anwendungen werden er- nicht ständig überall hinreisen. Die
Kolbert: Agakröten sind sehr giftig. forscht. Luft wurde klarer, die Reproduk-
Und weil die Kröten sich erst seit ver- SPIEGEL: Das gilt auch für eine ande- tionsrate von Nashörnern stieg an.
gleichsweise kurzer Zeit in Australien re Idee, die Sie in Ihrem Buch be- Vielen Spezies ginge es besser, wenn
ausbreiten, konnten endemische schreiben. Eine Möglichkeit, die Erd- wir nicht ihren Lebensraum ein-
Raubtiere keine Resistenzen gegen erwärmung rechtzeitig zu stoppen, nehmen und ihre Nahrung konsumie-
ihr Gift entwickeln – und auch nicht liege darin, das Sonnenlicht zu dim- ren würden. Ich kam mir bei den
Korallenbleiche im
lernen, sie zu meiden, weil sie meist men. Wie soll das gehen? Great Barrier Reef:
Recherchen oft vor wie in einer
gleich nach dem Verzehr der Kröte Kolbert: Selbst wenn wir unsere Können Superkorallen schwarzen Komödie. Wir Menschen
sterben. Es ist sozusagen das Gegen- Emissionen auf null setzen, würde die Riffe retten? stolpern, oft mit guten Absichten,
teil der Karpfenmisere. Karpfen scha- stets von einem Problem in ein
den dem Ökosystem, weil kein ein- schlimmeres.
heimisches Tier sie frisst, Kröten tun SPIEGEL: Niemals mehr den blauen
das, weil so viele sie fressen. Himmel sehen zu können – wäre das
SPIEGEL: Das heißt, die Agakröte ver- nicht eine psychische Herausforde-
giftet Australiens Tierwelt? rung für den Menschen?
Kolbert: Teile davon, ja. Das bekann- Kolbert: Der Effekt wäre wohl nur
teste Beispiel sind die Beutelmarder. an sehr klaren Tagen zu sehen. Das
Das sind niedliche Tiere mit weiß ge- CO in der Atmosphäre ist dagegen
²
punktetem Fell. Sie sind sehr angriffs- unsichtbar. Hätten wir früher gehan-
lustig und beißen in alles hinein, was delt, wenn wir es sehen könnten? Für
Brett Monroe Garner / Getty Images
ihnen begegnet. Inzwischen gelten mich ist der milchige Himmel eine
sie als stark gefährdet, vor allem we- Metapher für unseren Einfluss auf
gen der Agakröten. die Natur. Schaut her, scheint sie zu
SPIEGEL: Wo kommt da die Gentech- sagen, wir können sogar die Farbe
nik ins Spiel? des Himmels verändern.
Kolbert: Mit sogenannten Gensche- SPIEGEL: Frau Kolbert, wir danken
ren haben Wissenschaftler inzwi- Ihnen für dieses Gespräch. ■
NOAA/GML,
deutenden Einfluss auf das Klima der richt, könne mit bereits jetzt vorhan- Stand: 5. Mai 2021 rikanische Autos.
Leckagen sind alltäglich im Perm- Einsparpotenziale beim Methanausstoß bis 2030 und jede einzelne ist eine Methan-
becken und überall dort, wo Öl und schleuder. Bei der Zersetzung organi-
Gas gefördert werden. Mal sind es ÖL- UND GASGEWINNUNG schen Abfalls bilden sich bedeutende
Risse in Pipelines, mal kaputte Ven- Mengen sogenannten Deponiegases,
tile oder altersschwache Pumpen. Ge-
ringe Investitionen, so heißt es im
Unep-Bericht, könnten solche Lecks
41–82
M I O . TO N N E N /JA H R
das rund zur Hälfte aus CH besteht.
4
Bislang verflüchtigt sich das meiste
Müllmethan in die Atmosphäre –
schließen und dabei den Absatz für dabei könnte auch dieses ohne allzu
die Firmen merklich steigern; je hö- große Mühe aufgefangen und zu
her die Energiepreise, desto höher einem wertvollen Rohstoff aufberei-
würde der Anreiz für die Unterneh- tet werden.
men, sauber zu arbeiten. In Kraftwerken lässt sich mit ihm
Die Unep-Autoren empfehlen den Strom und Wärme erzeugen, es kann
Firmen, mehr von dem herumvaga- aber auch dem gewöhnlichen Erdgas
nen des Gases in der Gemeinschaft Autoren, die Zahl der Rinder, Schafe
bis 2030 um bis zu 37 Prozent gegen- und Ziegen rasch zu reduzieren. Die
über 2005 gemindert werden. Menschheit solle sich an eine Ernäh-
Fortschritte bei Satelliten und Mess- rung mit weniger Fleisch und Milch-
geräten an Bord von Flugzeugen, produkten gewöhnen.
Drohnen oder Straßenfahrzeugen MÜLLDEPONIEN Möglich wäre dies, gesünder wäre
machen den CH -Austritt sichtbar. es auch, die globalen Vorlieben wei-
4
Im Oktober kommenden Jahres
soll der Erdbeobachtungssatellit »Me-
thaneSAT« seine Arbeit aufnehmen,
30
M I O . TO N N E N /JA H R
sen allerdings in die gegenteilige Rich-
tung. Wer bringt den Leuten bei, we-
niger Methanburger zu verspeisen?
ein Gemeinschaftsprojekt einer ame- Aber die Menschheit habe keine
rikanischen Umweltgruppe und der Wahl mehr, schreiben die Experten
Weltraumorganisation von Neusee- im Unep-Bericht. Wenn sich die Welt
land. Das Gerät, das von der Firma bei ihren Klimaanstrengungen einzig
SpaceX in die Umlaufbahn geschos- auf CO versteife, könne sie das Pari-
²
sen wird, soll die Erdoberfläche sys- ser 1,5-Grad-Ziel nur verfehlen.
tematisch nach Methanemissionen Sollten die Staaten das Methan
absuchen. jetzt nicht aktiv bekämpfen, auch das
So können selbst kleine Methan- geht aus dem Unep-Bericht hervor,
lecks geortet und notorische Ver- dann bleibe es beim menschenge-
schmutzer an den Pranger gestellt machten Trend der vergangenen
werden. Die Zeiten sind vorbei, in 15 Jahre: Seit 2006 steigt der Gehalt
Delil Souleiman / afp
»Der Schmerz kommt ist«, sagt sie. Sie sagen: Rettungswagen oder
Hubschrauber, das sei doch egal. Hauptsache,
dass sie überlebt habe.
* Die Krankheit kommt in Wellen. Oft folgt, kaum dass sich ein
Damals, in der Zeit vor ihrer Covid-Erkran- Organ erholt, schon der nächste Schlag.
kung, war Severine Joordens in Kreuzrath
als »Jetsetterin« bekannt. Alle im Dorf wuss- dens’ zwölfjähriger Sohn; sie fühlte sich zu nicht darin zu heilen. Ihr Ziel sei es vielmehr,
ten: Jede Woche einmal packte sie ihr Köf- diesem Zeitpunkt bereits zu schwach dafür. den Körper der Patienten so lange am Leben
ferchen und flog nach Wien. Sie nahm dort Dem Sohn hat sich das Bild, wie sie die zu erhalten, bis er stark genug ist, sich selbst
Unterricht bei der großen amerikanischen kraftlos auf der Trage Liegende in den Kran- zu kurieren.
Opernsängerin Grace Bumbry. kenwagen schieben, ins Gedächtnis einge- Kersten ist Oberarzt in der Aachener Uni-
Auch sonst war Joordens’ Alltag vom Ge- brannt. Einige Wochen lang dachte er, dass klinik. Er spricht schnell und konzentriert. Er
sang bestimmt. Sie dirigierte ihren Chor, gab dies womöglich das Letzte war, was er von darf sich keinen Moment der Achtlosigkeit
Stimmbildungskurse, und manchmal organi- seiner Mutter gesehen hat. erlauben. Jederzeit muss er bereit sein, Ent-
sierte sie auch Konzerte in der ausgebauten Die Klinik in Heinsberg, in die die Patien- scheidungen zu treffen, die Leben oder Tod
Scheune daheim. Dass gerade Singen das In- tin aus Kreuzrath eingeliefert wurde, befand bedeuten können.
fektionsrisiko drastisch erhöht, daran dachte sich im Ausnahmezustand. Unvermittelt war Trotz aller Betriebsamkeit und Hektik
damals kaum jemand. Joordens in ein Epizentrum der Pandemie ge- fühlt sich Kersten am Krankenbett manchmal
Die Coronapandemie war den Menschen raten. »Es war wie im Krieg«, sagt sie. Es machtlos. »Wir unterstützen den Patienten
in Kreuzrath unvermittelt nahe gerückt; denn herrschte Hektik. Betten mit Kranken stan- durch die Therapie im Heilungsprozess«, sagt
in einem Nachbardorf in ihrem Kreis Heins- den auf den Gängen herum. Die Kranken- er, »haben in bestimmten Situationen aber
berg, nur fünf Kilometer entfernt, war es bei schwestern waren gereizt. wenig Mittel, um aktiv die Heilung zu för-
einer Karneval-Kappensitzung zum ersten Sie war schwach, erschöpft, fühlte sich ver- dern. Oft müssen wir den Verlauf abwarten.
großen Ausbruch in Deutschland gekommen. lassen und vergessen. Ihre Kraft reichte noch, Das ist schwer auszuhalten.«
Trotzdem verlief der Alltag noch weitgehend eine Nachricht an eine Freundin ins Handy Bei Covid-Patienten dauert das Warten
unverändert. zu tippen. Die Botschaft war wirr, irgendwie oft vier, fünf Wochen, manchmal länger. Die
Ihre Infektion muss sie sich bei der Chor- ging es ums Sterben. Der Mann dieser Freun- Krankheit kommt in Wellen. Anfangs gilt es,
probe am Mittwoch, dem 4. März, zugezogen din, selbst Arzt, rief beunruhigt in der Klinik die Beatmung richtig einzustellen: stark ge-
haben. Eine der Teilnehmerinnen hustete, an. Erst daraufhin, glaubt Joordens, kam je- nug, damit das Gewebe mit genügend Sauer-
doch niemand dachte sich etwas dabei. Die mand, um nach ihr zu gucken. Doch wer weiß stoff versorgt wird, doch nicht so aggressiv,
Frau hustete immer. Dass der Grund dafür schon genau, was wirklich geschah? Die Er- dass die Lunge Schaden nimmt. Schwerst-
diesmal Corona war, stellte sich erst einige innerung ist verschwommen. kranke Patienten wie Severine Joordens kom-
Tage später heraus. Wenig später verschwinden die Bilder, die men an eine künstliche Lunge. Ihr Blut wird
Am Samstag darauf nahm Joordens noch Joordens geblieben sind, ganz im Nebel. Erst außerhalb des Körpers mit Sauerstoff ange-
an einem Gesangsfestival in den Niederlan- viel später erfährt sie, wie rasant der Sauer- reichert.
den teil. Heute weiß sie, dass sie vermutlich stoffgehalt in ihrem Blut absank. Das Nächste, Doch oft folgt, kaum dass die Lunge sich
ansteckend war. Doch damals verspürte sie was dann kommt, ist diese Stimme, die auf zu erholen beginnt, der nächste Schlag. Erst
noch keinerlei Symptome. Die Kopfschmer- sie einredet. Es dauerte eine Weile, bis sie be- greift die Entzündung auf das Herz über, oder
zen kamen erst am Abend, als die Veranstal- griff, dass Wochen vergangen waren und dass die kreislaufunterstützenden Mittel schädigen
tung schon beendet war. sie nun im Universitätsklinikum Aachen lag. die Niere, dann staut sich das Blut in die
Der weitere Verlauf ihrer Erkrankung war Am Handgelenk trug sie noch immer das Leber zurück, oder der Darm wird durchläs-
ungewöhnlich rasant. Am Sonntagabend setz- Patientenarmband aus Heinsberg. sig für Bakterien. Oft kämpfen die Ärzte an
te das Fieber ein, am Montag stieg es auf fast vielen Fronten zugleich, kaum ist ein Organ
40 Grad, am Dienstag rief Joordens ihren * stabil, verweigert sich ein anderes. »Covid
Hausarzt an. Der riet ihr, sofort einen Kran- »Wir kaufen Zeit«, sagt Alexander Kersten. ist eine Systemerkrankung«, sagt Kersten.
kenwagen zu rufen. Den Notruf machte Joor- Die Aufgabe der Intensivmediziner bestehe Wenn die Ärzte den Kampf verloren geben,
Belieferung
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Imhof-Installation
Eine Familie, viele des Siebenteilers »Mare of East- Belastbarkeit angelangt. Dass chen und familiäre Verwerfung
town« (ab 21. Mai auf Sky) ihre Geschichte trotz trüber eigentlich in eins fallen. Die
Verbrechen haben sich dankenswerterweise Ausgangslage hochspannend ist, Hauptarbeit von Mare besteht
SERIEN Krimis, bei denen das für das Umgekehrte entschie- es Vermisste, Tote, falsch Ver- deshalb darin, das eine wieder
Privatleben der Ermittler in den den: Ihre Serie erzählt ein Fami- dächtigte und ins Recht gesetzte vom anderen zu trennen.
Fall hineinspielt, bei denen der liendrama, in das ein Kriminal- Opfer gibt, liegt am perfekten Dass sie dabei selbst immer wie-
Serienmörder eine Fixierung fall hineinspielt. Polizeibeamtin Setting. In der kleinen Ortschaft der den Überblick verliert,
auf die Kommissarin entwickelt Mare (Kate Winslet in einer Easttown, Pennsylvania, sind was sich gehört und was nicht,
oder die Tochter des Polizeiprä- ihrer besten Rollen) ist mit Mut- Opioidkrise, Teenager-Schwan- macht diesen Serienhybrid
sidenten entführt wird, nerven ter, Tochter und Enkel unter gerschaften und Prostitution aus Krimi und Drama nur noch
in der Regel sehr. Die Macher einem Dach am Rande ihrer derartig verbreitet, dass Verbre- reizvoller. HPI
Mick Rock
hatte spektakuläres Pech mit Mischung aus Unterhaltung und 1980 beschäftigen. Der von
ihren Liveaufnahmen. Obwohl politischem Engagement. Tran und Vu in Gesprächen mit
sie eine begnadete Liveband Can 1975 Die beiden Journalistinnen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
war und oft stundenlang impro- Minh Thu Tran und Vanessa rekonstruierte Fall gilt als erster
visierte, kam nie ein offizielles Strom dahinfließen. Manchmal Vu sprechen seit 2018 über die rassistisch motivierter Mord
Konzertalbum heraus. Als erkennt man einen Song oder Freuden, Nöte und Belange in der Bundesrepublik und ist
die Musiker 1972 in der Kölner ein Riff, dann verschwindet von Menschen mit vietname- für viele vietnamesischstäm-
Sporthalle spielten, wollten es wieder. Gesungen wird nicht, sischen Wurzeln, über ihren mige Deutsche bis heute ein
sie sogar einen Konzertfilm dre- und bisweilen gniedelt die häufig eigenwilligen Blick auf Trauma. Der preisgekrönte
hen – dann fiel das Aufnahme- Gitarre von Michael Karoli die deutsche Gesellschaft. Nun Podcast, in dem unter anderem
gerät aus. etwas zu hartnäckig, aber das erhalten die beiden Podcast- die Mutter einer der 1980
Dass nächste Woche die heißt, auf hohem Niveau zu Macherinnen für ihre Arbeit ermordeten Männer zu Wort
Doppel-CD »Live in Stuttgart klagen, denn niemand klang über den, wie sie es nennen, kommt, schildert auch den
1975« erscheint, ist also durch- in den Siebzigern wie diese ein- »viet-deutschen Alltag« die bislang vergeblichen und, wie
aus ein Ereignis – zumal es zigartige Band. Hauptauszeichnung des Civis die Journalistinnen meinen,
nur die erste Veröffentlichung Krautrock ist diese Musik Medienpreises für Integration, »unglaublich zähen« Kampf um
einer neuen Serie von Can- mitunter genannt worden, weil der traditionell vor allem an einen öffentlichen Gedenkort
Livemitschnitten sein soll, die Can den Engländern mit ihrem Fernseh- und Radioprogramme in Hamburg. HÖB
Irmin Schmidt betreut, das Minimalismus und ihrem moto-
letzte lebende Gründungsmit- rischen Groove so unglaublich
glied von Can. Und tatsäch- deutsch vorkamen. Aber wenn
lich zeigen diese Aufnahmen man diese Musik heute hört,
noch einmal den Wahnsinn, mehr als ein halbes Menschen-
die Pracht und die Schönheit leben später, lässt sich vor allem
von Can. Dies war eine Band, feststellen, wie vollkommen
die ihre Wurzeln im Jazz, diese Band den Zeitgeist jener
in der Neuen Musik und in Jahre eingefangen hat.
den elektronischen Expe- Allzu häufig ist es ja leider
rimenten von Karlheinz Stock- nicht gelungen, so widerstreben-
hausen hatte – die aber vor de Tendenzen zu vereinen wie
Valerie-Siba Rousparast
allem ein fast blindes Einver- den Wunsch nach größtmög-
ständnis im Zusammenspiel licher individueller Freiheit und
entwickelte. nach umfassender Gemein-
»Live in Stuttgart 1975« be- schaft. Bei Can ging es in ein
steht aus fünf langen, namenlo- paar beglückenden Momenten
sen Stücken, die wie ein wilder zusammen. RAP Tran, Vu
und der Berg erwies sich als der Rücken mich wie ein Sparschwein, selbst die Aus-
einer Anakonda.« Doch auch sie hatte ein richtung meiner Gedanken hat etwas von
imago images
ier Prozent. So gering ist der nach der Wiedervereinigung, plötz- melden, könnte also ein »Integra-
V Anteil der Ostdeutschen,
die sich laut einem »Cicero«-
Ranking aus dem Jahr 2019 zu
lich von ihrer Diskursschwäche
erholt?
Man sollte vorsichtig sein, jeden
tionsparadox« sein, wie mein Kolle-
ge Aladin El-Mafaalani die Erhö-
hung des Streitpegels aufgrund von
den wichtigsten 500 Intellektuellen innergesellschaftlichen Konflikt Integrationserfolgen nennt. Die
des Landes zählen dürfen, erhoben entlang der Ost-West-Achse zu ver- neue Artikulationsstärke der Ost-
wurden dafür Reichweite und orten, weil man dann den Osten deutschen wäre ein Zeichen dafür,
Marten Körnder
Medienpräsenz. Der erste Ostdeut- nur in seiner Abweichung versteht, dass sie selbstbewusster ihren Platz
sche taucht erst auf Rang 39 auf, das käme einer Pathologisierung beanspruchen.
es handelt sich um den Liederma- gleich. Aber auffällig ist es schon, Nur machen die Diskutanten des
cher und Dichter Wolf Biermann. Mau, 1968 in dass in den jüngsten Feuilleton- Ostens inhaltlich nicht für Anti-
Wobei der bekanntermaßen schon Rostock geboren, debatten und Twitterstürmen Ost- diskriminierung und Anerkennung
ist Professor für
1976 von der DDR ausgebürgert Soziologie an der deutsche überraschend oft invol- mobil, sondern setzen sich häufig
wurde. Humboldt-Univer- viert waren. davon ab. »Überzogene« Rücksich-
In Wissenschaft, Medien oder sität zu Berlin. Dass im Osten Stimmung ten auf Minderheiten, identitäts-
Kultur sind Ostdeutsche in den Zuletzt ist von ihm gemacht wird, ist nicht neu. Schon politische Vorstöße und die »Will-
das Buch »Lütten
Führungszirkeln seltene Gewächse. Klein. Leben in das Aufkommen der völkischen kommenskultur« werden kritisiert,
Entsprechend schwach sind sie der ostdeutschen Bewegung Pegida ist – begrifflich ebenso wie die Political Correctness
in den großen Debatten vertreten. Transformations- gewagt – als »Emanzipationsbewe- und der Diversitätskult. Hinzu
Nur bei den Themen Diktatur, gesellschaft« gung von rechts« (Jana Hensel) kommt die Kritik am moralisieren-
(Suhrkamp; 2019)
Stasi und Transformationsgeschehen erschienen. gedeutet worden, durch die sich der den Gestus öffentlicher Kommu-
Ost fällt ihnen – naturgemäß – eine Osten beim Westen Gehör verschaf- nikation. Das liest sich wie ein Kata-
eigene Sprecherrolle zu. fen konnte. Und tatsächlich ist die log der Abwehr. Wo kommt das
Seit einiger Zeit ist eine Hand- Anfälligkeit für Nationaltümelei her?
voll Ostdeutscher aber eifrig größer, es herrscht eine problemati-
dabei, heftige und ganz anders ge- sche Elitenskepsis, die Bindung an uffällig an den jüngsten De-
lagerte Debatten anzuzetteln
oder lautstark daran mitzuwirken.
Der ehemalige Bundestagsprä-
die liberalen Werte ist schwächer als
im Westen. Dass viele der jüngeren
Interventionen von einer aufge-
A batten ist erstens, dass die
Beteiligten alle politisch in
der DDR primärsozialisiert wurden.
sident Wolfgang Thierse bezieht klärten Öffentlichkeit als reaktionär Sie teilen, anders als die nachfolgen-
Position bei einem identitäts- wahrgenommen werden, passt gut den Generationen, die Erfahrung
politischen Schattenkampf, der ins Bild. »So isser, der Ossi«, lautete des Staatssozialismus, die eines un-
Schauspieler Jan Josef Liefers wird 2019 ein umstrittener SPIEGEL- geahnten Freiheitsgewinns und die
zum Talkshowgesicht von #alles- Titel. Solche Erklärungen, die sich der Turbotransformation. Die große
dichtmachen, die Linkenpolitikerin am rechten Drall abarbeiten, treffen Zeitenwende durchquert ihre Bio-
Sahra Wagenknecht reitet eine zu – und bleiben dennoch defizitär, grafie, was immerfort zu Rückbezü-
Attacke gegen die »Lifestyle-Lin- zumal es abenteuerlich wäre, Tell- gen führt. Das Abarbeiten an den
ken«. Die Autorin Monika Maron kamp und Thierse in denselben Erblasten der DDR und den Widrig-
überwirft sich mit ihrem Haus- Topf zu werfen; Thierses Kampf keiten der Umbruchsgesellschaft do-
verlag S. Fischer, der Journalist gegen rechtes Denken ist über jeden miniert die großen Lebenskonflikte,
Birk Meinhardt beklagt seinen ver- Zweifel erhaben, auch andere pas- lässt andere Themen verblassen.
stimmten Abschied von der »Süd- sen nicht in diese Ecke. Es ist in der Öffentlichkeit aller-
deutschen Zeitung«, der Maler Einige Naturgemäß liegt jeder Fall an- dings ein Tabu, DDR-Vergleiche
Neo Rauch provoziert mit dem verschanzen ders. Und doch lassen sich Gemein- anzuführen, selbst wenn diese auf
Schmähbild »Der Anbräuner«, der samkeiten erkennen, die im persönlichen Erfahrungen beruhen
Theaterregisseur Frank Castorf sich in der Klischee des notorisch gestrigen und nicht auf die DDR als System
möchte sich in der Coronakrise von Trutzburg der Ostens nicht aufgehen. gemünzt sind. An den Gartenzäu-
Angela Merkel nicht sagen lassen, Das kollektive Hereinholen der nen in Brandenburg oder Thüringen
dass er sich die Hände waschen soll, Erfahrung, Ostdeutschen in die Bundesrepublik gehören derartige Reminiszenzen
und der Schriftsteller Uwe Tellkamp andere ziehen war in gewisser Weise eine migran- zum Standardrepertoire der Alltags-
sinniert über einen »Gesinnungs- tische Erfahrung. Und bei vielen kommunikation.
korridor«. als »Diskurs- migrantischen Communitys brauch- Ähnliche Bezugnahmen auf das
Was ist da los? Zanken Ostdeut- rebellen« te es Zeit, bis sie sich Gehör ver- »Damals« finden sich in fast allen
sche neuerdings besonders gern? schaffen konnten. Dass sich die Ost- postdiktatorischen Gesellschaften.
Haben sie sich, mehr als 30 Jahre durchs Land. deutschen nun verstärkt zu Wort Im öffentlichen Sprechen gilt dieser
vergleichende Blick hingegen als Wo bürger- Ein zweiter Grund für das rebel- wirken sie oft festgefroren und mit
Skandal, selbst wenn er meilenweit lische Verhalten hat damit zu tun, sich selbst beschäftigt.
von der dreisten DDR-2.0-Rhetorik liche Rumpf- dass sich die sozialen Gefüge in Ost Es mangelt im Osten also schlicht
Rechter entfernt ist. Westdeutsche und West nach wie vor unterschei- an urbanen und kosmopolitischen
gehen stets reflexhaft in Vertei-
milieus den. Die Wiedervereinigung war Akademikermilieus, an Meinungs-
digungshaltung: Wer so vergleicht, die DDR eine Mesalliance zweier Ungleicher, eliten sowie an den migrantischen
disqualifiziert sich selbst. nicht nur in politischer Hinsicht. Communitys, die die Wortführer
Angesichts dieser Kollisionen hat
überlebten, Die ostdeutsche Werktätigen- bei Anerkennungsdebatten stellen.
die Journalistin Sabine Rennefanz wirken gesellschaft war sozial und ethnisch Die Assimilation an westliche
in der »Berliner Zeitung« von einer homogen, die Bundesrepublik Bewusstseinsformen hat schon aus
»störrischen Generation« gespro-
sie oft fest- West galt damals schon als plurali- diesen strukturellen Gründen nicht
chen. Die genannten Promis sind gefroren. sierte und durch Zuwanderung voll stattgefunden. Ein Verfassungs-
überaus erfolgreich, aber es rumpelt geprägte Mittelschichtsgesellschaft. patriotismus hat sich im Osten kaum
immer noch beim Einfädeln in die Auch heute sind die neuen herausgebildet. Ostdeutsche, so
Diskursgemeinschaft. Manche wol- kulturellen Mittelschichten als wich- weiß ich aus eigenen Studien, sind
len nicht so sein, wie man es von tigste Träger diskursiver Vorwärts- kritischer als Westdeutsche, wenn
ihnen erwartet, einige verschanzen bewegungen im Osten viel es um ökonomische Ungleichheiten
sich in der Trutzburg der Erfahrung, schmaler – Ostdeutschland ist ein geht, sie tun sich aber schwerer,
andere ziehen neuerdings als »Land der kleinen Leute« geblieben. Diversität anzuerkennen, und sind
»Diskursrebellen« durch das Land. Die einfachen Schichten sind stär- weniger offen gegenüber Migration.
ker besetzt. Der Facharbeiteranteil Jürgen Habermas hat darauf ver-
as kann man abwegig, selbst- etwa ist im Osten mehr als doppelt wiesen, wie wichtig eine inklusive
D bezüglich und sogar gefähr-
lich finden, man sollte aber
die dahinterstehenden biografi-
so groß, bei den hoch qualifizierten
Angestellten, den leitenden Beam-
ten und den freien Berufen klafft
Öffentlichkeit sei, um eine politisch
konfliktreiche Verständigung zu
ermöglichen. Es existiert aber eine
schen Erfahrungsschichten berück- immer noch eine Lücke zwischen geradezu dramatische »Provinzia-
sichtigen. Es bringt im Osten andere Ost und West. Sozial-ökologische, lisierung des Medienangebots« im
Saiten zum Klingen, wenn etwas modern-bürgerliche und liberale Osten. Gerade erst hat eine Studie
nicht gesagt oder geschrieben wer- Milieus sind im Osten weniger der Otto Brenner Stiftung gezeigt,
den soll, weil es einer falschen Sache verbreitet, wobei die Unterschiede dass die überregionalen Zeitungen
dienen könne. Sprachpolitik für bei den jüngeren Generationen im Osten kaum gelesen werden. Nur
den gesellschaftlichen Fortschritt be- schwächer werden. Wo bürgerliche zweieinhalb Prozent ihrer verkauf-
gegnet man verhalten: Da hallt die Rumpfmilieus die DDR überlebten, ten Auflage bringt die »Süddeutsche
erfahrene Diskrepanz zwischen offi- Zeitung« in Ostdeutschland an die
ziösem und privatem Sprechen in Leute, vermutlich oft an zugezogene
der DDR nach. Man geht leichter in Westler, bei der »FAZ« sind es
Opposition. Aus den vielen falschen 3,4 Prozent. Bei den Wochenpubli-
Kompromissen, die einem einst kationen, dem SPIEGEL (3,4 Pro-
abgenötigt wurden, ist eine Institu- zent) oder der »Zeit« (6 Prozent),
tionendistanz und Skepsis gegen- sieht es übrigens nicht besser aus.
über moralisch richtiger Gesinnung Vieles von dem, was in Diskur-
hervorgegangen. So hat etwa der sen der kollektiven Selbstaufklä-
ostdeutsche Theater- und Filmregis- rung dient, läuft deshalb einfach am
seur Leander Haußmann jüngst im Osten vorbei. Die Themensetzun-
SPIEGEL bekannt, dass er auf mis- gen in den Zeitungen bleiben auf
sionarische Belehrung mit Rebellion das gebildete Publikum im Westen
reagiere, obwohl Dinge gut begrün- zugeschnitten, der Autor der Studie,
det sein können. Lutz Mükke, attestiert ihnen sogar
Sich selbst attestieren Ostdeut- eine »belehrende Distanz« gegen-
sche dabei feine Antennen für über dem Osten. Soweit man auf
jede Form von Unterdrückung und die Zeitungslandschaft schaut, kann
Einschränkung der Meinungsfrei- man von einer gespaltenen Öffent-
heit, weniger empfindsam sind sie lichkeit sprechen.
dagegen, wenn es um die Diskrimi-
nierung anderer geht. Zuweilen o prallen Weltsichten und Be-
werden eigene Erfahrungen der
Unterordnung, Gängelung und Dul-
dung auch mit den Ansprüchen
S wusstseinszustände aufeinan-
der, die wenig miteinander zu
tun haben. Wolfgang Thierse wird
anderer Gruppen verrechnet. Die zwar vermutlich wissen, was in der
von Sahra Wagenknecht bemühte »Zeit« steht, denn die öffentlichen
Metapher der »skurrilen Minder- Ostdeutschen sind heute selbstver-
Antonino Bartuccio / Schapowallow
heiten« etwa zieht eine Linie zwi- ständlicher Teil eines gesamtdeut-
schen legitimen und illegitimen schen Diskursraums geworden.
Ansprüchen; Wolfgang Thierse Aber für Themenzuschnitte, Politi-
beklagt sich abgrenzende ethnische sierungen und öffentliches Sprechen
und geschlechtliche Minderheiten macht es einen Unterschied, auf
und Identitäten, die den Gemein- Wandmalerei an der East Side Gallery in Berlin welchen Resonanzraum man sich
sinn zerstörten. bezieht. Sprechende denken in der
fisch völlig neu erfinden, oft dauerte es, ehe 2 (–) Lucinda Riley Die verschwundene 2 (1) Sahra Wagenknecht
sie wieder Grund unter den Füßen spürten. Schwester Goldmann; 22 Euro Die Selbstgerechten Campus; 24,95 Euro
Nur ein Beispiel: Allein die Wortschatz-
erweiterung im Osten umfasste mehrere 3 (2) Judith Hermann 3 (3) Frank Schätzing Was, wenn wir einfach
Tausend Wörter, der Westen lernte gerade Daheim S. Fischer; 21 Euro die Welt retten? Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
mal ein paar Dutzend dazu. Der gesell-
4 (3) Helga Schubert 4 (5) Mai Thi Nguyen-Kim Die kleinste
schaftliche Komplettumbau war kraftrau-
Vom Aufstehen dtv; 22 Euro gemeinsame Wirklichkeit Droemer; 20 Euro
bend, für viele mit dem Gefühl existenziel-
ler Unsicherheit verbunden. Selbst wenn 5 (19) John Grisham 5 (6) Richard David Precht
man froh war, die DDR hinter sich zu las- Der Polizist Heyne; 24 Euro Von der Pflicht Goldmann; 18 Euro
sen – die Erfahrung einer entschwundenen
Gesellschaft hat für ein Immer-wieder-Neu 6 (5) Karsten Dusse Achtsam morden 6 (4) Anne Fleck
nicht empfänglicher gemacht. Heute sind am Rande der Welt Heyne; 20 Euro Energy! dtv; 25 Euro
weite Teile der ostdeutschen Vor-Ort-Gesell- 7 (4) Martin Walker 7 (8) Robert Marc Lehmann
schaft veränderungserschöpft, Festhaltemen- Französisches Roulette Diogenes; 24 Euro Mission Erde Ludwig; 24 Euro
talitäten sind entstanden.
Der Aufbruch in eine pluralere und 8 (7) Benedict Wells 8 (7) Horst Lichter
diversere Gesellschaft mit immer neuen Hard Land Diogenes; 24 Euro Ich bin dann mal still Knaur Balance; 18 Euro
Anerkennungsansprüchen fällt schwer,
9 (6) Amanda Gorman 9 (10) Sylvain Tesson
von manchen Veränderungen fühlen sich
The Hill We Climb Hoffmann und Campe; 10 Euro Der Schneeleopard Rowohlt; 20 Euro
einige schlicht überrollt. Angesichts neuer
identitätspolitischer Diskurse greift man 10 (–) Irvin D. Yalom / Marilyn Yalom 10 (9) Marc Friedrich Die größte Chance
unwillkürlich in die Speichen, um den Wan- Unzertrennlich btb; 22 Euro aller Zeiten Finanzbuch; 22 Euro
del zu verlangsamen.
Soziologisch erkennt man Spannungen 11 (11) Alena Schröder Junge Frau, am Fenster 11 (11) Natalie Amiri
zweier Teilgesellschaften, die politischen stehend, Abendlicht, blaues Kleid dtv; 22 Euro Zwischen den Welten Aufbau; 22 Euro
Sensibilitäten liegen oft weit auseinander. 12 (10) Carsten Henn 12 (–) Götz Aly
Es gibt Ungleichzeitigkeiten, ja durchaus Der Buchspazierer Pendo; 14 Euro Das Prachtboot S. Fischer; 21 Euro
Inkompatibilitäten, sozialer Erfahrungen
und lebensweltlicher Bezüge, die bis heute 13 (8) Susanne Abel 13 (19) Maja Göpel
anhalten. So gesehen könnten diese öffent- Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Unsere Welt neu denken Ullstein; 17,99 Euro
lichen Konflikte durchaus als Spätfolgen
des Vereinigungsprozesses verstanden wer- 14 (12) Ewald Arenz 14 (–) Billie Eilish
Der große Sommer DuMont; 20 Euro Billie Eilish Piper; 20 Euro
den. Im nationalen Taumel ist man damals
oft über das Trennende hinweggegangen 15 (13) Matt Haig 15 (15) Sophie Passmann
und hat jede tiefer gehende Kontroverse Die Mitternachtsbibliothek Droemer; 20 Euro Komplett Gänsehaut Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
vermieden. Ziel war damals das friktions-
lose Hereinholen der Ostdeutschen in die 16 (9) Steffen Kopetzky 16 (20) Marco Maurer
westdeutsche Modellgesellschaft, möglichst Monschau Rowohlt Berlin; 22 Euro Meine italienische Reise Prestel; 26 Euro
ohne Rückwirkungen auf eigene Selbst- 17 (15) Sebastian Fitzek 17 (14) Isabel Allende
verständnisse. Wenn einige Streithähne des Der Heimweg Droemer; 22,99 Euro Was wir Frauen wollen Suhrkamp; 18 Euro
Ostens heute besonders laut krähen, hat
das auch genau damit zu tun. 18 (–) Christoph Hein 18 (18) Barack Obama
In seiner Rede zum 30. Jahrestag Guldenberg Suhrkamp; 23 Euro Ein verheißenes Land Penguin; 42 Euro
der Wiedervereinigung sprach der Bundes-
präsident von einem Paradox. Zur deut- 19 (20) Marc Elsberg 19 (–) Gerald Hüther
schen Einheit fiel ihm auf: »Wir sind noch Der Fall des Präsidenten Blanvalet; 24 Euro Lieblosigkeit macht krank Herder; 18 Euro
längst nicht so weit, wie wir sein sollten.« 20 (18) Christian Kracht 20 (–) Ferdinand von Schirach / Alexander Kluge
Er fügte sogleich klug hinzu: »Wir sind Eurotrash Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Trotzdem Luchterhand; 8 Euro
gleichzeitig viel weiter, als wir denken.«
Beidem kann man zustimmen. ■ Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller
Frederike Wetzels
Musiker Canani im März
sind gekommen«, zitiert er Max nani. »Die Deutschen konnten zwar »Damals länger. Canani holte erst seine Frau,
Frisch – und denkt ihn weiter: »Die die Texte verstehen, aber die Musik dann seinen Sohn, der bei Oma und
Kinder dieser Menschen sind geteilt war ihnen zu orientalisch.« nannte man Opa aufgewachsen war. Canani woll-
in zwei Welten / Ich bin Ata und frage In der Republik, in der er als Kind uns Gast- te eigentlich nicht nach Deutschland,
Euch, wo wir jetzt hingehören.« Ein ankam, hatte sich die Willkommens- sagt er, dennoch habe er als Kind in
türkischer Gastarbeitersohn, der im kultur der Fünfziger- und Sechziger-
arbeiter, dann Bremerhaven die beste Zeit seines
deutschen Fernsehen im Abendpro- jahre, als Millionen billige Arbeits- waren wir Lebens verbracht. Rassismus, sagt er,
gramm einen kritischen Song singt – kräfte aus Südeuropa, später auch aus die Ausländer, habe er dort nicht erlebt. Er hatte sei-
das war neu. der Türkei gerufen wurden, längst ne erste Freundin und plauderte mit
Die »deutschen Freunde«, sagt verbraucht. Sie war im Zuge der Öl- jetzt nennt netten Rentnerinnen im Park. Das
Canani heute, das waren damals die krise und des Anwerbestopps von man uns gute Deutsch, das er dabei lernte,
Politiker in der Hauptstadt Bonn. 1973 teils in passive Aggressivität, Migranten.« habe ihm geholfen, auf die Realschule
Man könnte seine Frage heute noch wenn nicht sogar in offene Feind- zu kommen, nicht nur auf die Haupt-
genauso den Entscheidern der Berli- seligkeit gegenüber den Gästen um- schule, wo viele seiner türkischen
ner Republik stellen. »Damals, in den geschlagen: Man brauchte sie nicht Altersgenossen landeten.
Siebzigern, nannte man uns Gastar- mehr, hätte sie am liebsten zurück Trotzdem muss auch er sich zu-
beiter, dann waren wir die Ausländer, nach Hause geschickt. nächst als Hilfsarbeiter verdingen,
jetzt nennt man uns Migranten«, sagt Viele gingen tatsächlich wieder. höhere Bildung und bessere Jobs wa-
er mit leisem Spott. Einige nahmen ab Mitte der Achtzi- ren für Migranten schwer zu erlangen.
Vielleicht wirk