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M a r k Sc h w e da

Im Zweifel für den Angeklagten


Odo Marquards Apologie der Moderne aus dem Geist der Skepsis

Odo Marquard: nenen Bändchen, seinem sechsten in Reclams gel-


Skepsis in der Moderne, ber Universal-Bibliothek, wiederholt, bestätigt und
Stuttgart: Reclam 2007, ergänzt Marquard in acht zwischen 1993 und 2007
128 S. ent standenen Texten die Einsichten und Überle-
gungen, die ihn bei der Ent wick lung dieser Position
geleitet haben.
In einer Glasvitrine des Heimatmuseums Lucken- Der autobiographischen Darstellung kommt
walde hängt, neben einem alten Holzpaddel, dabei eine besondere Bedeutung zu. Marquard hat
Whiskyflaschen aus VEB-Produktion und anderen oft betont, daß Lebenserfahrung für ihn eine inne-
historischen Pretiosen der Regionalkultur, der Rin- re Bedingung allen Philosophierens bildet. Im Ge-
gelpullover von Rudi Dutschke. Nicht nur das spräch mit Jens Hacke bekräftigt er seine Überzeu-
mediale Interesse läßt vermuten, daß dem Anblick gung, man könne keine Philosophie wirklich haben,
zur Zeit eine gewisse sinnbildliche Qualität abzu- ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Ant-
gewinnen ist. Denn noch wäh rend die erinnerungs- wort ist. Entsprechend stellt das Autobiographische
politisch einschlägigen 40. Jahrestage abgefeiert bei ihm nie ein bloß randständiges Genre dar, das
werden und verstreichen, ist eines bereits deutlich der eigent lichen systematischen Darlegung philoso-
geworden: Die Ideen und Ziele, in deren Licht die phischer Zusammenhänge äußerlich bliebe. Es ver-
gesellschaftliche und staat liche Ordnung der Bun- kör pert vielmehr in seiner narrativen Struktur eine
desrepublik um 1968 vielfach in Verdacht geriet der wesentlichen Vollzugs- und Nachvollzugs-
und unter Anklage gestellt wurde, sind längst formen des Marquardschen Denkens selbst, worin
selbst in die bundesrepublikanische Geschichte indirekt auch ein Bekenntnis zur Partikularität und
eingegangen, sei es als kulturell eingemeindeter Kontingenz seiner Ausgangslage und Stoßrichtung
Traditionsbestand oder als museal ausgemustertes liegt. So zählt sich Marquard, in Hinterpommern
Kuriosum. geboren, an einer nationalsozialistischen Kader-
Unter diesen Vorzeichen trifft es sich, daß mit schmiede nach eigenem Bekunden «solide ausgebil-
Skepsis in der Moderne zum An fang des Jahres eine det einzig in Weltfremdheit» und als Flak helfer so-
neue Sammlung Philosophischer Studien von Odo wie im ‹Volkssturm› noch in die Wirrnisse der
Marquard vorlag, eben falls einem Jubilar übrigens, letzten Kriegswochen hineingeraten, rückblickend
der im Februar seinen 80. Geburtstag beging. Wäh- zu jener ‹skeptischen Generation›, die nach Helmut
rend man nämlich an der ‹Spitze des Fortschritts› Schelsky den Zusammenbruch des ‹Dritten Reichs›
noch bis weit in die 70er Jahre hinein damit be- und die mit ihm einhergehende Erfahrung ideolo-
schäf tigt war, eine Legitimitätskrise des Spätkapita- gischer Ernüchterung zu einem grundsätzlichen
lismus zu diagnostizieren und den Historischen Mißtrauen gegenüber hochfl iegendem politischen
Materialismus zu rekonstruieren, buchstabierte Idealismus und um fassenden weltanschaulichen
der Gießener Philosoph schon in heiter gelassenem Orientierungen verarbeitet hat. Auf diese Weise
Duktus die Grundzüge jenes «Modernitätstradi- gewissermaßen schon per Weltlauf auf die skep-
tionalismus» aus, der sich in seiner ebenso fun- tische Bahn gebracht, nahm Marquard 1947 das
damentalismus- wie perfektionismusfreien Wert- Studium der Philosophie in Münster auf und wurde,
schätzung der bürgerlichen Welt heute geradezu angezogen durch Joachim Ritters Ästhetik vor-
als das den bundesrepubli kanischen Binnenverhäl- lesungen, einer der ersten Teilnehmer des Ritter-
tnissen philosophisch auf den Leib geschnittene schen Collegium Philosophicum und damit Grün-
Selbstverständnis ausnimmt. In dem jüngst erschie- dungsmitglied jenes Kreises von Gelehr ten, der als

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Mark Schweda: Im Zweifel für den Angeklagten

Ritter-Schule eine prägende Wirkung auf die Philo- die des hellenistischen Skeptizismus, der Argu-
sophie der Bundesrepublik entfalten sollte. mentationstechniken zur langfristigen Wahrung
Mochte Marquard sich zunächst noch innerhalb dogmatischer Abstinenz durch Herstellung welt-
des thematischen Horizontes bewegt haben, den anschaulicher Gleichgewichtslagen entwickelte.
sein philosophischer Lehrer zwischen praktischer Naheliegenderweise zeigt Marquard eine größere
Philosophie aristotelischer Prägung und hegelscher Affi nität zu seiner pyrrhonischen Spielart als zum
Geschichtsphilosophie aufspannte: Spätestens in ‹negativen Dogmatismus› der mittleren platoni-
der Dissertation des 26-Jährigen, an deren lebens- schen Akademie. Denn der Pyrrhonismus nimmt
und zeitgeschichtliche Entstehungsbedingungen die eigene Skepsis selbst nicht von der skeptischen
die Rede zum goldenen Doktorjubiläum erinnert, Relativierung aus und empfiehlt darum, sich in
nimmt die Skepsis dann auch theoretisch eine zen- Ermangelung letztgültigen Orientierungswissens
trale Stellung ein. Zwar wird sie hier noch primär alltagspraktisch an das ohnehin schon Geltende,
methodologisch bestimmt, wobei das Verfahren das Hergebrachte und Konventionelle zu halten.
Kants, die Vernunft auf spekulativem Feld gezielt Von hier aus ergeben sich Bezüge zur cartesia-
in Antinomien zu verwickeln, um so die Haltlo- nischen ‹morale par provision›, jenem Set an Com-
sigkeit ihres transzendenten Gebrauchs deutlich mon Sense-kompatiblen Verhaltensregeln, mit dem
werden zu lassen, auf Kant selbst angewandt Descartes den Zeitraum bis zur defi nitiven wis-
wird, vor allem auf die im Laufe seiner Wirkungs- senschaftlichen Begründung auch der Moral zu
geschichte formulierten Metaphysikauffassungen überbrücken gedachte, sowie zu den fran zösischen
und Geschichtsbegriffe. Allerdings mißlingt es Moralisten und englischen Aufklärern und ihrer
Marquard angesichts der Fülle der dabei auf tau- ‹teilnehmenden Beobachtung› faktisch gelebter
chenden und einander widerstreitenden Selbst-, menschlicher Sitten und Gebräuche.
Welt- und Kantverständnisse meisterlich, sich auf Den entscheidenden Anstoß zur systematischen
einen einzigen Standpunkt festzulegen. Er gerät ins Entfaltung dieses bodenständig konser vativen
Schwimmen und treibt so schon über das Metho- Moments scheint Marquard wiederum aus der
dische hinaus einem «Skeptizismus als Position im geschicht lichen Wirklichkeit selbst empfangen zu
nautischen Sinn» entgegen. Dabei mochte auch die haben: Es dürfte vor allem die Auseinandersetzung
Idee steuern, die Philosophiegeschichte könnte das mit der 68er-Bewegung und ihrer Infragestellung
geeignete Medium bilden, um sich in dogmatischer der bürgerlichen Verfaßtheit der Bundesrepublik im
Hinsicht in eine gleichsam schwerelose Lage zu Namen vermeintlich ungleich großartigerer politi-
versetzen: ein fl ießendes und insofern doch wohl scher Entwürfe gewesen sein, in deren Zuge er zum
auch irgendwie flüssiges Element, in dem man sich erklärten Modernitätstraditionalisten wurde. Im
dem Auf und Ab philosophischer Gedanken im Blick auf ‹68› hat Marquard nicht nur in Abwand-
Wechsel der Strömungen überlassen kann, ohne an lung Freuds die Formel vom «nachträglichen Un-
einem bestimmten hängen bleiben und fortan nur gehorsam» geprägt, mit der die gesamte Bewegung
ihn vertreten zu müssen. sozialpsychologisch kurzerhand zu einer Art kol-
Freilich hat Marquards «interimistischer Skepti- lektiver Übersprung handlung erklärt wird. Er hat
zismus» unterdessen längst festen Boden unter die auch ihren ideengeschichtlichen Hintergrund aus-
Füße bekommen und ist so selbst zu einem eigen- geleuchtet und dabei die ideologischen Spätausläu-
en Standpunkt geworden, auf dem der Skepti- fer einer Geschichtsphilosophie kenntlich gemacht,
ker sich zugleich in mehr als eine altehr würdige deren hochgespannte Erwar tungen den Menschen
philosophische Tradition stellt. Beispielsweise in konstitutionell überfordern und ihm den Istzustand

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Konzept & Kritik

seiner Lebenswirklichkeit verleiden. Im Spannungs- Mann den Grundsatz seines «Mensch heitspatriotis-
feld von Theodizee, Geschichtsphilosophie und mus» formuliert hat: «man liebt den Menschen,
Anthropologie liegt das historisch-systematische weil er es schwer hat – und weil man selbst einer
Gravitationszentrum des Marquardschen Denkens. ist.»
Der Aufsatz Die Krise des Optimismus und die Geburt So tritt die ethische Grundierung der Marquard-
der Geschichtsphilosophie faßt die entscheidenden schen Skepsis hervor, die ihr eine gewisse Ähnlich-
Zusammen hänge noch einmal im Plot einer philo- keit mit dem lebensbewältigungspraktisch ausge-
sophischen Kurzgeschichte zusammen. Demnach richteten Skepti zismus der Antike verleiht. Nicht
ist Leibnizens philosophisches Programm der Recht- von ungefähr lassen Marquards Ausfüh rungen viel-
fertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt fach hellenistische Motive anklingen, etwa in der
spätestens nach dem Erdbeben von Lissabon (1755) etymologisierenden Umdeutung des für uns heute
in ernste Glaubwürdigkeitsprobleme geraten. Aus eher grüblerisch und zerrissen klingenden Wortes
seiner theoretischen Konkursmasse ist durch Ent- «Zweifel» im Sinne jener ausba lancierten Zweiheit,
lassung Gottes und Einsetzung des autonomen die als ‹isosthenes diaphonia› die Vorstufe zum
Menschen in die Schöpferrolle die Geschichts- Lebensziel des antiken Skeptikers bildete: der See-
philosophie entstanden, sozusagen als ein in die lenruhe, verstanden als durch Urteilsent haltung zu
Zeitachse gekipptes und damit unter die Menschen erreichendes inneres Gleichgewicht, das Pyrrhons
gefallenes Säkularisat der Theodizee. Was zuvor in Schüler Ti mon im schönen Bild der Galene faßte,
Form eines Gerichtsprozesses mit Gott verhandelt der Windstille über dem unbewegten Meeresspiegel.
wurde, sollten die Menschen nun im Verlauf des – Andererseits wird wohl niemand in Marquards
Geschichtsprozesses untereinander ausmachen: Ge- philosophischen Essays den vollendeten Ausdruck
lingen oder Mißlingen der Schöpfung. Die Weltge- beispielhaft durchgehaltener Epoché erblickten.
schichte wird das Weltgericht. Das aber kann nach Und tatsäch lich unterscheidet sich sein Skep-
Marquard nicht gut gehen, denn das Wesen, auf das tizismus trotz struktureller Parallelen deutlich von
dabei alles gesetzt wird, ist vor allem eines: endlich. der hellenistischen Skepsis. Marquards Skepsis ist
Sein Leben ist kurz, seine Zeit begrenzt, es kann keineswegs auf Urteilsenthaltung angelegt, sondern
weder alles rechtfertigen noch gar alles verändern, im Gegenteil geradezu auf Urteilsüberschuß: Das
sondern bleibt stets überwiegend an geschicht liche Ziel besteht nicht darin, keine oder bloß eine, son-
Vorgaben gebunden, die es nicht selbst gewählt hat dern mindestens zwei, im Idealfall aber noch mehr
und doch annehmen und nachvollziehen muß. Im Überzeugungen zu haben, die sich gegenseitig in
Blick auf ihre anthropologische Dimension läßt sich Schach halten und dem Einzelnen so einen je be-
Marquards Skepsis wohl am angemessensten als grenzten gedanklichen Spielraum eröffnen. Daß
Philosophie der menschlichen Endlichkeit kenn- mit diesem pluralistischen Motiv bei Marquard
zeichnen, ein Ansatz, der durchaus huma nistisch nicht mehr eine inhaltlich bestimmte Vorstellung
genannt werden kann, sofern man dabei einen von Glückseligkeit im Vordergrund steht, vielmehr
Humanismus vor Augen hat, der nicht mit dem Freiheit, also die Mög lichkeit, sein Glück je indi-
pompösen Gestus politischer Geschichtssinnvoll- viduell zu verfolgen und zu ver wirklichen, dieser
streckung oder Menschheitsbeglückung auf tritt, moderne bzw. «modernitätstraditionalistische», je-
sondern jenes mitfühlende Wissen um die Hin- denfalls zutiefst liberale Zug begründet den Stellen-
fälligkeit des menschlichen Wesens und die Zer- wert seiner skeptischen Philosophie der mensch-
brech lichkeit aller seiner Angelegen heiten und lichen Endlichkeit als Normalphilosophie der alten
Bestrebungen artikuliert, in dem schon Thomas Bundesrepublik: ihre Zeit, in Zweifel gefaßt.

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