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Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Neue Folge
Herausgegeben von
Hermann Kunisch
Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt
34 (158)
Berlin 1970
Die Goten und Skandinavien
von
Rolf Hadimann
Berlin 1970
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
A r d i i v - N r . 43 30 70 8
©
I. Einleitung 1
VI. Anhang
1. Jordanes' Anteil an seiner Gotengeschichte 475
2. Cassiodors Anteil an des Jordanes Gotengeschidite 479
3. Des Ablabius Anteil an des Jordanes Gotengeschichte . . . . 487
4. Frühe antike Nachrichten über die Goten 498
5. Cassiodori Senatoris Variae IX 25 und X 22 499
6. Liste der Grabfunde der vorrömischen Eisenzeit und der
römischen Kaiserzeit in Masowien und Südmasuren . . . . 505
a) Eisenzeitlidie Grabhügel „baltischen" Charakters aus Maso-
wien und Südmasuren 505
b) Gräberfelder der Masowischen Gruppe der jüngeren v o r -
römischen Eisenzeit und der älteren Kaiserzeit 507
VII. Literaturverzeichnis
1. Quellenschriften 517
2. Geschichte und Kulturgeschichte 520
3. Germanistik und Alt-Philologie 530
4. Naturwissenschaften 533
5. Vor- und Frühgeschichte 539
VIII. Abbildungsnachweise 565
I X . Historisch-philologisches Namenregister 569
1
H. Kuhn, Besprechung v. N . Wagner, Getica, u. J. Svennung, Jordanes u.
Scandia, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Literatur 97 (1968) 158.
2
H . Bollnow t . Die Herkunftssagen der germanischen Stämme als Gesdiidits-
quelle, in: Balt. Stud. N . F. 54 (1968) 14—25.
3
O. Kunkel, Hermann Bollnow (1906—1952), in: Balt. Stud. N . F. 49 (1962/
63) 7—11.
XII Vorwort
Das Werden des Buches begleiteten hingegen andere mit neuen An-
regungen. Dankbar gedenke ich hier der zahlreichen abendlichen Dis-
kussionen mit Thomas Finkenstaedt. Seine schnell hingeworfenen Hinweise
führten weiter. Fragen, die in fremde Fachgebiete führten, wurden beant-
wortet. Einwände klärten den eigenen Standpunkt ab. Zustimmung gab
Mut zur Weiterarbeit. Kritik gab Anlaß zu Änderungen im Text. Mit
steter Bewunderung denke ich an das kraftvolle Temperament der Argu-
mente Otto Höflers. Seine Anregungen sprudelten. Seine Einwände
schienen oft zu erdrücken, aber sie haben doch oft schließlich erst auf den
richtigen Wege geführt und gewiß manchen blassen Irrtum noch gerade
rechtzeitig verhindert. Sein intuitives Denken sah Zusammenhänge und
seine universellen Kenntnisse bewiesen sie, wo Verf. ursprünglich zu deren
Dekomposition geneigt war. Weiter waren da die bedachtsamen Erörte-
rungen von Einzelproblemen der Nordistik gemeinsam mit Heinrich Beck,
etliche wertvolle Hinweise auf neuere Literatur und gelegentliche enthu-
siastische Zustimmung von Seiten Friedrich Prinz*. Besonders schätzenswert
war die Hilfe Hans Otto Kröners, der als Kenner des späten Lateins
Cassiodors Varien X 22 und IX 25 neu übersetzte (vgl. unten S. 501 ff. u.
504 f.).
Dennoch wäre die Arbeit ohne andere selbstlose Helfer niemals voll
gelungen. Frauke Stein half beim Sammeln und Sichten des polnischen
Fundstoffes. Sie las das gesamte Manuskript, und sie fand etliche sachliche
Vorwort XIII
5
R. Hadimann, Besprechung von R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung
(1961), in: Hist. Zeitschr. 198 (1964) 663—674.
6
J. Svennung, Zur Geschichte des Goticismus (1967).
7
P. Geyl, Die Diskussion ohne Ende. Auseinandersetzungen mit Historikern
(1958) 1.
Einleitung 3
8
Vgl. O. Kunkel, Baltisdie Studien N . F. 49 (1962—63) 7—11.
8a
N u n m e h r veröffentlicht: H . Bollnow f , Die Herkunftssagen der germanischen
Stämme als Geschichtsquelle, in: Baltisdie Studien N . F. 54 (1968) 14—25.
9
R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961) 462 ff.
1»
4 Einleitung
gegen den historischen Tatsachen die Abkunft eines Stammes aus Skandi-
navien zu behaupten. Daher beruhe die Behauptung des Jordanes „mit
recht großer Sicherheit auf Uberlieferungen, die einen hohen Grad von
Wahrscheinlichkeit besitzen" 10 . Wenskus meinte weiterhin, es gäbe Hin-
weise dafür, daß Leute aus Gotland bei der Bildung des Stammes der
Goten beteiligt gewesen sein müßten 11 . Auf Gotland sei der Ausgangs-
punkt des gotischen Königshauses und damit der der ethnischen Überliefe-
rung zu suchen. Der Umkreis des Zuzuges, der zu der Stammesbildung im
Weichselland wesentlich beigetragen habe, reiche allerdings weiter, min-
destens bis nach Västergötland 12 . Sicher sei „an der unteren Weichsel eine
einheimische Bevölkerung überlagert worden" 13 . Das gotische Königtum
scheine durch die Landnahme an der Weichsel erheblich gestärkt worden
zu sein. „Dadurch erhielt es eine Stabilität, die dem Gotenstamm durch
ungemein weitgehende Umschichtungen hindurch die Kontinuität der hi-
storischen Tradition und damit der ethnischen Existenz sicherte"14. Die
vorsichtige Formulierung der Ereignisse zwischen der Landnahme an der
Weichsel und dem Weiterzug an das Schwarze Meer, die sich bei Jordanes
finde, verrate — meinte Wenskus —, daß „Cassiodor oder Jordanes keine
oder widersprechende Königsreihen vorlagen. Man wird aus dem Ver-
halten der Chronisten schließen dürfen, daß ihnen nicht daran lag, eine
lückenlose Reihe von Königen zu konstruieren, was für die Beurteilung
anderer Stellen wichtig ist" 15 . Wie immer in solchen Fällen, sei übrigens
ein beträchtlicher Teil des Stammes an der unteren Weichsel zurückgeblie-
ben16. Aus ihm hätten sich dann u. a. die Gepiden gebildet.
Wie in der gotischen so glaubte Wenskus auch in der langobardischen
Wandersage echte Überlieferung von ethnosoziologischer Typik unterschei-
den zu können 17 . Die Rechtsgleichungen zwischen skandinavischem und
langobardischem Recht seien zwar nicht ausreichend, um die Heimat der
Langobarden mit Sicherheit auf Gotland anzusetzen, doch genügten sie
seiner Ansicht nach immerhin — und in Verbindung mit ihnen die nor-
dischen Beziehungen im Namengut — als Indizien und als Hinweis auf
das Vorhandensein von echter Überlieferung in der Wandersage. „Audi
in den Angaben über die Form, in der sich die Auswanderung vollzog",
seien glaubhafte Züge festzustellen18.
10
R. Wenskus, a. a. O. 464.
11
R. Wenskus, a. a. O. 464 ff.
12
R. Wenskus, a. a. O. 466.
13
R. Wenskus, a. a. O. 467.
14
R. Wenskus, a. a. O. 468.
15
R. Wenskus, a. a. O. 468.
16
R. Wenskus, a. a. O. 469.
17
R. Wenskus, a. a. O. 485 ff. bes. 487.
18
R. Wenskus, a. a. O. 486.
Einleitung 5
24
J. K . F. Manso, Geschichte d. ostgot. Reichs i. Italien (1824); J. Aschbach,
Geschichte d. Westgoten (1827); H . v. Sybel, D e fontibus libri Jordanis de
origine actuque G e t a r u m (Diss. Berlin 1838); ders., Die Entstehung d. dt.
Königtums (1844, 2 1881); C. Schirren, De ratione quae inter J o r d a n e m et
Cassiodorium intercedat commentatio (Diss. D o r p a t 1858); dazu Besprechung
v. A. v. Gutschmid, in: Jahrbücher f. class. Philologie 8 (1862) 124—151
( = Kleine Schriften 5 [1894] 293—336); A. Helfferidi, Entstehung u. Ge-
schichte d. Westgotenrechts (1858); R . Köpke, Die Anfänge d. Königthums
b. d. Gothen (1859); R . Pallmann, Die Geschichte d. Völkerwanderung v. d.
Gotenbekehrung b. z. T o d Alarichs, 2 Bde. (1863—64); J. Grimm, Über
Jornandes u. d. Geten, in: Kleine Schriften 3 (1866) 171—235; A. Thorbecke,
Cassiodorus Senator (1872); A. Franz, Cassiodorus Senator (1872); F. D a h n ,
Lex Visigothorum. Westgotische Studien (1874); H . Kohl, Zehn Jahre ost-
gotischer Geschichte v. Tode Theoderichs d. Gr. b. z. Erhebung Witigis (1877);
H . Usener, Anecdoton Holderi. Ein Beitrag z. Geschichte Roms i. ostgotischer
Zeit (1877); Th. Mommsen, Jordanis R o m a n a et Getica, i n : Mon. Germ. Hist.
Auct. ant. V, 1 (1882); dazu Besprechung v. C. Schirren, i n : Deutsche Littera-
turzeitung 3 (1882) Sp. 1420—1424; Besprechung v. W. A . [ r n d t ] , in: Litera-
risches Centralblatt f. Deutschland 1883, Sp. 1060—1063; Besprechung von L.
E r h a r d t , in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 2 (1886) 669—708; G. K a u f -
mann, Kritische Untersuchungen d. Quellen z. Geschichte Ulfilas, in: Zeitschr.
f. dt. Altertum 27 (1883) 193—261; T h . Mommsen, Ostgotische Studien, in:
N . Archiv f. ältere dt. Geschichtskunde 14 (1889) 225—249. 453—544; 15
(1890) 181—186; B. R a p p a p o r t , Die Einfälle d. Goten ins römische Reich bis
auf Constantin (1899). — Neueres Schrifttum: C. Vetter, Die Ostgoten u.
Theoderidi (1938); W. Ensslin, Theoderich d. G r o ß e (1947, 2 1959); P. Scar-
digli, Lingua e Storia dei Goti (1964); C. A. Mastrelli, Süll' Origine e sul
N o m e dei Visigoti, in: Archivio Glottologico Italiano 49, 2 (1964) 127—142.
25
L. Bethmann, Die Geschichtsschreibung d. Langobarden, in: Archiv d. Gesell-
schaft f. ältere dt. Geschichtskunde 10 (1851) 335—414; S. Abel, D e r U n t e r -
gang d. Langobardenreichs i. Italien (1858); Fr. Bluhme, Die gens Lan-
gobardorum u. ihre H e r k u n f t (1868); F. D a h n , Des Paulus Diaconus Leben
u. Schriften (1876); R . Jacobi, Die Quellen d. Langobardengeschichte d. P a u -
lus Diaconus (1877); L. Bethmann, G. Waitz u. O . Holder-Egger, Scriptores
Rerum Langobardicarum et Italiacarum saec. V I — I X , in: Mon. Germ. Hist.
(1878); Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengeschichte d. Paulus D i a -
conus, in: N . Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt. Geschichtskunde 5 (1880)
53—103; L. Schmidt, Zur Geschichte d. Langobarden (1885); L. Schmidt, P a u -
lus Diaconus u. d. Origo gentis Langobardorum, in: N . Archiv d. Gesellschaft
f. ältere dt. Geschichtskunde 13 (1888) 391—394; G. Waitz, Zur Frage n. d.
Quellen d. Historia Langobardorum, in: N . Archiv d. Gesellschaft f. ältere dt.
Einleitung 7
klar. War diese Literatur zu positivistisch eingestellt und deswegen für die,
welche den Positivismus „überwunden" zu haben glaubten, etwa anrüchig
geworden 2 '? Was hat das 19. Jahrhundert aber wirklich geleistet? War das
für die Gotengeschichte wenig? Schon früh wurde verschiedentlich der Ver-
such gemacht, in der Gotengeschichte des Jordanes die verschiedenen Be-
arbeitungsschichten zu trennen und die Anteile der einzelnen Autoren
gegeneinander abzusetzen. Zugegeben, keiner dieser Versuche hatte durch-
schlagenden Erfolg; die, welche vor Th. Mommsens Textedition unternom-
men wurden, nicht zuletzt deswegen, weil zu ihrer Zeit eine verläßliche
Textausgabe noch fehlte 2 '; die Edition Mommsens selbst28, weil sie sich
vornehmlich auf die Herstellung eines reinen Textes richtete und es bei
einer Anzahl von Hinweisen auf die Struktur der Quellen beließ. Diese
Verweise sind zwar meist treffend und erbrachten älteren Arbeiten gegen-
über ganz beträchtliche Fortschritte, doch lag es von vornherein nicht in
Mommsens Absicht, die Genesis des Textes bis in alle Einzelheiten und ab-
schließend zu klären. Hier wäre der richtige Ansatz gewesen, um einen
besseren Stand quellenkritischer Durcharbeitung zu erreichen, der gegen-
wärtig zweifellos ebenso möglich ist, wie er zur Zeit Mommsens schon
möglich gewesen wäre. Inzwischen hat man leider ganz übersehen, daß
Mommsen nur e d i e r e n wollte.
bzw. deren Aussagewert. Dabei kümmerte er sich oft wenig um die Art
und Weise und die Qualität der Beweisführung seiner Gewährsleute. Er
betonte — um nur ein paar Beispiele zu nennen —, daß B. Nerman —
also ein Vorgeschichtsforscher — gegen die Herkunft der Goten von der
Insel Gotland eingewandt habe, Könige habe es hier niemals gegeben 2 '.
Wenskus fragte nicht nach detaillierten Beweisen Nermans für dessen Be-
hauptung — die dieser natürlich nicht dem archäologischen Fundgut ent-
nehmen konnte, sondern aus den Sagas und Ortsnamenvergleichen 30 —;
offenbar genügte ihm das Zeugnis eines angesehenen Gelehrten. Im übrigen
folgerte er aber sofort, daß das Fehlen von Königen auf Gotland „gerade
umgekehrt als Hinweis für eine gotländische Heimat des Traditionskerns
[der Goten] benutzt werden" könnte 31 . „Den auf der Insel verbliebenen
Goten fehlte allem Anschein nach die Möglichkeit, im eigenen Lande ein
neues Königtum zu errichten,.. ." 32 . „Möglicherweise ließ die Königssippe
die gotländische Heimat nun ohne König zurück" 33 . Wenskus räumte ein,
die von O. Höfler unterstützte These C. Marstranders, die Bewohner Got-
lands hätten bis ins 6. Jahrhundert gotisch gesprochen, brauche „nicht in
vollem Umfange" zuzutreffen 34 , ohne darauf einzugehen, warum. Sprach-
liche Übereinstimmungen, die E. Schwarz vergeblich zu entwerten ver-
suchte — H . Brinkmann nannte er als Zeugen dafür — deuten nach Wens-
kus deswegen darauf, den Ausgangspunkt des gotischen Königshauses auf
Gotland zu suchen35.
Er betonte weiter, „daß die Traditionskerne der Eroberer- und Wan-
dervölker sich selten im Landnahmegebiet archäologisch erfassen lassen" 38
und zitierte als Zeugen dafür M. Jahn, R. von Uslar und H. J. Eggers 37 ,
sowie O. Menghin, G. Kossinna und K. Bittel 38 , obwohl keiner dieser Ge-
lehrten den Begriff „Traditionskern" kannte, als er das schrieb, worauf
Wenskus Bezug nahm. Er wies — um ein anderes Beispiel zu nennen —
weiter darauf hin, E. C. G. Graf Oxenstierna scheine es doch wohl gelun-
gen zu sein, den „Umkreis des Zuzuges" zu erfassen, „der bei der Stam-
39 R . Wenskus, a. a. O. 467.
40 R . Wenskus, a. a. O. 469.
41 Vgl. M. Jahn, Die Bewaffnung d. Germanen i. d. älteren Eisenzeit etwa v.
700 v. Chr. b. 200 n. Chr. (1916) 208 ff.; J . Kostrzewski. Die ostgerm. Kul-
tur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 139; G. Rosenberg, Hjortspringfundet, in:
Nordiske Fortidsminder III, 1 (1937) 47 f.
42 R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 471 Anm. 256.
43 G. Müller-Kuales, Die Goten, in: H . Reinerth [ H r g . ] , Vorgeschichte d. dt.
Stämme 3. Ostgermanen u. Nordgermanen (1940) 1166 ist eine stark ver-
kürzte Inhaltsangabe der Gotengeschichte des Jordanes. Es heißt dort: „Die
Goten bildeten eine Herrenschicht, die nicht dicht, sondern verstreut saß." —
S. 1167 betont Müller-Kuales: „Sachgemäße [archäologische] Untersuchungen
sind in Südrußland nur wenige gemacht worden." Irrtümlich zählt er M.
Eberts Funde von Maritzyn zum gotischen Fundgut (vgl. M. Ebert, Ausgra-
bungen auf dem Gute Maritzyn, Gouvernement Cherson, in: Prähist. Zeit-
schrift 5 [1913] 1—80).
44 R . Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) zitiert S. 487 W . D.
Asmus' Ansicht, die Jastorf-Kultur Osthannovers sei bereits langobardisdi
und alsbald R . von Uslar als Zeugen dafür, daß diese Annahme ganz unsicher
erscheine und nennt S. 488 Anm. 385 F. Kuchenbudi, G. Körner, W . Wege-
witz und R. von Uslar, S. 490 H . Jankuhn, S. 491 E . Beninger, J . Poulik,
H . Preidel u. H . Mitscha-Märheim mit teilweise höchst widersprüchlichen
Ansichten, denen er nicht auf den Grund ging.
10 Einleitung
Wie Wenskus richtig erkannt hat, präsentiert sich für jeden, der sich
mit dem Ursprung und der frühesten Geschichte der Germanen oder auch
eines einzelnen germanischen Stammes zu beschäftigen beabsichtigt, der
Stamm der Goten als das mit Abstand geeignetste Exempel. Allerdings —
Wenskus' Begründung kann man nicht anerkennen. Er wählte die Goten
hauptsächlich deswegen, „weil hier die einheimische Wandersage erhalten
ist" 45 . Das müßte erst noch genauer überprüft werden, und erst post festum
wird sich zeigen, ob eine solche Begründung berechtigt ist.
Besser ist eine andere Begründung, auf deren Richtigkeit man sich
von vornherein verlassen kann: Die Goten sind d i e germanische Stam-
mesgruppe, deren „Geschichte" am frühesten niedergeschrieben wurde. Das
gibt diesen Aufzeichnungen ihren besonderen Wert: Der bzw. die Verfas-
ser der Gotengeschichte müssen den Ereignissen, von denen sie berichten,
näher gestanden haben als die Autoren anderer Stammesgeschichten. Von
diesen kann die Gotengeschichte deswegen weder direkt noch indirekt ab-
hängig sein.
Am Anfang der Getica des Jordanes steht die Nachricht von der Her-
kunft der Goten aus Scandza. Sie wird danach noch mehrfach wiederholt.
Daß Scandza mit Skandinavien identisch sei, wurde noch niemals in Frage
gestellt. Die ältere römische Ethnographie kannte die Goten hingegen nur
auf dem Festlande. Lediglich Ptolemaios wußte von den Tofitai auf den
skandinavischen Inseln, und erst Prokopios nannte Tou-toi als Bewohner
von ©otiXi], einer „Insel", deren Identität mit Skandinavien nicht zu be-
zweifeln ist. Die verschiedenen Namensformen in einen sicheren Zusam-
menhang zu bringen, macht noch heute Schwierigkeiten. Was steht aber
hinter den Namen? Ist alles e i n Stamm oder sind geringfügige Namens-
unterschiede schon für Stammesunterschiede signifikant? Was ist ein
Stamm, und wie läßt sich schließlich alles in einen sinnvollen historischen
Zusammenhang einfügen? Alles bleibt vage! Nur die Tatsache, daß irgend-
wann Goten im Norden siedelten, ist sicher.
Ins helle Licht der Geschichte traten Goten erst Jahrhunderte später
und an anderer Stelle. Die Zwischenzeit bleibt dunkel. Aber waren es die-
selben Goten bzw. die Nachfahren der anderen, die am Schwarzen Meer
auftauchten? Audi die Goten nördlich des Pontus geben genügend Rätsel
auf.
Wo sind die Goten im Norden archäologisch nachweisbar, im Weich-
selmündungsgebiet? Und welches sind ihre archäologischen Hinterlassen-
schaften in Südrußland und auf dem Balkan? Erst in Italien und in Spa-
nien selbst werden sie besser faßbar 4 '. Von wo aus sollte man das Problem
der frühgotischen Geschichte aufrollen, von Italien, von Südrußland oder
von Norden her? Jeder Weg für sich hätte seine Vorteile. Der letzt-
genannte wohl vor allem den, daß er in Zeiten und Räume führt, deren
archäologisches Fundgut verhältnismäßig gut bekannt ist. Für den Archäo-
logen ist es deswegen leicht, sich für ihn zu entscheiden. Er wählt ihn und
untersucht das Problem der Goten und Skandinavien. Er nimmt dabei
allerdings die nicht geringe Mühe auf sich, die auf den Norden bezogenen
Nachrichten über die Goten — insbesondere die des Jordanes in seinen
Getica — auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen zu müssen. Er nimmt
das Wagnis auf sich, sich ein Urteil von der Brauchbarkeit historischer
Anhaltspunkte über die Herkunft zu bilden, zu prüfen, was die Philologie
von der Heimat der Goten sagt, und kann danach erst zu dem Gebiet
kommen, in dem er sich zu Hause fühlt.
Die Warnung vor einer „gemischten" Argumentation fordert metho-
disch ein bestimmtes Vorgehen. Das muß sich auch in der Darstellung ab-
zeichnen. Dies Buch hat gewissermaßen vier Teile. Drei davon stehen von-
einander weitgehend — wenn auch nicht vollständig — isoliert, m ü s s e n
so stehen; ein historischer, ein philologischer und ein archäologischer Teil.
Die Teile behandeln naturgemäß die drei Problembereiche in unterschied-
licher Ausführlichkeit. Sichtlich stehen rein sprachwissenschaftliche Fragen
ganz im Hintergrund der Betrachtungen. Das schließt nicht aus, daß sie
sich für den Leser — sofern er Germanist ist — unwillkürlich in den Vor-
dergrund drängen könnten 47 . Ein vierter Teil ist mit jedem der drei ande-
ren Teile verbunden, vergleichsweise sogar eng. Er stellt als Versuch einer
Synthese von Geschichte, Philologie und Archäologie eine Art von metho-
dischem Überbau über diese drei Teile dar. Erst hier ist es dem Fachwissen-
schaftler gestattet, zum Nachbarfach zu blicken; nicht nur gestattet, er ist
dazu verpflichtet. Hier d a r f er nicht nur die Teilergebnisse gemeinsam
interpretieren; hier s o l l er es!
IL Probleme der historischen Quellen
1 Th. Mommsen sdirieb Jordanes, obwohl nur die Form Jordanis belegt ist, denn
Jordanes ist die grammatisch richtige Form; vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ.
Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) V. Dazu: Wattenbach-Levison, Deutschlands
Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger 1. W. Levison, Die
Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952) 75 f. — Für
andere Personen desselben Namens sind die Formen Jordanes, Jordannes und
Jordanus belegt. Vgl. M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völ-
kernamen (1911) 148.
16 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
Des Jordanes Niederschrift vom Ursprung und den Taten der Goten
war das ganze Mittelalter hindurch bekannt, wie sich Bibliotheksverzeidi-
nissen entnehmen läßt 4 , und sie ist nicht selten benutzt und ausgeschrieben
worden 5 . Die Grundlage seiner Arbeit, die „Zwölf Bücher gotischer Ge-
schichte", die Cassiodor vielleicht noch im Auftrage des Theoderich wahr-
scheinlich zwischen 5 2 6 und 533 6 verfaßte, gingen vermutlich sdion bald,
nachdem sie Jordanes ausgeliehen und ausgeschrieben hatte, endgültig ver-
loren. In keinem der mittelalterlichen Bibliothekskataloge werden sie
erwähnt. Wahrscheinlich waren sie anders als die übrigen Werke des
Cassiodor nur in wenigen Abschriften — oder gar keiner — verbreitet, je-
denfalls auch dort nicht mehrfach vorhanden und nicht einmal leicht er-
2 Vgl. Th. von Grienberger, Die Vorfahren d. Jordanis, in: Germania. Viertel-
jahrsschr. f. dt. Alterthumskunde 34 (1889) 406—409; J . Friedrich, Über die
kontroversen Fragen im Leben d. gotischen Geschichtsschreibers Jordanes, in:
Sitzungsber. d. philos.-philol. u. hist. Klasse d. K. B. Akademie d. Wissen-
schaften zu München 1907 (1908) 379—442; A. Kappelmacher, Artikel „Jor-
danes", in: Pauly-Wissowa-Kroll, Realenzyklopädie I X , 2 (1916) Sp. 1908
bis 1929. — Gegen die Annahme, Jordanes sei Gote gewesen, neuerdings: Fr.
Altheim, Gesch. d. Hunnen 5 (1962) 25 ff. mit gewagten Namensetymolo-
gien. — Vgl. nunmehr auch zur Frage der Herkunft des Jordanes N. Wag-
ner, Getica. Untersuchungen z. Leben d. Jordanes u. z. frühen Gesch. d. Go-
ten (1967) 4 ff.
3 Vgl. Ravennatis Anonymi Cosmographia ed. M. Pinder und G. Parthey
(1860) 221 u. 422.
* Vgl. M. Manitius, Gesch. d. lat. Literatur d. Mittelalters I, in: I. von Müllers
Handbuch d. Klass. Altertumswissenschaft I X , 2 (1911) 214; ders. ausführ-
licher in: Neues Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 32 (1907) 651 f.
5 Knappe Übersicht über die mittelalterlichen Autoren, die des Jordanes
Schriften benutzten, bei: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1
(1882) X L I V f . u. Anm. 85; J. Svennung, Zur Geschichte d. Goticismus (1967)
26 ff.
6 Dies der Ansatz Mommsens, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X L I .
— Die Vollendung des Werks zu Lebzeiten des Athalarich, der 533 starb,
ergibt sich aus Cassiodor Variae I X 25. — Es spricht vieles dafür, daß fast
alles erst niedergeschrieben wurde, als Theoderich bereits gestorben und sein
Enkel Athalarich zur Regierung gekommen war, denn mehrfach zielt die
Darstellung des Cassiodor auf die Sicherung der Nachfolge Theoderidis und
auf Festigung der Herrschaft des Athalarich.
Probleme der historischen Quellen 17
7
Der Ort, wo Jordanes seine Gotengesdiidite niederschrieb, dürfte auch in Zu-
kunft kontrovers bleiben. Vgl. die gegensätzlichen Zusammenfassungen der
verschiedenen Standpunkte bei W. Martens, Jordanis Gotengesdiidite, in:
Die Geschichtsschreiber d. dt. Vorzeit 5 (»1913) VI—VII; Wattenbach—Le-
vison, Deutschlands Gesdiichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit u. Karolinger 1.
W. Levison, Die Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d. Karolinger (1952)
79—81; N . Wagner, Getica (1967) 48 ff. versucht den Nachweis, Jordanes
müsse sein Werk in Konstantinopel geschrieben haben. Zur denkbaren Zeit der
Abfassung der Getica und der Romana müsse sich Cassiodor in Konstantino-
pel aufgehalten haben. Nur von diesem selbst könne Jordanes dessen Goten-
geschichte erhalten haben, die er in seinem Reisegepäck mitgeführt habe. Diese
Deduktion hängt an einem seidenen Faden: Ist zwingend anzunehmen, daß
Cassiodor, als er sich nach Konstantinopel begab, seine Gotengeschichte mit-
führte? Sollte nicht etwa Jordanes gerade den Verwalter des Cassiodor in
Vivarium um dessen Gotengesdiidite gebeten haben, weil Cassiodor selbst
abwesend war? — Der ganze Problemkomplex der Volkszugehörigkeit des
Jordanes, des Schauplatzes von Jordanes' Leben, der Abfassungszeit seiner
Werke, seines Standes zur Zeit der Abfassung und des Orts der Niederschrift
der Getica von N. Wagner, Getica (1967) 3—57 nochmals an Hand aller wich-
tigen einschlägigen Literatur ausführlich erörtert.
8
Der Jordanes Getica X X I X 151 genannte Favius (so im Text Mommsens;
sechs Handschriften haben fauius, drei andere hingegen fabius) wohl doch
mit Ablabius identisch und ein Abschreibfehler vielleicht schon des Jordanes.
(Vgl. ausführlicher unten S. 70.)
* Bald nach der Gotengesdiidite konnte Jordanes sein Buch De summa tempo-
rum vel origine actibusque gentis Romanorum einem gewissen Vigilius über-
senden. Das war im 24. Regierungsjahr des Justinian (also 551 n. Chr. Geb.),
wie Jordanes selbst sagt (Jordanes Romana 4). Wie lange vorher die Getica
schon fertig vorlagen, das ergibt sich annähernd aus Jordanes' Vorwort, worin
er angibt, er habe die adbreviatio chronicorum, die er gerade unter den Händen
hatte, unterbrochen, um zunächst die Getica zu schreiben (Jordanes Getica 1).
Diese adbreviatio aber ist mit dem Werk De summa temporum ... identisch!
Daß das Buch im wesentlichen im Jahre 551 — allenfalls teilweise 550 —
verfaßt wurde, ergibt sidi auch aus der Erwähnung der Pest der Jahre 541 bis
dessen Geschichtswerk zwischen 573 und 594 entstand, wußte von ihm
jedenfalls nichts. Allerdings bestand für ihn auch kaum ein Anlaß, eine Ge-
schichte der Goten — von wem immer sie verfaßt sein mochte — zur Kennt-
nis zu nehmen, denn weder berührte die Gotengeschichte das Objekt seiner
Interessen, noch interessierte ihn in wesentlichem Umfange die Urge-
schichte der Franken10, für deren Konzeption er allenfalls Anregungen
bei Jordanes hätte finden können11. Auch Gregors Zeitgenosse Isidor
von Sevilla wußte von Jordanes und seiner Gotengeschichte nichts, wie
seine kurze Historia Gothorum, Vandalorum, Sueborum erkennen läßt.
In Italien hingegen müssen die Getica alsbald eine gewisse, wenn auch
vielleicht zunächst verhältnismäßig begrenzte Verbreitung gefunden ha-
ben. Ein geringes Interesse an der Geschichte der Goten muß auch nach
dem Ende ihrer Herrsdiaft noch immer vorhanden gewesen sein. Warum
allerdings das Werk des Jordanes und nicht das ausführlichere — und
wahrscheinlich auch genauere — des Cassiodor verbreitet wurde, das läßt
sich nur dadurch erklären, daß des letzteren Budi s e h r bald verloren
ging. Sicher ist, daß des Jordanes Geschichtswerk bald nach 800 vom unbe-
kannten Kosmographen von Ravenna 12 benutzt wurde. Zwar sind für
die Zwischenzeit unmittelbare Belege für eine Bekanntschaft mit seinem
Buch nicht zu erbringen, doch zeigt eben seine Benutzung durch den Kos-
mographen, daß es vorher bekannt gewesen sein m u ß ; sei es bei in
43, die bei der Abfassung von Jordanes Getica neun Jahre vergangen war. Vgl.
dazu: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XII u. XIV f.;
E. Stein, Histoire du Bas-Empire 2. De la disparition de l'Empire d'Occident
ä la mort de Justinien (476—565) (1949) 841; vgl. ferner N. Wagner, Getica
(1967) 20 ff. bes. 24 f.
10
Die Nadiridit von der Herkunft der Franken aus Pannonien (tradunt enim
multi, eosdem de Pannonia fuisse degressus [Gregor Hist. II 9]) ist ganz bei-
läufig erwähnt und hat innerhalb seines Berichts kein besonderes Gewidit. Daß
v i e l e von der Herkunft der Franken aus Pannonien berichteten, ist kaum
wörtlich zu nehmen. Die Quelle dafür läßt sich nicht ermitteln. Um einen
Auszug aus Renatus Profuturus Frigeridus oder aus Sulpicius Alexander, die
Gregor unmittelbar vorher ausführlich zitiert, kann es sich nicht handeln,
wie der Wortlaut der vorhergehenden Zeilen deutlich erkennen läßt.
11
Deutlich zeigt Gregor Hist. III 31, daß ihm die Getica des Jordanes nicht
vorlagen, denn er schildert hier die Gesdiichte der Amalasuintha und des
Theodahad nach einer sehr schlechten Quelle völlig anders als jener (Jor-
danes Getica LIX).
12
Die Frage, ob bereits der Kosmograph den Jordanes benutzte oder ob nach-
träglich im 9. Jahrhundert Auszüge aus Jordanes in dessen Werk eingefügt
wurden, wie nach dem Vorgange von Mommsen noch M. Manitius, Gesch. d.
lat. Literatur d. Mittelalters 1 (1911) 214 meinte, klärte der Aufsatz von
J. Schnetz, Jordanis beim Geographen von Ravenna, in: Philologus N. F. 35
(1926) 86—100.
Probleme der historischen Quellen 19
13
Zur Datierung des Kosmographen und seines Werks vgl. H. Löwe, Die Her-
kunft d. Bajuwaren, in: Zeitsdlr. f. bayer. Landesgesdi. 15 (1949) 5—67, bes.
8—12.
14
Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus, in: N.
Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschiditskunde 5 (1880) 76: „Cassiodors gothisdie
Geschichte, Jordanes Auszug derselben, können dem Tridentiner Geistlichen
kaum unbekannt geblieben sein." Ders., Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1
(1882) XLIV f.
15
Vgl. R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877)
63—84.
18
G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 2.
2*
20 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
17
Vgl. L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 38 f.
18
L. Schmidt, a. a. O. 9 f. wollte nadiweisen, daß der Text des Modeneser Codex
im allgemeinen bedeutend besser sei und der ursprünglichen Form bedeutend
näher stehe. Vgl. G. Waitz' Bemerkungen in: Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang.
(1878) 1 A n m . 3 .
19
Abhängigkeit von der Origo erstmals erkannt v. L. Bethmann, Die Geschichts-
schreibung der Langobarden, in: Archiv d. Ges. f. ält. dt. Gesdiichtskunde 10
(1851) 351 ff.
20
R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877) 10 f.
meinte, Paulus habe das Scadanan, bzw. Scadan nach Plinius Hist. N a t . IV
13, 96 u. VIII 16, 39 in Scadinavia gebessert. Das anzunehmen, zwingt Paulus
Diaconus Hist. I 2 aber gewiß nicht.
Probleme der historischen Quellen 21
ihrem Sieg über die Wandalen gezogen sein sollen, liegen — jedenfalls
in der Vorstellung des Autors der Origo — irgendwo auf dem Kontinent.
Aber auch formal ist der erste Satz nur locker durch den relativisdien An-
schluß inter quos mit dem nachfolgenden verbunden. Audi ohne eine solche
Verbindung wäre der zweite Satz als Hauptsatz: erat gens parva quae
Winnilis vocabatur durchaus vollständig.
Es sieht also danach aus, als habe der Herkunftsbericht der Langobar-
den ursprünglich mit diesem Satz begonnen und als sei ihm erst nachträg-
lich ein gleidiartig konstruierter Satz vorangestellt worden, der von der
Herkunft aus Skandinavien berichtete.
W. Bruckner kam 1899 auf einem anderen Weg zu einem ganz ähn-
lichen Ergebnis. Er versuchte seinen alten Gedanken 21 , der Origo habe ein
in langobardisdier Sprache gehaltenes, allitterierendes Gedicht als Vorlage
gedient, eingehender zu begründen 28 . Dabei kam er u. a. zu dem Ergebnis,
der Satz: erat gens parva quae Winnilis vocabatur könne der eigentliche
Anfang einer ursprünglichen Origo gewesen sein23. Der Hinweis auf
Skandinavien sei also eine spätere Zutat. Bruckner meinte weiterhin, das
ursprüngliche Gedicht sei nur bis Origo 4 zu verfolgen. Danach seien keine
Spuren einer poetischen Quelle zu entdecken, dafür aber könnten einige
neue Stilelemente im lateinischen Text festgestellt werden: indirekte Rede
an der Stelle direkter Rede, lange Satzkonstruktionen anstatt einfacher
Hauptsätze. Volle Sicherheit darüber, wie die ursprüngliche Origo begann,
21
Vgl. W. Bruckner, Die Sprache d. Langobarden (1895) 19 ff. — Vgl. auch R.
Koegel, Gesch. d. dt. Litteratur b. z. Ausgang d. Mittelalters I, 1 (1894) 107 f.;
L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 16. — Dagegen R. Mudi, Be-
sprechung von W. Bruckner, Die Sprache d. Langobarden (1895), in: Göttin-
gische Gelehrte Anzeigen 158 (1896) 892 f.
22
Vgl. W. Bruckner, Die Quelle d. Origo gentis Langobardorum, in: Zeitschr.
f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 31 (43) (1899) 47—58. — Bruckner
hat nicht besonders beachtet, daß die Namen der Königsliste im Prologus
edicti Rothan ebenfalls meist paarig allitterieren: [Agio] — Agilmund; La-
misio — Leth; Geldehoc — Godehoc; (Ausnahme:) Claffo — Tato; Wacho
— Waltari; Audoin — Alboin; [?] — Clef; Authari — Agilulf; Adalwald
— Arioald; Rothari... Ähnlich in der Genealogie des Rothari an derselben
Stelle: Obthora (Uhtbora) — Mammo; Facho — Frodio; Weo — Weilo; [?]
— Hilzo; Alaman — Alamund; Nozu — Nanding; Rothari. — Die Hist
Lang. Cod. Goth. 8 nennt Rodoald als Nachfalger des Rothari, der auch bei
Paulus Diaconus Hist. IV 47 erwähnt wird. — Vgl. audi G. Baesedce, Über
germ.-deutsche Stammtafeln u. Königslisten, in: Germ.-Rom. Monatsschrift
24 (1936) 161—181 mit teilweise übereinstimmenden Ergebnissen.
23
Vgl. W. Bruckner, a . a . O . 51 Anm. 1: „erat gens parva quae Winnili voca-
batur könnte der Anfang des Liedes gewesen sein, die Stelle erinnert an den
Eingang anderer Lieder, die freilich erst aus späterer Zeit stammen,..
22 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
läßt sich — legt man einen strengen Maßstab bei der Beweisführung an —
auf diese Weise allerdings nicht gewinnen24.
Geht man den Inhalt der Origo durch, dann macht zwar der erste
Satz tatsächlich den Eindruck, als sei er der Gotengeschidite des Jordanes
nachgebildet; was dann darauf folgt, kann aber unmöglich von antikem
Geschichtsdenken abhängig sein. Die Gesdiidite von Ybor und Agio und
ihrer Mutter Gambara, der Kampf der Winniler mit den Wandalen und
ihr Namenswechsel und der Zug durch ganz unbekannte Länder, das alles
ist echt langobardisches Erzählgut25. Alles was weiterhin folgt, ist dann
eine mit mehr oder minder spärlichen Nachrichten ummantelte langobar-
dische Königsliste28.
In dieser Langobardengesdiidite ist das älteste wirklich sidiere Er-
eignis die Besitznahme von Rugiland. Die Origo nennt den König Gode-
hoc und sagt: illo tempore exivit rex Audoachari de Ravenna cum exer-
citu Alanorum, et venit in Rugilanda et inpugnavit Rugos, et occidit
Theuvane regem Rugorum, secumque multos captivos duxit in Italiam.
Tune exierunt Langobardi de suis regionibus, et habitaverunt in Rugi-
landa annos aliquantos. Die Vernichtung der Rugier durch Odovakar im
Jahre 488 wird durch des Eugippius Vita s. Severini 44 erwähnt. Prokop
Bell. Goth. II 14 berichtet, daß die Heruler nach ihrer Niederlage durdi
24
Th. Mommsen, Die Quellen d. Langobardengesch. d. Paulus Diaconus, in: N.
Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 5 (1880) 57 ff. nahm eine ältere,
ausführlichere Fassung der Origo an, die im wesentlichen aus dem Werk des
Secundus Tridentinus geschöpft habe. — L. Schmidt, Zur Gesch. d. Lango-
barden (1885) 16 ff. dachte an eine ausführlichere Ur-Ongo, setzte diese
jedoch nicht mehr mit dem Werk des Secundus gleich. — W. Bruckner, a. a. O.
47 sprach sich dagegen aus; wie überhaupt seine These gegen eine umfang-
reichere Ur-Origo sprechen muß.
25
Schon Paulus Diaconus Hist. I 8 spricht in diesem Zusammenhang von einer
ridicula fabula. Vgl. dazu: K. Hauck, Lebensnormen u. Kultmythen in ger-
manischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955) 186
bis 223.
!9
Vgl. die Königsliste in der Vorrede des Edictus Rotbari, die mit der Liste der
Origo übereinstimmt. Vgl. Fr. Bluhme, in: G. H. Pertz, Mon. Germ. Hist.
Leg. IV (1868) 2 f . u. E. Bernheim, Über d. Origo gentisLang.,in:N.Archiv
d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 21 (1896) 376 f.; vgl. den Satz des Ro-
thari im Prologas edicti Rotbari: Ego in Dei nomine Rothari vir excellentis-
simus et séptimo deeimum rex gentis Langobardorum, der an die Amaler-
genealogie des Cassiodor in siebzehn Gliedern erinnert. Vgl. dazu H. Wolf-
ram, Methodische Fragen zur Kritik am „sakralen" Königtum germanischer
Stämme, in: Festschrift f. O. Höfler 2 (1968) 483. — Wolfram denkt an eine
Version des Hieronymus vom Chronicon des Eusebius als Vorlage der Amaler-
genealogie, wo es heißt: [Urbs Roma] quae condita est a Romulo séptima
olympiade anno secundo, qui XVII ab Aenea regnavit.
Probleme der historischen Quellen 23
27
Die Heruler-Schladit fand während der Regierung des Anastasios I. Dikoros
(491—518) statt. W. Ensslin, Theoderidi d. Große (1947) 371 Anm. 4 setzte das
Ereignis in das Jahr 508.
28
L. Schmidt, Zur Gesch. d. Langobarden (1885) 36: „Von Allem diesen nun,
was wir soeben aus gleichzeitigen Schriftstellern des klassischen Altertums
über die Langobarden beigebracht haben, findet sich in den eigenen Berichten
und Erzählungen derselben [d. h. in der Origo] keine Spur. Nichts wird hier
von den Kämpfen mit den Römern, mit ihren suebischen Stammesgenossen
unter Marbod erzählt; auch über ihre Geschichte in der Zeit, bevor Griechen
und Römer von ihnen erfuhren, läßt sich nichts daraus ermitteln."
29
Des Paulus Diaconus Charakterisierung der Geschichte des Namenswechsels,
die er aus der Origo in seine Historia übernahm, als ridiculosa fabula zeugt
nur scheinbar für seinen kritischen Sinn, denn sein eigener Bericht Hist. I 15
ist nicht weniger „lächerlich".
24 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
muß annehmen, daß der Autor der Origo oder der Redaktor, der den
ersten Satz verfaßte, von dieser Identität noch wußte. Warum er dann
allerdings die Namensform Scadinavia vorzog und es nicht wie der Kos-
mograph von Ravenna bei Scandzdbeließ, das ist schwer zu erklären.
Neben dem Secundus Tridentinus, der Origo und anderen Quellen31
hat — wie schon Th. Mommsen erkannte32 — Paulus Diaconus auch die
Werke des Jordanes benutzt. Sichtlich hat er den Bericht von der Her-
kunft der Langobarden zwar der Origo entnommen, dodi folgt er in der
Komposition seiner einleitenden Abschnitte eher dem Jordanes, was bis-
lang vielleicht nodi nicht genügend nachdrücklich betont worden ist. Da
Jordanes die Goten aus Scartdza ab huius insulae gremio velut examen
apium erumpens (Jordanes Getica I 9) kommen ließ, berichtet Paulus ent-
sprechend vorher von der Fruchtbarkeit33 der Menschen des Nordens (Pau-
lus Diaconus Hist. I 1). Jordanes schweifte ab und schob seinen Exkurs
über Britannien ein (Jordanes Getica II 10—15). Ebenso unterbricht nun
Paulus seine Erzählung und fügt einen Exkurs über den Westen ein (Pau-
lus Diaconus Hist. I 4), der den Erzählzusammenhang scheinbar sinnlos
unterbricht, während die Abschweifung des Jordanes mit der Nachricht
zusammenzuhängen scheint, die Goten stammten von Britannien (Jorda-
nes Getica V 38). Jordanes kehrte nun zur Insel Scandza zurück, beschrieb
sie und die dort wohnenden Völker und erwähnte bei dieser Gelegenheit
die Länge der Sommertage im Norden (Jordanes Getica III 16—24), und
dementsprechend behandelt auch Paulus den Norden, anschließend den
Westen, wobei er nicht vergißt, die Länge der Tagesdauer im Sommer
zu erwähnen (Paulus Diaconus Hist. I 5—6). Jordanes ließ nun den Be-
richt von der Auswanderung der Goten, von ihrer Landung in Gothi-
scandza, vom Krieg gegen die Ulmerugier und Wandalen und dem Auf-
bruch nach Südrußland folgen (Jordanes Getica IV 25—29). Auch Paulus
berichtet nunmehr vom Aufbruch der Langobarden aus Scadinavia, von
ihrem Kampf mit den Wandalen und der Ankunft in ihrer neuen Heimat
(Paulus Diaconus Hist. I 7—13). Danach beginnen beide Autoren — durch
den Stoff gezwungen — ihre unterschiedlichen Berichte von der Geschichte
ihrer Völker. Den Namen der Insel dürfte Paulus in der ihm vorliegenden
30
Ravennatis Anonymi Cosmographia I 12, IV 4 u. V 30. — Hier verändert
in Scanza, Seanzan od. Scanzi.
31
Knappe Übersicht bei M. Manitius, Gesch. d. lat. Literatur d. Mittelalters I
(1911) 269.
38
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XLV Anm. 85.
33
Audi die Origo spricht von den multae gentes, die auf der Insel Scadanan
wohnten. Sicher liegt auch hier ein Zusammenhang mit Jordanes Getica III
19—24 vor.
Probleme der historischen Quellen 25
Fassung der Origo noch richtig vorgefunden haben, wie sich zeigen läßt
(vgl. unten S. 30).
Die von Paulus fixierte Version von der Langobardengeschichte wird
dann weitergetragen. Sie findet sich entstellt in der Dritten Fortsetzung
des Paulus'4, in der Historia des Andreas von Bergamo35, in der Historia
Langobardorum Beneventanomm des Erchempert von Montecassino" und
in späteren Geschichtswerken37. Unabhängig von Paulus hielt sich einzig
der Autor der Historia Langobardorum codicis Gothani3S, der bald
nach 800 schrieb, teilweise unmittelbar aus der Origo schöpfte, aber für
die Herkunft der Langobarden auch noch eine andere Quelle benutzte3®.
Er nannte die Heimat der Langobarden Scatenauge und verlegte diese
Landschaft an die Elbe.
Im Reich der Franken wurden die Getica zunächst noch nicht be-
kannt. Im dritten Buch des Fredegar findet sich allerdings ein Hinweis
auf die Herkunft der Langobarden aus Scathanavia (Fredegar III 65).
Wortlaut und Inhalt dieses Einschubes, der in Auszüge aus dem Ge-
schichtswerk Gregors von Tours eingefügt ist, weisen mindestens zum
Teil auf den Autor der Origo, gehen also letztlich auf Jordanes zurück.
Zunächst heißt es bei Fredegar Langobardorum gens, priusquam hoc
nomen adsumerit, exientes de Scathanavia, que est inter Danuvium et
Mare Ocianum. Scathanavia ist hier also keine Insel. Es folgt dann der
Kampf, mit dessen Ablauf sich der Namenswechsel vollzieht. Als Gegner
der Langobarden werden hier jedoch nicht die Wandalen, sondern die
Hunnen genannt. Die Übereinstimmungen mit der Origo sind durch Eli-
minierung alles Heidnischen zwar versteckt, aber bei näherem Hinsehen
doch deutlich genug erkennbar.
Im gleichen Absdhnitt wird dann allerdings in einer Form von der
Auswanderung der Langobarden aus Pannonien berichtet, die keinen
Bezug zur Origo hat. Hier hat der Autor des Fredegar Gregor von Tours
benutzt. Ebenso wenig wie für den Bericht von der Herkunft der Lango-
34
Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 206.
35
A . a . O . 221.
3
» A . a . O . 234.
37
Vgl. die Übersicht bei C. Blasel, Die Wanderzüge d. Langobarden (1909)
3—9.
38
Mon. Germ. Hist. SS. R. Lang. (1878) 7 ff.
39
Er erwähnt Hieronymus als Gewährsmann (cap. 2), doch hat schon K. Zeuss,
Die Deutschen und die Nachbarstämme (1837) 473 Anm. riditig gestellt, daß
er diesen mit Isidor verwechselt hatte, der Etymol. I X 226 Vindelicus amnis
ab extremis Galliae erumpens, iuxta quem fluvium habitasse et ex eo traxisse
nomen Wandali perhibentur schrieb. Über die Gleichung Wandali = Winili
überträgt der Autor der Hist. Lang. cod. Gothani nun Isidors Version von der
Herkunft der Wandalen auf die Langobarden.
26 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
barden kann Gregor aber Gewährsmann sein, wenn es nun heißt: Lan-
gobardi regem nomen Clip super se eligunt (Fredegar I I I 67). Audi die
Nachricht vom Tode des Clip (Fredegar I I I 68) kann nicht von Gregor
stammen. H i e r kommt wiederum nur die Origo als Quelle in Betracht 40 .
Es schließen sich dann wieder Exzerpte aus Gregors Geschichtswerk an.
Die Autorenschaft der durch Interpolation aufgefüllten Exzerpte aus
den Historien des Gregor ist nicht unumstritten. Br. Krusch wies sie dem
zweiten Autor des Fredegar zu, der seiner Ansidit nach um 6 4 2 schrieb".
Trotz des Widerspruches von G. Schnürer, der dieselben Textstellen dem
ersten Autor zuweisen wollte, dessen Arbeit er bis zum Jahre 6 1 6 / 1 7
— Krusdi nur bis 613 — verfolgen zu können meinte 42 , hat sidi die
Zuweisung der Gregor-Auszüge zum zweiten Autor weiter erhärten las-
sen 4 '; sie kann heute als gesichert gelten.
Wortlaut und Inhalt der Einsdiübe in die Historia epitomata weisen
also eindeutig auf den Verfasser der Origo. Das macht chronologisch nur
scheinbar Schwierigkeiten 44 . Sicher ist, daß Paulus Diaconus eine Origo
gentis Langobardomm in einem Manuskript des Edictus Rothari vor-
40 Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 110 Anm. 2—5 nannte
schon die Origo als selbstverständliche Vorlage. Ebenso E. Bernheim, Ober d.
Origo gentis Langobardorum, in: N. Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschidits-
kunde 21 (1896) 386 Anm. 4. — Die Chronik des Marius von Avenches
kommt jedenfalls als Vorlage Fredegars nicht in Betracht, da sie teilweise an-
dere Personen kennt und die Ereignisse andersartig darstellt. Vgl. Th. Momm-
sen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. X I (1894) 238 f. Marius nannte allerdings
Personen und Ereignisse, die Gregor und Fredegar unbekannt geblieben sind,
und die sich dann teils in der Origo, teils bei Paulus Diaconus wiederfinden.
— Die Benutzung der Chronik des Marius durdi Paulus bereits bei L. Schmidt,
Zur Gesdi. d. Langobarden (1885) 28 erwähnt.
41 Vgl. Br. Krusdi, Die Chronicae des sogenannten Fredegar, in: Neues Archiv
fand. Daß Paulus selbst der Meinung gewesen sei, diese Origo sei dem
Rothari zuzuschreiben, behauptet R. Jacobi, bestreitet L. Schmidt dagegen
entschieden45. Beider Argumente sind jedoch nicht zwingend. Dennoch
scheint es möglich zu sein, die Origo, wenn auch nicht dem Rothari
selbst, so doch dessen Zeit zuzuweisen. Rothari ist der letzte König, des-
sen Herrschaft die Origo ausführlich behandelt: Et post ipso regnavit Ro-
thari ex genere Arodus, et rupit civitatem vel castra Romanorum quae
fuerunt circa litora apriso Lüne usque in terra Francorum quam ubiter-
gium ad partem orienti, et pugnavit circa fluvium Scultenna, et ceci-
derunt a parte Romanorum octo milia numerus. Danach folgen in den
Madrider und Caveser Handschriften kurze Hinweise auf die Regierungs-
dauer des Aripert und die Regierung des Grimoald. Der Modeneser Co-
dex fügt die Regierungsdauer des Grimoald und einen Hinweis auf Ber-
thari an. In alle drei Handschriften ist ein kurzer Verweis auf Con-
stans II. und seine Ermordung eingefügt, dem ein Zusammenhang mit der
Langobardengeschidite fehlt. Die Madrider und Caveser Handschriften
stellen offenbar Fortsetzungen der ursprünglidien Origo dar. Der beiden
Handschriften zugrunde liegende Text scheint zur Zeit des Grimoald
(662—672) redigiert worden zu sein, denn dessen Regierungsdauer wird
nicht genannt; er lebte wohl noch. Sie wurde erst vom Autor der Fas-
sung, die in der Modeneser Handschrift vorliegt, angefügt, der die Origo
während der Regierung des Berthari (672—690) ergänzte. Es ist bezeich-
nend, daß dessen Regierungsdauer hier fehlt; offenbar war er nodi am
Leben.
Sollte die Origo alsbald in die erste Niederschrift der Gesetzessamm-
lung des Rothari eingefügt worden sein, so wäre sie im Jahre 643 ver-
faßt4". Der Hinweis auf die Regierungsdauer des Rothari wäre dann vom
ersten Fortsetzer der Origo angefügt.
Sollte der Fortsetzer des Fredegar — wie nunmehr S. Hellmann
meint47 — etwa 624/625 zu arbeiten begonnen, die Niederschrift mehr-
fach unterbrochen haben und weit nach der Mitte des Jahrhunderts das
bisher Fertiggestellte mit Zusätzen versehen haben, so verwundert die
Verwendung einer 643 niedergeschriebenen Origo nicht; zumindest macht
ihre Verwendung durch den zweiten Autor des Fredegar chronologisch
keinerlei Schwierigkeiten.
Im Chronicon universale, das vor dem Jahre 775 entstanden sein
45
R. Jacobi, Die Quellen d. Langobardengesdi. d. Paulus Diaconus (1877) 5 f.;
L. Sdimidt, Zur Gesdi. d. Langobarden (1885) 8.
4
* So auch E. Bernheim, Uber d. Origo gentis Langobardorum, in: Neues Ardiiv
d. Ges. f. ältere dt. Gesdiichtskunde 21, (1896) 381 ff. bes. 384.
" Vgl. S. Hellmann, Hist. Vierteljahrsschrift 29 (1935) 92.
28 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
dürfte48, findet sich für das Jahr 4529 der hebräisdien Ära (575 n. Chr.
Geb.) die Nachricht von der Auswanderung der Langobarden in fast
wörtlicher Übereinstimmung mit Fredegar III 65. Dort ist daher auch
dieselbe Angabe von der Lage des Landes wiederholt. Sie ist also sdion
von vornherein bei Fredegar vorhanden gewesen und keine spätere Ein-
fügung.
Im Chronicon universale steht außer der bei Fredegar abgeschriebe-
nen Angabe von der Langobardenheimat in Skandinavien auch noch die
Nachricht, die Burgunden seien ebenfalls von dorther gekommen: Burgun-
diones tempore Tyberii augusti egressi sunt de insola maris cuius voca-
bulo est Scatanavia, que ex vocabulo regionis Scatoarii nuncupata est*'.
G. Waitz, der diese Quelle edierte, dachte an Fredegar als Vorlage. Die
Verbindungen nach dorthin sind indes für diese Stelle ganz schwach.
Dädite man an Fredegar als Vorbild, so wäre man gezwungen, dem Au-
tor des Chronicon gegenüber Fredegar eine Reihe von Neuerungen zu
konzedieren.
Eine Parallelstelle zum Chronicon universale findet sich in der
Passio s. Sigismundi regis. Sie berichtet von den Burgunden: Tempore
Tyberii senioris ... egressa est gens de insula, quam mare Oceanum cin-
git, cuius vocabulum est Scanadavia, qui ex vocabulo quoque regionis
Scanadavii nuncupati sunt50. Daß beide Stellen zusammengehören und
die eine von der anderen abhängig ist, darüber kann kein Zweifel be-
stehen. Die Riditung der Abhängigkeit wäre ohne weiteres klar, wenn
die Datierung beider Quellen gesichert wäre. Wohl weiß man, daß das
Chronicon vor 775 n. Chr. Geb. niedergeschrieben sein muß. Von der
Passio meinte C. Binding, sie sei im 7. Jh. oder wenigstens im 8. Jh. ent-
standen. Br. Krusdi, der sie edierte, meinte, ihre Ausdrucksweise
„schmecke" eher nach der ersten Hälfte des 8. Jh. als nach der Zeit Karls
des Großen61; hingegen dachte W. Levison an Entstehung im letzten Drit-
tel des 8. Jh.52.
48
Vgl. Wattenbadi—Levison, Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter.
Vorzeit u. Karolinger 2. W. Levison u. H. Löwe, Die Karolinger v. Anfang
d. 8. Jh. b. z. Tode Karls des Großen (1953) 258.
48
G. Waitz, Mon. Germ. Hist. SS. XIII (1881) 4.
50
Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 333.
51
Br. Krusdi, a. a. O. 329 f.
52
Wattenbadi—Levison, Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit
u. Karolinger 1. W. Levison, Die Urzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d.
Karolinger (1952) 108 Anm. 240: „Die in Acaunum im letzten Drittel d.
8. Jh. verfaßte Passio Sigismundi...". Etwas abweichend im Heft 2: W. Levi-
son u. H. Löwe, Die Karolinger v. Anfang d. 8. Jahrhunderts b. z. Tod Karls
des Großen (1953) 258 Anm. 313: „Als Quelle des Chronicon universale
Probleme der historischen Quellen 29
gedient hat die Chronik der Passio Sigismund!..., die bereits Anfang des
9. Jh. vorhanden w a r . . . " .
5S So schon W . Levison u. H. Löwe, a. a. O. 258.
54 Br. Krusdi, Mon. Germ. Hist. SS. R. Mer. II (1888) 333 Anm. 1.
55 C. Binding, Geschichte d. Burgundisch-Romanischen Königreichs (1868) 280.
2 8 9 : „Die Abfassungszeit der Schrift [Passio s. Sigismundi] wäre also am
Ende des 7., vielleicht auch erst am Anfang des 8. Jahrhunderts zu suchen." —
C. Binding meinte aus der auffallenden Kenntnis der Origo schließen zu dür-
fen, daß der Autor der Passio ein Römer aus dem Reich der Langobarden war,
der in das Kloster Acaunum eingetreten sei und dort die Vita des Königs ge-
schrieben habe.
30 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
sius — schöpfte zwar auch Fredegar II 46, doch kann der Anfang der
Passio davon nidit abhängen, weil Fredegar verschiedene Angaben nicht
enthält, die in der Passio, bei Orosius und Isidor vorhanden sind.
Zwischen der Einleitung der Passio und Fredegar sind also nur dort
Übereinstimmungen, wo beide aus denselben Quellen schöpfen, die letzt-
lich höchstwahrscheinlich auf Orosius zurückgehen. Nur die Nachricht von
der insula ... cuius vocabulum est Scanadavia56 kann weder von Isidor,
nodi von Orosius oder Hieronymus stammen, in deren Sdiriften die In-
sel überhaupt nidit erwähnt wird. Man ist — ob man will oder nidit —
also gezwungen, die Einleitung der Passio mit der der Origo im Zusam-
menhang zu sehen. Bei der Übernahme des Textes in den burgundischen
Bereidi wurde der Name des Stammes ausgewechselt, doch der Name des
heimatlichen Landes blieb stehen, und audi die Angabe, daß es sich um
eine Insel handelt, blieb erhalten. Sollte der Autor der Passio etwa das
Wort Scanadavia aus Scadanan oder gar Scadan verbessert haben? Das
ist ganz unwahrscheinlich. Der Weg ging von Scadinavia nach Scadanan
bzw. Scadan einerseits und Scanadavia andererseits57.
K. Zeuss wies darauf hin58, daß Prosper Tiro in seinem Chronicon
von der Auswanderung der Langobarden aus Scandia berichtete (Prosper
1169). Th. Mommsen hat diese Stelle in seiner kritisdien Ausgabe des
Prosper als Zufügung des 15. Jh. ausgeschieden und das gewiß mit
Recht5'. Für den ursprünglichen Inselnamen der Origo gibt sie also nidits
her. Sie zeigt allenfalls, daß mittelalterliche Gelehrsamkeit über Quellen
verfügte, wonach Scadinavia und Scandia als Synonyma angesehen wur-
den und wonadi die Langobarden von Scadinavia oder Scandia gekom-
men sein müßten. Es muß dabei bleiben: Scadanan bzw. Scadan sind
Entstellungen von Scadinavia.
Alle Nachrichten von der Herkunft der Langobarden und Burgunden
aus dem skandinavischen Norden, die sidi in der frühen fränkisdien und
burgundischen Geschichtsschreibung finden, gehen also letztlich auf die
59
Die Form Scanadavia ist siditlich verderbt, wenngleich sie die beste der in
den insgesamt 15 Codices belegten Überlieferungen darstellt. Im einzelnen
sind folgende Varianten belegt: Scanavia, Scanadabia, Scandabia, Scandavia.
Die Metathese scheint also schon früh durdigeführt worden zu sein, dodi
war sie in dem Manuskript noch nicht vollzogen, das dem Autor des Chro-
nicon universale vorlag, denn dort heißt es Scatanavia.
57
Es wäre allenfalls denkbar, daß dem Autor der Passio ein Text der Origo mit
der Namensform Scadanavia vorlag. Daraus ein Scadanan bzw. Scadan zu
machen, wäre für Abschreiber der Origo ein leichtes gewesen. Aber auch die-
ses Scadanavia müßte letztlich auf ein Scadinavia zurückgehen.
58
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 472.
5
» Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. IX (1892) 497 ff.
Probleme der historischen Quellen 31
60
Vielleicht würde ein besserer Einblick in die Überlieferungsgeschichte des
Edictus Rotbart, mit dem die Origo ja von vornherein verbunden war, man-
ches klären.
61
Alkuin, Epistula 164, in: Monumenta Alcuiniana edd. Wattenbach et Duemm-
ler (1873) 603 f.
61
M. Manitius, Gesdi. d. lat. Literatur d. Mittelalters I (1911) 214; ders.,
N . Archiv d. Ges. f. ältere dt. Geschiditskunde 32 (1907) 652.
65
Haec quidem ita se habere de origine Francorum opinantur. Alii vero affir-
mant eos de Scanza insula, quae vagina gentium est, exordium habuisse, de
qua Gothi et catera nationes Theotiscue exierunt: quod et idioma lingua
eorum testatur. Est enim in eadem insula regio, qute, ut ferunt, adhuc Fran-
cia nuncupatur. (Freculphi Chron. I 2, 17); vgl. J.-P. Migne, Patrologiae
Cursus Completus, Series Latina 106 (1851) Sp. 967.
84
Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XL VI f.
32 Der Scandza-Topos der frühmittelalterlichen Historiographie
knüpfte dann auch wieder Widukind, verband alles mit der Trojasage
und ließ in einer zweiten Version die Sadisen von Makedonien einwan-
dern". Mehr und mehr begann sidi nun der Topos aufzulösen und zu
verschwimmen. Er vermischte sich mit der Trojasage und wurde viel-
fältig abgewandelt, weil der Gedanke, aus dem heraus er entstanden
war, langsam in Vergessenheit zu geraten begann. Doch ab und zu blühte
er unversehens wieder auf, wobei offensichtlich alte, erhalten gebliebene
Manuskripte eine wesentliche Rolle spielten. Abschriften des Jordanes
kamen dabei gelegentlich neu zur Wirkung. Jordanes-Zitate wurden
manchmal nachträglich in frühe Autoren eingefügt, und durch das ganze
Mittelalter hindurch lebte dann der Scandza-Topos — insbesondere im
Norden — bis in die Neuzeit weiter (vgl. unten S. 164).
Der Scandza-Topos ist nicht die einzige erstarrte Form von Her-
kunftsberichten in der spätantiken-frühmittelalterlichen Historiographie.
Der Troja-Topos hatte fast dieselbe Bedeutung. Ein Versuch, die Goten-
geschichte mit der römischen zu verbinden und die Goten durch Ver-
schwägerung des Getenkönigs Telephus mit der trojanischen Königsdyna-
stie den Römern ebenbürtig erscheinen zu lassen, findet sich bereits in
Jordanes Getica IX 58—60. Wie sich zeigen lassen wird, übernahm Cas-
siodor diesen Abschnitt aus der Geten-Geschidite des Dio Chrysostomos,
die er auch sonst fleißig ausschrieb. Diese Verbindung der Gotenge-
schichte mit dem Trojanischen Krieg, die einen unmittelbaren Anschluß
an die Römische Geschichte bedeutete, blieb in der langobardisdien Ge-
schichtsschreibung und auch sonst unbeachtet. Fredegar entwickelte jeden-
falls seine Fabel von der Herkunft der Franken aus Troja ganz sicher
vollkommen unabhängig, und die weitere Entwicklung des Troja-Topos
ging sidier von den Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici
libri IV aus. Man sieht daran, daß im Frühmittelalter bestimmte Mo-
delle von Herkunftsberichten „in der Luft lagen" und daß es durchaus
gelegentlich möglidi war, gleiche oder ähnliche Formen unabhängig zu
erfinden.
Der Bericht von der Herkunft aus dem Heiligen Lande findet sich
neben den beiden anderen Ursprungsnachrichten auch bei Jordanes schon
angedeutet (Jordanes Getica IV 29). Der Autor wundert sich, daß Fla-
99
Widukind von Korvey I 2: Aliis autem aestimantibus, ut ipse adolescen-
tulus audivi quendam praedicantem, de Graecis quia ipsi dicerent Saxones
reliquias fuisse Macedonici exercitus, qui secutus magnum Alexandrum in-
matura morte ipsius per totum orbem sit dispersus. — I 12: ... Ex hoc ap-
paret aestimationem illorum utrumque probabilem, qui Saxones originem
duxisse putant de Graecis. — Vgl. hierzu: R. Drögereit, Die Ausbreitung d.
nordwestdeutschen Küstenvölker über See, in: N . Archiv f. Niedersachsen 10
(1951) 229—250.
vius Josephus, der die Magog als Skythen bezeidinete, jene nicht zugleidi
audi Goten genannt habe, wo dodi seiner Ansicht nach die Skythen Go-
ten waren70. Audi in diesem Falle ist ein und derselbe Gedanke wohl
mehrfach gedacht worden. Jordanes, vielmehr Cassiodor, dem der Hin-
weis auf Flavius Josephus zugeschrieben werden muß, wagte selbst nicht
die Gleichung aufzustellen, die er sich von Josephus erwartete: Goten =
Magog. Dieselbe Idee war aber schon lange vorher dem Ambrosius von
Mailand gekommen, der in seiner Schrift De fide II 16,137 f. Gog iste
Gothus est71 geschrieben hatte. Von Ambrosius übernahm Isidor von
Sevilla diese Gleichung gleich mehrfach72. Auch sie lebte bis ins Mittel-
alter weiter7'.
Es ist lange bekannt, wie sich der Troja-Topos entwickelte74 und
daß er keine historische Wahrheit enthalten kann. Die Entstehung und
Entfaltung des Berichts von der Verknüpfung des Gotennamens mit Gog
und Magog ließe sich, wenn es nötig wäre, weiter verfolgen. Daß er
keine historisdie Wahrheit enthält, bedarf keiner Begründung. Für den
Scandza-Topos sind die Zusammenhänge bislang weniger klar gewesen.
Daß sich dieser Topos von des Jordanes Gotengeschichte her entfaltete,
wird sich hinfort kaum noch bezweifeln lassen; es sei denn, man hängt
einer Quellengläubigkeit an, die sdion längst überholt sein sollte75.
70
Vgl. Flavius Josephus Ant. I 6,1.
71
Vgl. C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus Schweden (1958) 11 f.
72
Th. Mommsen Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) 61 Anm. 1 zog offen-
bar Abhängigkeit von Cassiodor in Betradit, was jedoch wenig wahrscheinlich
ist. Vgl. Isidori Hist. Gothorum 66: Gotbi de Magog Jafeth filio orti cum
Scythis una probantur origine sati, unde nec longe a vocabulo discrepant.
Isidor Etymol. IX 2, 27: Magog a quo arbitrantur Scythas et Gothos traxisse
anginem.
73
Der Verf. der Gotengesdi. des Codex Florentmus Laurentianus — von Th.
Mommsen als exordia Scythica bezeichnet — schrieb Kap. 25: Exiti anti-
quioris populus hominibus in terra nullt finis Exitia in Oriente est posita et
interclusa est, sicut et Gothia qui primus eam regionem Magog filius Jafeth
eam incoluit. Das stammt über Hieronymus wieder aus Isidor. — Vgl. Th.
Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. XI (1894) 310.
74
Vgl. A. Grau, Der Gedanke d. Herkunft i. d. dt. Geschichtsschreibung d. Mit-
telalters (1938).
75
E. Klebel, Langobarden, Bajuwaren, Slawen, in: Mitt. d. Anthrop. Ges. in
Wien 69 (1939) 60 lieferte eine Sentenz, die einen ganzen Forschungsabschnitt,
der den soliden Arbeiten der deutschen historisdien Schule folgte, nun aber
abgeschlossen sein sollte, charakterisiert, anders allerdings, als Klebel selbst
es meinte: „Georg Waitz hat 1878 mit der jener Zeit üblichen methodisdien
Ängstlichkeit, zeitlich weiter Entferntes nidit miteinander zu verknüpfen, jede
Beziehung zwischen den Langobardensitzen in den Quellen und modernen
Ortsnamen abgelehnt. Die Forschung hat sich dabei nicht beruhigt."
Probleme der historischen Quellen 35
Wie steht es nun aber mit dem historischen Gehalt der Nachridht
des Jordanes selbst? Ist die Herkunft der Goten aus Scandza ebenso un-
glaubhaft wie die der Langobarden, Burgunden, Franken und Sachsen
aus dem skandinavischen Norden? H. Bollnow meinte das und glaubte
nidit recht, daß sich ein gotisches echtes Erinnern in den Angaben des
Jordanes ausspräche. Er hielt alles für eine „Deutung Cassiodors und im
6. Jahrhundert erfunden". Er stand mit dieser Ansicht auch keineswegs
allein76.
Es gibt Anzeidien dafür, daß man durch eine etwas eingehendere
Analyse der ältesten Abschnitte in des Jordanes Gotengeschichte Boll-
nows lapidar zusammengezogenes Urteil noch etwas präzisieren kann,
aber dabei auch korrigieren muß.
78 C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus Schweden (1958) 19: „Die Er-
zählung des Jordanes, daß die Goten aus Scandza gekommen seien, geht nidit
auf eine Stammessage der Goten zurück. Sie hat nidit einmal die geringe
historisdie Glaubwürdigkeit, die einer solchen beigemessen werden kann."
1 Vgl. Th. Mommsen. Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) 53, wo audi
der Text des Rufinus zitiert ist. — Vgl. auch unten S. 475 Anhang 1 Absdin. 1.
3*
36 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
fangskapitel der Getica sei erst von Jordanes angefügt, wird sich näm-
lidi kaum nodi ernsthaft halten lassen2. Alle von Orosius stammenden
Textstellen sind so eng mit dem Text verbunden, der dem Cassiodor zu-
zuschreiben ist, daß es wenig wahrscheinlich ist, daß Jordanes Getica I
4—9 von Jordanes vor den Text des Cassiodor gestellt wurde. Das ist
auch inhaltlich kaum wahrscheinlich, denn der von Orosius stammende
Textabschnitt führt folgerichtig an das heran, was sicher von Cassiodor
stammt (Jordanes Getica I 9). Die zweite Erwähnung des Orosius
(Jordanes Getica V 44) ist abermals fest in die Erzählung des Cassiodor
eingefügt und von dieser nicht zu trennen. Das gilt ebenso auch für die
dritte (Jordanes Getica IX 58), die sich auf die Gleichsetzung der Geten
und Goten bezieht. Dort, wo Orosius zum vierten Mal genannt ist (Jor-
danes Getica XXIV 121), könnte es allenfalls strittig sein, ob das Zitat
von Cassiodor oder Ablabius stammt. Jordanes kommt dafür jedenfalls
gar nicht in Betracht, denn der mit Orosius verbundene Satz post autem
non longi temporis intervallo,... Hunnomm gern omni ferocitate atro-
cior exarsit in Gothos ist als Verbindungsglied der Erzählung des Cas-
siodor unentbehrlich. Es bleiben die beiden Möglichkeiten, Cassiodor
habe ihn eingeschoben oder — weniger wahrscheinlich — schon bei
Ablabius vorgefunden®.
Zu den Zutaten des Jordanes in der Mitte müssen der Hinweis auf
die Bekehrung eines Teils der Westgoten in Jordanes Getica XXV 132—
133 und das Urteil über den Tod des Valens in Jordanes Getica XXVI
138 gehören4. Zu solchen Einfügungen muß auch der Bericht über Jor-
danes Großvater Paria (Jordanes Getica L 266) gerechnet werden5. Fer-
ner sind ihm einige Exzerpte aus des Socrates Kirchengeschichte zuzu-
schreiben, so seine Angaben über Ulfilas (Jordanes Getica LI 267)'. Von
Jordanes stammt ferner die Fortsetzung der Amalergenealogie über
2
Vgl. A. von Gutsdimid, Rezension v. C. Schirren, De ratione quae inter Jor-
danem et Cassiodorium intercedat commentatio, in: Jahrbücher f. class. Phi-
lologie 8 (1862) 127. Er wies dem Jordanes die Einfügung des Orosius in die
Getica entgegen C. Sdiirren mit Bestimmtheit zu. — Th. Mommsen, a. a. O.
XXVII meinte, die Stellen des Orosius seien Jordanes w a h r s c h e i n l i c h
zuzuschreiben. — L. Erhardt, Besprechung v. Th. Mommsen, Jordanis Romana
et Getica (1882), in: Göttingische Gelehrte Anz. 2 (1886) 675 stellte Momm-
sens Argument für die Verwendung des Orosius durdi Jordanes in Frage. —
Die Verwendung des Orosius durdi Jordanes in seinen Romana ist hingegen
sicher.
3
Übernahme durdi Ablabius würde chronologisch keine Schwierigkeit machen.
4
Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XLIII. — Vgl.
auch unten S. 476 Anhang 1 Absdin. 4 u. 5.
5
Vgl. auch unten S. 476 f. Anhang 1 Absdin. 8.
8
Vgl. auch unten S. 477 Anhang 1 Absdin. 9.
Probleme der historischen Quellen 37
Athalaridi hinaus (Jordanes Getica XIV 81)7. Eine kurze Zufügung be-
zieht sich auf die Pest der Jahre 541—543 (Jordanes Getica XIX 104)8.
Sicher geht auch der Hinweis, Andagis habe den westgotischen König
Theodorid in der Schlad« auf den Katalaunischen Feldern getötet (Jor-
danes Getica XL 209), auf Jordanes selbst zurück, der ja bis zu seiner
conversio bei Baza, dem Sohn des Andagis, Notar gewesen war". Weiter
stammen von Jordanes der Hinweis auf die zweite Ehe der Mathesuin-
tha in Konstantinopel (Jordanes Getica XLVIII 251)10, und die Nach-
richten über die Westgoten etwa vom Jahre 533 ab (Jordanes Getica
LVIII 302—303)11. Der wesentlichste Beitrag des Jordanes liegt in der
Fortsetzung des Cassiodor, der sein Geschichtswerk zu Lebzeiten des
Athalaridi — zwischen 526 und 533 — abgeschlossen hatte, über den
Tod des Theoderich und des Athalaridi hinaus bis zum Ende der Herr-
schaft des Witigis (Jordanes Getica LIX 304—306 und LX 307—316)12.
Aber auch dieser dürftige Text stammt inhaltlich, obwohl Jordanes Zeit-
genosse aller Ereignisse war, nicht von diesem. Seinen Stoff übernahm
er hauptsächlich aus den Annalen des Fortsetzers des Marcellinus Co-
mes13.
Der Inhalt der Gotengeschichte des Cassiodor läßt sich nach Abzug
der geringen Zutaten des Jordanes unschwer erkennen, wenngleich der
Wortlaut sicherlidi an manchen Stellen durch Jordanes Veränderungen
erfuhr, insbesondere gekürzt wurde. Gewiß hat Jordanes seine Goten-
geschidite n i c h t aus dem G e d ä c h t n i s niedergeschrieben. Man
darf den Satz quorum quamvis verba non recolo, sensus tarnen et res
actas credo me integre retinere (Jordanes Getica 2) nidit wörtlich neh-
men und kann annehmen, daß der Verwalter des Cassiodor ihm das
7
Vgl. auch unten S. 475 Anhang 1 Abschn. 2.
8
Vgl. audi unten S. 476 Anhang 1 Abschn. 3.
9
Vgl. audi unten S. 476 Anhang 1 Absdin. 6.
10
Vgl. auch unten S. 476 Anhang 1 Absdin. 7.
11
Vgl. audi unten S. 477 Anhang 1 Absdin. 10.
12
Vgl. auch unten S. 477 f. Anhang 1 Absdin. 11—12. — Vom Inhalt des Textes
her gesehen, dürfte schon Jordanes Getica LIX 304 mindestens teilweise zum
Anteil des Jordanes gehören. Man beadite die Geringschätzung, mit der er
Athalaridi beurteilte.
u
Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X X X I X ; Wat-
tenbadi—Levison, Deutschlands Gesdiiditsquellen im Mittelalter. Vorzeit u.
Karolinger 1. W. Levison, Die Vorzeit v. d. Anfängen b. z. Herrschaft d.
Karolinger (1952) 54. 77 f.; A. von Gutschmid, Jahrbücher f. class. Philologie
8 (1862) 127 meinte noch, Jordanes Getica XLVI sei ebenfalls dem Marcelli-
nus Comes zuzuschreiben und müsse daher von Jordanes eingearbeitet worden
sein. Dazu Th. Mommsen, a. a. O., X X I X . X X X I X . — Vgl. audi N . Wagner,
Getica (1967) 57 ff., wo bes. die italienische Literatur erörtert wird, die des
Jordanes Anteil an seiner Gotengeschichte viel positiver beurteilt.
38 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
Werk, das er schon vorher gelesen und sehr ausführlich exzerpiert hatte,
zur erneuten Lektüre übersandte, wenn man überhaupt solchen Erklä-
rungen des Jordanes irgendwelchen Wert beimessen will. Der Ausdruck
relegi im unmittelbar vorhergehenden Satz scheint auf mehrmalige —
mindestens zweifache — Lektüre zu deuten. Wie Cassiodor sein Werk
in zwölf Bücher aufteilte, ist in des Jordanes Bearbeitung allerdings
nicht mehr ohne weiteres erkennbar. Das braudit jedoch kein Beweis für
eine besonders starke Umarbeitung zu sein, da es nicht bekannt ist, wie
Cassiodor gliederte14.
Daß auch das Werk des Cassiodor auf weiten Strecken sidier nichts
anderes als eine nicht besonders geschickte, im übrigen aber recht gewis-
senlose Kompilation ist, ist lange bekannt und bedarf eigentlich keines
Beweises mehr". Nach H. von Sybel1' und C. Schirren" hat bereits Th.
Mommsen viel getan, um zu klären, welche Autoren von Cassiodor be-
nutzt worden sind18. Das darf allerdings nidit darüber hinwegtäuschen,
daß Mommsen sich hauptsächlich darum bemühte, den ursprünglichen
Text des Jordanes wieder herzustellen und keineswegs eine erschöpfende
quellenkritische Ausgabe vorlegen wollte. Diese fehlt bis heute, und sie
wird zunächst auch nodi weiterhin fehlen. Für die vorliegende Unter-
suchung ist das jedoch kein Hindernis, denn die Frage nadi dem histori-
schen Wert der Nachricht von der Herkunft der Goten von der Insel
Scandza. läßt sich auch dem Gesamtzusammenhang herauslösen und iso-
liert beantworten. Voraussetzung dafür ist allerdings die Lösung von
zwei umfangreicheren Problemkomplexen: Da der Name des Ablabius
mehrfach in Verbindung mit der gotischen „Urgeschichte" genannt wird,
fragt es sich, welches denn eigentlich der Anteil dieses Historikers am
Werk des Cassiodor sei. Daneben wäre es von Interesse, zu erfahren, wie
Cassiodor sein Werk komponierte und welches inhaltlich sein eigener
14
Schon C. Schirren, De ratione (1858) 9—20 erkannte, daß die Reste des Cas-
siodorianisdien Stils deutlich durch die Bearbeitung des Jordanes erkennbar
sind. Wenn er dessen Spuren in den späteren Partien des Buches häufiger und
sicherer nachweisen konnte als in den früheren, so hängt das mit dem Anteil
des Cassiodor an seinem eigenen Werk zusammen. Vgl. unten S. 65 f.
15
W. Martens Eloge, es handele sich bei der Arbeit des Cassiodorus Senator
um ein großartiges, viel umfangreicheres Werk, erscheint reichlich übertrieben.
Vgl. Jordanes' Gotengeschichte, in: Die Gesdiichtssdireiber d. dt. Vorzeit 5
(31913) VIII.
16
H. de Sybel, De fontibus libri Jordanis (1838).
17
C. Schirren, De ratione (1858); vgl. dazu die Besprechung von A. von Gut-
sdimidt, in: Jahrbücher f. class. Philologie 8 (1862) 124—151.
18
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XXX—XLIV; vgl.
dazu die ausführliche Besprechung v. L. Erhardt, in: Göttingische Gelehrte
Anzeigen 2 (1886) 669—708.
Probleme der historischen Quellen 39
Beitrag zur Gotengeschichte ist. Sind die Anteile des Ablabius und des
Cassiodor getrennt, dann muß sich leicht erkennen lassen, •wem von
beiden die Nachricht von der Herkunft der Goten aus Scandza zuge-
schrieben werden muß, dem Ablabius oder dem Cassiodor — oder gar
einem Dritten. Danach dürfte es dann leichter zu beurteilen sein, welchen
Wahrheitsgehalt diese Überlieferung tatsächlich besitzt.
Der Erzählfaden des Ablabius, den Cassiodor den descriptor Gotho-
rum gentis egregius nannte und dessen Geschichtswerk er als verissima
historia bezeichnete und sicher auch dafür hielt (Jordanes Getica IV 28),
läßt sich anfangs verhältnismäßig einfach verfolgen, da sein Name mehr-
fach genannt wird (Jordanes Getica IV 28, X I V 82 und X X I I I 1 1 7 ) .
Cassiodors Erzählung beginnt zunächst mit Exzerpten aus den Histo-
riarum adversum paganos libri VII des Orosius1'. Nach dieser Vorlage
(Orosius I 2, 1—2, 78) entwirft er ein Bild von der Geographie der Erde,
nennt das Weltmeer, eine Reihe von Inseln und Europa (Jordanes Getica I
1—8). Er schließt mit einem Hinweis auf die Insel Thyle ab (Jordanes
Getica I 9), den er Vergils Georgien I 30 entnimmt. Danach wird erst-
mals die Insel Scandza genannt, unde nobis sermo ... est adsumpturus
und erwähnt, daß die Goten von dorther stammen und von dort velut
examen apium hervorgebrochen seien (Jordanes Getica I 9). Diese Stelle
geht bereits auf Ablabius zurück, wenngleich dessen Wortlaut sich von
dem, was bei Jordanes erhalten geblieben ist, unterschieden haben mag80.
Jordanes selbst scheint hier inhaltlich und formal keinerlei eigenen Bei-
trag geleistet zu haben, ausgenommen eine gewisse Kürzung. Cassiodor
selbst hat den Text des Ablabius formal gewiß verändert, um ihn an die
von Orosius übernommene Beschreibung des Erdkreises anhängen zu
können".
10 Vgl. oben S. 36 u. Anm. 2.
20 Vgl. auch unten S. 4 8 7 f. Anhang 3 Abschn. 1. — N . Wagner, Getica (1967)
62 ff. beurteilte die Bedeutung des Ablabius völlig anders. So S. 6 6 : „Mit
Ablabius selbst, . . . , gerät man in Ungewißheiten." — S. 67 f.: „Was sich
[über den Inhalt von Ablabius' Werk] ausfindig machen läßt, reicht nicht
darüber hinaus, was die antike Welt über die Goten von ihrem Gesichtskreis
aus wissen und erfahren konnte. Es ergibt sich kein deutlicher Hinweis dar-
auf, daß Ablabius über Kenntnisse verfügte, die eine Bekanntschaft mit inner-
germanisdien Überlieferungen voraussetzen. Möglicherweise hatte er in seinem
Werk lediglich die Einfälle der Goten ins Römerreich in der A r t des Dexip-
pos behandelt." — S. 6 8 : „Die Angaben in den Getica ergeben also nichts,
wodurch eine Benützung mündlicher gotischer Dberlieferung durch Ablabius
nahegelegt würde . . . Ihn zu einem Gewährsmann gotischer Überlieferungen,
womöglich noch zu ihrem ausschließlichen, . . . , zu erheben, besteht . . . kein
Anlaß,...".
11 Es bedarf wohl nicht besonderer Erläuterung, daß und warum es unmöglich
ist, aus dem von Jordanes veränderten Text des Cassiodor, den g e n a u e n
40 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
Es folgt nunmehr zunächst ein Exkurs über Britannien, der teils von
Pomponius Mela stammt (Pomponius Mela III 6, 50—51), teils dem
Agricola des Tacitus entnommen (Tacitus Agricola 10—13) und aus
Strabo und Dio Cassius exzerpiert ist (Strabo IV 5; Dio Cassius LXXVI
12). Der inhaltliche Bezug zum Vorhergehenden bleibt zunächst unklar.
Dann wird ebenso unvermittelt der Bericht des Ablabius wieder aufge-
nommen und die Insel Scandza erneut genannt (Jordanes Getica III 16).
Es folgt ein Exkurs über die Insel, der Ptolemaios entnommen ist (Pto-
lemaios II 11, 33—34). Er ist mit Auszügen aus Pomponius Mela (Pom-
ponius Mela III 3, 31) verzahnt (Jordanes Getica III 16—19). Beide
Auszüge muß schon Ablabius ausgewählt und komponiert haben®1. Da-
nach schildert Cassiodor, weithin dem Ablabius folgend, Klima, Fauna
und Flora der Insel und zählt die Stämme auf, die auf Scandza
wohnen sollen (Jordanes Getica III 19—24) (vgl. hierzu unten S. 84 ff.).
Es folgt dann die Nachricht von den Herulern und ihrem König
Rodvulf, der sich in den Schutz des Theoderidi begab. Sie gehört inhaltlich
nicht zum Vorhergehenden und dürfte unmittelbar dem Cassiodor zu-
zuweisen sein (Jordanes Getica III 24). Wahrscheinlich hat dieser das
Eintreffen des Rodvulf am Hofe des Theoderich in Ravenna selbst mit-
erlebt2'. Alsbald wird dann die Erzählung des Ablabius wieder aufge-
nommen; Scandza wird erneut genannt, und es folgt der Bericht von der
Ausfahrt der Goten unter Berig, von der Landung in Gothiscandza,
vom Krieg gegen die Ulmerugier und die Wandalen und vom Weiterzug
nach Oium. Das alles ist der Darstellung des Ablabius84 entnommen
(Jordanes Getica IV 25—28). Nunmehr wird die Nachricht von Magog
aus dem Stamm der Goten eingeschoben, als deren Zeuge Flavius Jose-
phus genannt wird. Dieser Abschnitt geht auf Cassiodor zurück (vgl.
oben S. 34) (Jordanes Getica IV 29). Danach schließt sich eine ausführ-
liche Beschreibung von Skythien und seinen Bewohnern an, die die Goten
gar nicht nennt, die Gepiden hingegen schon als Anwohner des Kar-
pathenbeckens kennt. Inhaltlich steht dieser Teil zum Abschnitt, der von
der Einwanderung nach Oium beriditet, in einem gewissen Gegensatz.
Die ethnographischen Angaben über Skythien stammen aus einer Welt-
karte, die das enthaltene Namenmaterial großenteils griechisdi bot15.
Der Schlußsatz von Jordanes Getica IV 29 cuius soll terminos, ante-
quam aliud ad medium deducamus, necesse est, ut iacent, edicere, der
— wie sich noch zeigen lassen wird (vgl. unten S. 67) — von Cassiodor
stammt, weist diesem diese ganze Textstelle mit Sicherheit zu (vgl. unten
S. 480).
Es folgt dann jene dunkle, inhaltlich auf den ersten Blick so gerin-
gen Sinn ergebende Stelle von der Herkunft der Goten aus Britannien
(Jordanes Getica V 38). Die Unterjochung der Goten in Britannien oder
einer anderen Insel und das Loskaufen aller um den Preis eines einzigen
Pferdes wurde von R. Much als Spotterzählung aufgefaßt". Nicht un-
wahrscheinlich ist es, daß diese Stelle mit einer Nachricht des Dio Cas-
sius zusammenhängt, wonach ein gewisser Bepixog von Cunobelinus aus
Britannien vertrieben wurde27. Das Auftauchen des Namens Bdpixog, der
dem Berig des Ablabius so sehr ähnelt, mag für Cassiodor der Anlaß
gewesen sein, die Pferdegeschichte mit Britannien zu verbinden (Jorda-
nes Getica II 10—15) und einen Exkurs einzuschieben, worin er die
Geographie der Insel u. a. nach dem LXXVI. Buch des Dio zitierte.
25
Audi Ablabius hat nachweislich eine Weltkarte benutzt (vgl. unten S. 84).
26
Rud. Much, Die Germania d. Tacitus (1937) 387; (»1967) 487. — Einen ver-
gleichbaren Spottnamen der Vandalen für die Goten weist M. Vasmer, Ein
vandalischer Name für die Goten, in: Studia Neophilologica 15 (1942—43)
132—134 nadi. — Auch die von Jordanes angegebene Ableitung des Gepiden-
namens von gepanta gehört in diesen Zusammenhang (vgl. Jordanes Getica
XVII 95).
27
Vgl. Dio Cassius LX 19,1. — Neben Jordanes Getica II 14—15 geht auch
X X I X 150 (nicht X X I X 151, wie Th.Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct.
ant. V, 1 [1882] X X X angab) auf Dio Cassius zurück. Die Vorlage zu
X X I X 150 ist nicht erhalten. — Hierzu: N.Wagner, Getica (1967) 60ff.,
wo das Motiv des Loskaufens eines Volkes um den Preis eines Pferdes aus-
führlich behandelt wird. — S. 96: „Für Ursprung und Charakter der Pferde-
gesdiichte ist also anzunehmen: Ein Gepide schuf sie in Ausdeutung des
Gotennamens und verlegt sie in das Prußenland, um den Goten den erlit-
tenen Tort auf die gleiche Art zu vergelten. Mit der Insel Britannien hat sie
ursprünglich nichts zu tun gehabt. Erst ein Mißverständnis ließ diese zum
Schauplatz der Pferdegeschichte werden." — Der Weg zu diesem Ergebnis
ist verschlungen und nicht ohne innere Widersprüche und Unwahrsdieinlich-
keiten.
42 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
nes Getica XIV 82, XVII 98, XXIV 130, X X I X 146, XXXIII 174,
XLVI II 246, XLVIII 251) und bemüht sich dadurch, die Gotenge-
schichte als eine Geschichte der Wese- und Ostrogoten hinzustellen, was
sie wohl seit dem Zug des Alarich nach Italien und seit dem Aufbruch
des Theoderich aus Pannonien vornehmlich war, doch gewiß v o r h e r
in diesem strengen Sinne nicht gewesen sein kann81.
Eigene Zutat des Cassiodor ist — neben wenigen überleitenden
Worten (Jordanes Getica XIII 78) — dann der Hauptteil des Amaler-
stammbaums (Jordanes Getica XIV 79—81), der später über den Tod
des Athalarich hinaus von Jordanes fortgesetzt wurde (vgl. oben S. 37)
Darauf folgt ein knapper Rückgriff des Cassiodor auf Ablabius88, der
namentlich genannt ist (Jordanes Getica XIV 82), und eine kurze Er-
gänzung von der Hand des Cassiodor, worin Ostrogoten und Wesegoten
abermals erwähnt werden. Es schließen sich Exzerpte aus der Vita Maxi-
mini an (Jordanes Getica XV 83—88) und darauf wird das Werk des
Ammianus Marcellinus spürbar (Jordanes Getica XVI 89—93) (vgl.
unten S. 73).
Nunmehr folgt Cassiodor eine Wegstrecke wieder dem Ablabius
(Jordanes Getica XVII 94—100), erinnert an die Herkunft aus Scandza,
erklärt die Entstehung des Gepidennamens, berichtet vom Gepidenkönig
Fastida — einem Zeitgenossen des Ostrogotha — und seinen Taten, ins-
besondere von der Schlacht zwischen Gepiden und Goten, in der letztere
siegreich blieben83. Dann schließen sich umfangreiche Textstücke an, die
wohl teils auf Ammianus Marcellinus, teils auf Dexippos zurückgehen,
wobei es zunächst unklar bleibt, ob sie von Ablabius oder Cassiodor ein-
gefügt worden sind (Jordanes Getica XVIII 101—XXII 115). Es folgt
abermals Material, das von Ablabius stammt, der nun erneut mit Namen
genannt wird (Jordanes Getica XXIII 116—120 u. XXIV 121—122).
Nach seinem Bericht schildert Cassiodor die Regierung des Hermanarich
und behandelt die Ethnographie im Raum nördlich des Siedlungsgebiets
der Goten an der Schwarzmeerküste34. Ein kurzer Hinweis auf Orosius
unterbricht die Schilderung (Jordanes Getica XXIV 121), und dann
schließt Cassiodor die Exzerpte aus Ablabius mit einem Bericht über die
Entstehung der Hunnen scheinbar ab85.
31
Vgl. R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 471 ff.; dazu auch
H. Rosenfeld, Ost- und Westgoten, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957)
245—258.
82
Vgl. auch unten S. 489 Anhang 3 Abschn. 5.
33
Vgl. auch unten S. 490 f. Anhang 3 Absdin. 7.
34
Vgl. auch unten S. 494 Anhang 3 Absdin. 13.
35
Vgl. auch unten S. 494 Anhang 3 Absdin. 14.
44 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
48a
Vgl. A. Nagl, Artikel „Ostrogotho", in: Pauly—Wissowa—Kroll, Real-
enzyklopädie XVIIIs (1942) Sp. 1688; zu weiteren Personennamen gleidier
Komposition vgl. E. Wessen, Uppsala universitets ärsskrift 2 (Filosofi, spräk-
vetenskap odi historiska vetenskap 6) (1924) 104 f. — Vgl. audi Anm. 49.
Probleme der historischen Quellen 49
gota ist doch wohl mit Ostrogotha identisch, und sein Sohn ist der
*Hunuin der Amalergenealogie.
Hermanarich wird von Cassiodor als Bruder des Vultvulf vorgestellt
(Jordanes Getica X I V 79). Sein Name tritt Jordanes Getica X X I I I 1 1 6
in einer Textstelle auf, die auf Ablabius zurückgeht. Er ist Goten-, nidit
Ostgotenkönig 4,b . Sein Name ist hier zwar mit dem Epitheton nobilissi-
mus Amalorum versehen, doch dürfte das eine Zufügung des Cassiodor
sein und die ganze Stelle mag ursprünglich bei Ablabius so geheißen
haben: Nam Gothorum rege Geberich rebus humanis excedente post
temporis aliquod Hermanaricus ... in regno successit, . . . Ablabius
berichtet hier, daß Hermanarich post temporis aliquod dem König
Geberich gefolgt sei. Sei es nach einem Interregnum, während dessen es
keinen König gab; sei es — wahrscheinlicher — nach anderen Königen,
deren Namen Ablabius nicht kannte. Es bleibt unklar, ob Geberidi und
Hermanarich verwandt waren. Auffallend ist, wie unbeholfen und
unglaubwürdig Cassiodor in Jordanes Getica X L V I I I die Amaler-
genealogie an die Geschichte Hermanarichs anschließt. Es erweckt den
Anschein, als habe Vinithar als N a c h f o l g e r Hermanarichs weiter
gegen die Hunnen gekämpft und als sei diesem, der nadi Cassiodors Ge-
nealogie ein Großneffe des Hermanarich war, Hunimund, ein Sohn des
Hermanarich, in der Herrschaft gefolgt (Jordanes Getica X L V I I I 250),
von dem dessen Sohn Thorismund dann die Herrschaft übernahm. Dieser
gehörte nach Cassiodors Schema der Generation des Vinithar an, der
vor Thorismunds Vater Hunimund das Königtum innegehabt haben
sollte. Ihm ließ Cassiodor dann den zwei Generationen jüngeren Valamir
folgen.
Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Amalergenealogie, wie Cassio-
dor sie zusammenstellt, und an der von ihm hervorgehobenen Bedeutung
der Amaler vor der Begründung des Ostgotenreichs in Italien erregt in
besonderem Maße alles das, was Ammianus Marcellinus von Hermana-
rich und seinen Nachfolgern berichtet (Ammianus Marcellinus X X X I 3,
1—3). Er nennt ausdrücklich einen Vithimir als gewählten Nachfolger
des Hermanarich, der in Cassiodors Stammbaum fehlt. Allerdings er-
wähnt Ammianus Marcellinus nicht, ob dieser Vithimir ein Sohn des
Hermanarich war. Später kam dann nach dem frühen Tod des Vithimir
dessen Sohn Viderich zur Herrschaft, für den Alatheus und Saphrax
49,1 In Widsfth 18 u. 88 ist Eormanric König der Goten (Gotena cyning). — Vgl.
K . Malone, a. a. O. 23.25.146.156. — Die Textstellen mit den Nennungen von
Eastgota und Eormanric stammen wohl aus gleicher gotischer Tradition. Es
ist deswegen nidit ohne Bedeutung, daß der König Eastgota, der Stamm aber
Goten heißt.
Probleme der historischen Quellen 51
die Vormundschaft führten. Auch dieser Viderich ist bei Cassiodor nicht
genannt 50 .
In der Tat könnte Vithimir zwar Nachfolger, aber nicht Sohn des
Hermanaridi gewesen sein. Seine Wahl zum König schließt das jedenfalls
nicht aus508. Wenn Vithimir und Viderich bei Cassiodor nicht erwähnt
werden, so heißt es auch nicht, daß sie keine Amaler gewesen sein können.
Es bleibt so vieles unklar, u. a. zum Beispiel auch die Tatsache, daß
Ammianus Marcellinus Alatheus und Saphrax als Vormünder des Viderich
kennt (Ammianus Marcellinus X X X I 3,3; 4,12). Sie werden zwar auch
in des Jordanes Gotengeschichte erwähnt (Jordanes Getica X X V I
134.140), doch als duces, qui regum vice Ulis praeerant. Die Existenz eines
Königs wird also ausdrücklich verneint, und dabei ist es gerade hier
ganz sidier, daß diese Stelle aus dem Werk des Ammianus Marcellinus
entnommen ist.
Einen interessanten Versuch, die Widersprüche zu klären, die zwi-
schen den Angaben des Cassiodor und des Ammianus Marcellinus be-
stehen, hat in neuerer Zeit K. A. Eckhardt gemacht51. Er ging von der
Sitte der Nachbenennung bei den Germanen aus, für die er bei den
Westgoten Spuren nachweisen zu können meinte52. Den Widerspruch in
der Nachfolge des Hermanarich versuchte er dadurch zu lösen, daß er
vorschlug anzunehmen, Vinithar sei nicht der eigentliche Name des Nach-
folgers des Hermanaridi gewesen, sondern ein Beiname, „der das Vor-
handensein eines abweichenden Eigennamens geradezu voraussetzt" 53 .
Den Beinamen „der Wendenkrieger" 54 habe sich Vithimir in dem sieg-
reichen Wendenkriege Hermanarichs erworben.
Konsequent setzte Eckhardt Vandalar, den Sohn des Vinithar, und
Viderich, den Sohn des Vithimir, gleich55. Auch bei Vandalar handele es
sich um einen Beinamen — „Wandalenkämpfer" 56 —, und diesen habe sich
50
In seiner Amalergenealogie nennt Cassiodor drei Angehörige dieses Geschlechts
nicht, den Bruder des Theoderich, Theodemund, einen Aidoingus und einen
Sidimund. — Vgl. dazu F. Wrede, Über d. Sprache d. Ostgoten i. Italien
(1891) 62.71 Anm. 4 u. 93.
503
Auffallend wäre es, wenn der erwachsene Vithimir zum König gewählt wor-
den wäre, ohne Sohn seines Vorgängers zu sein, während sein Sohn Videridi
u n m ü n d i g zur Herrschaft kam, ohne gewählt worden zu sein, also durch
einfache Erbfolge.
51
K.A.Eckhardt, Die Nachbenennung in den Königshäusern der Goten, in:
Südost-Forsdiungen 14 (1955) 34—55.
52
K. A. Eckhardt, a. a. O. 36 f.
53
K. A. Eckhardt, a. a. O. 41 ff.
54
M. Schönfeld, Wörterbudi d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 260 f.
55
K. A. Eckhardt, Südost-Forschungen 14 (1955) 43 ff.
54
M. Schönfeld, Wörterbudi d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 253.
4'
52 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
57
K. A. Eckhardt, Südost-Forschungen 14 (1955) 44.
58
K. A. Eckhardt, a . a . O . 45.
59
C. Schirren, De ratione (1858) 75 f.; L. Schmidt, Geschichte d. dt. Stämme b.
z. Ausgang d. Völkerwanderung. Die Ostgermanen ( 2 1934) 254.
00
K. A. Eckhardt, a. a. 45 f.
61
K. A. Eckhardt, a. a. O. 46.
82
K. A. Eckhardt, a. a. O. 47 ff.
63
K.A.Eckhardt, a . a . O . 51.
Probleme der historischen Quellen 53
und sei Vater des Eutharich gewesen84. Veterich wäre dann ein Vetter
des Theoderidi und sein Sohn Eutharich wäre ein Vetter zweiten Grades
der Amalasuintha gewesen.
O. Höflers Gedanken gehen einen anderen Weg®5. Auch er ist der
Meinung, daß Eutharidis Vater Veteridi dem Viderich des Ammianus
Marcellinus nadibenannt sei. An eine Identität von Vinithar und Vithimir
bzw. Vandalar und Viderich denkt er jedoch nicht, meint vielmehr,
Alatheus und Saphrax, die Vormünder des Viderich, hätten sich den Scha-
ren desFritigern angeschlossen, hätten mit diesem zusammen 378 den Kai-
ser Valens bei Adrianopel besiegt (Jordanes Getica X X V I 134—138) und
wären dann mit den Westgoten, bei denen sie dauernde Aufnahme fan-
den, erst nach Italien, dann weiter nach Gallien gezogen. Er meint,
zwischen dem älteren Viderich und dem jüngeren Veteridi hätten viel-
leicht zwei, eher drei Generationen gelegen, deren Namen unbekannt
geblieben seien.
Die Ahnenreihe von Vultvulf bis Valamir hält Höfler für historisch
zuverlässig und zudem durch Prinzipien der Namengebung fest mit den
älteren Teilen der Amalergenealogie verbunden.
Schlösse man sich der Ansicht Eckhardts an, und hielte man Vinithar
und Vithimir, sowie Vandalar und Viderich für identische Personen, so
wäre immer erst ein Teil der Widersprüche zwischen den Angaben der Ge-
tica und denen des Ammianus Macellinus geklärt. Die Namendivergenzen
wären beseitigt, doch die Unterschiede in der Darstellung blieben be-
stehen. Sie erscheinen allerdings verständlicher, wenn man bedenkt, daß
Cassiodor das Werk des Ammianus Marcellinus nicht i m O r i g i n a l
kannte (vgl. unten S. 74). Er schöpfte aus anderen, mindestens teilweise
schlechteren Quellen, hatte allerdings auch Informationen zur Hand,
die sich in antiker Literatur sonst nicht finden und die nicht schlecht zu
sein brauchen. So erwähnte er Gesimund, den Sohn Hunimunds des
Großen, als gotischen Fürsten und Gegenspieler des Vinithar (Jordanes
Getica XLVIII 248). Oifenbar gab es neben den Amalern und den
Balthen auch noch andere vornehme Geschlechter1". Eine — für den
Gesamtzusammenhang belanglose — für Cassiodors Informationen aber
kennzeichnende Angabe ist, Vandalar sei ein Schwestersohn des Thoris-
mund (Jordanes Getica XLVIII 251). Er hätte also eine Tochter des
Hunimund als Mutter gehabt. Das sieht nach — glaubhafter oder un-
glaubwürdiger — Überlieferung aus. Warum betonte Cassiodor Jordanes
94
K. A. Edihardt, a . a . O . 51 f.
65
Vgl. oben S. 45 Anm. 40.
M
Das ist auch sonst noch zu belegen. Vgl. R. Wenskus, Stammesbildung u. Ver-
fassung (1961) 481 f.
54 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
70
J. Forsdyke, Greece before Homer (21957) 32 ff. 58.
71
H. Wolfram, Methodische Fragen zur Kritik am „Sakralkönigtum" germa-
nischer Stämme, in: Festschrift f. Otto Höfler 2 (1968) 484.
72
Vgl. oben S. 45 Anm. 40.
73
Die Handschriften bieten neben Hulmul auch Humul, Haimal und Humal. —
Vgl. dazu: K. Müllenhoff, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) 76.143;
M. Schönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völkernamen (1911) 142.
74
K. Müllenhoff, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) 143; M. Schönfeld,
Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völkernamen (1911) 38 mit Literatur-
verweisen.
75
Vgl. oben S. 45 Anm. 40; anders N.Wagner, Getica (1967) 169; dazu auch:
E. Wessin, Studier tili Sveriges hedna mytologi och fornhistoria, in: Uppsala
universitets ärsskrift 1926 (Filosofi, sprlkvetenskap och historiska vetenskaper
6) (1924) 81.
79
Jac. Grimm, Deutsche Mythologie 3 (41878) 386.389 ff. — Gegen Gleich-
setzung von Gaut und Odin: W. Baetke Yngvi und die Ynglinger (1964) 114
Anm. 5.
56 Jordanes — Cassiodorius — Ablabius
80
W. Mohr, Die ethnographische Vierteilung d. bewohnten Erde b. d. Griechen,
in: Petermanns Mitteilungen 87 (1941) 250—263.
81
S. Feist, Vergl. Wörterbuch d. gotischen Sprache ( s 1939) 240 zu Haliurunnas.
Auf Etymologie des Wortes gepanta ging Feist nicht ein. — F. Wrede, Über
d. Sprache d. Ostgoten i. Italien (1891) erwähnte beide Worte nicht. — Auch
K. Müllenhoff, in: Th.Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882)
160 hatte zu gepanta keine etymologische Erklärung.
Probleme der historischen Quellen 59
der Bericht vom Amaler Beremud und dessen Sohn Viterich, die sich der
Unterdrückung der Hunnen entzogen haben sollen und am Hofe des
Westgotenkönigs Aufnahme fanden. Danach wird die Erzählung der
Gotenschichte wieder aufgenommen, nochmals vom Tod des Vallia be-
richtet und dann die Regierung des Theodorid geschildert (Jordanes
Getica X X X I V 176). Noch die auf den Tod des Vallia bezogene Zeile
sibique adversa post longum valitudine superveniente rebus humanis
excessit stammt nicht von Cassiodor selbst, sondern von einem anderen.
Unmittelbar danach folgt dann eine Einfügung des Cassiodor, die nicht
nur die Emigration des Beremud und des Viterich behandelt, sondern auch
zu erklären versucht, warum bei den Westgoten von der Abstammung
des Beremud vom Geschlecht der Amaler nichts bekannt sein konnte 1 .
Der Hinweis auf die Amalergenealogie (Jordanes Getica X I V 79) zeigt
deutlich seine Hand. In der Genealogie ist ja schon angegeben, daß des
Viterich Sohn Eutharich einstmals mit Amalasuintha, der Tochter des
Theoderich, vermählt werden würde.
Es sieht fast so aus, als sei bei Ost- wie Westgoten nichts von der
Herkunft des Beremud aus dem Amalerstamm bekannt gewesen, und
Cassiodor habe vor der nicht leichten Aufgabe gestanden, verständlich zu
machen, warum Theoderich den Eutharich aus dem fernen Spanien kom-
men ließ, um ihn mit seiner Tochter zu vermählen 2 . Dasselbe Thema wird
dann Jordanes Getica XLVIII 251 noch ein letztes Mal aufgenommen,
um den Eutharich als Amaler vorzustellen. Auch diese Stelle ist unzweifel-
haft dem Cassiodor zuzuweisen.
An der Autorenschaft des Cassiodor von Jordanes Getica X X X I I I
174—175 kann also schon wegen des Wortlauts der Geschichte des Bere-
mud nicht gezweifelt werden. Die nachfolgenden Zeilen (Jordanes Getica
X X X I V 176) nehmen den Bericht über die westgotische Geschichte wie-
der auf und setzen ihn fort. Sie zeigen eine für Cassiodor sehr bezeich-
nende Darstellungsweise, die es verdient, etwas näher betrachtet zu wer-
den. Jordanes Getica X X X I I I 173 endet mit dem Satz: sibique [nämlich
Vallia] adversa post longum valitudine superveniente rebus humanis
excessit, und es folgt dann die Einschiebung über Beremud und Viterich.
Danach fuhr Cassiodor nicht einfach in der unterbrochenen Erzählung
fort, sah sich vielmehr veranlaßt, um den Anschluß an das Vorher-
gehende herzustellen, den Inhalt der Erzählung, die er unterbrochen hatte,
zusammengefaßt zu wiederholen. Daher schrieb er zunächst: quid pluri-
1
Vgl. auch unten S. 483 f. Anhang 2 Absdin. 21.
- Vgl. dazu C. Schirren, De ratione (1858) 72 ff. — A. von Gutschmid, Jahrb.
f. class. Philologie 8 (1862) 134 ff. korrigierte Sdiirrens Folgerungen in ver-
schiedener Hinsicht, hob aber gerade die fingierte Abstammung des Beremud
hervor.
Probleme der historischen Quellen 61
Ostgoten und die Gepiden unter ihrem König Ardarich (Jordanes Getica
XXXVIII 199—201)10. Diese Angaben über die Ostgoten und ihren
Anteil am Kampf sind aber ganz summarisch und erwähnen keine beson-
deren Leistungen. Hingegen werden die Maßnahmen der Westgoten und
Römer detailliert dargestellt (Jordanes Getica XXXVIII 201 ff.). Eine
fingierte Rede des Attila wird eingeschoben (Jordanes Getica XXXIX
202—206); dann wird das Kampfgetümmel wortreich gesdiildert, in dem
der Westgotenkönig Theodorid zu Tode kommt (Jordanes Getica XL
207—209). Eine kurze Einfügung, die wieder die Ostgoten betrifft, geht
auf Jordanes zurück11. Es folgen weitere Einzelheiten aus dem Kampf-
gesdiehen. Die Westgoten hätten fast den Attila getötet, wenn er nicht
geflohen wäre (Jordanes Getica XL 210). Näditliche Abenteuer des
Thorismud und des Aetius folgen (Jordanes Getica XL 211—212). Dann
wird berichtet, daß die Hunnen aus ihrer Verschanzung keinen Ausfall
wagen, und Römer und Westgoten daraufhin beschließen, Attila zu be-
lagern (Jordanes Getica XL 212—213). Nunmehr wird die Leiche des
Theodorid gefunden, und die Westgoten veranstalten eine Leichenfeier
(Jordanes Getica XLI214—215). Danadi rät Aetius, weil er angeblich
den Machtzuwachs der Goten durch einen totalen Sieg über Attila fürch-
tet, dem unerfahrenen Thorismud, mit seinen Westgoten nach Hause zu
gehen (Jordanes Getica XLI 216—217), und auch Attila zieht ab (Jor-
danes Getica XLI 219). Die Sdilacht ist beendet, ohne daß von den ost-
gotischen Verbündeten der Hunnen in irgendeinem wesentlichen Zusam-
menhang die Rede ist, ausgenommen von den Gepiden, die in einem
besonderen Treffen auf die Franken — Verbündete des Aetius und der
Westgoten — gestoßen waren und wohl deswegen erwähnt werden (Jor-
danes Getica XLI 217).
Offensichtlich verfügte Cassiodor selbst über k e i n e r l e i detail-
lierte Kenntnisse vom Schlachtgeschehen, die es einzuschieben lohnte, aus-
genommen die Tatsache, daß Theoderichs Vater mit seinen Brüdern als
Vasall der Hunnen teilgenommmen habe. Diese Tatsache, an der zu
zweifeln kein Anlaß besteht, mußte Cassiodor natürlich herausheben.
Einzelheiten vom Verlauf des Kampfes vermodite er aber bei den Ost-
goten offenbar nicht mehr in Erfahrung zu bringen; immerhin lag die
Sdilacht, als er seine Gotengeschichte schrieb, bereits annähernd achtzig
Jahre zurück und alle gotischen Kriegsteilnehmer waren längst tot.
Der Autor der Westgotengeschichte berief sich hingegen auf Erzäh-
lungen von westgotisdien Veteranen. Si senioribus credere fas est, fragte
er sich, als er von einem durch das Blut der Gefallenen angeschwollenen
Mathesuintha als Kinder dieser Ehe (die nun folgende Einfügung des
Jordanes kann hier außer Betracht bleiben). Nach dieser Abschweifung
kehrte Cassiodor direkt zum Thema, der Nachkommenschaft des Van-
dalar, zurück, ohne Vorhergehendes zu wiederholen. Er sagte einfadi:
sed nobis ut ordo, quem coepimus, decurrat, ad Vandalarii sobulem, quae
trino flore pululabat, redeundum est.
Selbst dort, wo Cassiodor seinerseits ein Exzerpt aus einem frem-
den Geschichtswerk einfügte, entsteht in seiner Erzählung kein Bruch,
und er empfand daher wohl auch nicht die Notwendigkeit, vorher Er-
zähltes zusammenzufassen. In Jordanes Getica XLVIII 253 beriditete
Cassiodor von Attila; seine Worte enden mit einem Hinweis auf dessen
Tod. Nun fügte er „nahtlos" ein Exzerpt aus Priscus an, worin Einzel-
heiten des Todes geschildert werden (Jordanes Getica XLIX 254—255),
schloß einen Satz über die Glaubwürdigkeit des Priscus an und fuhr
dann unverzüglich fort, die Bedeutung des Attila zu schildern (Jordanes
Getica X L I X 255—256).
Auch nach seinem Exkurs über die Wirren und Kämpfe nach dem
Tode des Attila (Jordanes Getica L 259—266) kehrte Cassiodor ohne
wesentlichen Verzug zu den Goten zurück (Jordanes Getica LH 267).
Ebenso verfuhr er nach dem Beschluß der Brüder Thiudimir und Vidi-
mir, Pannonien zu verlassen (Jordanes Getica LVI 283). Nach dem Ex-
kurs über das Schicksal des Vidimer und seines Sohnes in Italien (Jor-
danes Getica LIV 284) nahm Cassiodor ohne Umstände die Erzählung,
die Geschichte des Thiudimir, wieder auf. So gibt es bis zum Ende seines
Berichtes in diesem keinen Bruch, keine umständliche Wiederholung,
wenn auch mancherlei Abschweifungen. Das ist für seine Art, seinen
eigenen Text zu gestalten, sehr bezeichnend.
Cassiodor erzählte seine Gotengeschichte in der Ich- oder in der
Wir-Form. Diese Erzählweise läßt sich vom Anfang bis in die letzten
Kapitel verfolgen. Sie ist nur innerhalb solcher Textstellen n i c h t
nachzuweisen, die Cassiodor aus der ihm vorliegenden Literatur aus-
schrieb. In Jordanes Getica I 9 zitierte Cassiodor des Ablabius Nachricht
von der Auswanderung der Goten aus Skandinavien und sagte dann:
quomodo vero aut qualiter, in subsequentibus, ... explanavimus. Alsbald
fuhr er fort: nunc autem de Brittania insula, ..., ut potuero, paucis
absolvam (Jordanes Getica II 10) und sprach von den Nadirichten über
die Insel, quem ut a Grecis Latinisque autoribus accepimus, persequimur
(Jordanes Getica II 11). Nach der Betrachtung Britanniens wandte er
sich mit den Worten ad Scandziae insulae situm, quod superius reliqui-
mus, redeamus (Jordanes Getica III 16) wieder Skandinavien zu. Von
der Insel sagte er: in Scandza vero insula, unde nobis sermo est (Jorda-
Probleme der historischen Quellen 67
nes Getica III 19). Es folgen umfangreiche Zitate nadi Ablabius, worin
sich Ich- und Wir-Form n i c h t finden. Doch dann kam Cassiodor
auf Skythien zu sprechen und sagte: cuius soli terminos, antequam aliud
ad medium deducamus, necesse est, ut iacent, edicere (Jordanes Getica
IV 29). Er sprach von den Hunuguri und teilte mit: quorum mansione
prima in Scythiae ... legimus habitasse (Jordanes Getica V 37—38). Es
folgt die Stelle von der Gotenherkunft aus Britannien, doch Cassiodor
verwarf sie und meinte: nos enim potius lectioni credimus quam }abulis
anilibus consentimus (Jordanes Getica V 38).
Viele gleichartige Sätze ließen sich aufzählen 1 '. Sie finden sich nur
dort, wo Cassiodor berichtet oder wo er ein Zitat beginnt oder ab-
schließt, niemals aber innerhalb des Zitats selbst, und so fehlen sie auch
völlig innerhalb der Textstellen, die dem Ablabius zugeschrieben werden
müssen. Sie fehlen e b e n s o in der Westgotengeschichte, sieht man von
den Stellen ab, die Cassiodor einfügte oder die seinen Einfügungen un-
mittelbar vorangehen oder folgen.
Unwillkürlich fragt man sidi hier, warum denn Cassiodor überhaupt
an eine „Urgeschichte" der Goten eine Geschichte der Westgoten an-
schloß und daran erst die Ostgotengeschidite anfügte, wo er doch offen-
sichtlich vornehmlich vom Lob der Amaler und der Bedeutung der Ost-
goten schreiben wollte. Zwei unterschiedliche Gründe könnte man dafür
aufweisen, einen formalen und einen materialen.
Nach dem Tode Alarichs II., der des Theoderich Schwiegersohn war,
wurde dieser Vormund seines Enkels Amalarich und sandte den Ost-
goten Thiudis als dessen Erzieher nach Spanien, wo nun nach der Nie-
derlage Alarichs II. gegen Chlodwig der Schwerpunkt der westgotischen
Herrschaft lag. Nunmehr saß nicht nur ein Amalerabkömmling auf dem
westgotischen Thron; das Westgotenreich stand zugleich auch unter star-
kem ostgotischen Einfluß, und die Macht des Ostgotenkönigs war so groß,
daß er die Reste westgotischer Herrschaft in Südfrankreich vor weiteren
fränkischen Angriffen zu schützen vermochte. Nach langer Trennung
schien sich damit in gewissem Umfange eine Vereinigung aller West- und
Ostgoten unter dem Amalergeschlecht anzubahnen. Was lag angesichts
12
Folgende Beispiele mögen genügen: Ut ergo ad nostrum propositum redeamus,
in prima sede..., unde loquimur, ... (Jordanes Getica V 39); unde cum
Gothis ... probanus, quem ... cognoscimus (Jordanes Getica V 44); sed
antequam pugnae ... referamus, ... (Jordanes Getica X X X V I I 194); .. .ad
Theodorici praesentiam, de quo ... die tun sumus (Jordanes Getica XL VI
243); sed nobis, ..., ut ordo quem coepimus, decurrat ad Vandalarii sobulem
... redeundum est (Jordanes Getica XLVIII 252); . . p a u c a de multis dicere
non omittamus (Jordanes Getica X L I X 256); Sauromatae vero quos Sarmatas
dieimus ... (Jordanes Getica L 265).
5*
68 Ablabius und der Autor der Westgotengesdiidite
den Ablabius hier nicht, aber er erwähnte auch keinen anderen Autor der
von ihm benutzten Westgotengeschichte. Er schwieg überhaupt. Dieses
Schweigen mag irgendeinen Grund gehabt haben, mag aber auch reiner
Zufall sein; es kann jedenfalls nicht direkt gegen Ablabius als Autor
der Westgotengeschichte sprechen.
Aber zitiert denn Cassiodor den Ablabius in der Westgotenge-
schichte wirklich überhaupt nicht? Wie steht es mit der Erwähnung eines
Favius (Fabius) in Jordanes Getica X X I X 151? Handelt es sich bei die-
sem Namen nicht um eine Verschreibung? Stand hier nicht ursprünglich
Ablabius? Eine Analyse von Jordanes Getica X X I X 146—151 löst diese
Frage fast vollständig1'.
Hier zu Anfang der Westgotengeschichte wird berichtet, wie in der
Zeit nach dem Tode des Theodosius Alarich König der Westgoten wurde,
mit Teilen seines Volkes aufbrach, durch Pannonien nach Norditalien
zog und sich der Stadt Ravenna näherte. Die Stadt wird u. a. nach dem
Bericht eines Fabius geschildert. C. Schirren dachte bei diesem an den von
Tacitus zitierten Fabius Rusticus17, glaubte jedoch, daß dieser Name aus
einer anderen Quelle in den Text des Jordanes gelangt sei, vielleicht aus
dem Werk des kurz vorher genannten Dio Cassius. Th. Mommsen
meinte, daß dort, wo Jordanes Fabius las, Cassiodor Ablabius geschrie-
ben haben könne, gab jedoch ohne nähere Begründung an, er selbst halte
von dieser Auffassung nicht sehr viel18.
Es läßt sich nicht direkt nachprüfen, ob — wie Schirren meinte —
Fabius bei Dio Cassius genannt war, denn dessen dem Zitat zugrunde
liegender Text ist verloren. Trotzdem dürfte Fabius Pictor, wie über-
haupt irgend ein anderer von Dio genannter Fabius nicht ernsthaft in
Betracht kommen, denn der Text lautet ja: qui nunc ut Favius alt, quod
aliquando portus fuerit, spatiosissimus ortus ostendit arboribus ple-
nus . . . Es handelt sich also um eine Nachricht, die nicht sehr viel älter sein
kann als die Zeit, in der Cassiodor und Jordanes schrieben, und daher muß
das Verhältnis der Zitate umgekehrt werden; Fabius dürfte den früheren
Zustand des Hafens von Ravenna nach Dio Cassius geschildert haben.
Sicher ist, daß die Geschichte des Alarich ein Teil der Westgoten-
geschichte ist. Typische Spuren von Einschiebungen, die von Cassiodor
stammen könnten, sind hier nicht festzustellen. Auch der Satz, der Fabius
nennt, macht nicht den Eindruck einer Einschiebung von der Hand des
Cassiodor. Es wäre ja auch schwer vorstellbar, daß der am Königshof in
Ravenna tätige Cassiodor bei der Beschreibung der Topographie der Um-
gebung dieser Stadt sich fremder Zitate bedient haben sollte, es sei denn,
er hätte vor der Aufgabe gestanden, ein fertiges und in sich geschlossenes
Textstück eines anderen Autors — evtl. leicht kürzend und zusammen-
fassend — in sein eigenes Geschichtswerk einzuarbeiten. Deswegen kann
das Textstück, das dem Fabius zuzuschreiben ist, nur vom Autor der
Westgotengeschichte eingearbeitet worden sein, es sei denn, Fabius sei
selbst deren Autor. Da die Schilderung der Topographie von Ravenna
und der Umgebung der Stadt organisch in den Bericht über den Zug des
Alarich eingefügt ist, neigt sich die Entscheidung letztgenannter Möglich-
keit zu.
Fabius als Autor einer Westgotengeschichte wäre genauso unbekannt
wie jeder andere Träger dieses Namens, der für die Nachricht von der
Topographie von Ravenna in Anspruch genommen werden könnte. Kann
man nun den Schluß ziehen, den Mommsen offenbar nicht recht wagte,
Fabius sei nichts anderes als eine Verschreibung des Namens Ablabius?
Die Handschriften haben entweder Fauius oder Fabius, deswegen dachte
auch wohl Mommsen daran, die Verschreibung könne durch Jordanes
erfolgt sein19. Die Annahme einer Verschreibung des Jordanes oder
eines späteren Abschreibers ist recht einleuchtend. Sie reicht als voll-
gültiger Beweis indes nicht ganz. Doch andere Indizien führen weiter.
Ein gewisses Stück weiter helfen beispielsweise Jordanes Getica
X X X I 162. Hier wird in einem Zusammenhang, der sicher zur West-
gotengeschichte gehört, der König Geberich als Feind der Wandalen ge-
nannt. Er wurde schon vorher viermal erwähnt. Zweimal steht sein
Name in einem Zusammenhang (Jordanes Getica X X I I 114—115), den
Mommsen dem Dexippos zugewiesen hat 20 . Er hielt es für wahrschein-
lich, daß bereits Ablabius diese Stelle in seine Gotengeschichte aufgenom-
men habe 21 . Die beiden anderen Zitate des Geberich stehen — im
engen Zusammenhang mit dem Text des Dexippos — unmittelbar davor
(Jordanes Getica X X I 112)22 und direkt danach (Jordanes Getica X X I I I
116)23. In der Tat ist ein Zusammenhang mit dem Werk des Ablabius
19
Th. Mommsen, a. a. O. X X X I I I . — Es könnte sich allerdings auch um einen
Abschreibefehler eines der ersten Kopisten der Handschrift des Jordanes han-
deln; allerdings müßte diese Kopie dann Archetyp aller erhaltenen Hand-
schriften sein.
2
» Vgl. unten S. 493 Anhang 3 Abschn. 12.
21
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X X X I I I .
22
Vgl. unten S. 493 Anhang 3 Abschn. 11.
23
Vgl. unten S. 494 Anhang 3 Abschn. 13.
72 Ablabius und der Autor der Westgotengesdiichte
14
Der Name eines Gebericus sonst nur aus Cassiodor Variae IV 20 bekannt,
doch ist der dort Genannte nidit mit dem rex Gebericus identisch.
25
Vgl. unten S. 483 Anhang 2 Absdin. 19.
M
Vgl. unten S. 489 Anhang 3 Abschn. 3.
" Vgl. unten S. 493 f. Anhang 3 Absdin. 12.
Probleme der historischen Quellen 73
28
Vgl. unten S. 489 Anhang 3 Abschn. 3.
29
Vgl. unten S. 489 Anhang 3 Abschn. 3.
30
Vgl. unten S. 490 f. Anhang 3 Abschn. 7.
31
Vgl. unten S. 497 f. Anhang 3 Abschn. 20.
32
Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XXXIII.
33
Vgl. unten S. 491 f. Anhang 3 Abschn. 8.
31
Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XXXIII.
» Vgl. Th. Mommsen, a. a. O. XXXIII. 93 f. — Vgl. auch unten S. 495 f. An-
hang 3 Abschn. 17.
74 Ablabius und der Autor der Westgotengeschichte
" Es ist sehr wahrscheinlich, doch wäre es nodi näher zu untersuchen, ob Jor-
danes Getica V 43 Ablabius zuzuschreiben ist. Dort heißt es: ante quos etiam
cantu maiorum facta modulationibus citbarisque canebant, Eterpamara,
Hanale, Fridigerni, Vidigoiae et aliorum, quorttm in hac gente magna opinio
est, quales vix heroas fuisse miranda iactat antiquitas. Die Namen Eterpa-
mara (evtl. et Herpamara) und Hanala sind sonst unbekannt. Fridigernus
ist wohl derselbe wie der Jordanes Getica X X V I 134 ff., X X V I I 140 u.
X X V I I I 142 genannte Westgote Fritigernus. Vidigoia wird Jordanes Getica
X X X I V 178 erneut in einer Einschiebung in ein Textstück genannt, das dem
Priscus zugehört und an einen Absatz angehängt ist, der Ablabius zugeschrie-
ben werden kann (Jordanes Getica X X X I V 176 ff.). Auch wäre zu unter-
suchen, ob nicht Priscus schon von Ablabius benutzt wurde. — Schon Th.
Mommsen war es aufgefallen, daß Exzerpte aus Priscus in der West- u n d
in der Ostgotengeschichte vorkommen (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1
[1882] X X X V ) . Es könnte sein, daß Ablabius u n d Cassiodor ihn unab-
hängig voneinander benutzten.
Probleme der historischen Quellen 75
den Westgoten bzw. zum Hof von Tolosa gehabt; wie anders hätte er
sonst so viele Details über die Geschichte der Westgoten in Erfahrung
bringen können? Wenn er den Regierungsantritt des Eurich mit den Wor-
ten ctii frater Eurichus praecupida festinatione succedens sceva suspicione
pulsatus est (Jordanes Getica XLV 235) kommentierte, so meint man dar-
aus eine gewisse Rücksichtnahme auf das westgotische Königshaus ent-
nehmen zu können. Der Brudermord, den Eurich offenbar beging, wurde
von anderen gallischen und hispanischen Chronisten37 viel unmittelbarer
angesprochen. Es ist aber doch wohl gewagt, dieser Ausdrucksweise des
Ablabius entnehmen zu wollen, er habe in der Nähe des Hofes von
Tolosa oder gar im Auftrag des Königs geschrieben.
Obwohl er Verbindungen zum Hofe der Westgoten besessen haben
könnte, ist es nicht wahrscheinlich, daß Ablabius ein Gote war, mag er der
gotischen Sprache vielleicht auch mächtig gewesen sein. Videres Gothorum
globos dissonis v o eib us confragosos adhuc inter bella furentia
funeri reddidisse culturam, sagte er (Jordanes Getica XLI 214) gering-
schätzig urteilend von der Artikulation der gotischen Sprache. So urteilt
man eigentlich nicht von der eigenen Sprache38.
Hätte Ablabius in Gallien geschrieben, so dürfte er gewiß die lateini-
sche Sprache benutzt haben. Das müßte aber auch gelten, wenn er anderswo
im westlichen Reichsteil gelebt hätte, auch dann, wenn er nicht Römer,
sondern Grieche gewesen wäre, wie das Beispiel des Ammianus Marcellinus
zeigt. Sollte Ablabius lateinisch geschrieben haben, so war ihm das Grie-
chische gewiß nicht fremd, wie die Verwendung einzelner griechischer
Worte in seinem Text zeigt. Allerdings betonte schon Mommsen3®, daß
die „Etymologie" des Herulernamens (Jordanes Getica X X I I I 117) auch
von einem lateinisch sprechenden und schreibenden Gelehrten hätte abge-
leitet werden können.
37 Hydatius sprach die Ermordung Theodorids durch Eurich knapp, aber klar
aus (Hydatius Lemicus Continuatio Chron. Hieronym. 238). Isidor von
Sevilla wiederholte den Hydatius wörtlich (Isidor Historia Gothorum 34).
Die Chronica Gallica a. 511 berichten dasselbe (Chron. Gall. a. 511, 643),
und Marius von Avenches sagte dasselbe ganz lapidar (Marius Chronica a.
467). Angesichts dieser sdion frühen Verbreitung der Kenntnis von der Mord-
tat fällt die Zurückhaltung des Ablabius auf. — Zu Hydatius vgl. Th. Momm-
sen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. X I (1894) 34; zu Isidor vgl. Th. Mommsen,
a . a . O . 281; zu Chron. Gall. a. 511 vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist.
Auct. ant I X (1892) 664; zu Marius vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist.
Auct. ant. X I (1894) 233.
88 Vgl. Isidor v. Sevilla Etym. IX 2, 97: Germanicae gentes dictae ... Horum
plurimae gentes variae armis discolores habitu, Unguis dissonae et
ortgine vocabulorum incertae ...
*» Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) X X X V I I f.
Probleme der historischen Quellen 77
geschrieben habe, noch sage er, ob er Römer oder Gote war bzw. ob er
griechisch oder lateinisch geschrieben habe. Auf Grund allgemeiner Er-
wägungen kam Mommsen allerdings zum Ergebnis, Ablabius müsse nicht
lange vor Cassiodor am Hofe Theoderichs in Ravenna geschrieben haben
und müsse der gotischen Sprache mächtig gewesen sein. Vom Text des
Cassiodor wies er ihm wesentliche Teile zu, nicht nur alle „sagenhaften"
Bestandteile der Getica, sondern auch manches aus anderen Schriftstellern
Übernommene, so neben Auszügen aus Dexippos auch Stücke aus Priscus.
Er war nicht abgeneigt, diesem den größten und nützlichsten Teil der
Gotengeschichte des Cassiodor zuzuschreiben, sah jedoch seine Aufgabe
nicht darin, den Text des Cassiodor daraufhin näher zu analysieren 45 .
Die Eloge des Cassiodor, die dieser dem Athalarich in den Mund
legte (Cassiodor Variae I X 25) wäre wenig verständlich, wenn das Werk
des Ablabius in Ravenna bereits vor der Abfassung der Gotengeschichte
des Cassiodor allgemein bekannt gewesen wäre. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß Cassiodor von deren Existenz erst erfuhr, als nach dem Tod Alarichs
II. Theoderich Vormund seines Enkels Amalarich wurde. Damals ge-
stalteten sich die Beziehungen zwischen West- und Ostgoten, die zwar nie-
mals vollkommen abgerissen waren, wie der Anschluß des jüngeren
Vidimer mit seiner zahlreichen Begleitung an die Westgoten zeigt, unter
dem Einfluß des großen Theoderich und seiner Politik vorübergehend
enger. Der Ostgote Thiudis wurde als Erzieher des unmündigen Amalarich
nach Spanien gesandt und gewann dort bald Einfluß und Macht46.
Es war auch die Zeit, in der Theoderich von der Existenz des jungen
Eutharich „erfuhr", der in Spanien herangewachsen war und Amaler
sein sollte (vgl. oben S. 60) (Jordanes Getica LVIII 298).
Es ist nicht sehr viel, was man zur Person des Ablabius sagen kann.
Allerdings sieht es danach aus, als sei e i n e Erwähnung bislang übersehen
worden 47 . Cassiodor richtete im Jahre 535 im Namen des Theodahad
ein Schreiben an Justinian (Cassiodor Variae X 22), worin er auf das
Geschichtswerk eines Ablabius verwies 4 ". Er schrieb: . . . considérate
etiam, principes docti, et Abiabi vestri histórica monimenta recolite,
quantum decessores vestri studerint de suo iure relinquere, ut eis parentum
45
Th. Mommsen, a. a. O. X X X V I I — X X X I X .
48
Ermordung des Amalarich durch Thiudis wird bei Isidor Hist. Goth. 43
angedeutet. — Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. XI (1894)
285.
41
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XXXVII: Ablabii
... historia ab alio nullo nominatus ...
473
Die verschiedenen Handsdiriften der Variae haben einheitlich abaui, wo Th.
Mommsen ablabi ( = ablaui) einsetzte. Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist.
Auct. ant. XII (1894) 321 Anm. zu Zeile 5. — Vgl. unten Anhang 5 Ab-
schnitt 2.
Probleme der historischen Quellen 79
der wichtigste dieser Verträge, der, den Eurich mit Julius Nepos 52 im
Jahre 475 schloß53, bei Ablabius nicht genannt. Er könnte aber einer
Kürzung des Cassiodor zum Opfer gefallen sein.
So kommt man auf verschiedenen Wegen zum Ergebnis, daß Ablabius
der Autor einer Westgotengesdiidite war, die vor Cassiodors Wirken am
Hof von Ravenna unbekannt war und die vielleicht im Bereich der West-
gotenherrschaft oder sonst irgendwo in Gallien geschrieben worden ist.
Der Anlaß, der zur Niedersdirift des Geschichtswerks führte, ist in diesem
nirgends auch nur in Umrissen zu erkennen. Man könnte sich das Werk als
Anhang — oder Vorspann — eines umfangreichen Textes denken, so wie
die Origo eine Zufügung zum Edictus Rothari war. Welcher Art dieser
Text gewesen sein könnte, muß unklar bleiben. Ein Vertrag? Eine Ge-
setzessammlung? Ebensogut kann das Werk aber auch selbständig ge-
wesen sein wie das des Cassiodor — und das des Jordanes. Vielleidit
darf man Ablabius in jenem Kreis größtenteils anonym gebliebener römi-
scher Beamten oder Juristen in Gallien suchen, aus dem Eurich sich die
Verfasser des Codex Euricianus wählte 54 .
Die Arbeit des Ablabius schloß im wesentlichen mit der Regierung des
Eurich ab und umfaßte als Einleitung die gotische „Urgeschichte". Cassio-
dor übernahm diese Westgotengesdiidite samt „Urgeschichte" in sein
Werk und setzte sie — wenn auch nur sehr kursorisch und gar nicht
systematisch — fort (Jordanes Getica LVIII 297—298 und 302). An
diese Fortsetzung schloß Jordanes selbst dann noch einen knappen Bericht
über das weitere Schicksal des spanischen Westgotenreiches an (Jordanes
Getica LVIII 302—303).
Trotz aller Aufschlüsse über den Anteil des Ablabius an der Goten-
gesdiidite des Cassiodor und trotz der daran ansdiließbaren Erwägungen
ist das Bild, das man von Ablabius gewinnen kann, noch sehr vage. Es
bleiben viele Fragen, die seine Person betreffen, ungeklärt; vielleicht
ließen sie sich nun leichter lösen. Aber eine solche Lösung — so interessant
sie wäre — würde das Thema kaum noch berühren. Allein wesentlich
ist im Grunde in diesem Zusammenhange doch nur die „Urgeschichte" der
52
Julius Nepos war 474 durch einen bevollmächtigten Vertreter des oströmischen
Kaisers Zeno in Ravenna mit dem Purpur bekleidet und auch in Rom zum
Augustus ausgerufen worden. — Vgl. E. Stein, Geschichte des spätrömisdien
Reiches 1 (1928) 584 Anm. 3 mit Quellenverweisen.
53
Vgl. E. Stein, a. a. O. 585 Anm. 6 mit Quellenverweisen. Dazu auch K. F.
Stroheker, Paläologia VII 3—4 (1955) 15 ( = Germanentum und Spätantike
[1965] 174).
54
Vgl. K. F. Stroheker, Die geschiditlidie Stellung der ostgermanischen Staaten
am Mittelmeer, in: Saeculum 12 (1961) 151 ff. 155 f. ( = Germanentum und
Spätantike [1965] 121 ff. 128 f.).
Probleme der historischen Quellen 81
Goten. Diese dem Ablabius zuschreiben zu können, darf wohl als ent-
scheidender Gewinn gelten.
Es fragt sich nun, ob sich in dieser „Urgeschichte" ein echtes Rückerin-
nern der Goten an eine Heimat im Norden abzeichnet (vgl. unten S. 109 ff.).
H. Bollnow hielt von alledem nichts55. Tatsächlich findet sich aber in
seinem Geschichtswerk v i e l , was offenbar nicht römischem oder griechi-
schem Schrifttum entnommen ist. Es sieht danach aus, als habe Ablabius
gewisse mündliche Berichte über die Geschichte der Goten — wohl aus
dem Munde von Westgoten — benutzen können. Wie er diese Berichte mit
den Exzerpten aus antiken Geschichtswerken komponierte, läßt sich durch
die Bearbeitungen des Jordanes und des Cassiodor hindurch erkennen.
Dadurch ergeben sich gewisse Möglichkeiten, mehr über den Wert der
Nachrichten vom Ursprung der Goten in Erfahrung zu bringen.
55
Er hielt die „Urgeschichte" für eine Erfindung des Cassiodor. Dessen Name
ist hier nun endgültig auszuscheiden. — Vgl. H. Bollnow, Baltische Studien
N . F . 5 4 (1968) 18 ff. bes. 19.
1
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882) XXXIII.
1
Th. Mommsen, a. a. O. XXXVIII.
arbeitete. Aber das alles sind Probleme, die die Frage des Zusammen-
hanges zwischen den Goten und Skandinavien nicht direkt berühren und
die hier deswegen beiseite bleiben können. Wichtig dagegen sind die ein-
leitenden Teile seiner Urgeschichte (Jordanes Getica I 9, III 16—24 u.
IV 25).
Sicher ist und für das Ziel dieser Untersuchung von Bedeutung, daß
Ablabius außer Dexippos, Ammianus Marcellinus und Priscus auch Pto-
lemaios und Pomponius Mela benutzt hat. Er verfügte aber auch — wie
sich zeigen läßt — über mancherlei andere Kenntnisse, die zum großen
Teil nicht aus antikem Schrifttum stammen können. Eine Analyse seiner
gotischen Urgeschichte gibt darüber mancherlei Aufschlüsse.
Ablabius begann seine Urgeschichte der Goten mit einer recht aus-
führlichen Beschreibung von Geographie und Ethnographie des Nordens
(Jordanes Getica III 16—24). Dieser Textabschnitt ist jüngst von J. Sven-
nung einer sehr gründlichen Analyse unterzogen worden3.
Der erste Satz ad Scandziae insulae situm, quod superius reliqui-
mus, redeamus stammt noch von Cassiodor. Er leitete damit von seinen
vorhergehenden Einsdiüben (Jordanes Getica II 10—15) unter Verweis auf
seine erste Erwähnung der Insel Scandza (Jordanes Getica I 9) zu den
nun folgenden Auszügen aus Ablabius über.
Svennung hat eine Gliederung der folgenden Textstellen vorgelegt'®,
der man in den Hauptteilen folgen kann. Er zeigte, daß die auf den Ein-
leitungssatz des Cassiodor folgenden Abschnitte auf Ptolemaios zurück-
gehen: est in Ocearti arctoi salo posita insula magna, nomine Scandza
(Jordanes Getica III 16) und in Scandza vero insula ..., licet multae et
diversae nationes, Septem tarnen eorum nomina meminit Ptolemaeus (Jor-
danes Getica III 19). Wahrscheinlich hat Ablabius den Text des Ptole-
maios schon ursprünglich nicht wörtlich, sondern nur dem Hauptinhalt
nach wiedergegeben. Er überging es, daß Ptolemaios nicht eine, sondern
vier skandische Inseln — drei kleine und eine große — nannte (Ptole-
maios II 11, 33) und hielt sich auch nicht bei der Aufzählung der sieben
Völker auf, die nach Ptolemaios auf Sxavöia wohnten. Aus anderer
Kenntnis schob er hier den Hinweis auf die vielen und verschiedenen
Völker ein, die auf Scandza wohnen sollen. Sicher aber hat Ablabius die
Namen der sieben Völker zur Kenntnis genommen, die Ptolemaios un-
mittelbar nach der Beschreibung der skandischen Inseln genannt hat.
Daß der Name der Insel Scandza von Ablabius tatsächlich unmittel-
bar von Ptolemaios übernommen wurde — das von Plinius Historia Na-
turalis IV, 104 überlieferte Scandia kommt als Quelle nicht in Betracht —
ist sidier. Die von seinem Text abweichende Form läßt sich leicht er-
klären. Sie ist durch einen Abschreiber — nidit durch Jordanes — ent-
stellt. Dafür kann ein direkter Beweis erbradit werden: Rodericus Tole-
tanus nannte im Vorwort zu seinem Hauptwerk De rebus Hispaniae,
das die Weltgeschichte von Adam bis zum Jahr 1243 darstellte 4 , als
Quelle u. a. die Schriften des Jordanes. Im achten Kapitel dieses Werks
heißt es5: Igitur quia magnorum petitio me coegit Gotthorum originem
et acta describere, ... vsque ad mea tempora ... descripsi. Verum cum
divers* sint opiniones de Gotthorum origine, Claudius Ptolemaus, orbis
terrq descriptor egregius refert, in Oceani solo esse magnam insulam no-
mine Scandiam, quam Pomponius Mela dich esse positam in Codano
Oceani maris sinu ... Et licet in Scandia multq & diuersie maneant na-
tiones, Septem tantum nomina eorum meminit Claudius Ptolemaus scili-
cet Gotthi, Vesegotthi, Ostrogotthi, Dani, Rugi, Arothi, Thanii, quibus
postea Rodulphus rex fuit ... Das entspricht — stark kontrahiert und
teils auch verändert — Jordanes Getica III 16—24. Die Gotthi und Ve-
segotthi sind von Rodericus eingefügt; der Rest entspricht den Ostro-
gothae ... Dani ... Rugi ... Arochi ... Rannii ... des Jordanes. Auch
die Fortsetzung bietet Auszüge aus Jordanes: Ex hac ergo Scandia insula
... Gothi cum Rege suo nomine Veric quondam memorantur egressi, ...
dedere illico nomen loco Gotthiscandiam ... Post mortem Veric regnauit
in eis Gadaric, ... Post hunc filius eius Philimer...'. Das entspricht
Jordanes Getica IV 25—26. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß Rodericus
hier ein Scandza des Jordanes auf Grund seiner Kenntnisse der antiken
Literatur wieder in Scandia gebessert haben sollte, denn von der genauen
Lage der Insel hatte er keinerlei Vorstellung. Ptolemaios, der ihm das
ursprüngliche Sxavöia hätte liefern können, war ihm nur durch Jorda-
nes bekannt, und Plinius' Scandia scheint ihm überhaupt unbekannt ge-
wesen zu sein.
Erst Alfonsus de Cartagena besaß genauere und nicht allein von
spätantiker Literatur abhängige Kenntnisse des europäischen Nordens 7 .
Er faßte Dada in der mittelalterlichen Bedeutung Dania und berichtete
von den Goten: Origo autem Gothorum ... ex insula Scanthia seu Scy-
thia fuit ... Et si accurate attendere volumus, terram illam, quam hodie
Reges Dacite tenent cum aliquibus adiacentibus, fuisse illam vnde Gothi
principaliter exierunt, existimandum est. Sunt enim quattuor regna, Da-
4 Verweis auf diese wichtige Quelle findet sidi in: J . Svennung, Zur Geschichte
des Goticismus (1967) 26 ff.
5 Zitiert nach J . Svennung, a. a. O. 27 f.
6»
84 Zu den Quellen des Ablabius
cite Sueciie Noruegi<e ac Gothic siue Gothorum8. Auch hier lebt noch das
ursprüngliche Scandia des Jordanes, wenig entstellt'.
Neben Sxavöia hätte für Ablabius zur Benennung der Insel auch
der Name Scadinavia zur Wahl gestanden, den er bei Pomponius Mela
gefunden haben dürfte. Auf diesen Autor verweist im übrigen nur das
kurze Zitat de qua et Pomponius Mela in maris sinn Codano positam
refert, cuius ripas infinit Oceanus (Pomponius Mela III 54). Die Gleich-
setzung der beiden Namen der Insel war offenbar für Ablabius kein be-
sonderes Problem. Die Gründe, weswegen er Exavöia zur Benennung
vorzog, lassen sich nicht genau erfassen. Auffallend ist, daß Ablabius
auch sonst seinen Text häufiger mit griechischen Worten versah10 als die
beiden anderen Autoren, Cassiodor und Jordanes. Daraus mag sidi die
Bevorzugung von Sxavöia erklären.
Die Zitate des Ptolemaios und des Pomponius Mela wurden von
Ablabius nach einer Weltkarte erklärt, die er offenbar auch an anderer
Stelle zur Erläuterung der geographischen Angaben seiner Gewährsleute
herangezogen hat 11 . Scandza beschrieb er nach dieser Karte ganz anders,
als er sich das Land nach den Angaben des Ptolemaios hätte vorstellen
müssen: in modum folii cetri lateribus pandis, per longum ducta conclu-
dens (Jordanes Getica III 16) und haec a fronte posita est Vistulae flu-
minis, qui Sarmaticis montibus ortus in conspectu Scandzae septentrio-
nali Oceano trisulcus inlabitur, Germaniam Scythiamque disterminans
(Jordanes Getica III 17). In Einzelheiten mag sich Ablabius bei der Geo-
graphie von Scandza auch auf Augenzeugen gestützt haben, so etwa im
Abschnitt: Haec ergo habet ab Oriente vastissimum lacum in orbis ter-
rae gremio unde Vagi fluvius velut quodam ventrae generatus in Ocea-
num undosus evolvitur. Diese Stelle wurde abwechselnd auf die drei
großen schwedischen Seen und ihre Abflüsse ins Meer bezogen, während
neuerdings J. Svennung glaubt, es könne nur ein großer See im Festland
östlich von Skandinavien gemeint sein, was ganz unwahrscheinlich ist12.
Manches muß einstweilen unentschieden bleiben.
13
Vgl. K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 684—687, wo das
gesamte hergehörige ethnographische Material erstmals zusammengefaßt wurde.
14
Strabo wird in Jordanes Getica II 12, Tacitus a. a. O. II 13 genannt, wo
Britannien behandelt wird, doch gehen diese Stellen auf Cassiodor zurück.
Plinius ist allen Autoren, die an den Getica gearbeitet haben, unbekannt
geblieben.
15
Die beiden letzten Sätze von Jordanes Getica III 24 erweisen sich inhaltlich,
aber auch durch den für Cassiodor kennzeichnenden relativischen Anschluß
an das Vorhergehende quibus non ante multos annos . . . als eine Anfügung
des Cassiodor. Dieser ist übrigens der einzige Autor der Getica, der den
Namen Germanen kannte. Sie werden hier und ferner V 31, IX 58 und XI 67
genannt.
86 Zu den Quellen des Ablabius
37 J. Svennung, a. a. O. 79 f.
38 J. Svennung, a. a. O. 82.
30 J. Svennung, a. a. O. 92 f.
40 J. Svennung, a. a. O. 103 f. — Der Name dürfte aus *Agandii entstellt sein
wie Scandza aus Scandia.
41 J. Svennung, a. a. O. 106 f.
42 J. Svennung, a. a. O. 102 f., die Form Arothi ist noch bei Rodericus Toleta-
nus erhalten; vgl. oben S. 83.
43 J. Svennung, a. a. O. 110.
44 J. Svennung, Fornvännen 59 (1964) 72 f.; ders., Jordanes und Scandia (1967)
30 f. Abb. 4 u. 5.
Probleme der historischen Quellen 91
gothae stehen diese Namen verstreut. Die ''Vagothae folgen den Theust es
u n d gehen d e n Bergio, Hallin u n d Liothida v o r a n . D e n Ahelmil, Fin-
naithae u n d Fervir f o l g e n d a n n d i e *Gauthigothae. Die *Euagreotingi
folgen den *Hixi und schließen den ersten Teil der Aufzählung ab. Die
Reihenfolge ist in keiner Weise ungewöhnlich. Die Charakterisierung
acre homimum genus et at bella prumtissimum ( J o r d a n e s G e t i c a I I I 22)
hebt die *Gauthigothae zwar aus der Masse der insgesamt 25 Namen
heraus, aber audi die Finni und die Suetidi erfahren eine gleichartige
Charakterisierung, und es gibt keinen Grund, anzunehmen, das Epithe-
ton der *Gautigothae sei von Ablabius mit einem Seitenblick auf die
Goten, insbesondere die Westgoten eingeschoben worden.
Recht auffallend ist, daß Ablabius von den bei Ptolemaios genann-
ten sieben Stämmen nicht einmal die Toitcu erwähnt. Nach den Prin-
zipien der antiken Etymologie wäre es für ihn ein leichtes gewesen, in
ihnen die Gothi bzw. die Tofftoi seiner Gewährsleute Ammianus Marcel-
linus48 und Dexippos 47 zu erkennen. Das Fehlen des Namens der ToOtat
läßt sich nur dadurch erklären, daß die ganze Aufzählung der skandi-
navischen Stämme nicht direkt auf die Goten bezogen ist, sondern nur
die Fülle der Stämme des Nordens illustrieren sollte48.
Es überrascht daher auch nicht, daß keiner der skandinavischen
„Gotenstämme" als Verwandter der festländischen Goten, d. h. der an-
geblichen Auswanderer, hingestellt wird 4 '. Ablabius, der so gerne gegen-
wärtige und vergangene Zustände verglich, hatte hier keinen Kommentar
zur Hand. Aber im Hintergrund steht doch ein Vergleich: Ptolemaios
konnte nur sieben Völker nennen, demgegenüber standen Ablabius für
seine Zeit 25 Namen zur Verfügung. Man kann daher getrost annehmen,
d a ß A b l a b i u s d i e N a m e n v o n *Vagothae, *Gauthigothae u n d *Euagreo-
tingi nicht eingeschoben hat. Auch Cassiodor und Jordanes kommen für
eine solche Maßnahme nicht in Betracht. Um so bedeutsamer ist ihre
Erwähnung! Sind alle diese Überlegungen richtig — nichts spricht
eigentlich dagegen —, dann hat des Ablabius skandinavische Völkertafel
historisches Gewicht. Sie zeigt, daß im 5. Jh. nach Christi Geburt in
Skandinavien Bevölkerungsgruppen siedelten, die in verschiedenen Kom-
46
Vgl. die Belege für den Namen Gothi bei M. Schönfeld, Wörterbuch der
altgermanisdien Personen- u. Völkernamen (1911) 120.
47
Vgl. den Beleg für röxftoi bei M. Schönfeld, a. a. O. 121, wonach man wohl
annehmen darf, daß Dexippos diese Form benutzt hat.
48
Auffallend ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß Ablabius die von
Ptolemaios genannten Stammesnamen nicht zur Auffüllung der Zahl skan-
dinavischer Stämme benutzte. Nur die $ivvoi nannte er — allerdings aus
einer anderen Quelle.
Probleme der historischen Quellen 93
49 Die Dani und die Heruli, von deren Wanderung gesprochen wird, wurden
ja von Cassiodor eingefügt.
50 C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten a. Schweden (1958) 14.
51 H. Berger, Geschichte d. wissenschaftlichen Erdkunde d. Griechen ( 2 1903)
206 ff.
94 Zu den Quellen des Ablabius
liehen Zonen, die als unbewohnbar galten, die einzig bewohnbaren ge-
mäßigten Zonen. Erst Pytheas von Massilia behauptete ja ernstlich, die
Insel Thüle — sie war nach seinem Bericht bewohnt — liege unter dem
Polarkreis, also in der bislang für unbewohnbar gehaltenen nördlichsten
der fünf zu seiner Zeit angenommenen Erdzonen 52 . Er erntete, weil er
gegen die herrschende Lehrmeinung verstieß, Schimpf und Schande. Noch
Strabo polemisierte dagegen, nannte Pytheas einen Lügner (Strabo
Geogr. IV 201) und meinte, die äußersten bewohnbaren Nordländer
seien im Westen die Insel lerne (Irland) und im Osten das Land der
roxolanischen Skythen (Strabo Geogr. II 114 f.).
Die pseudohippokratisdie Klimalehre und die These vom Menschen-
reichtum des Nordens sind zwei verschiedene Theorien, die primär nicht
aneinander gebunden waren. Die Genesis der letztgenannten Theorie muß
anderswo gesucht werden. Eine gründliche Untersuchung fehlt, doch ist
immerhin soviel sicher, daß sich Spuren von ihr bereits im ersten nach-
christlichen Jahrhundert nachweisen lassen und daß sie bis ins letzte
vorchristliche Jahrhundert zurückreichen muß.
Neque enim plaga gentibus ttlla ditior: aeterno quamquam Maeotia
pubes Marte cadat, pingui numquam tarnen ubere defit quod geminas
aretos magnumque quod impleat anguem (Valerius Flaccus Argonautica
VI 37), so schilderte Valerius Flaccus in der zweiten Hälfte des ersten
nachchristlichen Jahrhunderts die Eignung des Nordens für die Fort-
pflanzung der Völker 58 . Schon vorher erwähnte Plinius Hist. Nat. IV 13,
96 die Hillevionum gens, die in 500 Gauen Scadinavia bewohnten, und
zeigte damit, daß er sich diesen Teil des Nordens dichtbesiedelt vor-
stellte. Etwas später ist der Menschenreichtum des Nordens für Tacitus
eine so große Selbstverständlichkeit, daß er sie gar nicht mehr eingehen-
der begründen zu brauchen meinte, und sie einfach als Nebensatz tam-
quamM in tanto hominum numero in den Satz unde habitus quoque cor-
porum,..idem omnibus (Tacitus Germania 4) einfügte.
In vorchristlicher Zeit ist die Vorstellung vom Menschenreichtum des
Nordens nicht expressis verbis belegt. Es spricht aber vieles dafür, daß
sie spätestens unter dem Eindruck der Kimbern- und Teutonenkriege
entstand. Die große, oft scheinbar überlegene Masse der Feinde, deren
Herkunft zwar umstritten war, wenngleich Einigkeit darüber bestand,
daß sie aus einem fernen, unbekannten nördlichen Land stammen mußte,
52
H. Berger, a. a. O. 208 ff.
5S
Vgl. C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten a. Schweden (1958) 17.
54
Zum Stand der Überlieferung dieser Stelle — quamquam oder tamquam in
tanto hominum — vgl. Ed. Norden, Die germ. Urgesch. in Tacitus Germania
(1920) 52 Anm. 2 u. Rud. Much, Die Germania des Tacitus (1937) 68 f.;
(»1967) 98.
Probleme der historischen Quellen 95
und von der man seit Caesar wenigstens in Rom zu wissen meinte, daß
sie germanischer Abstammung sei, zeugte von den schier unerschöpflichen
Bevölkerungsmassen des Nordens. Der Krieg Caesars in Gallien und die
Germanenkriege des Augustus und Tiberius bestätigten diesen Eindruck.
In diese Zeit fällt zudem ein beträchtlicher Zuwachs an geographischen
Kenntnissen des Nordens, so daß Pomponius Mela bereits von der Größe
und Fruchtbarkeit der Insel Scadinavia berichten konnte (Pomponius
Mela III 6,54), was dann Plinius etwas später durchaus zu bestätigen
wußte (Plinius Hist. Nat. II 108,246).
Ablabius kann allerdings Gedankengut, in dem Menschenreichtum
und Fruchtbarkeit des Nordens eine Rolle spielten, weder von Tacitus
noch von Plinius, die er beide nicht kannte, bezogen haben55. Der von
ihm einmal zitierte und mehrfach benutzte Pomponius Mela (Jordanes
Getica V 44 f., X I I 75) kommt als Quelle weniger in Betracht, da er von
der Fruchtbarkeit der Insel Scadinavia nur beiläufig sprach. Auch aus
einer anderen alten Quelle kann Ablabius seine Kenntnisse kaum be-
zogen haben. Er dürfte sich — wie übrigens Paulus Diaconus auch —
am Wissen und Bildungsgut seiner Zeit orientiert haben. Daß in der
Spätantike bzw. Frühmittelalter die Vorstellung von der Menschenfülle
des Nordens noch lebendig war, zeigt ja am unmittelbarsten und deut-
lichsten die Etymologie des Germanennamens bei Isidor. Bezeichnend
ist, wie Paulus von den zahllosen Gefangenen sprach, die im Laufe der
Germanenkriege nach dem Süden gebracht wurden, und von den vielen
Völkerschaften, die von dort nach dem Süden zogen: Multae quoque ex
ea, pro eo quod tantos mortalium germinat, quantos alere vix sufficit,
saepe gentes egressae sunt, quae nihilominus et partes Asiae, sed maxime
sibi contiguam Europam adflixerunt ... Gothi siquidem Wandalique,
Rugi, Heroli atque Turcilingi, necnon etiam et aliae feroces et barbarae
nationes e Germania prodiemnt (Paulus Diaconus Hist. I 1). Das Ex-
pansionsstreben der Germanen mußte der Antike — ganz gleich, welche
Hintergründe es in Wirklichkeit hatte (vgl. unten S. 328 ff.) — als eine
Folge permanenter Überbevölkerung erscheinen. Die Vorstellung des Ab-
labius von Scandza als einer officina gentium erweist sich also als eine
Vorstellung der antiken Ethnographie, die für die Beurteilung der wirk-
lichen Bevölkerungsverhältnisse des Nordens als alleinige Quelle wenig
Wert hat.
Dieser Überblick zeigt, wie verwickelt die Quellenlage in des Ab-
labius gotisdier Urgeschichte ist und wie unterschiedlich der Wert der
Quellen ist. Exzerpte aus antiken Quellen (Ptolemaios, Pomponius Mela
51 Nur Cassiodor kannte Tacitus als Cornelius annalium scriptor (Jordanes Ge-
tica II 13), hat aber für seine Gotengesdiidne nur das Buch vom Leben des
96 Zu den Quellen des Ablabius
« a Vgl. Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. X I I I (1898) 38. — Audi
H. Matter, Englische Gründungssagen v . Geoffrey of Monmouth b. z. Re-
naissance (1922) 150 fi. — Zur Bedeutung der Dreizahl vgl. A . Olrik, Epische
Gesetze d. Volksdichtung, in: Zeitschr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 51
(1909) 1 — 1 2 bes. 4.: „ . . . die d r e i z a h 1 ist auch ein g e s e t z f ü r s i c h ,
daß sie in märdien und mythus, selbst in der schlichten ortssage unglaublich
Probleme der historischen Quellen 97
leicht etwa 100 Jahre nach dem Einsetzen des germanischen Einwande-
rungsstroms, dessen Beginn man indes nicht nach den Daten der Sagen
selbst fixieren sollte. Keinesfalls können also viel mehr als hundert Jahre
für die Entwicklung der Sage angesetzt werden. Hundert Jahre vor
Ablabius siedelten Goten allerdings längst in Südrußland. Die Tradition,
die er in sein Geschichtswerk übernahm, müßte, richtet man sich nach der
Sachsensage, also wesentlich früher entstanden sein. Man sollte aber
keinen stereotypen Ablauf solcher Sagenbildungen voraussetzen.
Es ist auch nicht ganz ohne Wert, den gemeinsamen Kern beider
Sagen kurz zu umreißen: Auswanderung, Fahrt mit drei Schiffen übers
Meer, zwei oder auch ein Führer, Landnahme im Kampf gegen die Ein-
heimischen, das sind die Motive. Sie sind nicht ganz ohne Seitenstücke
unter anderen germanischen Herkunftsberichten. Die Langobarden wan-
dern unter Ybor (Paulus: Ibor) und Agio (Paulus: Aio) aus; sie erober-
ten im Kampf ihre neue Heimat. Das Motiv der Fahrt mit drei Schiffen
fehlt, denn der Zug ging über Land. Wäre der Name des gotischen Füh-
rers Berig etymologisch völlig durchsichtig und wäre es zulässig, in ihm
eine Ableitung von got. *baira = Bär zu sehen60, vergleichbar dem
Namen Beremud81, so wäre der Bezug zwischen den Herkunftssagen
durch die Tiernamen der Führer — Hengist, Horsa, Ybor ( = Eber) —
deutlich gefestigt. Hengist und Horsa, Ybor und Agio erinnern übrigens
an Namenpaare wie Ambri und Assi (Origo gentis Langobardorum 1),
Raptos und Raos (Dio Cassius L X X I 12,1), Ariarich und Aorich (Jorda-
nes Getica X X I 112). Stabende Namenpaare solcher Art waren beliebt,
allerdings in der Sage wie in der Geschichte.
Soviel immerhin bleibt bei aller Unsicherheit sicher: In der Wander-
sage der Goten — Auswanderung unter Berig aus Scandza, Überfahrt
mit drei Schiffen, Landung auf dem Festlande, Kampf gegen Ulmerugier
und Wandalen — liegt echtes germanisches Sagengut vor. Mindestens
teilweise muß Ablabius hier übernommen haben, was man sich bei den
Goten erzählte.
Jordanes Getica I V 25 zeigen allerdings, daß Ablabius auch Vor-
stellungen, die aus antikem Gedankengut stammen, mit der Gotensage
verbunden hat: Der Bericht vom Menschenreichtum des Nordens und
auch der Name der Insel stammen aus dem antiken ethnographischen
60 Daran dachte K. Müllenhoff, in: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct.
ant. V, 1 (1882) 1 4 7 ; vgl. F. Wrede, Über d. Sprache d. Ostgoten i. Italien
(1891) 94 Anm. 5 ; vgl. audi: M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen-
u. Völkernamen (1911) 50. — Für diese These hat O. Höfler zahlreiche Be-
lege; vgl. oben S. 45 Anm. 40.
81 F. Wrede, a. a. O. 9 4 ; M. Sdiönfeld, a. a. O. 49 f.
Probleme der historischen Quellen 99
7*
100 Zu den Quellen des Ablabius
daß dieser die Einwanderung auf dem Landwege ableugnete und nur die
zu Schiff gelten lassen wolle, weil er sich nach den Wandersagen antiker
Völker orientierte. Rud. Much erklärte dieselbe Stelle fast wörtlich eben-
so*4. Müllenhoff glaubte ferner, Tacitus polemisiere hier gegen eine ent-
gegengesetzte Ansicht eines anderen römischen Gelehrten und dachte, es
müßte namentlich Plinius solche anderslautenden Hypothesen vorge-
bracht haben.
In der Tat liegt es im ersten Augenblick nahe, in diesem Zusam-
menhang zwar nicht an Wandersagen antiker Völker im allgemeinen,
sondern an die Wandersage der Römer im speziellen zu denken: Aus-
wanderung (aus Troja), Fahrt mit (in diesem Fall: 20) Schiffen, ein
Führer (Aeneas), Landnahme (nach allerhand Irrfahrten) im Kampf
gegen die Einheimischen, d. h. die Form, die — nach vielen älteren
Varianten 95 — durch das Werk des Vergil zur herrschenden gemacht
wurde. Tatsächlich sind ja auch Spuren des Vergil in der Gotengeschichte
vorhanden (Jordanes Getica I 9, V 40 und V I I 50), doch gehen sie alle-
samt auf Cassiodor zurück und sind lediglich novellistische Ausschmük-
kungen ohne tieferen Sinn. Ablabius selbst hat Vergil nicht gekannt,
jedenfalls nicht benutzt. Allerdings schließt das nicht aus, daß die Tro-
janersage auf anderem Wege dem Ablabius bekannt geworden sein
könnte, ja, es ist nicht unmöglich, daß sie schon früh unter Abwerfung
der alten Länder- und Personennamen auf germanische Sagenmodelle
eingewirkt und sie wesentlich beeinflußt haben könnte.
Mindestens teilweise ist dies Problem überblickbar, und es lassen sich
die damit verbundenen Fragen beantworten. Es ist allerdings erforder-
lich, einige Umwege zu machen. Seit den Forschungen des Poseidonios,
insbesondere aber seit Caesars Bericht über den gallischen Krieg, der das
ethnographische Denken der Römer tief beeinflußte, wurde es in der
römischen Ethnographie üblich, Aufschluß darüber zu suchen, was die
Barbaren s e l b s t über ihre Herkunft wußten, und deren Angaben zu
übernehmen 66 . Nachrichten von der Herkunft der Germanen, die man
diesen selbst zuschreiben konnte, lagen dem Tacitus tatsächlich vor, und
er benutzte sie auch (Tacitus Germania 2,8). Die Mannus-Genealogie gab
aber nur über den Stammvater der Germanen Auskunft, nicht aber über
64 Rud. Much, Die Germania d. Tacitus (1937) 18; (»1967) 47. — Dasselbe
deutete auch Ed. Schwyzer in seiner Bearbeitung der von H . Schweizer-Sidler
kommentierten Ausgabe der Germania des Tacitus an; vgl. Tacitus' Germania
erläutert von H . Schweizer-Sidler ( 9 1902) 5.
45 Vgl. J . Perret, Les origines de la legende troyenne de Rome (1942) 438 ff.;
A. Alföldi, Die trojanischen Urahnen d. Römer (1957) 9 ff.
66 Vgl. E. J . Bickerman, Origines gentium, in: Classical Philology 47 (1952)
75 ff.
Probleme der historischen Quellen 101
Es zeigt sich damit, daß die Spekulation über die Herkunft der
Germanen für Tacitus keinen festen Hintergrund und auch keine allge-
meine Verbindlichkeit hatte. Und das erklärt es auch, warum sich in der
antiken Ethnographie keine gleichartigen Beweisführungen finden oder
keine Auffassungen nachweisen lassen, die auf ähnliche Argumentationen
hinweisen. Ein Zusammenhang zwischen der gotischen Scandza-Sage und
der römischen Troja-Sage und -Dichtung — nicht wie Müllenhoff und
Much meinten, verschiedener mediterraner Herkunftsberichte — könnte
allerdings auch dann, wenn Tacitus oder seine Zeitgenossen als Mittler
ausfallen müßten, immer noch möglich sein; oder sollte man jede Mög-
lichkeit einer älteren Übertragung der Troja-Sage ausschließen können?
Die gesamte Problematik ist einigermaßen überschaubar, nachdem E. J.
Probleme der historischen Quellen 103
Bickerman die Auffassungen der Griechen und Römer von den origines
gentium eingehender untersucht hat 68 .
Es ist lange bekannt, daß der Glaube der Römer an ihre trojani-
schen Ahnen tief in vorchristlicher Zeit wurzelt, und daß den Griechen
diese Ansicht lange fast unbekannt blieb und erst von Dionysios von
Halikarnassos in die griechische Historiographie übernommen wurde.
Die Griechen gingen nämlich, wenn sie die eigene Herkunft oder die
barbarischer Völkerschaften untersuchen wollten, andere Wege. Sie
schätzten — anders als die Römer — die einheimische Abstammung hoch
ein und versuchten — wenn irgend möglich — die Wurzel der Herkunft
in der griechischen Mythologie zu finden. Die griechische Wissenschaft
ignorierte dabei weitgehend die Tradition jener, deren Abstammung sie
zu erklären suchten und scheute sich keineswegs, auch barbarischen Völ-
kern griechische Vorfahrenschaft anzudichten. Das griechische Weltbild
war eben hellenozentrisch.
Im Gegensatz zur griechischen Wissenschaft, die bis in die Spätzeit
ihre eigenen Praktiken beibehielt — des Poseidonios Versuche, „empi-
risch'" Aufschlüsse zu gewinnen, blieben ein Einzelfall —, übertrug die
römische Ethnographie von sich aus die Vorstellung von der eigenen
Herkunft n i c h t auf barbarische Völkerschaften. Wo Nichtrömer ihre
Herkunft von Troja ableiteten, dort geschah es ohne unmittelbares
Zutun der Römer selbst und wurde offiziell nicht gebilligt und nicht
anerkannt.
Ammianus Marcellinus lieferte für die Gallier eine ganze Kollektion
verschiedener Herkunftsberichte, die das, was Griechen, Römer und Ein-
heimische wußten bzw. dachten, auf überzeugende Weise illustrieren 69 .
Was er schrieb, das bezog er vornehmlich von dem in Rom arbeitenden
Griechen Timagenes (Ammianus Marcellinus XV 9,2—6). Quidam firma-
runt, meinte er, daß die Kelten nach einem von ihnen verehrten König
hießen bzw. daß sie den Namen TaXaTai nach dessen Mutter trügen. Das
ist eine der griechischen Versionen, die sich schon bei Kallimachos und bei
Timaios findet70. Die zweite Angabe, die Ammianus Marcellinus lieferte,
Herkunft der Kelten von Dorern, die sich in diesem Land niederließen,
stammt ebenfalls aus dem griechischen Bereich. Die dritte These Drasidae
memorant, wie Ammianus Marcellinus sagte. Sie gibt also eine Meinung
der Kelten selbst wieder. Danach sollten diese teils autochthon, teils über
den Rhein eingewandert sein. Das ist im Stil römischer Ethnographie be-
richtet, die etwa seit Caesars Zeit — wahrscheinlich unter dem Einfluß
poseidonischer Empirie — begann, die Herkunftsberichte der Eingebore-
nen zu übernehmen, zumindest von ihnen zu berichten71. Es folgt danach
die der Herkunftstradition der Römer nachgebildete gallische These, daß
nach der Zerstörung Roms wenige Trojaner nach Gallien, das damals un-
bewohnt war, flohen und sich dort ansiedelten. Ammianus Marcellinus
war das Herkunftsdenken der Römer genügend vertraut. Er distanzierte
sich daher von der Ansicht der Gallier und betonte, es seien ja nur quidam
pauci, die die trojanische Abstammung der Gallier behauptet hätten. Er
legte Gewicht auf eine vierte Version, die sichtlich wieder aus griechischem
Denken entstanden ist, da sie die Kelten für Nachkommen des Herakles
hält.
Im Altertum scheinen die Gallier überhaupt die einzigen unter den
nördlichen Barbaren gewesen zu sein, die Anspruch erhoben, wie die Rö-
mer aus Troja zu stammen, und das hängt gewiß mit ihrer fortgeschritte-
nen Romanisierung, aber auch mit anderem zusammen. Die Nachricht des
Ammianus Marcellinus ist nämlich nicht die erste ihrer Art. Lucanus läßt
dies erkennen: Arvernique ausi Latio se fingere fratres sanguine ab Iliaco
populi (Lucanus bell. cio. I 427 f.). Anlaß dazu mag gewesen sein, daß der
römische Senat die Häduer zu fratres consanguineique der Römer ernannt
hatte (Caesar B. G. I 33,2), und es ist vielleicht kein Zufall, daß von den
den Häduern benachbarten Arvernern als ersten der Anspruch auf troja-
nische Herkunft berichtet wird72. Sichtlich lehnte auch Lucanus diesen An-
spruch ab7S.
Die Römer selbst haben gewiß nichts dazu beigetragen, die Ausbrei-
tung der Troja-Sage zu fördern. Bei den übrigen Germanen ist die Ver-
knüpfung der Goten mit Troja durch Cassiodor bei Jordanes Getica I X 60
offensichtlich nicht beachtet worden. Für Ablabius kam sie im übrigen zu
spät. Fredegars Anspruch auf Herkunft der Franken von den Trojanern
entstand viel später und im übrigen in einer ganz veränderten Welt. Soll-
ten sich in der Scandza-Sage der Goten, wie sie von Ablabius überliefert
wurde, Einflüsse von Seiten der römischen Troja-Dichtung niedergeschla-
71 E. J . Bickerman, a. a. O. 75 f.
72 Vgl. Caesar B. G. I 31, wo Caesar den Häduer Divitiacus berichten läßt,
Galliae totius factoines esse duas: harum alterius principatum tenere Hae-
duos, alterius Arvernos. — Es ist also einer der beiden bedeutendsten galli-
schen Stämme, der Anspruch auf trojanische Herkunft zu erheben scheint.
73 Th. Birt, Rhein. Museum f. Philologie N . F. 51 (1896) 506 ff. stellte Proper-
tius II 13, 48 in diesen Zusammenhang. Dort heißt es, daß gallische Solda-
ten Troja gegen Nestor verteidigten. Damit wäre evtl. die Entstehung der
These von der Herkunft der Gallier aus Troja sdion für das letzte Jh. v.
Chr. belegt.
Probleme der historischen Quellen 105
gen haben, so müßte das spätestens zur Zeit des Ablabius geschehen sein,
und zwar in Gallien. Um solche Möglichkeiten zu klären, muß die Stel-
lung der gotischen Könige und deren Ansprüche dem weströmischen Kai-
ser, später dem in Konstantinopel gegenüber überprüft werden.
In Italien gingen nach dem Untergang des selbständigen Westreichs
die kaiserlichen Befugnisse zunächst auf Odovakar über. Dieser hatte 476
Romulus Augustulus beiseite geschoben. Damals lebte zwar dessen Vor-
gänger Julius Nepos noch, der seine Ansprüche von Dalmatien aus geltend
zu machen suchte, doch ließ Odovakar den römischen Senat Gesandte nach
Konstantinopel schicken, die dort erklärten, es bedürfe keines besonderen
Kaisers im Westen mehr, der in Konstantinopel genüge für beide Reichs-
teile. An diesen gingen nun die Rechte des Reiches im Westen über, und
Odovakar bemühte sich, von ihm die Würde eines patricius und die Lei-
tung der Angelegenheiten Italiens und damit des ganzen Westens zu er-
halten. Auch Theoderich zog noch — auf der Grundlage eines Vertrages —
im Auftrag des oströmischen Kaisers nach Italien, und er erschien dort als
römischer Beamter. Er war — von Zeno dazu ernannt — magister militum
praesentalis und patricius des Ostreichs in Italien, und er behielt diese
Ämter, wenngleich er sich nun der Titel enthielt. Die ihm zustehende
Macht ging aber weit über römische Ämter hinaus, denn schon früh hatte
ihn sein Heergefolge zum rex erhoben (Malchus frgt. 11 Müller). Theo-
derich gewann von Athanasios die Genehmigung, Konsuln vorzuschlagen,
die weiterhin vom Kaiser des Ostens eingesetzt wurden, und erhielt auch
die ornamenta palatii (Anonymus Valesianus X I I 64) 74 , ein Ornat, das
seiner Stellung als rex angemessen war75. Des römischen Kaisers Tracht
und Titel strebte er offenbar nicht an™ (Prokop Bell. Goth. I 1,26). Die
Machtbefugnisse in Italien, die Theoderich anstrebte und teilweise auch
erreichte, waren allerdings denen des oströmischen Kaisers ähnlich. Trotz-
dem galten die Provinzen, über die er gebot, nach wie vor als Bestandteil
des Römischen Reichs77. Er versuchte, völlige Freiheit des Handelns im
ihnen konnte sich ein Überlegenheitsgefühl über die Römer und ihr Impe-
rium nicht entwickeln.
Der erste Vertrag, von dem Ablabius berichtet, wurde von Alarich
geschlossen. Als die Westgoten nach Norditalien vorrückten, versuchte er
zunächst durch eine Gesandtschaft an den Kaiser Honorius das Recht zu
erwirken, sich mit seinen Westgoten in Italien niederzulassen (Jordanes
Getica XXX 152). Er erreichte es zwar nicht, doch gestattete ihm eine kai-
serliche Schenkung — donatio sacro oraculo confirmata —, sich in Gallien
und Spanien anzusiedeln (Jordanes Getica XXX 153). Als der Nachfol-
ger des Alarich, Atavulf, Italien verließ, schloß er mit dem Kaiser Hono-
rius einen Vertrag — foedus — (Jordanes Getica XXXII 164), der ihm
erneut das Recht gesichert haben dürfte, sich mit den Westgoten in Gallien
niederzulassen, nachdem Stilicho den ersten Vertrag gebrochen hatte. Die-
ses Abkommen wurde unter Vallia erneuert, der sich verpflichtete, sua
solacia Romanae rei publicae, ubi usus exegerit, non denegaret (Jordanes
Getica XXXII 165). Nicht nur Ablabius berichtete davon; auch Orosius
wußte von diesem Abkommen und seinen Bestimmungen (Orosius VII
43, 12). Dieser Vertrag bestand bis in die Regierung des Theodorid, wurde
— wie Ablabius berichtet (Jordanes Getica XXXIV 176) — von den
Römern gebrochen, doch dann alsbald erneuert, ohne daß der Krieg, den
beide Teile vorbereitet hatten, zum Ausbruch kam (Jordanes Getica
XXXIV 177). Als die Hunnengefahr anbrach und Attila Gallien be-
drohte, erinnerte Kaiser Valentinian III. an diesen Vertrag (Jordanes Ge-
tica XXXVI 187 f.). Ablabius berichtet selbst, daß das alte Abkommen
erst von Eurich gebrochen wurde, als Anthemius (467—472) Kaiser in Rom
war (Jordanes Getica XLV 237). Daraufhin bemächtigten sich die West-
goten großer Teile des südlichen Galliens, die ihnen vertraglich nicht zu-
gestanden hatten, ihnen dann aber in einem neuen Vertrag vom Kaiser
Julius Nepos abgetreten wurden80.
In dieser ganzen Zeit wurde von den Westgoten die Rechtsstellung
des westlichen Kaisertums niemals längere Zeit ernsthaft in Frage gestellt.
Die Pläne des Atavulf in Verbindung mit der Heirat der Galla Placidia
blieben eine Episode. Auch als dann die Westgoten unter Vallia in Süd-
frankreich ansässig wurden, veränderte sich ihre Stellung gegenüber den
früheren Föderatverträgen zunächst nicht. Das foedus wurde nur vor-
übergehend unter Theodorid I.81 gebrochen (Apollinaris Sidonius Carm.
VII 215; Prosper Tiro Chron. 1371), und erst Eurich dürfte — höchst-
80 So nach Ennodius v . Epiphani 79 ff. (Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V I I [1885]
94).
81 Vgl. L. Schmidt, Geschichte d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung.
Die Ostgoten ( 2 1934) 464.
108 Zu den Quellen des Ablabius
82 Vgl. dazu Fr. Werner, Die Latinität d. Getica d. Jordanis (1908) 111.
110 Die westgotische Scandza-Tradition
Weib und Kind auswandern. Als er nach geeigneten Wohnsitzen und pas-
senden Gegenden suchte, kam er in die Länder Skythiens, -welche in ihrer
Sprache Oium heißen. Nunmehr rief der Gepidenkönig sein ruhiges Volk
auch auf und erweiterte das Stammesgebiet mit den Waffen. Die Bur-
gunden schlug er fast bis zur Vernichtung und besiegte auch noch andere
Völker." — Das ist der deutsche Wortlaut der Gotensage, wie man sie sich
bei den Westgoten wohl erzählt hat bzw. wie Ablabius die Erzählung
selbst gehört und niedergeschrieben haben dürfte1.
Auch die Fortsetzung der Erzählung läßt sich unschwer übersehen:
Die Goten selbst waren bereits in ihren neuen Wohnsitzen in Skythien
längere Zeit ansässig, als Fastida und die Gepiden — offenbar nach der
Auseinandersetzung mit Burgunden und anderen — nach dem Süden vor-
drangen. Damals kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Gepiden und
Goten, deren König Ostrogotha war. Die Schlacht verlief für die Goten
günstig, und Fastida mit seinen Gepiden zog sich wieder zurück.
Mit der Schilderung dieser Auseinandersetzung dürfte die Gotensage
abgeschlossen gewesen sein. Es sieht aus, als habe Ablabius alles weitere
unter Verwendung von Auszügen aus den Werken antiker Autoren
— u. a. Ammianus Marcellinus und Dexippos — selbst zusammengestellt,
deren Spuren nunmehr sichtbar werden2.
Gegenüber dem ursprünglichen Wortlaut kann Ablabius zwei Ände-
rungen vorgenommen haben: Als Namen der Insel setzte er — falls er in
der Sage nicht genannt war — nach Ptolemaios Sxavöia ein. Dieser Name
wurde später von Abschreibern in Scandza verderbt. Entsprechend bes-
serte er auch den Namen des neuen Siedlungsgebiets, indem er auch dort
den von Ptolemaios überlieferten Namen der Insel hinzusetzte, so daß
dort Gotkiscandia, später Gothiscandza entstand (vgl. oben S. 83 f. und
unten S. 120 f.).
Über die Zeit, in der die Scandza-Tradition sich bei den Goten ent-
wickelte, lassen sich allenfalls Vermutungen anstellen. Die Namensety-
mologie der Gepiden könnte auf eine spätere Zeit verweisen, in der Goten
und Gepiden sich verfeindeten und beide Stämme unter Fastida und
dem Dexippos, wie neben älteren auch L. Schmidt erkannt hat'. In den
wenigen Fragmenten, die von dessen Sxuftixá erhalten geblieben sind,
findet sich der Name des Ostrogotha nicht. Daraus mit L. Schmidt zu fol-
gern, Dexippos habe den Ostrogotha überhaupt nicht genannt, also auch
nicht gekannt, erscheint gewagt, denn es lassen sich aus der von Ablabius
gewiß unabhängigen Literatur der Antike so viele Anhalte gewinnen,
welche die Richtigkeit seiner Chronologie ergeben, daß es unumgänglich
ist anzunehmen, er habe mehr antike Nachrichten verfügbar gehabt,
als sein Werk jetzt erkennen läßt, darunter auch solche, die sonst verloren
sind, ja sogar Texte, die Ostrogotha genannt haben.
Ablabius berichtet, Philippus habe den Senator Decius, den späteren
Kaiser, gegen die Goten des Ostrogotha gesandt (Jordanes Getica
X V I 90), doch habe dieser keinen Erfolg gehabt. Ostrogotha seinerseits
habe Argaith und Guntherich, Edle des Gotenvolkes, die Stadt Marciano-
polis angreifen lassen (Jordanes Getica X V I 91). Deren Verteidigung ge-
gen Goten wurde von Dexippos geschildert (Jacoby, 100, fr. 25). Personen
sind dabei nicht genannt. Schon R. Köpke sah im Namen des Argunthis,
rex Scytbarum zur Zeit des Gordian I I I . (238—44) eine falsche Zusam-
menziehung der Namen Argaith und Guntherich10. Beim Tode des Misi-
theus, Schwiegervater Gordians III., der bislang die Sicherung der Nord-
ostgrenze in Händen gehabt hatte, seien die Skythen unter Argunth über
die Grenze vorgestoßen. Das war im Jahre 243. Es müßte — ist die Na-
mensidentifikation richtig — ein anderer Vorstoß der beiden Gotenführer
gewesen sein, als der gegen Marcianopolis. Tatsächlich berichtet Ablabius
bei Jordanes Getica X V I 92, Argaith und Guntherich hätten de secundo
Mösien verheert und hätten dann auch Marcianopolis angegriffen. Dieser
Angriff muß unter der Regierung des Decius erfolgt sein (249—251), wie
sich aus Dexippos entnehmen läßt. So scheint also die Rechnung des
Ablabius aufzugehen!
A. von Gutschmid war nicht abgeneigt, in Jordanes' Getica eine Bal-
then-Genealogie eingestreut zu sehen11. Er sah in Ostrogotha einen ost-
gotischen König unbekannten Namens und meinte, in Cniva, der nach
dem Tode des Ostrogotha das Heer in zwei Teile teilte (Jordanes Getica
X V I I I 101), einen Westgoten erkennen zu können, indentisch mit dem in
Jordanes Getica XXII 113 genannten Ovida. Wenn man solche Kombi-
nationen überhaupt wagt, dann sollte man eher daran denken, daß der
von Mommsen als Nidada in dem bereinigten Text eingeführte Vater des
Ovida mit Cniva identisch sein könnte, da er in zwei Handschriften der
Getica Cnivida heißt12. Dann hätte man eine Folge von gotischen
Königen, die mit Ostrogotha begänne und mit Cnivida-Cniva, Ovida,
Hilderith und Geberich fortgesetzt werden könnte. Dem Geberich folgte
dann post temporis aliquod Hermanarich (Jordanes Getica XXIII 116).
Cniva — meinte v. Gutschmid13 — sei identisch mit Gothomm dux Cari-
nabas sive Cannabaudes (Vopiscus v. Aureliani XXII, 2), der im Jahre
272 an der unteren Donau auftrat. Cniva-Cnivida — Cannabas-Canna-
baudes wäre nun allerdings ein recht ungewöhnliches Konglomerat ver-
schieden lautender Namen ein und derselben Person. Cniva eroberte nach
Ablabius Philippopel, tötete den Sohn des Decius, während dieser selbst
dann bei Abrittus im Kampf gegen die Goten fiel (Jordanes Getica XVIII
103). Nach Dexippos (= Jacoby, 100, fr. 27) war die Belagerung von
Philippopel zwar zunächst erfolglos, doch muß er im verlorenen Teil seines
Werks noch weitere Einzelheiten darüber berichtet haben. Georgios Syn-
kellos nämlich lieferte einen Auszug, in dem er Dexippos als Gewährs-
mann ausdrücklich nannte und worin er berichtete, daß Philippopel verlo-
ren ging und Decius und sein Sohn bei 'Aßpitog von den Goten getötet
wurden14. Mit dem Tode des Decius im Jahre 251 ist also eines der Jahre
des Cniva-Cnivida wirklich fixiert und damit liegt dann die Zeit des
Ostrogotha einigermaßen genau fest. Wenn Cannabas-Cannabaudes im
Jahre 272 von Aurelian (270—275) getötet wurde, spricht das nicht un-
bedingt gegen die Gleichsetzung der beiden Namengruppen; besonders
wahrscheinlich ist sie nicht15.
18
W. Capelle, Das alte Germanien (1929) 236 wies auf Scriptores Hist. Aug.
X X I I I 5, 6 hin, w o von Gothoris, einem Sohn des Ostrogotha, als Zeitgenos-
sen des Gallienus die Rede sein könnte, wenn „eine Konjektur von Alfred
von Gutschmid bei Wietersheim-Dahn I [E. von Wietersheim, Gesch. d.
Völkerwanderung. Zweite vollständig umgearbeitete Auflage besorgt v. F.
Dahn. Erster Band (1880)] 321" richtig wäre. A . a . O . findet sich jedoch
kein Hinweis auf Ostrogotha. — D a ß eine derartige Konjektur unhaltbar
wäre, zeigt E. Hohl, Scriptores Hist. Aug. II ( 2 1965) 84 f.
Probleme der historischen Quellen 115
Wären alle diese Überlegungen soweit richtig, so fiele die Genesis der
Gotensage in der Form, in der sie Ablabius kennen lernte, ins 3. nach-
christliche Jahrhundert. Das schließt nicht aus, daß ältere Partien darin
vorhanden sind, die sich jedoch nicht aussondern lassen. Es ist auch nicht
ausgeschlossen, daß sie bis zur Zeit hin, in der Ablabius schrieb, noch
mancherlei Veränderungen durchgemacht hat.
Sicher ist, daß Ablabius selbst das Gefühl hatte, es handele sich bei
der Scandza-Tradition der Westgoten um eine ältere Überlieferung, der
die ethnographischen Verhältnisse s e i n e r Zeit bzw. der jüngsten Ver-
gangenheit nicht vollkommen entsprachen. Mehrfach nahm er nämlich
Gelegenheit, den alten Bericht aus eigenen Kenntnissen oder nach solchen
von glaubwürdigen Gewährsleuten zu ergänzen. Er betonte, daß der Kü-
stenstreifen, an dem die Goten landeten, noch zu s e i n e r Zeit Gothi-
scandza heiße (Jordanes Getica IV 25). Dann ergänzte er, daß die Weich-
selinseln, die die Gepiden nach ihrer Landung bewohnten, nach deren
Abzug von den Vidivariern besiedelt wurden, die dort noch zu s e i n e r
Zeit — nunc — wohnten (Jordanes Getica X V I I 96). Woher er wußte,
daß es zu seiner Zeit eine Landschaft namens Gothiscandza gab — und
ob die Nachricht stimmt —, ist unbekannt. Die Vidivarier kannte er aus
einer römischen Weltkarte, wie sich aus Jordanes Getica V 36 entnehmen
läßt. In gewisser Hinsicht sind ja auch die ethnographischen Angaben über
die Insel Scandza zeitgenössische Ergänzungen des Ablabius zur gotischen
Scandza-Tradition.
Weiteren Aufschluß über den Wahrheitsgehalt des ganzen Scandza-
Berichts kann nur ein Vergleich von dessen ethnographischen Angaben
mit solchen antiker Autoren ergeben, von denen Ablabius unabhängig sein
muß. Ptolemaios scheidet dabei natürlich aus. Nach Ptolemaios identifi-
zierte er ja die Heimat der Goten mit 2y.avöia, und danach wäre es für
ihn nicht mehr schwer gewesen, in des Ptolemaios r o i t a i die Goten selbst
zu sehen. Aber er erwähnte diesen Stamm nicht ausdrücklich. D a er jedoch
von den vielen verschiedenen Völkern sprach, die dort wohnten, und da-
von w u ß t e , d a ß Septem tarnen eorum nomina meminit Ptolemaeus (Jor-
danes Getica III 19), kann man nicht umhin anzunehmen, daß er mit der
Zahl der Stämme auch deren Namen kannte.
D a ß Ptolemaios an anderer Stelle die riiftwvEg als einen Stamm
kannte, der auf dem Festlande an der Weichsel ansässig war (Ptolemaios
Geogr. III 5,8), hat Ablabius wahrscheinlich nicht gewußt. Oder sollte
ihm der Gedanke überhaupt nicht gekommen sein, daß der Name dieses
Stammes etwas mit den Gothi zu tun haben könnte? Das erscheint kaum
denkbar, denn in der Aussprache seiner Zeit klangen die Namen T O C T C U
und riiftcDVEg sehr viel ähnlicher, als die Orthographie auf den ersten Blick
8*
116 Die westgotische Scandza-Tradition
annehmen läßt. Den Abstand zwischen den T o i r a i und den Gothi hätte
Ablabius jedenfalls nicht als geringer empfinden können.
Von allen antiken Autoren war Ptolemaios der erste, der Toitcu in
Skandinavien kannte (zum Überlieferungsstand des Namens vgl. unten
S. 498 Anh. 4 Abschn. 6). Die Gewährsleute, von denen Ablabius seine
Nachrichten über die Ethnographie des Nordens erfuhr, also auch von der
Existenz der *Vagotbae, ''Gauthigothae hörte, wußten von den For-
schungsergebnissen griechischer und römischer Ethnographie nichts oder
jedenfalls nicht viel. Sie berichteten unabhängig von Ptolemaios. Bevölke-
rungsgruppen wie die genannten, deren Namen den der Goten zu ent-
halten scheinen, müssen deswegen für die Zeit des Ablabius für Skandi-
navien als sicher belegt gelten (vgl. oben S. 91 f.).
Schon vor Ptolemaios kannte die antike Ethnographie Goten als Be-
wohner des Kontinents. Sieht man von ganz unsicheren Nachrichten ab,
die auf Pytheas von Massilia zurückgehen 17 , so war Strabo der erste, der
die Goten als TotrccovEg18 in der ferneren Nachbarschaft der Markomannen
kannte (Strabo Geogr. VII 1). Plinius zählte sie als Gutones den Van-
diliern zu, der ersten seiner fünf Gruppen germanischer Stämme (Plinius
Hist. N a t . IV 14, 99), nahm demnach an, sie siedelten im östlichen Mittel-
europa. Tacitus bezeichnete sie als Gothones oder Gotones (Tacitus Ger-
mania 43; Annales II 62) und lokalisierte ihre Wohnsitze etwas vage trans
Lugios (vgl. dazu auch unten S. 138).
Die Römer hielten bei der Wiedergabe germanischer Namen t und th
nicht streng auseinander. Der Wechsel zwischen Gotones und Gothones
bei Tacitus besagt also nichts und ist wahrscheinlich überhaupt nur eine
Abschreibervariante. Entsprechendes gilt vom Wechsel zwischen griechi-
schem T und in 'Toikcoveg und Puftcoveg. Der Wechsel von u und o in
den Namen Gutones und Gotones deutet auf einen kurzen, dem u naheste-
henden Vokal hin. Schwanken zwischen griechischem ou und v entspricht
dem Wechsel zwischen Aouyioi (Strabo Geogr. VII 1, 3), Aoüyoi (Ptole-
maios II 11,10), Avyioi (Dio Cassius L X V I I 5,2) und AcryicovEg (Zosimos
I 67,3). Wechsel zwischen lateinischem u und y in Lugii (Tacitus Germ.
17
Plinius Hist. Nat. XXXVII 35: Pytheas credidit Guionibus [Gutonibus] Ger-
maniae genti accoli aestuarium Oceani Metuonidis nomine, spatio stadiorum
sex milium, ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum, . . . K. Zeuss,
Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 135 entschied sich von den beiden
handschriftlich belegten Formen Guionibus und Gutonibus für die letztere.
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 1 (21890) 479 hielt Guionibus/Guto-
nibus für eine Verlesung von Teiirove? durch Plinius und geißelte zugleich
dessen Torheit. — Vgl. dazu unten S. 135.
19
Konjektur für die Boutcoveg bzw. Bcnixoveg der Handschriften.
Probleme der historischen Quellen 117
43) und Lygii (Tacitus Annales X I I 29) bedeutet dasselbe19 und weist
ebenfalls auf einen Vokal hin, der annähernd dem u entspricht. Das o der
zweiten Silbe von Gutones, Gothones, Gotones scheint lang gewesen zu
sein, wie riiflomg und ''Toiitrave? zeigen. Der Ton lag indes auf der ersten
kurzen Silbe.
Einheitlich überliefern die griechischen und lateinischen Autoren für
den gotischen Stamm im nordöstlichen Mitteleuropa in der Frühzeit eine
dreisilbige — „schwache" — Namensform. Das wird mit dem 3. Jahr-
hundert anders. Als lateinische Formen sind nunmehr Goti, Gothi, Gotti
und Gotthi, als griechische Parallelen röfroi, FOTTOI und RÖT&oi belegt20.
Der Ton liegt auf der ersten Silbe, deren Vokal weiterhin kurz ist.
Kurze und lange Namensformen — „starke" und „schwache" For-
men — wechseln auch sonst in der antiken Literatur für Namen von ger-
manischen Bevölkerungsgruppen öfters. Den Burgundiones des Plinius
(Hist. Nat. IV 99) stehen die Burgundii bei Ammianus Marcellinus
XVIII 2,15 gegenüber21, den Frisiavi22 die Frisiavones bei Plinius Hist.
Nat. IV 101, den Frisii bei Plinius Hist. Nat. IV 101 die Frisiones23 und
$QiaaovES (Prokop Bell. Goth. IV 20,7) und den Aoüyoi (Ptolemaios
Geogr. II 11, 10) die AoyicovEg (Zosimos I 67,3). Bedeutungsunterschiede
liegen den einander gegenüberstehenden Namensformen nicht zugrunde.
Gutones, Gothones, Gotones, TouTOOVEg und TMcoveg auf der einen und
Goti, Gothi, Gotti, Gotthi, Toftoi, TOTTOI sowie rörftoi auf der anderen
Seite sind daher auch stets als Namen ein und desselben Volkes angesehen
worden.
Zur Gruppe der „starken" Namensformen gehören gewiß auch die
Vagoth, Gauthigoth und Ostrogothae, was für letzteren Namen evident
ist. Abfall der Endungen finden sich bei Jordanes sowohl bei Personen, als
audi bei Stammesnamen 24 . Schon Müllenhoff sah daher Vagoth als ver-
derbtes *Augothi oder *Avigothi an25. Bei den Gautigoth neigte er zwar
zu einer andersartigen Erklärung, hielt jedoch auch *Gautigothi oder
seiner Zeit bzw. mit deren Vorfahren gleichgesetzt hat, hat wenig später
Prokop die auf 0oi>Xr| ansässigen Tawoi von den T o t ^ o i des Kontinents ge-
trennt gehalten (Prokop Bell. Goth. II 15 u. 11 if.). Mit Sicherheit ist Sxavöia
mit ©oiiXt) identisch, und der Gedanke, dasselbe gelte auch für die roütai
und die rautoi, ist alt. Schon K. Zeuss besserte roütai daher in ein ur-
sprüngliches Tauten 28 und paßte sie damit den rautoi des Prokop weit-
gehend an. J. Grimm besserte den Namen in Tafitoi 2 ' und stellte damit
— sieht man vom Unterschied im Wortton ab — Gleichheit mit der von
Prokop gegebenen Namensform her. Er war im übrigen der erste, der die
Auffassung vertrat, die Namen der "Taütoi und Gothi ständen im Ablaut
zu einander30. K. Müllenhoff stellte fest, die Toitcu seien „natürlich die
Tau-toi des Prokop"31, ließ es dabei aber offen, ob er zu einer Besserung
des Namens neigte oder von der Identität der Stämme sprach. An eine
Beziehung zwischen roütai und PuOwvEg dachte er nicht. In der deutschen
wissenschaftlichen Literatur von Rang kam erst in den letzten Jahrzehnten
des vorigen Jahrhunderts der Gedanke an Verbindung zwischen skandi-
navischen roütai und kontinentalen Gothi wieder auf (vgl. unten S.
162 f. 167 f.). Im Norden zog S. Bugge sie ernsthaft in Betracht32. A. Erd-
28 K . Müllenhoff, in: Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 (1882)
160; ders., Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 63 ff. läßt Gautgothi oder Gau-
tigothi als ursprüngliche Form gelten.
27 J . Svennung, in: Fornvännen 59 (1964) 75. 80. — Vgl. ferner: N . Wagner,
Getica (1967) 163 ff. mit Erklärungsversuchen des Namens Vagoth. — Da
Austrogoti und Ostrogothi die ältesten überlieferten Namensformen sind,
Ostrogothae erst von Cassiodor eingeführt, wäre es korrekter, Gauthigoth
und Vagoth in *Gauthigothi und *Vagothi zu emendieren.
28 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 158. 511.
29 J . Grimm, Geschichte d. dt. Sprache ( 3 1868) 312.
30 J . Grimm, a . a . O . 538. — In neuerer Zeit entschieden dagegen: H . Kuhn,
Besprechung v. E . Schwarz, Germ. Stammeskunde, in: Anglia 76 (1958) 439.
31 K . Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 498.
32 S. Bugge, Norges Indskrifter med de aeldre Runer 1 (1891—1903) 152 ff.
(Die Bogen mit Bugges Darstellung seiner Auffassung vom Zusammenhang
skandinavischer u. kontinentaler Goten tragen Druckvermerke aus den Jahren
1893 u. 1894. Das gibt Anhalt für den Termin der Auslieferung dieses Text-
teils).
Probleme der historischen Quellen 119
65 ff. bes. 71 mit anderer Erklärung: „Ich glaube also, daß der Völkername
Gautar aus einem uralten Namen des Flusses, etwa *Gaut (f) gebildet wor-
den ist." — Vgl. auch die Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen
über das Wort Gauthigoth bei: N. Wagner, Getica (1967) 156 ff. 184 ff.
207 ff. — Gegen eine Interpolation von -gothi wendet sich J . Svennung, Jor-
danes und Scandia (1967) 65: „Da aber die Getica-Hss. keineswegs durch
Glosseme gekennzeichnet sind, muß idi *Gauthigothae als eine wahrschein-
lich von Cassiodor geschaffene Bildung auffassen, im Sinne von ,Gaut—Go-
ten'."
4 2 K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 157 f. Anm.
7 (1897) 287.
Probleme der historischen Quellen 121
52 Vgl. dazu J . Svennung, Jordanes und Scandia (1967) 122 ff.; N . Wagner, Ge-
tica (1967) 235.
53 K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 5 4 0 ; dazu M. Sdiönfeld,
Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völkernamen (1911) 267.
54 Claudius Claudianus, De consulatu Stilichonis V 9 4 : . . . Quis enim Visos
in plaustra feroces reppulit? . ..
55 Apollinaris Sidonius, Carm. V 4 7 6 : Bellonothus, Rugus, Burgundio, Vesus,
Alites, Bisalta, Ostrogothus, Procrustes, Sarmata, Mosdius post aquilas ve-
nire tuas ...; Carmina V I I 398: Hie iam disposito laxantes frena duello Ve-
sorum proceres raptim suspendit ab ira rumor...; Carmina V I I 4 3 1 : Haec
secum rigido Vesus dum corde volutat ventum in conspectum juerat...
54 Vgl. die Belege bei M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völ-
kernamen (1911) 267 f.
57 K . Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 408 sah in Vesus eine
Abkürzung von Vesegothae; dagegen H . Wehrle, Die dt. Namen d. Himmels-
richtungen u. Winde, in: Zeitschr. f. dt. Wortforschung 8 (1906) 335 f.; ebenso
M. Schönfeld, a. a. O. 268.
Probleme der historischen Quellen 123
bekannt war58. Zehn Belege des Namens stehen bei Cassiodor nur in
Zusammenhängen, die darauf bedacht sind, den Gegensatz West- und
Ostgoten zu betonen oder die Vesegothae als -westliche, die Ostrogotbae
als östliche Goten hinzustellen: . . . Vesegothae familiae Balthorum,
Ostrogothae praeclaris Amalis serviebant (Jordanes Getica V 42). . . .
ibi pars eorum, qui orientali plaga tenebat. eisque praeerat Ostrogotha,
utrum ab ipsius nomine, an a loco, id est orientales, dicti sunt Ostro-
gothae, residui vero Vesegothae, id est a parte occidua (Jordanes Getica
XIV 82). Is ergo missis legatis ad Ostrogotham, cuius adhuc imperio tarn
Ostrogothae quam Vesegothae, id utrique eiusdem gentes populi, subiace-
bant (Jordanes Getica XVII98). Quam adversam eius valitudinem
captans Balamber rex Hunnorum in Ostrogotharum parte movit procinc-
tum, a quorum societate iam Vesegohtae quadam inter se intentione
seiuncti habebant (Jordanes Getica XXIV 130). . . . , eo tempore, quo
Beremud, .. ., cum filio Vitiricho ab Ostrogothis, ..., ad Vesegotharum
regnum migravit (Jordanes Getica XXXIII 174). . . . , egitque, ut orien-
talem imperium Ostrogothas, Hesperium Vesegothae vastarent, . .. (Jor-
danes Getica XLVII 244). Et quia, dum utrique gentes, tarn Ostrogothae,
quam etiam Vesegothae, in uno essent, ut valui, maiorum sequens dicta
revolvi divisosque Vesegothas ab Ostrogothis ad liquidum sum prose-
cutus, necesse nobis est iterum ad antiquas eorum Scythicas sedes redire
et Ostrogotharum genealogia actusque pari tenore exponere (Jordanes
Getica XLVIII 246). . . . , quia filius eius,..Beremud iam contempta
Ostrogotharum gente ... ad partes Hesperias Vesegotharum fuisset gente
secutus, . . . (Jordanes Getica XLVIII 251). Nur zweimal erwähnt Cas-
siodor die Ostrogothae, ohne zugleich die Vesegothae zu nennen (Jorda-
nes Getica XXXVIII199 und LH 268). Zwei Namensbelege müssen
Jordanes selbst zugeschrieben werden (Jordanes Getica XXV 133 und
XL 210).
Der Nachweis, daß Ablabius den Namen Ostrogothae nicht benutzt
hat, ist ziemlich bündig. Schwieriger ist es mit dem Namen der Vesegothae.
Geht man die Stellen durch, so kann man einige Nennungen sicher
Cassiodor zuschreiben, so alle oben erwähnten, in denen Vese- und
Ostrogothae gemeinsam genannt sind, aber auch einige andere (Jordanes
Getica XXV 131, XXVIII 200, XLVIII 246, 253, LVI 284, LVIII 297 f.,
303). Zwei Textstellen sind Jordanes zuzuschreiben (Jordanes Getica
XXV 132 und XXVI138). Alle anderen Nennungen der Vesegothae
könnten, m ü s s e n aber nicht von Ablabius stammen. Es ist nicht
auszuschließen, daß sie auf Cassiodor zurückgehen. Aus des Jordanes
Getica kann nichts weiter geschlossen werden. Eine Durchsicht des
58 Vgl. die Belege bei M. Schönfeld, a. a. O. 38.
124 Die westgotische Scandza-Tradition
Gedanke dessen, der die Form Vesegothae zuerst prägte, dürfte folgender
gewesen sein: Vesi, qui et Gothi vocantur, sunt Vesegothae.
Im Falle der *Gauthigothae ist eine Namensreglementierung nicht
sichtbar, zwar möglich, aber doch recht unwahrscheinlich. Für die Bil-
dung dieses Namens gibt die Entstehung des Namens Vesegothae offenbar
wenig her. Es ist im Grunde richtiger, den Namen *Gauthigothae neben
den der Ostrogothae zu stellen. Ihr Name ist nicht nur früher belegt als
der der Vesegothae, sondern überhaupt älter. Um 300 n. Chr. erwähnt
Trebellius Pollio Austrogoti in seiner Vita Claudii 6,2. Claudianus und
Apollinaris Sidonius sprechen von Ostrogothieo. Offenbar stammt die
Form Ostrogothae an Stelle von Ostrogothi überhaupt erst von Cassiodor.
Während der Name Vesegothae gewiß nichts mit Westen zu tun hat,
enthält der Name Ostrogothae doch wohl die Himmelsrichtung Osten 61 ;
es sind die im Osten siedelnden Goten. Es ist also eine geographische
Angabe, die den Gotennamen hier näher bestimmt. Geographische An-
gaben sind nach Svennung auch in den Namen *Gauthigothae und
*Vagothae enthalten, die Goten am Fluß *Gaut und die Goten am
*Vágr62. Damit wäre eine Erklärung der Namen gegeben. Befriedigt sie
aber wirklich in jeder Hinsicht?
Die Namenreihe *Tovxai-^Gauthigothae-Tavxoi-Gautar ist dodi
recht ungewöhnlich. Warum zunächst Erweiterung und dann Kürzung des
Namens? E. Wessén verwies auf folgende Parallelen: Geatas-Wedergeatas-
Wederas; Hrédgotan-Hrédas63. Das mag eine gewisse Stütze darstellen,
und wenn diese wirklich helfen sollte, dann müßte ToCtai unmittelbar mit
Gothi identisch sein. Damit hätte man die Goten für Skandinavien gleich
zweimal belegt. Es bleibt der alte Zweifel an der Richtigkeit der Über-
lieferung von TOCTCU. Mit diesem Namen ständen sie — als eventuell
wenig jüngere Form — neben den Fiidcoveg, also auch neben den Gotones,
folglich neben den Gothi. Als 'TaOtai wären sie neben die rauToi zu
setzen. Hier kann nur ein alter, aber nicht immer befolgter Grundsatz
60
Vgl. die Belege bei M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und Völ-
kernamen (1911) 38; ferner J. Svennung, Jordanes u. Scandia (1967) 116 ff.
81
J. Svennung, a . a . O . 87. 116; N . Wagner, Getica (1967) 162; ebenso H.
Wehrle, Zeitsdir. f. dt. Wortforschung 8 (1906) 334 ff.; anders W. Streitberg,
Ost- und Westgoten, in: Indogerm. Forschungen 4 (1894) 305 ff.; M. Schön-
feld, a. a. O. 39.
92
Es ist bemerkenswert, daß Svennung einerseits die *Vagothae als die Goten
am Vágr ansieht, daß er aber andererseits die Existenz eines Flusses Vagus
(Jordanes Getica III 17) auf Scandza wegdiskutiert. — Vgl. J. Svennung,
a. a. 0 . 1 4 ff.
63
E. Wessén, Uppsala universitets arsskrift 1924 (Filosofi, sprakvetenskap odi
historiska vetenskaper 6) (1924) 89.
126 Die westgotische Scandza-Tradition
64 J . Svennung, a. a. O. 55.
85 H. Schuck, Folknamnet Geatasi den fornengelska dikten Beowulf, in: Uppsala
universitets ärsskrift 1907 Program 2 (1907) 9 ; Th. v. Grienberger, Die nordi-
schen Völker bei Jordanes, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 46
(1902) 154; A. Olrik, Bravellir, in: Namn odi bygd 2 (1914) 301: „Vagoth
(': Väg-gotar eil. Vag-gautar) ma viere 0stg0terne, boende ved Motalaelven
(Vagi fluvius, naevnt hos Jordanes lige i forvejen)".
68 H. Schück, a. a. O. 9 f.
Probleme der historisdien Quellen 127
67 Vgl. St. Bolin, Tacitus kartbild av norra Europa, in: Festskrift tili Arthur
Thomson (1961) 1 9 — 2 4 u. dazu J. Svennung, Svearnas ö och Sithonerna hos
Tacitus, in: Fornvännen 57 (1962) 193 ff.
88 Rud. Much, Germania d. Tacitus (1937, 2 1959) 3 9 2 ; ( 3 1 9 6 7 ) 494.
69 Vgl. Anm. 29.
70 Vgl. N . Wagner, Getica (1967) 166 ff.
71 Vgl. oben S. 45 Anm. 40.
7! N . Wagner, a. a. O. 168 Anm. 229.
73 O. Almgren, Nordische Felszeidinungen als religiöse Urkunden (1934) 314 ff.
128 Die westgotische Scandza-Tradition
78 Es ist niemals genügend beaditet worden, daß hier die Namen zusammenge-
höriger Bevölkerungsteile etymologisch nicht zusammengehören und daß evtl.
alte Namen aufgegeben, dann aber wieder aufgenommen werden können.
Man denke hier an die Quaden und die Alamannen, die später wieder Sueben
hießen.
79 Vgl. dazu Fr. Altheim, Wald- und Feldleute, in: Paideuma 8 (1954) 424 bis
430; ders., Greutungen, in: Beitr. z. Namenforschung 7 (1956) 81—93; H. Ro-
senfeld, Goten und Greutungen, in: Beitr. z. Namenforschung 7 (1956) 195
bis 206; Fr. Altheim, Zum letzten Mal: Greutungen, in: Beitr. z. Namenfor-
schung 7 (1956) 241—246; H. Rosenfeld, Goten und Greutungen (Schluß-
wort), in: Beitr. z. Namenforschung 8 (1957) 36—43; ders., Ost- und West-
goten, in: Die Welt als Geschichte 17 (1957) 245—258; dazu auch: R. Wens-
kus, Stammesbildung und Verfassung (1961) 472 f. 478 ff.; N. Wagner, Getica
(1967) 191 ff.; J . Svennung, Jordanes und Scandia (1967) 115 f. 117 ff. 127 ff.
80 Vgl. Fr. Kauffmann, revariQixog, in Zachers Zeitsdir. f. dt. Philologie 33
(1901) 1—5, wo die Variabilität der Namen durch ein kennzeichnendes Bei-
spiel illustriert wird: Die Spradie der Vandalen wurde gelegentlich als lingua
gotica bezeichnet.
81 E. Herrmann, Sind der Name der Gudden und die Ortsnamen Danzig, Gdin-
gen und Graudenz gotischen Ursprungs? in: Nadirichten d. Ak. d. Wissen-
schaften in Göttingen. Philos.-histor. Kl. Jg. 1941, Nr. 1 (1941) 279 ff.
82 N. Wagner, Getica (1967) 182.
84 N. Wagner, a. a. O. 186.
84 N.Wagner, a . a . O . 187.
85 N. Wagner, a. a. O. 192.
rück 8 '. Es sei abzulehnen, wenn Th. Mommsen hier Spuren des Ablabius
sehe. Vielmehr sei „der von Mommsen so hoch gestellte Ablabius eine viel
zu unsichere Größe" 87 . Daß aber gerade nur Ablabius hier als Quelle in
Betracht kommt, und nicht Cassiodor, schließt natürlich nicht aus, daß die-
ser bei Claudian Anleihen machte. Wenn die Ostrogothae in Jordanes
Getica III 23 von Cassiodor in den Text eingefügt worden sind, so ist
Wagners Emendation aber unmöglich.
Wenn man gotische Stämme im Norden und auf dem Kontinent
nachweisen kann — im Norden seit dem 2. Jh., im Süden mindestens ein
Jahrhundert früher —, dann kommt man um die Annahme von Wande-
rungen vom Norden nach dem Süden oder umgekehrt nicht herum. Ver-
bindungen über See müssen bestanden haben. Ob es sich um einen oder
mehrere Wanderzüge handelte, ob die Wanderrichtung stets vom Norden
nach dem Süden verlief oder umgekehrt, ob gar Rückwanderer heim-
kehrten und wann die Wanderung bzw. die Wanderungen erfolgten, das
alles bleibt, wenn man nur die Zeugnisse der Namen in Betracht zieht,
allerdings v o l l k o m m e n offen. Keine der verschiedenen Möglichkei-
ten läßt sich im Prinzip von vornherein ausschließen.
Als Anwohner der Ostseeküste erwähnt die Scij«iiz<i-Tradition die
LJlmerugi (Jordanes Getica IV 25). Die Goten sollen sie einige Zeit
n a c h ihrer Einwanderung mit Krieg überzogen und aus ihrer Heimat
vertrieben haben. In der zusammengesetzten Form ist dieser Name für
Kontinentalgermanen sonst nicht belegt, dagegen gehören sprachlich die
norwegischen Holmrygir hierher. Beide Namen bedeuten übereinstim-
mend Insel-Rugier 88 . Die Rugii selbst kannte schon Tacitus in — offenbar
nördlicher — Nachbarschaft der Gotones an der Ostsee (Tacitus Germa-
nia 43); Ptolemaios nannte die Toimodeioi — wahrscheinlicher ^Potr/i-
xtaioi — in Pommern und Westpreußen bis zur Weichsel und einen „Orts-
namen" 'PotiYiov (Ptolemaios Geogr. II 11,7—12). Danach werden Ru-
gier vor dem 4. nachchristlichen Jahrhundert nicht wieder genannt 8 '. Die
•Scawc/za-Oberlieferung gibt also einen Namen und eine Lokalisierung der
Rugier — d. h. wohl eines Teilstammes —, die älteren Schriftstellernach-
richten entspricht, ohne von ihnen abhängig zu sein. Die Tradition ent-
hält demzufolge historische Wahrheit. Dabei ist es bemerkenswert, daß
88
N . Wagner, a. a. O. 193 f.
87
N . Wagner, a. a. O. 194. — Wagner glaubt von Ablabius, „daß er ein Werk
geschrieben hat, das die Goten zumindest erwähnte" (a.a.O. 62); vgl. oben
S. 39 Anm. 20.
88
Die Verbindung zwischen beiden Namen schon von K. Zeuss, Die Deutschen
u. d. Nachbarstämme (1837) 484 u. 519 erkannt.
8
' Zu den Belegen vgl. M. Sdiönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- und
Völkernamen (1911) 195 f.
Probleme der historischen Quellen 131
x> Die von Th. Mommsen nach sehr verschiedenartigen Lesungen der Quellen
als *Taetel und *'Rugi hergestellten Namen bei Jordanes Getica III 24 (vgl.
Th. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. ant. V, 1 [1882] 60. 164 u. 165 von
K. Müllenhoff akzeptiert) sdion von K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibar-
stämme (1837) 503 als *Ethelrugi gelesen. — S. Bugge, Norges Indskrifter
med de seldre Runer 1 (1891—1903) 107 las ''Ethelrugi oder *Aethelrugi. —
Th. von Grienberger, Zeitsdlr. f. dt. Altertum u. dt. Litteratur N . F. 34
(1902) 142 stellte *Thethelrugi her. — Bugges Lesung wurde von L. Fr.
Läffler, Fornvännen 2 (1907) 111 akzeptiert, während L. Weibull, Arkiv f.
nordiske filologi N . F. 37 (1925) 240 auf Mommsens Lesung zurückgriff. —
J. Svennung, Fornvännen 59 (1964) 98 f. kommt wieder auf *Aetelrugi
zurück.
81
Vgl. R. Hachmann, in: R. Hachmann, G. Kossack, H . Kuhn, Völker zwisdien
Germanen u. Kelten (1962) 50 f.
92
Rud. Mudi, Die Germania d. Tacitus (1937) 30 f.; (»1967) 59 ff. sah —
wahrsdieinlidi mit Recht — einen Gegensatz zwisdien vera et antiqua nomina
und Germaniae vocabulum recens et nuper additum. — E. Schwyzer, in:
Tacitus' Germania erläutert von H. Schweizer—Sidler ("1902) 7 meinte
einen Gegensatz zu den erfundenen Namen der Ingväonen, Herminonen und
Istväonen feststellen zu müssen.
9»
132 Die westgotische Scandza-Tradition
" Vergleicht man des Tacitus Angaben über die ethnographischen Verhältnisse
im Osten Germaniens mit denen des Ptolemaios, so kommt man — trotz aller
Lücken der Uberlieferung und trotz der unterschiedlichen Berichterstattung —
um die Annahme eines engeren Bezuges zwisdien Lugii und Vandilii nidit
herum.
Probleme der historischen Quellen 133
nahmen sie in der Regel die alten Namen. In ihren alten Sitzen mögen
die Germanen eigene Landschaftsnamen besessen haben. Rugilanda —
Rttgiland98 (Origo 3 und Paulus Diaconus Hist. Lang. I 19) und campus
feld — campus ..qui sermone barbarico feld (Origo 4 und Paulus Dia-
conus Hist. Lang. I 20) sind Landschaften aus der Langobardengeschichte,
die sich lokalisieren lassen. Nicht ohne Interesse sind auch Golaida-
Golanda (Origo 2 und Paulus Diaconus Hist. Lang. I 13), das L. Schmidt
in *Gotlanda bessern wollte97, und Antbaib, Bainaib und Burgundaib
(Origo 2).
Offenbar waren germanische Landschaftsnamen — sagenhafte und
erfundene, wie echte — so gebildet, daß mit den Stammesnamen ein
geographischer Begriff verbunden war. Gepedoios, Antbaib und Burgun-
daib und Rugiland sind durchsichtig. Dementsprechend müßte der Name
des Landes, das die Goten besetzten, als sie vom Norden kamen, in der
Gotensage aus Gothi- und einem geographischen Begriff gebildet gewesen
sein. In der Tat wäre *Gothilanda naheliegend. Eine derartige Emenda-
tion ist von Beweisbarkeit weit entfernt, wenngleich die spätere germa-
nische Literatur von gleichartigen Namensbildungen wimmelt98.
In der Frage der Beziehungen zwischen Goten und Skandinavien ist
nun soviel sicher, daß ein Zusammenhang besteht; doch welcher? Es gibt
theoretisch noch zwei Möglichkeiten, weiter zu kommen. Man könnte aus
der Tatsache, daß die wesentlichsten Teile der Goten-Sage historische
Wahrheiten enthalten, folgern, auch die Nachricht von der Einwande-
rung der Goten müsse wahr sein. Man könnte ähnlich aus der Tatsache,
daß Goten in Skandinavien und an der Weichsel siedelten und daß sich
daraus die Wanderung der einen Bevölkerungsgruppe nach dem Süden
übers Meer oder der anderen nach dem Norden ergäbe, schließen, die
Scandza-Tradition entscheide diese Alternative und spreche für eine Wan-
derung der Goten übers Meer nach dem Süden. Aber hier ist die Grenze
dessen erreicht, was methodisch zulässig ist. Goten in Skandinavien könn-
ten ebensogut audi vom Kontinent nach dem Norden gekommen sein. Die
Sage kann diese Möglichkeit nidit ausschließen, im Gegenteil. Die Auf-
zeichnung der „Wandersage" der Sachsen in der Translatio s. Alexandri 1
m
Vgl. oben S. 32 Anm. 68.
1
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 135.
2
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 1 (21890) 479.
3
O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899) 52.
4
D. Detlefsen, Die Entdeckung d. germ. Nordens i. Altertum (1904) 7 f.
® S. Gutenbrunner, Germanische Frühzeit i. d. Berichten d. Antike (1939) 70;
E. Sdiwarz, Germ. Stammeskunde (1956) 43. — Neuerdings denkt D. Stich-
tenoth, Pytheas von Marseille. Die Gesdiiditssdireiber d. dt. Vorzeit 103
(1959) 32 f., Plinius habe, da „es vor Christi Geburt noch keine Goten südlich
der Ostsee gab", einen anderen Namen vorgefunden und diesen durch den
Gotennamen ersetzt. Eingehenderes Erörtern der gewagten Kombinationen
Stiditenoths erscheint kaum nötig.
136 Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten
lieh auf die Nordseeküste bezog und auch von Plinius so verstanden
wurde. Deswegen zog Bremer folgerichtig in Betracht, die Goten könnten
ursprünglich in Holstein gesiedelt haben*. Wahrscheinlich ist, daß erst
Plinius den Namen der Goten einfügte; sei es absichtlich, sei es, weil er
den bei Py theas genannten Namen als den der Goten verstand. Mehr ist aus
dieser Stelle gewiß nicht zu entnehmen und daher muß sie außer Betracht
gelassen werden, wenn es sich darum handelt, Klarheit über die Wohn-
nent zu gewinnen.
sitze der Goten und die Chronologie ihrer Anwesenheit auf dem Konti-
Strabo ist offenbar der erste antike Geograph, der die Goten kannte.
Er nannte Boutcoveg unter den von Marbod abhängigen Stämmen (Strabo
Geogr. IV 1,3), was gemeinhin in "ToiiTCüves emendiert wird. Dieser Bes-
serungsvorschlag findet sich schon bei Zeuss7 und ist sicher richtig. Strabo
hat seine Geographie im wesentlichen im Jahre 7 v. Chr. abgeschlossen.
Der Textabschnitt, der die Goten nennt, ist allerdings einer der von ihm
später in den schon fertigen Text eingeschobenen Nachträge. Die Einfüh-
rung muß v o r der Vertreibung des Marbod, von der der Text nichts
berichtet, doch n a c h dem Triumph des Germanicus im Jahre 16 n. Chr.,
der erwähnt wird, erfolgt sein. Sie nennt im gleichen Satz die Ao-uyioi,
die sonst unbekannten Zoüjioi und MouyiXcoveg, ferner die Sißivoi und die
S^vcoveg. Lugier und Semnonen gehören offenbar zu den erst durch die
römische Flottenexpedition des Jahres 5 n. Chr., durch den Landfeldzug
desselben Jahres oder in Verbindung mit dem Feldzug gegen Marbod im
Jahre 6 n. Chr. bekannt gewordenen Germanen. Da Strabo von den
römischen Intrigen gegen Marbod nichts wußte, ist es kaum möglich, daß
die Goten den Römern erst in Verbindung mit der Fühlungnahme des
jüngeren Drusus mit Catvalda kurz vor oder im Jahre 18 n. Chr. oder
im Zusammenhang mit dem Übertritt Marbods auf römischen Boden im
gleichen oder folgenden Jahr bekannt geworden sind. Die Jahre 5/6 n. Chr.
sind also der Terminus quo oder ante quem für das Bekanntwerden des
Gotennamens und eines kontinentalen Wohnsitzes der Goten bei Römern
und Griechen.
Plinius nannte die Goten außer in Verbindung mit dem Exzerpt aus
Pytheas noch ein zweites Mal (Plinius Hist. Nat. IV 14,99); für die
Chronologie der Goten gibt diese Stelle jedoch nichts.
Tacitus erwähnte die Goten — als Gotones — in Verbindung mit
dem Zug des Catvalda gegen Marbod (Tacitus Ann. II 62), der im Jahre
18 — oder kurz danach — mit dessen Vertreibung endete. Catvalda, von
dem es heißt, er sei seit langem unter dem Druck des Marbod landflüchtig
• O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899) 52. 55.111.
7
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 134 Anm. 136; so auch
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1890) 492.
Probleme der historischen Quellen 137
gewesen, brach damals mit einer starken Schar aus dem Lande der Goten
in das Gebiet der Markomannen ein. Die Goten werden damit nicht
gerade als unmittelbare Nachbarn der Markomannen fixiert, müssen aber
ohne Zweifel in dieser Zeit sdion länger auf dem Kontinent — nicht
a l l z u ferne von den Markomannen — ansässig gewesen sein.
Sollten die Goten eingewandert sein, dann müßte diese Wanderung
vor den Jahren 5/6 n. Chr. erfolgt sein. Es wäre allerdings falsch, aus
dem Schweigen lateinischer und griechischer Schriftsteller in der Zeit vor
Christi Geburt unbesehen schließen zu wollen, die Goten müßten gerade
um die Zeitwende eingewandert sein8. Daß die Goten den Römern und
Griechen erst kurz nach Christi Geburt bekannt wurden, hängt in erster
Linie mit deren Unkenntnis der ethnographischen Verhältnisse des Nor-
dens zusammen, die sich erst in augusteischer Zeit langsam zu bessern
begann. Wenn Strabo die Goten bis zum Jahre 7 v. Chr. nicht kannte,
von ihnen dann aber bis zum Jahre 17 n. Chr. erfuhr, so ist gerade das
die deutlichste Spiegelung des langsamen Zuwachses ethnographischer
Kenntnisse.
Selbst wenn die Goten wirklich um Christi Geburt eingewandert sein
sollten, dann hätte dieser Vorgang Römer oder Griechen, auch wenn sie
von ihm erfahren haben sollten, wahrscheinlich verhältnismäßig wenig
interessiert, denn es finden ja in ihrem Schrifttum im allgemeinen nur
solche Ereignisse Erwähnung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit
mitlitärischen Auseinandersetzungen in Grenznähe oder gar auf rö-
mischem Boden standen. Auch Wanderungen werden nur dann erwähnt.
In diesem Sinne hatten die Wanderzüge der Kimbern und Teutonen Be-
deutung, hatte der Zug des Ariovist nach Gallien Gewicht, war die Wan-
derung der Markomannen nach Böhmen wichtig und mußte das Auftau-
chen der Chatten am Rhein Interesse beanspruchen, um ein paar kenn-
zeichnende Beispiele zu nennen.
Die älteste Nachricht von den Goten, die des Strabo, sagt von der
Lage ihrer Wohnsitze so gut wie nichts, und nur mittelbar läßt sich er-
schließen, daß sie damals auf dem Kontinent in der Nachbarschaft von
östlichen Stämmen gesiedelt haben müssen. Von diesen sind nur die Lugier
und die Semnonen — vielleicht auch die Sibinen — genauer lokalisierbar,
was jedoch für die Goten nicht viel ergibt (Strabo Geogr. VII 1,3).
Plinius kannte die Goten auf dem Kontinent als einen Teil der
*Vandili (Plinius Hist. Nat. IV 14,99) und nannte mit ihnen zusammen
die Burgunder, Variner und Chariner. Auch daraus läßt sich nur ganz
allgemein auf Wohnsitze im östlichen Mitteleuropa schließen.
8
Das ist aber, wo man überhaupt mit Einwanderung der Goten aus Skandina-
vien redinet, die gängige Meinung.
138 Die ältesten Nachrichten der Antike über die Wohnsitze der Goten
Auch des Tacitus Kenntnisse führen für sich allein nicht sehr viel
weiter: Trans Lugios Gotones regnantur,... Protinus deinde ab Oceano
Rugii et Lemovii, . . . (Tacitus Germania 44,1). Er bestätigte also, daß sie
jenseits der Lugier — wohl nördlich oder nordöstlich von ihnen — siedel-
ten und war der Meinung, daß sie k e i n e Anrainer der Ostsee waren,
als welche er Rugier und Lemovier a u s d r ü c k l i c h nannte. Das
System, das Tacitus beim Aufzählen der östlichen Stämme verwandte, ist
jedoch durchsichtig: Er schritt vom Süden nach dem Norden voran, nannte
die Lugier, dann die Goten, danach die Rugier a m M e e r . Alsdann bog
er nach dem Westen ab und nannte die Lemovier, querte die Ostsee, er-
wähnte die Suionen, kam übers Meer zum Festland zurück und nannte als
Meeranwohner die Aestier und die Sithonen.
Die Aufzählungsweise in des Ptolemaios Geographie ähnelt der des
Tacitus, doch reihte Ptolemaios die Namen nach einem anderen System
auf: Er begann in Germanien weit im Westen und zählte zunächst die Kü-
stenanwohner auf, als deren östliche er die Deiöivoi und die 'Potitixtaioi
an der Weichsel erwähnte (Ptolemaios Geogr. II 11,14). Danach zählte er
die größten im Binnenland wohnenden Stämme auf und schloß diese Reihe
mit den BougYOÜvteg, wiederum an der Weichsel. Es folgte eine Anzahl
kleinerer Stämme, die verstreut wohnten, und dann zählte er südliche
Gruppen auf und endete mit den Aoijyoi wieder an der Weichsel, diesmal
an deren Quelle. Die Goten fehlen bei dieser Aufzählung. Ptolemaios
kannte sie nicht als Bewohner Germaniens, als dessen Grenze die Weichsel
galt.
Den Namen der T O U U X X E I O I , den Ptolemaios zweimal kurz hinter-
einander nannte, hat Much gewiß mit Recht in ^ToDyixXeioi emendiert"
und darin eine — wohl verderbte — Form des Rugiernamens sehen wollen.
In der Tat „paßt" diese Emendation gut, denn Ptolemaios nannte zwischen
den ^'PouYixXsioi und den BodqyoCvx£5 die 'AiAouaitoveg (Ptolemaios
Georgr. I I 11,9), die Tacitus als Helvecones als einen Teil der Lugier
kannte10 (Tacitus Germ. 43).
Wo Tacitus die Lemovier ansetzte, nannte Ptolemaios die SeiSivoi,
die möglicherweise mit den Sißivoi Strabos identisch sind (Strabo Geogr.
VII 1,3). Im großen Ganzen stimmt also das Bild von der Verteilung der
germanischen Stämme im Raum westlich der Weichsel, das Tacitus zeich-
nete, mit dem des Ptolemaios überein. Lemovii-1,£ibivoi, Rugii-*'Povyi-
MXSIOI, Helvecones-AiXovaiwvEg, Lugii-Aovyioi sind synonyme Namen-
paare.
• R u d . Much, Die Germania d. Tacitus ( 1 9 3 7 , 2 1 9 5 9 ) 3 8 8 ; ( 3 1 9 6 7 ) 4 8 8 .
10 Die Burgunden werden bei Tacitus nicht genannt, offenbar, weil er sie nicht
für bedeutend hielt. Sie gehören seiner Ansicht nach offenbar zu den Lugiern.
So klassifizierte sie schon K . Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 ( 1 8 8 7 ) 4.
Probleme der historischen Quellen 139
13
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 135.
14
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 4 f.
Probleme der historischen Quellen 141
1
Vgl. H. Kirchner, Das germanische Altertum i. d. dt. Geschichtsschreibung
des 18. Jahrhunderts (1938); P. H . Stemmermann, Die Anfänge der deut-
schen Vorgeschichtsforschung. Deutsdilands Bodenaltertümer in der Anschau-
ung des 16. u. 17. Jahrhunderts (1934).
2
H . Hildebrand, Svenska folket under hednatiden (1866); O. Montelius, La
Suède préhistorique (1874); E. Ve del, Undersogelser anglende den asldre
jernalder pa Bornholm (1873); I. Undset, Das erste Auftreten d. Eisens i.
Nordeuropa (1882).
6 E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945); vgl. dazu die Be-
sprechung von R. Hachmann in: Germania 29 (1951) 98—101; ferner R.
Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 466 f.
7 Vgl. G. Kossinna, Über d. deutsche Altertumskunde u. d. vorgesdi. Ar-
chäologie, in: Verhandlungen d. 43. Versammlung dt. Philologen u. Schul-
männer in Köln 1895 (1896) 126—129. — Obwohl zahlreiche Germanisten
anwesend waren, verwies Kossinna nur kurz auf seinen Kasseler Vortrag,
der noch nicht gedruckt vorlag, also noch ganz unbekannt war, und stellte
am Schluß seines Vortrags die These auf: „Die germanische Prähistorie ist ein
unentbehrlicher Bestandteil der germanischen Altertumskunde und verlangt
von Seiten der germanischen Philologie ernste und nachhaltige Pflege." Wie
es im Protokoll heißt, nahm die Germanistische Sektion der Versammlung
die These ohne Widerspruch und Erörterung an. Der Vortrag hatte offenbar
einen starken polemischen Unterton, der sich hauptsächlich gegen O. Seeck
richtete: „Die bei der Mehrzahl der römischen Historiker noch heute beliebte
Verzerrung der germanischen Kultur zu barbarischer Wildheit in ihrer ganzen
ungeschichtlichen Verkehrtheit wird durch nichts besser beleuchtet als durch
die Ergebnisse der Archäologie" (a. a. O. 127). — In einem Selbstreferat
seines Vortrages sprach Kossinna von „Zerrbildern, die Leute wie Seeck von
der germanischen Kultur ebenso kenntnislos als gehässig entwerfen". Vgl.
G. Kossinna, in: Jahresber. über d. Erscheinungen a. d. Gebiete d. germ. Philo-
logie 17 (1895) 75 f.; ders., Die dt. Vorgeschichte, eine hervorragend nationale
Wissenschaft (1912) 4 Anm. 1, wo Seeck erneut genannt u. als „Thersites"
bezeichnet wird.
8 G. Kossinna, Die ethnol. Stellung d. Ostgermanen, in: Indogerm. Forschun-
gen 7 (1897) 276—312.
9 Kossinna bezeichnete sich trotzdem gerne als Schüler Müllenhoffs. Von den
zwölf Semestern seines Studiums muß er in der Tat einige in Berlin, andere
in Göttingen und Leipzig, einen größeren Teil allerdings in Straßburg ver-
lo»
148 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
tums vor, die Eindruck machen mußten 10 , und entwarf ein anschauliches
Bild von seinen eigenen Auffassungen. Er betonte, daß sich allein auf
sprachlichem Wege über die vorgeschichtlichen ethnologischen Verhält-
nisse bei den Germanen kaum etwas entscheiden lasse und bezweifelte,
ob es möglich sei, Sprachen und Sprachreste als gleichwertig gegenüber-
zustellen, die nidit derselben Zeit, vielmehr ganz verschiedenen Jahr-
hunderten angehören, auf ganz verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung
stehen und nach den mannigfachsten fremden Beeinflussungen bekannt
werden, und behauptete, daß es gar nicht zu ermessen sei, wie weit das
Althochdeutsche und Angelsächsische für die Erschließung des West-
germanischen herangezogen werden dürfe. Ferner wies er darauf hin,
daß vom Ostgermanischen nur das Gotische einigermaßen bekannt sei,
daß schon der Nachweis des ostgermanischen Charakters des Burgun-
dischen auf schwachen Füßen stehe 11 und daß für das Nordische die
wenigen Runeninschriften nicht viel helfen könnten. Kossinna betonte,
daß Sprachgeschichte in erster Linie Verkehrsgeschichte sei. E r verzichtete
— wie er wörtlich sagte — jedoch darauf, die rein sprachliche Seite
des von ihm angeschnittenen Problems, „über die sich ja leicht viel
ausführlicher reden ließe" 1 2 , weiter zu verfolgen und wandte sich den
archäologischen Funden zu, die er wenige Jahre vorher für sich als viel-
versprechende neue Quellengattung entdeckt hatte 13 . Nach einer knappen
Darstellung der Kulturverbindungen zwischen Skandinavien und dem
Kontinent in vorgeschichtlicher Zeit, wobei er die Handelsbeziehungen
besonders betonte, stellte er fest: „Dem Handel und Verkehr folgt . . .
leicht die Auswanderung und Umsiedlung" 14 . Wie sich die Völkerverschie-
bungen in vorchristlicher Zeit im einzelnen gestalteten, das sei allerdings
durch eingehendere Spezialstudien erst i n Z u k u n f t zu ermitteln,
sobald „aus Pommern, Posen und Brandenburg reichlichere Publikationen
15
G. Kossinna, a. a. O. 280 f.
18
G. Kossinna, nannte a. a. O. 280 als Zeugnis für H . Möllers alte Ansicht, dessen
Rezension von A. Erdmann, Uber d. Heimat u. Namen d. Angeln (1890—
91) in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Litteratur 22 (1895—96) 129—164.
17
G. Kossinna, a. a. O. 281.
150 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
über eine voll brauchbare Methode, um die von ihm aufgestellten Thesen
zu beweisen.
Damals war das alles allerdings nicht zu übersehen; Kossinna impo-
nierte durch die Sicherheit seiner Behauptungen, wenngleich er oft genug
durch seine Unduldsamkeit unangenehm auffallen mußte. Keiner seiner
germanistischen Leser oder Zuhörer seiner Vorträge wußte, daß die
Wissenschaft, der Kossinna selbst sich erst vor kurzem zugewandt hatte,
noch mitten in den Bemühungen steckte, eine eigene Methode zu ent-
wickeln. Keinem war es klar, daß der Quellenbestand der mittel- und
nordeuropäischen Archäologie noch unzulänglich und der Forschungs-
stand vielenorts unzureichend war. Kein Leser und Zuhörer wußte, daß
Kossinna das ardiäologische Fundgut Mittel- und Nordeuropas vor-
läufig nur nadi der noch spärlichen Literatur kannte und daß ihm der
Dienst als Bibliothekar — 1881—1885 in Halle, 1886 in Berlin, 1887
bis 1891 in Bonn, danach wieder in Berlin18 — keine Zeit zu großen
Museumsreisen ließ. Erst 1899—1901 besuchte er in jährlich drei- bis
viermonatigen Reisen die Museen Deutschlands und Dänemarks. Im
Jahre 1904 reiste er erneut nach Dänemark und nach Schweden, 1905
nach Süddeutschland und Österreich, 1907 und 1908 nadi Belgien und
Frankreich 19 . Es war verhängnisvoll: Sein Bild von der Siedlungs-
geschichte Skandinaviens und des östlichen Mitteleuropa war längst
fertig, als er zu reisen begann.
Als Argument für die Besiedlung Ostdeutschlands und Polens von
Skandinavien und Dänemark her benutzte Kossinna allerdings weniger
ein vorschnell entworfenes Bild vom archäologischen Befund; er führte
als Zeugnisse vor allen Dingen die Volksnamen auf, die in den Jahr-
hunderten nach Christi Geburt in Mittel- und Nordeuropa anzutreffen
sind. Er nannte die Warinen, Goten, Rugier, Lemovier, die Wandalen,
Silingen, Burgunder, Haruden, Kimbern und Teutonen und die Heruler
als die germanischen Stämme, für die seiner Ansicht nach schon die
N a m e n Auswanderung aus dem Norden bezeugten20.
Die Beweise, die er als Belege für Wanderungen auf Grund von
Volksnamen vorlegte, waren jedoch erstaunlich schwach. Für Warinen
in O b e r s c h l e s i e n zeugten ihm die Ampivoi bei Ptolemaios Geogr.
III 5,8 und die Aiiaojroi bei Ptolemaios Geogr. II 11,9, für denselben
Stamm in Jütland offenbar die Varini in Tacitus Germania 40. Den
Wandalen in Schlesien stellte er die Wendle in Vendsyssel an der Nord-
spitze Jütlands gegenüber. Die schlesischen Silingi ließ er — „viel-
18
H. Hahne, Mannus 10 (1918) VI; Rud. Stampfuß, Gustaf Kossinna (1935) 11.
19
Vgl. H. Hahne, a. a. O. VIII Anm. 5.
20
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 281 ff.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 151
Die Meinung über die Herkunft der Goten kann als kennzeichnen-
des Beispiel f ü r ihre Ansichten genommen werden. K . Zeuss betonte,
„die Zeit v o r der Wanderung [nach Südrußland], die Urzeit des Volkes,
ist in seinem Andenken verdunkelt und fabelhaft geworden". Die Tra-
dition von ihrer Herkunft bezeichnete er als „eine unzweifelhaft falsche"
Nachricht 25 . J . Grimm stellte fest, „sie [die Langobarden] sind ebenso-
wenig aus der nordischen Insel herangefahren als die Gothen, und eben-
sowenig zu Schiffe angelangt als die Sachsen" 26 . Er verwies solche Her-
kunftsangaben „als unhistorisch auf das Feld der Sage" 27 . K . Müllenhoff
nahm an, die Goten hätten ursprünglich auf dem rechten, d. h. östlichen
Weichselufer gesiedelt und meinte, dazu passe die „Aufstellung bei Tacitus
und S t r a b o . . . o. p. 2 9 0 und besonders audi die eigene Überlieferung
des Volkes bei Jordanes cap. 4.17" 2 8 . Solche Ansichten von Zeuss, Grimm
und Müllenhoff gaben ihrer Zeit das Modell, nach dem sich auch minder
34
G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 16 Anm. 2.
35
O. Montelius, Über d. Einwanderung unserer Vorfahren i. d. Norden, in:
Archiv f. Anthropologie 17 (1887) 151—160.
3
' G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alterthum u. dt. Litteratur 16 (1890) 5.
37
G. Kossinna, a. a. O. 16 Anm. 2.
38
G. Kossinna, Die Sueben im Zusammenhang d. ältesten dt. Völkerbewegun-
gen, in: Westd. Zeitsdir. f. Gesch. u. Kunst 9 (1890) 199—216.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 155
3
* G. Kossinna, a. a. O. 216.
40
A.Riese, Die Sueben, in: Rhein. Museum f. Philologie N. F. 44 (1889) 331—
346. 488.
41
G. Kossinna, a. a. O. 216. — Noch in der Entgegnung Kossinnas, in: Westd.
Zeitsdir. 10 (1891) 104—110 auf Rieses Antwort,in: Westd. Zeitsdir. 9 (1890)
339—344 spielen archäologische Argumente keine Rolle.
42
Vgl. G. Kossinna, Uber d. vorgesch. Ausbreitung d. Germanen i. Deutschland,
in: Correspondenzblatt d. dt. Ges. f. Anthrop., Ethnol. u. Urgesdi. 26 (1895)
109—112; ders., Über d. dt. Altertumskunde u. d. vorgesdi. Ardiäologie, in:
Verhandl. d. 43. Versammlung dt. Philologen u. Schulmänner Köln 1895
(1896) 126—129; ders., Die vorgesdi. Ausbreitung d. Germanen i. Deutsch-
land, in: Zeitsdir. d. Vereins f. Volkskunde 6 (1896) 1—14; ders., Vorge-
schichtliche Ardiäologie 1895, in: Jahresber. f. germ. Philologie 17 (1895)
74—94 bes. 75 f.
43
Vgl. das Schrifttumsverzeichnis in: Mannus 10 (1918) VIII ff., das für 1890
sechs, für 1891 vier, für 1892 zwei, für 1893 einen und für 1894 drei unbe-
deutende Beiträge anzeigt. Es folgen dann die Jahre 1895 mit neun und 1896
mit zehn Veröffentlichungen. — Rud. Stampfuß, Gustav Kossinna (1935) 13
bezeugt, daß Kossinna die wissenschaftlichen Interessen den beruflichen (als
Bibliothekar) vorgezogen habe. Offenbar hat er in diesen Jahren hart, aber
rücksichtslos für sidi selbst gearbeitet.
156 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
satz über den Ursprung des Germanennamens 44 , der — was die darin
angewandten philologischen Methoden betrifft — trotz des häufig an-
klingenden polemischen Untertons den Erfordernissen seiner Zeit durch-
aus gewachsen war, läßt, wenn man ihn mit dem zwei Jahre später
veröffentlichten Beitrag über die ethnologische Stellung der Ostgermanen 45
vergleicht, diesen Wandel deutlich erkennen. In dem einen Aufsatz finden
sich nodi sorgsame Belege der für seine — manchmal vielleicht etwas
willkürlichen — Thesen brauchbaren antiken Quellen, und der Orts- und
Flußnamen; im anderen stehen vielfältige, meist unbelegte Behauptungen.
Nachweise für die Zeugnisse der Volksnamen von der Herkunft konti-
nentalgermanischer Stämme aus Skandinavien fehlen meist. Man ist
gezwungen, seine Gedankengänge zu rekonstruieren bzw. seine Vorlagen
zu erschließen.
Die Warinen wurden von Kossinna als erster Stamm nordischer
Provenienz genannt. Er meinte damit die Avapivoi (Ptolemaios Geogr.
III 5,8). Sie in Oberschlesien anzusetzen, scheint sich für ihn aus den
*Varini des Plinius ergeben zu haben (Plinius Hist. Nat. IV 14,99), denn
dieser kannte sie als einen Volksstamm seiner *Vandili. Die Warinen in
Jütland sind hingegen die Varini des Tacitus, die zu den Nerthus-Völkern
gehören (Tacitus Germ. 40), und mit ihnen kam er in der Tat, wenn
nicht nach Jütland, so doch mindestens in das nordwestdeutsche Küsten-
gebiet. Kossinna vereinfachte sich das Problem dadurch, daß er die
Omgouvoi und AijaQjToi nicht nannte, die Ptolemaios Geogr. II 11,9 in
der Nachbarschaft von Sueben kannte, und daß er O M Q V O I nicht er-
wähnte, die in der Nachbarschaft der Aavoi — wahrscheinlich südlich da-
von — siedelten (Prokop Bell. Goth. II 15,2.3). Nach Prokop wären
im übrigen Warnen auch am Rhein zu suchen (Prokop Bell. Goth. IV 20),
und außerdem müßten Warnen im 5. und 6. Jahrhundert in Mittel-
deutschland angenommen werden.
Der Gegensatz zwischen Kossinna auf der einen und Zeuss, Grimm
und Müllenhoff auf der anderen Seite ist wiederum nicht zu übersehen.
Zeuss und Grimm sahen wohl den Zusammenhang zwischen Varini und
Varni, zogen daraus jedoch keine Schlüsse. Auch Müllenhoff sagte über
denkbare Wanderungen nichts46. Allerdings ist auffallend, daß Zeuss
— wie Kossinna — Aiiapivoi für eine Verschreibung von *Ot>aQivoi
44
G. Kossinna, Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 20 (1895) 258—
301. — Der Aufsatz ist auf November 1893/April 1895 datiert, also 1893
niedergeschrieben und bis 1895 um einige Anmerkungen erweitert.
43
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 276 ff.
46
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nadibarstämme (1837) 132. 360 ff.; J. Grimm,
Gesch. d. dt. Sprache (»1868) 419 f. 421; K. Müllenhoff, Deutsche Altertums-
kunde 2 (1887) 80.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 157
ansah, woran auch Müllenhoff dachte". Rud. Much kommt trotz seiner
Verbindungen zu Kossinna als Gewährsmann für dessen Gleichung nicht
in Betracht, denn er bezweifelte, daß der in den Handschriften des Plinius
als Varinne und Varine belegte Stamm (Plinius Hist. Nat. IV 99) über-
haupt mit den Varini zu identifizieren sei48. Auf dieser Voraussetzung be-
ruhte aber gerade Kossinnas Behauptung, Varini seien in Oberschlesien
ansässig geworden. Der Ursprung von Kossinnas These bleibt unklar.
Das aus dem Gen. plur. Wendla in Beowulf 348 und dem Dat. plur.
Wenlum im Widsith erschlossene '''Wendlas wurde im Norden schon seit
N . F. S. Grundtvig wiederholt mit den Wandalen in Zusammenhang
gebracht49. D i e Zusammenstellung von Vendsyssel — älter Wendlisyscel —
mit den Wandalen findet sich schon bei Saxo Grammaticus 50 . Zeuss und
Müllenhoff zogen eine Verbindung zwischen Wandalen und *Wendlas
und Wendlisystel nicht bzw. nicht ernsthaft in Betracht 51 . J. Grimm er-
wähnte immerhin die *Venias des Widsith 52 im Zusammenhang mit den
Wandalen, brachte jedoch beide Namen in keinen Zusammenhang. Es
ist nicht völlig ausgeschlossen, daß Kossinna sich hier auf Rud. Much
stützte 5 '. Dieser scheint sich seinerseits mindestens teilweise nach dänischen
47
K. Zeuss, Die Deutsdien u. d. Nachbarstämme (1837) 133; K. Müllenhoff,
Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 80 f.
48
Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 40.
49
Es ist anzunehmen, daß Grundtvig diese Gleichung aus dem Werk des Saxo
Grammaticus entnommen hat, das er 1818 bis 1822 ins Dänische übersetzte.
Bei Grundtvig selbst ist die Gleichung in: Beowulfes Beorh (1861) 208 belegt,
dodi dürfte sie audi schon in älteren seiner Schriften zu finden sein, was von
Deutschland aus schwierig nachzuweisen ist. — Auf Grundtvig wird in späte-
rem Schrifttum wiederholt hingewiesen, z.B.: S. Bugge, Zum Beowulf, in:
Zeitschr. f. dt. Philologie 4 (1873) 197, wo auch darauf verwiesen wird, daß
E. M. Ettmüller [in seinem Werk über Beowulf (1840)] schon dieselbe Ansicht
wie Grundtvig vertreten habe. — Vgl. ferner: S. Bugge, Studien ü. d. Beo-
wulfepos, in: Beitr. z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 12 (1887) 7 f.; E.
Björkman, Studien ü. d. Eigennamen im Beowulf, in: Stud. z. engl. Philologie
58 (1920) 116 ff. bes. 116 Anm. 3 mit Hinweisen auf älteres Schrifttum.
50
Gesta Danorum, über undecimus XIV, 6; liber decimus quartus XVI, 5
(Saxonis Gesta Danorum primum a C. Knabe et P. Herrmann recensita re-
cognoverunt et ediderunt J. Olrik et H . Raeder 1 [1931] 326, 5—6 u. 395, 17).
51
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 57. 443 ff.; K. Müllen-
hoff, Deutsche Altertumskunde 4 (1900) 128 f. 665 ff.; dazu auch: K. Müllen-
hoff, Beovulf. Untersuchungen ü. d. angelsächsische Epos u. d. älteste Gesch.
d. germ. Seevölker (1889) 89.
52
J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache (31868) 333.
53
Rud. Mudi, Deutsche Stammessitze (1892) 210 f. — Später hat Kossinna seine
Auffassung über die Herkunft der Wandalen modifiziert. Mannus 11/12
(1919—20) 405 ff. bes. 408 vertrat er die Meinung, daß „Vermittler des
Mäanders . . . wohl die aus Schlesien nach Vendsyssel gewanderten Wan-
dalen" waren. Im Jahre 1929 betonte er seine „damals [1920] längst fest ge-
158 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
Die Heimat der Burgunden, die nach Kossinna „ganz zweifellos aus
Bornholm stammten", suchte K. Zeuss in der westlichen Nachbarschaft
der Goten. Er kannte jedoch auch schon die Ansicht, sie hätten ursprüng-
lich auf Bornholm gesiedelt 61 , wies sie aber zurück. J. Grimm sah keinen
Grund, die Insel „dem Volksnamen zu entziehen", meinte aber, „warum
sollten nicht auch einzelne . . . Burgunden gegen N o r d e n gezogen
sein"62. Müllenhoff dagegen zog eine Beziehung der Burgunden zu Born-
holm nicht ernsthaft in Betracht"3. Much wiederum sah zwischen dem
Namen der Insel und dem des Stammes zwar eine Wortverwandtschaft,
jedoch in der Insel nicht die Heimat des Stammes, wiewohl er mit einer
älteren Heimat der Burgunden außerhalb des östlichen Mitteleuropa
rechnete"4. Während Much später Kossinna für den Entdecker dieser
Wortgleichung hielt 65 , hat dieser sich offenbar in Wahrheit auf E. Brate
gestützt 66 , doch trug er auch Eigenes bei, insbesondere um die abweichen-
den Ansichten Zeuss', Müllenhoffs und Muchs zu widerlegen 67 .
D a ß „die Rugier ihre Namensvettern an der Südspitze Norwegens"
hatten, war zwar schon Zeuss, Grimm und Müllenhoff bewußt, die jedoch
daraus für die Herkunft der einen oder der anderen Gruppe keine Konse-
quenzen zogen. Much sah allerdings in den beiden Gruppen „nur durch
Wanderung getrennte Teile eines und desselben V o l k e s . . . , über dessen
ältere Sitze" er sich freilich „ganz im Unklaren" war 68 . Im Kreis der
Nordsee hielt80, dachte sich Kossinna ursprünglich ihre Sitze südlich von
den Kimbern im mittleren und oberen Mainland, und er hielt sie nicht für
Germanen wie jener, sondern für Kelten81, eine Ansicht, an der er noch
bis 1895 festhielt 82 . »Wenn die Flotte des Augustus im Jahre 5 n. Chr. an
der Spitze von Jütland noch Kimbern getroffen haben will, so ist das
nichts als politischer Humbug". Diese Meinung 83 hatte er drei Jahre früher
schon einmal geäußert 84 . Wenn er im Jahre 1897 die Kimbern auf der
Kimbrischen Halbinsel ansetzte, kehrte er — wenngleich ohne Begrün-
dung — wieder zur allgemein vertretenen Auffassung zurück, denn Mül-
lenhoffs Ansicht hatte offensichtlich niemals viel Zustimmung gefunden.
Für die Wendung zur altverbreiteten Auffassung mag Much einen Anstoß
gegeben haben 85 . Spuren von Einflüssen auf Kossinna weisen indes wieder
nach Dänemark, wo die Verbindung der Kimbern mit der Landschaft
Himmerland — Himbersysiel — seit dem Humanismus immer wieder be-
tont worden ist88. Im Jahre 1839 hatte der Norweger R. Keyser erneut die
Verbindung der Kimbern mit Himmerland betont 8 '.
Ein Wandel der eigenen Ansicht über die Kimbernherkunft inner-
halb von wenigen Jahren muß Kossinna, obwohl er häufig genug in Fra-
gen der Wissenschaft keine Bedenken kannte, doch etwas unangenehm
gewesen sein. So schrieb er 1897 von den Teutonen, die er wenig vorher
für Kelten und Bewohner des mittleren und oberen Mainlandes gehalten
hatte, verklausuliert: „Ein phantasievoller Sprachforscher könnte dann
noch im Thyttesysal nördlich des Limfjords die Teutonen erkennen" 88 .
Aus der deutschen Literatur dürfte Kossinna gewiß nicht zu dieser Wen-
dung angeregt worden sein. Seine Quelle ist wieder in Skandinavien zu
suchen, doch die Literatur zur Kimbern- und Teutonenfrage ist so unge-
80
K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 2 (1887) 289.
81
G. Kossinna, Westd. Zeitschr. 9 (1890) 213.
82
G. Kossinna, Der Ursprung d. Germanennamens, in: Beiträge z. Gesch. d. dt.
Sprache u. Literatur 20 (1895) 298.
83
G. Kossinna, Westd. Zeitsdlr. 9 (1890) 214.
84
G. Kossinna, Rezension von Th. Mommsen, Römische Geschichte 5 ( 2 1885), in:
Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Literatur 13 (1887) 203 f.
85
Rud. Much, Deutsche Stammessitze (1892) 214 f.
86
Vgl. G. Schütte, Acta Philol. Scand. 6 (1931—32) 91 ff.
87
R. Keyser, Om nordmaendenes herkomst og folkesläegtskab, in: Samlinger til
det norske Folks Sprog og Historie 6 (1839) 359 ( = Samlede Avhandlinger
[1868] 120).
88
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 290 Anm. 1. Die Meinungs-
änderung, die Kossinna hier vornahm — denn wen anders meinte er mit dem
„phantasievollen Sprachforscher" als sich selbst — vollzog Much später eben-
falls. Vgl. Rud. Much, Deutsche Stammeskunde ( 2 1905) 100 f.; ders., Stich-
wort „Teutonen", in: J. Hoops, Reallexikon d. germ. Altertumskunde 4
(1918—19) 314 ff.
der Donau und am Pontus entgegen treten" (a. a. O. 181). Hier scheint Vor-
stellungsgut Jacob Grimms durchzuschimmern, der in: Gesch. d. dt. Sprache
( 3 1868) 514 meinte: „ . . . auch darin folgen sie, fast instinctmäßig, dem alten
Stamm nach, dasz ihnen wie diesem Aufgang und Niedergang der Sonne in
der neuen Heimat wieder zur Abteilung wird und alsbald ein Eystragautland
Vestragautland . . . vorhanden ist." Much kehrte J . Grimms Vorstellung ein-
fach um.
05 A. Erdmann, Om folknamnen Götar och Goter, in: Antiqvarisk tidskr. f.
Sverige 1 1 , 4 (1905) 1 — 3 4 .
" Eines seiner ersten Zitate archäologischer Literatur nennt den Aufsatz von O.
Montelius, Über d. Einwanderung unserer Vorfahren i. d. Norden, in: Archiv
f. Anthropologie 17 (1887) 1 5 1 — 1 6 0 . Vgl. G. Kossinna, Anzeiger f. dt. Alter-
thum u. dt. Litteratur 16 (1890) 16 Anm. 2. — Damals war Kossinnas eigene
11»
164 Kossinna und der Skandinavien topos des 19. und 20. Jahrhunderts
Auffassung aber nodi bei weitem nicht fertig, denn er zitierte hier Montelius
als Zeugen für die Einwanderung von Germanen nach dem Norden.
97 Nachweislich kannte Kossinna im Jahre 1897 folgende skandinavische ger-
manistisdie Literatur: H. Möller, Das altenglische Volksepos i. d. ursprünglichen
strophischen Form (1883); ders., Rezension von A. Erdmann, Über d. Heimat
u. d. Namen d. Angeln (1890—91), in: Anzeiger f. dt. Altertum u. dt. Lit-
teratur 22 (1896) 129—164; S. Bugge, Bidrag til nordiske Navnes Historie,
in: Arkiv f. nordisk filologi N. F. 2 (1890) 225—245; S. Bugge, Norges
Indskrifter med de seldre Runer 1 (1891—1903); K. Rygh, Bemerkninger om
stedsnavnene i den sendre del af Helgeland, in: Historisk tidsskrift utg. av den
Norske historiske forening 1 (1870) 53—135; P. A. Münch, Historiskgeogra-
phisk Beskrivelse over Kongeriket Norge i Middelalderen (1849); ders., Die
nordisch-germanischen Völker, ihre ältesten Heimathsitze, Wanderzüge und
Zustände (1853); ders., Undersögelser angaaende Danmarks ethnographiske
Forhold i de aildste Tider, in: Annaler f. nordisk Oldkyndighed og Historie
(1848) 216—336; C. A. E. Jessen, Undersögelser til nordisk oldhistorie
(1862); H. Petersen, Om Nordboernes Gudedyrkelse og Gudetro i Hedenold
(1876); Ed. Erslev, Jylland d. Studier og Skildringer til Danmarks Geografi
(1886); O. Nielsen, Bidrag til Oplysning om Sysselinddelingen i Danmark
(1867); R. Keyser, Om Nordmasndenes herkomst og Folkeslsegtskab, in: Sam-
linger til Det Norske Volks Sprog og Historie 6 (1839) 263—462.
98 Th. Bieder, Gesch. d. Germanenforsdiung 1 (1921) 40 ff. 56 ff. 94 ff. ( 2 1939)
64 ff. 101 ff. 163 ff. (Bieders sonst naiv vordergründige Zusammenstellung für
diese Frage instruktiv); C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus
Sdiweden (1958) 3 ff.
Zur Forschungsgesdiichte und zum Forschungsstand 165
Gothi genannt wurden98 und wie für die Västgötar sogar der Name Wi-
sigothi aufkam100. Der Unterschied zwischen den kontinentalen Gothi und
den skandinavischen Gautar, wie er im frühen Mittelalter selbstverständ-
lich war, wurde damit verwischt, und zwar solange, bis die neuzeitliche
Wissenschaft ihn wieder neu feststellte. Nicolaus Ragvaldi, ein schwe-
discher Bischof, lernte — wohl auf dem Baseler Konzil — Jordanes' Go-
tengeschichte oder größere Auszüge daraus kennen101; Ericus Olai lehnte
sich mit seiner Chronica regni Gothorum ganz an Nicolaus Ragvaldi
an102. Um 1540 schrieb Johannes Magnus eine Historia de omnibus Gotha-
rum Suenumque regibus, die langdauernden Einfluß gehabt hat103. Olof
Rudbeck und viele andere bauten mit wechselnden Einfällen, lebhafter
Phantasie und kräftiger Rücksichtslosigkeit gegenüber den von ihnen be-
nutzten Quellen an einem Geschichtsbild, in dem der Norden als Heimat
der Völker angesehen wurde104. Als die Historiographie der Aufklärung
die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellte, wurde das — wie es C. Wei-
bull ausdrückte — „für die ältere Geschichtsschreibung eine Katastrophe".
Ihr Lehrgebäude stürzte zusammen. „Aber der Kern dieser Geschichts-
schreibung selbst, die Erzählung von der Auswanderung der Goten aus
Schweden, war zwischen den Ruinen stehen geblieben"105. Die deutsche
Romantik, die über Adam öhlenschläger nach Dänemark und dem Nor-
den wirkte, und die in den Arbeiten Grundtvigs10' ungewöhnliche Blüten
trieb, belebte die alten Vorstellungen im Norden bald wieder. Man findet
die Uberzeugung von der Herkunft der Goten aus dem skandinavischen
1 0 S J . Svennung, a. a. O. 81 f.
1 0 3 J . Svennung, a. a. O. 82 f.
dier tili Sveriges hedna mytologi och fornhistoria, in: Uppsala universitets
arsskrift 1924 (Filosofi, sprakvetenskap odi historiska vetenskaper 6) (1924),
82 ff., wo die Diskussion über die mittelalterlich schwedische Gleichsetzung
von Götar und Gotar bis ins 19. Jahrhundert verfolgt wird.
1 0 5 C. Weibull, Die Auswanderung d. Goten aus Schweden (1958) 27 f.; vgl. dazu
E . Wessen, a. a. O. 84.
10« Vgl. N . F. S. Grundtvig, Nordens Mythologie eller Sindbilled-Sprog (1832)
116 f. zur Herkunft der Goten (übersetzt): „Wir können uns deshalb den
alten Norden als eine geistige Einheit vorstellen, in der der politische Unter-
schied wie in der ganzen Gesellschaft nur wenig zu bedeuten hatte, und die
drei großen Auswanderungen: Die gotische, angelsächsische und die norman-
nische können als gemein nordische betrachtet werden, obsdion sie Bruder-
teile von dem Reiche gewesen sind, das der Ausgangspunkt war. Da wir nun
wissen, daß Dänemark der [Ausgangspunkt] der Angelsachsen, Norwegen der
der Normannen war, ist nicht der geringste Grund vorhanden, daran zu
zweifeln, daß Schweden der der Goten w a r . "
166 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
keinen Eindruck machen; dort mußten aber die scheinbar sorgfältige und
zurückhaltende Darstellung und Auswertung der archäologischen Befunde
imponieren. Für den Archäologen hingegen konnte die Auswertung der
Bodenurkunden in der Form, wie er sie 1897 vornahm, auf die Dauer
kaum befriedigen. Was Kossinna von der Herkunft so vieler germanischer
Stämme aus Skandinavien schrieb, das machte jedoch großen Eindruck,
denn er war doch immerhin Germanist und als solcher für die Beurteilung
sprachlicher Fakten kompetent.
Die unmittelbare Wirkung des Aufsatzes scheint aber noch nicht sehr
groß gewesen zu sein. Immerhin brachte das Jahr 1899 bereits zwei grö-
ßere Veröffentlichungen, die auf einzelne seiner Gedanken eingingen.
O. Bremer, der Kossinna mehrfach zitierte108, benutzte freilich den archäo-
logischen Teil seiner Schrift nicht. Im Gegenteil, er betonte, daß „aus der
prähistorischen Archäologie . . . für die Bestimmung der Nationalität gar
nichts sicheres zu gewinnen" sei. Es sei „nicht entfernt daran zu denken,
daß sich auf Grund der geographischen Verbreitung der gefundenen
Sachen auf der Karte ethnographische Linien ziehen ließen" 10 '. „Dem
neuesten Versuch G. Kossinnas, . . . , auf Grund der Funde die ältesten
Wohnsitze der Germanen zu bestimmen, stehe ich durchaus ablehnend
gegenüber"110. Nur wo archäologische, historische und linguistische Zeug-
nisse übereinstimmten, seien sie ethnographisch verwertbar. In diesem
Sinne hielt er — allerdings mit Einschränkungen 111 — die Angaben skan-
dinavischer Archäologen für brauchbar, die den Nachweis zu führen ge-
sucht hatten, daß Schweden und Norwegen von Dänemark aus besiedelt
worden seien112. Man kann eine versteckte Polemik gegen Kossinna sehen,
wenn er philologische Details aus dessen Aufsatz über die ethnographische
Stellung der Ostgermanen diskutierte, ohne seine Wanderungsthesen auch
nur zu erwähnen.
Im gleichen Jahre wie Bremer setzte sich auch R. Loewe in begrenz-
tem Umfange mit Kossinnas neuen Thesen auseinander113. Bezeichnend ist
108
O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1904) 5. 79. 103. 111 u.
122 f. nannte philologisdie Details aus seinen Arbeiten, erwähnte S. 85 Kos-
sinna lediglich als Zeugen dafür, daß sidi die breves gladii der Ostgermanen
(Tacitus Germ. 43) in skandinavischen Gräbern fänden.
109
O.Bremer, a. a. O. 17.
110
O. Bremer, a. a. O. 36 Anm.
111
O. Bremer, a. a. O. 51 Anm. 3 wandte sich gegen die Meinung der Archäolo-
gen, Skandinavien sei schon um 3000 v. Chr. besiedelt worden, und rechnete
damit, daß die Steinzeit bis ins 2. Jh. v. Chr. Geb. gereicht habe.
111
Vgl. die von O. Bremer, a. a. O. 51 f. zitierte Literatur.
115
R. Loewe, Die ethnische u. sprachl. Gliederung d. Germ., 16. Festschr. d.
Gesellschaft f. dt. Philologie (1899).
168 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
sein Urteil: Kossinna hat „die Herkunft der Ostgermanen aus Skandina-
vien und damit die Berechtigung der Zweiteilung der Germanen, . . . , er-
wiesen. Er ist dabei fast lediglich von ethnologischen, namentlich archäo-
logischen Momenten ausgegangen, hat dagegen die sprachliche Seite der
Frage nur kurz, . . . , gestreift und überhaupt sehr unterschätzt" 114 . Be-
zeichnend ist ebenso, daß Loewe — wenn auch sehr selten — die archäolo-
gischen Argumente Kossinnas übernahm, natürlich ungeprüft. „Da sich die
Wohnsitze der Germanen erst in der jüngsten Bronzezeit (600—300v. Chr.)
östlich über die Weichsel ausdehnen, so können auch erst frühestens wäh-
rend dieser Zeit die Goten in jene Gegenden gekommen sein", meinte er
beispielsweise115. Zu einer Auseinandersetzung mit Kossinnas gesamtem
Vorgehen kam es noch nicht; es blieb im wesentlichen bei einer — im gro-
ßen Ganzen wohlmeinenden — Polemik gegen seine philologischen Argu-
mente.
Seit seinen im Jahre 1895 gehaltenen Vorträgen und dem Aufsatz
des Jahres 1897 war die Problematik des Zusammenhanges zwischen
Skandinavien und den „Ostgermanen" für Kossinna in den Grundzügen
gelöst, obwohl er 1897 noch geschrieben hatte: „Wie sich die vorchrist-
lichen Völkerverschiebungen hier im einzelnen gestalten, muß sich durch
eingehendere Spezialstudien in Zukunft ermitteln lassen, . . ." l l e . Sein
nächster größerer Beitrag zur Geschichte der „Ostgermanen" — 1905 ver-
öffentlicht117 — macht das deutlich. Wo er auf den sprachgeschichtlichen
Hintergrund zu sprechen kam, blieb er bei Behauptungen, von denen man
1897 noch erwarten konnte, er würde sie in den nächsten Jahren gründlich
erörtern. Nun behandelte er sie wie Fakten, die keinen ernsthaften Wider-
spruch mehr duldeten. „Befremdend hat auf mich gewirkt, daß Schweden,
ein Land, das seit der Ubersiedlung der Ostgermanen ins Weichselgebiet,
namentlich aber seit dem Erscheinen der Burgunden und dann der Goten,
. . ., durch ethnologische wie kulturelle Beziehungen an Ostdeutschland
geknüpft erscheint, die ostdeutsche Eigentümlichkeit der verzierten Lan-
zenspitzen nicht übernommen haben sollte"118, meinte er zunächst. Aber
er konnte dann solche Lanzenspitzen sofort nachweisen.
Obwohl alles geklärt zu sein schien, setzte Kossinna in diesem Auf-
satz aber doch noch einmal zu einer Erläuterung seiner Ansichten an. „Der
Begriff des ,Ostgermanischen', . . . , wurde bekanntlich von Müllenhoff
114
R. Loewe, a. a. O. 1.
115
R. Loewe, a. a. O. 18 ähnlich auch 44.
116
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 280.
117
G. Kossinna, Über verzierte Eisenlanzenspitzen als Kennzeichen d. Ostger-
manen, in: Zeitsdir. f. Ethnol. 37 (1905) 369—407.
118
G. Kossinna, a. a. O. 382 f.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 169
119
Kossinna meinte: K. Müllenhoff, Über Tuisco u. seine Nachkommen. Ein Bei-
trag z. Gesch. d. altdt. Religion, in: Sdimidt's Allgem. Zeitsdir. f. Gesch. 8
(1847) 209—269.
120
Gemeint ist sein Vortrag in Kassel 1895; vgl. Anm. 4.
121
Hier schob Kossinna als Anmerkung ein, er habe sich schon in seinem Vor-
trage in Breslau im Januar 1902 über die Archäologie der Ostgermanen ein-
gehender geäußert, das Vortragsreferat in: Globus 81 (1902) 93 f. biete dar-
über „jedoch so gut wie nichts".
122
G. Kossinna, Zeitsdir. f. Ethnol. 37 (1905) 386 f.
123
G. Kossinna, Die indogerm. Frage archäologisch beantwortet, in: Zeitsdir. f.
Ethnol. 34 (1902) 216.
170 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
demgemäß auch dieser zweiten Gruppe . . . den Namen gab, nach Hinter-
pommern und Westpreußen gelangten . . . Kennzeichen hierfür sind die
Begräbnisse in Form der sog. reinen Brandgruben . . . Eine dritte Gruppe
der Ostgermanen wird durch die kurz vor Chr. Geburt eröffnete Über-
siedlung der Goten aus Gotland nach der Weichselmündung begründet.
Auf Gotland und anscheinend in ganz Schweden überhaupt herrscht in
dieser Zeit die Skelettbestattung durchaus vor . . . Die gotländische Ske-
lettbestattung [wird] durch die Goten nadi Nordostdeutschland ge-
bracht" 124 . Er meinte allerdings, nicht immer sei die Vorbevölkerung voll-
ständig verdrängt und manchmal sei die durch die Einwanderung impor-
tierte Grabsitte „durch Übertragung auf die nächstverwandten Nach-
barn"" 5 ausgebreitet worden.
Kossinnas Argumente für die Einwanderung waren einfach, und sie
mögen dem Germanisten einleuchtend erschienen sein. Das Aufkommen
neuer Bestattungssitten — Steinkistengräber der Gesichtsurnenkultur,
Brandgrubengräber der Spatlaténezeit und Körpergräber kurz vor Christi
Geburt —, das waren tiefgreifende Änderungen der Kultur, die es wohl
rechtfertigten, Einwanderungen anzunehmen. Daß solche Begräbnissitten
auch durch Kulturübertragung weiterverbreitet werden konnten, war
verständlich, und daß Kossinna nicht einseitig nur von Wanderungen
sprach, betonte wiederum ebenso die Sorgfalt seiner Überlegungen wie die
Annahme von Restbevölkerungen, die mit den Neuankömmlingen ver-
schmolzen. Der Leser, der die archäologischen Fakten nicht kannte, konnte
allerdings nicht erkennen, daß er die Vermischung mit Restbevölkerungen
w i l l k ü r l i c h annahm und daß er ebenso s e l b s t h e r r l i c h ent-
schied, wo die neuen Bestattungssitten eine Einwanderung und wo sie eine
Kulturübertragung anzeigten.
res wissen wir [auch] über die spätere Zeit"12*. Im übrigen vertröstete er
nochmals auf eine spätere erschöpfende Bearbeitung: „Diese Andeutungen
zur Beleuchtung der Frage nach dem Verhältnis von Ost- und Westgerma-
nen mögen vorläufig genügen, bis ich Muße finde, das von meiner ost-
deutschen Museumsreise des Jahres 1899 eingebrachte Studienmaterial aus-
führlich vorzulegen" 130 .
Die Gelegenheit dazu wäre im Jahre 1 9 1 1 gekommen gewesen, als
Kossinna sein erstes größeres Budi veröffentlichte 131 . Doch dies enthielt
nur eine Zusammenfassung bisheriger Ansichten, mit allerhand polemischen
Ausfällen. Audi ein zweites, annähernd gleichzeitig erschienenes Buch"8
brachte das versprochene Material nicht, und eine 1925 erschienene „Ost-
germanenkarte" ergab nichts Neues13'. Kossinna hat die versprochene
ausführliche Vorlage des Materials als Beweis für die Einwanderung der
Ostgermanen aus Skandinavien niemals geliefert.
und „Kimbern" 1 4 ', also bei einem beträchtlichen Teil der germanischen
Hauptstämme. In anderen Fällen hat Mudi sich allerdings unabhängig
gehalten, so bei den Stichworten „Bastarnen", „Teutonen" und „Rugier".
Einen Zusammenhang zwischen Seeland und den 2IAÎYY<*I> wie Kossinna
ihn angenommen hatte, lehnte er ausdrücklich ab 148 . Gewisse Spuren Kos-
sinnas finden sich auch in Muchs Bild von der Entstehung und frühen Aus-
breitung der Germanen, doch w a r ihm durchaus bewußt, daß dessen „Auf-
stellungen vielfach eingehenderer Begründung" bedürften 14 '.
Schon bei Much ist sichtbar, wie Kossinnas Lehrmeinung vom skan-
dinavischen Norden als Heimat germanischer Stämme produktiv wurde,
d. h. wie sich nach seinem Vorbild Vorstellungen ähnlicher A r t bildeten.
wanderer; von wandernden Wandalen ist keine Rede. Zeitsdir. f. Ethno-
logie 37 (1905) 387 ff. sprach Kossinna von skandinavischen Scharen, die
sich das Gebiet Untertan machten und mit der einheimisch westgermanischen
Grundbevölkerung verschmolzen. Zwischen 750 und 700 v. Chr. seien sie
gekommen. — Angesichts dieses Wandels in Kossinnas Ansichten ist es schwer,
den Gedankenzusammenhang zwischen ihm und Much zu präzisieren. Fest
steht nur, daß ein solcher besteht.
144 Rud. Much, Stichwort „Burgunden", in: J . Hoops, Reallexikon 1 (1911—13)
357 ff. nannte Kossinna als Gewährsmann für die Herkunft der Burgunden
aus Bornholm und gab seinen eigenen Vergleich von kelt. Brigantes und *Bur-
gundes auf.
145 Rud. Much, Stichwort „Lemovii", in: J . Hoops, Reallexikon 3 (1915—16)
151 zitierte Kossinna ohne Kommentar, hielt seine Auffassung also für dis-
kutabel.
148 Rud. Much, Stichwort „Goten", in: J . Hoops, Reallexikon 2 (1913—15)
304 ff. 305 erwähnte Kossinna und übernahm seine These von der Herkunft
der Goten aus Gotland (nach G. Kossinna, Zeitschr. d. Vereins f. Volks-
kunde 6 [1896] 10), die von Kossinna später verändert wurde, so in: Das
Weidiselland (1919) 19 f.: „Der führende Stamm der Goten kam wahrschein-
lich von der Insel Gotland, doch werden wohl auch festländische Schweden-
stämme, insonderheit die Ost- und Westgauten im heutigen Götaland sich
ihnen angeschlossen haben." Dieselbe Meinung findet sich noch bei G. Kos-
sinna, Die dt. Vorgeschichte ( 2 1914) 143 ff., wo er sich zugleich 145 Anm. 1
gegen Auffassungen wendet, die O. Almgren, Mannus 5 (1913) 150 f. und
Mannus 8 (1916) 290 ff. geäußert hatte. Unter dem Einfluß von B. Nerman,
Die Herkunft u. d. frühesten Auswanderungen d. Germanen (1924) 52 än-
derte er dann seine Ansicht vollkommen. G. Kossinna, Die dt. Vorgeschichte
( 4 1925) 145 Anm. 1 lautet nun: „Diese Siedlungsänderungen zeigen sich nur
im Götalande . . . Audi die Ubereinstimmung der Begräbnisarten erweist
nur Götaland, nicht auch Gotland, als Gotenheimat."
147 Rud. Much, Stichwort „Kimbern", in: J . Hoops, Reallexikon 3 (1915—16)
42 ff. nannte Kossinna.
149 Rud. Much, Stichwort „Silingen", in: J . Hoops, Reallexikon 4 (1918—19)
180 f.: „Unwahrscheinlich ist die von Kossinna . . . vermutete Beziehung zu
Silund...".
149 Rud. Much, Stichwort „Germanen", in: J . Hoops, Reallexikon 2 (1913—15)
174 ff. bes. 177 f.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 175
der „Methode Kossinna" erbradit, wenn es ihnen gelungen war, bei Kos-
sinna oder anderen Inkonsequenzen nachzuweisen. Wo sich ausnahmsweise
einmal Angriffe direkt gegen die Methoden richteten, da waren die Argu-
mente dagegen meist nicht viel besser als die Kossinnas selbst. Die Vielzahl
der Schriften, die mittlerweile erschienen sind, hat längst den Weg, den die
Forschung seit Kossinna gegangen ist, vollends verunklart. Allzuoft kann-
ten die Kritiker nämlich ihre eigene wissenschaftliche Position nicht und
konnten nicht erkennen, was sie taten, wenn sie, ohne es zu wissen, mit
Kossinnas Argumenten gegen ihn zu Felde zogen. In einer gewissen Rat-
losigkeit hat sich ein Teil der Forschung resignierend schon seit längerer
Zeit aus dem gefährlichen Bereich der Auseinandersetzungen um das Pro-
blem der „ethnischen Deutung", wie es in der Vor- und Frühgeschichte
genannt wird, in den sichereren Bereich rein antiquarischer Untersuchun-
gen zurückgezogen.
Die Geschichte dieser Forschungsweise zu analysieren, wäre reizvoll,
und es würden Ergebnisse von beträchtlichem wissenschaftlichem Aktuali-
tätswert nicht ausbleiben. Hier kann es sich jedoch nur darum handeln,
das Schicksal des Skandinavien-Topos noch ein Stück weiter zu verfolgen,
zunächst in der Archäologie, dann in der germanischen Altertumskunde.
Kossina war von der Ansicht ausgegangen, daß die „Westgermanen"
sich im Gegensatz zu den „Ostgermanen" entwickelten. Er grenzte das
westgermanische Siedlungsgebiet für die Mitte des 2. Jahrtausends nach
Süden und Südwesten — grob gesagt — mit dem Mittelgebirgsland ab 15 '
und stellte fest: „Das von dieser Linie und der Meeresküste eingeschlossene
Landgebiet war in hohem Grade geeignet, einem eigenartigen, ge-
schlossenen und nur sich selbst gleichen Volke, wie die Germanen es noch
zu Tacitus Zeiten waren . . . als Wiege zu dienen". Es bestand seiner Auf-
fassung nach ein grundlegender Gegensatz zwischen West- und Ostgerma-
nen. Die einen waren in Nordwestdeutschland autochthon und waren aus
ihrer Heimat langsam und kontinuierlich peripher vorgerückt, bis sie die
Siedlungsräume erreichten, die sie noch zur Zeit des Tacitus inne hatten;
die anderen waren erst spät aus Skandinavien eingewandert, hatten sich
teilweise mit Westgermanen vermischt, waren durch neue Einwanderungs-
schübe vermehrt, aber auch verdrängt worden 1 ' 0 . Doch dann wurde der
Skandinavien-Topos auch im Westen wirksam.
Einer der ältesten Schüler Kossinnas, A. Plettke, entwickelte die
These, die Sachsen seien „über See" aus nördlicher Richtung, d. h. über die
Elbemündung eingewandert" 1 . G. Schwantes wollte den Nachweis er-
1S
» G. Kossinna, Herkunft d. Germanen (1911) 21 f.
160
G. Kossinna, a. a. O. 20.
161
A. Plettke, Ursprung u. Ausbreitung d. Angeln u. Sachsen (1920) 60.
(1933) 197 f.; ders., Jahresschr. f. Mitteidt. Vorgesdi. 41/42 (1958) 384 f. an-
ders: „Ich vermute nun, daß nur Seedorf das Ergebnis der 'S webischen Land-
nahme' ist, Jastorf dagegen das heimische Element darstellt, in dessen nord-
deutsches Verbreitungsgebiet der skandinavische Zustrom sich e r g o ß . . . Tat-
sächlich läßt sich Jastorf einzig und allein an die jüngste Phase der Periode
VI der Bronzezeit (Tremsbüttel) typologisdi anschließen. Die Abhängigkeit
ist so groß, daß man Jastorf als nordische Bronzezeit in Eisen bezeichnen
könnte".
i«4 Wegewitz, Die Langobarden a. d. Niederelbe, in: H. Reinerth [Hrg.],
Vorgesdi. d. dt. Stämme 2 (1940) 749.
165 Vgl. O. Bremer, Ethnographie d. germ. Stämme (1899, 2 1904) 40. 52 f. 57.
Zur Forsdiungsgeschichte und zum Forschungsstand 179
Schüler Kossinnas tätig, der sich in dessen Sinne mit Fragen der germani-
schen Altertumskunde beschäftigte.
Keineswegs war es indes so, daß nun ein größerer Kreis von Gelehr-
ten in der vorgeschichtlichen Archäologie regelmäßig in gleichgerichteten
Bahnen dachte. Es gab Widersprüche unter den Schülern und Freunden
Kossinnas, und es kam auch gelegentlich Widerspruch gegen Kossinna selbst
auf. Schon Schwantes' „Suebische Landnahme" war im Grunde ein Wider-
spruch gegen Kossinnas Annahme einer Einwanderung der Gesichtsurnen-
kultur aus Skandinavien. Dieselbe angebliche Fundleere in Skandinavien,
die Kossinna die Einwanderung der Gesichtsurnenkultur fordern ließ, ließ
Schwantes die Einwanderung der Jastorfkultur und Kulturkontinuität im
Weichselgebiet annehmen. Kontinuität im Weichselland meinte schon
W. L a Baume im Jahre 1920 sehen zu können 1 ", und ihm schloß sich Kos-
sinnas Schüler E. Petersen an 167 . Es folgten noch andere Abweichungen von
Kossinna. Die konsequenteste war die seines Schülers J . Kostrzewski, der
noch in seiner Dissertation die Bewohner des östlichen Mitteleuropas für
Germanen gehalten hatte 1 ' 8 , aber dann — mit Ausnahme der Goten —
deren germanischen Charakter überhaupt zu leugnen begann 108 . Neu war
es auch, wenn D. Bohnsack für die Herkunft des großen spätlat^nezeit-
lichen Kulturgebiets Nordostdeutschlands und Polens theoretisch zwei
Möglichkeiten offen sah, „einmal die einer überseeischen Einwanderung"
— das hatte Kossinna Zeit seines Lebens gemeint —, „zweitens die einer
im wesentlichen bodenständigen bezw. festländischen Entwicklung" 170 . Die
Ableitung der gesamten nordostdeutschen Brandgrubengräberkultur aus
Bornholm, wie Kossinna es wollte 171 , lehnte Bohnsack ab, aber auch die
Verbindungen des Odermündungsgebiets mit der Insel beurteilte er zu-
rückhaltend 172 . Die Kultur des östlich anschließenden hinterpommersch-
weichselländischen Raums habe durchaus spürbare Beziehungen zu Schwe-
den, meinte Bohnsack; doch alles ermögliche keine sicheren Schlüsse. Er
schien vor der Unmöglichkeit, eine Einwanderung nachzuweisen, und der
Notwendigkeit, eine solche mit Kossinna postulieren zu müssen, zu kapi-
tulieren, denn er stellte resigniert fest: „Vorläufig wissen wir nur, daß
12*
180 Kossinna und der Skandinavientopos des 19. und 20. Jahrhunderts
sidi auch in dieser durchweg nicht die rechte Vorstellung von den geistes-
geschiditlichen Hintergründen der Epoche macht, auf die Kossinna
wirkte —, vielmehr hauptsächlich eine solche der Altgermanistik. Noch
heute liest man: „Wann das germanische Volkstum und seine Spradie
entstanden sind, läßt sich . . . nicht genau ermitteln. Gewisse Anhalts-
punkte weisen auf das Ende der Jungsteinzeit hin, also in das dritte vor-
christliche Jahrtausend. Die Wohnsitze der Germanen dürften zu dieser
Zeit rund um die westliche Ostsee, zwischen Oder und Elbe, in Jütland
und auf den dänischen Inseln und in Südskandinavien gelegen haben"17®.
„Schon tief in prähistorischer Zeit hatten die Germanen begonnen, sich
nadi Westen über die Weser und nach Süden gegen die mitteldeutschen
Gebirge auszubreiten. Im Frühlicht der Geschichte drangen sie dann in
heftigen Stößen gegen den Rhein und die Donau vor in Gegenden, die im
Westen und Südwesten von Kelten, im Südosten von Illyrern besiedelt
waren" 180 . Noch heute heißt es von den Goten, sie seien einst wohl von
Skandinavien südwärts abgewandert 181 . Es wird von „Weser-Rhein-Ger-
manen", „Elbgermanen" und „Oder-Weichsel-Germanen", also von Kom-
plexen, die ursprünglich der Begriffswelt der Archäologen angehörten, wie
von sprachlichen Begriffen gesprochen188. Es ändert nichts, wenn solche
Vorstellungen heute oft mit kühler, fast gleichgültiger Distanz vorgetragen
werden, und es bedeutet im Endeffekt nichts, wenn betont wird, man
müsse „den archäologischen Ergebnissen mit einer gewissen Zurückhaltung
gegenüberstehen"18®. Kossinnas Denken wirkt in der Germanistik bis in
die Gegenwart, und es sind keineswegs die Außenseiter des Faches, die
sich auf ihn berufen oder die — obwohl sie seinen Namen kaum noch ken-
nen — von seinem Gedankengut zehren184.
179
H. Eggers, Deutsche Sprachgesdi. 1 (1963) 27.
180
H. Eggers, a. a. O. 33.
181
H. Eggers, a. a. O. 27.
1M
H. Eggers, a. a. O. 31 f.
183
H. Moser, Deutsche Spradigesdiichte d. älteren Zeit, in: W. Stammler [Hrg.],
Deutsche Philologie im Aufriß 1 (21957) 670.
18« Yg[ Krause, Handbuch d. Gotischen (1953) 3: „Die älteste nachweisbare
Heimat der Goten war Skandinavien: Darauf deutet die einheimische Wan-
dersage, . . . Daß diese Sage wenigstens im Kern richtig ist, wird sowohl
durch die Sprachwissenschaft wie durch die Vorgesdiiditsforschung wahr-
scheinlich gemacht... In dem Zeitraum um den Beginn unserer Zeitrechnung
nämlich finden sich in dem von Goten besiedelten Gebiet der unteren Weichsel
Körperbestattungen neben Urnen- und Brandgrubengräbern ganz entspre-
chend dem Zustand in Südskandinavien, wo soeben die Skelettbestattung als
neue Form des Totenkults als Ersatz für die bisherige Urnenbestattung...
aufgekommen war." Es folgt die ganze nun schon so sattsam bekannte Ge-
schichte. Und alles stammt aus den frühen Schriften Kossinnas.
182 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
Machte man angesichts dieser Situation den Versuch, das, was die
Germanistik heute von der Herkunft der Germanen und von der Ent-
stehung und Entwicklung der germanischen Sprachen weiß bzw. zu wissen
meint und was sie von den Goten — ihrem Ursprung und der Genesis ihrer
Sprache — glaubt wissen zu können, für ein historisch-philologisch-archäo-
logisches Exempel nutzbar zu machen, so würde man sich in einem unent-
wirrbaren Komplex von Zirkelschlüssen völlig verirren. Wer möchte sich
dieser Gefahr aussetzen?
Was kann die Germanistik bzw. die germanische Altertumskunde zur
Frage eines Zusammenhanges von Goten und Skandinavien beitragen;
das ist die Frage, um die es hier eigentlich geht. Mit ihr gelangt man un-
versehens eine Strecke lang in die Geschichte der germanischen Philologie
hinein.
2. Die Vor- und Frühgeschichtsforschung und die Entwicklung
des Bildes von der Entstehung der germanischen Sprachen
Was sich dem Betrachter vordergründig als „Entstehung des Skandi-
navien-Topos" darstellt, hat mancherlei geistesgeschichtlich bedingte Hin-
tergründe. Das Denkmodell, über das die Vor- und Frühgeschichte mit den
frühen Arbeiten Kossinnas schon vor der Jahrhundertwende verfügte,
entstand auf der Grundlage eines neuromantisch gefärbten Geschichts-
bewußtseins als Antwort auf den in den Geschichts- und Sprachwissen-
schaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschenden Positivismus. Dies
orientierte sich offensichtlich nach dem Scandza-Topos, der im skandina-
vischen Norden durch das Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert am Leben
geblieben, und der mit dem beginnenden 19. Jahrhundert durch die ro-
mantische Bewegung neu belebt worden war (vgl. oben S. 165 f.).
Die Entwicklung, die sich in der Vor- und Frühgeschichte vollzog,
war offensichtlich Teil einer allgemeinen Auflehnung gegen den Positivis-
mus. Allenthalben kam damals das Gefühl auf, die exakten Methoden in
den Geisteswissenschaften hätten zwar Fortschritte hinsichtlich der Breite
des Wissens und der Zuverlässigkeit der Erkenntnisse erbracht, doch nichts
mehr, und das sei nicht genug. Es kam ein deutliches Unbehagen auf, ein
Fragen nach dem letzten Ziel der hemmungslosen Detailforschung, und
selbst dem Fachgelehrten kam angesichts des Forschungsbetriebes ein Ge-
fühl tödlicher Langeweile an. „Wir sind es endlich müde, in der bloßen
gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten
Triumph der Forschung zu erblicken", sagte W. Scherer schon im Jahre
18681. In knappen Strichen entwickelte er ein neues, in der Romantik
1 W. Sdierer, Zur Gesch. d. dt. Spradie (1868, »1878) XII. — Scherer wird zu
Unrecht oft unter die Positivisten gestellt. Vgl. Fr. Stroh, Handbuch d. germ.
Philologie (1952) 60 f.; H. Arens, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Ent-
Zur Forschungsgeschidite und zum Forschungsstand 183
wurzelndes Programm: „Was wir wollen, ist nichts absolut Neues; es ist
durch die Entwicklung unserer Historiographie seit Moser, Herder, Goethe
für jeden, der sehen will, unzweifelhaft angedeutet" 2 . „Warum sollte es
nicht eine Wissenschaft geben, welche den Sinn dieser Betrebungen,..., zu
ihrem eigentlichen Gegenstande wählte, welche zugleich ganz universell
und ganz momentan, ganz umfassend theoretisch und ganz praktisch, das
kühne Unternehmen wagte, ein System der nationalen Ethik aufzustellen,
welches alle Ideale der Gegenwart in sich beschlösse und, indem es sie
läuterte, indem es ihre Berechtigung und Möglichkeit untersuchte, uns ein
herzerhebendes Gemälde der Zukunft mit vielfältigem Tröste für manche
Unvollkommenheiten der Gegenwart und manchem lastenden Schaden
der Vergangenheit als untrüglichen Wegweiser des edelsten Wollens in die
Seele pflanzte"'. An Gedanken solcher Art schloß sich Kossinna offenbar
an. Insbesondere muß die nationale Wendung, wie sie in Scherers Wissen-
schaft — er war von Geburt Österreicher — sichtbar wurde, einen tiefen
Eindruck auf ihn gemacht haben. „Poesie, Publizistik, Wissenschaft ver-
einigen sich, um an der sicheren Ausgestaltung eines festen nationalen
Lebensplanes zu arbeiten . . . Niemand wird läugnen, daß im Gegensatze
zu den alten Hauptstoffen der Kunst und Forschung, dem Christenthum
und der Antike, seit etwa 100 Jahren das Deutsche, Einheimische, das
irdisdi Gegenwärtige und Praktische im stetigen Wachsthume zu immer
ausschließenderer Geltung hindurchgedrungen ist"3®. Hier wurzelt Kos-
sinnas Gedanke von der Vorgeschichte als einer hervorragend nationalen
Wissenschaft in einem Zeiträume und in Anschauungen, in denen sich übri-
gens die beiden großen Germanisten Müllenhoff und Scherer trotz allen
gegenseitigen Mißverstehens begegneten4.
6
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 290 Anm. 1.
7
G. Kossinna, a. a. O. 276.
8
F. Wrede, Die Entstehung d. nhd. Diphthonge, in: Zeitsdir. f. dt. Altertum u.
dt. Litteratur 39 (1895) 261: „Sprachgeschichte ist keineswegs in erster Linie
Naturgeschichte; Sprachgeschichte ist noch weniger in erster Linie Bildungs-
gesdiichte; Sprachgeschichte ist vielmehr zuerst Besiedlungsgeschichte."
» G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 277. — Diese Folgerung, „alles
andere ist sekundär", war neu in ihrer Ausschießlichkeit.
186 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
10
G. Kossinna, a. a. O. 279.
11
J. Grimm, Gesdi. d. dt. Sprache ( 3 1868) 4: „Es gibt ein lebendigeres Zeugnis
über die Völker als Knochen, Waffen und Gräber, und das sind ihre Spra-
chen." — Vgl. aber auch Anm. 13.
Zur Forschungsgeschidite und zum Forschungsstand 187
sei —, dort konnte man wissen, daß das Areal dieses Stammes mit dem
seiner Sprache gleichzusetzen war. Auf solche Weise konnte aus Stammes-
geschichte Sprachgeschichte erschlossen werden; ja, Stammesgeschichte war
Sprachgeschichte und umgekehrt 12 . Was Jacob Grimm und die Romantiker
noch feinsinnig empfunden hatten, was sie — und auch noch Scherer —
durch eine sorgsam gepflegte Sprache bedachtsam zum Ausdruck gebracht
hatten1®, das wurde bei Kossinna nun gewaltsam zu handlichen Begriffen
zureditgehauen, mit denen sich recht praktisch hantieren ließ. Die gerade
überwunden geglaubte Epoche wirkte hier deutlich nach.
So erwuchs bei Kossinna — wie bei anderen — aus Gedankengut der
Romantik — doch nicht daraus allein — eine Abwendung vom Positivis-
mus, der doch selbst der Gegenschlag der Einzelwissenschaften gegen den
Universalismus der Romantik gewesen war. Es war im Grunde eine
eigenartige Entwicklung: Der Positivismus wandte sich von der univer-
salen und spekulativen Haltung, von der romantisch-universalen Vision
der ersten Jahrhunderthälfte ab; er betonte die Bedeutung der Einzel -
wissensdiaften und verneinte jedes philosophisch-spekulative Element in
ihren Methoden, die sich nicht aus den Elementen einer allgemeinen Logik
ableiten lassen konnten. Nun griff eine neue Zeit alte Gedanken wieder
auf und verwandte sie gegen den Positivismus, verwarf diesen jedoch
nicht völlig, jedoch gerade dessen besonderen Wert, seine methodische
Exaktheit und die Gründlichkeit des Forschens, und stellte seiner Me-
thodenlehre ein neues System der Kombination und der Interpretation
entgegen, durch das vieles, was vorher vernachlässigt werden mußte, weil
es nicht systematisch in einen logischen Zusammenhang gebracht werden
konnte, sich scheinbar nun doch zu einer Ganzheit zusammenfügte. Die
" Vgl. bei W. Scherer, Zur Gesch. d. dt. Sprache ( 2 1878) X I V : „Ich vermag kei-
nen anderen Unterschied zwischen Vorhistorisch und Historisch zu erkennen
als die wesentlich andere Beschaffenheit der Quellen und die entsprechende
stärkere oder geringere Beteiligung des combinirenden, construirenden For-
schers an der historiographischen Arbeit."
15
J. Grimm, Gesch. d. dt. Sprache ( s 1868) 2 mit typischer Beschreibung vorge-
schichtlicher Befunde: „Wie das Messer in Leichname schneidet, um den
menschlichen Leib innerst zu ergründen, ist in verwitterte Erdhügel einge-
drungen und die lange Ruhe der Gräber gestört worden. Vom Schnee einge-
schneit, von Regen geschlagen, von Thau durchtrieben muste die todte Völva
dem mächtigen Gott Rede stehen; was in Staub und Asche übrig geblieben
war, fragt unermüdliche Neugier nadi dem Zustand der Zeit, aus welcher es
abzustammen scheint. Beschaffenheit der Gräber, Gestalt der morschen Schä-
del, Art und Weise des eingelegten Geräths sollen Antwort geben. Alle diese
Zeugen sind beinahe stumm, nur Inschrift und deutliche Münze haben noch
Kraft des Wortes, Samenkörnern, die unsere Geschichte befruchten, gleicht
das in unendlicher Menge durdi alle europäischen Felder und Hügel zer-
streute römische Geld."
188 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
23
Fr. Kauffmann, a. a. O. I X f.
24
Fr. Kauffmann, a. a. O. 26 ff. 209 ff.
25
Das Einbeziehen der Langobarden in den Kreis der aus Skandinavien stam-
menden Völker geht nicht unmittelbar auf Kossinna, sondern wohl auf L.
Schmidt zurück. — Vgl. L. Schmidt, Allgem. Gesch. d. germ. Völker b. z.
Mitte d. 6. Jh. (1909) 77 f.
2
« Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1 (1913) 296.
27
Fr. Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 2 (1923) 16 f. 58 f. 65 f.
Zur Forsdiungsgesdiichte und zum Forschungsstand 191
34
Fr. Maurer, a. a. O. 47.
35
Fr. Maurer, a. a. O. 44 f.
86
Fr. Maurer, a. a. O. 48.
37
Fr. Maurer, a. a. O. 49.
38
G. Kossinna, Indogerm. Forschungen 7 (1897) 279.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 193
39 Fr. Maurer, Sprachgesch. als Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dich-
tung 1 (1941) 49: „Es ist im wesentlichen der vorgeschichtlichen Archäologie
zu verdanken, daß heute ein klares Bild des Germanentums, der Einheitlich-
keit des germanischen Kulturkreises in der Bronzezeit vor uns steht. Von
dieser sicheren Grundlage aus kann heute jede Art germanischer und deutscher
geschiehtlidier Forschung ausgehen."
40 E. Sprockhof!, Zur Entstehung der Germanen, in: Germanen und Indo-
germanen. Festschrift f. Herman Hirt 1 (1936) 255—274.
41 Vgl. Fr. Maurer, Sprachgesch. als Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u.
Dichtung 1 (1941) 49 f.: „Besonders wichtig ist es, die Verbreitung der nor-
dischen Megalithkultur um das Jahr 2000 mit der Bronzezeit um 1200 zu
vergleichen, wie das E. Sprockhof! in der Festschrift f. Herman Hirt 1 getan
hat . . . Die Auseinandersetzung und die Vereinheitlichung der neuen Kultur
vollzog sich nur allmählich, die Verschmelzung beginnt um 2000, der Aus-
gleich ist um 1200 beendet. Dieser neue germanische Kulturkreis der Bronze-
zeit hat die Möglichkeit, sich voll im Innern auszugleichen, ohne daß noch
einmal eine Störung von außen her erfolgt. . . . Um 1200 ist die Volkwer-
dung der Germanen beendet."
42 Fr. Maurer, a . a . O . 50: „Bald darauf beginnt bereits eine kräftige Ausbrei-
tung der Germanen nach Osten, dann auch nach Westen und Süden. Auch
dieser Vorgang ist in der letzten Zeit mehrfach dargestellt worden, am ein-
drucksvollsten wieder von E. Sprockhof!."
43 W. La Baume, Vorgesdi. v. Westpreußen (1920) 53.
44 Fr. Maurer, Sprachgesch. u. Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dich-
tung 1 (1941) 50: „In der frühen Eisenzeit . . . dehnt sich die Ostgermanische
Kultur nach Süden . . . aus; die Archäologen sind heute in der Lage, uns die-
sen Vorgang aufzuweisen; ich folge der Darstellung von La Baume."
45 Es ist nur verständlich, daß Maurer La Baume folgte, weil Sprockhof! ent-
gegen Kossinna eine Expansion der Germanen über die Weichsel hinweg
nach Osten auf dem Landwege annahm. Schon früh hatte sich La Baume auf
denselben Standpunkt gestellt.
49 G. Schwantes, Die suebisdie Landnahme, in: Forschungen u. Fortschritte 9
(1933) 197 f.
47 Fr. Maurer, Sprachgesch. u. Volksgesdi., in: Von dt. Art i. Sprache u. Dich-
tung 1 (1941) 51: „Nach den Forschungen von Schwantes kommt es im Lauf
des 6. vorchristlichen Jahrhunderts, . . . , im unteren und mittleren Elbgebiet
zur Ansiedlung einer neuen Volkswelle, . . . Schwantes hat nachgewiesen, daß
dieser Siedlungsstoß aus dem Norden gekommen sein muß . . . Die mäditige
und angesehene Gruppe der Elbgermanen wäre danach also nach 600 aus dem
Norden ausgewandert." — Später hat Sdiwantes diese Ansicht zurückgenom-
men; vgl. S. 178 Anm. 162 u. 163.
48
Fr. Maurer, a. a. O. 51: „Zwischen 300 und 100 bildet sich, archäologisch ge-
sehen, das Nordgermanentum greifbar aus. Aus ihm lösen sich bereits um 100
Vandalen und Burgunder, um Christi Geburt die Goten."
49
Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen. Studien z. germ. u. frühdt. Spradi-
gesdi., Stammes- u. Volkskunde (1942, 2 1943, »1952).
50
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 99 f.; (»1952) 94 f.
51
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 26 f.; (»1952) 25.
52
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 100; (»1952) 95.
53
Fr. Maurer, a. a. O. (1942) 101; (»1952) 96.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 195
54 G. Kossinna, Indogerm. Forsdi. 7 (1897) 2 7 7 : „Der von Kögel für das Bur-
gundisdie versuchte Erweis streng ostgermanischen Charakters soll, wie mich
Much versichert, auf recht schwachen Füßen stehen". — Vgl. dazu R . Koegel,
Die Stellung d. Burgundischen innerhalb d. germ. Sprachen, in: Zeitschr. f. dt.
Altertum u. dt. Litteratur 37 (1893) 2 2 3 — 2 3 1 .
55 A. Riese, Die Sueben, in: Rheinisches Museum f. Philologie N . F. 44 (1889)
331—346. 4 8 8 ; dagegen: G. Kossinna, Die Sueben i. Zusammenhang d. älte-
sten dt. Völkerbewegungen, in: Westd. Zeitschr. 9 (1890) 1 9 9 — 2 1 6 ; dage-
gen: A. Riese, Die Sueben. Eine Entgegnung, in: Westd. Zeitschr. 9 (1890)
3 3 9 — 3 4 4 ; dagegen: G. Kossinna, Nochmals die Sueben, eine Antwort, in:
Westd. Zeitsdir. 10 (1891) 104—110.
56 Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (1942) 1 1 5 ; ( 3 1 9 5 2 ) 108.
57 W . L a Baume, Vorgesch. v. Westpreußen (1920) 50.
58 Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (1942) 115; ( 3 1952) 112.
13»
196 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
M
Vgl. G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung der Germanen i. vor- und früh-
gesch. Zeit 2 (1927) 297: „Finno-Indogermanen [Streitaxtkultur] und reine
Indogermanen [Megalithkultur] sind nunmehr eins geworden, ein kulturell
einiges Volk. . . . Das Ergebnis der Vereinigung von Indogermanen und
Finno-Indogermanen und der Verschmelzung ihrer beiderseitigen Kulturen
zu einer Einheit kann aber . . . kein anderes gewesen sein, als der Ursprung
der Germanen, der also rund um 2000 v. Chr. anzusetzen ist." — Ferner G.
Kossinna, Die Herkunft d. Germanen. Zur Methode d. Siedlungsarchäologie
(1911) 28 f.: „Allein selbst dieser Zeitpunkt, das Ende der Steinzeit, wäre
kaum schon derjenige, in dem ich die Zeit des Ursprungs der Germanen . . .
sehen könnte. Eine ungestörte Kontinuität der Kulturentwicklung in Skandi-
navien wie in Norddeutschland reicht rückwärts vom Ausgang der Steinzeit
. . . bis zu den Anfängen des Megalithgräberbaues . . . und von hier weiter zu
einer Kulturstufe, schon ohne Gräber, die zeitlich wie kulturell einen Über-
gang bildet . . . zu der älterneolithischen Epoche, . . . In diesem ganzen jün-
gerneolithischen Zeitraum einschließlich der genannten Obergangsstufe ist die
nordische Kultur, . . . , bereits über so weite Gebiete . . . ausgebreitet, daß wir
unzweifelhaft schon Gliederungen in Gruppen und Stämme vor uns haben
. . . Hier haben wir also schon das volle Recht, von Germanen in Skandina-
vien zu r e d e n , . . . "
** E. Sprockhoff, Zur Entstehung d. Germanen, in: Germanen u. Indogermanen.
Festschrift f. Hermann Hirt 1 (1936) 255—274 bes. 267 f.
64
Es kommt hier nicht darauf an, die Schwäche dieser Argumentation zu
charakterisieren, sondern Kossinnas Denken aufzuspüren.
198 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
östliches, das ich das illyrische nenne; und 3. als südwärts gerichteter
Keil mitten zwischen beiden, von der Ems im Westen bis zur Oder und
später bis zur Weichsel im Osten und nordwärts über Skandinavien sich
fortsetzend: das germanische Gebiet. . . . in der frühen Eisenzeit . . . : da
erobern die Germanen das Ulyriergebiet Ostdeutschlands und ganz
Polens, ebenso das keltische Nordwestdeutschland bis nach Belgien hinein,
schließlich das Mittelrheingebiet"' 0 .
Maurer nahm also das von Kossinna — im Prinzip schon 1895 —
entworfene Bild von der Genesis und frühen Verbreitung der Germanen,
das Kossinna selbst niemals im vollen Umfang quellenmäßig belegt hatte
und das Gelehrte, die ihm wissenschaftlich nahestanden, — von der
Richtigkeit der Thesen Kossinnas überzeugt — eher illustriert als wissen-
schaftlich untermauert hatten, und setzte die auf solche Weise nachge-
wiesenen bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Gruppen frühen ger-
manischen Sprachgruppen gleich. Er sah sich dazu berechtigt, weil „die
früheren ethnischen Gruppen sich auch als Sprachgemeinschaften jener
Zeit ausgewirkt haben müssen"70. Das aber ist nichts anderes als die
„Übersetzung" eines der methodologischen Grundsätze Kossinnas, die
Maurer übrigens gut kannte 71 und deren Verläßlichkeit er mit Hilfe
einiger Kritiker Kossinnas zu ermitteln suchte, wobei er ausführlicher auf
E. Wahle einging72. Er kam zum Ergebnis: „Was nun noch die drei
Beispiele betrifft, von denen Wahles Kritik den Ausgang nimmt, so kann
abschließend aus diesen Einzelfällen gefolgert werden, daß sie unsere
Grundlage nicht zu zerstören vermögen . . . Mir scheint geklärt zu sein,
daß Kossinnas Satz 1 [„Kulturgebiete sind Völkerstämme", oder: „Scharf
umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit
ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen" 73 ] in dieser Ausschließ-
lichkeit nicht haltbar ist; mir scheint aber ebenso eindeutig das Folgende
zu sein: Die prähistorischen Kulturprovinzen lassen sich als Gemein-
schaften der sie tragenden Menschen und Gruppen fassen, wenn man
nicht blindlings jede Gemeinsamkeit gleich wertet, sondern auf Dauer,
Art und Zahl der archäologischen Belege und Erscheinungen achtet,.. ."74.
Hatte nicht aber vielleicht Kossinna doch gerade d a s gemeint, wenn
" G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung d. Germanen in vor- u. frühgesch.
Zeit 1 (1926) 5 f.
70
Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen ( s 1952) 31.
71
Fr. Maurer, a. a. O. 95.
72
Fr. Maurer, a . a . O . 99 ff.; E.Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschicht-
licher Kulturprovinzen. Grenzen d. frühgesch. Erkenntnis. 1. Sitzungsber. d.
Heidelberger Akademie d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. Jg. 1940/41, 2. Abh. (1941,
2
1952).
n
Fr. Maurer, a . a . O . 95; G. Kossinna, Herkunft d. Germanen (1911) 3. 17.
74
Fr. Maurer, a. a. O. 102 f.
200 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
7S
Vgl. R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack, H.Kuhn, Völker zw.
Germanen u. Kelten (1962) 16—28.
™ Vgl. H. Zeiss, Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde, in: Ger-
mania 14 (1930) 11—24.
77
Vgl. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen (31952) 115; W. Wegewitz,
Die langobardische Kultur im Gau Moswidi (1937) 150; G.Körner, Die süd-
elbischen Langobarden zur Völkerwanderungszeit (1938) 7 f.
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 201
78
Vgl. J. Werner, Besprechung von Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen
(1942), in: Deutsche Literaturzeitung 64 (1943) Sp. 253—263, bes. Sp. 258.
78
C.-A. Althin, Besprechung v. Fr. Maurer, Nordgermanen u. Alemannen, in:
Niederdeutsche Mitteilungen 2 (1946) 163—172, bes. 164. — Vgl. dazu: Fr.
Maurer, Entgegnung auf Althins Rezension Niederdeutsche Mitteilungen 2,
163 ff., in: Niederdeutsche Mitteilungen 4 (1948) 82—85 (mit unsadilidier
Polemik); C.-A. Althin, Schlußbemerkung, in: Niederdeutsche Mitteilungen
4 (1948) 85—86 mit dem treffenden Satz: „Man vergleiche z. B. die ganz
versdiiedenartigen Ergebnisse — in beiden Fällen politisch bedingt — zu
denen polnische und deutsche Siedlungsarchäologie gekommen sind." — Vgl.
ferner: Ed. Neumann, Besprechung von: Fr. Maurer, Nordgermanen u. Ale-
mannen ( 8 1952), in: Zeitschr. f. Mundartforschung 22 (1954) 116—117.
80
C.-A. Althin, Niederdeutsche Mitteilungen 2 (1946) 168 ff.
81
C.-A. Althin, a . a . O . 170.
82
C.-A. Althin, a. a. O. 171.
202 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
die Goten an den Anfang seiner Betrachtungen, stellte gleich fest: sie
„haben nach ihrer Abwanderung eine eigene Sprache entwickelt und seit
ihrer Landnahme in Südrußland eine Sprachinsel gebildet... Das Gotische
darf als Sprachinsel nicht auf das Urgermanische, sondern muß auf die
Ausgangslandschaft zurückbezogen werden" 94 . Er versuchte, „das zur Ab-
wanderungszeit im ersten Jahrhundert vor Chr. gesprochene Gotonor-
dische zu gewinnen, das in der gotischen Urheimat in Südschweden ge-
sprochen worden" sei9*. Schwarz versuchte weiter, „aufbauend auf den
Ergebnissen der modernen Mundartgeographie, die sprachlichen Tat-
sachen im Zusammenhang mit den geschichtlichen und vorgeschichtlichen
zu sehen, um eine möglichst breite und sichere Grundlage zu schaffen"9'.
Er begann seine Untersuchungen dann mit einer Erörterung der Urheimat
der Goten nach archäologischen und historischen Quellen97, und schloß
sich Oxenstiernas Auffassung von der Herkunft der Goten aus Väster-
götland an (vgl. unten S. 229 ff.), wobei er „erschwerende Umstände"
nicht ganz übersah und die Einbeziehung östergötlands als Gotenheimat
in Betracht zog98. Danach wandte er sidi den philologischen Problemen
mit den Worten zu: „Die sprachlichen Darlegungen werden im Folgenden
die archäologischen Kenntnisse in Rechnung setzen, sich im übrigen aber
bemühen, mit ihren Mitteln einer Lösung näher zu bringen, so daß es
schließlich möglich sein wird, sie mit den Aussagen der Geschichte und
Vorgeschichte zu verbinden" 99 . Diese vor- und frühgeschichtlichen Prämis-
sen einer sprachwissenschaftlichen Arbeit dürften den Wert von deren
Ergebnissen charakterisieren.
Die Benutzung ungeprüfter Auffassungen v o n V o r - und Frühge-
schichtsforschern älterer Generation f ü r sprachliche und insbesondere
altertums- und stammeskundliche Probleme bezeugt übrigens die Arbeit
Schwarz' über germanische Stammeskunde deutlich 100 . Schwarz Schil-
der skandinavisdi-götländischen Heimat der Goten in stärkerem Maße als
gegeben vorausgesetzt, als es für spradihistorische Untersuchung wünschens-
wert ist." Vgl. ferner die folgenden, teils überaus kritischen Rezensionen:
H. Kuhn, in: Anzeiger f. dt. Altertum 66 (1952—53) 45—62; E. A. Philipp-
son, in: Journal of English and Germanic Philology 52 (1953) 242—249;
L. Wolff, in: Arkiv f. nordisk filologi 68 (1953) 188—196; Ed. Neumann,
in: Zeitsdir. f. Mundartforschung 22 (1954) 118—121; W. Betz, in: Zeitschr.
f. Dt. Philologie 74 (1955) 309—313.
94 E. Schwarz, a. a. O. 5.
85 E. Schwarz, a. a. O. 5.
98 E. Schwarz, a. a. O. 5 f.
97 E. Sdiwarz, a. a. O. 13 ff.
98 E. Sdiwarz, a . a . O . 18.
99 E. Sdiwarz, a. a. O. 18 f.
100 E. Schwarz, Germanische Stammeskunde (1956). Vgl. dazu die Besprechung
1,6 H. Kuhn, a. a. O. 9 f.
117 H. Moser, Deutsche Sprachgeschichte d. älteren Zeit, in: W . Stammler [Hrg.],
Deutsche Philologie im A u f r i ß 1 ( 2 1957) 633; ebenso ders., Deutsche Sprach-
gesch. (1950, 2 1954, »1957, "1964, =1965) 86.
118 H. Moser, a. a. O. 814 Karte 1 u. 2 ; ebenso ders., Dt. Sprachgesch. (=1965)
86 f. 220 Karte 1 — 2 (ebenfalls v. Frings übernommen).
208 Das Bild von der Entstehung der germanischen Sprachen
Sidier ist im Fall der Goten, daß ein Kern historischer Tradition
vorhanden war. Sidier hängen die Gothi des Ablabius auf irgendeine
Weise mit den Gotones des Tacitus zusammen. Der von Wenskus geprägte
Begriff des Traditionskerns133 bewährt sich. Die Gothi in Südfrankreich
fühlten sich als Nachkommen jener, die ehedem an der Weichsel gesiedelt
hatten, und sie waren der Meinung, sie seien aus dem fernen Norden
übers Meer eingewandert. Aber welches war die Sprache d i e s e r Goten?
Kann man diese einfach mit der der Goten des Ulfilas gleichsetzen? Von
der Sprache der Ostgoten in Italien weiß man fast nichts. Wie sich die
Sprache der Ostgoten von der der Westgoten unterschied, ist nicht be-
kannt. Nur daß die Sprache des Ulfilas auch unter nichtgotischen Arianern
zur Verlesung der Heiligen Bücher benutzt wurde, ist bekannt. Groß
kann der Abstand der verschiedenen germanischen Dialekte also wohl
nicht gewesen sein. Was kann unter solchen Bedingungen aber aus der
Sprache des Ulfilas zur Herkunft der Goten entnommen werden? Was
kann die gotische Tradition über die Genesis dieser Sprache aussagen?
Könnte ein Germanist auf diese Fragen, soweit sie Sprachliches be-
treffen, antworten, ohne vorher den Archäologen gefragt zu haben, dann
wäre die Antwort für den Archäologen gewiß nicht uninteressant. Der
Blick auf die Forschungsgeschichte hat deutlich genug gezeigt, daß eine
solche, ganz von den vorgeschichtlichen Quellen unabhängige Antwort
augenblicklich nicht möglich ist. Es gibt zur Zeit keinen Ausweg aus dieser
Situation; allenfalls bleibt einige Hoffnung für die Zukunft. Was sagen
archäologische Quellen in sprachlicher Hinsicht? Was ergeben linguistische
Quellen für den Historiker und den Archäologen?
In Abwandlung eines Wortes von H. Paul darf man wohl behaupten,
daß bisher die gängigen Methoden der philologisch-archäologischen Zu-
sammenarbeit „mehr durch Instinkt gefunden sind als durch eine auf das
innerste Wesen der Dinge eingehende allseitige Reflexion"134. „Die natür-
liche Folge davon ist, daß eine Menge Willkürlichkeiten mit unterliefen,
woraus ein endloser Streit der Meinungen und Schulen entsteht"; auch
das sagte Paul. Er hat dabei gewiß nicht an Kossinna gedacht. Leute von
seinem Schlage mag er im Sinn gehabt haben.
Dennoch sollte die Devise nicht heißen: Zurück zum Positivismus!
Wohl aber scheint es sicher zu sein, daß man auch heute noch — oder
heute wieder — einiges von ihm lernen kann.
14"
212 Spuren der Gedankengänge Kossinnas
Wietersheim', der von Hause aus Jurist war, und Felix Dahn 7 — weiten
Kreisen als Schriftsteller historischer Romane bekannt, v o n Hause aus
ebenfalls Jurist und als akademischer Lehrer nicht ohne Bedeutung. Fach-
gelehrte beschränkten sich im allgemeinen auf Detailuntersuchungen.
Der erste umfassende Versuch kritischer Geschichtsschreibung ist
zweifelsohne der Ludwig Schmidts 8 , der wie kein anderer vor ihm die
antiken Quellen zur frühgermanischen Gesdiichte in ihrer Gesamtheit
überblickte. Er fühlte sich allerdings zu einem wesentlichen Teil auch auf
Ergebnisse der germanischen Altertumskunde angewiesen.
Es ist hier nicht der Ort, seine historiographische Leistung zu wür-
digen, obwohl das bislang noch niciit in vollem Umfange geschah*, viel-
mehr ist es nötig zu erfahren, wieweit die von Kossinna begründete For-
schungsrichtung der germanischen Altertumskunde in Methoden und For-
schungsergebnissen audi auf ihn Einfluß hatte. In seinen ersten Schriften
sind Einwirkungen der Lehrmeinungen Kossinnas kaum zu erkennen 10 .
Im Jahre 1904 kannte er zwar Kossinnas Aufsatz zur Ethnologie der Ost-
germanen, lehnte die Gleichung Gothiscandza-*Codaniska, für die sich
Kossinna ausgesprochen hatte, ab und nahm Einwanderung der Goten
aus Skandinavien an, nicht weil dieser dafür eingetreten war, sondern
weil er an einen historischen Kern der Wandersage glaubte 11 . Im Jahre
12
L. Schmidt, Allgem. Gesdi. d. germ. Völker b. z. Mitte d. sechsten Jahrhun-
derts (1909) 15 Anm. 8.18 f. 49. 168.
13
L. Schmidt, a. a. O. 15 f.
14
L. Sdimidt, a. a. O. 22 f. Der Petit-Satz am inhaltlichen Widerspruch zum
Vorhergehenden als nachträgliche Einfügung erkennbar.
15
L. Sdimidt, a . a . O . 24: Goten, Rugier, Burgunden, Wandalen und Warnen
werden als ursprüngliche Skandinavier genannt.
16
L. Schmidt, a. a. O. 77. Die Herkunftssage und rechtsgeschichtliche Erwägun-
gen leiten ihn zu dieser Annahme. Kossinna ist unbeteiligt.
17
L. Schmidt, a. a. O. 77.
18
L. Schmidt, Zur Vor- und Frühgeschichte Sachsens, in: Neues Archiv f.
Sächsische Gesch. u. Altertumskunde 40 (1919) 114—122.
19
L. Sdimidt, Gesch. d. Germ. Frühzeit (1925, 21934).
Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand 215
die zweite Auflage der Geschichte der deutschen Stämme20 und die zweite
Auflage der Geschidite der Wandalen 21 . Dabei wurden nicht allein Kos-
sinnas Schriften, sondern auch solche seiner Schüler und die seiner wissen-
schaftlichen Freunde wirksam, und es entstand ein fast total auf Skandi-
navien bezogenes „System" germanischer Geschichte.
Die vollständige Abhängigkeit dieses Bildes von Kossinnas „groß-
zügigem'' Entwurf zeigen einzelne Abschnitte der Geschichte der deutschen
Stämme besonders deutlich. Es ist um der Klarheit willen nützlich, die
diversen Spuren des Skandinavien-Topos in einem besonders kennzeich-
nenden Abschnitt dieses Buches zu verfolgen. „Wir werden nach den Er-
gebnissen der archäologischen Forschung nicht daran zweifeln, daß die Ger-
manen aus den Trägern der nordischen Kultur [der Bronzezeit] hervor-
gegangen, daß Südskandinavien, Dänemark, Schleswig-Holstein, Nord-
deutschland zwischen unterer Weser (?) und Oder die Gebiete gewesen
sind, in denen sich zur ältesten Bronzezeit die Bildung einer gesonderten
germanischen Nation vollzog" 22 . Schmidt fuhr fort: „Mit der weiteren
Ausbreitung über diese Grenzen hinaus seit der mittleren Bronzezeit darf
man die Anfänge einer Stammesgliederung in Zusammenhang bringen . . .
Die nächsten großen Sonderbildungen fanden statt zu Beginn der Eisen-
zeit, indem die Ostgermanen sich a b t r e n n t e n , . . . Die Entstehung der Ost-
germanen wurde eingeleitet durch das schon in der jüngsten Bronzezeit
begonnene Vorrücken der Altgermanen über ihre ursprüngliche Ostgrenze,
die Oder. Es bildete sich unter diesen, . . . , eine eigenartige Kultur heraus,
. . . [Diese] Gesichtsurnenkultur hat sich allmählich besonders nach Süden
und Südosten ausgebreitet; . . . Sie erlischt im Norden um 500 v. Chr.,
im Süden um 300 v. Chr.; an ihre Stelle treten Urnengräber . . . Dieser
Kulturwechsel wird wohl mit Recht mit einem Bevölkerungswechsel in
Verbindung gebracht" 23 . Schmidt sagte weiter: „Zu Beginn der Eisenzeit
erfolgte die erste Übersiedlung skandinavischer Germanen nach dem Fest-
20
L. Schmidt, Gesch. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung 1. Die
Ostgermanen ( 2 1934); vgl. audi L. Schmidt, Das germ. Volkstum i. d. Reichen
d. Völkerwanderung, in: Hist. Vierteljahrsschrift 29 (1935) 417—440.
21
L. Schmidt, Gesch. d. Wandalen ( 2 1942) 1 ff. mit zahlreichen Zitaten vorgesch.
Literatur.
22
L. Schmidt, Gesch. d. dt. Stämme b. z. Ausgang d. Völkerwanderung 1 ( 2 1934)
80—81 Anm. 1, w o er als Gewährsmänner B. Nerman, K. H. Jacob-Friesen
und den Kossinna-Schüler E. Wahle nennt. Jacob-Friesen u. Wahle traten be-
kanntlich als besonders energische Kritiker Kossinnas hervor. Das hinderte
nicht, daß sie ihr Bild von der Entstehung der Germanen zur ältesten Bronze-
zeit von Kossinna übernahmen.
23
L. Schmidt, a. a. O. 81—82 Anm. 3, w o M. Jahn u. E. Petersen, K. Tacken-
berg u. B. von Richthofen als Gewährsmänner aufgeführt sind.
216 Spuren der Gedankengänge Kossinnas
27
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961); vgl. dazu die Besprechun-
gen: R. v. Uslar, Stämme und Fundgruppen. Bemerkung zu „Stammesbildung
u. Verfassung" von R. Wenskus, in: Germania 43 (1965) 138—148; R. Hadi-
mann, in: Hist. Zeitschr. 198 (1964) 663—674.
28
R. Wenskus, a . a . O . 113 ff.
29
R. Wenskus, a. a. O. 209 f.
30
R. Wenskus, a . a . O . 467.
218 Spuren der Gedankengänge Kossinnas
Archäologie zur Zeit nicht berufen kann"87. Man kann ihm darin nur
zustimmen, wenngleich es für den Archäologen nicht schwer sein kann,
sidi — um bei Wagners Beispiel zu bleiben — gegen Oxenstierna zu
entscheiden. Vom Germanisten müßte man Einblick in die Methoden der
Ardiäologie fordern; dann wäre auch für ihn die Entscheidung leicht'8.
Da die Ardiäologie ausfalle, folgerte Wagner: „Zur Entscheidung dieser
Frage [der Herkunft der Goten] scheinen die beiden anderen Disziplinen,
die Spradiwissenschaft und die Geschichtsforschung, im Augenblick eher
berufen zu sein"®*. Klar erkennt er auch die fatale Situation der Sprach-
wissenschaft: „Sie interpretierte ihr Material unter dem Einfluß des
Auswandererberichts der Getica (25 f.; 94 f.), welcher angibt, die Goten
seien einst unter König Berig von Scandza (Skandinavien) gekommen,
der Ähnlichkeit zwischen skandinavischen Landschaftsnamen und den
Namen der Goten und der Anschauung einiger Archäologen, die letzten
Endes auf den nämlichen beiden, der Geschichtswissenschaft abgeborgten
Gegebenheiten, beruhen. Man hielt sich das offensichtlich nicht eindringlich
genug vor Augen, sonst wäre man schließlich nicht bis zu der Behauptung
gelangt, die Sprachwissenschaft sei von sich aus zum Ansatz einer skandi-
navischen Urheimat der Goten imstande, . . ." 40 . Folgerichtig weist er
„die Entscheidung in der Frage der gotischen Urheimat in Skandinavien
. . . der Geschichtswissenschaft zu"41. Bei der forschungsgeschichtlichen
Untersuchung des geschichtswissenschaftlichen Befundes kommt er aber
zu dem Ergebnis, der Auswanderungsbericht der Getica sei mündliche
gotische Tradition und folgert: „In Anbetracht dessen, daß die Glaub-
würdigkeit dieser Art Quellen sehr verschieden beurteilt wird, scheint mit
diesem Nachweis nicht viel gewonnen zu sein. Wenn eine skandinavische
Urheimat der Goten von der Geschichtswissenschaft nur durch dieses
Zeugnis gestützt werden kann, dann ist sie dazu verurteilt, nach Belieben
angezweifelt werden zu können"42.
Solange keine Anstrengungen gemacht worden sind, die Getica
quellenkritisch zu durchleuchten, muß die Lage in der Tat so beurteilt
werden. Tatsächlich ist Wagner in dieser Hinsicht weit hinter Mommsen
zurückgeblieben. Uber den Anteil des Jordanes an seinen Getica hat er
nur einen Forschungsbericht geliefert43. Von Ablabius meint er, er habe
37 N.Wagner, a.a.O. 119.
88 Auch Wagner bemerkte die Schwächen der Argumente Oxenstiernas für die
Urheimat der Goten in Västergötland; vgl. N . Wagner, a . a . O . 111 f. bes.
112.
39 N.Wagner, a . a . O . 119.
40 N.Wagner, a . a . O . 138 f.
41 N. Wagner, a. a. O. 139.
42 N . Wagner, a. a. O. 155.
48 N. Wagner, a. a. O. 57 ff.
220 Spuren der Gedankengänge Kossinnas
ein Werk verfaßt, das die Goten zumindest erwähnt habe44. So bleibt
die Frage, was Ablabius, Cassiodor oder Jordanes zuzuschreiben sei, ganz
ungeklärt, ja wird im Grunde gar nicht richtig berührt. In dieser Situation
greift er zu den Völkernamen als der scheinbar einzig brauchbaren
Quelle45. „Mit der . . . feststehenden Dreiheit von Gautgoten, Ostgoten
und Greotingen sind die auf dem Festland vergesellschaftet erscheinenden
Namen der Goten, Ostgoten und Greutingen auch für Skandinavien in
derselben engen Verbindung belegt. Demnach saßen Abteilungen des
gleichen Volkes beiderseits der Ostsee"4*. Wagner erkennt, daß die anti-
ken Quellen den Eindruck erwecken könnten, die Germanenzüge seien
fast ausschließlich vom Norden nach dem Süden gegangen. Im Falle der
Goten sei die Situation jedoch klarer als bei anderen germanischen Stäm-
men. Der in den Getica erhaltene Auswanderungbericht bezeuge, daß die
Goten von Skandinavien ausgefahren seien47. Obwohl in der Forschung
die Ansichten über die Glaubwürdigkeit der Wandersage auseinander
gingen, erscheine sie vor dem Hintergrund der Namen gotischer Stämme
auf Scandza als durchaus glaubhaft. „Skandinavien ist also die Urheimat
der Goten"49.
Ganz gleich, ob dies Ergebnis richtig oder falsch ist, Wagners Arbeit
ist methodisch gesehen zum großen Teil ein sehr wesentlicher Schritt nach
vorn. Wo liegt sein Fehler? Seine Arbeit ist weite Strecken lang ein
Referat der Meinungen anderer und seine Auffassung ergibt sich oft
letztlich aus diesen Meinungen, deren methodologische Grundvoraus-
setzungen er nicht immer sieht. Das ist e i n Fehler; der andere: Er hätte
nicht nur referierend, sondern vor allen Dingen quellenkritisch vorgehen
sollen — notfalls ohne Rücksicht auf die Meinungen der anderen.
44
N. Wagner, a. a. O. 62.
45
N. Wagner, a. a. O. 155.
46
N. Wagner, a. a. o. 212.
47
N. Wagner, a. a. o. 213.
48
N. Wagner, a. a. o. 214.
IV. Probleme der archäologischen Quellen
„Bei der Analyse der Kossinna'schen Beispiele aus
geschichtlicher und frühgesdiiditlidier Zeit — die angeblich
alle gesichert waren und die Gleichsetzung von Kultur und
Volk auch in vorgeschichtlicher Zeit beweisen sollten —
fiel eines auf: Kein Beispiel war ganz falsch, keines ganz
richtig. Teilweise stimmte seine These, teilweise stimmte
sie nicht. Kossinnas Anhänger beriefen sich auf die Fälle,
die stimmten, und hielten seine These dementsprechend
für bewiesen. Kossinnas Gegner beriefen sich auf die Fälle,
die nicht stimmten, und verwarfen seine Thesen. Wenn wir
aber methodisch weiterkommen wollen, dann dürfen wir
uns mit dieser einfachen Feststellung nicht begnügen, dann
müssen wir fragen: Warum stimmt Kossinnas Leitsatz in
manchen Fällen? Warum stimmt er in anderen Fällen nicht?
Wo liegt die Wahrheit?"
Hans Jürgen Eggers, 1959.
5
G. Kossinna, a . a . O . 392 ff.
9
G. Kossinna, a. a. O. 391 f.
7
E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912)
154; ders., Mannus 4 (1912) 138 f.
8
E.Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912)
157.
9
E.Blume, a . a . O . 155.
10
E. Blume, a a. O. 154 f.
224 Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
mündungsgebiet mußte Gothiscandza sein. Die von den Goten nach den
Ulmerugiern besiegten Wandalen fand Blume im südwestlichen Ost-
preußen11. Gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts glaubte
er eine gotische Kolonisation in Ostpreußen, insbesondere im Samland,
feststellen zu können12, und im zweiten Jahrhundert vollzog sich des-
wegen seiner Ansicht nach eine deutliche kulturelle Aufspaltung. Da
Jordanes die Gepiden auf einer von Untiefen der Weichsel umgebenen
Insel siedeln ließ (Jordanes Getica X V I I 96), mußte es nach Blume
dieser Stamm gewesen sein, der damals das Weichselmündungsgebiet be-
saß, während die Goten selbst nunmehr in Ostpreußen siedelten13. Die
nach Jordanes von den Gepiden besiegten Burgunden (Jordanes Getica
X V I I 97) sah Blume in der Brandgräberkultur an der Weichsel von
Graudenz an südwärts14.
Im Jahre 1913 nahm O. Almgren zu Blumes ethnischer Gliederung
Stellung. Er meinte, die Verhältnisse seien wohl in mancher Hinsicht ver-
wickelter gewesen, als Blume sie dargestellt habe, doch machten dessen
„besonnene Ausführungen den Eindruck, die nächstliegenden und ver-
nünftigsten Sdilüsse zu bringen"15. Größte Schwierigkeiten mache ledig-
lich die von Kossinna entlehnte Annahme einer Übersiedlung der Goten
aus G o 11 a n d. Körpergräber setzten in Gotland und im übrigen Schwe-
den nicht früher als in Westpreußen ein und dazu komme, daß um Christi
Geburt auf Gotland keine Abnahme der Bevölkerung feststellbar sei;
im Gegenteil, die ältere Kaiserzeit sei auf der Insel besonders fundreich.
Vier Jahre später kam Almgren nochmals auf dasselbe Problem zurück,
betonte abermals die Unmöglichkeit einer Auswanderung aus Gotland
um Christi Geburt und sah keinen anderen Ausweg als den, die „Weich-
selgoten der Hauptsache nach . . . aus dem benachbarten südschwedischen
Festlande, Götaland, herzuleiten"16. Dort seien die Verhältnisse so lücken-
haft bekannt, daß bis auf weiteres noch Platz für allerhand Annahmen sei.
Im übrigen stellte Almgren bei einer Kartierung des ost- und westpreußi-
schen Fundstoffs fest, daß sich entgegen Blumes Angaben in Ostpreußen
kaum Körpergräber fänden. Er unterließ es allerdings auszusprechen, was
11 E. Blume, a. a. O. 156.
12 E. Blume, a. a. O. 161 f. 173.
15 E.Blume, a . a . O . 168.
14 E. Blume, a. a. O. 167 ff.
15. O. Almgren, Rezension von E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw.
Oder u. Passarge 1 (1912), in: Mannus 5 (1913) 147—151, bes. 150.
18 O. Almgren, Rezension von E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw.
17
O. Almgren, a. a. O. 289. — G. Kossinna, Ursprung u. Verbreitung d. Ger-
manen in vor- und frühgesch. Zeit (1926) 8 und (21928, »1936) 5 hielt an der
Gliederung Blumes fest.
18
G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi. (21914, 3 1921) 145 f. — Polemik gegen Alm-
gren, a. a. O. 145 Anm. 1.
19
G. Kossinna, Das Weichselland ein uralter Heimatboden d. Germanen (1919)
19 f.
80
G. Kossinna, Die dt. Vorgesdi. (41925) 145 Anm. 1, ebenso («1934) 145
Anm. 1. Die alte Anm. der 2. u. 3. Auflage, die gegen Almgren polemisierte,
ist nun durdi eine Anm. ausgewechselt, die Almgren bestätigt. Kossinnas Text
an dieser Stelle sonst fast unverändert.
21
G. Kossinna, Ursprung und Verbreitung d. Germanen in vor- und frühgesch.
Zeit (1926) 8 und (21928, »1936) 5.
22
B. Nerman, Goternas äldsta hem, in: Fornvännen 18 (1923) 165—182, bes.
179. — In deutscher Ubersetzung als Kap. IV in: B. Nerman, Die Herkunft
u. d. frühesten Auswanderungen d. Germanen (1924) 43—58. — Vgl. auch:
O. Almgren u. B. Nerman, Die ältere Eisenzeit Gotlands (1914—1923) 140 f.
2
» B.Nerman, a . a . O . 180.
24
B.Nerman, a . a . O . 181.
25
R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden im unteren Weidisel-
raum auf Grund d. Tongefäße (1940) 4.
28
R. Schindler, a. a. O. 97 ff., bes. 103.
27
W. La Baume, Die Goten in Ostdeutschland, in: Ostdeutsche Monatshefte
1920, 244; ders., Urgesdi. d. Ostgermanen (1934) 88 Anm. 1; ders., Ostgerm.
Frühzeit (1959) 12 unverändert; H . J. Eggers, Das Gräberfeld von Langen-
hagen, Kr. Saatzig, in: Pommersdie Monatsblätter 50 (1936) 135 ff.
Probleme der archäologischen Quellen 227
15»
228 Der Beitrag der Ardiäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
S2
R. Schindler, Die Besiedlungsgesdi. d. Goten u. Gepiden (1940) 110. Gemeint
scheinen angebliche Kämpfe Caracallas gegen Goten zu sein, von denen Script.
Hist. Aug. XIII. Aelii Spartiani Vita Antonini Carac. 10,5 f. berichtet. Zu
deren Glaubwürdigkeit vgl. aber: W. Reusch, Der historische Wert der Cara-
calla-vita (1931) 35.
35
R.Schindler, a . a . O . 116.
84
G. Müller-Kuales, Die Goten, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt.
Stämme 3 (1940) 1149.
Probleme der archäologischen Quellen 229
37
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 11 ff., bes. 132.
38
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. O. 147.
39
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. 0.148.
232 Der Beitrag der Archäologie zur Erforsdiung der Herkunft der Goten
Schweden in der Zeit unmittelbar vor Christi Geburt keine große Rolle
spielte; sie fehlt indes nicht vollkommen 40 . Die wenigen verstreuten Grä-
ber, die bislang nachweisbar sind, stehen — darin ist Oxenstierna aber zu-
zustimmen — in keinem sichtbaren Zusammenhang zu den Körpergräbern
des Weichselraums. Zustimmen muß man Oxenstierna auch darin, daß in
Västergötland Überbauten über den Gräbern — ausgenommen „Bauta-
steine" — fehlen. Was allerdings die weidiselländischen Gräber anbelangt,
so ist schwer zu entscheiden, ob oberirdische Anlagen — Grabhügel, Stein-
setzungen usw. — dort nicht ursprünglich in größerer Zahl vorhanden
waren — insbesondere in der intensiv bewirtschafteten Weichselniederung
und dem sie beiderseits begleitenden Hügelland — und größtenteils längst
beseitigt worden sind, ohne daß dadurch die tieferliegenden Grabgruben
gestört wurden. In abgelegenen Wald- und Heidegebieten gibt es jeden-
falls Gräber mit Überbauten, doch sind diese mindestens teilweise sehr
jung und gehören — soweit sie jung sind — einer späten Ausbauphase
an41. Es könnte also durchaus sein, daß das Weichselland in dieser Hinsicht
engere Bindungen an östergötland und auch Gotland hatte, als Oxen-
stierna nach den Funden sehen wollte; das allerdings für eine Spätzeit.
Oxenstiernas Annahme, die Brandgräberkultur Västergötlands breche
um Christi Geburt ab, ist sicher n i c h t richtig, wie bereits C.-A. Moberg
betont hat 48 und wie auch eine chronologische Analyse des västergötländi-
schen Fundstoffs nachweist43. Sicherlich reicht die Besiedlung dieser Land-
schaft zumindest weit über das erste nachchristliche Jahrhundert hinaus.
Die Zahl gut datierbarer Funde ist allerdings nicht sehr groß, so daß es
nicht möglich ist, alle Schwankungen der Siedlungsintensität klar zu er-
kennen. Sicher ist lediglich, daß im Verlaufe der jüngeren vorrömischen
Eisenzeit ein intensiver Landausbau erfolgte und daß ein Besiedlungs-
optimum gerade in die Zeit um oder kurz nach Christi Geburt fällt (vgl.
unten S. 409 ff.). Eine Abnahme der Siedlungsstärke ist mindestens im
ersten nachchristlichen Jahrhundert nicht sichtbar.
40
Vgl. O. Klindt-Jensen, Foreign Influences in Denmark's Early Iron Age, in:
Acta Ardi. 20 (1949) 176 f.; E. Nylin, Die jüngere vorrömisdie Eisenzeit
Gotlands (1956) 528. 547 Abb. 307.
41
J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlatenezeit 1 (1919) 231 f.; D.
Bohnsack, Die Germanen im Kreise Neidenburg unter Berücksichtigung der
neuesten Funde, in: Altpreußen 3 (1938) 67—79; ders., Die Burgunden, in:
H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940) 1043 f.; R.Schindler,
Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden (1940) 108 (Hügelgräber).
41
C.-A. Moberg, Kyrkbadcen i Horns socken före och efter järnalderns tredje
period, in: Fornvännen 45 (1950) 73—94.
45
R. Hachmann, Die Chronologie d. jüngeren vorrömisdien Eisenzeit. Studien
zum Stand der Forschung im nördlichen Mitteleuropa und in Skandinavien,
in: 41. Ber. RGK 1960 (1961) 226.
Probleme der archäologischen Quellen 233
44
R. Hachmann, a. a. O. 218 f.
45
R. Hachmann, a . a . O . 125 ff.
4
* R. Schindler, Die Besiedlungsgesdi. d. Goten u. Gepiden (1940) 100.
47
Vgl. R. Hachmann, Das Gräberfeld v. Rondsen (Rzqdz), Kr. Graudenz
(Grudzi^dz), u. d. Chronologie d. Spätlatenezeit i. östl. Mitteleuropa, in:
Ardiaeologia geogr. 2 (1951) 83.
48
Vgl. D. Bohnsack, Die Burgunden i. Ostdeutschland u. Polen (1938) 74 ff.
234 Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
4
» Vgl. R. Schindler, Die Besiedlungsgeschichte d. Goten u. Gepiden (1940) 15 ff.
50
Vgl. R. Schindler, a. a. O. 95 f.; E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d.
Goten (1945) 163 ff. Abb. 133. 134. 137—139. 142. — Es wäre zu prüfen, ob
nicht spatlaténe zeitliche Siedlungen „fehlen", weil sie eine Keramik enthal-
ten, die der der Kaiserzeit ähnlich ist oder gar gleicht.
» Vgl. R. Schindler, a. a. O. 97 ff. Taf. 21. 22.
52
E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat d. Goten (1945) 172 Abb. 143.
55
E. C. G. Graf Oxenstierna, a. a. 0 . 1 8 9 .
54
R. Wenskus, Stammesbildung u. Verfassung (1961) 467.
Probleme der ardiäologisdien Quellen 235
nachzuweisen50, seien dort jedoch vom Süden her bekannt geworden. Die
Anlage von Körpergräbern sei verstreut gemeingermanisch und offenbar
auch aus dem Süden übernommen worden 60 ; die wenigen berlockförmigen
Anhänger aus Mittel- und Südschweden seien dort jünger als an der unte-
ren Weichsel"; s-förmige Schließhaken seien in Schweden gänzlich unbe-
kannt' 2 ; es gäbe in Schweden keine frührömischen Armringe und -bän-
der 68 ; bezeichnende Zierelemente der weichselländischen Kultur fehlten
in Schweden ganz64. Die Sitte, die männlichen Toten ohne Waffen zu
bestatten, sei für Schweden überhaupt nicht typisch65. Abschließend er-
klärte Kmiecinski, es sei keine ausreichende Erklärung, wenn man meine,
das Fehlen von Beziehungen zwischen der „gotischen" Kultur an der
Weichsel und der skandinavischen Kultur sei ein Zufall; es befriedige
auch nicht anzunehmen, daß der unvermittelte Übergang von der Spät-
lat^ne- zur Kaiserzeitkultur zufällig mit der Einwanderung der Goten zu-
sammenfalle 66 . Aus alledem sei zu folgern, daß die „gotisch-gepidische"
Kultur ihren Namen zu Unrecht trage. Sie verdanke ihn zweifelhaften
Nachrichten der Antike, insbesondere den Angaben des Jordanes 67 . N u r
weil die literarischen Berichte der Alten von der Wanderung der Goten
durch das Weichselland nach dem Süden sprächen, seien viele Bestandteile
der materiellen und geistigen Kultur, die in diesem Raum um Christi Ge-
burt neu auftreten, einfach den Goten zugeschrieben worden, in Wirklich-
keit wurzelten sie tief in der einheimischen Kultur, oder sie seien aus den
verschiedensten Gegenden übernommen worden.
Es sei allerdings eine unbestreitbare Tatsache, meinte Kmiecinski
schließlich68, daß skandinavische Germanen im dritten Jahrhundert n.
Chr. an der Nordgrenze des Römischen Reichs anwesend waren. Die
Zahlen, die von antiken Schriftstellern für solche Germanen angegeben
würden, seien jedoch zweifelhaft, denn die Bevölkerung Skandinaviens
sei bis in diese Zeit hinein niemals sehr groß gewesen. Bei der Südwande-
rung skandinavischer Germanen könnte es sich nur um langsame Infil-
trationen von kleinen und kleinsten Gruppen gehandelt haben. Solche
Bevölkerungsverschiebungen seien aber nur schwer an Hand des archäo-
logischen Fundstoffs nachzuweisen.
«• J. Kmiecinski, a. a. O. 92 ff. 163 ff.
•• J. Kmiecinski, a. a. O. 86 ff.
" J. Kmiecinski, a. a. 0 . 1 0 8 ff.
« J. Kmiecinski, a. a. O. 126 ff. 175 ff.
•s J. Kmiecinski, a. a. O. 118 ff. 169 ff.
M
J. Kmiecinski, a. a. 0 . 1 3 3 ff. 183 ff.
• s J. Kmiecinski, a. a. O. 88 ff.
•• J. Kmiecinski, a. a. 0 . 1 4 1 ff.
67
J. Kmiecinski, a. a. O. 144 f.
M
J. Kmiecinski, a. a. O. 152 f.
Probleme der archäologischen Quellen 237
" J. Kmiecinski, a. a. 0 . 1 5 4 .
70
J. Kmiecinski, a. a. O. 155.
71
Vgl. auch R. Hachmann, Rezension von E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Ur-
heimat d. Goten (1945), in: Germania 29 (1951) 98—101.
72
J. Kostrzewski, Le problème du séjour des Germains sur les terres de Pologne,
in: Archaeologia Polona 4 (1962) 7—44; ders., Zagadnienie pobytu Germa-
nöw na ziemiach polskidi, in: Slavia Antiqua 11 (1964) 87—126.
™ J. Kostrzewski, Ardiaeologia Polona 4 (1962) 26 f.
74
J. Kostrzewski, a. a. O. 27.
238 Der Beitrag der Archäologie zur Erforschung der Herkunft der Goten
(vgl. oben S. 226 ff.). Das Aufhören der Sitte, den Männergräbern Waffen
mitzugeben, sei vielleicht ein besonderes Indiz dafür, daß eine Einwande-
rung stattgefunden habe75. Das Vorherrschen der Bronze in nachchrist-
licher Zeit im Gegensatz zum reichlichen Gebrauch von Eisen in der
Spätlat^nezeit erkläre sich damit, daß römische Münzen zur Herstellung
von Bronzegegenständen benutzt wurden. Alle Indizien reichten aller-
dings nicht zum Nachweis einer Wanderung aus, wenn nicht eine große
Ähnlichkeit zwischen den Grabformen des Unterweichselgebiets und
Schwedens bestände™. Schon in der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit
gäbe es an der Weichsel Brandgräber mit darüberstehenden senkrechten
Steinen, und daraus ergebe sich, daß die ersten Gruppen skandinavischer
Einwanderer schon v o r Christi Geburt gekommen seien. Der Versuch
Oxenstiernas, Västergötland als Heimat der Goten zu erweisen, sei
allerdings nicht überzeugend; es sei viel einfacher, die Einwanderer aus
Östergötland kommen zu lassen77. Im zweiten Jahrhundert hätten die
Goten das Binnenland kolonisiert. Gegen Mitte dieses Jahrhunderts seien
die Gepiden neu eingewandert und hätten sidi auf dem rechten Weidisel-
ufer angesiedelt. Wiederum folgte Kostrzewski sichtlich Schindler (vgl.
oben S. 227). Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts seien dann die Goten
wieder abgezogen78.
Zwei Jahre später hielt Kostrzewski zwar den größten Teil seiner
Ansichten aufrecht, rechnete auch weiterhin mit der Einwanderung der
Goten vor Beginn der Römischen Kaiserzeit und der Gepiden 150 Jahre
später, schloß sidi im übrigen aber stärker den Ergebnissen der Unter-
suchungen Kmiecinskis an79 und betonte, die Einwanderung der Goten
sei zwar nicht zu leugnen, habe aber keine so bedeutende Rolle gespielt,
wie bislang angenommen worden sei.
Wie bei Oxenstierna, so spielt bei Kostrzewski der Kulturwandel zu
Beginn der Römisdien Kaiserzeit als Indiz für die erfolgte Gotenwande-
rung die Hauptrolle. Der Wandel könne zwar nicht die Wanderung selbst
beweisen, wohl aber den auf anderem Wege gewonnenen Beweis illustrie-
ren. Als Hauptbeweis galt Kostrzewski die Übereinstimmung von Einzel-
heiten der Grabsitte mit Skandinavien, insbesondere mit östergötland,
wo allein alle im Weichselgebiet vorkommenden Formen von Grabober-
bauten vertreten seien. In seinem Urteil vom Aussagewert der Grabfor-
men stand Kostrzewski siditlidi im Gegensatz zu Oxenstierna. Letztlich
7 7 J. Kostrzewski, a. a. O. 29.
7 8 J. Kostrzewski, a. a. O. 30.
gründet sich sein „Hauptbeweis" aber doch — wie der aller, die vor ihm
dasselbe Problem behandelten — auf die Annahme, die Tatsache der
Wanderung sei durch antike Nachrichten gesichert, und ebenso sei es nadi
den Angaben der griechischen und römischen Autoritäten sicher, daß die
Wanderung zu Beginn der Römischen Kaiserzeit und ins Unterweidisel-
gebiet stattgefunden habe.
Da sich Kostrzewski den Untersuchungsergebnissen Kmiecinskis im
wesentlichen angeschlossen hat, geben dessen Untersuchungen, zumal sie
das Problem der Goten weitaus ausführlicher behandeln, den jüngsten
Stand der Untersuchungen wieder, der allerdings in Deutschland bislang
noch kaum zur Kenntnis genommen und überhaupt noch nicht diskutiert
worden ist. Zieht man Kmiecinskis Urteil über die Herkunftsnachrichten
und das hier erreichte Ergebnis einer Analyse der Gotengeschichte des
Jordanes in Betracht (vgl. oben S. 109 ff.), so wird es evident, daß es nidit
mehr nötig ist, auf seine Ansichten zum Wahrheitsgehalt der Gotensage
weiter einzugehen. Seine rein archäologischen Untersuchungen haben das
Bild von der kaiserzeitlichen Kultur im unteren Weichselgebiet wesentlich
objektiviert, wiewohl manche Fragen — insbesondere die einer feineren
Datierung des archäologischen Fundguts, d. h. des Beginns der Römischen
Kaiserzeit in diesem Gebiet — noch vernachlässigt sind80. Für die Frage
der Gotenherkunft geben seine archäologischen Betrachtungen jedoch
nichts. Das haben sie — trotz aller Fortschritte in Einzelheiten der Alter-
tümerkunde — mit allen älteren Arbeiten zur Archäologie und Herkunft
der Goten gemeinsam. Sie alle gingen von der Annahme aus, daß die
Goten im Gebiet der Weichselmündung siedelten. Von den antiken Nach-
richten her gesehen (vgl. oben S. 135 ff.), ist diese Voraussetzung falsch.
Die kontinentalen Wohnsitze der Goten lagen an anderer Stelle. Das
unterweichselländische Fundmaterial wurde irrtümlich als gotisdi bezeidi-
net. Wie konnte aber unter solchen Voraussetzungen die Frage nach der
Herkunft der Goten richtig gestellt und beantwortet werden?
Es ist zu untersuchen, welches archäologische Material wirklich
gotisch ist; erst dann kann man erneut nach dem Zusamenhang zwischen
Goten und Skandinavien fragen.
germanischen Goten siedelten, hat ein Überblick über die Geschichte der
Forschung deutlich genug gezeigt (vgl. oben S. 145 ff.). D a ß diese Lokali-
sierung den antiken Nachrichten n i c h t entspricht und daß nicht einmal
die von Ablabius überlieferte Gotensage Wohnsitze der Goten in unmittel-
barem Küstengebiet der Ostsee verlangt, dürfte ebenfalls deutlich gewor-
den sein (vgl. oben S. 139 ff.). Ebenso muß nun vorausgesetzt werden, daß
das erste Erwähnen der Goten durch antike Autoren nicht als terminus a
quo, sondern nur als terminus ante quem f ü r den Beginn ihrer Anwesenheit
auf dem Kontinent angesehen werden muß. Sie können schon lange v o r
ihrer ersten Erwähnung durch Strabo südlich der Ostsee gesiedelt haben.
Ungewiß ist es vorerst noch, ob die Goten „seit jeher" südlich der
Ostsee ansässig waren, also als Autochthone angesehen werden müssen,
oder ob sie einst aus dem Norden einwanderten. N u r eines ist sicher: Als
Ablabius schrieb, müssen Bevölkerungsgruppen, deren Namen mit dem
der Goten verbunden waren — die T O Ü T O I , die r a u t o i , die *Vagothae,
die *Gauthigothae —, schon in Skandinavien ansässig gewesen sein. Und
noch etwas anderes ist sicher: Mögen die skandinavischen Goten aus dem
Süden, mögen die kontinentalen Goten aus dem Norden gekommen sein,
in jedem Falle muß ein Bevölkerungszusammenhang zwischen den skan-
dinavischen und den festländischen Goten vorhanden gewesen sein.
Irgendwann müssen Goten die Ostsee überquert haben!
Das Problem der festländischen Gotensitze ist der Angelpunkt f ü r
die Behandlung und Beantwortung aller nun noch offenen Fragen. Davon
hängt alles andere ab: H a t man erst die Sitze der Festlandsgoten und
kennt man ihre archäologische Kultur, so kann man diese auf Anzeichen
einer Einwanderung hin untersuchen. Dann könnte man im Norden nach
kulturellen Spuren der Vorfahren der Goten oder auch dort nach Spuren
von gotischen Einwanderungen suchen.
Die geographischen Anhaltspunkte f ü r die festländischen Gotensitze
sind ganz klar (vgl. oben S. 143). Selbst wenn man weiß, was Tacitus,
Ptolemaios und andere zu wissen meinten, verfügt man nicht über um-
fangreiche Kenntnisse. Wie sicher sind die Informationen der Antike f ü r
die Bevölkerungsverhältnisse in diesem abgelegenen Raum, von dem nicht
jeder einmal genau wußte, ob er zu Germanien oder Sarmatien gehörte?
Einzig die Übereinstimmung von Autoren, von denen man weiß, daß sie
nicht voneinander abgeschrieben haben, ist eine brauchbare Stütze der
Überlieferungen.
Anhaltspunkte f ü r die kulturelle Einordnung der Goten bzw. f ü r
ihre Zugehörigkeit zu einem germanischen Stammesverband oder einer
Kultgemeinschaft fehlen fast ganz. Die Hinweise des Plinius, der die
Goten zur Gruppe der *Vandili (Vindili), zu denen er außerdem die
Probleme der archäologischen Quellen 241
1
K. Zeuss, Die Deutschen u. d. Nachbarstämme (1837) 70.
1
K. Zeuss, a. a. O. 71: „Plinius stellt ohne Rücksicht auf Art und Bedeutung
willkührlidi nur weit verbreitete Namen zusammen;..
8
R. Hadimann, in: R. Hadimann, G. Kossack u. H. Kuhn, Völker zw. Ger-
manen u. Kelten (1962) 53.
* R. Hadimann, a. a. O. 51 ff.
5
R. Much, Die Germania d. Tacitus (1937, ! 1959) 29 f.; (81967) 58 f.
16*
244 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Grabfund aus Nacza 15 , damals Bez. Lida im Gouv. Wilna. Als west-
lichsten Fund dieser Gruppe nahm er Michelau (Michalow), Kr. Strasburg
(Brodnica), an". An der Drewenz (Drwfca) vermutete er ihre West-
grenze. Er meinte, diese Gruppe gehöre „trotz mancher Verwandtschaft
mit der ,burgundischen Kultur' doch vorwiegend dem wandalischen
Teil Ostdeutschlands an"17. D. Bohnsack sah dagegen die Soldau
(Dzialdowka) als Westgrenze an und sprach von „Wandalen" östlich des
Flusses18. Verf. ging 1961 auf Gesamtverbreitung und ethnische Stellung
der „Weidisel-Narew-Gruppe" nicht näher ein1*. Dazu war kein Anlaß.
Nachdem nunmehr polnische Archäologen den FundstofF aus Masowien
zusammengestellt haben80 — vollständig veröffentlicht ist er noch
nicht —, ist es möglich, die Masowisdie Gruppe zu untersuchen und Vor-
stellungen über ihren Beginn und über ihre Grenzen und ihre innere
Struktur zu gewinnen, die über das hinausgehen, was Kostrzewski und
Bohnsack zu beobachten in der Lage waren. Es müssen allerdings dabei
mancherlei Probleme beiseite gelassen werden, deren Lösung auf Grund
des derzeitigen Bearbeitungsstandes noch nidit möglich ist. Sie berühren
das Problem der Goten nicht unmittelbar und müssen im übrigen der
polnischen Forschung überlassen bleiben, die sie — aus räumlicher und
sachlicher Vertrautheit — allein lösen könnte. Hier kann es sich lediglich
darum handeln, diese Gruppe in ihren Grundzügen zu charakterisieren.
Gruppen ersetzt. Grundlage sind die in Plinius belegten Vindili — in *Vandili
zu emendieren —, doch hat Plinius neben Vindili (Hist. Nat. IV 99) auch
Venedi (Hist. Nat. IV 97) für den Stamm, der bei Tacitus Venethi (Tacitus
Germania 46) und bei Ptolemaios OÜEviöat (Ptolemaios III 5, 5; 7 ff.) heißt.
— Weitere Belege bei M. Schönfeld, Wörterbuch d. altgerm. Personen- u. Völ-
kernamen (1911) 280 f.
15
J. Kostrzewski, a . a . O . 232 Anm. 10; dazu W. Szukiewicz, Wykopalistco
urny z ornamentem swastikowym w Naczy powiatu Lidzkiego gub. Wilens-
kiej [Der Fund einer Urne mit Hakenkreuz bei Nacza], in: Materialy
antropologiczno-ardieologiczne i etnograficzne 9 (1907) 139—142 Taf. 13
bis 14; ders., Poszukiwania archeologiczene w pow. Lidzkim gub. Wilinskiej
[Archäologische Untersuchungen im Kreis Lidzka, Gouvernement Wilna],
a. a. O. 13 (1914) 72 f. Taf. 29—30.
16
J. Kostrzewski, a. a. O. 233 Anm. 1; dazu: K. K. Chmieledri, in: Zapiski Tow.
nauk w Toruniu I, 9 (1910) 198 f.
17
J. Kostrzewski, a. a. O. 231.
18
D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 113; ders.,
Die Burgunden, in: H. Reinerth [Hrg.], Vorgesch. d. dt. Stämme 3 (1940)
1042.
19
R. Hadimann, in: 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 58 ff.
™ A. Kempisty, Obrz^dek pogrzebowy w okresie rzymskim na Mazowszu [Be-
stattungssitten d. röm. Kaiserzeit in Masowien], in: Swiatowit 26 (1965)
1—161; A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem w okresadi p6znola-
tenskim i rzymokim na Mazowszu [Studien über die Siedlungen der Spät-
lat^ne- und Römerzeit in Masowien] (1966).
Probleme der archäologischen Quellen 245
26
J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spätlat^nezeit 1 (1919) 42 ff.; D .
Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 23 ff.
27
G. Kossack, Frühe römische Fibeln a. d. Alpenvorland u. ihre chronologische
Bedeutung f. d. germ. Kulturverhältnisse, in: Aus Bayerns Frühzeit (1962)
125—137 bes. 136 f.
28
R. Schindler, Die Besiedlungsgesch. d. Goten u. Gepiden im unteren Weidisel-
raum (1940) 97 ff. bes. 102 ff.
29
E. C. G. Graf Oxenstierna, Die Urheimat der Goten (1945) 147.
30
E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge zur röm.
Kaiserzeit 1 (1912) 153 f. 157 f.; ders., a . a . O . 2 (1915) 141 ff.; R. Schind-
ler, a . a . O . 9 7 f f . ; J. Kmiecinski, Zagadnienie tzw. Kultury Gocko-Gepidz-
kiej na Pomorzu wschodnim w okresie wczesnorzymskim (1962) 86 ff.
31
R. Schindler, a. a. O. 15 ff. 97 ff.
32
E. Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge zur röm.
Kaiserzeit 1 (1912) 42 ff. 60 ff. 89 ff.; J. Kmiezynski, Zagadnienie tzw. Kul-
tury Gocko-Gepidzkiej (1962) 108 ff. 118 ff. 126 ff.
Probleme der archäologischen Quellen 247
33
C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande
(1937) 126 Abb. 23 a.
34
C. Engel u. W. La Baume, a. a. 0 . 1 2 6 .
35
P. N . Tretjakow [Hrg.], Pamjatniki Zarubineckoj Kultury, in: Materialy
i Issledowanija po Arth. SSSR 70 (1959) 1 ff. bes. 7 m. Verbreitungskarte;
J. W. Kucharenko, Pamjatniki zelesnogo veka na Territoriji Poles'ja, in:
Archeologija SSSR Vipusk D 1—29 (1961) 14 ff. Abb. 7 Taf. 9—43.
36
C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande
(1937) 140 ff. bes. 146 ff. Abb. 30. 31.
37
O. Almgren, Studien über nordeurop. Fibelformen (1897) 19 f. 29 ff. 38 f.; E.
Blume, Die germ. Stämme u. d. Kulturen zw. Oder u. Passarge 1 (1912) 47 f.
71 f. Abb. 46. 89. 90; C. Engel u. W. La Baume, a. a. O. 146 ff. Abb. 30
d—f. i—m. 31 e—f. k.
38
Vgl. J. W. Kudiarenko, Pamjatniki zelesnogo veka na Territorii Poles'ja,
in: Ardieologija SSSR Vipusk D 1—29 (1961) 10 Abb. 3. Die Mittellatene-
fibeln mit sdiildförmigen Bügelteil sind offenbar wesentlich jünger als andere
Varianten der Latenefibeln, die in der Zarubinjetz-Kultur vorkommen. Vgl.
dazu das Grab 13 von Hrynicwicze Wielkie, pow. Bielsk Podlaski; Z.
Szmit, Wiadomosci Arch. 7 (1922) 113 ff. Abb. 91—103.
248 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
— teils sehr stark versdimort40 — aus dem Scheiterhaufen gelesen und ins
Grab getan (vgl. Abb. 1—2). Auf vollständiges Auslesen der Scherben
40
Vgl. Chr. Pesdieck, Die frühwandalische Kultur in Mittelsdilesien (1939)
6 f.
250 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
47
E. Reinbacher, Ein ostgerm. Friedhof b. Stupsk, Kr. Miawa in Polen, in:
Varia Ardi. [Unverzagt-Festschrift] (1964) 148—161 bes. 152 ff. Abb. 3. 4.
48
C. Engel, Ein wandalisches Gräberfeld b. Bartkengut (Kreis Neidenburg), in:
Altpreußen 1 (1935) 44—46 Abb. 1 u. 2; D. Bohnsack, Die Germanen im
Kreise Neidenburg, in: Altpreußen 3 (1938) 67—79 bes. 71 ff. Abb. 7 u. 8.
48a
T. D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Ardi. Pologne Fase. X X : PI. 121
bis 125 (La Tene III) (1968) PI. 121 (1)—(2) [Grab 6], PI. 122 [Gr. 32],
PI. 123(1)—(2) [Gr. 34].
48
UT. Dqbrowska u. J. Okulicz, a . a . O . PI. 124 (1)—(2) [Grab 127] u. PL
125 (1)—(4) [Gr. 152 a],
" K. Tackenberg, Die Wandalen in Niedersdilesien (1925) 80. Ansatz des For-
menwandels in die beginnende Kaiserzeit ist zu spät.
50
Chr. Pescheck, Die frühwandalische Kultur in Mittelschlesien (1939) 105 ff.
tl
St. Janosz, Cmentarzysko z okresu p6£nolatenskiego i rzymskiego w Wy-
myslowie, pow. Gostyn, in: Fontes Praehist. 2 (1951) 1—284 bes. 249 ff.;
R. Hadimann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 55 Abb. 17.
52
E. Kaszewska, Cmentarzysko kultury wenedskiej w Piotrkowie Kujawskim,
pow. Radziej6w, in: Prace i Materialy Muz. Arch. i Etnogr. w Lodzi Ser.
Arch. 8 (1962) 5—78 Taf. 4. 9—11. 22.
53
Vgl. R. Hadimann, 41. Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 58 ff.
bes. 67 ff.
Probleme der archäologischen Quellen 255
54
Vgl. R. Hadimann, a. a. O. 70.
55
Vgl. R. Hadimann, a. a. O. 59 Abb. 19, 6.
56
J. Heydedc, Ein Gräberfeld a. d. la T&ne-Periode b. Taubendorf, Kr. Nei-
denburg, in: Sitzungsber. Prussia 21 (1900) 52—57 bes. 54 f. Taf. 3, 1—2.
18. 21.
57
A. Brinkmann, Gräberfeld b. Niederhof, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909)
267—295 Abb. 177.182.
58
E. Hollack, in: Sitzungsber. Prussia 22 (1909) 356 ff. Abb. 210.
5
» C. Engel, Altpreußen 1 (1935) 44 ff. Abb. 2 u. 3; D. Bohnsack, Altpreußen 3
(1938) 67 ff. Abb. 10 b u. c.
80
A. Bezzenberger, La T^ne-Gräberfeld b. Gr. Lensk, Kr. Neidenburg, in: Sit-
zungsber. Prussia 22 (1909) 63—70 Taf. 12.
81
E. Reinbacher, in: Varia Ardi. (1964) 148—161 Taf. 20 a. 22 b u. 23 b.
,ia
T . D^browska u. J. Okulicz, Inventaria Arth. Pologne Fase. X X : PI. 121
bis 125 (La T£ne III) (1968) PI. 124 (1)—(2).
88
A. Kietlinska, Gr6b z okresu latenskiego we wsi Calowanie, pow. Garwolin,
in: Sprawozdania P. M. A. 2 (1948/49) 63—68 Taf. 5, 2 u. 5.
83
J. Gurba, Gr6b wojownika z p6znego okresu latenskiego z Masowa w pow.
garwolinskim, in: Przegl^d Arch. 10 (1958) 326—331 Abb. 2. 4 b.
256 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Abb. 6. Wilanöw, Kr. Warschau, Grab 91; Bestattung der Zeitgruppe 3 der
jüngeren vorrömischen Eisenzeit der Masowischen Gruppe. Das Grab
zeigt, daß diese Gruppe den Formenwandel der Przeworsker Kultur
in dieser Zeit nicht mitmachte (nadi J. Marciniak) — M 1:4,5.
Abb. 7a. Wilanow, Kr. Warschau, Grab 31; Grab der Zeitgruppe 1 der vorrömi-
schen Eisenzeit der Masowischen Gruppe, zu demselben Grab gehörig
die Abb. 7b dargestellten Gegenstände (nach J. Marciniak) — M 1:4,5
(1—6), M 1:3 (7—11) — (eine Krause wie Fig. 1 u. eine Schale ähnlich
Fig. 5 nidit abgebildet).
17*
260 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
Abb. 9. Gross Lensk (Wielki L$ck), Kr. Neidenburg (Nidciza), Grab 9 ; Grab
der Masowischen Gruppe aus der älteren Römischen Kaiserzeit (nach
A. Bezzenberger); vgl. dazu Abb. 10.
Abb. 10. Gross Lensk (Wielki L?ck), Kr. Neidenburg (Nidciza), Grab 9; Grab-
inventar der Masowischen Gruppe aus der älteren Römischen Kaiser-
zeit (nach A. Bezzenberger); vgl. Abb. 9 — M 1:4,5.
aufwärts bis an die Bzura bzw. bis zur Soldau (Dzialdowka) h i n " . E r
hielt allerdings auch Michelau (Michalow) für „wandalisch" 7 7 . Kostrzew-
ski ordnete dieses Grab wohl deswegen so ein, weil es als Urnengrab
" D. Bohnsack, Die Burgunden in Ostdeutschland u. Polen (1938) 113 f.
77D. Bohnsack, a. a. O. 113: „Vielleicht ein Vorposten der Neidenburger Wan-
dalengruppe".
Abb. 11. Karcewiec, Kr. W^gröw, Grab 127; Grabinventar der Zeitgruppe 3
der vorrömischen Eisenzeit der Masowisdien Gruppe (nadi T. Dqbrow-
ska u. J. Okulicz) — M 1:3 (9—13), M 1:4,5 (1—8. 14—18).
264 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
hielt er die Funde von Borowiczki 8 ' und Setropie, beide Kr. Plock87, als
Zeugen für die Anwesenheit von Burgunden, und audi südlich des
Flusses in Ostkujawien und im Bzura-Gebiet rechnete er mit „Burgun-
den" 88 .
So kann man heute nicht mehr argumentieren; aber auch der heutige
Forschungsstand macht es noch immer schwer, einen besseren Weg zu fin-
den. Nur größere, gut ausgegrabene und veröffentlichte Gräberfelder kön-
nen entscheidend weiterhelfen. Für das östliche Kujawien läßt das Grä-
berfeld von Piotrk6w Kujawski, Kr. Radziejöw, nunmehr deutlich
erkennen, daß ganz Kujawien zur Przeworsker Kultur, aber nicht zu
deren Masowischer Gruppe gehörte8'. Die Gräber von Bielawy, Kr. Lo-
wicz, zeigen dasselbe für das Bzura-Gebiet 90 . Die Stellung der Friedhöfe
von Borowiczki und Osnica, beide Kr. Plods91, läßt sich noch immer nicht
klären. Die Gräberfelder und -gruppen im Gebiet der Soldau (Dzial-
dowka) und ihrer Nebenflüsse scheinen zur Masowischen Gruppe zu ge-
hören, deren Westgrenze das unbesiedelte Sandergebiet zwischen den
Flußsystemen der Drewenz und der Soldau gebildet haben dürfte98.
Doch sind von Gräberfeldern westlich der Soldau — Drozdowo, Dziek-
tarzewo, Dzierzqznia, Koloz^b, alle Kr. Plonsk, und Setropie, Kr. Plock
— ausgenommen das erstgenannte93 — bislang keine klassifizierbaren
Funde veröffentlicht worden94.
8 ' Vgl. G. Proniewski, Probrzeze wisly w najblizszej okolicy Plocka pod wzy-
l?dem archeologicznym, in: Przegl^d Arch. 1 [ I I — I I I , 3 — 4 ] (1921) 93 f. 116.
120.
8 7 L. Rutkowski, Cmentarzyska z grobami rz^dowemi w Krasinie, Romatowie
N r . 75.
8 9 E. Kaszewska, Cmentarzysko kultury wenedskiej w Piotrkowie Kujawskim,
pow. Radziejöw, in: Prace i Materaly Muz. Arch. i Etnogr. w Lodzi Ser.
Arch. 8 (1962) 5 — 7 6 .
9 0 M. J . Gozdowski, Zabytki z cmentarzyska w Bielawach, pow. t o w i d u , in:
Abb. 13. Kacice, Kr. Pultusk, Grab 1947 eines Friedhofs mit Gräbern der Stein-
kistengräberkultur und der Masowischen Gruppe (nadi Kr. Musiano-
wicz), Abb. 12 gehört zum gleichen Grabinventar — M 1:4,5.
96
Z. Szmit, Groby z okresu latenskiego i rzymskiego na Cmentarzu „Koza-
r6wka" w Drohiczynie nad Bugiem, in: Wiadomosci Arth. 6 (1921) 61—70
Abb. 1—20. 63; ders., Cmentarz latensko-rzymski „Kozarowka" w Dro-
hiczynie nad Bugiem, in: Wiadomosci Arch. 8 (1923) 152—175 Abb. 12—27.
32. 37—53.
97
A. Kietlinska, Gröb z okresu latenskiego we wsi Calowanie, pow. Garwolin,
in: Sprawozdania P. M. A. 2 (1948/49) 63—68 Taf. 5—6.
98
J. Gurba, Gr6b wojownika z pöznego okresu latenskiego z Mazowa w pow.
garwolinskim, in: Przegl^d Arch. 10 (1958) 326—331 Abb. 1—11.
90
Möglicherweise Czersk und Pölko, beide pow. Grojec, und Grzyb6w, pow.
Kozienice; vgl. A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem (1966) 151 ff.
Nr. 154. 195. 289.
100
J. Gurba, Cmentarzysko latensko — rzymskie w Masowie, pow. Garwolin,
badane w 1953 r., in: Wiadomosci Arch. 20 (1954) 303.
101
R. Kozlowska, Cmentarzysko z okresu poznolatenskiego i wczesnorzyms-
kiego w Niecieplinie, pow. Garwolin, in: Materiaiy Star. 4 (1958) 337—365
bes. 342 Taf. 110, 2—5.
102
R. Jakimowicz, Sprawozdanie z dziafalnosci P. M. A . z a 1928 rok, in: Wiado-
mosci Arch. 13 (1935) 242 f.
103
W. Radig, Die Burg 3 (1942) 203. 220.
Probleme der archäologischen Quellen 269
ten Gräbern gehört keine in die früheste Kaiserzeit104. Audi der Friedhof
Dobrzankowo, Kr. Przasnysz, hat keine Gräber der Stufe Bi, ergeben1043.
Von den 43 Gräbern des Friedhofs Osieck, Kr. Otwock (Garwolin), ge-
hört ebenfalls keines in die Stufe Bi105. Spät in der Kaiserzeit scheinen
die Gräberfelder Grodzisk Masowiecki104, Hryniewicze Wielkie, beide
Kr. Grodzisk Mazowiecki107, Lajski, Kr. Nowy Dw6r Mazowiecki108,
beide übrigens nicht sicher zur Masowischen Gruppe gehörig,
Siwek, Kr. Wolomin10', und Wçgrow, Kr. Wçgrow110, zu beginnen.
Es ist deswegen nicht unwahrscheinlich, daß das ganze Gebiet zwischen
Weichsel und Bug in der frühen Kaiserzeit — Eggers' Stufe Bi entspre-
chend — überhaupt weitgehend fundarm, d. h. siedlungsarm war.
Nördlich von Weichsel, Bug und dessen östlichem Nebenfluß Nurzec
erweiterte sich die Masowische Gruppe hingegen im Verlaufe der älteren
Kaiserzeit sichtlich (Abb. 16—17). Die Besiedlung folgt dem Lauf des
Narew über das Mündungsgebiet des Orzyc hinaus. Die Gegend um
Ostrolçka und tomza" 1 wurde besiedelt. Der von Kostrzewski erwähnte
Fundplatz Nacza, Bez. Lida, der schon redits der Memel (Niémen)
liegt118, gehört indes nicht zur Masowischen Gruppe. Diese reicht aber
sicher weit in den nordostpolnischen Raum hinein, wie der Friedhof von
Zawyki, Kr. tapi 113 , zeigt. Nach dem Norden drang die Besiedlung bis
104
W. Radig, a. a. 0 . 1 9 7 ff. Taf. 4, 1—11.
104a
T. D;jbrowska u. J. Okulicz, Inventaria Arch. Pologne Fase. X X : PL 121—125
(La Tène III) (1968) betonen PI. 124 (1), daß von den 187 Gräbern keines
der Stufe Bi angehört. Die kaiserzeitliche Belegung des Friedhofs beginnt
mit dem Ende der Stufe B2.
105
T. D^browska, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Osiecku pow. Garwo-
lin, in: Materialy Star. 4 (1958) 255—300 Taf. 85—94.
106
B. Barankiewicz, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Grodzisku Mazo-
wieckim, in: Materialy Star. 5 (1959) 191—230 Taf. 1—14.
107
Z. Szmit, Sprawozdanie z poszukiwan ardieologicznych w Hryniewiczach
Wielkich koto Bielska Podlaskiego, in: Wiadomos'ci Arch. 7 (1922) 111 ff.
Abb. 55—103.
108
T. Liana, Znaleziska z okresu pöznolatenskiego i rzymskiego na terenadi
miçdzy Wislq a dolnym Bugiem, in: Materialy Star. 7 (1961) 216 Taf. 1—2.
1M
A. Kietlinska, Materialy do osadnietwa przedhistorycznego okolic Rad-
zymina, in: Sprawozdania P. M. A. 4,1—2 (1951) 65—74 Abb. 1—15.
110
T. Liana, Materialy Star. 7 (1961) 219 Taf. 3, 14—17.
111
Vgl. Anlage 6 b; Nr. 4 (Brzezno), 6 (Chrostowo) (?), 24 (Jankowo), 27
(Kqty), 40 (Kunin), 46—47 (Mqtwica), 50 (Miastkowo), 67 (Rostki), 93
(Zawyki).
112
J. Kostrzewski, Die ostgerm. Kultur d. Spatlatènezeit 1 (1919) 232; 2 (1919)
98; W. Szukiewicz, Materialy antr. arch. 9 (1907) 139—142 Taf. 13—14;
ders., a. a. 0 . 1 3 (1914) 72 f. Taf. 29—30.
113
D. Jaskanis, Groby cialopalne z okresu rzymskiego w miejscowosci Zawyki,
pow. Lapy, in: Rocznik Bialostocki 2 (1961) 401—416 Abb. 1—4 Taf.24
bis 26.
270 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
114
C. Engel u. W. La Baume, Kulturen u. Völker d. Frühzeit im Preußenlande
(1937) 122 Anm. 24.
115
E. Hollack u. F. E. Peiser, Das Gräberfeld v. Moythienen (1904) 9; E. Hol-
lack, Erläuterungen zur vorgesch. Ubersichtskarte v. Ostpreußen (1908) 80.
116
E. Hollack u. F. E. Peiser, a. a. O. 9 f.
117
E. Hollack, Erläuterungen (1908) LIV u. 181.
Probleme der archäologischen Quellen 271
sind, von denen bislang allerdings noch keiner genauer untersucht worden
ist. Wie weit sich die Masowische Gruppe nach dem Westen ausgedehnt
hat, ist für die ältere Kaiserzeit, wie für die vorrömische Eisenzeit nicht
genau zu übersehen. Von Ciechocin an der Drewenz (Drw^ca), Kr. Lipno,
liegt eine alte Nachricht über ein Gräberfeld mit Steinkreisen vor118. Eine
ähnliche Notiz gibt es aus Kurowo, Kr. Sierpc119.
15 30 45 60 75KM
Abb. 15. Verbreitung der Masowischen Gruppe in der älteren Römischen Kaiser-
zeit; O = Fundstelle der Masowischen Gruppe; O = Fundstelle nicht
sicher Masowische Gruppe; vgl. dazu Abb. 14.
118
J. Z.[aborski], Materialy do mapy gubernii Piockiej, in: Swiatowit 2 (1900)
139.
L. Rutkowski, Cmentarzyska z grobarni rz^dowemi w Krasenie, Romatowie
i Koziminadi, in: Swiatowit 7 (1906) 8 ff.
272 Die Archäologie und die festländischen Gotensitze
120
A. Niew^glowski, Z badan nad osadnictwem (1966) 38 ff. 170.
121
Vgl. Anlage 6 b, Nr. 3 (Biaio^ka — 2eran), 8 (Czersk), 13 (Drozdowo),
16 (Garlino — Zalesie), 17 a (Goworowo), 33 (Kolozqb), 60 (Piastow), 67
(Rostki), 72 (Sokolowek — Kuligow). — Vgl. auch A. Niew^glowski, a. a. O.
Karte 6.
122
A. Kempisty, Obrzqdek pogrzebowy w okresie rzymskidi na Mazowszu, in:
Swiatowit 26 (1965) 141 ff. 152 f. 161; A. Niew^glowski, Z badan nad osad-
nictwem (1966) 74 ff.
123 f . Dzierzykray-Rogalski u. J. Jaskanis, Grob szkieletowy dzietka z pöznego
okresu rzymskiego, odkryty w 1959 r. w Biaiowiezy, pow. Hajnowska, in:
Rocznik Bialostocki 1 (1961) 283—291 Abb. 5—7.
124
D. Jaskanis, Groby cialopalne z okresu rzymskiego w miejscowosci Zawyki,
pow. tapy, in: Rocznik Bialostocki 2 (1961) 401—416 bes. 409 Taf. 25,
11—13; 26, 1—6.
125
D. Bohnsack, Ein ostgermanisdies Fürstengrab bei Pilgramsdorf in Ostpreu-
ßen, in: Germanenerbe 2 (1937) 258—261; ders., Die Germanen im Kreise
Neidenburg, in: Altpreußen 3 (1938) 75 ff. Abb. 17—23; W.Hülle, Ein ost-
germ. Hügelgrab bei Pilgramsdorf, in: Mannus 32 (1940) 154—165 Abb. 1
bis 12.
128
F. E. Peiser, Groß Schläfken, in: Prussia 22 (1909) 328—333 Abb. 197 Taf.
51.
Probleme der archäologischen Quellen 273
Bogucin, Kr. Plonsk127, zeigt. Doch audi die einfachen Brandgräber wei-
sen in der jüngeren Kaiserzeit nicht mehr die alte Einheitlichkeit auf.
Erstmals nach rund zweihundert Jahren treten wieder Waffengräber auf,
wie das Grab 9 von Paluki, Kr. Ciechanöw, mit Lanzenspitze, Schild-
buckel und -fessel128 und das Grab 12 von Piastow (Pajki), Kr. Przasnysz
— es mag ursprünglich mehr als Gefäßreste und eine Lanzenspitze ent-
halten haben12' —, das Grab 1 des Friedhofs Rostki, Kr. Ostroi^ka
(Abb. 18—19)"°, und das Grab 19 von Tuchlin, Kr. Wyszk6w131. Von
den gewöhnlichen Brandgräberfeldern der Masowisdien Gruppe unter-
scheiden sich ferner das Gräberfeld von Littfinken (Litwinki), Kr. Neiden-
burg, von dessen etwa 50 Bestattungen zwei bis fünf Körpergräber
waren132, und offenbar auch die Friedhöfe Burdungen (Burdqg), Kr. Nei-
denburg133, und Malschöwen (Maiszewko), Kr. Orteisburg134. Ein jünger-
kaiserzeitliches Gräberfeld fremden Charakters hat auch die Gemarkung
Grodtken mit der Fundstelle Grodtken (Grödki)-Zwierzyniec ge-
liefert135.
Manches, was auf den ersten Blick so verschiedenartig ersdieint, ist
jedoch kulturell im Grunde einheitlich. Hügelgräber mit Steinpackungen
oder Steinkreisen, in denen die Toten verbrannt oder unverbrannt bestat-
tet wurden — denen von Bialowieza, Pilgramsdorf (Pielgrzymowo) und
Bogucin ähnlich —, und Flachgräber mit Brand- und Körperbestattun-
gen — denen von Littfinken (Litwinki) und Grodtken-Zwierzyniec ver-
gleichbar — haben ihren Ursprung in der Oxhöfter Kultur der jüngeren
127
W. Bernat, Kurhany z p6znego okresu rzymskiego we wsi Bogucin, pow.
Plonsk, in: Wiadomosci Arth. 22 (1956) 210—212 Abb. 1—6.
128
W. La Baume, Ostgermanische Grabfunde aus Paluki, Kreis Zichenau, in:
Altpreußen 8 (1943) 4 Abb. 3 b; 4 a u. e; 5 e u. g; 6 a—e.
129
F. E. Peiser, Das Gräberfeld von Pajki bei Praßnitz in Polen (1916) 5 f.
Taf. 2, 24—25.
130
F. E. Peiser, a. a. O. 1. 7. Taf. 4, 48—58; 5, 59.
131
L. Okuliczowa, Cmentarzysko z okresu rzymskiego w Tuchlinie pow. Wysz-
köw, in: Wiadomosci Arch. 30 (1964) 379 f. Abb. 20.
132
F. E. Peiser, Übersichten u. Notizen. Ostpreußen, in: Prähist. Zeitsdlr. 2
(1910) 412 f.
133
E. Hollack, Erläuterungen (1908) 20; R. Schindler, Die Besiedlungsgesch.
d. Goten u. Gepiden (1940) 129 Nr. 306; D. Bohnsack, in: Altpreußen 3
(1938) 79.
134
E. Hollack, a. a. O. 96; R. Schindler, a. a. 0 . 1 2 9 Nr. 315.
1M
E. Holladc, Erläuterungen (1908) 46: »Grodtken f"; t . u. J. Okulicz, The
La Tene and the Roman Periods in Northern Masovia and in Southern Ma-
zurian Area in the Light of New Discoveries, in: Arch. Polona 4 (1962)
286—294 Abb. 6.
Abb. 16. Tuchlin, Kr. Wyszkow, Grab 16; Grabgrube mit Beigaben in Fundlage
nach t . Okuliczowa); vgl. Abb. 17.
Abb. 17. Tuchlin, Kr. Wyszkow, Grab 16; Frauengrab der beginnenden jünge-
ren Römischen Kaiserzeit (nach L. Okuliczowa) — M 1:1,5 (5. 7. 2.),
1:3 (1—4), 1:4,5 (6.9—10).
276 Die Ardiäologie und die festländischen Gotensitze
O 25 50cm
Abb. 18. Rostki, Kr. Ostrol^ka, Gräber 1 und 2; Grabgrube mit Beigaben in
Fundlage (nadi A. Kempisty u. J . Okulicz).
— die des Ptolemaios — nicht. Für die Frage der Abwanderung der Go-
ten nach dem Südosten wäre der Verbleib der Masowischen Gruppe gewiß
interessant, doch steht dieses Problem hier nicht zur Diskussion.
Doch nun zum eigentlichen Ausgangspunkt zurück, zur Frage der
Lokalisierung der Goten an Hand des archäologischen Materials: In der
Probleme der archäologischen Quellen 277
Tat findet sich, wo die Antike die Goten lokalisiert hat, d. h. an der
Weichsel und zwar östlich des Flusses und nicht an der Küste, eine archäo-
logische Gruppe, die dort bereits mit dem Beginn der jüngeren vorrömi-
schen Eisenzeit, also spätestens um 100 v. Christi Geburt, nachweisbar ist
und — unter Veränderung ihres Verbreitungsgebietes — bis in die jün-
gere Kaiserzeit hinein reicht. Der Beweis dafür, daß diese archäologische
Gruppe den Goten zuzuweisen ist, ist ebenso sicher, wie die Identifizie-
rung des Fundguts im Elbe-, Weser- und Rheingebiet mit anderen germa-
nischen Stämmen, die lange anerkannt ist. Ein exakter Nachweis im Sinne
der Naturwissenschaften ist wohl für keinen Identifizierungsversuch zu
erbringen, auch für solche nicht, die längst als richtig anerkannt sind. Der
Grad der Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei der Masowisdien Gruppe um
die Goten handelt, ist aber vergleichsweise hoch. Man kann mit guter
Begründung sagen, mit der Masowischen Gruppe liegt die archäologische
Hinterlassenschaft der festländischen Goten vor, und diese Feststellung
führt wieder ein Stück weiter.
Wenn überhaupt, dann können die Goten mit ihren Hauptteilen
eigentlich nur vor ca. 100 v. Chr. Geb. nach Masowien eingewandert sein.
Das unvermittelte Auftreten von Gräberfeldern vom Typ der Masowi-
schen Gruppe sagt über deren Herkunft noch nichts aus. Die gesamte
Przeworsker Kultur macht den Eindruck, als ob sie plötzlich und ohne
Vorgänger dagewesen sei. Hier könnte es sich aber durchaus um eine
unvermittelte oder sich sehr rasch vollziehende Wandlung der Kultur
handeln, die einen Kulturwechsel — dementsprechend auch einen Bevöl-
kerungswechsel — vorspiegelte. Die Frage der Herkunft der Masowischen
Gruppe muß nun genauer untersucht werden. Ist sie im Lande entstan-
den? Besteht zwischen ihr und der skandinavischen Kultur der Zeit vor
Christi Geburt ein Zusammenhang?
Sollten Goten aus dem Masowischen Raum nach dem Norden ver-
schlagen sein, so könnte das noch bis ins beginnende 2. Jahrhundert nach
Chr. Geb. geschehen sein. Eine derartige Abwanderung nach dem Norden
könnte indes nicht die ganze Masowische Gruppe betroffen haben, da sie
ja in Masowien und Südmasuren durch das 2. Jahrhundert weiter-
existierte. Dennoch wäre auch das genauer zu untersuchen.
Aber wie sollte man weiterkommen? Weiß man, w i e die Wande-
rung verlaufen sein müßte, und w i e sie, wenn sie erfolgt wäre, sich im
archäologischen Fundgut spiegeln könnte? Gibt es d e n Modellfall der
Völkerwanderung und ihres archäologischen Nachweises, dem entspre-
chend sich die Goten — so oder so — verhalten haben m ü ß t e n und
dem entsprechend der Ablauf sich archäologisch abzeichnen m ü ß t e ?
Abb. 19. Rostki, Kr. Ostrol^ka, Grab 1; Waffengrab der jüngeren Römischen
Kaiserzeit (nach A. Kempisty u. J. Okulicz); M 1:1,5 (1—3. 9.), M 1:3
(4—8. 10—11), M 1:4,5 (12).
Probleme der archäologischen Quellen 279
Abb. 20. Rostki, Kr. Ostrol^ka, Grab 2; Frauengrab der jüngeren Römischen
Kaiserzeit (nach A. Kempisty u. J. Okulicz); M 1 : 1 , 5 (1—3.5),
M 1:4,5 (4).
der Zahl der Wandernden und der, auf die sie in ihrer neuen Heimat
treffen, von der Bereitschaft, sich fremden, in der neuen Heimat herr-
schenden Gebräudien anzupassen, oder von der Hartnäckigkeit, alte Tra-
ditionen selbst in einer ganz unpassenden Umwelt zu erhalten.
Wenn ehedem G. Kossinna von Völkerwanderungen sprach, dann
dadite er dabei offensichtlich im Grunde an die Auswanderung geschlos-
sener Bevölkerungsgruppen. Seine Vorstellung vom Ablauf von Wan-
derungen und von deren archäologischem Nachweis waren „akademisch"
konzipiert und entbehrten des rechten Gefühls für das historisch Mög-
liche, und seine Darstellungen von Wanderungsabläufen widersprachen
allzu oft seinen eigenen Denkprinzipien2. Es ist heute durchaus möglidi
Kossinnas Gedankenwege zu durchschauen. Nachdem aber sein Denken
paradigmatisch analysiert und illustriert worden ist (vgl. oben S. 149 ff.),
scheint es nun nicht mehr erforderlidi, auf Einzelheiten einzugehen, d. h.
seine eigenen Inkonsequenzen zu zeigen und sein oft recht willkürliches
Vorgehen zu demonstrieren. Das hätte nur Sinn, wenn eine Kritik an
seiner „Methode" zu einer einheitlichen Theorie der Völkerwanderungen
führen könnte, und wenn es möglich wäre, auf der Grundlage einer sol-
chen Theorie feste Prinzipien des Nadiweises von Wanderungen an Hand
des archäologischen Fundstoffs zu gewinnen3. Darauf ist aber nidit zu
hoffen. Es wäre aber gewiß falsch, aus dem Versagen der „Methode Kos-
sinna" nur negative Schlüsse zu ziehen4.
kommen. Es ist nicht schwer, eine Sammlung von Beispielen von vorn-
herein nach einer gewissen ordnenden Systematik anzulegen.
Falsch wäre es, wollte man eine solche Zusammenstellung in der still-
schweigenden Erwartung beginnen, es werde sich auf diese Weise schließ-
lich schon eine Möglichkeit ergeben, j e d e Art von Bevölkerungsver-
änderung auf irgendeine Weise doch archäologisch sichtbar zu machen.
Man sollte eher voraussetzen, daß es Bevölkerungsveränderungen gibt,
die sich archäologisch n i c h t abzeichnen oder s o abzeichnen, daß dar-
aus keine verbindlichen Schlüsse auf eine Wanderung gezogen werden
können.
Es ist sinnvoll, sich bei der Liste archäologisch nachweisbarer Wande-
rungen zeitlich an jenen Bereich zu halten, in dem die Germanen als Be-
völkerungsgruppe höchstwahrscheinlich existent waren und in dem auch
die Wanderung der Goten — sollte sie wirklich stattgefunden haben —
erfolgt sein muß, d. h. an den Zeitraum der Jahrhunderte vor und nach
Christi Geburt.
Verhältnismäßig einfach — und dementsprechend eindeutig — ist
die Situation in allen den Fällen, wo eine Landschaft, die keine oder ge-
ringe Zeichen einer stationären Besiedlung aufweist, von einer Ackerbau
und Viehzucht betreibenden Bevölkerung besiedelt wurde. Für Norwegen
läßt sich die Besiedlung der nördlichen Küstenzonen und des Binnenlandes
von Süden her und aus den kleinen Siedlungsinseln der vorrömischen
Eisenzeit heraus sehr deutlich machen (vgl. Abb. 49. 59—70) und bedarf
keiner besonderen Erörterung (vgl. unten S. 414 ff.). Ähnlich — wenn auch
minder deutlich — liegen die Verhältnisse in Schweden (vgl. Abb. 48.
51—58). In West- und Ostskandinavien mögen die Vorgänge nicht voll-
kommen gleichartig verlaufen sein (vgl. unten S. 426 f.). Nicht viel anders
dürften die Verhältnisse im westlichen Ostseegebiet gelegen haben, wo
Fünen, dann auch Seeland, im Verlaufe der jüngeren vorrömischen Eisen-
und der Kaiserzeit eine auffallende Fundvermehrung erkennen lassen5.
In allen diesen Fällen ist deutlich sichtbar, wie das bislang siedlungs-
arme Land Schritt für Schritt besiedelt wurde. H . Jankuhn hat den Vor-
gang für das westliche Ostseegebiet zu deuten versucht6. Falls die künftige
Forschung seine Ansichten bestätigen sollte, müßte es möglich sein, eine
gewisse lebendige Vorstellung vom Ablauf der Vorgänge zu gewinnen.
Ähnlich wie in Norwegen, Schweden, Dänemark und Schleswig-Hol-
5
J. Brandsted, Danmarks Oldtid 3. Jernalder ( 2 1960) 91 f. u. 237 f.
* H . Jankuhn, Klima, Besiedlung und Wirtschaft d. älteren Eisenzeit im westl.
Ostseebecken, in: Ardiaeologia geogr. 3 (1952) 23—35.
284 „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
stein ist das Bild von der wikingerzeitlichen Besiedlung Islands7 und
Grönlands8. Nur treten die Funde, die auf eine Landnahme weisen, un-
vermittelter auf. Die Länder waren vorher weitgehend unbesiedelt'.
Sowohl der isländische als auch der grönländische Fundstoff gibt gewisse
allgemeine Hinweise auf die Herkunft der Bevölkerung. Norwegen ist als
Herkunftsraum vieler Kulturgüter durchaus erkennbar. Genaue Einzel-
heiten vom Verlauf der Einwanderung zeigen die Funde indes nicht.
Für den germanischen Kontinent lassen sich etliche Fälle nachweisen,
die ähnlich gelagert sind wie die skandinavischen Beispiele. Offenbar lie-
gen die Verhältnisse dort aber häufig komplizierter. Selbst Fälle, die sidi
auf den ersten Blick geradezu als Paradigmata anbieten, halten oft einer
eingehenderen Überprüfung nicht stand. Ein Beispiel möge die Schwie-
rigkeiten beleuchten.
Die Gruppe Bodenbach (Podmokly) in Nordböhmen10 ist schon von
P. Reinecke als germanisch angesprochen worden11; W. Mähling hat sie
als sicher germanisch hingestellt12. Betrachtungsweise und Argumentation
Mählings können aber gegenwärtig nicht mehr den Anspruch auf metho-
dische Exaktheit erheben. Dennoch läßt sich gewiß von allen ehedem an-
gestellten Kombinationen einiges als richtig aufrecht erhalten. Mit Sicher-
heit kann man sagen, daß es sich bei der Gruppe Bodenbach um eine der
mitteldeutschen germanischen Brandgräberkultur durch eine ganze Anzahl
gemeinsamer Kulturgüter eng verbundene Kulturgruppe handelt. Sie als
germanisch zu bezeichnen, ist sicher nicht unrichtig. Der mitteldeutschen
germanischen Brandgräberkultur gegenüber setzt sie sich aber durch eine
doch innerhalb des Bereichs der Billendorfer Kultur 26 bzw. der Platenitzer
Kultur 27 , die im nördlichen und östlichen Böhmen zeitlich der Billendor-
fer Kultur entspricht und ihr kulturell nahe steht. Es ist schwierig, das Ver-
hältnis zwischen der Billendorfer Kultur und der Platenitzer Kultur auf
der einen und der Bodenbacher Gruppe auf der anderen Seite klar zu um-
reißen. Die Annahme eines „kulturellen und ethnischen Aufgehens örtlich
seßhafter Stämme in das Germanentum" ist eine Vorstellung, die den
Tatbestand nicht klar, sondern nur mit anderen Worten ausdrückt, die
ihrerseits der Klärung bedürfen28. Sicher ist es, daß die Billendorfer Kul-
tur an der Genesis der Bodenbacher Gruppe beteiligt war. Sollte es ein
einfacher Akkulturationsvorgang gewesen sein? Eine Beteiligung von Re-
sten der Billendorfer Bevölkerung an der Bodenbacher Gruppe ist nicht
sicher auszuschließen; dementsprechend kann man nicht mit hinreichender
Sicherheit von einer Einwanderung der Bodenbacher Gruppe sprechen.
Die Sachlage ist gewiß komplizierter.
Von der Gruppe Bodenbach läßt sich die Gruppe Kobil (Kobyly)
nicht trennen, das erkannte schon M. Jahn 2 *. W. Mähling betonte dagegen,
die nordostböhmische spätlatänezeitliche Gruppe Kobil besäße „so gut
wie gar keine engeren Bindungen an die Bodenbacher Gruppe" 30 . Das ist
jedoch nicht richtig. Das kleine Gräberfeld Nestomitz (Nestemice) lie-
ferte Gräber beider Gruppen31. Es sind zwar keine Bestattungen, die der
auf dem Friedhof Kobil nachgewiesenen älteren Zeitstufe angehören' 2 ;
ein so unsystematisch ausgegrabener Bestattungsplatz wie der von Nesto-
mitz braucht aber keinen eindeutigen Aufschluß über seine zeitliche Glie-
derung zu liefern. Es ist deswegen nicht auszuschließen, daß die Gruppe
Kobil einfach die unmittelbare Fortsetzung der Gruppe Bodenbach ist.
Die unterschiedliche Verbreitung beider Gruppen besagt bei der geringen
Zahl bislang bekannter Fundstellen nicht allzu viel. Hier muß der Fehler
der kleinen Zahl in Rechnung gestellt werden 35 . Was Mähling als sonstige
Argumente gegen eine Kontinuität hervorhob, wiegt weniger als die „ver-
einzelten Übereinstimmungen", die auch er nicht leugnete34. Die „auffal-
lenden" Stradonitzer Formen sind nicht ungewöhnlich, wenn man be-
denkt, daß die Gruppe Bodenbach—Kobil, wenn sie keramische Formen
aus dem keltischen Bereich übernehmen wollte, der Formenentwicklung
folgen mußte, wie sie in Mittelböhmen verlief.
Für den Nachweis einer Einwanderung in ein bislang siedlungsleeres
Gebiet fällt die Gruppe Bodenbach-Kobil also in zweifacher Hinsicht aus:
Die Gruppe Bodenbach läßt sich ohne Einflüsse von Seiten der Billendor-
fer und der Platenitzer Kultur nicht verstehen, und es ist deswegen schwer
vorstellbar, ihre Träger wären ausnahmslos aus einem Gebiet eingewan-
dert, wo Einflüsse der Billendorfer Kultur oder der Platenitzer Kultur
fehlten. Natürlich läßt es sidi nicht vollkommen ausschließen, die Gruppe
Bodenbach sei im sächsischen Elbegebiet entstanden — teilweise auf Grund-
lage der Billendorfer Kultur — und dann nach Nordböhmen vorgedrun-
gen, also eingewandert. Damit ist hier aber nichts gewonnen, wo es sich
doch darum handelt, e i n d e u t i g e Beispiele für Zu- oder Abwande-
rung vorzulegen.
Wie die Einwanderung der Bodenbacher Gruppe, so ist auch deren
Abwanderung nicht nachweisbar. Die Gruppe Kobil muß als deren Fort-
setzung angesehen werden. Die Bevölkerung braucht nicht gewechselt zu
haben. Nicht einmal ein Ausgreifen der Besiedlung mit Entwicklung der
Gruppe Kobil — also mit Beginn der jüngeren vorrömischen Eisenzeit —
ist zwingend anzunehmen, denn die Fundverbreitung ist vom Fehler der
kleinen Zahl abhängig. Schon e i n e neue Fundstelle der Bodenbacher
oder der Kobiler Gruppe könnte das Verbreitungsbild verändern.
Das Beispiel der Bodenbach-Kobiler Gruppe zeigt Schwierigkeiten
im Einzelfall und mahnt zur Vorsicht. Es beweist grundsätzlich aber
nichts. Beispiele für Zu- oder Abwanderung von Bevölkerungsteilen
lassen sich erbringen.
Das Gebiet zwischen Elb- und Wesermündung — durch die Rührig-
keit C. Wallers gut erforscht — verlor im Verlaufe des letzten vorchrist-
lichen Jahrhunderts seine Bevölkerung. Keines der Gräberfelder reicht
33
W. Mähling, Das spätlatenezeitl. Brandgräberfeld v. Kobil (1944) 106 (u.
Verbreitungskarte als Anlage) gibt der Gruppe Kobil durdi Zurechnung der
ganz unsicheren Befunde von Komotau (Chomoutov), Lischwitz (Libäsovice),
Polep (Polepy), Groß Opolan (Velky Opolany), Kotzniowitz (Chocnéjo-
vice) eine völlig falsche Verbreitung. Mit gleidier Berechtigung könnte man
die Funde von Böhmisch-Kamnitz (Ceska Kamenice) und Turnov-Ohrazenice
zur Gruppe Bodenbach rechnen, und schon hätte man völlig gleichartige Ver-
breitungsbilder.
34
W. Mähling, a. a. O. 107.
288 „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
bis in die Zeit der geschweiften Fibel hinein35. Der Befund ist eindeutig.
Aber schon mit dem Beginn des ersten nadidiristlichen Jahrhunderts läßt
sich Neubesiedlung nachweisen. Funde wie der Friedhof von Oxstedt,
Kr. Land Hadeln 3 ", und einige andere" zeigen den Vorgang an.
Der Verbleib der abwandernden Bevölkerung läßt sich nicht er-
kennen. Sie verschwindet scheinbar spurlos. Die Kultur der Neueinwan-
derer weist über die Elbmündung nach dem Norden 38 , doch ist im Norden
gleichzeitig eine Fundvermehrung erkennbar3' und die älterkaiserzeitliche
Formenwelt der Westküste Schleswig-Holsteins hat — soweit sie Bezie-
hungen zum Elbmündungsgebiet aufweist — im Lande selbst keine Vor-
formen. Die Herkunft der Zuwanderer läßt sich vorläufig nicht ermit-
teln.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Altmark. Die älteren Ab-
schnitte der vorrömischen Eisenzeit weisen hier durch eine große Fund-
dichte auf eine vergleichsweise dichte Besiedlung hin40 (Abb. 21), die
sich in der jüngeren vorrömischen Eisenzeit noch verdichtet haben muß
(Abb. 22). Schon im Verlaufe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts —
in der Zeit der geschweiften Fibeln — läßt sich eine beträchtliche Ausdün-
nung der Fundstellen erkennen41; ein großer Teil der Bevölkerung muß
ausgewandert sein. Die Frage, wohin, wird noch zu erörtern sein (vgl. un-
ten S. 311). Die Abnahme der Fundstellen setzte sich die ältere Kaiserzeit
hindurch fort, so daß schließlich nur noch ein kleiner Teil des Landes
— hauptsächlich der Osten — spärlich besiedelt blieb42 (Abb. 23). Mit der
35 R . Hadimann, 41 Ber. d. Röm.-Germ. Kommission 1960 (1961) 156 ff. bes.
161 Abb. 53 b.
M K . Waller, Chaukische Gräberfelder a. d. Nordseeküste, in: Mannus 25 (1933)
40—59 bes. 51 ff. Abb. 4—7; ders., D a s Gräberfeld v. Oxstedt u. seine Be-
deutung f. d. Sachsenforschung, in: Die Kunde N . F. 11 (1960) 13—28 Taf.
1—6.
37 P. Schmid, Die Keramik d. 1. bis 3. Jahrh. » . Chr. im Küstengebiet d. südlichen
Nordsee, in: Probleme d. Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 8
(1965) 15 f.; vgl. auch die Verbreitung von Keramiktyp und Ornamentmotiv
b. K . Waller, in: Die Kunde 11 (1960) 18. 26 Karte 2.
38 K . Kersten u. P. L a Baume, Vorgesdi. d. nordfriesischen Inseln (1958) 189.
193. 195. 510 Taf. 87, 10; 89, 4—6; 91, 2. 8; 93, 13; P. Schmid, a. a. O. 16 f.
3> H . Hingst, Karten z. Besiedlung Schleswig-Holsteins i. d. vordiristl. Eisenzeit
u. d. älteren Kaiserzeit, in: Archaeologia geogr. 3 (1952) 8—15 bes. 11. 13
Karte 3.
40 P. Kupka, Die frühe Eisenzeit i. d. Altmark, in: Jahresschrift f. Vorgesch. d.
sädis.-thür. Länder 10 (1911) 37—60 bes. Abb. S. 45 gibt einen gewissen Ein-
druck von der Siedlungsdichte.
41 P. K u p k a , Späte swebisdie Tonware a. d. Altmark, in: Jahresschrift 15 (1927)
65—82.
41 Fr. Kudienbudi, Altmärkische Funde d. 1. u. 2. Jahrhunderts n. Chr., in: J a h -
resschrift 24 (1936) 211—224.
Probleme der archäologischen Quellen 289
19»
292 „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
47
G. Körner, Die südelbischen Langobarden zur Völkerwanderungszeit (1938).
48
A. Plettke, Ursprung u. Ausbreitung d. Angeln u. Sadisen (1921); K. Waller,
Der Galgenberg b. Cuxhaven, die Geschidite einer germ. Grab- u. Wehrstätte
(1938); ders., Das Gräberfeld v. Altenwalde, Kr. Land Hadeln (1957); E.
Grohne, Mahndorf (1953); K.Zimmer-Linnfeld, Westerwanna 1 (1960).
A. Genridi, Formenkreise und Stammesgruppen in Schleswig-Holstein nach
geschlossenen Funden des 3. bis 6. Jahrhunderts (1954); dazu auch bes. J.
Brandt, Das Urnengräberfeld v. Preetz in Holstein (1960) bes. 61 ff.
Probleme der archäologischen Quellen 293
50
H . Jankuhn, Die römische Kaiser- u. d. Völkerwanderungszeit, in: O. Klose
[Hrg.], Geschichte Schleswig-Holsteins II, 4 (1964) 258.
294 „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
Abb. 28. Verbreitung der älteren Römischen Kaiserzeit in Sachsen (nadi G. Mil-
denberger) — Forschungsstand 1954; vgl. dazu Abb. 2 6 — 2 7 u. 29—30.
die germanische Lausitzer G r u p p e " (Abb. 27). Doch nach gut einem
halben Jahrhundert ist das Land schon wieder siedlungsleer. Es gibt
keinerlei Funde mit geschweiften Fibeln aus dem Bereich dieser Gruppe 57 .
Wieder einmal ist der Verbleib einer abwandernden Bevölkerung nicht
zu erfassen. Die Oberlausitz hat an dieser vorübergehenden Neubesied-
lung keinen Anteil. Sie blieb noch Jahrhunderte hindurch siedlungsleer.
In der älteren Kaiserzeit blieb der ganze Osten unbesiedelt (Abb. 28). Erst
in der jüngeren Kaiserzeit rückte eine neue germanische Bevölkerung —
offenbar aus dem Osten — ein 58 und drang zur Elbe vor 5 9 (Abb. 29), und
in der Völkerwanderungszeit reduzierte sich erneut der besiedelte Raum
(Abb. 30).
In der schleswigsdien Landschaft Angeln folgte auf eine sehr inten-
sive Besiedlung der jüngeren Kaiserzeit 60 , die bis in die Völkerwande-
folgte dort eine Neubesiedlung erst mit der jüngeren Kaiserzeit' 7 , und
das ist bezeichnend für die schlechten Böden im gesamten pommersch-
unterweichselländischen Raum' 8 (Abb. 33).
Aufgabe besiedelten Raumes läßt sich in Nordböhmen für das fort-
geschrittene letzte vorchristliche Jahrhundert nachweisen. In der Zeit
der geschweiften Fibel sind keine Spuren der Gruppe Bodenbach-Kobil
in Nordostböhmen mehr nachweisbar69. Es ist wiederum nicht ersichtlich,
wohin sich die Bevölkerung gewandt hat. Sie mag in den Germanen auf-
gegangen sein, die nun allenthalben im Lande nachweisbar sind. In jedem
Fall muß sie ihren alten Siedlungsraum aufgegeben haben, der in der
Zeit der geschweiften Fibel und auch danach gänzlich unbesiedelt ist
und erst spät im ersten nachchristlichen Jahrhundert wieder spärlich auf-
gesiedelt wird 70 .
Siedlungsveränderungen, wie die vorstehend aufgezählten, sind
nicht selten im kontinentalgermanischen und nordgermanischen Raum.
Ihr Nachweis ist kein Problem, das von einer bestimmten Fragestellung
abhängig ist, sondern oft eine Frage des Forschungsstandes. Würde man
das gesamte Fundgut Mitteleuropas zwischen der Mitte des letzten vor-
christlichen und der des ersten nachchristlichen Jahrtausends systematisch
sichten, gründlich chronologisch ordnen und kartographisch darstellen, so
(1963) 8 Karte. — Die wenigen nordostböhmischen Funde, die die Karte ver-
zeichnet, gehören nicht in die Obergangszeit (Zeit der geschweiften Fibel)
und auch nicht in die Frühphase der älteren Kaiserzeit. — Von Bodenbach
(Podmokly) stammt — wohl aus einem Brandgrab — eine relativ späte
kräftig profilierte Fibel (K. Motyková-Sneidrová, a . a . O . 43 Nr. 1); un-
klar ist die Datierung zweier kräftig profilierter Fibeln aus RaiSovice (K. Mo-
tyková-Sneidrová, a . a . O . 51 Nr. 80); dasselbe gilt für eine Siedlung von
Stvolínky (K. Motyková-Sneidrová, a. a. O. 59 Nr. 81). — Vgl. dazu K. Mo-
tyková-Sneidrová, in: Berliner Jahrbuch f. Vor- und Frühgeschichte 5 (1965)
117 f.
302 „Völkerwanderungen" in den Jahrhunderten um Christi Geburt
dürfte sich die Zahl gleich- oder ähnlidigelagerter Fälle wesentlich ver-
größern lassen.
Die vorgelegten Beispiele mögen, da es sich hier doch im wesent-
lidien darum handelt, paradigmatisch vorzugehen, genügen. Sie reichen
auch deswegen aus, weil schon sie es erlauben, über Zu- und Abwande-
rungen und über temporäre Siedlungsleere Erkenntnisse zu gewinnen und
Folgerungen zu ziehen, die eine gewisse allgemeine Gültigkeit bean-
spruchen können.
Es läßt sich erkennen, daß größere und kleinere Landschaften in
Germanien für kürzere oder längere Zeit ihre Bevölkerung ganz oder
fast vollkommen verloren. Die Dauer der Siedlungsleere ist unterschied-
lich, umfaßt knappe einhundert Jahre — wie im Elbmündungsgebiet —
oder bis zu fünfhundert Jahren — wie in der Oberlausitz. Regeln oder
Gesetzmäßigkeiten im Verlassen oder Wiederbesiedeln lassen sich nicht
erkennen. Auch die Besiedlungsdauer ist unterschiedlich; sie schwankt
zwischen etwa fünfzig Jahren — wie in der Niederlausitz und angren-
zenden Teilen Niederschlesiens — und mehreren Jahrhunderten — wie
in der Altmark. Manche Landschaften wurden niemals — auch nicht für
kürzere Zeitabschnitte — verlassen; das Gebiet um Mittelelbe und Saale
ist dafür das beste Beispiel. Die mit der Abwanderung und der Neube-
siedlung verbundenen Vorgänge lassen sich durchweg nur unvollkommen
erfassen. In einigen Fällen ist kurzfristig vollständige Abwanderung
erfolgt — so im Elbmündungsgebiet und in der Niederlausitz —; in
anderen wiederum mag der Vorgang ein allmählicher gewesen sein. Oft
ist es deutlich, daß es vornehmlich die schlechten Böden waren, die auf-
gegeben wurden, während die besseren Böden desselben Raumes besiedelt
blieben — so in Pommern und Westpreußen — oder wenigstens Bevölke-
rungsreste behielten — wie in der Altmark. In manchen Fällen haben
sichtlich wirtschaftliche Momente eine Rolle gespielt. Es bleibt indes un-
klar, ob sie die ausschlaggebenden Gesichtspunkte für die Abwanderung
lieferten. Oft ist erkennbar, daß die schlechteren Böden im Rahmen einer
Art Binnenkolonisation neubesiedelt wurden, so in Pommern und West-
preußen.
Die bislang bekannten Fälle erlauben es in der Regel nicht, genauer zu
erkennen, w o h i n sich die Abwanderer wandten. Unklar bleibt es audi
meist, w o h e r Zuwanderer kamen. Wurde Binnenkolonisation n u r
vom lokalen Bevölkerungsüberschuß getragen? Oder kamen dafür auch
fremde Siedlerfamilen oder -gruppen in Betracht? Hinweise auf die Be-
antwortung solcher Fragen bleiben in der Regel ganz allgemein.
Die bisher behandelten Besiedlungsveränderungen sind nicht an kul-
turellen Merkmalen des Quellenmaterials, sondern einzig an der Fund-
Probleme der archäologischen Quellen 303